Ruth Becker · Beate Kortendiek (Hrsg.) Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung
Geschlecht & Gesellschaft Band 35 H...
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Ruth Becker · Beate Kortendiek (Hrsg.) Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung
Geschlecht & Gesellschaft Band 35 Herausgegeben von Beate Kortendiek Ilse Lenz Michiko Mae Sigrid Metz-Göckel Michael Meuser Ursula Müller Mechtild Oechsle Paula-Irene Villa Mitbegründet von Marlene Stein-Hilbers (†) Koordiniert durch Netzwerk Frauenforschung NRW, Beate Kortendiek
Geschlechterfragen sind Gesellschaftsfragen. Damit gehören sie zu den zentralen Fragen der Sozialwissenschaft; sie spielen auf der Ebene von Subjekten und Interaktionen, von Institutionen und Organisationen, von Diskursen und Policies, von Kultur und Medien sowie auf globaler wie lokaler Ebene eine prominente Rolle. Die Reihe „Geschlecht und Gesellschaft“ veröffentlicht herausragende wissenschaftliche Beiträge, in denen die Impulse der Frauen- und Geschlechterforschung für die Sozial- und Kulturwissenschaften dokumentiert werden. Zu den Veröffentlichungen in der Reihe gehören neben Monografien empirischen und theoretischen Zuschnitts Hand- und Lehrbücher sowie Sammelbände. Zudem erscheinen in dieser Buchreihe zentrale Beiträge aus der internationalen Geschlechterforschung in deutschsprachiger Übersetzung.unikationswissenschaft konzipiert.
Ruth Becker Beate Kortendiek (Hrsg.) unter Mitarbeit von Barbara Budrich, Ilse Lenz, Sigrid Metz-Göckel, Ursula Müller und Sabine Schäfer
Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung Theorie, Methoden, Empirie 3., erweiterte und durchgesehene Auflage
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
3., erweiterte und durchgesehene Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Frank Engelhardt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Satz: Beate Glaubitz, Satz und Redaktion, Leverkusen Druck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-17170-8
Inhalt
Vorwort zur 3. Auflage ..........................................................................................................
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Teil I Zentrale Fragestellungen und Theoriekonzepte A Konzepte zum Geschlecht ........................................................................................ Eva Cyba Patriarchat: Wandel und Aktualität ....................................................................................... Heide Göttner-Abendroth Matriarchat: Forschung und Zukunftsvision ......................................................................... Ilse Lenz Geschlechtssymmetrische Gesellschaften: Wo weder Frauen noch Männer herrschen ............................................................................ Barbara Thiessen Feminismus: Differenzen und Kontroversen ......................................................................... Ingrid Galster Französischer Feminismus: Zum Verhältnis von Egalität und Differenz .............................. Frigga Haug Sozialistischer Feminismus: Eine Verbindung im Streit ....................................................... Ursula Beer Sekundärpatriarchalismus: Patriarchat in Industriegesellschaften ......................................... Regina Becker-Schmidt Doppelte Vergesellschaftung von Frauen: Divergenzen und Brückenschläge zwischen Privat- und Erwerbsleben ................................ Andrea Baier Subsistenzansatz: Von der Hausarbeitsdebatte zur „Bielefelder Subsistenzperspektive“ .................................. Gertrud Nunner-Winkler Weibliche Moral: Geschlechterdifferenzen im Moralverständnis? ....................................... Christina Thürmer-Rohr Mittäterschaft von Frauen: Die Komplizenschaft mit der Unterdrückung .......................................................................
17 17 23
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Heike Kahlert Differenz, Genealogie, Affidamento: Das italienische ,pensiero della differenza sessuale‘ in der internationalen Rezeption ..........
Inhalt
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Ulla Bock Androgynie: Von Einheit und Vollkommenheit zu Vielfalt und Differenz ........................... 103 Sabine Hark Lesbenforschung und Queer Theorie: Theoretische Konzepte, Entwicklungen und Korrespondenzen ............................................ 108 Nikki Wedgwood, RW Connell Männlichkeitsforschung: Männer und Männlichkeiten im internationalen Forschungskontext .................................... 116 Angelika Wetterer Konstruktion von Geschlecht: Reproduktionsweisen der Zweigeschlechtlichkeit ................................................................ 126 Regine Gildemeister Doing Gender: Soziale Praktiken der Geschlechterunterscheidung ...................................... 137 Paula-Irene Villa (De)Konstruktion und Diskurs-Genealogie: Zur Position und Rezeption von Judith Butler ........................................................................ 146 Ilse Lenz Intersektionalität: Zum Wechselverhältnis von Geschlecht und sozialer Ungleichheit ......... 158 B Rezeption und Weiterentwicklung von Theorien ............................................... 166 Renate Nestvogel Sozialisationstheorien: Traditionslinien, Debatten und Perspektiven ................................... 166 Thomas Eckes Geschlechterstereotype: Von Rollen, Identitäten und Vorurteilen ........................................ 178 Gudrun-Axeli Knapp Kritische Theorie: Ein selbstreflexives Denken in Vermittlungen ........................................ 190 Karin Gottschall Soziale Ungleichheit: Zur Thematisierung von Geschlecht in der Soziologie ......................................................... 201 Mechtild Oechsle, Birgit Geissler Modernisierungstheorien: Anregungspotenziale für die Frauen- und Geschlechterforschung ........................................ 210 Helga Krüger Lebenslauf: Dynamiken zwischen Biografie und Geschlechterverhältnis ............................. 219 Angelika Diezinger Alltägliche Lebensführung: Die Eigenlogik alltäglichen Handelns ...................................... 228 Mechtild Oechsle Work-Life-Balance: Diskurse, Problemlagen, Forschungsperspektiven ................................................................ 234 Elisabeth Klaus, Ricarda Drüeke Öffentlichkeit und Privatheit: Frauenöffentlichkeiten und feministische Öffentlichkeiten .................................................. 244
Inhalt
Ursula Pasero Systemtheorie: Perspektiven in der Genderforschung ........................................................... Steffani Engler Habitus und sozialer Raum: Zur Nutzung der Konzepte Pierre Bourdieus in der Frauen- und Geschlechterforschung .... Paula-Irene Villa Poststrukturalismus: Postmoderne + Poststrukturalismus = Postfeminismus? ...................... Encarnación Gutiérrez Rodríguez Postkolonialismus: Subjektivität, Rassismus und Geschlecht ............................................... Nora Räthzel Rassismustheorien: Geschlechterverhältnisse und Feminismus ............................................ Mona Singer Feministische Wissenschaftskritik und Epistemologie: Voraussetzungen, Positionen, Perspektiven .......................................................................... Herta Nagl-Docekal Feministische Philosophie: Wie Philosophie zur Etablierung geschlechtergerechter Bedingungen beitragen kann ......... Sandra Harding Wissenschafts- und Technikforschung: Multikulturelle und postkoloniale Geschlechteraspekte ........................................................ Christine Bauhardt Ökologiekritik: Das Mensch-Natur-Verhältnis aus der Geschlechterperspektive ..........................................
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Teil II Methoden und Methodologie .............................................................................. 329 Sabine Hering „Frühe“ Frauenforschung: Die Anfänge der Untersuchungen von Frauen über Frauen .................................................. Christa Müller Parteilichkeit und Betroffenheit: Frauenforschung als politische Praxis ................................................................................... Maria Bitzan Praxisforschung, wissenschaftliche Begleitung, Evaluation: Erkenntnis als Koproduktion ................................................................................................. Verena Mayr-Kleffel Netzwerkforschung: Analyse von Beziehungskonstellationen .............................................. Annette Kuhn Oral history und Erinnerungsarbeit: Zur mündlichen Geschichtsschreibung und historischen Erinnerungskultur ......................... Bettina Dausien Biografieforschung: Theoretische Perspektiven und methodologische Konzepte für eine re-konstruktive Geschlechterforschung .................................................................... Michael Meuser, Ulrike Nagel ExpertInneninterview: Zur Rekonstruktion spezialisierten Sonderwissens ...........................
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Agnes Senganata Münst Teilnehmende Beobachtung: Erforschung der sozialen Praxis ............................................. Margarete Jäger Diskursanalyse: Ein Verfahren zur kritischen Rekonstruktion von Machtbeziehungen .................................. Caroline Kramer, Anina Mischau Sozialberichterstattung: Frauenberichte oder ein „gegenderter“ Datenreport .............................................................. Gabriele Sturm Forschungsmethodologie: Vorüberlegungen für eine Evaluation feministischer (Sozial-)Forschung ............................
Inhalt
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Teil III Arbeitsfelder und Forschungsergebnisse ....................................................... 409 A Lebensphasen und -lagen ......................................................................................... 411 Reinhard Winter Jungen: Reduzierte Problemperspektive und unterschlagene Potenziale .............................. Helga Kelle Mädchen: Zur Entwicklung der Mädchenforschung ............................................................. Michael Meuser Junge Männer: Aneignung und Reproduktion von Männlichkeit .......................................... Barbara Keddi Junge Frauen: Vom doppelten Lebensentwurf zum biografischen Projekt ........................... Beate Kortendiek Familie: Mutterschaft und Vaterschaft zwischen Traditionalisierung und Modernisierung .. Gertrud M. Backes Alter(n): Ein kaum entdecktes Arbeitsfeld der Frauen- und Geschlechterforschung ............ Ruth Becker Lebens- und Wohnformen: Dynamische Entwicklung mit Auswirkungen auf das Geschlechterverhältnis ..................... Brigitte Sellach Armut: Ist Armut weiblich? ..................................................................................................
411 418 428 436 442 454
461 471
B Arbeit, Politik und Ökonomie .................................................................................. 480 Gisela Notz Arbeit: Hausarbeit, Ehrenamt, Erwerbsarbeit ....................................................................... Kathrin Dressel, Susanne Wanger Erwerbsarbeit: Zur Situation von Frauen auf dem Arbeitsmarkt .......................................... Ulrike Teubner Beruf: Vom Frauenberuf zur Geschlechterkonstruktion im Berufssystem ............................ Ute Luise Fischer Transformation: Der Systemwechsel und seine Erkundung in der Frauen- und Geschlechterforschung .........
480 489 499
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Inhalt
Sylvia M. Wilz Organisation: Die Debatte um ,Gendered Organizations‘ ..................................................... Regina-Maria Dackweiler Wohlfahrtsstaat: Institutionelle Regulierung und Transformation der Geschlechterverhältnisse ................................................................................................. Cilja Harders Krieg und Frieden: Feministische Positionen ........................................................................ Barbara Holland-Cunz Demokratiekritik: Zu Staatsbildern, Politikbegriffen und Demokratieformen ...................... Gesine Fuchs Politik: Verfasste politische Partizipation von Frauen .......................................................... Susanne Baer Recht: Normen zwischen Zwang, Konstruktion und Ermöglichung – Gender-Studium zum Recht .................................................................................................. Sigrid Metz-Goeckel Eliten: Eine Frage von Herkunft, Geschlecht und Leistung .................................................. Helma Lutz Migrations- und Geschlechterforschung: Zur Genese einer komplizierten Beziehung .......................................................................... Brigitte Young, Hella Hoppe Globalisierung: Aus Sicht der feministischen Makroökonomie ............................................ Edith Kuiper Ökonomie: Feministische Kritik mikro- und makroökonomischer Theorien und Entwurf alternativer Ansätze ..........................................................................................
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555 564
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C Körper und Gesundheit ............................................................................................. 601 Barbara Duden Frauen-„Körper“: Erfahrung und Diskurs (1970-2004) ........................................................ Andrea D. Bührmann, Sabine Mehlmann Sexualität: Probleme, Analysen und Transformationen ........................................................ Ellen Kuhlmann Gen- und Reproduktionstechnologien: Ein feministischer Kompass für die Bewertung .................................................................... Andrea Pauli, Claudia Hornberg Gesundheit und Krankheit: Ursachen und Erklärungsansätze aus der Gender-Perspektive ................................................. Andrea Pauli, Claudia Hornberg Umwelt und Gesundheit: Gender-Perspektiven in Forschung und Praxis ..................................................................... Ulrike Schildmann Behinderung: Frauenforschung in der Behindertenpädagogik .............................................. Sabine Scheffler Psychologie: Arbeitsergebnisse und kritische Sichtweisen psychologischer Geschlechterforschung .......................................................................................................... Ursula Müller Gewalt: Von der Enttabuisierung zur einflussnehmenden Forschung ...................................
601 616
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644 654
659 668
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Inhalt
Carol Hagemann-White, Sabine Bohne Gewalt- und Interventionsforschung: Neue Wege durch europäische Vernetzung .......................................................................... 677 Ilse Hartmann-Tews, Bettina Rulofs Sport: Analyse der Mikro- und Makrostrukturen sozialer Ungleichheit ............................... 686 D Bildung und Kultur ..................................................................................................... 692 Anne Schlüter Bildung: Hat Bildung ein Geschlecht? .................................................................................. Maria Anna Kreienbaum Schule: Zur reflexiven Koedukation ..................................................................................... Agnieszka Majcher, Annette Zimmer Hochschule und Wissenschaft: Karrierechancen und -hindernisse für Frauen ....................................................................... Birgit Heller Religionen: Geschlecht und Religion – Revision des homo religosus .................................. Ute Gause Kirchen: Frauen in der römisch-katholischen und den evangelischen Kirchen in Deutschland ...................................................................................................................... Michiko Mae Nation, Kultur und Gender: Leitkategorien der Moderne im Wechselbezug...................................................................... Isabel Richter, Sylvia Schraut Geschichte: Geschlecht und Geschichte ................................................................................ Jutta Röser, Ulla Wischermann Medien- und Kommunikationsforschung: Geschlechterkritische Studien zu Medien, Rezeption und Publikum .................................... Heike Kippel Film: Feministische Theorie und Geschichte ........................................................................ Kristina Reiss Linguistik: Von Feministischer Linguistik zu Genderbewusster Sprache ............................. Senta Trömel-Plötz Sprache: Von Frauensprache zu frauengerechter Sprache .................................................... Carola Muysers Künstlerin/Kunstgeschichte: Zur Konzeption der Künstlerin in der kunsthistorischen Geschlechterforschung ............................................................................. Birgit Dahlke Literatur und Geschlecht: Von Frauenliteratur und weiblichem Schreiben zu Kanonkorrektur und Wissenschaftskritik ......................................................................... Rebecca Grotjahn Musik: Frauen- und Geschlechterforschung in der Musikwissenschaft ................................ Gabriele Mentges Mode: Modellierung und Medialisierung der Geschlechterkörper in der Kleidung ..............
692 697
705 713
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724 730
738 744 750 756
760
767 774 780
Inhalt
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E Technik- und Naturwissenschaften ......................................................................... 787 Tanja Paulitz Technikwissenschaften: Geschlecht in Strukturen, Praxen und Wissensformationen der Ingenieurdisziplinen und technischen Fachkulturen ....................................................... 787 Susanne Ihsen Ingenieurinnen: Frauen in der Männerdomäne ..................................................................... 799 Ruth Becker Raum: Feministische Kritik an Stadt und Raum ................................................................... 806 Andrea Blunck, Irene Pieper-Seier Mathematik: Genderforschung auf schwierigem Terrain ...................................................... 820 Corinna Bath, Heidi Schelhowe, Heike Wiesner Informatik: Geschlechteraspekte einer technischen Disziplin ............................................... 829 Helene Götschel Physik: Gender goes Physical – Geschlechterverhältnisse, Geschlechtervorstellungen und die Erscheinungen der unbelebten Natur ............................................................................... 842 Kerstin Palm Biologie: Geschlechterforschung zwischen Reflexion und Intervention ............................... 851 Robin Bauer Chemie: Das Geschlecht des Labors – Geschlechterverhältnisse und -vorstellungen in chemischen Verbindungen und Reaktionen ...................................................................... 860 F Frauenbewegungen und Gleichstellungspolitiken .............................................. 867 Ilse Lenz Frauenbewegungen: Zu den Anliegen und Verlaufsformen von Frauenbewegungen als sozialen Bewegungen ...................................................................... Stephanie Bock Frauennetzwerke: Geschlechterpolitische Strategie oder exklusive Expertinnennetze? ................................................................................................................. Yvonne P. Doderer, Beate Kortendiek Frauenprojekte: Handlungs- und Entwicklungsräume feministischer Frauenbewegungen ............................................................................................................... Sigrid Metz-Göckel Institutionalisierung der Frauen-/Geschlechterforschung: Geschichte und Formen ......................................................................................................... Agnes Senganata Münst Lesbenbewegung: Feministische Räume positiver Selbstverortung und gesellschaftlicher Kritik ........................................................................................................ Helen Schwenken Migrantinnenorganisationen: Zur Selbstorganisierung von Migrantinnen ............................ Uta Ruppert FrauenMenschenrechte: Konzepte und Strategien im Kontext transnationaler Frauenbewegungspolitik ....................................................................................................... Mechthild Cordes Gleichstellungspolitiken: Von der Frauenförderung zum Gender Mainstreaming ................
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904 910
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Inhalt
Barbara Stiegler Gender Mainstreaming: Fortschritt oder Rückschritt in der Geschlechterpolitik? ....................................................... 933 Verena Bruchhagen, Iris Koall Managing Diversity: Ein (kritisches) Konzept zur produktiven Nutzung sozialer Differenzen .............................. 939
Stichwortverzeichnis ............................................................................................................. 947 AutorInnenverzeichnis .......................................................................................................... 956
Vorwort zur dritten Auflage
Liebe LeserIn, nachdem das „Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung“ in seinen ersten zwei Auflagen erfreulich rege nachgefragt wurde, legen wir nun eine erweiterte und durchgesehene Neuauflage vor. Das Handbuch verdankt sein Entstehen sowie die Aktualisierung und Erweiterung ganz wesentlich dem 1986 begründeten „Netzwerk Frauenforschung NRW“, welches sich zu einem aktiven und produktiven interdisziplinären Netz von derzeit 180 an nordrhein-westfälischen Hochschulen in sehr unterschiedlichen Disziplinen arbeitenden Wissenschaftlerinnen der Frauen- und Geschlechterforschung entwickelt hat. Die Vielzahl von Projekten und Studien im Kontext des Netzwerks belegen die zentrale Bedeutung der Interdisziplinarität – verstanden als gemeinsame Bezugnahme auf zentrale theoretische Konzepte, aber auch als gegenseitige Kenntnisnahme empirischer Erfahrungen (und deren Weiterentwicklung) – für die Frauen- und Geschlechterforschung. Das vorliegende Handbuch gibt daher einen Überblick über die theoretischen Ansätze, die methodischen Verfahren und die empirischen Erkenntnisse der Frauen- und Geschlechterforschung. Ohne die aktive und engagierte Unterstützung der Netzwerkprofessorinnen und Herausgeberinnen der Buchreihe „Geschlecht und Gesellschaft“ – Ilse Lenz, Sigrid Metz-Göckel und Ursula Müller – sowie der Verlegerin Barbara Budrich und der Redakteurin Sabine Schäfer wäre die Umsetzung unseres Plans allerdings kaum gelungen. Gemeinsam bildeten wir ein Redaktionsteam, das die Auswahl der Stichworte, die Gewinnung der AutorInnen, die Begutachtung der Texte und die redaktionelle Überarbeitung in einem höchst anregenden Prozess leistete. Wir danken den genannten Kolleginnen sehr herzlich für die wertvolle und engagierte Zusammenarbeit. Weiter gilt unser Dank Beate Glaubitz (Satzerstellung), Frank Engelhardt (Lektorat VS Verlag) und Dagmar Scheffermann, Anne Casprig und Sandra Vonnahme, die uns bei der Durchsicht des Handbuchs hilfreich zur Seite standen. Letztendlich entstehen konnte dieses Handbuch aber nur durch die Bereitschaft der insgesamt 122 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Frauen- und Geschlechterforschung aus Deutschland, Österreich, Schweden, Australien, der Schweiz, den Niederlanden und USA, zu den insgesamt 113 von uns ausgewählten Stichworten Beiträge zu liefern. Wir freuen uns sehr, dass wir so viele anerkannte WissenschaftlerInnen für die Mitarbeit am Handbuch gewinnen konnten, so dass sich das AutorInnenverzeichnis im Anhang fast schon wie eine kleine Datenbank von Frauen- und GeschlechterforscherInnen liest. Allen AutorInnen gilt unser besonderer Dank! Darüber hinaus danken wir dem Ministerium für Innovation, Wissenschaft, Forschung und Technologie des Landes Nordrhein-Westfalen für die finanzielle Förderung des Projekts.
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Inhalt
Damit Sie, liebe LeserIn, den größtmöglichen Nutzen aus dem Handbuch ziehen können, hier noch eine kurze ‚Gebrauchsanweisung‘. Das Handbuch führt mit seinen Beiträgen zu 113 Stichworten verschiedene Ebenen der Frauen- und Geschlechterforschung systematisch zusammen und ist in drei Teile gegliedert: Im ersten Teil werden „Zentrale Fragestellungen und Theoriekonzepte“ vorgestellt. Darunter fassen wir einerseits die in der Frauen- und Geschlechterforschung entwickelten „Konzepte zum Geschlecht“ (z.B. Patriarchat, Matriarchat, Doppelte Vergesellschaftung oder Doing Gender) und andererseits die „Rezeption und Weiterentwicklung von Theorien“ durch die Frauen- und Geschlechterforschung (z.B. sozialisationstheoretische, marxistische oder modernisierungstheoretische Ansätze). Innerhalb der beiden Gruppen sind die Beiträge, soweit möglich, chronologisch geordnet, um die Entwicklungsstränge der Theoriebildung erkennbar zu machen. Im zweiten Teil geht es um „Methoden und Methodologie“ der Frauen- und Geschlechterforschung. Neben der Vorstellung der ersten empirischen Studien der Alten Frauenbewegung und grundsätzlichen methodologischen Fragen und Debatten – wie zu Parteilichkeit und Betroffenheit – werden häufig angewandte und bedeutsame methodische Verfahren wie die Biografieforschung, die Netzwerkanalyse, die Teilnehmende Beobachtung und die Diskursanalyse aus Sicht der Frauen- und Geschlechterforschung vorgestellt und diskutiert. Im dritten, dem umfangreichsten Teil werden die zentralen „Arbeitsfelder und Forschungsergebnisse“ der Frauen- und Geschlechterforschung in unterschiedlichen Disziplinen (Soziologie, Pädagogik, Politik, Geschichte, Theologie, Medizin, Psychologie, Ingenieur- und Technikwissenschaften, Wirtschafts- und Rechtswissenschaften, Kulturwissenschaften und den Naturwissenschaften) behandelt. Die Beiträge sind in fünf thematisch zentrale Forschungsbereiche gebündelt: „Lebensphasen und -lagen“; „Arbeit, Politik und Ökonomie“; „Körper und Gesundheit“; „Bildung, Kultur und Kunst“; „Technik- und Naturwissenschaften“; „Frauenbewegungen und Gleichstellungspolitiken“. Die Beiträge des Handbuchs sind einheitlich gegliedert. Sie geben eine Übersicht über die jeweiligen zentralen Definitionen, grundlegenden Studien und Debatten, aktuellen (Forschungs-) Ergebnisse sowie einen Ausblick auf Forschungsfragen und Zukunftsvisionen. Zu jedem Handbuchartikel gibt es ein zentrales Stichwort, das vor dem erläuternden Titel steht. Am Ende jedes Aufsatzes finden Sie Verweise auf die Beiträge, die verwandte Themenfelder behandeln. Darüber hinaus ermöglicht das zentrale Schlagwortregister im Anhang einen schnellen Zugriff auf über 450 Kennworte. Wir wissen, dass das Handbuch trotz seines erweiterten Umfangs den Forschungszusammenhang der Frauen- und Geschlechterforschung nicht vollständig erfasst. Dennoch sind wir zuversichtlich, mit unserem Handbuch einen nützlichen Leitfaden für Forschung und Lehre vorzulegen.
Essen 2010
Ruth Becker und Beate Kortendiek Koordinationsstelle Netzwerk Frauenforschung NRW
A Konzepte zum Geschlecht
Eva Cyba
Patriarchat: Wandel und Aktualität
Definitionen von Patriarchat Patriarchat ist für die feministische Theorie und die zweite Frauenbewegung von zentraler Bedeutung, um Ungleichheiten und Diskriminierungen, die Frauen in den unterschiedlichen Lebenssphären betreffen, als Teile eines übergreifenden Phänomens zu erfassen. Die Auseinandersetzung mit diesem Begriff spiegelt auch wesentliche Entwicklungen der feministischen Theorie wider, in deren Diskussionen und Kritik das Verständnis von Patriarchat erweitert und differenziert wurde. Patriarchat ist als ein Schlüsselbegriff für feministische Wissenschaftlerinnen aller Disziplinen relevant, Philosophinnen, Historikerinnen, Soziologinnen, Politikwissenschaftlerinnen, Literaturwissenschaftlerinnen haben zu unterschiedlichen Aspekten wesentliche Erkenntnisse beigetragen. Herkömmlich wurde der Begriff des Patriarchats „als System – historisch abgeleitet vom griechischen und römischen Recht – in dem das männliche Oberhaupt des Haushalts die rechtliche und ökonomische Macht über die von ihm abhängigen weiblichen und männlichen Familienmitglieder ausübt“, verstanden (Lerner 1991: 295). In der neueren Debatte wird diese Definition als zu eng gefasst (gültig nur für eine bestimmte historische Epoche) kritisiert, die weder der historisch belegten Tatsache früherer Formen der männlichen Dominanz über Frauen noch den gegenwärtigen Bedingungen der Diskriminierung von Frauen und deren Ursachen und zu Grunde liegenden Entwicklungen gerecht wird. Die Anforderung an ein entsprechendes Konzept von Patriarchat im Rahmen der feministischen Theorie erfordert, dass dieser Begriff nicht ahistorisch oder ethnozentristisch, gleichzeitig aber als Konzept universell gültig ist, das alle Arten der Unterdrückung in allen Gesellschaften erfassen kann. Unter Patriarchat werden daher die Beziehungen zwischen den Geschlechtern verstanden, in denen Männer dominant und Frauen untergeordnet sind. Patriarchat beschreibt ein gesellschaftliches System von sozialen Beziehungen der männlichen Herrschaft (vgl. Millett 1977), es „meint die Manifestation und Institutionalisierung der Herrschaft der Männer über Frauen und Kinder innerhalb der Familie und die Ausdehnung der männlichen Dominanz über Frauen auf die Gesellschaft insgesamt“ (Lerner 1991: 295), oder es wird definiert als „a system of social structures and social practices in which men dominate, oppress and exploit women“ (Walby 1990: 20). In diesen Definitionen geht es um die Monopolisierung von Machtpositionen in allen sozialen Bereichen und nicht nur um einen Ausschnitt daraus (etwa die Familienverhältnisse), denn zentrale Bereiche der Ungleichheit und Diskriminierung lassen sich nicht aus der innerfamiliären Konstellation herleiten (vgl. Witz 1992). Nach allen Definitionen verweist Patriarchat auf soziale Ungleichheiten, auf asymmetrische Machtbeziehungen und soziale Unterdrückung und auf die Tatsache, dass es sich dabei nicht um ein natürliches oder selbstverständliches Phänomen handelt.
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Eva Cyba
Historische Entwicklungen Diese Definitionen bilden auch die Voraussetzung, jene historische Entwicklung aufzuzeigen, die zur Verfestigung der Herrschaft von Männern geführt hat. Zunächst wurde die Entstehung patriarchaler Strukturen aus umfassenden historischen Übergängen zu erklären versucht. Engels ist im Anschluss an Morgan und an Bachofen davon ausgegangen, dass die ursprüngliche soziale Organisation („die Horde“) von einer Gleichheit der Geschlechter bestimmt war und sich die patriarchalen Strukturen erst nach einer Zwischenetappe matriarchal organisierter Gesellschaftsformen durchgesetzt haben. Das Mittel dazu war die monogame Einehe, wodurch Männer einen Machtvorsprung gewinnen. „Der erste Klassengegensatz, der in der Geschichte auftritt, fällt zusammen mit dem Antagonismus von Mann und Frau in der Einzelehe, und die erste Klassenunterdrückung mit der des weiblichen Geschlechts durch das männliche“ (Engels 1974: 76). Damit ist das Patriarchat als ein zentrales Element von sozialen Klassenantagonismen definiert. Die historische Entwicklung von prähistorischen Gesellschaften ist nach wie vor umstritten, vor allem ist es kontrovers, ob es tatsächlich eine matriarchale Gesellschaftsform als eine eigene Epoche der Gesellschaftsentwicklung gegeben und ob eine evolutionäre Entwicklung in Hinblick auf die Rolle der Frauen stattgefunden hat (vgl. z.B. Dux 1992). Neuere Ansätze sprechen von geschlechtssymmetrischen Gesellschaften anstelle des Matriarchats, das eine Vorrangstellung der Mutter suggeriert (vgl. Lenz/Luig 1995). Auch wenn wir immer mehr über historische Gesellschaften erfahren sollten, werden sich die historischen Debatten wohl kaum vollständig entscheiden lassen. Was aber als gesichert anzunehmen ist, ist der Umstand, dass Frauenunterdrückung und Benachteiligung historisch weit zurückreichen. Gerda Lerner (1991) hat die historischen Befunde systematisch unter dem Gesichtspunkt analysiert, ob man tatsächlich von der Verbreitung einer matriarchalen Sozialorganisation im Kontext umfassender evolutionärer Veränderungen sprechen kann. Sie kommt zwar zu einem negativen Ergebnis, betont jedoch, dass sich im Neolithikum und im Bronzezeitalter alternative Modelle zur Männerherrschaft nachweisen lassen. Das Patriarchat als ein alle Lebensbereiche durchdringendes Herrschaftssystem reicht bis in das dritte Jahrtausend vor Christus zurück. Erkennbar ist die Verfestigung dieser Struktur an Änderungen der religiösen Symbolik, vor allem an der Zurückdrängung weiblicher Göttinnen und an einer strukturellen Spaltung in „respektable“ (an einen Mann gebundene) und in „nichtrespektable“ Frauen, mit der eine Vielfalt sozialer Konsequenzen verbunden war. Dabei geht es Lerner nicht um den historischen Ursprung des männerdominierten Herrschaftssystems als einem „überzeitlichen“ Phänomen, sondern darum, unter verschiedenen historischen Bedingungen spezifische Ursachen der Benachteiligung und Unterdrückung der Frauen aufzuzeigen. Neuere sozial- und kulturanthropologische Forschungen haben die Konsolidierung des Patriarchats in vormodernen korporativen Hauswirtschaften in Bauerngesellschaften herausgearbeitet. Während die älteren Männer die jüngeren Männer in der Produktion kontrollieren, wird die Frau als Produzentin und Reproduzentin, als Gebärerin der Kinder und als Arbeitskraft in der Hauswirtschaft ausgebeutet (vgl. zusammenfassend Moore 1988). Eine differenzierte Analyse des Patriarchalismus im Übergang von der traditionellen zur kapitalistischen Gesellschaft wird in den historisch-empirischen Studien von Ursula Beer und Ute Gerhard geleistet, die zeigen, „dass mit dem Aufkommen des Kapitalismus und der Etablierung einer bürgerlichen Gesellschaft Frauen erneut ins Hintertreffen geraten sind“ (Gerhard 1978: 8). Gerhard argumentiert, dass bürgerliche Rechtsverhältnisse durch den Widerspruch gekennzeichnet sind, einerseits allgemeine Gleichheit zu garantieren, aber gleichzeitig andererseits Frauen von der Rechtsgleichheit auszuschließen. Dies lässt sich in nach wie vor gültigen Regelungen über die Familie nachweisen, die viel weniger als die marktvermittelte Sphäre von patriarchalisch rechtlichen Regelungen befreit wurde (vgl. Gerhard 1990). Ursula Beer (1990) versucht mit dem Konzept des „Sekundärpatriarchalismus“ das Weiterwirken der männlichen Dominanz in der kapitalistisch-warenproduzierenden Gesellschaft zu erfassen. Durch die Monopolisierung von Machtpositionen durch Männer reproduziert sich über die berufliche Dominanz („marktli-
Patriarchat
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cher Sekundärpatriarchalismus“) hinaus auch ihre überragende Machtposition in der „privaten“ Sphäre von Familienbeziehungen („familialer Sekundärpatriarchalismus“).
Patriarchat, Kapitalismus und Staat Mit dem Konzept Patriarchat ist eine Sichtweise verbunden, die die strukturellen Ähnlichkeiten in den einzelnen Formen von Diskriminierung und Ungleichheit hervorhebt. Das Konzept ist jedoch ohne weitere Spezifizierung nicht geeignet, diese Diskriminierungen und Ungleichheiten auch zu erklären. Es besteht vielmehr die Gefahr einer zirkulären Begründung: Die Diskriminierung der Frauen besteht in der Vorherrschaft von Männern und wird durch diese Vorherrschaft verursacht, Diskriminierung also aufgrund von Diskriminierung erklärt. Wenn man geschlechtsspezifische Asymmetrien von vornherein immer schon als Ausdruck von Männerherrschaft definiert, so ist über die konkreten Ursachen und Mechanismen der Diskriminierung noch nichts ausgesagt. Eine Reihe von Autorinnen sieht die „Basis“ für die Aufrechterhaltung des Patriarchats in unterschiedlichen Institutionen: sei es die Gegebenheit der biologischen Reproduktion (vgl. Firestone 1974), die Zwangsheterosexualität (vgl. Rich 1980) oder die Kontrolle des Ehemanns über die Arbeit der Frau (vgl. Delphy 1984). Der Blickwinkel erweitert sich zunehmend und damit die Betonung der Vielfalt der wesentlichen Grundlagen der hierarchischen Organisation des Geschlechterverhältnisses: Arbeitsteilung, Generativität, Sexualität und Politik (vgl. Becker-Schmidt 1993). Sylvia Walby (1990) hat es unternommen, mit Hilfe des Konzepts Patriarchat die Benachteiligungen von Frauen in allen zentralen Lebensbereichen in einer systematischen und zusammenfassenden Weise zu erklären. Beschäftigungssystem, Reproduktionsarbeit, Kultur, Sexualität, Gewalt und die staatliche Regelung von Geschlechterbeziehungen sind aus ihrer Sicht durch Unterdrückung und Ausbeutung von Frauen durch Männer bestimmt. Indem sie konkrete Bereiche und Ereignisse benennt und Akteure identifiziert, die von Akten der Unterdrückung betroffen sind bzw. davon profitieren und sie aktiv hervorbringen, vermag sie patriarchale Unterdrükkung als eine nach wie vor wirksame empirische Realität nachzuweisen. Allerdings bringt die Subsumierung aller Formen geschlechtlicher Ungleichheiten unter das Konzept des Patriarchats Probleme mit sich. Den Frauen wird eine bloß passive Rolle zugestanden, obwohl sie – wie auch Walby vermerkt – nicht nur Opfer sind, sondern sich sehr wohl auch für ihre Interessen einsetzen. Ausgeblendet sind die – trotz patriarchaler Strukturen – immer wieder erreichten Verbesserungen der Situation von Frauen, die einbezogen werden müssen, will man die gegenwärtige soziale Situation von Frauen bzw. die Reproduktion der Geschlechterverhältnisse erklären. In der weiteren Diskussion geht es um die Frage, ob unter der bestehenden kapitalistischen Wirtschaftsordnung, die alle Lebensbedingungen durchdringt, mit dem Konzept des Patriarchats allein die Benachteiligung von Frauen hinreichend erfasst und analysiert werden kann. Es werden daher Kapitalismus und Patriarchat als die beiden Ursachen der Frauenunterdrückung angenommen. Patriarchale Strukturen und kapitalistische Verhältnisse sind verschränkt, aber nicht identisch (vgl. Becker-Schmidt 1994: 530). Für TheoretikerInnen stellt sich folglich die Aufgabe, das Zusammenwirken dieser beiden zentralen Institutionen zu erklären. Der „dualistische Ansatz“ betrachtet die Diskriminierung der Frauen als eine Folge der kapitalistischen Wirtschaftsweise, die benachteiligte soziale und berufliche Positionen schafft, die mit Gruppen von Frauen besetzt werden, die keine Alternative haben. Männer kontrollieren damit innerhalb und außerhalb der Familie die Arbeit der Frauen. „The present status of women in the labor market and the current arrangement of sex-segregated jobs is the result of a long process of interaction between patriarchy and capitalism“ (Hartmann 1981: 167). In dieser Formulierung sind die Wirkungen von Kapitalismus und Patriarchat komplementär und miteinander theoretisch eng verknüpft. In ähnlicher Weise verweisen Cockburn (1988), Acker
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Eva Cyba
(l988) und Crompton (1993) darauf, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem von vornherein schon mit einem Reservoir unqualifizierter weiblicher Arbeitskräfte rechnet, die auf diese Stellen angewiesen sind und darüber hinaus unentgeltlich jene unerlässlichen Reproduktionsarbeiten übernehmen, ohne die das kapitalistische Wirtschaftssystem gar nicht funktionieren könnte. Gleichzeitig verschleiere die ideologische Separierung von Privatsphäre und Beruf die Ursachen der Frauendiskriminierung (vgl. Becker-Schmidt 1993). Walby (1990) weist aber darauf hin, dass auch strukturelle Konflikte zwischen diesen beiden Institutionen vorhanden sind: u.a. ist die betriebliche Ausbeutung von Ehefrauen gegen die Interessen der Ehemänner gerichtet. Nicht adäquat berücksichtigt ist in diesen theoretischen Ansätzen die Rolle des Staats. Helga Hernes (1987) betont in diesem Zusammenhang die Rolle von patriarchalen öffentlichen Institutionen für die Verteilung von Lebenschancen zwischen den Geschlechtern und spricht von einem Übergang von einem privaten zu einem öffentlichen Patriarchat, das durch vorgeblich „sachliche“ und unpersönliche Strukturen bestimmt ist. Durch den Bedeutungsverlust traditioneller Familienformen und die stärkere Integration von Frauen in die Berufswelt werden Frauen in immer stärkerem Maße von den Institutionen des Sozialstaates abhängig, die ihrerseits von (häufig unerkannten) patriarchalen Elementen durchsetzt sind, also die Lebensumstände von Frauen und ihre daraus entstehenden Interessen missachten und dadurch Abhängigkeiten von Männern schaffen oder verstärken. Da sozialpolitische Leistungen in der Regel durch das Versicherungsprinzip an die Erwerbsarbeit gebunden sind und Frauen häufig diskontinuierliche Erwerbsverläufe haben, sind zum Beispiel Frauen bei Pensionsregelungen, die auf männliche Erwerbskarrieren abgestimmt sind, automatisch benachteiligt und durch nicht existenzsichernde Pensionen entweder auf Ehemänner oder staatliche Transferzahlungen angewiesen (vgl. Cyba 2000: 250ff.). Damit wird die staatliche Politik als eine immer wichtiger werdende Arena der Macht- und Chancenverteilung zwischen den Geschlechtern wahrgenommen. Während Feministinnen, die an marxistischen oder dualistischen Ansätzen orientiert sind, im Staat eher einen Unterdrückungsmechanismus sehen, dessen Praxis die Durchsetzung patriarchaler und kapitalistischer Interessen befördert, wird von anderen Theoretikerinnen seine Rolle differenzierter wahrgenommen: Der Staat wird als Institution angesehen, die auch dazu beitragen kann, patriarchale Strukturen zu beseitigen (vgl. Dahlerup 1987, Hernes 1987). Aus der Perspektive der empirischen Analyse und der Erklärung von Frauenbenachteiligungen und Ungleichheiten haftet dem Konzept des Patriarchats trotz aller Differenzierungen ein grundlegender Mangel an. Es lenkt die Aufmerksamkeit zu einseitig auf die Rolle von Männern und auf die von ihnen dominierten Strukturen. Auch wenn es Männer sind, die von der Schlechterstellung der Frauen profitieren und häufig auch ein explizites Interesse an der Aufrechterhaltung dieser Situation haben, die sie durch ihre Praxis perpetuieren, so ist der Hinweis auf diesen Sachverhalt für eine Erklärung konkreter Benachteiligungen unzureichend. Es wird dabei einerseits übersehen, dass Konstellationen entstehen können, die von niemandem intendiert wurden, sondern aufgrund ihrer Trägheit als selbstverständliche Traditionen reproduziert werden. Andererseits wird die aktive Rolle der Frauen unterschätzt, die nicht nur passive Objekte der Unterdrückung sind, sondern aufgrund ihrer eigenen individuellen Interessen in die Reproduktion ihrer benachteiligten Situation eingebunden sind. Frauen sind aber auch zunehmend kollektive Akteure, die durch ihre Interventionen patriarchale Strukturen in Frage gestellt, abgeschwächt oder überhaupt zerstört haben. Dies ist in der Form von mehr oder minder organisierten Frauenbewegungen geschehen wie durch die bewusste Vertretung von Fraueninteressen im Rahmen traditioneller politischer Institutionen. Auch wenn die nach wie vor bestehende Dominanz von Männern in den staatlichen Institutionen eine Gleichstellung von Frauen verhindert, so bietet der moderne Staat einen institutionellen Rahmen, der zumindest im Prinzip die Durchsetzung von Fraueninteressen ermöglicht. Ob davon tatsächlich Gebrauch gemacht wird, hängt von konkreten, theoretisch nicht bestimmbaren Umständen ab.
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Ausblicke für die feministische Forschung Die Bedeutung des Konzepts Patriarchat ist zwar unbestritten, gleichzeitig muss aber davon ausgegangen werden, dass das Patriarchat „does not derive from a single set of social relations but from a complex system of interrelated structures and relations“ (Dahlerup 1987: 102). Geschlechterbeziehungen in den unterschiedlichen Lebensbereichen und in verschiedenen regionalen Zusammenhängen gestalten sich je nach den dort wirksamen Machtverhältnissen unterschiedlich. Sie stellen unterschiedliche Arenen für Verteilungskämpfe dar, deren Ausgang durch eine Reihe von konkreten Bedingungen bestimmt wird. Patriarchale Strukturen zu erklären bedeutet, jeweils die Personen – Frauen wie Männer – anzugeben, die von ihnen betroffen sind bzw. zu ihrem Bestehen aus konkreten Motiven heraus beitragen. Zugleich gilt es, jene Mechanismen zu identifizieren, mit deren Hilfe Frauen unterdrückt werden und die dazu führen, dass sie Unterdrückung und Benachteiligungen hinnehmen. Dies können allgemein rechtliche und sozialpolitische Regelungen, soziale Konventionen, das Fernhalten von strategisch günstigen Positionen, die Zuteilung benachteiligender Arbeiten in der Erwerbssphäre, der Verweis auf die Tradition des „Immer schon Gewesenen“, die Ausübung von Gewalt, die Routine alltäglichen Handelns und andere Formen sein (vgl. Cyba 2000). Daher sollte man „Patriarchat“ als einen Begriff auffassen, mittels dessen Fragen formuliert werden, der jedoch keine endgültigen Antworten gibt. Denn Patriarchat ist, wie die historische Entwicklung zeigt, keine unveränderlich gegebene „Struktur“, sondern vielfachen Wandlungen unterworfen und nimmt in Gesellschaften, die durch differenzierte Lebensbereiche bestimmt sind, verschiedene Formen an. Feministische Forschung muss die Mechanismen der Frauenunterdrückung in ihren vielfältigen Manifestationen in den einzelnen Lebensbereichen ebenso konkret zu erfassen versuchen wie die Gegenbewegungen. Das Konzept des Patriarchats hat auch für diese Analysen eine überragende Bedeutung. Es verweist auf der einen Seite auf die Geschichte der Frauenunterdrückung, gleichzeitig macht es andererseits deutlich, dass Diskriminierungen und Ungleichheiten in einzelnen Lebensbereichen in einem komplexen Zusammenhang stehen. Die Verschränkungen und Widersprüche patriarchaler Strukturen zu analysieren ist auch künftig eine wichtige Aufgabe feministischer Forschung. Der empirische Nachweis unterschiedlicher Typen patriarchaler Strukturen könnte eine Grundlage für politische Maßnahmen sein, die stärker aufeinander abgestimmt Diskriminierungen beseitigen. Verweise: Geschlechtssymmetrische Gesellschaften Matriarchat Sekundärpatriarchalismus
Literatur Acker, Joan 1988: Class, Gender and Relations of Distribution. In: Signs, Heft 13/1988, S. 473-497 Becker-Schmidt, Regina 1994: Geschlechterverhältnis, Technologieentwicklung und androzentrische Ideologieproduktion. In: Beckenbach, Nils/Werner van Treeck (Hrsg.): Umbrüche gesellschaftlicher Arbeit. Soziale Welt, Sonderband 9. Göttingen: Schwartz, S. 527-538 Becker-Schmidt, Regina 1993: Geschlechterdifferenz – Geschlechterverhältnis: soziale Dimensionen des Begriffs Geschlecht. In: Zeitschrift für Frauenforschung 11, Heft 1/2, S. 37-46 Beer, Ursula 1990: Geschlecht, Struktur, Geschichte. Soziale Konstituierung des Geschlechterverhältnisses. Frankfurt/M., New York: Campus Cockburn, Cynthia 1988: Die Herrschaftsmaschine. Geschlechterverhältnisse und technisches Know-how. Berlin: Argument (engl. Original 1985) Crompton, Rosemary 1993: Class and Stratification. An Introduction to Current Debates Cambridge: Polity Press Cyba, Eva 2000: Geschlecht und soziale Ungleichheit. Konstellationen der Frauenbenachteiligung. Opladen: Leske + Budrich
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Matriarchat: Forschung und Zukunftsvision
Geschichtlicher Zeitraum Die matriarchale Gesellschaftsform ist nicht die Umkehrung der patriarchalen, sondern besitzt eine völlig andersartige gesellschaftliche Struktur. Sie existierte weltweit in den tropischen, subtropischen und gemäßigten Zonen der Erde, die Pflanzenbau zulassen, und hat sich in Enklaven bis in die Gegenwart erhalten. Sie löste die frühere Jäger- und Sammlerinnenkultur ab durch umwälzende Entwicklungen, die wesentlich von Frauen initiiert wurden: die Erfindung des Pflanzenanbaus, der vom einfachen Gartenbau bis zum großflächigen Ackerbau mit Hilfe komplizierter Bewässerungssysteme reicht, die Veredelung von Pflanzen und die Domestikation von Haustieren, die Erfindung des Hausbaus und der häuslichen Künste wie Spinnen und Weben von Pflanzenfasern, Töpferei, Kochen und Konservieren von Lebensmitteln. Hinzu traten die ersten Wissenschaften wie Pflanzenheilkunde, frühe Astronomie zur Bestimmung von Aussaat und Ernte sowie eine hochentwickelte Architektur in steinernen Grabanlagen, Kultplätzen und Observatorien (Megalithkultur). Man nennt die Entwicklung dieser neuen Wirtschafts- und Lebensweise die „neolithische Revolution“. Die matriarchale Kultur umspannt einen Zeitraum von mehreren Jahrtausenden, der von der Jungsteinzeit bis zur späten Bronzezeit reicht und die frühesten städtischen Zentren umfasst. Stichdaten für Westasien/Europa: früheste Städte Cayönü (Anatolien), Muraibit (Syrien), Jericho (Palästina) um 9.000 vor u.Z., später folgen Chatal Hüyük und Hacilar (Anatolien) um 7.000 vor u.Z., späteste matriarchale Stadtkultur: Kreta, bis 1.600 vor u.Z. Stichdaten für andere Kontinente: Beginn der Töpferei, Domestikation von Tieren und Pflanzenanbau in Ostasien: 10.500-6.000 vor u.Z., in Indien 7.000 vor u.Z., in Afrika 7.500-6.000 vor u.Z., in Südamerika 8.500 vor u.Z., in Mexiko und Nordamerika 7.000 vor u.Z., Fortdauer der matriarchalen Gesellschaftsform in diesen Kontinenten bis heute (vgl. dazu Weltatlas der Archäologie 1990, Gimbutas 1996).
Definition Matriarchat Die Erforschung der heute noch existierenden matriarchalen Gesellschaften erlaubt es, diese Gesellschaftsform auf der ökonomischen, sozialen, politischen und weltanschaulich-spirituellen Ebene genau zu definieren, was anhand des archäologischen Materials allein nicht möglich wäre. Solche Gesellschaften sind z.B. die Khasi und Garo in Nordost-Indien, die Nayar in Südindien, die Mosuo in Südwest-China, die Minangkabau auf Sumatra, die Tuareg in Nordafrika, die Akan-Völker in Westafrika, einige Bantu-Völker in Zentralafrika, die Arawak in Südamerika, die Cuna in Panama, die Zapoteken von Juchitàn in Mexiko, einige Pueblound Irkoesen-Völker in Nordamerika und andere. Außerdem gibt es noch Dutzende Völker mit restmatriarchalen Mustern (vgl. dazu und zum Folgenden Göttner-Abendroth 1991/1999, 1998 und 2000).
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Matriarchale Ökonomie Auf der ökonomischen Ebene sind Matriarchate meistens, aber nicht ausschließlich, Ackerbaugesellschaften, was durch ihre Entstehungsgeschichte bedingt ist. Denn die frühesten Hirtengesellschaften, die den matriarchalen Ackerbaugesellschaften als Sekundärkulturen angegliedert waren, besaßen ebenfalls matriarchale Sozialordnungen. Es wird Subsistenzwirtschaft mit lokaler oder regionaler Autarkie praktiziert. Land und Häuser sind Eigentum des Clans im Sinne von Nutzungsrecht; Privatbesitz und territoriale Ansprüche sind unbekannt. Die Frauen haben die Kontrolle über die wesentlichen Lebensgüter: Felder, Häuser, Nahrungsmittel; dabei ist die Sippenmutter die Verwalterin des Clanschatzes. Die Güter befinden sich in lebhaftem Austausch, der den Verwandtschaftslinien und Heiratsregeln folgt. Dieses System des Austauschs verhindert, dass Güter bei einem Clan oder bei einer Person akkumuliert werden können. Das Ideal ist Verteilung und nicht Akkumulation. Vorteile und Nachteile beim Erwerb von Gütern werden durch soziale Regeln ausgeglichen: Zum Beispiel sind wohlhabende Clans bei den zahlreichen, gemeinschaftlichen Festen verpflichtet, das ganze Dorf einzuladen, was den Reichtum dieser Clans drastisch vermindert. Dafür haben sie „Ehre“, d.h. soziales Ansehen, gewonnen, was sie in Zeiten der Not schützt. Denn dann sind andere wohlhabende Clans verpflichtet, sich für die Gemeinschaft zu verausgaben. Auf der ökonomischen Ebene sind Matriarchate gekennzeichnet von perfekter Gegenseitigkeit, sie werden daher als Ausgleichsgesellschaften definiert.
Matriarchale Sozialordnung Auf der sozialen Ebene beruhen matriarchale Gesellschaften auf dem Clan. Matriarchale Menschen leben in großen Sippen zusammen, die nach dem Prinzip der Matrilinearität, der Verwandtschaft in der Mutterlinie, aufgebaut sind. Der Clanname, alle sozialen Würden und politischen Titel werden in der mütterlichen Linie vererbt. Ein Matri-Clan besteht aus mindestens drei Generationen von Frauen: der Clanmutter und ihren Schwestern, deren Töchter und Enkelinnen. Hinzu kommen die direkt verwandten Männer: die Brüder der Clanmutter, die Söhne und Enkel. Ein Matri-Clan lebt im großen Clanhaus zusammen, das zehn bis 100 Personen je nach Größe und architektonischem Stil umfassen kann. Die in Mutterlinie verwandten Frauen und Männer verlassen das mütterliche Clanhaus nicht. Man nennt dies Matrilokalität. Männer besuchen ihre Liebespartnerinnen oder Gattinnen nur über Nacht in deren Clanhaus und sind dort Gäste. Diese Form der Ehe wird Besuchsehe genannt und ist jederzeit von beiden Seiten leicht auflösbar. Demgegenüber haben Männer im mütterlichen Clanhaus die Rechte und die Pflichten eines vollen Clanmitglieds. Die Kinder der Gattinnen gehören zu deren Clanhaus, denn sie tragen den Clannamen der Mutter. Männer betrachten nicht diese Kinder, sondern die Schwesterkinder als am nächsten mit sich verwandt, weil sie denselben Clannamen tragen wie sie. Die biologische Vaterschaft in unserem Sinne ist unbekannt oder spielt, selbst wenn sie bekannt ist, als sozialer Faktor keine Rolle. Die Männer üben bei den Schwesterkindern die soziale Vaterschaft aus. Eine Reihe komplexer Heiratsregeln sorgt in matriarchalen Gesellschaften dafür, dass jeder Clan mit den anderen Clans des Dorfes oder der Stadt verbunden ist, so die Regel der generationenlangen wechselseitigen Heirat zwischen je zwei Clans und ergänzende Regeln der freien Wahl mit den anderen Clans. Die Auswirkung, dass alle Mitglieder des Dorfes oder der Stadt näher oder ferner miteinander verwandt sind, ist dabei beabsichtigt. Denn die allgemeine Verwandtschaft stellt ein gegenseitiges Hilfssystem nach festen Regeln dar. Auf diese Weise wird eine nicht hierarchisch organisierte, horizontale, egalitäre Gesellschaft erzeugt, die sich als erweiterter Clan mit allen wechselseitigen Hilfsverpflichtungen versteht. Matriarchate werden daher auf der sozialen Ebene als matrilineare Verwandtschaftsgesellschaften definiert.
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Matriarchale Politik Auf der politischen Ebene sind die Prozesse der Entscheidungsfindung ebenfalls entlang den Verwandtschaftslinien organisiert. Basis jeder Entscheidungsfindung sind die einzelnen Clanhäuser. Angelegenheiten, die das Clanhaus betreffen, werden von den Frauen und Männern in einem Prozess der Konsensfindung, d.h. ausschließlich durch Einstimmigkeit, entschieden. Kein Haushaltsmitglied darf mit seiner Stimme ausgeschlossen werden, Kinder sind ab 13 Jahren Clanmitglieder mit vollem Stimmrecht. Dasselbe gilt für Entscheidungen, die das ganze Dorf betreffen: Nach dem Rat im Clanhaus treffen sich die Vertreter der einzelnen Clanhäuser im Dorfrat, in manchen Gesellschaften die Clanmütter selbst, in anderen die gewählten Mutterbrüder. Sie sind keine Entscheidungsträger, sondern nur Delegierte, die miteinander austauschen, was die einzelnen Clanhäuser beschlossen haben. Sie halten das Kommunikationssystem im Dorf aufrecht und gehen so lange zwischen Clanrat und Dorfrat hin und her, bis der Konsens als Einstimmigkeit auf Dorfebene gefunden ist. Ebenso auf regionaler Ebene: Hier werden die Entscheidungen der Dörfer und Städte auf regionaler Ebene ebenfalls von Delegierten, in der Regel den angesehensten Männern, durch Information koordiniert. Auch hier gehen die Delegierten zwischen Dorfrat und regionalem Rat so lange hin und her, bis die Region durch alle Clanhäuser aller Dörfer den Konsens gefunden hat. Bei dieser politischen Form können sich Hierarchien und Klassen nicht bilden, auch kein Machtgefälle zwischen den Geschlechtern oder den Generationen. Minderheiten können nicht durch Mehrheitsentscheidungen ausgegrenzt und stimmlos gemacht werden, denn sämtliche politischen Entscheidungen fallen sozusagen basisdemokratisch. Auf der politischen Ebene werden Matriarchate daher als egalitäre Konsensgesellschaften definiert.
Matriarchale Spiritualität Auf der weltanschaulich-spirituellen Ebene können matriarchale Gesellschaften nicht mit solchen Begriffen wie „Naturreligion“, „Animismus“ und „Fruchtbarkeitskult“ charakterisiert werden. Diese Zuschreibungen sind nicht nur abwertend, sondern auch falsch, denn Matriarchate besitzen komplexe weltanschauliche und religiöse Systeme. Die grundlegende Vorstellung vom Leben ist ein sehr konkreter Wiedergeburtsglaube: Jedes Mitglied eines Clans ist davon überzeugt, dass es durch die jungen Frauen des Clans immer wiedergeboren wird. Kinder gelten daher als die wiedergeborenen Ahn/innen der Sippe und sind heilig. Frauen werden dafür geehrt, dass sie die Wiedergebärerinnen des Clans sind, Tod also in Leben umwandeln können. Leben und Tod werden als sich zyklisch abwechselnde Prozesse aufgefasst, die der Natur mit ihrem Wachsen, Reifen, Welken und Wiederkehren abgeschaut sind. Auch der Kosmos spiegelt ihnen im ständig wechselnden Auf- und Untergang der Gestirne dasselbe zyklische Prinzip, am eindrücklichsten der Mond mit seinen wechselnden Phasen. Die Erde wird als die Große Mutter verehrt, denn sie gebiert, ernährt, transformiert und wiedergebiert alles Lebendige. Sie gilt als die eine Urgöttin, die andere Urgöttin ist die kosmische Göttin als Schöpferin des Universums. Der matriarchale Begriff von Göttlichkeit ist immanent, denn die gesamte Welt wird als göttlich betrachtet, und zwar als weiblich göttlich. Deshalb besitzen alle Erscheinungen der Natur Göttlichkeit: Frauen wie Männer, Tiere wie Menschen, die Elemente genauso wie die Lebewesen. Der Makrokosmos des Universums gilt als gleichartig wie der Mikrokosmos der Menschenwelt. Das matriarchale Makrokosmos-Mikrokosmos-Prinzip erscheint in vielfachen Relationen: Universum und Erde, Erde und Gesellschaft, Gesellschaft und einzelner Mensch. Gemäß diesem Prinzip spiegelt sich alles ineinander und folgt im Großen wie im Kleinen denselben Gesetzmäßigkeiten. In einer solchen Kultur ist alles religiös oder spirituell, es gibt keine Trennung von sakralem und profanem Bereich. So sind Tätigkeiten des alltäglichen Lebens wie Säen, Ernten,
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Kochen, Weben zugleich bedeutungsvolle Rituale. Das Zentrum des religiösen Lebens sind die Jahreszeiten-Feste, an denen alle beteiligt sind. Dabei wird in reichen Symbolsystemen alles, was zur matriarchalen Welt gehört, abgebildet und gefeiert. Auf der religiösen Ebene werden Matriarchate daher als sakrale Gesellschaften und Göttinkulturen definiert.
Bisherige Entwicklung der Matriarchatsforschung Die Aufgabe der Matriarchatsforschung ist, die lange geschichtliche Epoche der Entstehung, Ausbreitung und Differenzierung der matriarchalen Gesellschaftsform bis zu ihren Ausläufern in der Gegenwart darzustellen. Das schließt sowohl die Beschreibung der konkreten matriarchalen Kulturen in Geschichte und Gegenwart ein wie die Bildung konsistenter und umfassender Theorie, um diese Phänomene angemessen zu erfassen. Ferner gehört dazu die Erklärung der Entstehung des Patriarchats und seiner Entwicklung bis heute sowie das Aufzeigen der unterschwelligen Weiterwirkung von matriarchalen Traditionen während der patriarchalen Epoche. Diese Aufgabe wurde von der herkömmlichen Matriarchatsforschung nur bruchstückhaft oder gar nicht bewältigt. Ihr problematischer Zustand liegt in erster Linie am Fehlen einer wissenschaftlichen Definition von „Matriarchat“, was sie trotz wichtiger Einzelergebnisse in einem vorwissenschaftlichen Status beließ. Sie begann 1861 mit Bachofens kulturhistorischer und 1877 mit Morgans ethnologischer Forschung. Danach wurde sie von Wissenschaftlern und Theoretikern wie Cunow (1923), Schmidt (1955), Briffault (1969) und Malinowski (1979) in der ethnologischen Richtung weitergeführt, von Engels (1884), Bebel (1967) und Reich (1975) in der sozialtheoretischen Richtung, von Fromm (1970) und Neumann (1974) in der psychologischen Richtung, von Frazer (1890-1915, veröff. 1977), James (2003, veröff. 1960) und von RankeGraves (1981) in der religionswissenschaftlichen Richtung. Das geschah allerdings meist verdeckt, um Diffamierung von Seiten der Fachkollegen zu vermeiden, da die Matriarchatsforschung noch immer tabuisiert wird. Weitere Probleme liegen an der bewusst oder unbewusst abwertenden Haltung fast aller Forscher gegenüber dem Matriarchat, ferner an der Zersplitterung des Themas über mehrere Disziplinen. Am problematischsten sind die ideologischen Konstruktionen, die diesem Thema mangels einer sachgerechten Definition übergestülpt wurden und die lediglich die (patriarchale) Weltanschauung der Forscher beweisen. Deshalb konnte die Matriarchatsforschung auch für politische Zwecke missbraucht werden, wie es unter dem Nationalsozialismus mit völlig konträrer Einschätzung geschah. Neuere feministische Ansätze zur Matriarchatsforschung kranken ihrerseits an einer naiven, methodenlosen Verarbeitung des Themas (vgl. zur Forschungsgeschichte Göttner-Abendroth 1988/1995).
Aktueller Stand der Matriarchatsforschung Die Aufgabe der Matriarchatsforschung wird gegenwärtig schrittweise bewältigt, da die Matriarchatsforschung erstmalig auf eine wissenschaftliche Grundlage gestellt wird. Das Vorgehen dieser modernen Matriarchatsforschung ist interdisziplinär, methodisch reflektiert und ideologiekritisch; darin unterscheidet sie sich von der vorwissenschaftlichen Matriarchatsforschung. Bisher hat sie folgende Ergebnisse vorgelegt: Es wurde eine wissenschaftliche Definition von „Matriarchat“ entwickelt, doch nicht als abstraktes Konstrukt, sondern anhand der Darstellung der heute noch lebenden matriarchalen Gesellschaften (vgl. Göttner-Abendroth 1991/1999 und 2000). Zu dieser Gesamtdarstellung heutiger matriarchaler Gesellschaften treten zahlreiche Monographien zu einzelnen Gesellschaften hinzu (vgl. Yan Ruxian 1980, Rentmeister 1985, Claudot-Hawad 1989, Bennholdt-Thomsen 1994, Göttner-Abendroth 1998, Makilam 2001, Reeves-Sanday 2002, Du 2002 u.a.).
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Hinsichtlich der kulturellen Formen und geschichtlichen Entwicklung des Matriarchats wurden mehrere theoretische Werke vorgelegt: Zuerst wurde damit begonnen, die Grundzüge matriarchaler Religion und ihre Nachwirkungen im Patriarchat zu analysieren, so 1976 Merlin Stone in „Als Gott eine Frau war“ (deutsch 1989) und 1980 im deutschsprachigen Raum Heide Göttner-Abendroth in „Die Göttin und ihr Heros“ (englisch 1997). 1984 analysierte Gerda Weiler in „Das Matriarchat im Alten Israel“ (1989) anhand der Bibel die matriarchalen Muster bei den Stämmen des alten Israel. Danach erschienen umfassendere Darstellungen der matriarchalen Kulturgeschichte, zuerst 1987 Riane Eisler in „Kelch und Schwert“ (deutsch 1993), worin sie zwei Grundmodelle menschlicher Gesellschaftsbildung, das Herrschaftsmodell und das Partnerschaftsmodell, beschreibt. Letzteres wurde von Frauen geschaffen und zeigt in seiner geschichtlichen Entwicklung die Werte von gegenseitiger Hilfe und Fürsorge, Egalität und Gewaltlosigkeit. Eisler bezeichnet es als den Ausgang und das eigentliche Ziel der kulturellen Evolution, die jedoch blockiert und abgeschnitten wurde durch das frühgeschichtliche Ereignis der Entstehung des Herrschaftsmodells. 1988 folgte im deutschsprachigen Raum Carola Meier-Seethalers „Ursprünge und Befreiungen“ (1992), worin sie die Entwicklung des Matriarchats von der Frühzeit bis zu den ersten Hochkulturen nachzeichnet. Ihre Darstellung schließt eine psychologistische These zur Patriarchatsentstehung ein, die eine Zweitrangigkeit der Männer und deren gewalttätige Rebellion gegen die matriarchale Gesellschaft postuliert. 1989 und 1991 folgten die Werke der amerikanischen Archäologin Marija Gimbutas „Die Sprache der Göttin“ und „Die Zivilisation der Göttin“ (deutsch 1995 und 1996). Anhand der archäologischen Funde von Tausenden von Göttinstatuetten und eigener Ausgrabungen stellt sie die matriarchale Kultur Alteuropas dar, die nach ihr bis in die Altsteinzeit zurückreicht. Ferner beschreibt sie anhand der Grabfunde der KurganKultur den Einbruch indoeuropäischer Völker in Europa und die Zerstörung der matriarchalen Kultur. Zwei bahnbrechende Ereignisse für die moderne Matriarchatsforschung waren der „Erste Weltkongress für Matriarchatsforschung: Gesellschaft in Balance“, der 2003 in Luxemburg stattfand. Er wurde von Heide Göttner-Abendroth, „Internationale Akademie HAGIA“, Deutschland, organisiert und von der Ministerin für Familie und Frauen, Marie-Josée Jacobs, Luxemburg, gefördert. Zum ersten Mal kamen WissenschaftlerInnen aus aller Welt zusammen, die mit dieser jungen Wissenschaft beschäftigt sind, und tauschten sich aus. Im Jahr 2005 folgte an der Texas State University, San Marcos, USA, der „Zweite Weltkongress für Matriarchatsforschung: Societies of Peace“, ebenfalls geleitet von Heide Göttner-Abendroth und gefördert von Genevieve Vaughan, „Center for the Study of the Gift Economy“, USA. Diesmal kamen zusätzlich indigene WissenschaftlerInnen und SprecherInnen aus vielen heute noch lebenden, matriarchalen Gesellschaften zu Wort. Beide Ereignisse verhalfen der moderneren Matriarchatsforschung auf weltweiter Ebene zum Durchbruch (siehe: www.Hagia.de).
Offene Forschungsfragen und Visionen Die wichtigsten derzeit offenen Forschungsfragen beziehen sich erstens auf eine einheitliche Terminologie. Es werden gegenwärtig für die matriarchale Gesellschaftsform verschiedene Begriffe gebraucht wie „matrizentrisch“ (Meier-Seethaler), „gylanisch“ (Eisler, Gimbutas) u.a. Sie dienen der Vermeidung des Begriffs „Matriarchat“, der fälschlich noch mit „Frauenherrschaft“ assoziiert wird. In der Sache wird die matriarchale Gesellschaftsform von allen ForscherInnen jedoch gleich definiert, obwohl es erhebliche Unterschiede in der Genauigkeit der Definition gibt. Zweitens ist eine einheitliche Datierung der matriarchalen Kulturepochen sowie des Patriarchatsbeginns noch offen, die für die verschiedenen Kontinente jedoch unterschiedlich ausfallen wird. Drittens sind trotz guter Einzelstudien und theoretischer Entwürfe weder die Theorie-
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bildung noch die Erforschung konkreter Kulturen abgeschlossen, was in der Umfassendheit der Aufgabe liegt. Abgesehen davon wird die Matriarchatsforschung noch immer diskriminiert und behindert, denn es handelt sich bei ihr um ein neues Paradigma jenseits der patriarchalen Geschichts- und Weltinterpretation (AutorInnengemeinschaft 2003). Den MatriarchatsforscherInnen ist deshalb ein politischer Impuls gemeinsam, der sich in der Vision der Überwindung des gegenwärtigen Herrschaftsmodells ausdrückt. Für eine bessere Zukunft werden dabei unterschiedliche Vorschläge gemacht. Sie beziehen sich jedoch alle auf das aus der Geschichte gewonnene egalitäre matriarchale Modell und plädieren für ein neues Gesellschaftsmodell ohne Gewalt, soziale Ungleichheit und Naturzerstörung. Verweise: Geschichte Geschlechtssymmetrische Gesellschaften Patriarchat
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Ilse Lenz
Geschlechtssymmetrische Gesellschaften: Wo weder Frauen noch Männer herrschen
Bestimmung zentraler Definitionen Der Ansatz der geschlechtssymmetrischen Gesellschaft wurde in der Ethnologie ab den 1970er Jahren für Gruppen entwickelt, in denen Frauen Macht haben und Geschlechterherrschaft weder bei Frauen noch Männern existiert. Laut dieser Debatte zeichnen sich geschlechtssymmetrische Gesellschaften dadurch aus, dass die erwachsenen Mitglieder gleichwertigen oder gleichen Zugang zu den Chancen und wertvollen Gütern einer Gesellschaft haben (vgl. Lenz/Luig 1995). Solche Chancen und wertvollen Güter sind Machtpositionen, Ressourcen und Prestige; sie werden entweder an alle erwachsenen Mitglieder in etwa gleich verteilt (bei einigen Jäger- und SammlerInnengruppen), so dass die Bedeutung des Geschlechts minimiert ist. Bei einem weiteren Typ ist das Geschlecht eine grundlegende Strukturkategorie (bei einigen Gartenbauern oder Reisbauern) für den Zugang zu bestimmten Ressourcen und Gütern, so dass Männer z.B. die Politik und Frauen die Wirtschaft in der Hand haben; jedoch sind diese Felder von gleichwertiger Bedeutung. Der Ansatz der geschlechtssymmetrischen Gesellschaften deutet darauf hin, dass nicht die Geschlechterdifferenz per se die Ursache der Geschlechterdiskriminierung ist, wie in der konstruktivistischen Debatte teils angenommen wird. Die Geschlechterdifferenz bildet ein Grundprinzip der sozialen Organisation der meisten bisherigen Gesellschaften (abgesehen von den eben erwähnten Wildbeutern). Doch lautet die Kernfrage, ob die Geschlechterdifferenz mit egalitären Verhältnissen verbunden wird oder ob sie zum Schlüsselelement von Ungleichheit und Herrschaft in der sozialen Organisation und in diskriminierende Strukturen ‚eingebaut‘ wird, wie in der Mehrheit der historischen Gesellschaften und der europäischen Entwicklung.
Vom Matriarchat zu geschlechtssymmetrischen Gesellschaften Die Forschung zu geschlechtssymmetrischen Gesellschaften ist relativ neu und sie beruht auf einer Reihe innovativer historisch-ethnographischer Fallstudien seit dem Neubeginn der Frauenund Geschlechterforschung in den 1970er Jahren. Sie kritisiert die Vorstellung des Matriarchats aus dem 19. Jahrhundert, das die Forscher in der Frühgeschichte oder in außereuropäischen Gesellschaften vermuteten. Dessen wesentliche Kennzeichen bildeten die matrilineare Abstammung nach der ‚Mutterlinie‘, das Gemeineigentum und die freiere Sexualität (Gruppenehe). Nach 1900 stellte die Ethnologie in empirischen Feldforschungen fest, dass Frauen in vielen matrilinearen Gesellschaften keineswegs die Herrschaft in der Hand hielten. Die Forschung ging danach überwiegend von der Universalität patriarchaler Strukturen aus (vgl. Lenz 1995). Neben einer Renaissance der Matriarchatsforschung nach 1970 wurde die Frage der geschlechtlichen Machtverhältnisse radikal kulturell kontextualisiert: Geschlechtliche Machtverhältnisse seien nur im Kontext einer Kultur zu erkennen und zu interpretieren, so dass anstelle von Patriarchat von Geschlechterverhältnis (gender) gesprochen werden sollte. Diese AutorIn-
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nen gingen davon aus, dass Männer in allen Gesellschaften ein höheres Prestige hätten; eine Geschlechtergleichheit gibt es für sie nicht (vgl. Collier/Rosaldo 1981). Parallel dazu wurden Untersuchungen zu Gesellschaften ohne Herrschaft der Männer (oder Frauen) veröffentlicht (vgl. den nächsten Abschnitt sowie die Fallstudien bei Lenz/Luig 1995) und die Ansätze geschlechtsegalitärer oder geschlechtssymmetrischer Gesellschaften dafür vorgeschlagen (vgl. Leacock 1981, Lenz/Luig 1995, Schlegel 1977). Die Grundkontroverse über Geschlechtergleichheit in vormodernen Gesellschaften ist weiterhin offen; doch belegt die historisch-ethnologische Forschung, dass bei einzelnen Gruppen sinnvoll davon gesprochen werden kann. Es handelt sich um teils umfassende historisch-ethnologische Fallstudien, die auf einer tiefen Auswertung der vorliegenden Quellen und ethnographischen Berichte beruhen. Allerdings können diese Gesellschaften meist nur durch historische Quellen erforscht werden, die häufig im Zusammenhang des Kolonialismus entstanden. Sowohl der Kolonialismus wie auch endogene Herrschaftsentwicklungen haben nun die Einführung patriarchaler Strukturen begünstigt, so dass diese Quellen häufig Irritationen angesichts der Manifestationen von Geschlechtergleichheit aufweisen, wie der starken Stimme von Frauen im Haus oder in öffentlichen Versammlungen, die teils verzerrt und abwertend beschrieben wurden. Die Forschungen beruhen also auf schwierigen und teils fragmentarischen Rekonstruktionen und nur selten auf empirischen Berichten ‚aus dem Feld‘ der geschlechtssymmetrischen Gesellschaften, die in der Moderne durch den Kolonialismus und die männerzentrierte Entwicklung tendenziell untergingen.
Gleichheit, Differenz und Macht Im Zusammenhang mit geschlechtssymmetrischen Gesellschaften wird Gleichheit als eine gleichheitliche Verteilung von Macht und sozialen Chancen zwischen den erwachsenen Mitgliedern einer Gesellschaft verstanden und nicht in dem Sinne fehlender Differenzierung, dass es also keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern gebe. Gleichheit zeigt sich darin, dass jedes Mitglied langfristig gleichen Zugang zu Macht und sozialen Chancen hat; unterschiedliche, aber gleichwertige Chancen wirken sich funktional äquivalent aus. Ein unterschiedlicher Zugang dazu nach dem jeweiligen Alter spricht nicht dagegen, da grundsätzlich jedes Mitglied im Lauf seines Lebens gleichen Zugang erhält. Größeres Prestige von Alten gegenüber Jungen oder von Erwachsenen gegenüber Kindern steht also nicht im Widerspruch dazu (vgl. auch Sigrist 1967). Viele geschlechtssymmetrische Gesellschaften betonten sogar kulturelle und soziale Unterscheidungen zwischen den Geschlechtern, ohne dass sie zum Ausgangspunkt von Ungleichheit und Unterordnung wurden. Allerdings kannten sie auch weitere Unterscheidungen, z.B. nach Alter oder nach persönlicher Fähigkeit. Dies lässt sich auf die Frage von Gleichheit und Differenz zwischen den Geschlechtern beziehen. Die Geschlechtergleichheit beruhte nicht auf einer mechanischen Angleichung von Frauen und Männern im Sinne von Unterschiedslosigkeit oder Nichtdifferenzierung, sondern darauf, dass sie trotz ihrer kulturell definierten Unterschiede gleichheitlich Macht hatten. Die geschlechtssymmetrischen Gesellschaften bieten Anlass, nicht nur das Verständnis von Gleichheit, sondern auch von Macht zu überdenken. Heute versteht man unter Macht meist die Möglichkeit, seinen Willen gegen andere durchzusetzen, auch wenn sie dies nicht akzeptieren und sich dagegen wehren. Dies Verständnis geht auf die klassische Definition von Max Weber zurück: „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht ... Der Begriff ‚Macht‘ ist soziologisch amorph“ (Weber 1980: 28). Macht setzt also eine soziale Beziehung voraus, ein Machtverhältnis, in dessen Rahmen sich nur eine jeweils stärkere Seite behauptet. Man kann von einem einseitigen oder einem unilinearen Machtbegriff sprechen. Die Diskussion
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um nichtpatriarchalische Gesellschaften eignet sich dazu, der Frage nach der Macht von Frauen eine andere Wendung zu geben. Denn hier treten die Machtstrategien von Frauen offen zutage, während sie in patriarchalischen Gesellschaften auf der „Unterseite der Macht“ operieren und tendenziell nicht wahrgenommen werden. Macht stellt sich in einer sozialen Beziehung her. Doch könnte man weiter denken, dass „beide Seiten“ Macht ausüben können, indem sie selbst über Ressourcen und Prozesse mitbestimmen können – wenn auch oft in einer unterlegenen Position. Macht wäre also zu verstehen als der Einfluss, den Personen – gestützt auf ihre Verfügung über Ressourcen oder ihre Fähigkeiten – in sozialen Beziehungen erreichen. Eleanor Leacock hat in diesem Sinne vorgeschlagen, in egalitären Jäger- und SammlerInnenGesellschaften von einer Streuung der Autorität in den Entscheidungsprozessen auszugehen: Alle Beteiligten entscheiden autonom über die Bereiche in ihrer Verantwortung und Entscheidungen beruhen auf ihrem Konsens. Die Macht ist auf die Einzelnen verstreut und fließt in den Brennpunkten ihrer Kooperation und ‚Öffentlichkeiten‘, in den Arbeitsgruppen, rituellen Verbänden und Räten, wieder zusammen. Eben die Diffusion von Macht in viele Zentren erfordert Prozesse, in denen Konsensus gesucht und Machtbalance erhalten werden. Die Macht ist multifokal, sammelt sich in vielen Brennpunkten, und sie ist polyzentrisch. So wird beiden Geschlechtern eine autonome und verantwortliche Partizipation ermöglicht und die Herrschaft eines Geschlechts – ob der Männer oder Frauen – ausgeschlossen. Ein klassisches Beispiel ist das Gleichgewicht zwischen weiblicher wirtschaftlicher und männlicher politischer Autorität bei den Hopi in Nordamerika (vgl. Schlegel 1977).
Empirische Grundlagen: Weibliche Machtfelder in nichtpatriarchalischen Gesellschaften Die empirischen Forschungen zeigen, dass nichtpatriarchalische Gesellschaften in recht unterschiedlichen Entwicklungskontexten festzustellen sind, wie z.B. Wildbeuter (Mbuti) in Afrika, tropische Gartenbauern (Mbari), Bauern und Jäger (Irokesen, Huronen) in Nordamerika und schließlich Reisbauern mit gemeinsamer Bewässerungswirtschaft (Minangkabau in Indonesien) (vgl. insgesamt Lenz 1995). Ihre geschlechtliche Arbeitsteilung ist unterschiedlich organisiert: In manchen Gruppen, wie bei den Huronen und Irokesen, haben die Geschlechter spezifische und getrennte Arbeitsbereiche, die jeweils in ihrer Verantwortung stehen. In anderen gibt es kaum eine Differenzierung und Männer und Frauen engagieren sich gleichermaßen in Anbau, Haushalt und Kinderversorgung. Am günstigsten für Geschlechtergleichheit scheinen Formen der Arbeitsteilung, die entweder auf einer ausgeprägten Differenzierung (Geschlechter-Parallelismus) mit Anerkennung aller Bereiche beruhen oder die Differenzierung minimieren (Geschlechterangleichung). Nichtpatriarchalische Gesellschaften unterscheiden sich auch im Verwandtschaftssystem: Bei Wildbeutergruppen ist es eher schwach ausgeprägt mit bilateralen (beidseitig in der Mutterund Vaterlinie verlaufenden) Tendenzen. Einen weiteren Pol bilden Gartenbauern oder Reisbauern mit matrilinearer Abstammung in Verbindung mit matrilokalen Wohnregeln. Doch lassen sich bei diesen Unterschieden auch strukturelle Ähnlichkeiten festhalten: Die Frauen haben in der Regel eine starke Position oder eigenständige Verfügung in vier strategischen Machtfeldern, nämlich der Produktion, der Reproduktion, der Sexualität und der symbolischen Ordnung. Produktion: Frauen verfügen über materielle Ressourcen wie über eigenen Boden und v.a. über das Produkt der eigenen Arbeit. Bei einigen Wildbeutern können alle Mitglieder, auch die Frauen, das Land der Gruppe nutzen, und sie bestimmen selbst über ihre Produkte beim Sammeln und Jagen. In einigen bäuerlichen Gesellschaften mit matrilinearem Abstammungssystem haben Frauen umfassende Eigentums- und Erbrechte: So besaßen bei den Irokesen die Frauen
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den Boden und die von den Männern erbauten Langhäuser, während die Ernte und die Speicher von der Hausältesten, der Matrone, verwaltet wurden. Reproduktion: Wir finden flexible, leicht zu schließende und zu lösende Paarbeziehungen, in denen Frauen wie Männer mitentscheiden. Weiter bestimmen die Frauen im historisch möglichen Rahmen selbst über das Kindergebären. Allerdings geht es dabei nicht um individuelle Selbstbestimmung im modernen Sinne. Die soziale Organisation begünstigt Entscheidungen der Frauen für oder gegen Kinder: So liegt die Kinderzahl bei vielen Wildbeutern recht niedrig. Demgegenüber kann bei matrilinearen Bauerngruppen der Wohlstand und die Versorgung der Mutter im Alter von vielen Kindern, den Arbeitskräften im Haus, abhängen; für die Kontinuität der Lineage ist die Geburt von Töchtern wesentlich. Dies kann auch heißen, dass sie selbst viele Kinder/Töchter wünschen und gebären. Die Kontrolle der Gebärfähigkeit, die patriarchalische Gesellschaften kennzeichnet, fehlt. In einigen Fällen hängen diese Entscheidungsmöglichkeiten über die Reproduktion damit zusammen, dass Verwandtschaftssysteme insgesamt schwach ausgeprägt sind. So können Frauen und Männer relativ frei über ihre Paarbeziehungen entscheiden, vor allem über die Wahl von weiblichen und männlichen Partnern und auch Liebhabern, über Scheidungen usw. Eine weitere Möglichkeit ist, dass die Matrilineage in nichtpatriarchalischen Gesellschaften auch ihren weiblichen Mitgliedern ökonomische Ressourcen und gesicherte soziale Positionen bietet. Die Paarbeziehung, die einen möglichen Ansatzpunkt der patriarchalischen Herrschaft bildet, erscheint relativ unwichtig gegenüber dieser Absicherung durch die matrilineare Erbfolge. Frauen besaßen den Boden und die Häuser selbst und konnten sich und ihre Kinder durch ihre Arbeit versorgen; deshalb bestand für sie kein ökonomischer Zwang, eine unzuträgliche Ehebeziehung fortzusetzen. Trennungen wurden meist im Einvernehmen ausgesprochen. Die Männer waren andererseits durch ihre eigene Matrilineage abgesichert, zu der sie zurückkehren konnten. Die Zugehörigkeit zur Matrilineage bildete die Nabelschnur zur Gemeinschaft, über die die Einzelnen ökonomische, soziale und politische Rechte erhielten. Häufig hatte sich nicht einmal ein gemeinsamer Haushalt von Frau, Mann und Kindern als Einheit der Versorgung herausgebildet: Frauen und Kinder wirtschafteten für sich, und Männer wurden von ihren Schwestern oder Müttern mitversorgt. Ehebeziehungen waren teils Besuchsehen mit den Männern als nächtlichen Gästen. Auch beim Zusammenwohnen der Paare beruhten sie oft eher auf persönlicher Attraktion oder Zuneigung und waren leicht zu schließen und zu lösen. Sexualität und Körper: Frauen wie Männer haben eine hohe Autonomie in Bezug auf Sexualität und Körper. Das deutlichste Kennzeichen dafür ist das Fehlen von sozial gebilligten Sanktionen bei außerehelichen Beziehungen und einer spezifischen Keuschheitsnorm für Frauen. Bei den Irokesen etwa wurde zwar grundsätzlich von beiden Geschlechtern sexuelle Treue verlangt; aber Männer sollten angesichts von Liebschaften ihrer Ehefrauen weder Eifersucht zeigen, noch Gewalt ausüben. Die Quellen stimmen darin überein, dass irokesische Männer niemals eine Frau vergewaltigten. Allerdings drückten irokesische Frauen und Männer ihre Aggressionen gegenüber männlichen Gefangenen in grausamen Folterungen bis zum Tode aus. Voreheliche Sexualität der Mädchen wird bei einem Großteil der untersuchten Gesellschaften akzeptiert. Dabei deuten auch das Körperwissen und die Körperbilder in nichtpatriarchalischen Gesellschaften auf eine größere persönliche Autonomie über Körper und Sexualität. In der Sozialisation und in bestimmten Riten werden umfassende Kenntnisse über Körper und Sexualität an Mädchen und Jungen vermittelt. Wir finden weibliche Körperbilder wie die Vaginalsymbole, die eine mächtige weibliche Sexualität als positive Lebensenergie der ganzen Gruppe repräsentieren. Die Frauen verkörpern dann im wahrsten Sinne des Wortes wirklich und symbolisch die Reproduktion, das Weiterleben, der Gemeinschaft. In den symbolischen Ordnungen der Gemeinschaft, wie sie sich in den Riten, der Religion und der Sprache ausdrücken, kommt dem ‚Weiblichen‘ eine zentrale Bedeutung zu. Sie zeigt sich etwa bei den Gottheiten, in den Bildern von Himmel und Erde, Leben und Tod. Frauen haben wichtige Positionen und eigenständige Kreativität in Riten und Versammlungen. Sie können
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wichtige Riten zur Erneuerung und zum Leben der Gruppe als Matronen, Schwestern oder Ehefrauen durchführen. Sie verfügen über eigenständige spirituelle und kosmische Kraft. Neben diesem Zugang zu Ressourcen und Machtfeldern ist eine Reflexion über die Vorstellungen von Macht und Institutionen im Anschluss an die Forschungen von Eleanor Leacock und Alice Schlegel wichtig für den Ansatz der geschlechtssymmetrischen Gesellschaft. Auf den multifokalen Ansatz von Macht bei Eleanor Leacock (1981) wurde bereits hingewiesen. So wird beiden Geschlechtern eine autonome und verantwortliche Partizipation ermöglicht und die Herrschaft eines Geschlechts – ob der Männer oder Frauen – ausgeschlossen. Ferner sind die zentralen Institutionen einer Gesellschaft entscheidend für die Geschlechtergleichheit. Alice Schlegel (1977: 19) vertritt die Vorstellung, dass in geschlechtsegalitären Gesellschaften Frauen eine oder mehrere zentrale Institutionen, den Haushalt oder rituelle Verbände kontrollieren.
Der Ansatz der geschlechtssymmetrischen Gesellschaften In geschlechtssymmetrischen Gesellschaften ist die Macht polyzentrisch zwischen Frauen und Männern verteilt und Frauen wie Männer haben Kontrolle über die zentralen Institutionen. Symmetrie umschreibt hier die prozesshafte Balance von unterschiedlichen Einflüssen, die auf den Fähigkeiten von Personen oder ihrer Verfügung über Machtfelder beruhen. Frauen oder Männer können verschiedene Machtfelder stärker bestimmen, ohne dass dies zur Asymmetrie führt. Aus der Kontrolle verschiedener Machtfelder ergibt sich also eine Balance der diffusen und multifokalen Macht. Als wichtigste Machtfelder wurden identifiziert: – – – – –
die Kontrolle über die eigenen Produktionsprozesse, also der Besitz an Produktionsmitteln und die Verfügung über das Produkt; die Kontrolle über die Reproduktion, also eigenständige Verfügung über die Ehe und die Gebärfähigkeit; eine eigenständige Bestimmung über die Sexualität und über den Körper; (proto)politische Autorität; eigenständige, kreative und sozial hochbewertete Positionen in der symbolischen Ordnung und den rituellen und religiösen Aktivitäten zu ihrer Aufrechterhaltung.
Geschlechtssymmetrie ergibt sich also in spezifischen Konstellationen aus der Kontrolle der Ressourcen, den jeweiligen Fähigkeiten und den wichtigen politischen und kulturellen Positionen. Es gibt ein Spektrum möglicher Konstellationen, in dem sich zwei Pole abzeichnen: 1. Geschlechtssymmetrische, wenig differenzierte Gesellschaften: Dazu gehören einzelne Wildbeutergruppen mit starker ökonomischer, sozialer und politischer Stellung der Frauen. In diesen Konstellationen haben Frauen und Männer in etwa gleichen Zugang zu den zentralen Machtfeldern; es zeigt sich zugleich bei manchen Gruppen eine kulturelle Differenzierung, z.B. in Riten und Tänzen, die aber nicht in eine grundlegende Differenzierung in Bezug auf Arbeitsbereiche und Chancen überführt wird. 2. Geschlechtssymmetrische bäuerliche Gesellschaften: Diese weisen eine klare Geschlechterdifferenzierung auf, was sich mit einer geschlechtsspezifischen Kontrolle unterschiedlicher Machtfelder verbindet (gegenseitige Abhängigkeit oder geschlechtlicher Parallelismus); z.B. können die Frauen die wirtschaftlichen Ressourcen und die Männer die politischen Prozesse kontrollieren. Aus einer unterschiedlichen Verfügung der Geschlechter in einzelnen Machtfeldern ergibt sich in den multifolkalen Machtprozessen eine Balance, die eine einseitige Kontrolle ausschließt. Die stärkere repräsentative politische Rolle der Männer etwa kann durch ökonomische Verfügungsmacht der Frauen über die Ernte und die Speicher ‚aufgewogen‘ werden. Dies sind vor allem matrilineare, matrilokale Gesellschaften mit weiblichen Anbau-
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systemen und einer starken Autorität der älteren Frau im Haushalt und der Lineage (Hopi, Irokesen, Minangkabau u.a.). Die geschlechtliche Balance der Machtfelder wird schließlich durch eine Balance in der Kontrolle der zentralen Institutionen abgestützt, die noch nicht in einem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen. Die Kontrolle der Frauen über das Haus und ihre oft informelleren Treffen setzen Gegengewichte zu den politischen Versammlungen der Männer. Dies gilt um so mehr, wenn die Beteiligung der Geschlechter in diesen Institutionen sich überkreuzt, also Frauen in ‚männlich getragenen‘ Institutionen mitwirken oder umgekehrt. So können die Matronen die Repräsentanten des Hauses für die Lineage-Räte mit auswählen oder ältere Frauen Rederecht im Rat haben. Der Ansatz der geschlechtssymmetrischen Gesellschaften ist ein Rahmenkonzept auf einer Metaebene; d.h. es geht darum, allgemeine strukturelle Voraussetzungen für eine grundlegende Gleichheit der Geschlechter in vormodernen Gruppen zu umreißen. Er eignet sich nicht dafür, Einzelgesellschaften zu beschreiben, wofür die historischen, kulturellen und sozialen Kontexte unerlässlich sind. Er kann keinesfalls für die Untersuchung geschlechtlicher Machtverhältnisse in patriarchalen Gesellschaften verwendet werden. Denn hier ist die dritte Bedingung, die Kontrolle zentraler Institutionen auch durch Frauen, nicht mehr gegeben. Vor allem der Übergang zu einem patriarchalen Staat beinhaltet einen qualitativen Sprung. Gerda Lerner (1991) hat für Europa und den Nahen Osten gezeigt, dass die frühen Staaten als die wichtigste zentrale Institution die Etablierung des Patriarchats abstützten und verstetigten. Die Vorstellung einer gleichheitlichen Balance zwischen Frauen und Männern ist dann nicht haltbar. Dringend erforderlich sind weitere Untersuchungen über die Ursachen der Herausbildung des Patriarchats in einzelnen Gesellschaften. Bisher ist bekannt, dass geschlechtssymmetrische Gesellschaften bis ins 20. Jahrhundert existierten (vgl. Luig 1995) und der Einfluss des Marktes und des Kolonialismus die Entstehung von Ungleichheit – auch zwischen den Geschlechtern – beförderte. Schließlich eignen sich geschlechtssymmetrische Gesellschaften nicht dafür, Strategien für die Überwindung des Neopatriarchalismus und für zukünftige Gesellschaften zu entwerfen. Denn dies ist nur durch eine Auseinandersetzung mit der Moderne, ihren Chancen und sichtbaren und unsichtbaren Mechanismen der Unterordnung von Frauen möglich. Wohl aber bringen sie Anregungen für Veränderungen; und sie verdeutlichen, dass Geschlechtergleichheit in verschiedenen Konstellationen historisch möglich und weiter denkbar ist. Verweise: Matriarchat Patriarchat
Literatur Anderson, Karen 1990: This Woman Who Now Has Become Truly a Lamb: Subjugating Women in 17th Century New France. London Collier, Jane F./Michelle Z. Rosaldo 1981: Politics and Gender in Simple Societies. In: Ortner, Whitehead (Hrsg.): Sexual Meanings. The Cultural Construction of Gender and Sexuality. Cambridge: Cambridge University Press, S. 275-329 Leacock, Eleanor 1981: Myths of Male Dominance. Collected Articles on Women Cross Culturally. New York: Monthly Review Press Lenz, Ilse/Ute Luig 1995: Frauenmacht ohne Herrschaft. Geschlechterverhältnisse in nichtpatriarchalischen Gesellschaften. 2. Aufl. Frankfurt/M.: Fischer Lenz, Ilse 1995: Geschlechtssymmetrische Gesellschaften. Neue Ansätze nach der Matriarchatsdebatte. In: Lenz, Ilse/Ute Luig (Hrsg.): Frauenmacht ohne Herrschaft. Geschlechterverhältnisse in nichtpatriarchalischen Gesellschaften. 2. Aufl. Frankfurt/M.: Fischer, S. 26-88 Lerner, Gerda 1991: Die Entstehung des Patriarchats. Frankfurt/M.: Campus Luig, Ute 1995: Sind egalitäre Gesellschaften auch geschlechtsegalitär? Untersuchungen zur Geschlechterbeziehung in afrikanischen Wildbeutergesellschaften. In: Lenz, Ilse/Ute Luig (Hrsg.): Frauenmacht oh-
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ne Herrschaft. Geschlechterverhältnisse in nichtpatriarchalischen Gesellschaften. 2. Aufl. Frankfurt/M.: Fischer, S. 88-170 Schlegel, Alice (Hrsg.) 1977: Sexual Stratification. A Cross Cultural View. New York: Columbia University Press Sigrist, Christian 1967: Regulierte Anarchie. Untersuchungen zum Fehlen und zur Entstehung politischer Herrschaft in segmentären Gesellschaften Afrikas. Frankfurt/M.: Olten u.a. Weber, Max 1980: Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen: Mohr, Siebeck Whyte, Martin King 1978: The Status of Women in Preindustrial Societies. Princeton u.a.: Princeton University Press Weiner, Annette B. 1976: Women of Value, Men of Renown. New Perspectives in Trobriand Exchange. Austin, London: University of Texas Press
Barbara Thiessen
Feminismus: Differenzen und Kontroversen
Historischer Rückblick und zentrale Definitionen Löste der Begriff „Feminismus“ in politischen und wissenschaftlichen Feldern noch bis vor Kurzem weithin vor allem Distanzierungen aus, ist seit 2006 ein Meinungsumschwung zu verzeichnen: Statt back-lash kann zumindest von einem journalistischen come-back gesprochen werden (vgl. Dorn 2006, Sehrbrock 2007, Speer 2007). Was jedoch tatsächlich unter „Feminismus“ zu fassen wäre, soll im Weiteren geklärt werden. Der Begriff „Feminismus“ in seiner Bedeutung als Analyse und Veränderung von Benachteiligung lässt sich historisch nicht eindeutig zurückführen. Er taucht im Kontext der französischen Revolution auf und wird im Prozess gegen Olympe de Gouges (17481793) verwandt, die für ihre „Déklaration des Droits de la Femme et de la Citoyenne“ geköpft wurde. Bekannt geworden ist der Begriff Feminismus durch die Schriften des Sozialphilosophen und Frühsozialisten Charles Fourier (1772-1837), insbesondere der „Théorie des Quatre Mouvements et des Destinées Générales“, in der Fourier den Grad der Befreiung der Frau als Prüfstein einer jeden Gesellschaft und allgemeinsten Maßstab der menschlichen Entwicklung formuliert: „Der soziale Fortschritt (...) erfolgt aufgrund der Fortschritte in der Befreiung der Frau“ (1966: 190). Gerda Lerner (1998) zeigt in ihrer Untersuchung zur „Entstehung des feministischen Bewusstseins“, dass Bestrebungen gegen Frauenunterdrückung und -benachteiligung das Patriarchat seit seinen Anfängen begleitet haben. Jedoch entstehen erst Mitte des 19. Jahrhunderts im Zuge der bürgerlichen Revolutionen in Europa sowie der Antisklavereibewegung in den USA kollektive Zusammenschlüsse als Frauenvereinigungen, die sich mit der „Frauenfrage“ beschäftigen und insbesondere den Zugang zu politischer Partizipation, Bildung und Beruf fordern. Ab 1890 taucht der Begriff Feminismus in Frankreich vermehrt auf und ist ab der Jahrhundertwende auch in anderen europäischen Ländern belegt. In Deutschland war im 19. und frühen 20. Jahrhundert der Begriff „Emancipation“ (Otto [1849] 1979) weitaus geläufiger als der Begriff Feminismus (Lundt/Salewski/Timmermann 2005). „Als eine Frau lesen lernte, trat die Frauenfrage in die Welt“, postuliert Marie von EbnerEschenbach (1830-1916). Diese These wird von den Untersuchungen Gerda Lerners bestätigt und konkretisiert: Das „feministische Bewusstsein“ bedarf des Zugangs zu den Wissensbeständen einer Gesellschaft. Dies setzt Bildung und materielle Absicherung voraus. Eine Frauenbewegung kann sich jedoch erst entwickeln, wenn Kommunikationsmöglichkeiten sowie Versammlungsfreiheit gegeben sind (Lerner 1998, Sotiropoulos 2007). Vor dem Hintergrund alltäglicher Erfahrung von Ausgrenzung und Diskriminierung geht mit der Aneignung des Wissens auch eine kritische Auseinandersetzung und Neuinterpretation einher (Glaser 2005, Allen 2005, Weckwert/Wischermann 2006). Dabei kann nach Karen Offen (1993) zwischen zwei zentralen Argumentationslinien unterschieden werden: Einem „relationalen Feminismus“ (relational feminism), der vor allem „die Rechte von Frauen als Frauen ... in Beziehung zu Männern“ betont und einem „Individualfeminismus“, der individuelle Menschenrechte und Autonomie hervorhebt (ebd.: 108). Eine zusammenfassende Definition bietet Rosemary Hennessy (2003: 155) an: „Feminismus lässt sich als Ensemble von Debatten, kritischen Erkenntnissen, sozialen Kämpfen und emanzipatorischen Bewegungen fassen, das die patriarchalen Geschlechterverhältnisse, die alle Men-
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schen beschädigen, und die unterdrückerischen und ausbeuterischen gesellschaftlichen Mächte, die insbesondere Frauenleben formen, begreifen und verändern will.“
Feminismus als Erkenntnisprojekt Unter dem Begriff Feminismus werden heterogene Konzepte gefasst, die sich nach Ideengeschichte, Gegenstandbezug und Trägerinnen bzw. Zielgruppen feministischer Bewegungen unterscheiden lassen. So gibt es eine ganze Reihe von Feminismen wie den „Liberalen Feminismus“, „Ökofeminismus“ oder „Schwarzen Feminismus“. Gleichwohl besteht als gemeinsamer Ausgangspunkt das Aufbegehren gegen die Identifizierung von Frauen als einer Männern nachgeordneten Gruppe. Ziel ist sowohl die Veränderung der Lebenssituation und gesellschaftlichen Positionierung von Frauen als auch der politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Strukturen und Prozesse, die die Subordination von Frauen hervorbringen. Feminismus grenzt sich von Gleichstellungspolitiken durch die Vorstellung ab, dass die Utopie einer geschlechtergerechten Teilhabe an gesellschaftlicher Gestaltung nicht ohne eine grundlegende politische Veränderung von Machtverhältnissen zu realisieren ist. Feminismus definiert sich daher nicht ausschließlich über seinen Gegenstand (Geschlecht), sondern über sein Erkenntnisinteresse an Ausgrenzungs- und Marginalisierungsprozessen als politisches Anliegen (Kurz-Scherf 2002, Becker-Schmidt 2006, Becker-Schmidt/Knapp 2007). Die Reduktion des Feminismus auf „Frauen“ oder das Verhältnis zwischen „Frauen“ und „Männern“ jenseits gesellschaftlicher Machtpositionen („ceteris paribus“ – unter sonst gleichen Umständen) bezeichnet Ingrid Kurz-Scherf als „Genderismus“ (ebd.: 44). Feministische Theorien greifen u.a. den Erkenntnisbedarf von Frauenbewegungen auf: „Feminismus ist die Theorie und Frauenbewegung die Praxis“ (Metz-Göckel 2003: 170ff.) Mit der Etablierung von Frauenbildung und Frauenforschung an Hochschulen und Weiterbildungseinrichtungen (Christof et al. 2005, Vogel 2006) soll neben der Systematisierung und Verbreiterung feministischer Analysen auch der Transfer zwischen Theorie und Praxis konsequent gefördert werden. Prominent geworden sind für den Beginn der feministischen Wissenschaft die Postulate von Maria Mies (1978), die mit den Konzepten Betroffenheit und Parteilichkeit sowohl die Subjekt-Objekt-Binarität des Forschungsprozesses auflösen als auch die scheinbare Objektivität der Wissenschaft ersetzen sollen. Mit ihrer These zur „Mittäterschaft“ von Frauen setzt sich Christina Thürmer-Rohr (1989) kritisch mit den essentialistischen Annahmen der Mies’schen Postulate auseinander und dekonstruiert die Täter-Opfer-Binarität, indem sie auf die historische Beteiligung von Frauen an der Entwicklung patriarchaler Strukturen verweist. Als wesentliches Programm des „wissenschaftlichen Feminismus“ kann m.E. zusammengefasst werden: die Untersuchung binärer Oppositionen als Strukturprinzip moderner Gesellschaften und Grundlage hierarchischer Geschlechterverhältnisse sowie die Perspektive der Veränderung diskriminierender Verhältnisse. „Zentraler Ausgangspunkt feministischer Wissenschaft ist es, ‚Geschlecht‘ als historische und soziale Kategorie anzusehen, um gesellschaftliche Bedingungen kritisch zu reflektieren und zu transformieren“ (Thiessen/Heinz 2003: 7). Dabei repräsentieren Frauenförderung und Frauenforschung zwei Seiten eines „feministischen Bildungsprozesses“ (Friese 2003: 28). Ausgangspunkte gegenwärtiger feministischer Theorieentwicklung sind insbesondere die Untersuchung empirischer Lebensrealitäten unter geschlechterkritischer Perspektive sowie Rezeption und Austausch mit Theorien (insbesondere Kritische Theorie der Frankfurter Schule, Marxismus, Psychoanalyse, Diskurstheorie und Poststrukturalismus, postkoloniale und queere Theorieansätze, vgl. Müller 2005). Dabei zeichnet sich feministische Theorie nach Sabine Hark (2007) durch eine spezifische Erkenntnisperspektive aus: „Sie fokussiert in herrschaftskritischer Absicht auf die Verfasstheit von Geschlechterverhältnissen“ (ebd.: 12).
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Sandra Harding (1991) schlägt hierfür ein Untersuchungskonzept vor, das die Wirkmächtigkeit von Geschlechterverhältnissen auf den drei Ebenen der individuellen, der strukturellen sowie der symbolischen Dimension analysieren lässt. Produktiv ist darüber hinaus das analytische Konzept von Evelyn Fox Keller (1995), die folgende Strukturierung für reflexive wissenschaftliche Studien vorschlägt: Unter dem Stichwort „Women in Science“ werden erstens Frauen und deren Situation in den Wissenschaften in historischer und soziologischer Perspektive in den Blick genommen. Zweites zielt das Stichwort „Science of Gender“ auf die kritische Reflexion des Beitrags der Wissenschaften zur Konstruktion von Geschlecht und hierarchischer Geschlechterdifferenz. Schließlich ist mit „Gender in Science“ eine Analyse und Reformulierung der Geschlechterordnung zur Definition der Wissenschaften und ihrer Methodologien angestrebt. Dieses Konzept, das Fox Keller in Bezug auf die feministische Naturwissenschaftsanalyse entwickelt hat, ist ebenso inspirierend für kultur- und gesellschaftswissenschaftliche Studien. Wenn mit feministischen Erkenntnissen auch ihre soziosymbolische Wirksamkeit programmatisch verlangt wird, weist Insa Härtel (2003) kritisch auf das „Wissen von den Grenzen des Wissens“ hin. Da stets eine Begrenzung der Forschungsperspektive anzunehmen ist und die/der Forschende gleichzeitig von dem Feld konstituiert ist, in dem Wissen entsteht, können die Ergebnisse laut Haraway (1996) nur als „situiertes Wissen“ gelten. Ziel ist es, „die Perspektive solcher Blickwinkel anzustreben, die (...) ein Wissen, das die Konstruktion von Welten ermöglicht, die in geringerem Maße durch Achsen der Herrschaft organisiert sind“ (ebd.: 387). Christina Thürmer-Rohr (1995) charakterisiert dies als „Herrschaftsabsage“ des feministischen Denkens. Der feministische Diskurs zeichnet sich nach Gudrun-Axeli Knapp (1998) mithin durch ein „vergleichsweise hohes Maß an theoretischer Sensibilität gegenüber Generalisierungen als auch durch Reflexivität in Bezug auf die eigenen Aussagebedingungen aus“ (ebd.: 10, vgl. auch Harding 2005).
Vom „Ökofeminismus“ und „Cyberfeminismus“ Nicht nur in Bezug auf die gesellschaftspolitischen Vektoren der Macht, entlang derer die Auseinandersetzungen um das Subjekt des Feminismus geführt werden, sondern auch hinsichtlich der Konstruktion von Natur und Umwelt, Materie und Technik konstituieren sich feministische Standpunkte. Vor dem Hintergrund ökologischer Katastrophen werden in den 1980er Jahren ökofeministische Positionen prominent, die den strukturellen Zusammenhang zwischen den Kategorien „Frau“ und „Natur“ formulieren und diese in einem zusammenhängenden Ausbeutungsverhältnis entlarven. Während auf der Ebene der Praxis vielfältige Aktionen – auch im internationalen Bezug – initiiert werden, wird auf der theoretischen Ebene die Binarität der cartesianischen Geist-Materie-Opposition und instrumentell-mechanistischen Logik kritisiert. Vorgeschlagen wird ein Geschlechterverständnis, das den Körper einbezieht und statt eindimensionaler Rationalität dem ehemals entkörperten Subjekt auch Intuition, Emotionalität und Spiritualität zuschreibt und ein holistisches Weltbild konturiert. Auf Grund der reproduktiven Fähigkeiten von Frauen wird eine stärkere Naturnähe angenommen und ihnen im Prozess der ökologischen Erneuerung eine wichtige Rolle zugeordnet (vgl. Daly 1981). Die Ökologisierung im Umgang mit Natur wird mit der Enthierarchisierung im Geschlechterverhältnis in Verbindung gesetzt (vgl. Merchant 1980). Wesentlich für die Ausweitung des feministischen Ansatzes sind die internationalen Perspektiven des Ökofeminismus (vgl. Mies/Shiva 1995, Mies 2001) und die daraus in der Folge entwickelten Konzepte nachhaltiger Entwicklung, die ökologische und soziale Entwicklungen unter geschlechterkritischem Blick zusammenführen und hinsichtlich der konsequenten Einbindung lokaler AkteurInnen konkretisieren (vgl. Weller/Hoffman/Hofmeister 1999).
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In der feministischen Naturwissenschaftskritik wurden unter dem Einfluss poststrukturalistischer Konzepte seit Mitte der 1980er Jahre die essentialistischen Weiblichkeitsbilder des Ökofeminismus kritisch aufgeworfen (vgl. Haraway 1985, Harding 1994, Orland/Scheich 1995). Unter diesem Blickwinkel wird die „Sexualisierung der hierarchisch strukturierten Dichotomien bzw. die Entsprechung von androzentrischen Gesellschaftsmodellen und ebensolchen Naturmodellen“ (Palm 1999: 119) einer kritischen Analyse zugänglich. Wenn dabei deutlich wird, dass naturwissenschaftliche Konzepte der Natur Produkte eines gesellschaftlichen Konstruktionsprozesses sind, wird damit die „Natur der Frau“ auf die sozialen Prozesse und Repräsentationspolitiken zurückverwiesen. Donna Haraway (1985) pointiert ihre Kritik an der binären Matrix von Patriarch und Göttin, wie sie im Ökofeminismus formuliert ist, und setzt dagegen die ironische Figur der Cyborg (Abk. für ‚cybernetic organism‘) als ein hybrides Wesen, das sowohl natürliche als auch kulturelle Aspekte integriert und etablierte Grenzen zwischen Mensch und Tier sowie zwischen Organismus und Materie auflöst. Diese Ansätze, die mittlerweile unter dem Begriff des „Cyberfeminismus“ gefasst und ausgeweitet werden, bezeichnen theoretische oder künstlerische Ansätze, die digitale Techniken sowie (Bio)Technologien unter feministischen Prämissen formulieren (Plant 1998, Harrasser 2006). Mit der Entwicklung und Ausdifferenzierung virtueller Welten wie dem Internet wiederholen sich geschlechtliche Einschreibungen und sozialkulturelle Annahmen in technischen Kontexten. Diese kritisch aufzuspüren und zu reformulieren ist ein wesentliches Anliegen cyberfeministischer Bestrebungen in Theorie und Praxis.
Kritik an Exklusionen im Feminismus Auch wenn Feminismus sich stets gegen Ausgrenzung von Frauen wendet, hat er selbst Hegemonien hervorgebracht, die in vielfältigen Auseinandersetzungen diskutiert und revidiert wurden. Diese Debatten zu Inklusionen und Exklusionen verlaufen entlang der gesellschaftlichen „Achsen der Differenz“ (Knapp/Wetterer 2003). Dies sind neben gender insbesondere class, race, ethnicity, sexuality. Für die Erste Frauenbewegung Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts betrifft dies insbesondere die Auseinandersetzung zwischen bürgerlichen und proletarischen Feministinnen. Die Klassenfrage im Feminismus entzündet sich an dem Protest proletarischer Frauen bezüglich der Haltung der bürgerlichen Frauenbewegung zu den Protesten der Dienstbotinnen (vgl. Friese 1991). Clara Zetkin pointiert in ihrem Aufsatz „Reinliche Scheidung“ den Klassengegensatz zwischen Frauen und kritisiert die „bürgerliche Frauenrechtelei“ der sie die „revolutionäre“ Arbeiterinnenbewegung gegenüberstellt (Zetkin 1894). Die Debatte um Klasse und Geschlecht wird auch in der Zweiten Frauenbewegung fortgesetzt (vgl. Beer 1989, Gottschall 2002). Eine ebenso heftige Auseinandersetzung findet in der Zweiten Frauenbewegung über die „Dominanzkultur“ (Rommelspacher 1995) des „weißen Mittelschichtfeminismus“ statt, die schwarze Frauen, Jüdinnen und Migrantinnen ausgrenzt, um die eigene Vormachtstellung zu sichern. In den USA und Großbritannien wird diese Auseinandersetzung seit Ende der 1970er Jahre geführt (vgl. Davis 1981, bell hooks 1996), in Deutschland wird diese Debatte ebenfalls aufgenommen und ab Ende der 1980er Jahre von zwei wesentlichen Impulsen getragen: Einerseits wird der alltägliche Rassismus weißer Feministinnen und andererseits die Dominanz des Antisexismus im Feminismus kritisiert (vgl. beiträge 1990). Der „schwarze Feminismus“ zeichnet sich dagegen durch ein Gleichheitsverständnis aus, das stark durch die Thematisierung der Differenzen geprägt ist. Ebenso wird hier die Bündnisfrage mit Männern neu aufgeworfen (vgl. Joseph 1993). Die Kritik an der Dominanzkultur setzt sich mit lokaler Beschränkung des „weißen Feminismus“ auseinander und verweist auf Spuren des Kolonialismus. Mit der postkolonialen Kritik werden
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diese Repräsentationslogiken und fortgesetzten weißen Hegemonien aufgedeckt (vgl. Hügel/ Lange/Ayim 1993, Rodriguez 2001). Auch das für den Feminismus zentrale Thema der Sexualität ist durchzogen von Exklusionen, deren Kritik zu produktiven Auseinandersetzungen führt. Lässt sich für den Feminismus in den Debatten um Familie und Reproduktion ein deutlicher Heterosexismus konstatieren (Hark 1987), wird im „lesbischen Feminismus“ der 1970er Jahre mit dem Slogan „Feminismus ist die Theorie, Lesbianismus ist die Praxis“ dagegengehalten. Verbunden wird damit eine radikale Abwendung von männlich identifizierten Räumen und die Etablierung einer separatistischen Lesbenkultur. Im Vordergrund steht dabei weniger die sexuelle Präferenz als vielmehr der lesbische Feminismus als Lebensform und politische Praxis (vgl. Raymond 1989). In der Folge werden mit der Kritik an lesbischen Identitätskonzepten, wie sie sich etwa in der Postulierung einer „lesbian nation“ (Johnston 1973) ausmachen lassen, majorisierende Muster aufgedeckt, die sowohl entpolitisierend als auch ausgrenzend wirken (vgl. Hark 1996). Dagegen wird mit dem Begriff der Heteronormativität die feministische Analyse von Macht- und Herrschaftsverhältnissen fortgesetzt und produktiv geweitet. In diesem Kontext stehen queere Theorieansätze, die nicht nur die Norm der Zwangs-Heterosexualität in ihrer strukturbildenden Bedeutung untersuchen, sondern auch Homosexualität als normative Kategorie dekonstruieren. Damit wird sowohl eine Kontinuität als auch ein Bruch mit lesbisch-feministischen sowie Homo-Befreiungs-Konzepten markiert (vgl. Jagose 2001). Mit „queer(en) Interventionen“ (Hark 1993) werden essentialistische Weiblichkeitskonzepte dekonstruiert und gleichzeitig eine kritische Perspektive auf Machtdiskurse fortgesetzt. Judith Butler formuliert mit Gender Trouble (1990) ihre Kritik an einem Feminismus, der „Frauen“ als grundlegende Kategorie voraussetzt: „Die feministische Kritik muss (...) begreifen, wie die Kategorie ‚Frau(en)‘, das Subjekt des Feminismus, gerade durch jene Machtstrukturen hervorgebracht und eingeschränkt wird, mittels derer das Ziel der Emanzipation erreicht werden soll“ (Butler 1991: 17). Butler bestreitet die Wahrhaftigkeit der Kategorie Gender und setzt sie programmatisch als performatives Ergebnis sich wiederholender Handlungen. Geschlecht wird zur „fortdauernden diskursiven Praxis“, die „stets offen für Eingriffe und neue Bedeutungen“ ist (ebd.: 60). Als neues Paradigma feministischer Analyse kann das Konzept der „Intersektionalität“ gelten (vgl. Knapp 2005). Damit soll die Verwobenheit und das Zusammenwirken verschiedener Differenzkategorien sowie unterschiedlicher Dimensionen sozialer Ungleichheit erfasst werden können. Eine „intersektionale Mehrebenenanalyse“ soll dabei sowohl soziale Praxen und unterschiedliche Differenzkategorien in ihrer Wechselwirkung zeigen als auch hinsichtlich der Identitäts-, Struktur- und Symbolebene Differenzierungen ermöglichen (vgl. Degele/Winkler 2007).
Resümee und offene Fragen Das Bestreben des Feminismus gilt der Aufhebung von Unterdrückungs- und Marginalisierungsstrukturen und -mechanismen. In Frage gestellt wird damit gleichzeitig die Differenzierung in zwei dichotom organisierte Geschlechter. Nicht zuletzt hierin mag die weit verbreitete Skepsis am Feminismus und dem darin wurzelnden Antifeminismus (Holland-Cunz 2003: 161ff.) begründet liegen. Gewährt doch die binäre Strukturierung – auch oder trotz ihrer hierarchischen Anordnung – Sicherheit und Orientierung. Zu klären ist die Frage neuer Orientierungen jenseits hierarchischer und binärer Geschlechtermodelle. Und nach Karen Offen (1993) umfasst ein solches Verständnis von Feminismus auch Männer, „deren Selbstverständnis nicht auf der Herrschaft über Frauen beruht“ (ebd.: 127). Gleichzeitig kann das profunde feministische Wissen um Marginalisierung und Hierarchisierung auch außerhalb frauenbewegter Zirkel fruchtbar gemacht werden. Angesichts weltweiter sozialer, politischer, ökonomischer und kultureller Diskriminierung von Menschen
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wird deutlich, dass der Feminismus keineswegs obsolet, verstaubt, veraltet, überflüssig ist. Fraser (1992: 191) pointiert: „It will not be time to speak of postfeminism until we can legitimately speak of postpatriarchy.“ Zwar lassen sich Erfolge des Feminismus durchaus verzeichnen, insbesondere in den Bereichen Bildung und rechtliche Gleichstellung sowie auf der Ebene individueller Deutungsmuster. Bezogen auf die strukturelle und institutionelle Organisation alltäglichen Lebens (Jurczyk/ Oechsle 2008) findet dagegen die Reproduktion männlicher Hegemonien ihre Fortsetzung. Angelika Wetterer bezeichnet diesen widersprüchlichen Befund mit dem Begriff der „rhetorischen Modernisierung“ (Wetterer 2003). Wenn der Feminismus sich gleichzeitig mit der theoretischen Dekonstruktion von Geschlechterbinaritäten beschäftigt, wurzelt darin die Besorgnis an der „entpolitisierten Theorie“ (Holland-Cunz 2003: 164). Eine einfache Lösung oder ein Zurück zu essentialistischen Feminismen kann es aus meiner Sicht nicht geben. Verweise: (De)Konstruktion und Diskurs-Genealogie Feministische Wissenschaftskritik und Epistemologie Lesbenforschung und Queer Theorie Mittäterschaft Ökologiekritik Postkolonialismus Sozialistischer Feminismus Wissenschafts- und Technikforschung
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Französischer Feminismus: Zum Verhältnis von Egalität und Differenz
Der neuere französische Feminismus entwickelte sich im Kontext der Kulturrevolte des Mai 1968. Grob gesehen, kann man drei Richtungen unterscheiden: einen sozialwissenschaftlich fundierten Egalitätsfeminismus, einen psychoanalytisch und dekonstruktiv fundierten Differentialismus und einen biologisch fundierten Feminismus der Differenz.
Poststrukturalistischer und/oder Differenz-Feminismus Es gehört zu den merkwürdigsten (und noch weitgehend unerforschten) Phänomenen des modernen Kulturtransfers, dass gerade der in Frankreich selbst wenig verbreitete dekonstruktive Feminismus im Ausland als Inbegriff des französischen Feminismus angesehen wird (vgl. Galster 1999 und 2004). Drei Theoretikerinnen stehen für diesen über US-amerikanische Vermittlung verbreiteten trügerischen pars pro toto: Hélène Cixous, Luce Irigaray und Julia Kristeva. Hélène Cixous sieht mit Jacques Derrida das für den okzidentalen Diskurs konstitutive Denken in binären Oppositionen auf dem grundlegenden Gegensatz „Mann vs. Frau“ begründet (vgl. Cixous 1975). Logozentrismus und Phallozentrismus solidarisieren sich im „Phallogozentrismus“. Die Frau ist das Verdrängte, sie garantiert das Funktionieren des Systems. Das Gegenmittel, das die Herrschaft des Phallogozentrismus destabilisieren soll, ist die écriture féminine. Es handelt sich um ein intransitives, also nicht auf ein Darstellungsobjekt gerichtetes „KörperSchreiben“, in dem sich Cixous zufolge die besondere Trieborganisation der Frau, ihr spezifisches Unbewusstes, unmittelbar niederschlägt. Notwendigerweise muss es Anleihen bei der logozentrischen Männersprache machen – in der westlichen Kultur gibt es keine andere –, aber es löst logozentrische Eindeutung in Polysemie, Unentscheidbarkeit, auf. Auf diese Weise wird Identität suspendiert, ihre Herstellung permanent aufgeschoben. Für diesen Identitätszuschreibungen verhindernden Aufschub prägte Derrida den Neologismus „différance“ (Eindeutschung: „Differänz“). Die Schriften der Linguistin, Philosophin und Psychoanalytikerin Luce Irigaray werden häufig unter der Rubrik écriture féminine mit subsumiert. In ihrer Studie „Speculum“ (1974) untersucht sie das abendländische Denken von Platon bis Freud und stellt fest, dass die Frau immer nur als Spiegel des Mannes erscheint. Der Mann setzt sich als Absolutes, die Frau wird in Bezug auf ihn definiert, sie ist kein Wesen sui generis. Eines der eindrucksvollsten Beispiele ist Freuds Vorstellung vom Penisneid der Frau: Die Frau ist das Wesen ohne Penis, nicht mit Vagina. Den Objektstatus der Frau im männlichen Denken hatte Simone de Beauvoir 1949 auch schon klar erkannt (vgl. Galster 2004a, b; 2007). Sie appellierte an die Frauen, sich nicht mit diesem Status abzufinden und ihrerseits zu mündigen Subjekten im Sinne der Aufklärung zu werden. Diesen Ratschlag können die Poststrukturalistinnen nicht mehr geben, denn sie argumentieren auf anderem erkenntnistheoretischem Boden. Für Beauvoir war das Subjekt universell
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und geschlechtsneutral und die Überwindung des materiell resistenten Gegebenen, die sie „Transzendenz“ nennt, ein Bestreben, das jedem Bewusstsein eigen ist, auch wenn die Realisierung dieser Absicht den Frauen in der Geschichte verwehrt wurde. Für die Poststrukturalistinnen sind Transzendenz, Emanzipation und Fortschritt dagegen männlich konnotiert. Wer sich als Frau zu diesen Werten bekennt, sucht lediglich nach Vermännlichung. Das Streben nach Subjektwerdung und Gleichheit innerhalb der überkommenden Identitätslogik kann den Unterdrückungsmechanismus, den die Opposition von Subjekt und Objekt darstellt, nicht außer Kraft setzen. Auch Irigaray sieht zunächst keine andere Möglichkeit, als den Phallogozentrismus von innen auszuhöhlen, zu dekonstruieren, und zwar durch ein Verfahren, das sie parler femme nennt. Sie imitiert und parodiert Männertexte, die auf diese Weise bloßgestellt werden und ihre Überzeugungskraft verlieren sollen. Im Gegensatz zu Cixous, die bei der Dekonstruktion geblieben ist, wechselte sie seit Mitte der 1980er Jahre jedoch in ein grundsätzlich anderes Register. Der kritischen, dekonstruktiven Phase folgte eine zweite, in der sie sich affirmativ über die spezifischen Eigenschaften des weiblichen Subjekts äußert (vgl. Irigaray 1995). Mehr Raum als theoretische Entwürfe nehmen in dieser Phase von Irigarays Denken praktische Vorschläge dazu ein, wie die Frauen auf allen Gebieten angemessen repräsentiert werden können, damit sie ein neues Gefühl ihrer Identität erhalten. Am bekanntesten als Vertreterin des „French Feminism“ (made in USA) wurde paradoxerweise die Textwissenschaftlerin Julia Kristeva, die ihre Einrückung in den Feminismus eher als Missverständnis betrachtet (vgl. Forest 1995: 518f.). Nach Kristevas Theorie interagieren bei der Sinnkonstitution zwei Prozesse, die sie das Symbolische und das Semiotische nennt. Das Symbolische entspricht der logisch-rationalen Struktur der Sprache, das Semiotische verdrängt Triebenergien, die in Form von Druck auf dem Symbolischen lasten und sich durch heterogene Einschüsse Luft machen, die nicht auf Bedeutung reduziert werden können. Das Semiotische stellt also eine permanente Bedrohung der symbolischen Ordnung – der logozentrischen Sprache – dar. Vergleicht man Kristevas Theorie mit den Ausführungen zu Cixous und Irigaray, dann liegt nahe, warum sie für den Feminismus interessant ist. Auch hier ist das von der phallogozentrischen Sprache Verdrängte das Weibliche, nämlich die präödipale, vor dem Spracherwerb liegende Einheit des Kindes mit der Mutter. Allerdings manifestiert sich dieses „Weibliche“ oder Semiotische Kristeva zufolge eher in Texten von Männern als von Frauen, da letztere stärker psychosegefährdet seien (vgl. Lindhoff 1995: 117). Sie grenzt sich von Cixous’ écriture féminine ab, die, wie sie meint, durch zu starken Abbau der Identitätsgrenzen die Psychose favorisiert. Dass Kristeva sich selbst nicht als Feministin sieht, zeigt sich nicht zuletzt daran, wie sie den Feminismus als Bewegung be- oder verurteilt. Nach der Abdankung der Ideologien sieht sie in ihm die letzte paranoide Formation, die das Böse auf Sündenböcke projiziert, statt es im eigenen Unbewussten zu suchen. In diesem Sinne misst die Atheistin den Religionen, wenn sie ihrer Aufgabe nachkommen, eine zivilisatorische Funktion bei: Sie verlagern das Böse ins Innere der Individuen und verhindern so Barbarei. Nur die Psychoanalyse und die Kunst können in dieser Hinsicht mit ihnen konkurrieren (Kristeva 1995). Die Richtung, in die Kristevas Äußerungen seit Mitte der 1970er Jahre zunehmend zielen, erinnert kaum noch an ihre früheren Arbeiten. Galt ihr Interesse in der frühen Zeit der Pluralisierung monologischen Sinns entsprechend der Dekonstruktion (Kristeva 1967), so erkannte sie immer stärker die Psychoanalyse als Diskurs an, der in der Lage ist, wahrheitsfähige Aussagen zu begründen. Mit ihrer Hilfe hat sie die abendländische Geistesgeschichte und die großen Mythen neu gelesen, wobei ihr besonderes Interesse Konstruktionen wie jener der Jungfrau-undGottesmutter-Maria gilt (Kristeva 1983, Clément/Kristeva 1998: 99ff.). Einem gewissen psychoanalytischen Fundamentalismus der Textwissenschaftlerin, die seit 1979 auch als Analytikerin praktiziert, hat sich seit der Geburt ihres Sohnes ein „maternalistischer Essentialismus“ (Fraser 1992: 19) hinzugesellt. Für Kristeva ist Mutterliebe die Grundlage aller Liebesbeziehungen, der christlichen caritas und der laizistischen Menschenrechte (Clément/Kristeva 1998: 94).
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Konnte man lange darüber rätseln, ob „Differenz“ im Zusammenhang mit dem Feminismus im poststrukturalistischen Sinne Derridas als Aufschub oder im biologischen Sinne als Geschlechtsunterschied zu verstehen sei, so zeigt zumindest die Entwicklung Irigarays und Kristevas eine eindeutige Verlagerung von der Dekonstruktion zu positiv gesetzter Identität, von Zersetzung des Phallogozentrismus zur Begründung einer neuen Ethik auf der Mutterschaft. Die Frage der Mutterschaft stand von vornherein im Zentrum der neueren Frauenbewegung. Simone de Beauvoir hatte sie 1949 im „Anderen Geschlecht“ als Ursache von Sklaverei bezeichnet, denn die biologische Reproduktion war in der Geschichte der Vorwand gewesen, die Frauen an dem zu hindern, was sie unter Selbstverwirklichung verstand. Mit Beauvoirs Unterstützung kämpften dann auch Anfang der 1970er Jahre Feministinnen erfolgreich für die Liberalisierung der Abtreibung. Gleichzeitig – im Jahre 1974 – erschien jedoch eine Hymne auf den Frauenkörper, auf Mutterschaft und Hausarbeit, Annie Leclercs „Parole de femme“, eine Schrift, die schnell zum Kultbuch wurde. Es handelt sich um eine der ersten Manifestionen der écriture féminine, die weniger dekonstruiert als positive weibliche Werte setzt, deren Ausgangspunkt der Körper der Frau ist. Der Differenzfeminismus war also in Paris von Beginn der neueren Frauenbewegung an auch im Sinne eines biologischen Essentialismus präsent. Als extremste Vertreterin dieses biologisch fundierten Differenzfeminismus gilt heute Antoinette Fouque, die sich in Abgrenzung von den Egalitaristinnen selbst als Antifeministin bezeichnet. Neben Irigaray ist sie vielleicht die umstrittenste Figur der gesamten Bewegung. Erst 1995 erschien ihr erstes Buch, dessen Titel „Il y a deux sexes“ (Es gibt zwei Geschlechter) keinen Zweifel über ihren Standpunkt zulässt. Der Untertitel enthält den Neologismus „féminologie“. Diese neue Disziplin soll das aus den phallozentrischen Humanwissenschaften verdrängte Wissen über die Frau erschließen. Für Fouque ist Anatomie Schicksal (Fouque 1995: 40f.). Um der weiblichen Schriftkultur eine Plattform zu verschaffen, gründete sie 1974 den Frauenverlag „Des Femmes“, dem insbesondere Hélène Cixous sehr eng verbunden ist.
Egalitätsfeminismus Den Differenzfeministinnen stehen die Egalitätsfeministinnen gegenüber, die im Anschluss an Simone de Beauvoir die Frau als soziales Konstrukt der Männer betrachten und die Vorstellung von einer spezifischen Natur der Frau, die ihre soziale Rolle diktieren würde, ablehnen. Wenn die Differentialistinnen das von der unterstellt männlichen Rationalität verdrängte Weibliche zur Geltung bringen wollen, um langfristig einen Umbau des gesamten Denkens zu erreichen, so geht es den Egalitaristinnen um Beseitigung konkreter Unterdrückung für real existierende Frauen hier und jetzt und um Herstellung von Chancengleichheit. Als direkte Nachfolgerinnen Beauvoirs verstehen sich die um die Zeitschrift „Nouvelles Questions féministes“ (NQF) gruppierten Feministinnen. Beauvoir selbst hatte 1977 die „Questions féministes“, aus der sie hervorging, mitgegründet. Sie haben Beauvoirs Ansatz radikalisiert. War für Beauvoir Anatomie zwar kein Schicksal, aber immerhin doch gegeben als Teil der Situation, die das Subjekt im Handeln interpretiert und dabei überwindet, so ist für die Feministinnen der NQF auch das biologische Geschlecht noch ein Konstrukt, das den Zweck erfüllt, die gesellschaftliche Teilung zwischen Herrschenden und Beherrschten – Männern und Frauen – zu markieren. Die Frauen werden aufgrund ihrer häuslichen Ausbeutung als soziale Klasse definiert analog der Arbeiterklasse; diese Klasse verschwindet erst mit den Machtverhältnissen, denen sie ihre Existenz verdankt (vgl. Leonard/Adkins 1996). Die Terminologie zeigt, dass die NQF, allen voran die Soziologin Christine Delphy (1975), sich als bekennende Materialistinnen die Kategorien der marxistischen Gesellschaftsanalyse für feministische Zwecke angeeignet haben. Angesichts der welthistorischen Konjunktur der 1980er Jahre, in der das Ende der Utopien schon vor dem Fall des Realsozialismus verkündet wurde,
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kann es kaum verwundern, dass diese Theorie nicht enthusiastisch als „French Feminism“ rezipiert und nachgeahmt wurde. Dennoch enthält sie ein Element, das in gewisser Weise die Theorie antizipiert, die heute eine der meistdiskutierten auf dem Gebiet der Geschlechterforschung ist – wenn auch nicht in Frankreich: den radikalen Nominalismus Judith Butlers. Butler hat stark die Schriften Monique Wittigs rezipiert, die zum Kreis der „Questions féministes“ gehörte und deren bekanntestes Diktum lautet, dass Lesben keine Frauen sind (vgl. Leonard/Adkins 1996: 1). Für Wittig gibt es so viele Geschlechter wie Individuen. Damit ist, wie Butler zu Recht bemerkt, die Kategorie „Geschlecht“ abgeschafft (Butler 1990: 118). Für die Dekonstruktivistin Butler geht Wittig allerdings noch nicht weit genug, denn sie hält an der Opposition von Homosexualität und Heterosexualität fest, während sich für Butler beide Formen von Sexualität gegenseitig durchdringen (Butler 1990: 121). Wittig praktiziert einen lesbischen Separatismus, der keine Solidarität mit heterosexuellen Frauen erlaubt, die als „Klassen-Kollaborateurinnen“ bezeichnet werden. Über der Frage der richtigen Befreiungsstrategie war es 1980 zum Bruch und zur Auflösung der „Questions féministes“ gekommen. Heute wird nach Meinung von Betroffenen die Homosexualität in der Pariser Feminismusdebatte totgeschwiegen (vgl. Bonnet 1998). In der Nachfolge Beauvoirs sieht sich auch ausdrücklich die prominente Philosophin Elisabeth Badinter, die mindestens mit zwei Publikationen Aufsehen erregte. In der 1980 erschienenen Untersuchung „L’amour en plus“ (dt. „Die Mutterliebe“) legte sie eine Geschichte der Mutterliebe vor, in der sie durch historische Analysen Beauvoirs Behauptung untermauert, die Mutterliebe sei ein Mythos, erfunden, um die Frauen an Haus und Herd zu verbannen. Badinter, die selbst Mutter von drei Kindern ist, nimmt damit in einem empfindlichen Punkt der gesamten Debatte die extreme Gegenposition zu den Differentialistinnen ein. Ebenso verhält es sich bei dem sechs Jahre später erschienenen Werk „L’un est l’autre“ (dt. „Ich bin Du“), in dem sie die wechselnden Beziehungen zwischen Mann und Frau in der Geschichte untersucht und die Gegenwart von der Einsicht dominiert sieht, dass Männer und Frauen konstitutiv bisexuell und damit ähnlich sind. Der letzte Unterschied besteht für sie darin, dass die Frauen die Kinder austragen. Aber mit der Möglichkeit der künstlichen Befruchtung wird auch dies bald der Vergangenheit angehören. Während Irigaray in dem Monat, in dem „L’un est l’autre“ lanciert wurde, die Negierung des Geschlechtsunterschiedes als Ursache von Völkermord bezeichnete (taz, 19.4.1986), sieht Badinter das Zeitalter der Androgynie anbrechen. Trotz der historischen Konjunktur glaubt sie in der Tradition der Aufklärung unverbrüchlich an den Fortschritt. Der von ihr proklamierte androgyne Mensch ist die auf die Spitze getriebene Ausformung des abstrakten, universellen Individuums der Egalitätsfeministinnen. Eine stärker ausgewogene, jedoch ebenfalls auf Beauvoirs Theorie fußende Position vertritt die Historikerin Michelle Perrot. Aus der Sozialgeschichtsschreibung kommend, hat sie seit den 1970er Jahren an der Universität Paris VII (an der die feministische Forschung am stärksten konzentriert ist) intensiv historische Frauen- und Geschlechterforschung betrieben und eine ganze Schule begründet. Der vorläufige und stark beachtete Höhepunkt ihres Wirkens ist die fünfbändige, zusammen mit Georges Duby herausgegebene „Histoire des Femmes en Occident“ (1991-1992), deren Erkenntnisziel die historische und kulturelle Konstruktion des Geschlechterverhältnisses ist, wobei Perrot als Sozialhistorikerin nie aus den Augen verliert, dass es „die Frau“ schlechthin nicht gibt, sondern dass zu dieser kulturellen Situierung immer andere Faktoren hinzukommen: Die Frau ist auch Bürgerin, Arbeiterin, Hausangestellte, Immigrantin etc. Die Historikerin und Philosophin Geneviève Fraisse, die an dieser Geschichte mitarbeitete, kritisiert, dass es statt der intendierten Rekonstruktion des Geschlechterverhältnisses eher zu einer von der übrigen Historie abgespaltenen Geschichte der Frauen gekommen sei, die nicht zu einer Neuorganisation des historischen Wissens zwinge. Sie selbst hat sich in ihren Forschungen intensiv mit dem paradoxen Befund beschäftigt, dass gerade in Frankreich, wo 1789 die Menschenrechte verkündet wurden, die Frauen besonders lange auf die Staatsbürgerschaft warten mussten (vgl. Fraisse 1993, 1995a, b, c). Fraisse ist eine unspektakuläre Denkerin, die lieber analysiert, als affirmative Standpunkte einzunehmen. Auf der Grundlage des strukturalistischen
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Marxismus Althussers und einer modifizierten Version der Diskurstheorie Foucaults will sie eine „Genealogie der Geschlechterdifferenz“ erarbeiten. „Geschlechterdifferenz“ ist dabei nicht der Untersuchungsgegenstand, sondern eine analytische Kategorie. Fraisse hält Geschlecht im Allgemeinen für das Ungedachte der Diskurse. Diese Äußerung erinnert unwillkürlich an die These von der Konstitution des männlichen Logos über die unbewusste Verdrängung des Weiblichen, der Fraisse jedoch ebenso wenig folgt wie der Gegenposition Badinters (Fraisse 1995c: 319f.). Als wichtige Figur in der Pariser Feminismusdebatte muss neben vielen anderen, die hier unerwähnt bleiben müssen, noch die Philosophin Françoise Collin genannt werden. Sie ist besonders bekannt als Gründerin der „Cahiers du Grif“, in der seit 1973 zunächst von Belgien aus zentrale Texte wie Irigarays „Ce sexe qui n’en est pas un“ erschienen. Collin selbst ist von weniger genau definierten Prämissen, als Fraisse sie für sich nennt, ebenfalls der Geschlechterdifferenz in der Geschichte der Philosophie nachgegangen. Daneben hat sie die scharfsinnigsten Analysen der neueren Feminismusdebatte, die sie durch ihre Zeitschrift mitgestaltete und in die sie immer wieder selbst eingriff, geliefert (Collin 1992 und Beitrag in Manassein 1995). Obwohl ihr als Blanchot-Spezialistin die Dekonstruktion nicht fremd ist, hat sie den Ansatz Derridas und seiner Adeptinnen kritisiert, weil er auf dem abstrakten Niveau der Kategorien bleibt und die soziale und politische Wirklichkeit der Frauen verfehlen muss: „Wenn ‚Mann‘ und ‚Frau‘ sich ontologisch in einer Beziehung der ‚Differänz‘, d.h. des Aufschubs, der sie unidentifizierbar macht, befinden, so sind sie soziopolitisch in einer Beziehung der Herrschaft, die sie dualisiert“ (Collin 1993: 217). Da die Texte, die die Rückkehr des verdrängten Weiblichen illustrieren, häufig von Männern stammen, befürchtet Collin, dass die Theorie der Dekonstruktion zu einer neuerlichen Enteignung der Frauen führt, denn das Weibliche als Daseinsmodus kann letztlich auf real existierende Frauen verzichten (Collin 1993: 214).
Perspektiven: Egalität und Differenz statt Egalität vs. Differenz Nicht nur Collin und Fraisse, sondern auch zahlreiche andere Feministinnen sind heute der Meinung, dass die Alternative von Egalitarismus und Differentialismus inakzeptabel ist. Trotz der offenbaren Unvereinbarkeit der jeweiligen Prämissen müssen die beiden Paradigmen zueinander in Beziehung gesetzt werden. Wenn sich beide Seiten stark polarisiert haben, so nicht zuletzt wegen der überwiegenden Zugehörigkeit der Vertreterinnen zu bestimmten Disziplinen. Bei den Egalitaristinnen dominieren die Sozialwissenschaften, ihnen fehlt eine Subjekttheorie; bei den Differentialistinnen dominiert die Psychoanalyse, ihnen fehlt eine Gesellschaftstheorie. Es gibt Anzeichen dafür, dass eine neue Generation Feministinnen versucht, die Kluft zu überbrücken und nach brauchbaren Konzepten auf beiden Seiten Ausschau zu halten (vgl. Planté 1993). Der Neuaufbruch hat bisher freilich keine spektakulären Ergebnisse gezeitigt. Die Theorieproduktion scheint sich zur Zeit stärker in die USA verlagert zu haben. In Paris wird momentan eher an einer Umsetzung und Konsolidierung des theoretisch Erreichten gearbeitet. Auch wenn die Frauen- und Geschlechterforschung nicht in dem Maße institutionalisiert wurde wie in den USA (vgl. Fraisse 1995b), so hat sie doch Einzug in einen Teil der Forschungseinrichtungen und Universitäten gehalten. In den Sozialwissenschaften ist sie stärker vertreten als in den philologischen Fächern (vgl. Planté 1993: 122). Dass auch männliche Forscher inzwischen das Thema der Geschlechterdifferenz mitberücksichtigen, hält Michelle Perrot für einen Indikator, der auf ein allgemeines Klima schließen lässt. Der Schwerpunkt der Debatte lag in den 1990er Jahren eher auf politisch-pragmatischen Themen als auf der Theorie. Fragen wie jene, ob muslimische Schülerinnen in der französischen Schule, die der Laizität verpflichtet ist, den Schleier tragen dürfen, haben die Feministinnen mit dem Problem konfrontiert, ob den Menschenrechten, auf die sie sich berufen, universelle Gel-
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tung zukommt oder ob sie nur einen europäischen Partikularismus darstellen. Dasselbe gilt für die Klitorisbeschneidung in außereuropäischen Kulturen: Üben Feministinnen nicht einen okzidentalen Imperialismus aus, so fragte man sich, wenn sie die Exzision verhindern wollen? Muss das westliche Demokratiemodell, dem der emanzipatorische Feminismus seine Existenz verdankt, in seinem Geltungsbereich relativiert werden? Aus Anlass der Zweihundertjahrfeier der Französischen Revolution 1989 wurde dieses Demokratiemodell besonders stark diskutiert, weil es zwar seit Ausrufen der Republik das „allgemeine“ Wahlrecht vorsah, dieses jedoch den Frauen bis 1944 vorenthielt. Vor allem nach den Arbeiten von Geneviève Fraisse besteht fast ein Konsens darüber, dass der Ausschluss der Frauen in Frankreich konstitutiv für die Republik war, nur über die Gründe wird noch diskutiert. Die singuläre Verspätung der Französinnen an der politischen Teilhabe hatte zur Folge, dass die Zahl der Mandatsträgerinnen in Frankreich auf allen Ebenen außergewöhnlich gering ist. Die Diskussion um die Parität hat am stärksten die französische Feminismusdebatte der 1990er Jahre geprägt. Diejenigen, die sie ablehnen – etwa Christine Delphy – bringen vor, dass mit ihrer Einführung die Spezifität der Frau, die in der Geschichte ihre Unterdrückung gerechtfertigt habe, endgültig festgeschrieben werde (vgl. Lloyd 1992: 186). Aber nicht alle, die sie befürworten, wollen erreichen, dass die Frauen auf diese Weise ihre geschlechtspezifischen Erfahrungen in die Politik einbringen, wie Antoinette Fouque (vgl. Picq 1997: 227). Die meisten fordern einfach eine angemessene Teilhabe an den Entscheidungen, die sie mitbetreffen. Dennoch hat die Debatte um die Parität viele Egalitatistinnen zum Nachdenken gebracht. Sie hat Misstrauen gegenüber einer „universellen Gleichheit“ geweckt, die de facto den Ausschluss der Hälfte der Gesellschaft organisierte. Ohne dass sie zum Differenzfeminismus überwechseln, der die Parität auf der prinzipiellen Dualität der Geschlechter begründet, sehen sie die Notwendigkeit einer Revision der „PseudoUniversalität“, etwa durch Historisierung dieses Begriffs (Perrot 1997: 135). Die pragmatische Debatte der 1990er Jahre ist von den theoretischen Höhenflügen der 1970er Jahre weit entfernt. Einige werden bedauern, dass heute nicht dieselbe Inspiration von Paris ausgeht wie zu der Zeit, als der „French Feminism“ entstand. Dabei vergessen sie, dass der Feminismus sich nie als selbstgenügsame akademische Disziplin definierte, sondern einen gesellschaftlichen Missstand beheben wollte, der den Prinzipien der Demokratie widerspricht. Anmerkung: Vorliegende Kurzdarstellung basiert auf einer ausführlicheren Darlegung in Hiltrud Gnüg/ Renate Möhrmann (Hrsg.) 1999: Frauen Literatur Geschichte. Stuttgart: Metzler, 2. Auflage Die Präsidentschafts- und die Parlamentswahlen im ersten Halbjahr 2007 haben gezeigt, dass in der französischen Gesellschaft ein Umdenkungsprozess stattfindet. Zum ersten Mal war eine Frau Präsidentschaftskandidatin, und der Frauenanteil unter den gewählten Abgeordneten stieg von 12% (2002) auf 18,5%. Wesentlichen Anteil an dieser Entwicklung hatte die sozialistische Partei, die 45% Frauen auf ihren Listen aufstellte, und zwar nicht nur für Wahlkreise, die ohnehin als verloren galten. Unter den Abgeordneten dieser Partei befinden sich 26% Frauen. Das Gesetz über die Parität ist nicht ohne Wirkung geblieben.
Verweise: Androgynie Differenz, Genealogie, Affidamento (De)Konstruktion und Diskurs-Genealogie Feminismus Poststrukturalismus Sozialistischer Feminismus
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Frigga Haug
Sozialistischer Feminismus: Eine Verbindung im Streit
Frauenunterdrückung und Kapitalismus Sozialistischer Feminismus besteht darauf, dass Frauenunterdrückung in der modernen Welt untrennbar mit der Geschichte des Kapitalismus zusammenhängt, feministische Veränderungsforderungen folglich die strukturellen Verbindungen zwischen Patriarchat und Kapitalismus anzielen müssen. Im „westlichen“ Feminismus kommt der sozialistische Feminismus aus der (zweiten) Frauenbewegung, die international aus der linken, theoretisch marxistischen Studentenbewegung hervorging. Dies verband Frauenbewegung etwa in den USA mit den Bürgerrechts- und Blackpower-Bewegungen, in Europa mit der Arbeiterbewegung und insgesamt mit den Befreiungskämpfen in den „Dritten Welten“ (vgl. AF 1988, 1989, 1990). Diese Konstellation brachte die sozialistischen Feministinnen von Beginn an in einen zunehmenden, teils lähmenden, teils produktiven Konflikt zur Arbeiterbewegung und zum Marxismus tradierter Art. Marxistische Begriffe mussten neu gedacht werden, um die Rolle der Frauen umfassend in der Reproduktion sowohl der Menschen wie der kapitalistischen Gesellschaft insgesamt zu begreifen. Diese Fragestellung musste die zu enge Verknüpfung von Befreiungsbewegung mit Klassenkämpfen überschreiten; sie dehnte vor allem auch die Analyse und Politik aus auf den Bereich des Kulturellen, also der Formierung und der Lebensweise von Frauen. Zusammenfassender Schnittpunkt ist eine Kritik der Produktionsweise des Kapitalismus, die auf Frauenunterdrückung in Form der Aneignung unentlohnter Arbeit basiert und des Fraueneinsatzes in geschlechtstypischer Arbeitsteilung bedarf; dies, um eine Gesellschaft zu reproduzieren, die sich einer Produktionsweise nach Profitlogik verschrieben hat, in der praktisch die Wiederherstellung der Gattung ebenso wenig vorgesehen ist wie diejenige der sonstigen Naturressourcen. Tragend wird in diesem Kontext der Begriff der Geschlechterverhältnisse, der es erlaubt, Frauenunterdrückung auf den verschiedenen Ebenen ihrer Verankerung analytisch zu begreifen und entsprechend in politisches Handeln zu übersetzen. Geschlechterverhältnisse werden als Produktionsverhältnisse gefasst, die Fragen von Arbeitsteilung, Herrschaft, Ausbeutung, Ideologie, Politik, Recht, Religion, Moral, Sexualität, Körper, Sprache bestimmen. Daher kann im Grunde kein Bereich sinnvoll untersucht werden, ohne die Weise, wie Geschlechterverhältnisse formen und geformt werden, mit zu erforschen (vgl. Haug 2001).
Ideengeschichtliche Quellen, Theorietraditionen und Politik Fasst man den sozialistischen Feminismus als ein Ensemble von Theorien und sozialen Kämpfen um Emanzipation in patriarchalen Geschlechterverhältnissen, so wird man die Spuren solchen Denkens und Handelns spätestens in der europäischen Aufklärung des 18. Jh. und der Französischen Revolution finden. Klassisch artikuliert bei Olympe de Gouges (1791) und Mary Wollstonecraft (1792) geht es zunächst um gleiche Rechte: Persönlichkeitsrechte in der Ehe, Scheidungsrecht, Wahlrecht, Recht auf Eigentum und Bildung bei Wollstonecraft; bei de Gouges wird die
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Rechtlosigkeit der Frauen direkt mit dem „korrupten“ Zustand der Gesellschaft zusammengebracht. Von der „revolutionären“ Einsetzung der Frauen in Menschenrechte wird angenommen, dass sie „den Geist und die Seele des einen und des anderen Geschlechts anhebt, und alle beide werden in Zukunft am Gemeinwohl mitwirken“ (de Gouges in Schröder (Hrsg.) 1979: 35). De Gouges fasst Frauen zugleich als stark und als unterdrückt und diagnostiziert so: Wenn Frauen als Sklaven gehalten werden, beginnen sie, als Sklaven über Männer zu herrschen. Sie denkt früh das Ineinander von Herrschaft und Unterdrückung bei Annahme einer grundsätzlichen Gleichheit der Geschlechter in Bezug auf Intelligenz, Fähigkeiten, Menschsein. Die in der Geschichte der sozialistischen Bewegungen gängige Stellvertreterpolitik, in der die Lage der Frauen in den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen als Frauenfrage artikuliert wurde, als gingen die so entstandenen Problematiken nur Frauen etwas an, blockierte die Entstehung eines selbstbewussten sozialistischen Feminismus. „Frauenpolitik“ beschränkte sich darauf, Frauen in Erwerbsarbeit einzubeziehen oder engagierte sich für ein besseres Familienleben (u.a. Zetkin [1906] 1960, kritisch dazu Ketelhut 1985 u. 1993). Eine Ausnahme ist Kollontai ([1920] 1978), die wie selbstverständlich davon ausgeht, dass die Befreiung der Frauen nur ihr eigenes Werk sein kann und daher für eine Politik auch der Selbstveränderung eintritt: „Die neue Frau lehnt sich nicht nur gegen die äußeren Ketten auf, sie protestiert gegen das Liebesgefängnis selbst“ (Kollontai: 1978: 39). – Sie ist „frei wie der Wind, einsam wie das Steppengras. Keinem ist sie teuer. Keiner wird sie schützen“ (ebd.: 12). Selbstveränderung als Bedingung für Gesellschaftsveränderung (und umgekehrt), die Verbindung von Privatem und Politischem tritt so als spannungsreiche Grundlage eines kommenden sozialistischen Feminismus in die Geschichte.
Sozialistischer Feminismus und Neue Frauenbewegung In der sozialistischen Arbeiterbewegung aber blieb mit der Forderung, Bedingungen zu schaffen, die Familien- mit der Erwerbsarbeit vereinbar werden lassen, ein Klima, in dem die ersten Schritte der „neuen Frauenbewegung“ als Ketzerei wahrgenommen und entsprechend verfolgt wurden. Im Aufbegehren der Frauen ging es so zunächst um die Legitimität, sich auch gegen patriarchale Herrschaft aufzulehnen und nicht nur gegen kapitalistische Ausbeutung. Hinter dieser heute fast unverständlich anmutenden Auseinandersetzung – zu Beginn selbst um das Recht, von Patriarchat zu sprechen, später um den Zusammenhang von Patriarchat und Kapitalismus – stecken wissenschaftstheoretische und politische Paradigmenwechsel. So begann der Angriff auf kausales Herrschaftsdenken und zugleich damit auf die einfache Annahme, es gäbe nur jeweils eine Herrschaftsart und nicht ein sich wechselseitig stützendes Netz, also Herrschaftsverhältnisse. Indem das totalitäre und zugleich ökonomistische Ursprungsdenken aufgegeben wurde, öffnete sich Feministinnen der Raum für die fruchtbare Rezeption von Kultur-, Sprach- und Machttheorien. Die Weigerung, sich ausschließlich auf kapitalistische Ausbeutung zu konzentrieren, brachte zugleich Zweifel an der Fixierung auf die Arbeiterklasse als einzigem Subjekt von Veränderung. Die neuen sozialen Bewegungen, von denen die Frauenbewegung die größte, dauerhafteste und radikalste war, versahen diesen Legitimitätsentzug mit praktischen Alternativen. Als solche Positionen aus der Frauenbewegung erstmals laut und öffentlich wurden (ab Ende der 1960er Jahre), entstand aus den Organisationen der Arbeiterbewegung als Vorwurf die Rede vom „Haupt- und Nebenwiderspruch“, der sich bald auch wie Pech an die Feministinnen heftete, die in den großen Zerwürfnissen das „sozialistische“ Engagement nicht von ihren feministischen Erkundungen trennen wollten. Die Frauenbewegung spaltete sich, die sozialistischen Feministinnen wurden – doppelt abgestoßen sowohl von der Arbeiterbewegung als auch von der sich in der Folge ablösenden „autonomen Frauenbewegung“ – einsam, als müssten sie Kollontais Vorhersage wahrmachen. Sie traten gegen Parteimarxismus ebenso an wie gegen einen Feminismus, der von den Fragen von Ökonomie, Profit, Ausbeutung nicht oder kaum berührt war. Gültig
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bleibt die Rede von Helke Sander auf dem Treffen der sozialistischen Studenten in Frankfurt 1968, wo sie unter zunehmendem Tumult die Themen skizzierte, die die Frauenbewegung nicht mehr losließen: dass wir nicht nur im Kapitalismus, sondern auch in einem Patriarchat lebten; dass es gelte, die Unterdrückung im Privatleben nicht als private zu begreifen, sondern als ökonomisch und politisch bedingte; dass Privatleben qualitativ zu verändern und diese Veränderung als politische Aktion zu verstehen sei. Persönliche Entfaltung sollte identisch werden mit einer Praxis, die jetzt schon Momente einer zukünftigen Gesellschaft vorwegnimmt (vgl. auch: Wie weit flog die Tomate? 1999). Unter den unzähligen Texten, die in den 1970er Jahren von sozialistischen Feministinnen veröffentlicht und in der Bewegung geradezu verschlungen wurden, sei noch das international folgenreiche Buch von Rowbotham (1979, dtsch. 1981, 1993) genannt, das exemplarisch die Abrechnung einer Feministin mit sozialistischer Politik durchbuchstabiert (zum Verhältnis von Arbeiter- und Frauenbewegung: vgl. Ravaioli 1977, zusammenfassend Haug 1996). Der sozialistische Feminismus entwickelte sich daher international notgedrungen im Streit. Zentral wurde die Frage des Standpunktes in Wissenschaft und Politik und mit ihm die Legitimität eigener feministischer Wissenschaft unter heftiger Kritik an aller bisherigen Wissenschaftsauffassung; dies führte schließlich – nicht zuletzt durch die Eingriffe „schwarzer“ Feministinnen (vgl. Collins 1990) – zur Ausrufung vielfältiger Standpunkte für die Wissenserlangung (situated knowledges) (vgl. dazu u.a. Ferguson 1979; Barrett 1980; Haraway 1991; Harding 1986, dtsch. 1990; Hartsock 1983; Smith 1979, dtsch. 1989; Smith 1998; Fraser 1989; List/Studer 1989). Die einflussreichste Debatte, die, aus marxistischem Denken kommend, dieses bald überschritt bis hin zur Abkehr, war die in den frühen 1970er Jahren einsetzende, durch dalla Costa (1973) ausgelöste Hausarbeitsdebatte. (Über den Beginn der Debatte herrscht Uneinigkeit, vgl. Vogel 2001). Zunächst gab es Kritik an der marxschen Werttheorie und dem in ihr enthaltenen Arbeitsbegriff. Sie bestand darauf, dass unentlohnte Frauenarbeit nicht nur gesamtgesellschaftlich weitgehend unsichtbar sei, sondern eben auch in der marxschen Theorie geradezu systematisch zum Verschwinden gebracht sei. Die sehr akademisch geführte werttheoretische Diskussion kam schließlich zu politischen Forderungen wie der nach Lohn für Hausarbeit und theoretischen Postulaten wie dem nach Einbeziehung von Nicht-Lohnarbeit in die Kategorie der produktiven Arbeit (vgl. hierzu zusammenfassend Pohl 1984; kritisch, Dietrich 1984). Aber gerade diese im Rückblick auch merkwürdige, weil mit großer Leidenschaft äußerst spitzfindig geführte Debatte um die Hausarbeit hat das Bewusstsein über diesen Sektor als konstitutiven Teil des Kapitalismus geschärft. Die Suche nach Frauen als selbstbewussten Subjekten der Geschichte konnte weder mit sozialistischer Stellvertreterpolitik noch mit feministischer „Schuldzuweisung“ an ein allmächtiges Patriarchat zurechtkommen (vgl. Rossanda 1994). Die „Opfer-Täter-These“ (Haug 1980, 1993), mit der Frage nach der Beteiligung der Frauen an ihrer eigenen Unterdrückung und damit an der Reproduktion gesellschaftlicher Verhältnisse, verschob mit dem Satz: „Auch das Sich-opfern ist eine Tat und kein Schicksal“ (Haug 1980: 9) die verbreiteten Opfergeschichten in ein politisches Forschungsprojekt. Eine zentrale Frage für Frauenbefreiung wurde, warum Frauen sich nicht wehren. Und als Forschungsfrage blieb: Wie eignen sich Frauen die Bedingungen ihres Lebens an, selbstbewusst, widerständig, einverständig, opportunistisch und kämpferisch, dass sie zu den sozialen Wesen Frau werden, als die wir uns kennen? Die kleine siebenseitige Skizze „Frauen – Opfer oder Täter“ von 1980 wurde Ausgangspunkt einer über 15 Jahre währenden Auseinandersetzung mit SprecherInnen aus den verschiedenen Flügeln der Arbeiterbewegung (vgl. SH 46/1981 u. SH 56/1982; Haug 1990), die vielfach mit dem Auszug von Frauen aus den Organisationen endete (vgl. Rohr 1992). Sie wurde auch der Beginn für die Entwicklung von Erinnerungsarbeit, einer Methode zur Untersuchung weiblicher Vergesellschaftung, die einen Zusammenhang von gesellschaftlicher Produktion und Selbstformung, Gesellschaftsveränderung und Selbstveränderung erarbeitet. Sie ist Gesellschaftskritik und Selbstkritik und wird international praktiziert (vgl. Haug 1999; Kippax u.a. 1990; Kippax 1997). Ende der 1980er Jahre schlug Thürmer-Rohr den Begriff der Mittäterschaft vor. Sie fragte „nach der systematischen Funktionalisierung der Frau für die Macht-Taten des Mannes, [...] in
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die die Frau als Handelnde, als Tätige eingebaut ist und sich selbst einbaut“ (1987: 213). Der Unterschied zur Opfer-Täter-These ist im Wesentlichen, dass die Mittäterschaftsdiagnose zum Ausstieg aus den männlichen Machttaten auffordert, nicht zur Selbstveränderung, die auf Gesellschaftsveränderung zielt (vgl. kritisch dazu Hauser 1988). Weil sozialistische Feministinnen von ihrer Denktradition her kapitalismuskritisch waren, bevor sie sich wirklich als Feministinnen verstanden und entsprechend Theoriekritik versuchten, blieb die Frage nach dem Zusammenhang von Kapitalismus und Patriarchat ein wesentlicher Brennpunkt. Der Versuch, aus der selbstverständlichen Annahme auszuscheren, Frauenunterdrückung folge direkt aus der Kapitallogik und sei mit deren Aussetzung verschwunden, bedeutete ja nicht, überhaupt keinen inneren Zusammenhang anzunehmen, selbst dann nicht, wenn gewusst wird, dass Frauenunterdrückung viel älter ist als der Kapitalismus. Die in Nordamerika geführte fruchtbare Debatte um Herrschaftskoexistenz oder/und Verschränkung – die dual economy debate – ist am besten zugänglich im Band mit dem sprechenden Untertitel „Die unglückliche Heirat zwischen Marxismus und Feminismus“, der zugleich Titel des einflussreichen Beitrags von Heidi Hartmann im gleichen Buch ist (Sargent 1981). Obwohl das Buch ins Deutsche übersetzt wurde, entfachte es hier kaum Diskussion. Die Fronten hatten sich längst verhärtet. Marxismus war für den Mainstream-Feminismus uninteressant geworden und die sich als marxistisch verstehenden Parteien und Gruppierungen zeigten umgekehrt kein Interesse, dazuzulernen. Lediglich der „Bielefelder Ansatz“ (vgl. Mies 1981; Werlhoff 1978; Bennholdt-Thomsen 1981), in dem unter Bezugnahme auf Rosa Luxemburgs Akkumulationstheorie Frauenunterdrückung als fortwährende ursprüngliche Akkumulation des Kapitals behauptet wurde, als notwendige „innere Kolonie“, ohne die kapitalistisches Wachstum nicht möglich sei, erregte einiges Aufsehen und abwehrende Kritik. Theoreme und Arbeiten, die sozialistisch und feministisch zugleich zu sein beanspruchten, gerieten in eine Art Vakuum: Der produktive Streit blieb aus.
Zusammenbruch des Sozialismus – neue Herausforderungen an Theoriebildungen Der Zusammenbruch des Sozialismus stellte auch einem sozialistischen Feminismus neue Aufgaben bzw. brachte die nicht gelösten Fragen erneut auf die Tagesordnung. Nicht nur Rasse, Nation, Staatsbürgerschaft gerieten verschärft in die Diskussion; auch die Verankerung des normierten Sexuellen für die Reproduktion von Gesellschaft musste in Bewegung kommen. „Feministinnen sehen Sexualität als Ort gesellschaftlicher Widersprüche und Ausgangspunkt politischer Kämpfe, eben weil sie sowohl in ihren dominanten heterosexuellen wie auch in den gegenkulturellen (lesbischen, schwulen, queer, bi- und transsexuellen) Formen eine so prominente Rolle in der Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens spielt: bei der Legitimation [...] der Arbeitsteilungen innerhalb der Familie, der Formierung der Konsumwünsche und der Ideologien von Rasse, Nation und Staatsbürgerschaft“ (Hennessy 1999: 297). Geklärt werden musste vor allem, ob es überhaupt einen Zusammenhang zwischen Produktionsweise/Produktionsverhältnissen und Frauenunterdrückung gab. Politische Neuorientierungen aus diesem Kontext sind Forderungen nach einem neuen Geschlechtervertrag (vgl. zusammenfassend Thompson 2001), nach Geschlechterdemokratie (Bendkowski 1994) und die Diskussion um Geschlechterverhältnisse (vgl. Beer 1990; Knapp/Wetterer 1992; Becker-Schmidt/Knapp 2000), wobei der Begriff Geschlechterverhältnisse entschlüsseln soll, wie die Geschlechter, ihre Konstruktion, ihre Arbeitsteilung und die symbolische Artikulation sowie die legitimatorischen Ideologien in die gesellschaftliche Reproduktion eingespannt sind. Er ist so auch für Forschungsgegenstände geeignet, die auf den ersten Blick mit einzelnen Männern und Frauen nichts zu tun zu haben scheinen – wie etwa Krieg, Recht, Leistung. Um Geschlechterverhältnisse als Produktionsverhältnisse denken zu können, müssen letztere von ihrer Beschränkung auf die Pra-
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xen in der Lebensmittelproduktion befreit werden bzw. diese selbst als etwas gedacht werden, das mit Politik und Ideologie verbunden, juristisch verfasst, moralisch formiert und auf allen diesen Ebenen in Geschlechterverhältnissen konfiguriert ist.
Globalisierungsprozesse und hochtechnologische Produktionsweise Die kapitalistische Globalisierung mit hochtechnologischer Produktionsweise setzt auch einen sozialistischen Feminismus unter Druck. Da ist zum einen die Neustrukturierung der Arbeiterklasse, die auch ein weibliches Lohnarbeits-Helotentum insbesondere in den „Zweidrittelwelten“, aber auch in den hochindustrialisierten westlichen Zonen schafft (zur „Feminisierung der Arbeit“ vgl. u.a. Wichterich 1998). Mit der Abschaffung des männlichen „schützenden“ Ernährers steigen die Chancen für die Selbständigkeit von Frauen (einer Elite) einerseits, wie weibliche Armut auf der anderen Seite zunimmt (vgl. u.a. Gimenez/Hälg 1999). Eine umfassende Frauenpolitik muss noch erfunden werden. Eine Herausforderung ist auch die Entwicklung der Reproduktionstechnologie, an die sich zu Beginn der zweiten Frauenbewegung Befreiungshoffnungen hefteten. Firestone (1975) dachte Retortengeburten als unerlässliche Revolution, da sie Frauenunterdrückung für biologisch determiniert hielt. Haraway hält die Biologie für eine Politik und schlägt in einem heftig umstrittenen Manifest (1984/1995) vor, die Gentechnologie „sozialistisch feministisch“ zu unterwandern. Sie rät, sich nicht auf Mutterschaft, menschliche Würde und ähnlich „unschuldige“ Positionen zurückzuziehen, sondern in der „Informatik der Herrschaft“ – so nennt sie die „Übersetzung der Welt in ein Kodierungsproblem, in der Suche nach einer gemeinsamen Sprache, einem Universalschlüssel, der alles einer instrumentellen Kontrolle unterwirft“ (Haraway: 1995: 167) – das der kapitalistischen Inbetriebnahme geschuldete Ausmaß und die darin steckende Gewalt gegen Frauen offensiv zu beantworten. Konkret heißt das: eine „eigene biotechnologische Politik zu entwickeln“ (ebd.: 169) und antikapitalistische Bündnisse in aller Welt zu stützen, da die neuen Techniken zur Intensivierung des Warencharakters aller Dinge eingesetzt werden, zu denen wir selbst gehören, um über erfolgreiche Patentstrategien immer höhere Profite zu erzielen. Haraway ermutigt, die Einmischung von Frauen in neue Wissensarten, in Arbeit, Sexualität und Reproduktion als Herausforderung anzunehmen und das Einreißen von Grenzen zwischen Natürlichem und Technischem/Künstlichem sowie auch die Möglichkeiten genetisch beförderter Heilungsprozesse als Erleichterung zu leben. Sie fordert, dass die Probleme der Gentechnologie unter Berücksichtigung von Geschlecht, Rasse und Klasse aufgelistet und öffentlich diskutiert werden: Arbeits- und Ernährungsprobleme, Armut, Gesundheit, wirtschaftliche Macht. Seit Haraway ihr Manifest schrieb, wurde die Reproduktionstechnologie rasant weiterentwickelt. Einmischungen von feministischer Seite stoßen unvermeidlich auf die kapitalistischen Herrschaftsstrukturen, in denen Gentechnologie betrieben wird. Stolcke (2002: 73) konstatiert: „Als Geschlechterdifferenz als Voraussetzung für Zeugung angenommen wurde, diskutierten Anthropologinnen und Feministinnen über ihren Zusammenhang mit kulturellen Vorstellungen von Verwandtschaft und sozialem Geschlecht. Jetzt, da Biotechnologie die geschlechtliche Fortpflanzung abzuschaffen droht, könnten wir plötzlich feststellen, dass die Geschlechterdifferenz trotz allem von Bedeutung war.“ Duden (2001) diskutiert die Blockierung von weiblichem Bewusstsein, wenn Frauen sich als Genträgerinnen wahrzunehmen gezwungen sehen. Aber die meisten Fragen sind noch offen. Die rasante Entwicklung neoliberaler Globalisierung auf der Grundlage hochtechnologischer Produktionsweise mit ihren widersprüchlichen, aber für die Mehrheit der Frauen desaströsen Folgen ist der stärkste Beleg, dass ein sozialistischer Feminismus nicht in die Mottenkiste vergangener Irrtümer gehört, sondern höchst aktuell notwendig ist, um die derzeitigen Entwicklun-
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gen und Rolle und Schicksal von Frauen darin zu begreifen und auf nachhaltige Veränderung zu dringen. Sozialistischer Feminismus setzt auf den Traum, dass eine andere Welt möglich ist. Verweise: Gen- und Reproduktionstechnologien Globalisierung Mittäterschaft Patriarchat Subsistenzansatz
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Sekundärpatriarchalismus: Patriarchat in Industriegesellschaften
Arbeitsteilung als Quelle von Ungleichheit Das feministische Konzept des Sekundärpatriarchalismus (vgl. Beer 1990, Beer/Chalupsky 1993) liefert eine analytische Begründung für die letztlich erstaunliche Durchschlagskraft und Zählebigkeit geschlechtsspezifischer Arbeitsteilungen. Die Geschlechtsspezifik in der primären Zuweisung von entgeltlicher und unentgeltlicher Arbeit an jeweils eines der beiden Geschlechter (vgl. Beer 1984) hat zur Folge, dass Frauen, die diesem Modell voll entsprechen, als „Lohn“ für ihre Arbeit allenfalls auf „Liebe“ rechnen dürfen (Bock/Duden 1977), verknüpft mit ehelichfamilialem Unterhalt und abgeleiteten Ansprüchen an die Systeme der sozialen Sicherheit (vgl. Ostner 1995). Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, die Frauen vorrangig auf unentgeltliche Arbeit in der Familie festlegt, entbindet diese jedoch keineswegs vom Zwang zur Aufnahme von Erwerbsarbeit, wenn die familiale Existenzsicherung das erfordert. Frauen befinden sich damit von vornherein im Nachteil gegenüber Männern, denn auf diese Weise wird ihnen der Zugang zu einer hochbedeutsamen gesellschaftlichen Ressource verwehrt oder erschwert: Geld als Medium einer Tausch- und Warengesellschaft. Wer nicht über Vermögenswerte verfügt und sie zum Lebensunterhalt einsetzen kann, muss ihre oder seine Existenz mit der Aufnahme und Ausübung von Erwerbsarbeit sicherstellen. Auch Arbeitskraft, das wissen wir seit Marx, ist eine Ware. Diese Ware „Arbeitskraft“ ist zunächst bar aller Geschlechtsspezifik. Und doch scheint die industriegesellschaftliche Ungleichheit der Geschlechter die Werthaltigkeit der weiblichen Arbeitskraft erheblich zu mindern, denn Frauenarbeit wird auf dem Markt schlechter bezahlt als diejenige der Männer. Die uns interessierende Frage lautet infolgedessen: Wie vollzieht sich die berufliche Schlechterstellung von Frauen, sobald sie Zugang zum Markt durch die Verwertung ihres Arbeitsvermögens erhalten?
Arbeitsteilung als gesellschaftliches Strukturmerkmal Dafür tragen die Mechanismen des industriegesellschaftlichen Sekundärpatriarchalismus Sorge. „Sekundär“ kann man ihn deshalb nennen, weil er den Primärpatriarchalismus des Feudalzeitalters ablöste, aber dennoch eine Reihe seiner Merkmale in neuer Gestalt beibehielt (vgl. auch Mitterauer/Sieder 1984). Der Primärpatriarchalismus gründete sich materialiter auf die Verfügung über Grund und Boden bzw. das Eigentum an ihm und fand seinen Ausdruck in Wirtschafts- und Familieneinheiten, die noch nicht die spätere kapitalistische Trennung von Erwerb und Familie aufwiesen. Diese Wirtschafts- und Familieneinheiten standen unter der Herrschaft eines „Familienhauptes“, dessen Regiment sich sowohl auf die Familie im engeren als auch im erweiterten Sinne bezog, denn vor der Herausbildung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft zählte zur „Familie“ der gesamte Personalbestand einer solchen Wirtschafts- und Familieneinheit mit Ausnahme der Tagelöhner. Das heißt, auch die nichtverwandte Arbeitskraft, die in einem solchen Gebilde lebte und arbeitete, gehörte zur „Familie“. Über sie besaß der Patriarch
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oder das Familienhaupt die volle Verfügungsgewalt. Er war zugleich auch der Eigentümer oder Besitzer von Grund und Boden. Der darin zum Ausdruck gelangende Patriarchalismus war unvermittelt bzw. direkter Art. Der industriegesellschaftliche Sekundärpatriarchalismus hebt auf verschiedene Weise diese unmittelbare Macht- und Herrschaftsstruktur auf. Zentral für seine Wirkungsweise ist das neue Medium „Geld“, neu zumindest in seiner allgemeinen Geltung. Das patriarchalische und neue Element zeichnet sich z.B. dadurch aus, dass ein Mann nunmehr durchaus „ehe- und familienfähig“ wurde, wenn sein Eigentum oder Besitz in nichts anderem als seiner Arbeitskraft bestand, d.h., wenn er einen Arbeitsplatz zur Existenzsicherung der Familie nachweisen konnte. Zugleich wurde das bis zur Entstehung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft geltende Recht beseitigt, Eheschließung und Familiengründung seien nur denjenigen gestattet, die ein eigenes Gewerbe oder Grundbesitz nachweisen konnten. Auf diese Weise wurde im Verlaufe des 19. Jahrhunderts das bürgerliche Ehe- und Familienmodell zu der allgemeinen Erscheinung, als die wir sie kennen und die sie zuvor nicht war. Damit aber setzte eine für Frauen nicht sonderlich vorteilhafte Entwicklung ein. Indem sie heiraten und Familien gründen „durften“, gerieten sie unter die Verfügungsgewalt eines Ehemannes, der nicht unbedingt Besitzbürger, sondern eben Lohnarbeiter war. Der Kapitalismus brachte dem einstmals von einem Grundherrn abhängigen und ehelosen Landarbeiter in seiner neuen Eigenschaft als industrielle Arbeitskraft mit der Eheschließung eine Frau ein, an der er patriarchalische und bisher dem Bürgertum vorbehaltene Rechte geltend machen konnte, während die Frau seiner Klasse, die einstige Landarbeiterin, vom Regime des Grundherrn mit der Heirat in das des Ehemannes überwechselte, allerdings in der Regel selber Lohnarbeit auszuüben gezwungen war, weil die Erwerbseinkommen so niedrig bemessen waren, dass sie den Unterhalt einer Familie nicht zu sichern vermochten. Zugleich verdient festgehalten zu werden, dass der weiblichen und männlichen Lohnarbeiterschaft auf diese Weise auch ein Privileg zugänglich wurde, das bisher dem Bürgertum und letztlich auch dem Adel vorbehalten war: Privatheit und vergleichsweise Intimität in der Familiensphäre. Mit der Familiengründung stellte sich auch die Frage der Zuständigkeit für Haus- und Erziehungsarbeit. Das Bürgertum hatte für sich bereits eine Regelung gefunden: Zuständig ist die Frau. Sie leitete den Haushalt, beaufsichtigte das Personal eines solchen Haushaltes, das je nach Vermögenslage weibliche und männliche Dienstboten bis hin zum Hauslehrer oder der Gesellschafterin umfassen konnte. Die besitz- und eigentumslosen Frauen waren von diesem Modell ausgeschlossen, weil sie, in Deutschland unterschiedlich stark ausgeprägt, überhaupt nicht eheund familienfähig waren. Erst die durch die Erfordernisse des kapitalistischen Wirtschaftens erzwungenen Veränderungen in der Lebensweise der Lohnarbeiterschaft – Freizügigkeit in der Wahl des Arbeitsplatzes, des Wohnsitzes und der Eheschließung – setzten eine Entwicklung in Gang, die auch die Frauen des Proletariats der unmittelbaren Verfügungsgewalt eines Ehemannes aussetzten und sie außerdem in die mittelbare Verfügungsgewalt eines Arbeitgebers brachten. Die ehe- und familienlose Lohnabhängige des Feudalzeitalters unterlag lediglich den Verfügungen des Hausherrn in seiner Eigenschaft als Arbeitgeber. Häufig wird er sich freilich damit nicht begnügt haben. Nunmehr hatte die besitzlose Frau, wenn sie eine Ehe einging, ganz legal zwei Herren zu dienen. Der Mann hatte demgegenüber immer noch eine Frau zu seinen Diensten, sofern seine wirtschaftliche Stellung stark genug war. Verdiente er wenig und übte auch die Ehefrau Vollzeit-Erwerbsarbeit aus, blieb ihr zwar trotzdem die Familienarbeit überlassen, wird sich jedoch auf das unbedingt Erforderliche beschränkt haben. Gesellschaftlich verankert und damit strukturell verfestigt wurde diese neue Variante des Geschlechterverhältnisses v.a. rechtlich-normativ mit der Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich im Jahre 1900, besonders in den Bestimmungen des Familiengesetzbuches. Allerdings zog sich dieser spezifische Wandel im Geschlechterverhältnis über einen Zeitraum von fast einem Jahrhundert hinweg, begann zu Anfang des 19. Jahrhunderts mit der Freisetzung von Arbeitskraft aus feudalen Bindungen und fand seinen vorläufigen Abschluss in einem Klassen und Schichten übergreifenden bürgerlichen Ehe- und Familienrechtsmodell. Die gleichwohl vorhandenen
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Möglichkeiten einer freien Vertragsgestaltung zwischen Ehepartnern dürften allerdings eher für die vermögenden Schichten Bedeutung besessen haben, weniger in der Arbeiterklasse. In letzterer beschränkten sich ehe- und familienrechtliche Arrangements eher auf die reine Existenzsicherung der Familienmitglieder. Wie artikulierte sich der ehe- und familienbezogene Wandel im Geschlechterverhältnis in Relation zu dem neuen und v.a. allgemeinen Medium „Geld“? Zum einen galt ganz selbstverständlich und v.a. in dieser neuen Allgemeinheit die Zuständigkeit von Frauen für familiale und unentgeltliche Versorgungsarbeiten als primäre Arbeitszuweisung. Hier zeigt sich ein wichtiger Unterschied zum Lebensmodell der bürgerlichen Frau: Proletarische Ehe- und Familienhausfrauen konnten nicht auf die Zuarbeit von Hausbediensteten rechnen, alle in der Familie anfallenden Tätigkeiten mussten sie letztlich selbst ausführen. Hinzu kam, dass Frauen in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts nur dann zum Erwerb zugelassen waren, wenn sie als Fabrik- bzw. Lohnarbeiterinnen ihre eigene und zugleich die familiale Existenz sichern mussten. In diesem Sachverhalt schlug sich ein vermutlich unfreiwillig emanzipatorisches Element nieder: In proletarischen Ehen hatte der Mann keinen Zugriff auf den Arbeitslohn seiner Ehefrau. Die Autoren des Familienrechts des BGB wollten sicherstellen, dass zumindest der Frauenlohn für den Familienunterhalt zur Verfügung stand. Unentgeltlich „erwerbstätig“ waren wiederum die vielen Ehefrauen der Bauern, Händler, Handwerker, ohne dass diese Tätigkeit dem eigenen, sondern direkt dem Manneserwerb zugute kam. Zum Frauenleitbild mutierte trotz aller Unterschiede im weiblichen Lebens- und Arbeitsmodell die „nicht-erwerbstätige“ Hausfrau, die auf diese Weise vollständig vom Gelderwerb, nicht aber von der Erwerbsarbeit ausgeschlossen war. Sie wurde vom Ehemann alimentiert. Die Festlegung eines Mannes auf die „Ernährer-“ und die der Frau auf die „Hausfrauen-Rolle“ sicherte normativ die Geltung dieses Modells ab. Der Mann war damit aber auch derjenige, der Zugang zu dieser neuen und allgemeinen Ressource Geld besaß, selbst wenn er sie oft genug nur für den Familienunterhalt wird ausgegeben haben müssen. Hierin können wir die „familiale“ Seite des industriegesellschaftlichen Sekundärpatriarchalismus sehen. Sie war verschränkt mit einer zweiten, der „beruflichen“ Seite. Die Frauen der Mittel- und Oberschichten wurden, wie oben angedeutet, grundsätzlich dem Erwerb ferngehalten und damit von Berufen und Professionen ausgeschlossen bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Für sie war ein Leben in Ehe und Familie vorgesehen. Erst als dieses Lebensmodell für viele Töchter des Bürgertums nicht mehr erreichbar war, bahnte sich ein Wandel an und es entstanden Frauenberufe, die für bürgerliche (und unverheiratete) Frauen als akzeptabel galten. Für die Arbeiterklasse galt wiederum anderes: deren Frauen waren bereits zu Beginn der Industrialisierung als Arbeitskräfte gefragt. Erwerbschancen erhielten Frauen v.a. dort, wo Männer zu arbeiten ablehnten, weil sich ihnen anderweitige und bessere Erwerbschancen boten (vgl. Willms-Herget 1985). Hier ist der Blick auf die Entstehung unterschiedlicher Industriezweige und -branchen aufschlussreich. Oder man etablierte bestimmte Branchen von vornherein als „Frauenbranchen“ mit entsprechend niedriger Bezahlung und häufig miserablen Arbeitsbedingungen. Analytisch lässt sich von durchgängig beobachtbaren Schließungsprozessen gegenüber Frauen im Berufsbereich sprechen, die von Männern initiiert, von deren Organisationen getragen und durchgesetzt und ideologisch vom bürgerlichen Familienideal überhöht wurden. Eine Ausnahme bilden lediglich die Frauenberufe und Frauenbranchen, an denen die männliche Lohnarbeiterschaft kein Interesse hatte. Familialer und beruflicher Sekundärpatriarchalismus sorgten auf diese Weise seit Entstehung des Kapitalismus und der bürgerlichen Gesellschaft erneut dafür, dass Frauen eine gesellschaftliche Randstellung zugewiesen wurde und dass dieser Mechanismus flächendeckend zur Wirkung kam. Auch und gerade im neu entstandenen Proletariat gab es wenig Solidarität zwischen den Geschlechtern. Wenn es um die neuen Erwerbschancen ging, achteten Männer sehr wohl auf ihren Vorteil und hielten eisern an einmal errungenen beruflichen Privilegien im Vergleich mit Frauen fest. Und nicht zu vergessen: Diese gesellschaftliche Entwicklung vollzog sich noch
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einmal zu einem späteren Zeitpunkt unter anderen Voraussetzungen, als die bürgerlichen Frauen der Mittelschichten, zum Teil auch der Oberschicht, Berufsarbeit aufzunehmen gedachten und durch die Umstände häufig auch dazu gezwungen waren. Auch hier wurden die prestigeträchtigen und ertragreichen beruflichen Bastionen vehement als Männerdomänen verteidigt, Frauen nur zu untergeordneten Tätigkeiten zugelassen, woraus sich dann historisch die sogenannten Frauenberufe entwickelten. Die Bezahlung der Frauenarbeit lag auch hier unter der von Männern, Männerberufe erfuhren darüber hinaus häufig eine Aufwertung. Beispiele sind die Entstehung der weiblichen Büroberufe, der Telefonistin oder der Stenotypistin, ebenso der Beruf der Lehrerin, allerdings für einen langen Zeitraum ausschließlich zugelassen zur Mädchenbildung. Diese Entwicklung vollzog sich Ende des 19. Jahrhunderts und verlor im Verlauf des 20. Jahrhunderts zunehmend ihre Schärfe, dauert allerdings bis heute an. Zu erwarten ist, dass unter dem Einfluss neuer Techniken und neuer Technologien die berufliche Benachteiligung von Frauen ganz neue Formen annehmen wird. Die familiale Zuweisung unentgeltlicher Arbeiten an Frauen und die beruflichen Schließungsprozesse ihnen gegenüber, mit denen Männer individuell und kollektiv jene Berufsfelder für sich reservierten und beanspruchten, die ertragreich und Erfolg versprechend waren, machten erst zusammengenommen den Teufelskreis aus, der die industriegesellschaftliche Arbeitsteilung der Geschlechter etablierte und auf Dauer stellte. Ohne die unentgeltlich erbrachten Versorgungsleistungen, die mit gutem Grund dem Markt entzogen bleiben, solange sie nicht profitabel vermarktbar sind, ist ein Gesellschaftsgebilde wie das unsrige nicht überlebensfähig. Dennoch behauptet die Marktökonomie eine Dominanz vor der Versorgungsökonomie: Allein sie stellt die Geldmittel zur Verfügung, die das Überleben und Aufrechterhalten jener Versorgungsökonomie gewährleisten, und auch zu deren Dominanz leistet unentgeltliche Frauenarbeit in Gewerbe und Betrieb ihren Beitrag. Die Geschlechtsspezifik von Arbeitsteilungen, die zugleich das relative Gleichgewicht zwischen entgeltlichen und unentgeltlichen Arbeitsleistungen zum Erhalt einer Gesellschaft aufrecht erhält, kann insofern als ein zentraler Stabilitätsfaktor der kapitalistischpatriarchalischen Wirtschafts- und Bevölkerungsweise angesehen werden. Diese Feststellung gilt selbst für die einstige sozialistische Gesellschaftsordnung (vgl. Beer/Chalupsky 1993). Ob sie, aus der Sicht des Erhalts des Sozialgebildes, unabdingbar ist, mag bezweifelt werden. Für die Kapitalverwertung macht es keinen Unterschied, ob Männer oder Frauen Erwerbsarbeit ausüben, so lange die Arbeit optimal erfüllt wird. Und es macht auch keinen prinzipiellen Unterschied, ob Versorgungsleistungen von einem Mann oder von einer Frau erbracht werden, so lange sie überhaupt jemand erbringt. Dieses Argument ist allerdings janusköpfig: Selbst die Aufhebung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung könnte sich als systemverträglich erweisen innerhalb der Annahme, dass der Prozess der Wertschöpfung auf die preiswerteste Arbeitskraft zurückgreift. Ein rein ökonomisches Kalkül der Unternehmen bei der Vergabe von Erwerbsarbeit wird jedoch schwerlich aufzufinden sein. Die sogenannte Unternehmenskultur greift stets auch auf kulturell-ideologische Rekrutierungsmuster zurück, man spricht deshalb heute häufig auch vom „gläsernen Dach“, das zu durchbrechen nur sehr wenigen Frauen gelingt, trotz gleicher und häufig genug besserer Qualifikation für den Job als Männer. Zu diesem Muster gehören ebenso die oft genannten fehlenden Frauentoiletten, die ‚leider‘ eine Frauenbeschäftigung verhindern. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist es Patriarchalismen aller Art geschuldet, wenn sich immer wieder Geschlechterungleichheit auf dem Arbeitsmarkt herstellt und sie fortgeschrieben wird. Mit Kapitalerfordernissen rein ökonomischer Art ist sie heute schwerlich begründbar, v.a. das Argument der mangelnden beruflichen Qualifikation von Frauen ist angesichts des gegenwärtigen Bildungsund Ausbildungsstands von Frauen im Vergleich mit Männern längst nicht mehr haltbar. Trotzdem stellt sich die Frage, ob die Industriegesellschaft mit ihren enormen Produktiv- und im Übrigen auch Destruktivkräften ohne geschlechtliche Arbeitsteilung überhaupt denkbar ist. In ihr haben sich Männer im Vergleich mit Frauen beruflich und letztlich gesellschaftlich einen historischen Vorsprung verschafft, indem sie im Transformationsprozess von der Agrar- zur Indus-
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triegesellschaft jene Berufsfelder besetzten, ausübten und dominierten, die letztere dringend zur ihrer Entfaltung benötigte (vgl. Beck/Brater/Daheim 1980). Dieser geschlechtsspezifische Vorsprung wird aller Voraussicht nach auch beim Übergang der Industrie- zur Informations- oder Wissensgesellschaft zum Nachteil von Frauen zur Wirkung gelangen – eine Transformation, die sich über einen langen Zeitraum erstrecken wird und in deren Mitte wir uns seit geraumer Zeit befinden. Die noch immer feststellbare weibliche Reserviertheit gegenüber Technik und Technologie in der Berufswahl wird leider einen wichtigen Beitrag zu einer derartigen Entwicklung leisten.
Klassen- und Geschlechtszugehörigkeit in ihrer Verschränkung Mit den oben dargestellten analytischen Mitteln lassen sich weiterreichende Schlussfolgerungen ziehen. Halten wir fest: Die primäre gesellschaftliche Zuweisung unentgeltlicher Familien- oder Versorgungsarbeit an Frauen und deren durchgängige berufliche Benachteiligung im Vergleich mit Männern und durch Männer versetzt sie ökonomisch und letztlich gesellschaftlich in eine heikle Situation. Entweder verfügen Frauen über keinerlei eigenes Einkommen oder sie sind (entgeltlich) erwerbstätig. Dann aber liegt ihr Einkommen weit unter dem von Männern. Für die Bundesrepublik Deutschland gilt heute noch ein durchschnittliches Lohn- bzw. Gehaltsgefälle zwischen den Geschlechtern von 20-25% zu Lasten von Frauen. Eine Ausnahme bildet der Öffentliche Dienst, aber auch in ihm sind Frauen in der Mehrheit im unteren Spektrum der Berufshierarchie anzutreffen. Die oben dargestellten Ungleichheiten der Geschlechter im Bereich gesellschaftlicher Arbeitsleistungen bilden nach der hier vertretenen Auffassung eine grundlegend patriarchalische Ungleichheit. Das industriegesellschaftliche Prinzip mag dominant sein und uns als solches auch erscheinen. Dennoch würde ich behaupten wollen, dass es sich bei ihm um die besondere historische Ausformung eines geschichtsübergreifenden Patriarchalismus handelt. Eine solche war auch die antike Sklavenhaltergesellschaft oder die vorbürgerliche Feudalgesellschaft. Nehmen wir einmal an, das Argument sei plausibel, Arbeitsteilungen der Geschlechter in unserer Gesellschaft wären letztlich der Geschlechterhierarchie und dem, was wir Patriarchalismus nennen, geschuldet. Wie lässt sich dann aus dieser Perspektive eine Verbindung zu klassenspezifischen Vergesellschaftungsformen ziehen? Der traditionelle Marxismus unterschied auf hochabstraktem Niveau die beiden Klassen von Lohnarbeit und Kapital nach der Verfügung über Produktionsmittel (und gleichgesetzt mit dem Eigentum bzw. dem Nichteigentum an diesen). Diese Unterscheidung ist aus heutigen Sicht gewiss grobmaschig. Sie suggeriert durchaus absichtsvoll die Unterscheidung zwischen „Lohnarbeiter“ und „Kapitalist“ als Verkörperungen eines sozialen Verhältnisses, dem Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital. Die Frauenforschung nahm erhebliche Mühen auf sich, bis sie herausfand, dass dieses soziale Verhältnis bei Marx bar aller Geschlechtsspezifik vorgestellt ist. Doch selbst nach diesem vergleichsweise groben Raster werden wir Frauen weitaus häufiger in der Lohnarbeiterschaft als in der Kapitalistenklasse auffinden können, stets in Relation zum männlichen Teil der Klasse vorgestellt. Hierfür gibt es Gründe. Noch weit bis ins 19. Jahrhundert hinein waren Frauen rechtlich von der Ausübung eines selbständigen Gewerbes ausgeschlossen bzw. zu dessen Ausübung von der schriftlichen Zustimmung des Vaters oder Ehemannes abhängig. Bei diesem oder einem von beiden lag die Verfügungsgewalt über ihre Person und die Verwendung ihres Arbeitsvermögens. Sicherlich gab es Ausnahmen, unter anderem die Witwen von Unternehmern, die deutsche Unternehmensgeschichte weiß einige zu nennen. Die bürgerliche Frau in ihrer Allgemeinheit hatte sich jedoch Ehe und Familie zu widmen; im Erwerbsleben war sie schlicht nicht vorgesehen, besaß in der Regel auch keinen Einblick in die Geschäfte und Vermögenslage des Mannes oder Vaters. Die
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proletarische und auch die kleinbürgerliche oder bäuerliche Frau wiederum übten häufig berufliche Schwerarbeit aus, die eine als schlecht bezahlte Lohnarbeitskraft, die andere als unbezahlte Familienarbeitskraft im Mannesbetrieb. Die Vernutzung des Arbeitsvermögens von Frauen der Oberschicht war sicherlich eine andere als die der unteren und mittleren Klassen. Sie wird sich in Grenzen gehalten und eher auf die Blockierung ihrer Potenziale beschränkt haben. Die eine ging ihren Repräsentationspflichten nach und führte einen „großen Haushalt“ mit Dienstboten beiderlei Geschlechts. Die andere wiederum musste sich mit den beruflichen Betätigungsfeldern bescheiden, die Männer für sie übrig ließen, weil sich ihnen woanders bessere Berufs- und Erwerbschancen eröffneten, weil aber auch spezifische Frauenbranchen geschaffen wurden, für die Männer allenfalls als Vorgesetzte von Frauen in Frage kamen. Patriarchalische Zumutungen sind durchgängig festzustellen, selbst wenn sie als ‚kapitalistische‘ chiffriert wurden. Die Muster verändern sich, auch die Erscheinungsformen. Festzuhalten bleibt bis heute, dass die Chancen von Frauen noch immer vergleichsweise gering sind, in der Klassenhierarchie einen Platz ganz oben zu erwerben, es sei denn durch Erbfolge. Auch aus dem Blickwinkel der Klassenspezifik reproduziert sich empirisch die Geschlechterhierarchie: Frauen sind nicht allein im Vergleich mit Männern gesellschaftlich benachteiligt, sie sind es auch als Klassensubjekte. Der historischempirische Nachweis lässt sich unschwer erbringen. Mit einem Wort: Die doppelte Benachteiligung von Frauen in beiden gesellschaftlichen Ökonomien in ihrer Verschränktheit bildet letztendlich auch die Ursache für weibliche Armut. Verweise: Arbeit Doppelte Vergesellschaftung Kritische Theorie Soziale Ungleichheit
Literatur Beck, Ulrich/Michael Brater/Hansjürgen Daheim 1980: Soziologie der Arbeit und der Berufe. Grundlagen, Problemfelder, Forschungsergebnisse. Reinbek: Rowohlt Beer, Ursula 1984: Theorien geschlechtlicher Arbeitsteilung. Frankfurt/M., New York: Campus Beer, Ursula 1990: Geschlecht, Struktur, Geschichte. Soziale Konstituierung des Geschlechterverhältnisses. Frankfurt/M., New York: Campus Beer, Ursula/Jutta Chalupski 1993: Vom Realsozialismus zum Privatkapitalismus. Formierungstendenzen im Geschlechterverhältnis. In: Aulenbacher, Brigitte/Monika Goldmann (Hrsg.): Transformationen im Geschlechterverhältnis. Beiträge zur industriellen und gesellschaftlichen Entwicklung. Frankfurt/M., New York: Campus, S. 184-230 Bock, Gisela/Babara Duden 1977: Arbeit aus Liebe – Liebe als Arbeit. Zur Entstehung der Hausarbeit im Kapitalismus. In: Frauen und Wissenschaft. Beiträge zur Berliner Sommeruniversität für Frauen, Juli 1976. Berlin: Frauenoffensive, S. 118-199 Mitterauer, Michael/Reinhard Sieder 1984: Vom Patriarchat zur Partnerschaft. Zum Strukturwandel der Familie. München: Beck Ostner, Ilona 1995: Arm ohne Ehemann? Sozialpolitische Regulierung von Lebenschancen für Frauen im internationalen Vergleich. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B36/37, S. 3-12 Willms-Herget, Angelika 1985: Frauenarbeit. Zur Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt. Frankfurt/M., New York: Campus
Regina Becker-Schmidt
Doppelte Vergesellschaftung von Frauen: Divergenzen und Brückenschläge zwischen Privat- und Erwerbsleben
Ausgangspunkt Seitdem sich Soziologie als selbständige Disziplin versteht, wird danach gefragt, wie „Gesellschaft“ zu denken ist. Antworten auf diese Frage schließen Überlegungen darüber ein, wie Individuen zu Mitgliedern einer Sozietät werden. So unterschiedlich in der Geschichte der Soziologie die Vorstellungen darüber waren, was unter einer „Gesellschaft“ zu verstehen sei, so wurde, sobald man zwischen Staat und bürgerlicher Gesellschaft unterschied, doch durchgängig bedacht, dass Individuen in sozialen Zusammenschlüssen leben – in Gruppen, kulturellen Gemeinschaften und Klassen – und dass solche Versämtlichungen zwischen Individuum und Gesellschaft vermitteln (vgl. Geiger 1982: 39ff.). Dabei wird auch durchaus zwischen „Männer“ und „Frauen“ differenziert. So tauchen bei Max Weber „Geschlechter“ im Zusammenhang mit genealogischen Linien auf: Er spricht von „Mutterfolge“ und „Vaterfolge“. Unter diesem Aspekt geht er der Frage nach, wie sich Matrilinearität bzw. Patrilinearität im Zuge von Prozessen der Vergemeinschaftung auf Positionen von Frauen und Männern in Rechtssystemen, in den Autoritätsstrukturen von Hauswirtschaften, in Sippen- und Sexualbeziehungen auswirken (Weber 1956: 286ff.). Talcott Parsons schreibt den Geschlechtern unterschiedliche Persönlichkeitsstrukturen zu, die im Zuge familialer Identifikationsprozesse erworben werden. Ihnen entsprechen bei ihm Geschlechtsrollen, die eine Form der Arbeitsteilung erlauben, welche für die industrialisierte Arbeitswelt funktional ist: Frauen wird die Rolle der Familienversorgerin zugewiesen, Männern die Berufsrolle (Parsons 1951, 1981; kritisch dazu: ZahlmannWillenbacher 1979: 70ff.). In der gegenwärtigen Soziologie proklamiert Ulrich Beck Individualisierung als moderne Form der Vergesellschaftung, und unter dieser Prämisse flachen seiner Meinung nach geschlechtsbasierte Unterschiede in den Prozessen sozialer Integration ab, sobald auch Frauen den Flexibilisierungszwängen des Arbeitsmarktes folgen (Beck 1994: 47; Beck/Bonß 2001: 23). All das sind Hinweise auf den Zusammenhang zwischen Geschlecht und sozialer Integration. Bis heute sind jedoch im mainstream der Soziologie die Formen, in denen die Genus-Gruppen, d.h. die unter die Etiketten „weiblich“ oder „männlich“ subsummierten Einzelnen, vergesellschaftet werden, weder in ihrem Herrschaftscharakter, noch in ihren problematischen Folgen für Frauen systematisch untersucht worden. Es blieb feministischen Ansätzen überlassen herauszuarbeiten, in welcher Weise „Geschlecht“ – in der Verschränkung mit Klasse und Ethnie – Frauen und Männern ihren Status im sozialen Gefüge zuweist, wie sie im Rahmen eines bipolaren Klassifikationssystems trotz individueller und gesellschaftlicher Unterschiedenheit zu sozialen Einheiten zusammengefasst werden und inwiefern das Geschlechterverhältnis, welches in der Vergesellschaftung von Frauen und Männern von zentraler Bedeutung ist, ein Stützpfeiler gesellschaftlicher Herrschaft ist. Vergesellschaftung vollzieht sich in Prozessen der Vergeschlechtlichung. In dieser Perspektive erschloss die Frauen- und Geschlechterforschung neue Themenfelder: Das Zwangssystem der Zweigeschlechtlichkeit als Ordnungsmacht und damit die Normierung von Sexualität und Lebensformen rückten in den Blick, die nicht egalitäre Macht- und Rechtsstellung der Geschlechter in Geschichte und Gegenwart stand zur Debatte, „Geschlecht“ wurde als sozialer Faktor entdeckt, der Gesellschaft in den Dimensionen von Produktion, Reproduktion und Regeneration strukturiert. In einer feministischen Perspektive kamen die Beiträge von Frauen zur Kulturgeschichte zum Vorschein und die Bedeutung
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von Frauenbewegungen für die Veränderung von geschlechtsbasierter sozialer Ungleichheit wurde zu einem zentralen Untersuchungsfeld. In diesen komplexen Zusammenhang gehört auch eine Revision des männlich geprägten Arbeitsbegriffs. Wenn „Arbeit“ als Medium der Vergesellschaftung gedacht wurde, dann waren es männlich konnotierte und vorrangig marktvermittelte Tätigkeiten. Hausarbeit blieb ausgespart und damit das ganze Spektrum an Kompetenzen, das Frauen im Privatbereich erwerben. Und ein Konflikt, der spezifisch für die Vergesellschaftung von Frauen ist, die ihr Arbeitsvermögen doppelt – als Haus- und als Erwerbsarbeit – in den sozialen Zusammenhalt einbringen, wird erst heute sozialpolitisch ernst genommen: dass nämlich die Vereinbarkeit der beiden divergenten Arbeitsformen kein „Frauenproblem“ ist, sondern ein gesellschaftliches Dilemma, das auch gesellschaftlich gelöst werden muss (vgl. Hausen 1976). Um die Vielschichtigkeit dieses Dilemmas als Kennzeichen der doppelten Vergesellschaftung von Frauen soll es im Folgenden gehen.
„Erfahrungen lohnabhängig arbeitender Mütter“: empirisches Referenzsystem für das Theorem von der doppelten Vergesellschaftung Anfang der 1980er Jahre wurde am Psychologischen Institut der Universität Hannover ein Projekt durchgeführt, in dem die Erfahrungen von Fabrikarbeiterinnen im Wechsel von Akkordarbeit und Hausarbeit, betrieblicher Kooperation und privaten Lebensäußerungen zur Sprache kamen (vgl. Becker-Schmidt 1980, Becker-Schmidt u.a. 1982, 1983). Trotz aller problematischen Begleiterscheinungen, die mit der Anstrengung verbunden sind, Familienversorgung und Erwerbstätigkeit gleichzeitig zu bewältigen, hielten die Befragten auch nach der Geburt von Kindern an beiden Tätigkeitsfeldern fest. Die Spuren dieser Doppelorientierung lassen sich bis in die Kindheit der Fabrikarbeiterinnen zurückverfolgen. Die Befragten legen nicht nur offen, welche Relevanz beide Arbeitsformen – Privatarbeit und Erwerbsarbeit – für sie haben; sie schildern auch anschaulich, unter welchen sozialen Umständen sie die Anforderungen von zwei Arbeitsplätzen meistern, die in ihrer Unterschiedlichkeit schwer zu vereinbaren sind. Die biografischen Erzählungen, die wir ihnen verdanken, gewähren Einsichten in eine Lebensplanung, die sich auch in anderen Schichten und anderen Professionen finden lassen. In modernen westlichen Gesellschaften wollen Frauen mehrheitlich beides – Familie und Beruf (vgl. Dausien 1986: 44-87). So wurden die Erfahrungen der Fabrikarbeiterinnen zur Referenz für das Konzept der doppelten Vergesellschaftung von Frauen. Zu diesem Theorem führte eine spezifische Art und Weise der Befragten, über ihr Leben nachzudenken. In ständigen Perspektivewechseln – von der häuslichen Situation zu der betrieblichen und in umgekehrter Richtung – vergleichen sie ihre Tätigkeitsfelder. Ihre Einschätzung der Fabrikarbeit konturiert sich im Negativen wie im Positiven im Kontrast zur Hausarbeit. Und umgekehrt werden die Aneignungs- und Anerkennungsmöglichkeiten in der Familie zum Maßstab für die Bewertung der Beschäftigung im Betrieb. So kommt zum einen das ganze Spektrum von Motiven zu Tage, das die lohnabhängig arbeitenden Frauen – neben der Notwendigkeit, Geld zu verdienen – dazu veranlasst, in die Fabrik zu gehen. Sie wollen an Öffentlichkeit partizipieren, etwas für den gesellschaftlichen Bedarf herstellen, in kooperativen Zusammenhängen arbeiten, Kompetenzen über Haushaltsführung und Kindererziehung hinaus erwerben, soziale Anerkennung im Wettbewerb mit anderen erfahren und soziale Kontakte auch jenseits von Familien- und Nachbarschaftsbeziehungen knüpfen. Zum anderen wird aber auch die Bedeutung von Hausarbeit in all ihren Dimensionen deutlich: Es wäre schön, wenn man sie abschaffen könnte. Aber ebenso ist ein Zuhause ohne Haushalt, Partner und Kinder für die befragten Fabrikarbeiterinnen undenkbar. Sie reflektieren sehr präzise, mit welchen unvereinbaren Verhaltensanforderungen sie in beiden Praxisfeldern konfrontiert sind: viel zu produzieren, aber bei allem Zeitdruck doch auf Qua-
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lität achten zu müssen; nicht nur Solidarität zu üben, sondern auch mit Konkurrenz umgehen zu können; zum Betrieb dazuzugehören und als gute Arbeiterin anerkannt zu sein, aber doch als den Männern nicht ebenbürtig zu gelten: Alles das sind Zerreißproben, auf die Frauen mit Ambivalenz reagieren. Aber auch die Privatsphäre ist kein konfliktfreies Refugium. Hausarbeit erlaubt zwar mehr Eigenständigkeit, verspricht mehr Dispositionsspielräume und Vielgestaltigkeit; sie ist in der Wiederholung der täglichen Pflichten jedoch auch gleichförmig und muss unter ständigem Zeitdruck erledigt werden. Hausarbeit erfolgt im Alleingang. Sie wird zudem ohne besondere Anerkennung oder finanzielle Honorierung in Anspruch genommen. Sie ist wie selbstverständlich Frauensache. Ein weiteres Problem macht den Frauen zu schaffen. Zu der quantitativen Beanspruchung durch die Einbindung in zwei Arbeitsfelder kommt der psychische Druck, im Wechsel der Tätigkeiten umschalten zu müssen. Die Familienarbeit ist in ihrem Zeitrhythmus, in der Ausrichtung von Zielen und Zwecken sowie in den Verkehrsformen anders strukturiert als die Erwerbsarbeit. Gerade die Umstellungsprobleme schärfen jedoch die Wahrnehmung der Besonderheiten, die beide Sphären im Guten wie im Bösen charakterisieren. So schält sich für die befragten Frauen heraus, was für sie an beiden Formen der Arbeit trotz aller Zumutungen unverzichtbar ist. Wenn sie die Bedürfnisse nach privater und öffentlicher Anerkennung, nach häuslichem und betrieblichem Kompetenzerwerb realisieren wollen, müssen sie die Doppelbelastung auf sich nehmen. Und doch kommt bei der Kombination von Privat- und Erwerbsarbeit nichts Ganzes heraus. Es addiert sich nicht Positives zu Positivem. Es ist der Mangel in der einen Praxis, der durch die Gratifikationen in der anderen kompensiert wird. Aber ohne solche Einschränkungen ist Vergesellschaftung über die Familie hinaus für Frauen unter gegebenen Umständen nicht möglich. Eigensinnig und selbstbewusst beharren sie darum darauf, Strategien zu entwickeln, um das zusammenhalten zu können, was gesellschaftlich auseinander tritt: Privat- und Erwerbsleben. Es zeigt sich: Doppelorientierung von der subjektiven Seite her gesehen und doppelte Vergesellschaftung als objektiver Prozess verstanden verweisen auf einander, folgen aber abweichenden Logiken. Der Eigensinn der Frauen will auf die Realisation berechtigter Interessen hinaus; gesellschaftliche Agenturen nutzen dagegen – gleichgültig gegenüber der Doppelbelastung – das zweifach einsetzbare Arbeitsvermögen aus. Die soziale Integration von Frauen, die sich in dieser Weise vollzieht, geht zu ihren Lasten. Frauen versorgen die Familie und garantieren so die Regeneration ihrer Angehörigen. Frauen gebären Kinder, ziehen sie auf (oft genug alleine) und tragen damit zum Bevölkerungserhalt bei. Sie partizipieren am Erwerbsleben, wo sie „ihren Mann“ zu stehen haben, obwohl sie zu Hause für den Haushalt zuständig sind. Diese doppelte Einbindung in das Sozialgefüge bringt der weiblichen Genus-Gruppe keine Vorteile ein. Im Gegenteil: Die Vergesellschaftung über zwei Arbeitsformen impliziert doppelte Diskriminierung. Frauen werden zur unbezahlten Hausarbeit verpflichtet, was zudem ihre gleichberechtigte Integration in das Beschäftigungssystem erschwert. Und die marktvermittelte Arbeit von Frauen wird schlechter bewertet als die von Männern. Es ist ein Dilemma: Wie immer Frauen sich entscheiden – für Familie und gegen Beruf, gegen Familie und für Beruf oder für beides – in jedem Fall haben sie etwas zu verlieren. Wenn sie eine marktvermittelte Beschäftigung aufgeben, entfallen finanzielle Selbständigkeit, marktvermittelte Formen sozialer Anerkennung und Kooperationserfahrungen sowie die Chance, sich professionelle Kompetenzen anzueignen. Stellen sie um einer beruflichen Karriere willen ihre psychosozialen Bedürfnisse nach einer intensiven Partnerschaft und/oder Kindern in den Hintergrund, bezahlen sie das mit emotionalen Einbußen. Versuchen sie beides – Beruf und Familie – zu vereinbaren, so bedeutet das Stress, kaum Zeit für eigene Bedürfnisse, Verschleiß von Lebenskraft. Jede Entscheidung läuft auf einen Kompromiss hinaus, weil Einschränkungen unvermeidbar sind (Becker-Schmidt 1983). Und doch ist die doppelte Vergesellschaftung für Frauen nicht nur unverzichtbar, von ihr gehen auch Impulse für die Veränderung rigider Arbeitsgesellschaften aus. Diese Veränderung ist mehrdimensional und betrifft Beruf und Familie. Auf der einen Seite relativiert die emotionale Bedeutung, die der Versorgung von Partnern und Kindern beigemessen wird, die Relevanz der Berufsarbeit. Die Selbst-
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erfahrung in der Hausarbeit, die deren gesellschaftlicher Unterbewertung widerspricht, provoziert Kritik an der markvermittelten Tätigkeit. Der alltagspraktische Umgang mit Angehörigen, der nicht nur Abhängigkeiten, sondern auch Anhänglichkeit stiftet, hält ein Stück weit das Selbstbewusstsein von der Lebendigkeit des eigenen Arbeitsvermögens wach, das im Erwerbssystem zwar auch aktiviert, aber doch in stärkerem Maße instrumentalisiert wird. Auf der anderen Seite erfahren Frauen in der einseitigen Verpflichtung auf Hausarbeit ihre Instrumentalisierung auch im Privaten. Dadurch, dass Frauen und nicht nur Männer durch ihren Verdienst die Familie ernähren, wird die traditionelle Legitimation geschlechtlicher Arbeitsteilung in der Familie fadenscheinig. Die Doppelorientierung von Frauen drückt sich zudem in wachsenden Bildungsaspirationen aus. Zwar bewirkt das in vielen Branchen noch nicht ihre berufliche Gleichstellung, aber qualifizierte Frauen schaffen doch die Voraussetzung dafür, sie einzuklagen. Die Gewissheit, zwei Tätigkeitsfeldern gewachsen zu sein, steigert das Selbstbewusstsein und stärkt die Renitenz gegen androzentrische Bevormundung in der Öffentlichkeit, in sexuellen Beziehungen und in der Alltagspolitik. Die These von Ulrich Beck, in der Vergesellschaftung von Frauen gebe es noch einen Nachholbedarf an Modernisierung, lässt sich umkehren: Männer müssen noch viel lernen, wenn sie dazu beitragen wollen, die sozialen Missstände im Geschlechterverhältnis zu beseitigen, die sie auf ihrem Weg in die Moderne hinterlassen haben (vgl. hierzu: Becker-Schmidt 1996).
Zur inneren und äußeren Vergesellschaftung Der Begriff „doppelte Vergesellschaftung“ ist vielschichtig. Er besagt zum einen, dass Frauen über zwei unterschiedlich und in sich widersprüchlich strukturierte Praxisbereiche in soziale Zusammenhänge eingebunden sind. Er besagt zum zweiten, dass ihre Sozialisation, ohne die Vergesellschaftung nicht zu denken ist, durch zwei Kriterien sozialer Gliederung markiert ist: Geschlecht und soziale Herkunft. Und zum dritten ist mitgesetzt, dass Eingliederung in die Gesellschaft sowohl soziale Verortung als auch Eingriffe in die psychosoziale Entwicklung einschließt. Die Modellierung innerer Antriebe und die Positionierung im sozialen Umfeld sind zwei Seiten des Vergesellschaftungsprozesses, in dem Selbst- und Fremdbestimmung konfligieren (BeckerSchmidt 1987). In der Lebensplanung von Frauen finden wir beides wieder: Anpassung an kulturelle Normen der Geschlechterordnung, die ihnen Kompromisse abverlangen, und Eigensinn im Umgang mit sozialen Konstruktionen von Weiblichkeit, die ihren Selbstentwürfen widersprechen. Frauen überschreiten die Trennlinien, die zwischen den Genus-Gruppen verlaufen, häufiger als Männer. Darauf verweisen nicht nur die Biografien der von uns befragten Akkordarbeiterinnen, sondern auch viele andere Untersuchungen (vgl. King 2000). Schon als Kinder halten sich kleine Mädchen nicht daran, ihre Spiele auf das zu beschränken, was sich „für sie schickt“. Sie tun auch das, was angeblich Jungen vorbehalten ist. In der Herkunftsfamilie arbeiten sie sich an Mutter und Vater ab. Die Konflikte, die sie als Töchter auszutragen haben, sind anders gelagert als die von Söhnen. Mädchen sind von geschlechtlicher Arbeitsteilung doppelt betroffen: Sie erfahren zum einen die Autoritätsstruktur in der elterlichen Beziehung, der zufolge die Mutter, auch wenn sie erwerbstätig ist, den größten Teil der Hausarbeit übernimmt, weil die Berufskarriere des Vaters Vorrang hat. Das könnte in der Zukunft auch ihr Schicksal sein. Mädchen werden zum anderen häufiger von der Mutter zur Mithilfe im Haushalt herangezogen als die männlichen Geschwister. Viele Mädchen reagieren hierauf mit Ambivalenz. Einerseits wollen sie mit der Mutter solidarisch sein, andererseits versuchen sie, sich von ihr abzugrenzen. Kritik wird laut an der mütterlichen Doppelbelastung, die zuviel Zeit von der Familie abzieht. Auf Abwehr kann jedoch ebenso stoßen, wenn die Mutter sich auf die Hausfrauenrolle reduzieren lässt. Die Beziehung zu den männlichen Familienmitgliedern ist ebenso ambivalent. Gefühle der Benachteiligung wecken Aggressionen, aber auch Widerstand gegen die Beschneidung der
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eigenen Freiräume. Der Vater wird häufig zur Leitfigur auf der Suche nach sozialer Bestätigung von außen, die Mutter kann zum Vorbild sowohl für Berufstätigkeit als auch für die Rolle der Familienversorgerin werden. Mädchen integrieren stärker als Jungen mütterliche und väterliche Introjekte. Aus den Befunden lässt sich extrapolieren: Die Doppelorientierung von Frauen entwickelt sich lebensgeschichtlich in der Auseinandersetzung mit Vorbildern beiderlei Geschlechts. Die Identifikationsprozesse von Jungen verlaufen gradliniger: Was ein „richtiger“ Mann werden will, orientiert sich an Männern, nicht an Frauen (vgl. Becker-Schmidt 2000). Frauen fällt es leichter, sich auch in Praxisfeldern zu bewegen, die männlich dominiert sind, während Männer Berufe, die als „typisch weiblich“ gelten, häufig als Beschäftigungen betrachten, die unter ihrer Würde sind (vgl. King 2000a). Die doppelte Vergesellschaftung von Frauen unterscheidet sich von männlichen Lebensläufen durch ein weiteres Charakteristikum. Frauen haben häufiger mit Diskontinuitäten in der Familien- und Berufsplanung zu rechnen. Umwege bei der Suche nach Lehrstellen und später nach einer der erreichten Qualifikation adäquaten Beschäftigung, Aus- und Wiedereinstiege im Wechsel der Familienphasen, Konfrontation mit Arbeitslosigkeit sind Bruchsituationen, die in der Arbeitsbiografie von Frauen zur „Normalität“ gehören. Solche Störungen durch Kontinuitätsverlust gefährden Routinen, die Frauen ausbilden, um die inkohärente Anforderungsstruktur ihres Arbeitsalltags in den Griff zu bekommen. In der Bewältigung solcher Diskontinuitätserfahrungen beweisen Frauen eine große Ausdauer. Sie versuchen, das zusammenzuhalten, was durch die Geschlechtertrennung und die gesellschaftliche Dissoziation von Privatsphäre und Öffentlichkeit fragmentiert ist: weiblich und männlich konnotierte Praxisbereiche sowie personen- und sachbezogene Interessen. Wir können von daher vermuten, dass das Handlungspotenzial, welches Bewegung in die veralteten Strukturen des Geschlechterverhältnisses und in die arbiträre Verfasstheit der Gesellschaft bringt, eher auf Seiten der Frauen als auf Seiten der Männer zu suchen ist.
Geschlechterverhältnisse – gesellschaftliche Verhältnisse: das Ineinandergreifen von zwei Relationalitäten in der Vergesellschaftung von Frauen Von zentraler Bedeutung für die Vergesellschaftung von Frauen ist eine Doppelung, die sich aus einer gesellschaftstheoretischen Perspektive erschließt. Es ist die Überlappung von Relationen im Geschlechterverhältnis und Relationen, welche die Stellung der einzelnen sozialen Sphären zueinander im gesellschaftlichen Funktionszusammenhang bestimmen. Die Position der weiblichen bzw. männlichen Genus-Gruppe ergibt sich zunächst einmal aus ihrer sozialen Stellung im Geschlechterverhältnis. Unter einem „Geschlechterverhältnis“ ist das Ensemble von Arrangements zu verstehen, in denen Frauen und Männer durch Formen der Arbeitsteilung, soziale Abhängigkeitsverhältnisse und Austauschprozesse aufeinander bezogen sind. In diesem Insgesamt wird ihnen durch Abgleichung ihrer soziokulturellen Wertschätzung gesellschaftlicher Status und soziales Ansehen zugemessen. Der Modus dieser Relationalität, der angesichts sozialer Ungleichheitslagen zwischen den Genus-Gruppen auf zentralen Ebenen gesellschaftlicher Partizipation (Verteilung von bezahlter und unbezahlter, hoch dotierter und niedrig vergüteter Arbeit, soziale Sicherung, Prestige, Macht) als nicht egalitär zu charakterisieren ist, strukturiert private Lebenswelten, den Arbeitsmarkt, das Beschäftigungssystem, kulturelle Öffentlichkeiten und politische Arenen. Die Formen der Benachteiligung sind zwar nicht in allen Geschlechterarrangements in gleichem Ausmaß und mit gleicher Persistenz gegen Frauen gerichtet, dennoch genießt die männliche Genus-Gruppe allerorten Statusvorteile, die sie nicht einfach ihren besseren Leistungen oder Kompetenzen verdankt, sondern der Höherbewertung ihres Geschlechts. Dem widerspricht die Binnendifferenzierung innerhalb der Gruppe „Männer“ und
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innerhalb der Gruppe „Frauen“ nicht. Frauendiskriminierung und Männerprivilegierung gibt es in allen Schichten und allen kulturellen Milieus unserer Gesellschaft. Wir alle sind mit den sozialen Konstruktionen konfrontiert, in denen „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“ stereotypisiert und hierarchisiert werden. Wir alle sind verstrickt in Interaktionen, in denen wir uns selber an den Prozessen der Vergeschlechtlichung beteiligen. Frauen wie Männer werden ausnahmslos – ob sie sich dagegen wehren oder nicht – durch die Institutionalisierung von sexuierten Klischees „zu Geschlechtern gemacht“ (Gildemeister/Wetterer 1992). Zwar fügen sich die Menschen in ihren Selbstdefinitionen heute nicht mehr ungebrochen den Vorstellungen von geschlechtlicher Identität, die auf Dualität geeicht sind. Die gesellschaftliche Gegenüberstellung der Geschlechter – eine Bipolarität, welche deren Rangordnung einschließt – hat sich jedoch keineswegs in Nichts aufgelöst (vgl. Wetterer 2003). Die androzentrische Machtakkumulation, die auch in nachfeudalen Zeiten und unter den Veränderungen der Industriegesellschaft nicht verschwunden ist, und die Zählebigkeit des Zwangssystem der Zweigeschlechtlichkeit, in dem naturalisierende Klassifikationsprinzipien sozial konstituierte Geschlechterhierarchien zugunsten der männlichen Genus-Gruppe abstützen, sind zwei Seiten einer Medaille, die trotz aller Emanzipationsdiskurse und trotz vollzogener Demokratisierungsprozesse bis heute nicht außer Kurs gesetzt ist. Die Vergesellschaftung von Frauen und Männern wird jedoch nicht nur durch die Relationen bestimmt, durch welche die beiden Geschlechter aufeinander bezogen sind. Die hierarchische Strukturierung des Geschlechterverhältnisses ist vermittelt durch eine andere Relationalität, nämlich der zwischen den gesellschaftlichen Sektoren. Das wird deutlich, wenn wir eine bestimmte Passung ins Auge fassen: die Wechselwirkung zwischen den Verhältnisbestimmungen in der Geschlechterordnung, in welcher Männer den Vorrang haben, und den Kriterien für die Dominanz jener gesellschaftlichen Sektoren, die maßgeblichen Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklungen nehmen. In diesen Sphären sind Männer Herrschaftsträger. Die männerbündische Grundierung aller sozialen Bereiche ist ein durchgängiger Zug in Gesellschaften, in denen patriarchalische Machtstrukturen, die eine vorindustrielle Genese haben, sich in gewandelter Form mit nicht personalisierbaren Herrschaftsformen überkreuzen, die sich mit dem Kapitalismus herausgebildet haben (vgl. Beer 1990, Kreisky 1995). Diese Doppelung von Relationen hat spezifische Konsequenzen für die Vergesellschaftung von Frauen. Gehen wir zunächst den Unstimmigkeiten in der Relationalität der gesellschaftlichen Sphären nach und loten wir aus, wie sie sich in den Lebenszusammenhängen von Frauen niederschlagen. Ausdifferenzierte Sozialgefüge setzen sich aus einer Reihe von Bereichen zusammen, von der zwar jede ihre eigene Bestimmung hat, die aber dennoch alle zueinander in einem Interdependenzverhältnis stehen: Keine einzelne Sphäre – weder Staat, noch Militär, noch Wirtschaft, noch Kultur, noch Privatsphäre – könnte ohne die anderen bestehen. Diese Konfiguration von sozialen Sektoren samt ihrer Agenturen und Akteure, die wir „Gesellschaft“ nennen, ist nach Prinzipien der Arbeitsteilung organisiert. Das Sozialgefüge als Ganzes kann sich nur erhalten, wenn die einzelnen sozialen Bereiche einerseits die ihnen obliegenden gesellschaftlichen Aufgaben sachgerecht erfüllen, sie sich anderseits nicht gegenüber dem Funktionszusammenhang verselbständigen, in den sie eingebunden sind. So kann man „Gesellschaft“ als einen Nexus von Relationen bezeichnen, in dem die einzelnen Sphären je nach dem Stellenwert, der ihnen im Gesamtgefüge zugemessen wird, zueinander ins Verhältnis gesetzt sind. Die Gewichtung von sozialen Bereichen ist nicht unabhängig von Herrschafts- und Machtinteressen. Idealtypisch gesprochen: in einer Gesellschaft, in der die Machtagenturen und ihre Agenten in erster Linie auf ihrer ökonomischen und politischen Vorherrschaft beharren, werden andere Maßstäbe gelten als in einer Zivilgesellschaft, in der es eher um den sozialen Zusammenhalt und die lebenswichtigen Belange der Bevölkerung gehen soll. In unserer modernen westlichen Gesellschaft hat sich historisch eine Form der Relationalität ausgebildet, die im Widerspruch zur Logik der reziproken Abhängigkeit von gesellschaftlichen Bereichen steht: Nicht Interdependenz gilt als Kriterium für Einflussnahmen auf gesellschaftliche Entwicklungen. Macht genießen vielmehr solche Sektoren,
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die politisch-ökonomische Herrschaftsinteressen und Strategien soziokultureller Hegemonie vertreten. Wirtschaft, staatliche Institutionen, Militär und Kulturbetrieb haben Vorrang vor Bildung, privaten Lebenswelten, Gesundheitswesen. Diese Unstimmigkeit zwischen sektoralen reziproken Abhängigkeitsverhältnissen und ihnen inhärenten hegemonialen Strukturen ist verdeckt durch ein paradoxes Organisationsprinzip, welches das gesellschaftliche Getriebe zwar in Gang hält, aber nur, indem es soziale Konflikte und Friktionen in Kauf nimmt: funktionelle Trennung interdependenter sozialer Elemente geht zusammen mit der instrumentellen Verknüpfung des Getrennten. Marx erkannte in der Fusion solchermaßen gegenläufiger Organisationsprinzipien den Springquell von Ideologien, welche die Einsicht in soziale Ungleichheitslagen verstellen. Die Separierung sozialer Faktoren voneinander, die in einem übergreifenden Zusammenhang aufeinander bezogen sind, suggeriert deren Autonomie – sie wirken, als seien sie jeweils autonome Entitäten. Diese Fassade verdeckt die sozialen Beziehungen und gesellschaftlichen Vermittlungen zwischen den als getrennt erscheinenden Elementen. Damit ist nicht nur die soziale Wahrnehmung ihrer Interdependenz getrübt. Es bleibt auch verborgen, auf welche Art und Weise das Getrennte wieder rekombiniert wird. Instrumentell ist eine solche Fügung dann, wenn die Vorteile der Rekombination nicht allen, die zu ihr beitragen, gleichermaßen zugute kommen. Machtgefälle zwischen den Akteuren, die gesellschaftlich konträre Interessenlagen vertreten, führen zu Ungleichgewichten in den Aneignungschancen des Überschusses, der sich aus der Verknüpfung des gegeneinander Abgegrenzten ergibt. Vollzieht sich die Rekombination gleichsam unsichtbar, dann ist zudem auch die Möglichkeit minimiert, dass gegen die mit diesem Prozess einhergehende Ungleichbehandlung Widerstand geleistet wird. Das konkrete Phänomen, an dem Marx die beschriebenen Verkehrungen analysiert, hat zwar nichts mit der doppelten Relationalität zu tun, welche die Vergesellschaftung von Frauen kennzeichnet. Aber die Einsichten, die er zutage fördert, können auf ideologische Implikationen in diesem sozialen Feld übertragen werden. Marx hatte die folgende Transformation vor Augen: auf dem Arbeitsmarkt treten die Agenten des Kapitals und die Verkäufer der Ware Lohnarbeit als getrennte Parteien auf, die Arbeitsverträge aushandeln. Die Rechtslage, in der beiden Akteure als Tauschpartner erscheinen, sieht von den ungleichen Ausgangsbedingungen ab, unter denen die Kontrahenten die Arbeitsverträge aushandeln. Diejenigen, welche die Arbeitsplätze zu vergeben haben, sind in der sozial stärkeren Position als jene, die nichts zu verkaufen haben als sich selbst. Auf dem Arbeitsmarkt bleibt ausgespart, dass Kapital und Lohnarbeit als Produktionsfaktoren im industriellen Arbeitsprozess nicht zu trennen sind, weil sie reziprok aufeinander angewiesen sind: Ohne Kapital keine Investitionen in Fabrikanlagen, die Arbeitsplätze bereithalten, ohne Arbeit keine Inbetriebnahme der großen Maschinerie. Erst dadurch, dass Letztere durch menschliches Arbeitsvermögen in Bewegung gebracht wird, können Marx zufolge überhaupt Produkte entstehen, welche als Waren Gewinne abwerfen. Da das so ist, werden im auf Profit bedachten Produktionsprozess die beiden Faktoren – zu großer Maschinerie geronnenes Kapital und Arbeit als lebendige Produktivkraft – wieder zusammengebracht. Aber wahrnehmbar ist eher die große Maschinerie – es sieht so aus, als flössen die Produkte aus ihr heraus. Die einverleibte menschliche Arbeit wird zu einem verschwindenden Moment im Prozess der Gütererzeugung, die für den Verkauf bestimmt ist – aller Mehrwert scheint aus den Maschinen zu kommen und nicht durch lebendiges Tätigwerden hervorgebracht zu sein. Vor diesem Hintergrund beanspruchen die Unternehmer, welche die Fabrikanlagen zur Verfügung stellen, den erzielten Profit für sich und zahlen den Arbeitenden nur die Lohnkosten aus, die für deren Existenzsicherung notwendig sind. Das Bewusstsein davon, dass lebendige Arbeit die Quelle von Mehrwert ist, geht auch den unmittelbar Produzierenden verloren. Ihnen kommt es vor, als entstünde Profit erst durch den Verkauf der produzierten Güter. Angesichts des Fetischcharakters der Ware, die sich als marktgängige präsentiert und nicht als von Menschen gemachte, erkennen die Arbeitenden ihre eigene Praxis nicht wieder (Marx 1961: 78ff.). Wir können auch in der gesellschaftlichen Inanspruchnahme der beiden Formen von Arbeit, die Frauen leisten, jenes Paradox von Trennung und Verknüpfung entdecken. Und auch hier hat
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dieses Organisationsprinzip ideologische Folgen. Frauen kombinieren in ihrem Ensemble sozialer Praxen unbezahlte Hausarbeit und bezahlte markvermittelte Tätigkeit. Die Aktivitäten finden in getrennten sozialen Bereichen statt, die jedoch in der notwendigen Ergänzung ihrer jeweiligen sozialen Aufgaben voneinander abhängig sind. Hausarbeit vollzieht sich in privaten Bereichen, Berufsarbeit im Beschäftigungssystem als einer Sphäre der Öffentlichkeit. Die gesellschaftliche Dissoziation von Privatheit und Öffentlichkeit beeinträchtigt den Lebenszusammenhang von Frauen in mehrfacher Weise. Die soziale Bedeutung der Hausarbeit bleibt im öffentlichen Bewusstsein vielfach unbeachtet. Sie ist nicht markvermittelt und wird daher in ihrem ökonomischen Wert kaum wahrgenommen. Sie verschwindet als nicht professionelle Versorgung der Angehörigen in den häuslichen vier Wänden. Die gesellschaftliche Unterbewertung der Hausarbeit, die als Frauenarbeit gilt, tangiert auch die berufliche Praxis der weiblichen Genus-Gruppe. Da der Status des bread-winners den Männern zugeordnet wird, die der Familienversorgerin den Frauen, werden Männern die besseren Berufs- und Verdienstchancen zugestanden. Diese traditionelle Sichtweise von Geschlechterrollen, die längst nicht mehr einer sozialen Realität entspricht, in der Frauen wie Männer zur Sicherung des Familieneinkommens beitragen (bei Alleinerziehenden sind es sogar mehr Mütter als Väter), wirkt sich immer noch in der Verteilung von bezahlter und unbezahlter, gut dotierter und schlechter dotierter Arbeit aus. Die überkommene Vorstellung, dass Männerarbeit mehr wert sein soll als Frauenarbeit, ist in doppelter Weise ideologisch. In dieser Wertung rangiert Berufsarbeit vor Hausarbeit, vor der sich die Mehrzahl der Männer so weit es geht drückt. Und die bezahlte Arbeit von Männern wird besser honoriert als die von Frauen, auch wenn beide auf vergleichbarem Niveau tätig sind. Vor allem: eine bestimmte Leistung, die in erster Linie Frauen erbringen, bleibt im Dunklen: Die Koordination der divergenten Arbeitsformen im Alltag von Frauen. Indem sich Frauen zwischen dem häuslichen und dem marktvermittelten Arbeitsplatz hin- und herbewegen, rekombinieren sie das, was gesellschaftlich auseinandergerissen ist: Privatsphäre und Öffentlichkeit. Von dieser Rekombination lebt die Gesellschaft: Regeneration und Sozialisation der Bevölkerung durch Hausarbeit, Kleinkinderziehung und care work im Privaten sind so kostengünstig wie kein anderes soziales Arrangement mit der gleichen Aufgabenstellung. Und die männliche Genus-Gruppe profitiert in zweifacher Hinsicht von doppelten Arbeitsorientierung erwerbstätiger Frauen, die gleichzeitig die Hausarbeit übernehmen: sie bleibt von Doppelbelastung verschont und wird auf dem Arbeitsmarkt bevorzugt. Ich komme zurück auf meine Ausgangshypothese in diesem Kapitel: Zwischen den beiden Relationalitäten – der, die das Geschlechterverhältnis strukturiert, und jener, die in der Organisation der Gesamtgesellschaft wirksam wird – lässt sich eine Verbindung herstellen. Wir können feststellen, dass Männer als Vertreter der privilegierten Genus-Gruppe in jenen Sektoren stärker vertreten sind, die gesellschaftlich hoch bewertet sind: staatliche Institutionen, politische Foren, Wirtschaft, Kulturbetrieb. Frauen, der Genus-Gruppe mit der minderen Geltung zugeordnet, sind dagegen präsenter in den privaten Lebenswelten, die im Vergleich zu den anderen Bereichen als randständig gelten. Die soziale Hierarchisierung der Geschlechter folgt also offensichtlich der Rangordnung gesellschaftlicher Sphären. Und umgekehrt stützt das Statusgefälle im Geschlechterverhältnis die Stellung der männlichen Genus-Gruppe in jenen gesellschaftlichen Sektoren ab, die prestigeträchtig sind. Die zwei Formen der Relationalität, die beide Hierarchien erzeugen, sind ineinander verflochten. Diese Fügung ist in sich widersprüchlich. Das Geschlechterverhältnis, und mit ihm die geschlechtsbasierten Formen der Vergesellschaftung, werden durch die doppelte Relationalität nämlich zugleich stabilisiert und labilisiert. Auf der einen Seite zehrt die bereichsübergreifende Herrschaft der männlichen Genus-Gruppe von einer strukturellen Homologie: Die privilegierte Stellung von Männern hat sich historisch in privaten und öffentlichen Kontexten durchgesetzt. Auf der anderen Seite produziert gerade diese homologe Struktur, in der Macht in einem Feld Vorrangigkeit in einem anderen abstützt, eine Heteronomie, die das bestehende Geschlechterverhältnis angreifbar macht. Die gesellschaftliche Bevorzugung einer Genus-Gruppe verträgt
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sich nicht mit dem Selbstanspruch demokratischer Gesellschaften, der sie auf die Gleichstellung von Frauen und Männern verpflichtet. Dazu kommt, dass die strukturelle Homologie aus Gründen historischer Ungleichzeitigkeiten brüchig wird. Das Geschlechterverhältnis wandelt sich in Dimensionen, die für die politische und wirtschaftliche Organisation der Gesellschaft nicht unmittelbar relevant zu sein scheinen. Welche Sprengkraft solche Entwicklungen bekommen können, ist jedoch nicht ausgemacht. Sexualität, geschlechtliche Selbstdefinitionen, Formen des Zusammenlebens verändern sich im Augenblick schneller als androzentrische Machtstrukturen und geschlechtsbasierte häusliche und betriebliche Arbeitsteilung. Die Relationalität, welche die Geschlechter zueinander ins Verhältnis setzt und der Rapport, in dem die gesellschaftlichen Sektoren zueinander stehen, lassen sich nicht ohne soziale Konflikte zusammenfügen, die ins Bewusstsein – vor allem das von Frauen – drängen. Es ist paradox: Herrschaft ist auf Expansion ausgerichtet, aber je mehr Ungleichartiges sie in sich hineinzieht, desto störanfälliger wird sie. Vielleicht liegt gerade in der Heteronomie und in der Unübersichtlichkeit komplexer, in sich unstimmiger Verhältnisse die Chance, dass alles anders werden kann. Behalten wir darum im Auge, wo sich Bruchstellen auftun, die das ganze Gehäuse der Unzumutbarkeiten, das sich für Frauen aus der zwiespältigen Vergesellschaftung in zwei halbierte Lebenswelten ergibt, zum Einsturz bringen könnten. Verweise: Arbeit Familie Kritische Theorie Sekundärpatriarchalismus
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Subsistenzansatz: Von der Hausarbeitsdebatte zur „Bielefelder Subsistenzperspektive“
Der Bielefelder (Subsistenz-)Ansatz: Eine feministisch materialistische Theorie Die so genannte Hausarbeitsdebatte war eine der ersten großen, öffentlichkeitswirksamen Diskussionen innerhalb der Neuen Frauenbewegung. Plötzlich wird zum Skandal, was bis dato nur selbstverständlich, ja geradezu „natürlich“ war: dass Frauen unendlich viele Stunden unbezahlter Arbeit im Haushalt ableisten und dass diese Arbeit nicht einmal als solche gilt. „Arbeiten Sie?“ – „Nein, ich bin Hausfrau.“ In diesem Dialog ist pointiert das gesellschaftliche Verständnis zusammengefasst, gegen das die Neue Frauenbewegung Anfang der 1980er Jahre Sturm läuft.
Der Ausgangspunkt: Hausarbeit ist Arbeit Charakteristisch für diese Debatte um die Hausarbeit ist, dass das Geschlechterverhältnis dabei als ökonomisches Verhältnis, als Produktionsverhältnis innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise aufgefasst wird. Maria Dalla-Costa und Selma Jones gehören zu den ersten, die argumentieren, dass die Hausfrauenarbeit „die andere Hälfte der kapitalistischen Ausbeutung, die andere Quelle von Mehrarbeit“ (1973: 14) sei. „Die zentrale Bedeutung des Hausarbeitsansatzes“, urteilt später Anke Wolf-Graaf, „liegt in der Aufarbeitung der Funktion der Reproduktionsarbeit der Frau als Arbeit zur Herstellung und dauerhaften Erneuerung der Arbeitskraft als Ware. Es wird in ersten Ansätzen der Zusammenhang zwischen Mehrwertproduktion und der Schaffung der hierfür entscheidendsten Voraussetzung, nämlich des lebendigen Arbeiters mit seinem Arbeitsvermögen durch die Arbeit der Frau aufgedeckt“ (1981: 257). Im Bielefelder (Subsistenz-)Ansatz wird diese zentrale Erkenntnis der Hausfrauendebatte, dass die Hausarbeit eine wesentliche Grundlage der kapitalistischen Produktionsweise darstellt, radikalisiert. Die diesen Ansatz vertretenden Autorinnen – insbesondere Veronika BennholdtThomsen, Maria Mies und Claudia von Werlhof – verbinden die Frauenfrage mit der DritteWelt-Frage (und später mit der Ökologiefrage). Laut ihrer Analyse sind die (Haus-)Frauen in den westlichen Ländern, die kostenlos Arbeitskraft (re-)produzieren, dem Kapitalverhältnis unterstellt (subsumiert), ebenso wie in anderer Form die marginalisierten Menschen in der Dritten Welt – und wieder insbesondere die Frauen dort. Sie vertreten, dass die kapitalistische Produktionsweise in noch viel größerem Ausmaß als in der Hausarbeitsdebatte angenommen auf der Ausbeutung der Nichtlohnarbeit beruht (von Werlhof 1978, 1985; Bennholdt-Thomsen 1980; Mies 1986).
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Hausfrauisierung und Entwertung von Arbeit Allerdings scheint ihnen die Hausfrau gleichsam das Paradigma für die Ausbeutung nicht entlohnter Arbeit in der modernen Ökonomie zu sein, insofern im Hausfrauenverhältnis alle Charakteristika unfreier Arbeit zusammengefasst sind und es als Pendant zum Lohnarbeiterverhältnis zu verstehen ist. Die Entstehung der Hausfrau, analysieren die drei Wissenschaftlerinnen, und beziehen sich damit auf Rosa Luxemburg, ermöglicht die fortgesetzte ursprüngliche Akkumulation, die zum Kapitalismus unabdingbar dazu gehört. Rosa Luxemburg hatte in ihrer 1913 erschienenen Arbeit „Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus“ argumentiert, dass die Realisierung des Mehrwerts die Existenz „nichtkapitalistischer“ Milieus voraussetzt (Luxemburg 1985). Die Hausfrau steht am Ende des Prozesses, der die gesellschaftliche Produktion in vorher nie da gewesener Weise teilt in unsichtbare, scheinbar wertlose Arbeit im Privatbereich, im Bereich der unmittelbaren Versorgung einerseits und sichtbare, scheinbar einzig wertvolle Arbeit im öffentlichen Bereich, im Bereich der Warenproduktion andererseits. Hausarbeit verliert ihren gesellschaftlichen Charakter. Im Ergebnis sind Frauen nicht nur für die Hausarbeit (allein) zuständig, sie haben vor allem auch gesellschaftliches Ansehen eingebüßt: Eine Frau bleibt eine Hausfrau, auch wenn sie Lohnarbeiterin ist, wie Veronika Bennholdt-Thomsen (1984) betont. Diese Hausfrauisierung von Frauen bietet die strukturelle Grundlage für die Entwertung aller weiblichen Arbeit im Kapitalismus. Aber nicht nur Frauen sind von Hausfrauisierungsprozessen betroffen. In den Kolonien waren und sind auch Männer derartigen Entwertungsprozessen ausgesetzt, auch ihre Arbeitskraft wurde und wird als Naturressource betrachtet und behandelt; und angesichts zunehmender Lohnarbeitslosigkeit auch in den klassischen Industrieländern prophezeiten die Subsistenztheoretikerinnen früh die Generalisierung hausfrauisierter Verhältnisse letztlich auch auf die bis dato privilegierten Empfänger von Männerlöhnen.
Subsistenzproduktion und Kapitalakkumulation Die Analyse nichtentlohnter Arbeits- und Produktionsverhältnisse und ihr Bezug zu Lohnarbeitsverhältnissen und Kapitalakkumulation basiert auf langjährigen Studien der drei Soziologinnen in Lateinamerika und Indien, wo sie sich vornehmlich mit der Situation verarmter Bevölkerungsschichten – insbesondere der Kleinbauern und Landlosen – auseinander gesetzt hatten. Sie gehörten der Arbeitsgruppe Bielefelder Entwicklungssoziologen an – Maria Mies in frei assoziierter Form –, die eine grundsätzliche Kritik auch an den neueren Theorien zur Unterentwicklung formulierte (vgl. Arbeitsgruppe Bielefelder Entwicklungssoziologen 1979). Der Bielefelder Ansatz war wesentlich durch die Frage bestimmt, welche Funktion die Subsistenzproduktion, d.h. die gebrauchswertorientierte, unmittelbar auf die Herstellung und Erhaltung des Lebens gerichtete Arbeit für die kapitalistische Produktionsweise hat. Gehörte bis dato zum wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Konsens, dass die Subsistenzproduktion ein überkommenes Element traditioneller Gesellschaften sei und allmählich absterben würde, lautete die Ausgangshypothese im Bielefelder Ansatz, dass trotz des Untergangs eigenständiger regionaler Subsistenzökonomien die Subsistenzproduktion als Produktion der unmittelbaren Lebensgrundlagen nicht verschwinden kann, sondern nur ihren Charakter verändert, wenn sie der kapitalistischen Warenproduktion untergeordnet wird. Da sie zur Reproduktion der Menschen/Arbeitskräfte wesentlich beiträgt, wird sie zur Voraussetzung für die Fortsetzung des Prozesses der ursprünglichen Akkumulation, die die kapitalistische Akkumulation von Geld und Waren notwendig begleitet (vgl. Luxemburg 1985, Wallerstein 1986). Tatsächlich war trotz Kapitalisierung und Entwicklung in der Dritten Welt keine nennenswerte Tendenz zur Proletarisierung feststellbar; im Gegenteil schien es, als würde Lohnarbeit ge-
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rade vermieden. Feststellbar waren die unterschiedlichsten Kombinationen von bezahlten und unbezahlten Produktionsverhältnissen. Auf niedrigerem Niveau schienen sich die aus der Ersten Welt bekannten Verhältnisse in der Dritten Welt zu wiederholen, auch insofern als die Entwicklungsstrategien, die regelmäßig eben nicht zur Verbesserung prekärer Lebensverhältnisse beitrugen, mit der Restrukturierung der Geschlechterverhältnisse nach westlichem Muster einhergingen (vgl. Bennholdt-Thomsen 1984). Zusammengefasst lauten die Grundthesen, die sich aus der Verknüpfung von entwicklungssoziologischer und feministischer Theorie ergaben, wie folgt: 1. Das der kapitalistischen Produktionsweise eigentümliche Produktionsverhältnis ist ein zweifaches. Es beinhaltet einerseits die Lohnarbeit (Warenproduktion), andererseits die Nichtlohnarbeit (Subsistenzproduktion). Die Produktion von Waren ist ohne die Produktion von Leben nicht realisierbar (vgl. Werlhof 1978). 2. Das sich unter kapitalistischen Bedingungen verallgemeinernde Verhältnis zwischen Subsistenzproduktion und Warenproduktion ist ein Ausbeutungsverhältnis. Der kapitalistische Zugriff auf die Subsistenz vermittelt sich dabei – materiell – über die Zerstörung ihrer Basis, einer eigenständigen Nahrungsmittelproduktion, und/oder durch die erzwungene Abhängigkeit dieser Produktion von Geld (Steuern, Kredite) sowie – ideologisch – dadurch, dass der Zugriff verschleiert wird, indem eine Umwertung erfolgt, nach der Subsistenzproduktion nichts (kein Geld), Warenproduktion alles (Geld) wert ist, nach der Subsistenzproduktion „Natur“ ist und Warenproduktion „gesellschaftlich“. Gleichzeitig mit dieser ideologischen Verdrehung, mit der gesellschaftlichen Entwertung der entscheidenden Produktion, sinkt der Wert der mit ihr verbundenen Menschen. 3. Die gesellschaftliche Entwertung der Subsistenzproduktion ist eng verknüpft mit dem neuzeitlichen Naturverständnis. „Natur“ und „Gesellschaft“ erscheinen als Gegensatz. Konstruiert wird ein notwendig hierarchisches Verhältnis zwischen „Mensch“ und „Natur“. Zum „Mensch-Sein“ gehört der Wille, die „Natur“ beherrschen zu wollen, sich von ihr zu emanzipieren. Umgekehrt gilt innerhalb dieses dualistischen Verständnisses all das, was unterworfen und ausgebeutet werden soll, als „Natur“, z.B. die Völker in der Dritten Welt, z.B. die SubsistenzproduzentInnen (vgl. Werlhof 1983). 4. Dieses Verhältnis zwischen „Natur“ und „Gesellschaft“, zwischen „Erster“ und „Dritter“ Welt, zwischen Waren- und Subsistenzproduktion ist nicht geschlechtsneutral. Obwohl die wenigsten Männer tatsächlich „Voll“-Proletarier, die wenigsten Frauen „Nur“-Hausfrauen sind, ist es doch weltweit tendenziell die Arbeit (und das Leben) von Männern, die (das) als wertvoll gilt und ist es tendenziell die Arbeit (und das Leben) von Frauen, die nichts gilt, die (das) als „Natur“ gilt. Die gesellschaftliche Arbeitsteilung im Kapitalismus ist geschlechtlich. Das sich im Zentrum des Weltsystems herausbildende Verhältnis zwischen Lohnarbeiter und Hausfrau wird zum Modell gesellschaftlicher Arbeitsteilung schlechthin (vgl. Bennholdt-Thomsen 1983). 5. Entsprechend hat auch die gewaltsam hergestellte internationale Arbeitsteilung, durch die die „Dritte Welt“ einschließlich der in ihr lebenden Menschen zur „Natur“ erklärt und zur Ausbeutung bestimmt wurde, geschlechtlichen Charakter. Im Verhältnis „Erste“ und „Dritte“ Welt wiederholt sich das der kapitalistischen Produktionsweise eigentümliche Verhältnis zwischen Subsistenz- und Warenproduktion. Die „Dritte Welt“ insgesamt wird zur Subsistenzregion der Weltwirtschaft. 6. Wo Menschen beraubt werden sollen, ist mit Rebellen zu rechnen, sagt Claudia von Werlhof (1983: 150f.). Gewalt gegen Frauen und Gewalt gegen Kolonisierte gehört insofern unauflöslich zum modernen politischen und ökonomischen Weltsystem (vgl. Bennholdt-Thomsen 1985).
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Die Subsistenzperspektive Dem Selbstverständnis nach ist der Bielefelder Ansatz kritische Gesellschaftstheorie. Es ging den Bielefelderinnen gleichermaßen um die Erkenntnis und um die Veränderung der Wirklichkeit. Dieser Anspruch findet sich sowohl im Engagement der "drei Bielefelderinnen" in Frauenbewegung und Frauenforschung wieder als auch in der Beteiligung an diversen Kampagnen, zuletzt für Ernährungssicherheit (1996) und gegen das Multilaterale Abkommen über Investitionen (vgl. Mies/Werlhof 1998), in dem Entwurf einer öko-feministischen Gesellschaft (vgl. Mies 1987; 1989) und schließlich in der Entwicklung der Subsistenzperspektive (vgl. Werlhof 1991, Mies/Shiva 1995, Bennholdt-Thomsen/Mies 1997). Während es zunächst um den Nachweis gegangen war, dass es sich bei der heutigen Subsistenzproduktion immer – insofern immer, als es innerhalb des kapitalistischen Weltsystems kein „außen“ gibt/geben kann – um ein originär kapitalistisches Produktionsverhältnis handelt, verschob sich im Folgenden das Interesse auf das utopische Potenzial der Subsistenzproduktion. Trotz ihrer Verschränkung mit der kapitalistischen Warenproduktion, so die Argumentation von Mies, Werlhof, Bennholdt-Thomsen, ist sie doch nicht auf ihre Funktion für das derzeitige ökonomische System zu reduzieren. Gerade ihr ambivalenter Charakter, zum einen Arbeitskraft (als Ware) herzustellen und zum anderen lebendige Menschen, macht sie zum möglichen Ausgangspunkt für gegenwärtigen und zukünftigen Widerstand. Insofern plädiert der Bielefelder Ansatz nicht für die Verweigerung oder Monetarisierung der Subsistenzarbeit – wie es zum Beispiel die Lohn-für-Hausarbeit-Kampagne vorsah – sondern für ihre Verallgemeinerung bzw. Instandsetzung. Es ist insbesondere dieses Plädoyer für die Subsistenz – und die Zurückweisung z.B. von Gleichstellungspolitik als die Verhältnisse nicht radikal genug in Frage stellend –, an dem sich die kontroverse Debatte um den Bielefelder Ansatz in Frauenforschung und -bewegung entzündet (vgl. stellvertretend für viele Lenz 1988).
Weitere Forschungsprojekte: Von Mexiko nach Ostwestfalen 1990/91 führten Veronika Bennholdt-Thomsen, Cornelia Giebeler, Brigitte Holzer, Marina Menesis und Christa Müller eine Studie in Juchitán, einer mittelgroßen Stadt im Süden Mexikos durch. Ihre BewohnerInnen sind für mexikanische Verhältnisse erstaunlich wohlhabend, und zwar deshalb, so ein Ergebnis der Untersuchung, weil ihre regionale Ökonomie insgesamt subsistenzorientiert ist. Dreh- und Angelpunkt der juchitekischen Wirtschaft und Gesellschaft ist das von Frauen, namentlich von Händlerinnen, dominierte Marktgeschehen. Die Juchitán-Studie illustrierte, dass eine Subsistenzorientierung nicht nur in so genannten traditionellen Gesellschaften möglich ist und dass sie mitnichten die Abschaffung bezahlter Arbeit, gesellschaftlicher Arbeitsteilung und die Existenz landwirtschaftlicher Selbstversorgung etc. voraussetzt. Auch bezahlte Arbeit oder die Erwirtschaftung eines Geldeinkommens kann Subsistenzcharakter haben, sofern sie die Absicht und den Zweck hat, der Versorgung von Menschen dienlich zu sein. Auch in von Subsistenzorientierung geprägten Gesellschaften kann es Geld, Handel und Märkte geben (vgl. Bennholdt-Thomsen 1994, Holzer 1996). Dieser Annahme – dass die Orientierung an der Subsistenz grundsätzlich auch unter globalisierten Bedingungen möglich sein müsste und dass eine Regionalisierung von Ökonomie die Wertschätzung der Versorgungswirtschaft voraussetzt – folgte auch das (1999-2002) durchgeführte und vom BMBF geförderte Forschungsprojekt Ansätze regionalen Wirtschaftens in der ländlichen Gesellschaft, in dem wir – Veronika Bennholdt-Thomsen, Brigitte Holzer und die Autorin –, nachzuzeichnen suchten, in welchem Umfang DorfbewohnerInnen hier und heute in Ostwestfalen von erweiterter Subsistenzproduktion und subsistenzorientierter informeller Ökonomie – gut – leben (Baier/Bennholdt-Thomsen/Holzer 2005).
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Der Bielefelder Ansatz hat sich seit den 1980er Jahren innerhalb und außerhalb des Wissenschaftsbetriebs weiterentwickelt. Viele Initiativen, gesellschaftliche Gruppen, außeruniversitäre Zusammenhänge beziehen sich auf Erkenntnisse dieses Ansatzes. 1995 wurde, u.a. mit der Absicht der Vernetzung solcher Aktivitäten und Erfahrungen, das Institut für Theorie und Praxis der Subsistenz e.V. in Bielefeld (ITPS) gegründet. In diesem Rahmen wurde 1996 die Kampagne für Ernährungssicherheit – anlässlich des Welternährungsgipfels der FAO/UNO – mit vorbereitet, 1999 das „Subsistenzhandbuch“ (Bennholdt-Thomsen/Holzer/Müller 1999) herausgegeben, entstand 1997 die Studie „Von der lokalen Ökonomie zum globalisierten Dorf“ (Müller 1998) und wurde von 1999 bis 2002, wie oben dargestellt, das Forschungsprojekt „Ansätze regionalen Wirtschaftens in der ländlichen Gesellschaft“ durchgeführt (Baier/Bennholt-Thomsen/Holzer 2005). Neben dem ITPS verfolgt die Stiftungsgemeinschaft anstiftung & ertomis (München) in ihrer Arbeit eine Subsistenzperspektive. Von 2004-2006 führte sie das Forschungsprojekt „Nachhaltige Lebensstile und Alltag“ durch, in dem es um das (post)moderne Individuum zwischen Markt und Subsistenz bzw. um eine Bestandsaufnahme der Situation der Subsistenz in der modernen Gesellschaft ging (vgl. Baier/Müller/Werner 2007). Verweise: Arbeit Ökologiekritik Sozialistischer Feminismus
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Andrea Baier
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Gertrud Nunner-Winkler
Weibliche Moral: Geschlechterdifferenzen im Moralverständnis?
Zentrale Definitionen Moral umfasst die als kategorisch handlungsverpflichtend erachteten Normen. Aus moralphilosophischer Sicht geht es um die Angemessenheit ihrer Begründung, aus empirischer Sicht um die Frage, wer welche Normen warum als gültig einschätzt und befolgt. In der Moderne werden Normen nicht länger aus Vorgegebenem – aus Gottes Wort, aus geheiligten Traditionen, aus naturrechtlichen Bestimmungen – abgeleitet, sondern gründen „in unser aller Wollen“ (Tugendhat 1993). Rawls (1972) hat Kants (1962) kategorischen Imperativ (Handle stets so, dass du wollen kannst ...) präzisiert: Gültig sind jene Normen, denen alle ‚unter dem Schleier der Unwissenheit‘ (d.h. ohne Kenntnis individueller Besonderheiten, allein im Wissen um universelle Merkmale) zustimmen könnten. Anders als Engel sind Menschen verletzlich, anders als Heilige bereit, Dritte aus Eigennutz zu schädigen, anders als instinktdeterminierte Tiere auch fähig, dies zu unterlassen, und im Normalfall daran interessiert, dass sie und ihnen Nahestehende keinen Schaden erleiden. Menschen sind also moralbedürftig, -fähig und -interessiert. Das Konsensverfahren, das jedem ein Vetorecht zuspricht, bestimmt sie als Gleiche. So lassen sich bestimmte Normen ableiten: universelle negative Pflichten, die die Unterlassung der Schädigung anderer gebieten; spezifische positive Pflichten, die die Erfüllung der aus einem Kooperationszusammenhang erwachsenden Aufgaben fordern; die allgemeine Pflicht als Nächster in einer akuten Notsituation (in zumutbarem Umfang) Hilfe zu leisten. Dieses vertragstheoretische Modell versteht sich als Rekonstruktion des alltagsweltlichen Moralverständnisses. Insofern sind philosophische und empirische Perspektive verknüpft. Auch bei der ‚weiblichen Moral‘ geht es um philosophische und empirische Fragen. Feministische Philosophinnen kritisieren das individualistisch-egoistische Vertragsmodell: Der Konsens unter starken Gleichen vernachlässige asymmetrische Beziehungen und die entsprechenden Werte von Anteilnahme, Fürsorge, Altruismus (Pauer-Studer 1998, Maihofer 1998); der hypothetische Diskurs blende die Erfahrungsaufschichtungen des je konkreten Anderen aus (Benhabib 1987); dem deontologisch verkürzten Gerechtigkeitsverständnis fehlten Verantwortlichkeit und nicht-kognitive Aspekte von Handlungsbereitschaft (Schwickert 2000).
Die empirische Debatte: Geschlechtsunterschiede in der Moralauffassung Die These Ausgangspunkt war die Behauptung Gilligans (1984: 29), auf Kohlbergs Stufenabfolge der Moralentwicklung würden Frauen niedriger eingestuft. Dies ist anstößig, sofern höhere Stufen als ‚besser‘ gelten: Sie werden faktisch präferiert und vermögen relevante Gesichtspunkte aus je erweiterter Perspektive zunehmend angemessener auszubalancieren. Der Grund für die unter-
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schiedlichen Einstufungen liege in inhaltlichen Differenzen: Frauen verträten eine eher flexibel an Fürsorge und Verantwortung, Männer eine eher rigide an Gerechtigkeit orientierte Moral. Am Beispiel: Jugendliche wurden gebeten, vorgegebene Fabelanfänge zu vollenden. Einer lautete: „Den ganzen Sommer über haben die Maulwürfe Gänge und Höhlen gegraben, das Stachelschwein sonnte sich derweilen. Der Winter brach an. Das Stachelschwein fror erbärmlich und erbat Aufnahme in den unterirdischen Bau. Die Maulwürfe ließen es ein. Es war sehr eng und alle mussten sich dicht zusammendrängen. Das Stachelschwein aber stach. Was tun?“ Die ‚gerechte‘ Antwort lautete: „Wer nicht mitgegraben hat, hat keinen Anspruch auf einen Platz“. Die ‚fürsorgliche‘ Antwort lautete: „Bei der Kälte können wir das Stachelschwein nicht rauswerfen. Wir legen ihm eine Decke um, dann sticht sich keiner mehr an ihm.“ Fürsorgliche Lösungsvorschläge kamen nur von Mädchen (Johnston 1985, zit. nach Gilligan 1995). Zwar betonte Gilligan in ‚Die andere Stimme‘ einleitend, es gehe ihr darum, „den Unterschied zwischen zwei Denkweisen zu beleuchten ... und nicht um generalisierende Aussagen über die beiden Geschlechter“ (1984: 10). Gleichwohl ist die empirische Frage nach dem Zusammenhang zwischen moralischer Perspektive und Geschlecht ein zentraler Schwerpunkt ihrer Forschungsinteressen (vgl. u.a. 1995: 83, 88) und zugleich der entscheidende Grund für die rasche Verbreitung (Davis 1991, Nunner-Winkler 1995) und die hohe Akzeptanz ihrer Thesen (Maihofer 1998, List 1993, Pieper 1993). Diese haben sich im Laufe der Jahre verändert. ‚Die andere Stimme‘ suggeriert eine eindeutige Zuordnung von Moral und Geschlecht. So ist unspezifisch verallgemeinernd – fast essentialistisch – die Rede von der weiblichen Entwicklung (Gilligan 1984: 34, 191f., 208), der weiblichen Perspektive (ebd.: 122), von der männlichen und der weiblichen Stimme (ebd.: 191), von Beweisen, dass „Frauen die soziale Realität anders wahrnehmen (ebd.: 131, 209), dass „Männer und Frauen verschiedene Sprachen sprechen“ (ebd.: 211), dass es gelte „die Erfahrungen von Frauen in deren eigenen Begriffen“ darzustellen (ebd.: 211), ja, das zentrale Merkmal der Fürsorgemoral – ihre Orientierung an Beziehungen – wird gar zum Konstitutivum des weiblichen Geschlechts erklärt: „Frau sein bedeutet, sich in einem Zustand der Verbundenheit zu erleben“ (ebd.: 209). Später wird die These differenziert. Wie bei den Kippfiguren gestaltpsychologischer Experimente können Frauen wie Männer beide Perspektiven einnehmen. Faktisch aber wird die Fürsorgeperspektive von Frauen präferiert und von Männern so stark vernachlässigt, dass sie „ein nahezu ausschließlich weibliches Phänomen“ ist (Gilligan 1995, Gilligan/Wiggins 1993: 78). Dies „legt (...) die Erwartung nahe, dass das Studium der weiblichen Entwicklung eine Naturgeschichte der moralischen Entwicklung zu liefern vermag, in der die Fürsorge vorherrschend ist“ (1995: 99; alle Hervorhebungen G.N.-W.). Mehrere Momente sind zentral für die ‚weibliche‘ (im Vergleich zur ‚männlichen‘) Moralauffassung: Fürsorge, d.h. eine Fokusierung auf Bindung und daraus erwachsende Verantwortlichkeiten für Andere (statt auf einklagbare Pflichten und individuelle Rechte distinkter Personen); Mitgefühl, d.h. die einfühlsame Bereitschaft, die Bedürfnisse Anderer wahrzunehmen und auf sie einzugehen (statt sie ohne persönliche Anteilnahme nur unparteilich – gleichgültig – abzuwägen); Flexibilität, d.h. die Bereitschaft, mit Blick auf das Wohl konkreter Anderer Ausnahmen von Regeln zu machen (statt sich auf abstrakte Prinzipientreue zu berufen).
Zur Erklärung der Geschlechterdifferenzen Aus evolutionsbiologischer Sicht sind die Unterschiede in den Reproduktionsinvestitionen entscheidend: Nur fürsorgliche Frauen, die die wenigen Kinder, die sie austragen können, gut versorgen, können die eigenen Gene weitergeben (Männer können sich darauf verlassen, dass die Frauen sich kümmern; Dawkins 1996, Held 1987). Gilligan selbst greift in späteren Schriften auf die psychoanalytische Objektbeziehungstheorie (Chodorow 1986) zurück: Danach ist die Mutter die erste Bezugsperson für beide Geschlechter. Mädchen können in dieser Identifikation mit der gewährenden Mutter verbleiben – sie entwickeln ein ‚beziehungsorientiertes Selbst‘. Jungen hingegen müs-
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sen sich – wollen sie die eigene Geschlechtsidentität nicht gefährden – aus dieser Bindung lösen: Sie bauen ein abgegrenztes ‚autonomes Selbst‘ auf. Dabei gehen sie der ‚frühen moralischen Weisheit‘ verlustig, die in der Bindungserfahrung wurzelt (Gilligan/Wiggins 1993). Die Debatte um eine weibliche Moral enthält also eine Reihe empirischer Annahmen: Frauen schnitten auf Kohlbergs entwicklungslogischer Stufenabfolge schlechter ab, urteilten eher fürsorge- als gerechtigkeitsorientiert, seien stärker durch Mitgefühl und Rücksicht auf die Bedürfnisse Anderer motiviert und urteilten flexibler.
Aktuelle Forschungsergebnisse zu den empirischen Thesen Stufenniveau Mittlerweile liegen Daten aus mehr als 130 Untersuchungen mit insgesamt fast 20.000 Probanden vor (Lind u.a. 1987, Walker 1995, Thoma 1986). In den meisten Studien finden sich keine Geschlechtsunterschiede im Moralniveau, oder sie verschwinden, wenn der Einfluss von Bildungsniveau und Berufstätigkeit kontrolliert wird.
Fürsorge Neuere Forschungen haben erklärungskräftigere Faktoren für Unterschiede in der Fürsorglichkeit nachgewiesen als die Geschlechtszugehörigkeit. Eine große Rolle spielt der Dilemmainhalt. So variieren schon bei Sechsjährigen die Begründungen für das Gebot zu teilen situationsgebunden aber geschlechtsunabhängig: Jungen wie Mädchen urteilen gleichermaßen, ein eigenes Getränk habe man um das Wohl des Dürstenden willen, einen zu unrecht erhaltenen Preis hingegen aufgrund von Gerechtigkeitserwägungen zu teilen (Nunner-Winkler 1998). Bei familienbezogenen Dilemmata antworten Frauen zwar häufiger (Lugt-Tappeser/Jünger 1994, Crandell u.a. 1999) – keineswegs immer (Lüdecke u.a. 1997) – fürsorglicher. Bei Dilemmata aus beruflichen oder rechtlich regulierten Bereichen aber finden sich keine oder nur minimale Unterschiede (Keefer/Olson 1995, Crandell u.a. 1999). Werden persönlich erlebte Konflikte erfragt, so berichten Frauen häufiger prosoziale Dilemmata, die Fürsorgeerwägungen nahe legen, Männer häufiger antisoziale Probleme, bei denen Gerechtigkeitsargumente anstehen. Wird der Dilemmainhalt kontrolliert, so finden sich keine Unterschiede in den Argumentationspräferenzen (Wark/Krebs 1996, Pratt u.a. 1991). Zudem ist Fürsorge auch institutionalisierte Pflicht. Die Versorgung von Kindern ist zentraler Teil der Mutterrolle. Dies zeigt sich auch bei der Bewertung mütterlicher Berufstätigkeit. Ein Kohortenvergleich ergab: Zwar ist die Zahl der Verurteilungen bei den älteren Befragten höher – in den Begründungen aber gibt es keine Generationsunterschiede: Insbesondere die Frauen verweisen – gerechtigkeitsorientiert – deutlich häufiger auf die Pflichtvergessenheit der Mutter als – fürsorglich am Kindeswohl orientiert – auf Leid oder Schädigung der Kinder (vgl. NunnerWinkler/Nikele 2001). Fürsorge kann auch eine institutionenspezifische Erwartung darstellen. So zeigte sich, dass in demokratischen Reformschulen Schüler erheblich häufiger als in normalen Schulen ein wechselseitiges Hilfeleistungsgebot als gültig ansahen und auch selbst zu befolgen bereit waren (Higgins u.a. 1984). Insbesondere gibt es starke interkulturelle Unterschiede: Geschlechtsunabhängig fühlen sich Befragte in Indien – nicht aber in den USA – zu einer weitgehenden Unterstützung von Angehörigen und Freunden (nicht aber von Fremden) moralisch verpflichtet (Miller/Luthar 1989, Miller 2000). Fürsorglichkeit ist also nicht an biologisch oder frühkindlich bestimmte Persönlichkeitsmerkmale gebunden. Sie ist ein moralisches Gebot, dessen Anwendungsbereich kulturell be-
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stimmt ist: In einer akuten Notlage richtet es sich an den ‚Nächsten‘; in diffuse partikularistische Rollen ist es eingeschrieben; in konkreten Gemeinschaften und in traditionalen Kulturen gilt es allen Mitgliedern gegenüber. Selbst dem Staat können Fürsorgeverpflichtungen zugeschrieben werden (Sozialhilfe). Im industriegesellschaftlichen Arrangement, das die Reproduktion den Frauen, die Produktion den Männern zuwies, ist Fürsorglichkeit die Erfüllung weiblicher Rollenpflichten und konstituiert keine eigene Sondermoral.
Moralische Motive und moralische Motivation Empathie verbürgt moralisches Handeln nicht. Empathie lässt sich neutralisieren: So etwa artikulierten Frauen in einem Partnerschaftsdilemma zwar häufig Verständnis für die Situation des Partners, werteten aber seine Forderungen ab und gaben dem eigenen Selbstverwirklichungsstreben den Vorrang (Juranek/Döbert 2002). Empathie lässt sich strategisch einsetzen – ein Beispiel sind die Erfolge von Heiratsschwindlern. Und Empathie führt häufig zur Diskriminierung Andersartiger, sofern sie bei Nähe oder Ähnlichkeit leichter fällt. So waren in den USA (vor der Einführung gerechter Vergaberegeln) Organempfänger – gleich den Transplanteuren – überproportional häufig weiße Mittelschichtväter (Elster 1992). Auch Altruismus, also die spontane Bereitschaft, die Bedürfnisse Anderer zu erfüllen, ist noch nicht Moral. So etwa erwarteten geschlechtsunabhängig die meisten jüngeren Kinder in einem Konflikt zwischen eigener Leistungsmaximierung und der Bitte eines Anderen um Unterstützung, dass sich Helfer wie Nichthelfer wohl fühlen werde: Der eine, weil er half, der andere, weil er eine hohe Leistung erbrachte, d.h. jeder fühlt sich wohl, weil er tat, was er wollte (Nunner-Winkler 1998). Nun ist es zweifellos gut, wenn einer hilft, weil er dies will. Moralische Motivation jedoch ist erst verbürgt, wenn er das Rechte tut, auch wenn er keine Lust dazu verspürt. Moralische Motivation ist nicht bloßes Ausagieren spontaner Neigungen (first order desires), sondern setzt eine willentliche Selbstbindung an Moral voraus (second order volition: Frankfurt 1988). Allerdings finden sich ab der Adoleszenz Unterschiede in der Stärke moralischer Motivation zugunsten weiblicher Probanden. Diese lassen sich durch das Zusammenspiel der Inhalte kulturell geteilter Geschlechterstereotype und individuell differierender Identifikation mit dem eigenen Geschlecht erklären. Männern werden überwiegend moralabträgliche, Frauen moralförderliche Eigenschaften zugeschrieben. Probanden mit gering ausgeprägter Geschlechtsidentifikation unterscheiden sich nicht in ihrer moralischen Motivation, aber unter hoch geschlechtsidentifizierten Probanden sind Jungen mit niedriger moralischer Motivation deutlich überrepräsentiert (vgl. Nunner-Winkler 2008; Nunner-Winkler u.a. 2006, 2007).
Flexibilität Gilligan (1984) gewann die These weiblicher Flexibilität aus Interviews mit Frauen im Abtreibungskonflikt. Eine Befragung Jugendlicher zum § 218 schien sie zunächst voll zu bestätigen: Jungen argumentierten häufiger rigide prinzipalistisch („Das ist das Selbstbestimmungsrecht der Frau“ oder: „Das ist Mord“), Mädchen hingegen kontextbezogen flexibel („Das hängt davon ab, wie alt die Mutter ist, ob das Kind geschädigt ist ...“). Das Bild kippte jedoch bei der Beurteilung von Wehrdienstverweigerung. Nun argumentierten die Mädchen abstrakt und rigide („Verteidigung tut not“ oder: „Töten darf man nicht“), die Jungen hingegen abwägend („Es hängt davon ab, wie demokratisch die Struktur der Bundeswehr ist, ob Atomwaffen zum Einsatz kommen ...“) (Döbert/Nunner-Winkler 1986). Diese Differenzen spiegeln Unterschiede im Kontextwissen wider, die sich der persönlichen Betroffenheit oder – verallgemeinert – der individuellen Reife verdanken können. Vorausgesetzt ist dabei allerdings, dass Ausnahmen überhaupt als zulässig gelten.
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Kant (1797/1959) noch schrieb negativen Pflichten strikte Gültigkeit zu: Nicht einmal einen Mörder dürfe man belügen, um den eigenen Freund zu retten. Dieser gesinnungsethische Rigorismus lässt sich als Korrelat eines basalen Vertrauens in die Weisheit und Güte Gottes lesen, der dafür sorgt, dass das rechte Tun letztendlich zum Besten führt. Mit der Erosion dieser Gläubigkeit tritt Verantwortungsethik auf den Plan (Weber 1956). Dies ist eine moderne – und keine spezifisch weibliche – Moralauffassung. So zeigte sich auch in dem Kohortenvergleich, dass die ältesten Probanden mehrheitlich Ausnahmen von moralischen Regeln strikt ablehnten, die jüngsten hingegen – im Blick auf unparteilich beurteilte Schadensminimierung – akzeptierten. Dabei urteilten die ältesten Frauen, d.h. die Probanden mit der geringsten Bildung und stärksten Kirchenbindung, am rigidesten, die jüngsten Frauen hingegen am flexibelsten (Nunner-Winkler/Nikele 2001). In jedem Falle aber gilt: Flexibilität ist nicht notwendig Ausdruck moralischer Sensitivität. Sie kann Unentschlossenheit widerspiegeln (Juranek/Döbert 2002). Sie kann auch für Anpassungsbereitschaft stehen. So etwa wurden Ähnlichkeiten zwischen einer ‚afrikanischen‘ und einer ‚weiblichen‘ Moral auf die vergleichbare Erfahrung von Abhängigkeit (von der Macht der Kolonialherren, bzw. der Männer) zurückgeführt: Wer eigene Rechte nicht durchsetzen kann, fährt besser mit Nachgiebigkeit (und Solidarität) (Harding 1995). Eine Flexibilität, die nicht nur Machtlosigkeit oder Entscheidungsschwäche reflektiert, ist also nicht Korrelat der Geschlechtszugehörigkeit sondern einer modernen Verantwortungsethik (bzw. dann auch kontextspezifischer Wissenssysteme).
Ausblick auf Forschungsfragen Die Debatte um eine ‚weibliche‘ Moral hat die Aufmerksamkeit auf wichtige Fragen gelenkt: die Reichweite positiver Pflichten, die Zulässigkeit von Ausnahmen auch von negativen Pflichten und die Motive für moralisches Handeln. Dabei hat sich gezeigt, dass Geschlechtszugehörigkeit nicht die ihr zugeschriebene Erklärungskraft besitzt. So scheint es fruchtbarer, den aufgeworfenen Sachproblemen nachzugehen. Um einige dieser Probleme zu benennen: Wie ist die rasche, breite und schier unwiderlegliche Akzeptanz der These einer weiblichen Moral zu erklären? Trägt die tradierte Zuordnung von Fürsorge zum Nahbereich und von Gerechtigkeit zur öffentlichen Sphäre oder gilt es nicht vielmehr, auch die Familie Gerechtigkeitskriterien zu unterwerfen (Cohen 1994, Okin 1989) und umgekehrt dem Staat Fürsorgeverpflichtungen zuzurechnen (Pioch 2000)? Wie sind Fürsorgeerwartungen und Freiheitsansprüche auszubalancieren? Wie ist opportunistische gegen prinzipiengeleitete Flexibilität abzugrenzen? Welche Erwägungen motivieren moralisches Handeln und wie ist moralische Motivation in der Person verankert? Welche Rolle spielen dabei Geschlechterstereotypen? Verweis: Differenz, Genealogie, Affidamento Feministische Philosophie
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Mittäterschaft von Frauen: Die Komplizenschaft mit der Unterdrückung
Der Begriff Mittäterschaft Der Begriff Mittäterschaft wurde Anfang der 1980er Jahre in die feministische Theoriedebatte eingebracht (vgl. Thürmer-Rohr 1983). Er kennzeichnet die Mitbeteiligung von Frauen an der institutionalisierten Herrschaft des Patriarchats mit seiner historisch verankerten und technologisch hoch entwickelten Zerstörungskraft (vgl. Thürmer-Rohr 1987/1999, 1989). Mittäterschaft geht von der These aus, dass Frauen in der patriarchalen Kultur Werkzeuge entwickeln und sich zu Werkzeugen machen lassen, mit denen sie das System stützen und zu dessen unentbehrlichen Bestandteil werden können. Die Frage nach der Kollaboration oder Komplizenschaft von Frauen war in der Geschichte der Frauenbewegung schon vor mehr als 100 Jahren aufgeworfen worden. Als erste hatte Hedwig Dohm (1876) die Männeranbetung bürgerlicher Frauen angeklagt (vgl. Thürmer-Rohr 1991), und als erste der zweiten Frauenbewegung wies Karin Schrader-Klebert (1969: 2) auf mangelnde Frauensolidarität und systematische Bündnisse der weißen Frau mit dem weißen Mann hin. Maria-A. Macchiocchi (1976) beschrieb die Zustimmung vieler Frauen zum italienischen Faschismus und deutschen Nationalsozialismus, Mary Daly (1978/1981) beklagte die von Frauen ausgeführten Sadorituale und Genitalverstümmelungen, Frigga Haug (1981) bezeichnete Frauen als „Täter“ freiwilliger Abhängigkeit und eigener Unterdrückung, Martha Mamozai (1982) untersuchte die aktive Stärkung rassistischer Gewaltnormen durch Frauen in der deutschen Kolonialgeschichte. Der Begriff Mittäterschaft wollte mit diesen Problemen, die im feministischen Mehrheitsdiskurs anfangs allenfalls als erzwungener Ausnahmefall und nur zögerlich angesprochen worden waren, offensiv umgehen und dem verschwiegenen und quälenden Verdacht einen definierbaren Namen geben. Die Mittäterschaftsthese verstand sich als politischer Einspruch und als gesellschaftskritischer und methodischer Versuch, den Funktionsweisen patriarchaler Kultur auf die Spur zu kommen und deren Zustimmungserfolg durchschaubar und konterkarrierbar zu machen. Dabei wurde die inkriminierte „Tat“ umfassend als destruktive Kulturentwicklung gekennzeichnet, die im gesellschaftlichen Verhältnis zur menschlichen Welt und zur Natur institutionalisiert und in „normaler“ Männlichkeit und Weiblichkeit als „historischen Geschlechtskrankheiten“ eingegraben ist (Thürmer-Rohr 1987: 120).
Kritik an der Generalisierung des Opferbegriffs Das Konzept der Mittäterschaft war eine Antwort auf die Definition aller Frauen als kollektive Opfer historischen Geschlechterskandals und struktureller Gewalt. Mit dieser Definition hatte die feministische Bewegung der 1960er und 1970er Jahre den Begriff Patriarchat als weltweites, klassen-, kultur- und epocheübergreifendes Gewaltsystem, als geschlechtsapartes Werk ohne Frauen und gegen Frauen verstanden und Machtferne mit Schuldferne, Machtlosigkeit mit Ver-
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antwortungsfreiheit verbunden. Diese Anfangsposition strukturierte zwar eine neue Unrechtsordnung, schuf ein neues Unrechtsbewusstsein und machte Frauen zu öffentlichen Anklägerinnen, verschaffte ihnen aber auch die Legitimation, sich auf die Seite aller Opfer und Geschädigten zu schlagen und sich vom Damoklesschwert eigener Kollaboration zu befreien. Die Mittäterschaftsthese und ihr Misstrauen auch gegenüber der Frau in der Männergesellschaft (vgl. Thürmer-Rohr 1988: 87ff.) leugnet nicht, dass Frauen immer wieder zu Opfern männlicher Gewalt und Kontrolle werden können (Thürmer-Rohr 1989: 22-36). Eine misshandelte und vergewaltigte Frau, die keine andere Wahl hat, als dem Gewaltakt des Täters ausgeliefert zu sein, ist in dieser Situation oder Lebensphase zweifelsfrei Opfer, und es wäre zynisch, hier mit dem Mittäterschaftsansatz zu operieren. Dieser wendet sich vielmehr gegen jene generalisierenden und entlastenden Konstrukte, die aus den weiblichen Opfererfahrungen eine weibliche Identität herstellen wollen, welche die Definition der Frau einschließlich ihres Handlungsspektrums definiert und determiniert. Die Mittäterschaftsthese konstatiert demgegenüber eine historische Geschlechterprägung, mit der Frauen den angeklagten Gewaltverhältnissen nicht nur wie einer äußerlichen, fremden und bedrohlichen Macht gegenüber stehen. Ihre Handlungen sind nicht nur aufgezwungene und ihre Handlungsbegrenzungen nicht nur gewaltsam verhinderte Handlungen, sondern sind oft auch selbstgewählt oder selbstgewollt, vor allem aber dem patriarchalen System nützlich. Frauen werden nicht nur unterdrückt, missbraucht und in ein schädigendes System verstrickt, sondern steigen auch eigentätig ein, gewinnen Privilegien, ernten fragwürdige Anerkennung und profitieren von ihren Rollen, sofern sie sie erfüllen. Frauen sind nicht nur durch gemeinsame Leiderfahrungen geprägt, sondern auch durch direkte und indirekte Zustimmung zur Höherwertung des Mannes und zur Entlastung gesellschaftlicher Täter. Diese Bereitschaft zur Duldung, Unterstützung oder Nichtzuständigkeit ist der Triumph, den die Patriarchate feiern können. Mit dieser These wurde der Glaube trügerisch, Frauen würden ein Eigenleben jenseits patriarchaler Taten führen (vgl. Stoehr/Aurand 1982) – als anderes Geschlecht, als Andere des Mannes (List 1993), als das Andere der patriarchalen Vernunft, ausgestattet mit anderer Moral und Denkweise. Mittäterschaft geht von der differenzierten Interessensverquickung einer heterosexistischen Norm aus, mit der Frauen im patriarchalen Bündnis aufgenommen sind, sofern sie den Schutz, die Freisetzung und Abschirmung eines gewaltgeneigten „männlichen Subjekts“ besorgen und ein Wir-Bewusstsein mit dem status quo patriarchaler Errungenschaften entwickeln, das die Zustimmung zu dessen Logiken ausdrückt. Das Konzept irritierte ein weibliches Selbstbild, mit dem erstrangig ein Außenfeind – „der Mann“, „die Herrschenden“, „das System“ – für die erfahrenen Leiden und beobachteten Schäden hatte verantwortlich gemacht werden können, ebenso den Daueraffekt des selbsterlittenen Unrechts, sofern es andere Opfer ignoriert oder vereinnahmt und die Eigenanteile verdeckt (vgl. Thürmer-Rohr 1994).
Mittäterschaft und Nationalsozialismus Der nachfolgende Diskurs über Frauen als Opfer, Mittäterinnen oder Täterinnen ging mit heftigsten Kontroversen einher und ist wie ein Seismograph, an dem sich die Veränderung von Positionen und Wissen im Verlauf der Zeit ablesen lässt. Subtext der Mittäterschaftsthese, die nicht zufällig im Kontext deutscher feministischer Theorie entstanden ist, war die nationalsozialistische Geschichte (vgl. Thürmer-Rohr 1996: 25f.), und nicht zufällig hat die Frauenforschung zum Nationalsozialismus auf die Entwicklung und Konkretisierung der Mittäterschaftsdebatte exemplarischen Einfluss ausgeübt. Der Streit ging als „Historikerinnenstreit“ in die Literatur ein (vgl. Bock 1989, 1992, Koonz 1992) und in seinen Konsequenzen über die nationalsozialistische Ära weit hinaus (vgl. Knapp 1996: 140). Er betrifft grundsätzliche Fragen nach der Geschlechtsspezifik struktureller Gewalt und nach der Trennschärfe der Opfer-Täter-Unterscheidungen.
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Nachdem die Geschichtsforschung nach 1945 die Rolle der Frauen ausgeklammert und in den 1970er Jahren zuerst nach Widerstandskämpferinnen gesucht und Frauen vor allem als Leidtragende und Überlebensarbeiterinnen dargestellt hatte (vgl. Kuhn/Rothe 1982), setzten Mitte der 1980er Jahre die ersten Untersuchungen zur Mittäterschaft nichtverfolgter deutscher Frauen ein (vgl. Thalmann 1987, Ebbinghaus 1987/1996) und kamen Zweifel an der „Gnade der weiblichen Geburt“ auf (Windaus-Walser 1988, vgl. Gravenhorst/Tatschmurat 1990). Mittlerweile liegen ausführliche Kenntnisse vor über die Rolle von Frauen als Vor- und Mitdenkerinnen der NS-Rassenideologie (vgl. Wagner 1996), als Führerinnen der NS-Frauenorganisationen und des „Bunds Deutscher Mädel“ (BDM) (vgl. Böltken 1995, Reese 1997), als Autorinnen der Frauenpresse, als Helferinnen im SS-Apparat und Wehrmachtshelferinnen im weiblichen SSKorps, als SS-Ehefrauen (vgl. Schwarz 1992, 1994, 1997), als Krankenpflegepersonal (vgl. Dornhein/Greeb 1996), als Fürsorgerinnen und Pädagoginnen, als Denunziantinnen (vgl. Dördelmann 1997), als ganz normale Frauen und Mütter (vgl. Koonz 1990, 1991). Noch 1987 hatte Luce Irigaray schreiben können: „Wir sollten nicht zulassen, dass unsere Mütter beschuldigt werden, die Stützen des Faschismus gewesen zu sein! Waren sie an der Macht? Hatten sie bei der Wahl eines Regimes ein Wort mitzureden? Es geht eher darum zu erkennen, dass jede patriarchalische Ordnung, die den Frauen keine andere Funktion und keinen anderen Wert als die Mutterschaft lässt, potentiell faschistisch ist“ (1987: 59). Solche Behauptungen wurden mit einer Analyse widerlegt, die Mütter im Zentrum der „biologischen Schlacht“ der NS-Rassenrevolution und des ethischen Konflikts der Rassenhygiene ortete und sie beteiligt sah an der Verkehrung traditioneller Moral in das Gebot: „Liebe nur den Nächsten, der wie du selbst ist“ (Koonz 1990: 120), also der arischen Rasse angehört. Dieser These entsprechend waren es Frauen, die die NSVerbrechen mit dem Schein humaner Werte überdeckt und im Namen der Mütterlichkeit einen Staat von Mördern mit ermöglicht haben. Eine Mehrheit nichtverfolgter deutscher Frauen fand sich billigend, jedenfalls klaglos mit dem System ab, und eine einflussreiche Minderheit aus allen sozialen Schichten beteiligte sich aktiv an Rassenpolitik und Völkermord. Heute wendet die Forschung sich gegen Abstraktionen und begriffliche Verkürzungen, die die vielfältigen Lebensrealitäten der verschiedenen Frauen verstellen, und es herrscht weitgehender Konsens darüber, dass die eindeutige Zuordnung zum Entweder-Oder der Opfer-Täter-Kategorie den Realitäten kaum gerecht wird (vgl. Eschenbach 1995, Kuhn 1995). Die Frage, wer in welcher Situation was getan und welche Seiten des Regimes gestärkt hat, hat Vorrang vor strukturellen und generalisierenden Aussagen und vor eindeutigen geschlechtsspezifischen Kategorisierungen bekommen. Trotz der zumeist klaren qualitativen und quantitativen Geschlechtsspezifik der Taten lassen sich „ganz normale Frauen“ von denen vergleichbarer „normaler Männer“ jedenfalls im Hinblick auf ihre Überzeugungen und Zustimmungen nicht grundlegend unterscheiden (vgl. Bock 1997).
Mittäterschaft und weißer Rassismus Im Rahmen der interkulturellen Auseinandersetzungen und feministischen Rassismus- und Antisemitismusdebatten Ende der 1980er Jahre, in denen der weiße Feminismus als eine Variante eurozentrischen Denkens statt als Antithese zur herrschenden Norm erschien, geriet die Mittäterschaftsthese zwischen die Fronten. Nachdem ihr vorher Verrat am Feminismus vorgeworfen worden war, geriet das Mit der Mittäterschaft nun unter Verdacht, die eigenständige Verantwortlichkeit weißer Frauen zu bagatellisieren (vgl. Lorde/Rich 1991, Joseph 1993, Hooks 1996), ihre volle Zugehörigkeit zur Unterdrückungspraxis der dominanten Kultur einzuschränken und sie zu bloßen Anhängseln der Aktionen des weißen Mannes zu machen (vgl. Frauen gegen Antisemitismus 1993, Kappeler 1994, Rommelspacher 1994, 1995, 1996). Mit der Favorisierung des Begriffs Täterin und der entsprechenden Selbstbenennung sollte die Geschichte der westlichen Hegemonie, des europäischen Kolonialismus, des weißen Rassis-
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mus und modernen Antisemitismus als Geschichte auch der zugehörigen Frauen angenommen und damit sexistische Gewalt und Geschlechterhierarchie nicht weiter als Modell von Herrschaft verabsolutiert werden (Uremoviv/Oerter 1994, Fuchs/Habinger 1996). Die Kritik richtete sich gegen Definitionsgesten und Vereinnahmungsakte, die mit einem eindimensionalen Begriff von patriarchaler Unterdrückung dazu ermächtigt hatten, universale Ursachenanalysen zu erstellen und die ethnischen und rassistischen Unterdrückungen durch die westliche Kultur zum nachgeordneten Faktor zu machen, außerdem diejenigen auszuschließen, deren Unterdrückungserfahrungen mehr auf die Übermacht der westlichen und weißen Welt als auf männliche Dominanz innerhalb der eigenen Kultur zurückzuführen sind.
Mittäterschaft und Verantwortung Trotz dieser Einwände am Begriff Mittäterschaft festzuhalten, schwächt nach meinem Verständnis die Verantwortlichkeiten der Frauen nicht. Seine Ersetzung durch den Begriff gesellschaftlicher „Täterschaft“ würde die unterschiedlichen Positionen im Machtverhältnis der Geschlechter verkennen und die unterschiedlichen Bedingungen der Subjektwerdung in einer Welt verwischen, die eben nicht in gleichberechtigter und gleichwirksamer Aktion entstanden ist. Mittäterschaft kennzeichnet die patriarchale Kultur implizit als Ensemble von Männern und Frauen (Schwarz 1997: 7) und macht auch die leisen Akteurinnen zu Subjekten, die zum Gesamtwerk gehören. Die Mittäterschaftsthese impliziert damit auch einen veränderten Blick auf die Machtfrage, indem sie sie am Gesamtunternehmen misst, für dessen Erfolg die Komplizenschaft der Mehrheit maßgebend ist. Das Mitagieren der Frauen, mit dem sie Prinzipien der Gewalt und des Ausschlusses der sog. Anderen aus untergeordneter Position und mit weiblichen Mitteln umsetzen, entspricht und dient der gemeinschaftlichen Aktion, die die differenzierte Mitwirkung unterschiedlich positionierter Menschen braucht: ein mehrchöriges, mindestens „doppelchöriges“ Ensemble, in dem Männer und Frauen als vollwertige Mitglieder und Mitspieler/innen ihre ebenso unterschiedliche wie unentbehrliche Funktion wahrnehmen (vgl. Thürmer-Rohr 1996). Die Geschlechterdifferenz zeigt so zwei Seiten der gleichen Gewalt, und das Argument der Machtlosigkeit birgt für die Frauen qua Frauen keine moralische Absolution mehr. Die „Wahrheit“ über Frauen zu sagen heißt, die bisherigen „Unwahrheiten“ deutlich zu machen und Diskurse zu destruieren, die zur Stabilisierung von Fiktionen über „die Frau“ beigetragen haben (vgl. Landweer 1990: 8). Dieses Wegräumen bisheriger Selbstverständlichkeiten eröffnet einen neuen und ungeschützten Raum, in dem es die alten Identitäten nicht mehr gibt Der Begriff Mittäterschaft begreift Frauen nicht nur als Zielscheibe des Unterwerfungswillens einer äußeren Macht und Macht nicht nur als das, was von außen auf uns einwirkt, sondern uns zugleich auch erschafft und erzeugt und so kein „Gegen“ mehr kennt. Mittäterschaft korrespondiert mit der Machtanalyse Foucaults, nach der Macht nicht als eindimensionales Herrschaftsverhältnis und nicht primär als Repression, Verbot und Zwang zu verstehen ist, als das, was unterdrückt, sondern ihre Wirkungen auch darin zeigt, dass sie integriert und einbindet und so die soziale Wirklichkeit erst schafft (vgl. Foucault 1977). Carol Hagemann-White rückte die Mittäterschaftsthese in die Nähe eines existentialistischen Feminismus, der auf dem Wissen um das Ausmaß an Zerstörung und Verwüstung unserer Welt basiert und auf der Verantwortung und radikalen Freiheit der Einzelnen besteht (Hagemann-White 1992: 57f.). Unsere „ursprüngliche Komplizenschaft mit der Unterordnung“ (Butler 2001: 21) erzeugt auch unsere Fähigkeit zu handeln. „Das Subjekt bezieht seine Handlungsfähigkeit aus eben der Macht, gegen die es sich stellt“ (ebd.: 22). „Nur indem ich die verletzende Bedingung übernehme – oder indem ich von ihr besetzt bin –, kann ich ihr die Stirn bieten und aus der mich konstituierenden Macht die Macht machen, gegen die ich mich wende“ (ebd.: 100).
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Verweise: Geschichte Gewalt Patriarchat Rassismustheorien Sozialistischer Feminismus
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Heike Kahlert
Differenz, Genealogie, Affidamento: Das italienische ,pensiero della differenza sessuale‘ in der internationalen Rezeption
Die Diskussionen der Frauen- und Geschlechterforschung über Gleichheit und/oder Differenz sowie über die Konstruktion und Dekonstruktion von Geschlecht kommen nicht vorbei am pensiero della differenza sessuale, dem in der italienischen Frauenbewegung entwickelten Denken der Geschlechterdifferenz. Zu den Stärken dieses Ansatzes, auch ‚Differenzdenken‘ genannt, gehört die enge Verknüpfung des Persönlichen mit dem Politischen bzw. von Theorie und Praxis. Hauptvertreterinnen sind das Autorinnenkollektiv der Mailänder Libreria delle donne (‚die Mailänderinnen‘, kurz: Libreria) und die Veroneser Philosophinnengemeinschaft DIOTIMA, darunter Luisa Muraro (Libreria und DIOTIMA) sowie Anna Maria Piussi, Chiara Zamboni und bis Anfang der 1990er Jahre auch Adriana Cavarero (alle DIOTIMA).
Zentrale Thesen und Definitionen Das Denken der (Geschlechter-)Differenz Diese Italienerinnen stellen in Anlehnung an Luce Irigaray (1979, 1980) die These auf, dass die Geschlechterdifferenz im abendländischen Diskurs bisher nicht als egalitäre Differenz gedacht worden sei, sondern sich innerhalb einer Identitätslogik bewege, in der Weiblichkeit nur als Negation und Komplementarität von Männlichkeit gelte. ‚Differenz‘ ist in diesem Ansatz eine offene Potenzialität und ähnelt der von Jacques Derrida (z.B. 1990) als différance benannten Kunstfigur, einer strukturellen (nicht inhaltlichen!) Qualität des Unterschieds, die weder hörnoch sprechbar ist. Diese irreduzible Differenz meint das ganz andere Andere und steht im Gegensatz zu Identität (nicht Gleichheit). Die meisten Vertreterinnen dieses Ansatzes lassen offen, was die Geschlechterdifferenz inhaltlich ausmacht, und lehnen die Unterscheidung zwischen biologischen und sozialen Aspekten des Geschlechts als moderne Spaltung von Körper und Denken ab. Muraro (1993, 2006) versteht ‚Geschlecht‘ als „fleischlichen Kreis“, dessen Zeichen die symbolisch-materielle Einheit des Körpers ist. Zweigeschlechtlichkeit ist in diesem Theorem eine symbolische Konstruktion, die als Differenz erst noch zu etablieren ist, in der Weiblichkeit nicht länger auf Männlichkeit zurückgeführt werden kann. Erst ein Denken der irreduziblen Geschlechterdifferenz ermöglicht demnach, mehr als zwei Geschlechter zu unterscheiden. Die Differenzdenkerinnen unterscheiden neben der Differenz zwischen den Geschlechtern noch die Differenz zwischen Frauen (z.B. durch Klasse, ethnische Zugehörigkeit) und die Differenz innerhalb jeder einzelnen Frau (durch die verschiedenen Erfahrungs- und Reflexionsdimensionen). Das zugehörige Subjekt ist gespalten, fragil, immer prozessierend und jenseits der (Geschlechter-)Differenz nicht denkbar.
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Weibliche Genealogie und die symbolische Ordnung der Mutter Voraussetzung für Subjektwerdung ist den Differenzdenkerinnen zufolge die Geburt und damit die Erfahrung der Mutterschaft (vgl. Cavarero 1992b, Muraro 1993, 2006). Die ‚Mutter‘ ist in diesem Ansatz jedoch nicht nur die reale Frau, die Kinder zur Welt bringt und sozial ‚bemuttert‘, sondern auch eine sprachliche Repräsentation und der Schlüsselsignifikant in der symbolischen Ordnung. Damit revidieren die Differenzdenkerinnen Jacques Lacans psychoanalytische Theorie, nach der es keine vom Mann unabhängige weibliche Subjektivität geben kann: Subjektivität entwickelt sich ihrer Ansicht nach durch wechselseitiges Vertrauen und Anerkennung zwischen Mutter und Kind im Spannungsfeld von Autonomie und Verbundenheit. Welchen Platz der Mann und Vater in dieser symbolischen Ordnung der Mutter einnimmt, bleibt bisher theoretisch undeutlich. Differenzdenkerinnen gehen davon aus, dass die inter- wie intragenerationalen Beziehungen zwischen Frauen in traditionellen Geschlechterverhältnissen relativ instabil sind und treten für die (Wieder-)Herstellung der weiblichen Genealogie durch Stärkung der realen und symbolischen Mutter-Tochter-Beziehung ein (vgl. Muraro 1987, 1989, Cavarero 1992b).
Weibliche Freiheit, weibliche Autorität und die Politik des ‚affidamento‘ Anknüpfend an die politische Praxis der Selbst-Erfahrung und des Selbst-Bewusstseins (autocoscienza) aus den Anfängen der neuen Frauenbewegung entwickeln diese Differenzdenkerinnen eine Politik der Beziehungen unter Frauen, in der sich Frauen einander anvertrauen, wechselseitig aufgrund ihrer unterschiedlichen Erfahrungen und Kompetenzen Autorität verleihen, weibliche Freiheit entstehen lassen und damit in vertragsförmigen Beziehungen sukzessiv die weibliche Genealogie (wieder)herstellen (affidamento). Diese politische Praxis der Anerkennung ist „Politik in erster Person“ (Libreria 1996a: 61). Sie knüpft an radikaldemokratische Vorstellungen an und wird als „primäre“ Politik von der „sekundären“ Politik der Repräsentation unterschieden (Libreria 1996a). Diese Italienerinnen bevorzugen folglich die ‚Politik der Frauen‘ und lehnen die ‚Politik für Frauen‘ ab. ‚Autorität‘ beschreibt als symbolisch vermittelte Beziehungsqualität in Weiterführung von Hannah Arendt (1970, 1994) eine „auf Vertrauensbasis gegründete Verbindlichkeit“ (Mariaux 1993: 2), die sich auf die Bereitschaft und Fähigkeit der Einzelnen gründet, aneinander zu wachsen und voneinander zu lernen. Autorität ist also ein Prozess und Produkt von Kommunikation, Beziehung und (Ver-)Bindung (vgl. DIOTIMA 1999b). ‚Macht‘ meint im Differenzdenken vor allem unpersönliche Unterordnung, Zwang und Unterdrückung. Hier artikuliert sich nicht das eher positive, auf Zusammenschluss beruhende, Machtverständnis Hannah Arendts, sondern ein Machtbegriff in Anlehnung an Max Weber, für den Macht „jede Chance (bedeutet, H.K.), innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“ ‚Herrschaft‘ ist demnach „die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“ (Weber 1980: 28). Differenzdenkerinnen sprechen zumeist nur von ‚Macht‘, auch wenn sie eigentlich ‚Herrschaft‘ im Weberschen Sinne meinen (vgl. DIOTIMA 1999b). ‚Weibliche Freiheit‘ resultiert im Differenzdenken wie bei Arendt aus der Anerkennung des Gebundenseins. Frei wird eine Frau dieser Paradoxie zufolge, wenn sie sich anderen Frauen zuwendet, um in diesen ein Maß und einen Spiegel für das eigene Denken, Handeln, Wollen und Begehren zu finden.
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Grundlegende Studien und Debatten zum Differenzdenken „Mehr Frau als Mann“ – Differenzdenken in verschiedenen Diskursfeldern Das Differenztheorem wird insbesondere von den DIOTIMA-Philosophinnen in verschiedenen Diskursfeldern vertieft (vgl. DIOTIMA 1989, 1990, 1992, 1996, 1999a, 1999b, 2002, 2005). Beispielsweise hat Muraro aus dieser Sicht (1993, 2006) eine psychoanalytische Theorie entworfen (vgl. Kahlert 1996b: 111-151), Piussi (1989, 1990) wendet es auf pädagogische Fragestellungen, wie z.B. Ko- oder Monoedukation und Curriculumentwicklung an, Cavarero (1990, 1992a, 1992b) reformuliert aus Differenzperspektive die demokratischen Grundwerte und den Gesellschaftsvertrag (vgl. zur italienischen Rezeption z.B. Calloni 1995, Janowski 2002), und Zamboni (2005) zeigt aus immer neuen Blickwinkeln, wie das menschliche Begehren auf dem Weg über die Sprache – über „wahre“ oder „unverbrauchte“ Worte eben – die Beziehungen zwischen Menschen untereinander, aber auch zwischen Menschen und den Dingen, die sie umgeben, und den Umständen, in denen sie leben, vermittelt. Diese Differenzdenkerinnen treten seit der Flugschrift „Mehr Frau als Mann“ (Libreria 1996b) und der weiteren Ausarbeitung der Politik des ‚affidamento‘ (Libreria 1988) dafür ein, Geschlechterpolitik als Querschnittspolitik und nicht als spezielle Politik zu betreiben und zu institutionalisieren, da eine besondere Frauenpolitik die weibliche Unterordnung unter das männlich-geprägte Allgemeine bestätigen würde. Zudem plädieren sie wie Irigaray für eine „Bisexualisierung“ des Rechts (Cavarero 1990). Geschlechtsdifferenzierte Rechte müssten u.a. die Freiheit von Frauen, die Unverletzlichkeit des weiblichen Körpers sowie die gegenseitigen Pflichten zwischen Müttern und Kindern, aber auch zwischen Müttern und Vätern regeln (vgl. Irigaray 1990).
Internationale Rezeption dieses Differenzdenkens Vor allem in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren erweckten die Thesen dieser Italienerinnen im Licht der neu entflammten Debatte um Gleichheit und/oder Differenz auch im deutschen Sprachraum große Aufmerksamkeit. Die differenztheoretische Geschlechterphänomenologie wurde als trivial, (neo-)konservativ bzw. affirmativ verworfen (z.B. Schuller 1990, Moser 1994), in verschiedene Richtungen kritisch gewendet (vgl. Lorey 1991, Knapp 1991, Schmidt 1994), u.a. zum Potenziale-Konzept (vgl. Roloff/Metz-Göckel 1995) und zur Spielart des postmodernen Denkens von „Differenz als Positivität“ (Kahlert 1996b, 1999, ähnlich Kroker 1994), oder aber bejaht (vgl. Günter z.B. 1996, 1998, 2001, 2003). Viele widersprachen der Ablehnung von Gleichstellungspolitik (z.B. List 1989, Knapp 1991, Bernardoni 1995). Ausgehend von der Politik des ‚affidamento‘ untersuchte Susanne Keil (2000) in einer empirischen Studie geschlechtshomogen-weibliche Mentoring-Beziehungen von Frauen in Führungspositionen. In den Debatten über verschiedene Generationen in Frauenbewegung und -forschung (vgl. Knapp 1994, Stoehr 1994) wurde der Differenzansatz rezipiert, ebenso in der feministischen Theologie. Theresia Wintergerst (2006) überprüfte die Transfermöglichkeiten der Differenzphilosophie und -politik in die politische Bildungsarbeit am Beispiel von Nichtregierungsorganisationen im entwicklungspolitischen Kontext. Auch die feministische Bildungsdiskussion ließ sich von ‚den‘ Italienerinnen inspirieren (z.B. Schmidt 1994, Kahlert 1995, 1996a, Haasis 2002, Markert 2002, Graff 2004, Günter 2006), und Pädagoginnen wie Literaturwissenschaftlerinnen lasen exemplarisch in der weiblichen Genealogie (z.B. Günter/Mariaux 1994, Markert 1998). Im angelsächsischen Sprachraum ist die italienische Differenztheorie und -politik mehr oder weniger unbekannt (vgl. jedoch Cicioni 1989, Bono/Kemp 1991, Kemp/Bono 1993). Ihr Essen-
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zialismus und Eurozentrismus treffen auf scharfe Kritik – ungeachtet der Vermittlungsversuche von so bekannten feministischen Theoretikerinnen wie Teresa de Lauretis (1989, 1990) und Rosi Braidotti (z.B. 1991: 263-273). Beide weisen darauf hin, dass zu den Grundlagen feministischer Theoriebildung kontinentaler wie angloamerikanischer Prägung die Redefinition der weiblichen Subjektivität gehöre, nämlich die feministische Konzeption von ‚Frau‘, ‚Frauen‘ und ‚der Welt‘. Die verschiedenen Feminismen verfolgten dabei jeweils das Ziel, den traditionellen eurozentrischen, auf Descartes zurückgehenden, Dualismus von Natur und Kultur bzw. ‚sex‘ und ‚gender‘ zu überwinden. Feministische Theoriebildung könnte es sich nicht leisten, das Risiko des Essenzialismus und der essenziellen Differenz gegenüber der herrschenden soziohistorischen Ordnung nicht einzugehen, das mit der Redefinition der weiblichen Subjektivität verbunden sei. Ansonsten müssten die feministische Orientierung und damit die eigenen Grundlagen aufgegeben werden: das Ausgehen von und das Eintreten für ‚Frauen‘.
Aktuelle Entwicklungen im Differenzdenken „Das Patriarchat ist zu Ende“ – Differenzdenken als Spielart des postmodernen Diskurses In neueren Schriften stellen die Mailänderinnen in Weiterführung der Ideen zum Entstehen weiblicher Freiheit (vgl. Libreria 1988) die These auf, dass wir in der „Zeit des zu Ende gehenden Patriarchats“ (Libreria 1996a: 64) lebten. Mit dem durch die „weibliche Revolution“ (Libreria 1996a: 22) ausgelösten Ende des Patriarchats gehe eine identitätsstiftende Herrschaftsform gesellschaftlich und symbolisch zu Ende. Dies zeige sich u.a. in einer steigenden Erwerbsbeteiligung von Frauen, in der freien Interpretation der Geschlechterdifferenz (vieler Frauen und einer wachsenden Zahl von Männern) sowie in der Krise der modernen Institutionen (z.B. Staat, Parlamente, Familie). Im deutschsprachigen Diskurs wurden diese Thesen bisher nur vereinzelt aufgegriffen, so z.B. in Reflexionen zur „Kopfkrise in der Frauenforschung“ (Kurz-Scherf 1997), über politische Strategien von Frauen (Moser/Praetorius 2003) oder in einem Dokumentarfilm (Schärer 2001). Heike Kahlert (1999, 2000, 2004) beleuchtet sie im Licht postmoderner Überlegungen zum Ende der großen Erzählungen (vgl. Lyotard 1994) sowie reflexiv-moderner Zeitdiagnosen zu EntTraditionalisierungsprozessen. Die Präzisierung des Patriarchatsbegriffs der Mailänderinnen und die empirische Fundierung ihrer Thesen stehen noch aus.
Differenzpolitik im Licht von Geschlechterdemokratie und Gender Mainstreaming Dass Frauen handlungs- und gestaltungsmächtige Konstrukteurinnen des mit der Verwirklichung von Geschlechterdemokratie notwendig werdenden neuen Gesellschaftsvertrags sind, steht für die Differenzdenkerinnen außer Frage. In neueren Schriften diskutieren sie darüber, zur Verwirklichung dieser Utopie auch ziel- und zweckgerichtete politische Bündnisse mit Männern einzugehen, „die die männliche Differenz frei interpretieren“ (Libreria 1996a: 31). Nun wird verständlicher, warum diese Italienerinnen auch die Politik des Gender Mainstreaming ablehnen. Diese setzt zwar die Verwirklichung von Geschlechterdemokratie als querschnittsorientierter integrativer Gemeinschaftsaufgabe beider Geschlechter um. Das im Gender Mainstreaming auch enthaltene Top-down-Prinzip erweist sich jedoch aus Sicht der Differenzdenkerinnen als machtpolitische Strategie, denn es widerspricht der von ihnen favorisierten horizontalen bzw. bottomup operierenden Politik und Ethik der Anerkennung.
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Ausblick auf Forschungsfragen und Zukunftsvisionen Erkenntnistheoretische und methodologische Reflexion des Differenzdenkens Die Differenzdenkerinnen setzen an der symbolisch-kulturellen Ebene als zentraler Ebene von Macht an. Wie Sprache bzw. symbolische Ordnung, gesellschaftlicher Wandel und politische Praxis im „symbolischen Materialismus“ (Libreria 1996a: 48) dieser Italienerinnen zusammenwirken, ist theoretisch bisher unbegriffen. Gesellschaftstheoretisch weiterführend könnte eine Lesart des Differenzansatzes als Vermittlungsversuch zwischen der Dualität von Struktur und Handeln sein, die inspiriert ist von Anthony Giddens’ Strukturierungstheorie (1995). Nach Giddens kann ‚Struktur‘ als das Medium und Resultat des Handelns verstanden werden – beide sind wechselseitig aufeinander bezogen, denn Strukturen existieren nicht außerhalb von Handlungen. Die Strukturmomente von Sozialität sind demnach fortwährend in die laufende Produktion und Reproduktion individuellen und kollektiven Handelns einbezogen. Anknüpfend an Giddens’ Überlegungen wäre die im Differenzansatz prämierte symbolische Ordnung allerdings nur eine Strukturdimension sozialer Systeme, nämlich die Dimension der Signifikation, während sie die Giddens’ ebenfalls wichtigen Strukturdimensionen der Herrschaft und der Legitimation vernachlässigen. Die politische Praxis, die im Differenzansatz so wichtig ist, stellte in Giddens’ Strukturierungstheorie eine Form des ‚Handelns‘ dar. Die von den Differenzdenkerinnen immer wieder betonte Notwendigkeit der Arbeit von Frauen an der symbolischen Ordnung ließe sich in dieser Systematik als eine strukturierungstheoretisch fassbare Dimension des sozialen Wandels für die Verwirklichung von Geschlechterdemokratie deuten.
‚Differenza sessuale‘ versus ‚sex-und-gender‘ Die Philosophinnen von Libreria und Diotima greifen die postmoderne Kritik an etablierten sozialstrukturellen Ungleichheitskategorien und damit auch an der Unterscheidung von ‚sex‘ und ‚gender‘ auf und setzen den unüberwindbar scheinenden Dualitäten die Idee reflexiver Vermittlung – z.B. von Struktur und Handlung bzw. Symbolischem und Materialität – entgegen. So betrachtet erweist sich der Streit zwischen materialistisch-empiristischen und (de)konstruktivistischen Theorieströmungen in der Frauen- und Geschlechterforschung im Licht des Differenzdenkens als „Scheinkontroverse“ (Kahlert 1996b): Der Differenzansatz ermöglicht, durch seine Orientierung an den Erfahrungen von Frauen die Geschlechterdifferenz als historisch konstituiert zu fassen und lässt zugleich zu, die soziale (Re-)Konstruktion der Geschlechterdifferenz mit dem Eintritt in die symbolische Ordnung der Zweigeschlechtlichkeit zu analysieren. Der theoretisch-systematische Vergleich beispielsweise der Arbeiten von Luisa Muraro (z.B. 1993, 1994, 2001, 2006) und Judith Butler (z.B. 1991, 1995) könnte sich so als innovativ erweisen und der feministischen Theoriebildung neue Impulse geben. Des Weiteren bietet sich eine nähere Betrachtung des im Differenzansatz angelegten Mehrebenenmodells der Differenz an: Der Ansatz scheint zwar die Geschlechterdifferenz als Differenz zu prämieren. Er ergänzt diese Ebene aber um die Ebenen weiterer Differenzachsen wie Klasse und ethnische Zugehörigkeit und der Differenz innerhalb des Subjekts. Damit leistet er einen noch näher auszulotenden Beitrag zur aktuellen Debatte über Intersektionalität (vgl. z.B. McCall 2005).
Differenz, Genealogie, Affidamento
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Ideengeschichtliche und kulturtheoretische Kontextualisierung des Differenzdenkens Die internationale Rezeption des italienischen Differenzdenkens ist verhalten. Insbesondere zu den aktuellen Entwicklungen sind weiterführende Reflexionen rar, obwohl viele neuere Schriften übersetzt und z.T. ergänzend kommentiert sind (vgl. DIOTIMA u.a. 1999b, Frankfurter Frauenschule/Jürgens 1999; vgl. zur feministischen Philosophie in Italien allgemein Fortuna/Heinau 2004). Eine ideengeschichtliche und kulturtheoretische Analyse der internationalen Rezeptions‚karriere‘ des Differenzdenkens könnte schließlich nähere Auskunft über den (heimlichen) „kulturellen Imperialismus“ (Bono/Kemp 1991: 1) bzw. Anglozentrismus der Frauen- und Geschlechterforschung und damit implizit auf ihre Zukunft in einer sich globalisierenden Welt geben. Verweis: Feministische Philosophie Französischer Feminismus
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Differenz, Genealogie, Affidamento
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Ulla Bock
Androgynie: Von Einheit und Vollkommenheit zu Vielfalt und Differenz
Die Idee der Androgynie gehört zu den Gedankengebäuden, in denen Grenzziehungen sichtbar und Grenzüberschreitungen thematisiert werden; sie hat eine lange Tradition, die unzählige Ausdeutungen und Figuren hervorgebracht hat. Wenn wir dieser Ideengeschichte folgen, werden Veränderungen im Verständnis von Androgynie erkennbar, die den Wandel des Menschenbildes reflektieren und damit verbunden auch den Wandel des Geschlechterverhältnisses. Trotz dieses Wandels ist das Ziel der Androgyniedebatten gleichbleibend: die Aufhebung fixierter binärer Geschlechtergrenzen. Androgynie drückt nicht nur die Möglichkeit aus, dass das, was gemeinhin unter Weiblichkeit und Männlichkeit verstanden wird, in einer Person vereint existiert, sondern verweist auch auf den Prozess, infolgedessen unsere Vorstellungen (Bilder) von Weiblichkeit und Männlichkeit mehr und mehr an Kontur verlieren. Androgynie ist eine Metapher für personale Vielfalt.
Entwicklung der Androgynie-Diskussion in den 1970er und 1980er Jahren Die Bilder des Androgynen tauchen in den Auseinandersetzungen über das Geschlechterverhältnis immer wieder auf, und in diesen sind deutlich zeitliche Höhepunkte auszumachen. So bekam in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts die Androgynie-Diskussion im Zusammenhang mit den Emanzipationsbewegungen dieser Zeit einen neuen Schub. Es wurde nach Konzepten gesucht, die Frauen einen Weg aus einengenden und diskriminierenden Positionen in der Gesellschaft zeigen konnten. Nachdem die ersten US-amerikanischen Veröffentlichungen zum Thema Androgynie ins Deutsche übersetzt waren, entwickelten sich heftige Debatten auch in bundesdeutschen Hochschulen. Die These von der „androgynen Revolution“ (Badinter 1986) wurde von Massenmedien aufgenommen und damit ins Alltagsbewusstsein gehoben. Die oberflächliche, mediengelenkte Beschäftigung mit dem Thema hat jedoch vor allem so schillernde Figuren wie David Bowie, Madonna, Michael Jackson, Boy George und k.d. Lang ins Licht gerückt und damit wohl eher der Lust nach Anschauung von Abweichung und Exotik Genüge getan, als ein Bewusstsein davon geschaffen, dass in jedem Menschen die Grenzen dessen, was wir mit weiblich und männlich bezeichnen, fließend sind. Im Gefolge dieser neueren Diskussionen über Androgynie sind unzählige Studien entstanden. Nachgespürt wurde der Androgynie als Motiv in der Philosophie und Religionswissenschaft, vor allem aber in der Kunst und Literatur. So legte beispielsweise Aurnhammer (1986) eine Motivgeschichte für die europäische Literatur vor, mit der er nachweisen konnte, dass sich das Androgynie-Motiv im Laufe der Zeit von einer bloß akzidentiellen Zutat zu einem substantiellen und integralen Bestandteil entwickelte und als Schlüsselmotiv für das Gesamtwerk einzelner Autoren angesehen werden kann. Zudem konnte Aurnhammer im Nachzeichnen der ideen-
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geschichtlichen Entwicklung bestätigen, dass es zeitliche Höhepunkte der Thematisierung von Androgynie gibt. Diese Feststellung ist für die sozialwissenschaftliche Konzeptionierung der Androgynie relevant, denn auch hier ist erkennbar, dass insbesondere in Zeiten des (krisenhaften) gesellschaftlichen Umbruchs, in denen auch das Geschlechterverhältnis neu verhandelt wird, das Thema Konjunktur hat. In der (Sozial-)Psychologie ist in den letzten 30 Jahren das Konzept der „psychischen Androgynie“ entwickelt worden (Bierhoff-Alfermann 1989, 1996 und Bock/Alfermann 1999). Mit einem inzwischen ausgefeilten methodologischen Instrumentarium wird versucht, Androgynie zu operationalisieren und damit nachweisbar bzw. messbar zu machen. Ausgangspunkt ist die These, dass der Mensch genetisch nicht auf die Herausbildung von entweder femininen oder maskulinen Merkmalen festgelegt ist, sondern sowohl feminine als auch maskuline Merkmale entwickeln kann, dabei wurden unterschiedliche „Mischformen“ experimentell untersucht. In der Diskussion über die verschiedenen Formen von psychischer Androgynie wird eine als „optimale“ hervorgehoben. Sie gilt dann als gegeben, wenn eine Person über beide Genderorientierungen in einem „ausgewogenem Maße“ verfügt. Die Vorteile von psychisch androgynen gegenüber gendertypisierten Personen werden – auch bei den KritikerInnen des Androgynie-Konzepts – nicht angezweifelt; als solche gelten vor allem ein breiteres Spektrum an Handlungsmöglichkeiten und ein größeres Maß an Flexibilität und Anpassungsfähigkeit an die jeweiligen Anforderungen einer Situation sowie mehr emotionale Ausgeglichenheit und ein höheres Maß an Selbstwertgefühl. Das positive Selbstwertgefühl wiederum korreliert mit höherer psychischer Gesundheit. Allerdings – so wird betont – beruhen die höheren Werte beim Selbstwertgefühl und bei der psychischen Gesundheit bei beiden Geschlechtern auf maskulinen Identitätskomponenten (Sieverding/Alfermann 1992). Im Kontext dieser Forschungen konnte die These von der zunehmenden Angleichung der Geschlechter in modernen Gesellschaften empirisch untermauert werden. Auch in den biologisch fundierten Forschungsrichtungen wurde mehr und mehr darauf hingewiesen, dass es keine trennscharfen Linien zwischen weiblichen und männlichen Körpern gibt, sondern – morphologisch gesehen – ein Kontinuum zwischen weiblicher und männlicher Gestalt. Dieses Kontinuum in zwei eindeutig definierte, sich gegenseitig ausgrenzende Geschlechtergruppen zu teilen und diese wiederum mit spezifischen Merkmalen zu charakterisieren, die dann als entweder weiblich oder männlich identifiziert werden, wird als eine Eigentümlichkeit gesellschaftlicher Interpretation von Wirklichkeit angesehen und entspricht nicht den vielfältigen menschlichen Seinsmöglichkeiten (Fausto-Sterling 2002). Die Theorie, dass Geschlecht ein soziales Konstrukt ist, wird erhärtet durch ein Wissen, das aus Forschungsarbeiten der historischen Anthropologie und insbesondere der Ethnologie, die von alternativen Geschlechterkonzeptionen berichten, gewonnen werden kann (Schröter 2002). Androgynie ist damit nicht mehr nur ein Stoff für Mythen und Utopien, für faszinierende Figuren in der Literatur und Kunst, sondern auch ein Phänomen realer individueller und gesellschaftlicher Entwicklungen. Anders gesagt: Androgynie ist nicht mehr nur eine Angelegenheit der Ästhetik und der Entscheidung über Werte (Giddens 1993: 214), sondern gleichfalls eine Frage der wissenschaftlichen Analyse und Empirie.
Kritik am Androgynie-Konzept In den gegenwärtigen Debatten über die Bedeutung von Geschlecht und das Verhältnis zwischen den Geschlechtern spielt das Konzept der Androgynie nur mehr eine marginale Rolle. Die feministischen Diskussionen in den vergangenen 30 Jahren schürten nicht nur die Faszination, sondern schärften auch die Kritik an den Figuren des Androgynen.
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Es sind im Wesentlichen zwei Kritikpunkte, die zu der Position führen, es wäre besser, auf das Konzept der Androgynie zu verzichten: Der erste Kritikpunkt bezieht sich auf die semantische Erblast, womit gemeint ist, dass der Androgyn allein schon aufgrund seines grammatikalischen Geschlechts eine männliche Figur sei und nachweislich auch die Figurationen von Androgynie männlich konnotiert seien. Der zweite Kritikpunkt nennt den Aspekt der Harmonisierung; kritisiert wird, dass die durch den Androgynen-Mythos inspirierte Versöhnung zwischen dem Männlichen und Weiblichen nicht nur das traditionelle Verständnis von „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“ weitgehend bewahrt, sondern auch die wertende Hierarchie zwischen den Geschlechtern aufrechterhält. Wissend um die Macht der Bilder, betonen Schmerl/Großmaß (1996), wie wichtig es sei, neue Bilder, im Sinne von wählbaren Vor-Bildern zu entwickeln, die eine Orientierung bieten. Sie vertreten stellvertretend für viele die Position, dass Androgynie zwar zu einer „Unschärfe an den Rändern der Geschlechterbilder“ führen, aber keine davon abweichenden Bilder freisetzen könne. Hinzu kommt eine immanente Paradoxie des Begriffs. Sie besteht darin, dass wir beim Nachdenken und Sprechen über Androgynie immer wieder neu darauf verwiesen werden, das als Ausgangs- und Bezugspunkt zu nehmen, was die Idee der Androgynie aufzulösen versucht: die fixierten und normativ gesetzten Grenzziehungen zwischen Weiblichkeit und Männlichkeit. Ihr lässt sich nur entgehen, wenn Androgynie nicht definitorisch festgelegt, sondern als epistemologisch offener Begriff verwendet und somit dem gesellschaftlichen und dem individuellen Wandel nicht entzogen wird. Zu fragen bleibt, ob die realen gesellschaftlichen Veränderungen die ungleich verteilte Deutungs- und Definitionsmacht zwischen den Geschlechtern dermaßen verändern werden, dass auch die Vorstellungen des Androgynen nicht nur als ein „Übergangsphänomen“ (Schmerl/ Großmaß 1996: 310) gewertet, sondern als ein Konzept im heuristischen Sinne fruchtbar gemacht werden können. Diese Fragestellung zielt auf empirisch nachvollziehbare Prozesse der Annäherung der Geschlechter in modernen Gesellschaften, in denen die Hierarchie im Geschlechterverhältnis an institutioneller Stabilität und die Typisierungen von Weiblichkeit und Männlichkeit an Kontur verlieren.
Von der Androgynie zum cross dressing In der aktuellen feministischen Theoriediskussion haben sich die Debatten seit Beginn der 1990er Jahre im Zusammenhang mit dem Theorem von der Konstruktion des Geschlechts radikalisiert und internationalisiert und wurden mit anderen Begriffen weitergeführt. Androgynie wird nunmehr als ein altmodischer, theoretisch überholter Begriff abgelehnt. Ausgehend von der US-amerikanischen transgender-Bewegung ist es nun auch im deutschsprachigen Raum modischer geworden, von transgender und transgression, von cross dressing, Travestie und Maskerade oder auch von gender bending oder gender crossing zu sprechen; die führenden Theoretikerinnen sind Judith Butler, Majorie Garber und Joan Riviere. Es herrscht eine verwirrende Begriffsvielfalt; so ist z.B. unklar, ob die Begriffe gender crossing und cross dressing wirklich einen bedeutsamen Unterschied markieren. Es wird betont, dass es beim cross dressing nicht nur um einen oberflächlichen Tausch von Kleidern geht, sondern „vielmehr um eine entsprechende Ausrichtung der ganzen Persönlichkeit, um öffentliches und privates Auftreten, um Rollenverhalten und gesellschaftliche Anerkennung in der selbstgewählten Rolle“ (Penkwitt/Pusse 1999: 9). Aber auch der Begriff gender crossing zielt auf „das Moment der Überschreitung hegemonialer Geschlechterstereotypen“ (Schröter 2002: 14). In der radikalen Weiterführung des Gedankens ist das Ziel nicht mehr nur die „wirkliche“ Aufhebung der Grenzen zwischen den Geschlechtern, sondern weitergehender noch das „Verschwinden der Geschlechter“. Es ist zu fragen, ob der Begriffswechsel nur eine modische Attitüde ist oder in der Tat eine neue Perspektive begrifflich erfasst, mit der es gelingen könnte, den Aporien des Identitätsden-
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kens und der wirkungslosen Gleichheitspostulate zu entkommen (Funk 1997: 70). Dass es sich vielfach tatsächlich nur um eine Anpassung an eine modische Begrifflichkeit handelt, zeigt beispielsweise eine aktuelle Abhandlung über Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre und zu Virginia Woolfs biografischer Fiktion Orlando, die beide in der Vergangenheit vielfach unter dem Aspekt der Androgynie betrachtet wurden und nun unter der Überschrift „Cross-Dressing und Poetik“ (Schößler 1999) vorgestellt werden; zudem werden Androgynie und Cross-Dressing nahezu synonym verwendet. Dagegen vermeiden andere Theoretikerinnen den Begriff der Androgynie konsequent. So beschreibt z.B. Gertrud Lehnert „Maskerade“ als eine „bewusste Entscheidung“, die neue Lebensformen „außerhalb des dominanten Diskurses“ eröffnen könnte. Lehnert zufolge ist das, was Maskerade ausmacht, eine permanente Bewegung, in der sich das Problem von Schein und Sein pointiert darstellt: „Sowohl weiblich als auch männlich und zugleich weder weiblich noch männlich, sondern beides durchquerend, an beiden teilhabend, ohne es zu sein, immer auf der Suche nach einem anderen, das als stabile Position indessen nicht erreicht werden kann“ (Lehnert 1997: 129). Mit dieser ständigen Verschiebung von einer Polarität zu einer anderen würden – so Lehnert – die Polaritäten ihres absoluten Sinnes beraubt. Die Ablehnung des Begriffs der Androgynie folgt somit der Vorstellung, dass es nicht nur zwei Geschlechter, nicht nur eine Differenz zwischen Geschlechtern gibt, sondern eine „Vielzahl von Differenzen und Übergängen“ (ebd.: 193).
Perspektivischer Ausblick In der Tat beobachten wir in den westlichen Industrieländern eine Angleichung der Geschlechter, sowohl äußerlich als auch hinsichtlich der funktionalen Rollen, die Frauen und Männer einnehmen. Diese Annäherung, die auch die psychischen und sozialen Kompetenzen betrifft, ist zwar nicht als eine linear fortschreitende, sich in allen gesellschaftlichen Schichten gleichermaßen und gleichzeitig vollziehende Entwicklung zu beobachten und schon gar nicht als eine konfliktlose, doch es ist nicht zu leugnen, dass Frauen häufiger als je zuvor die normativen Grenzen dessen, was gewöhnlich als weiblich gilt, überschreiten, und Männer längst entdeckt haben, dass ihnen all das, was so gar nicht als männlich erscheint, durchaus entsprechen kann. Das „alte“ Konzept der Androgynie scheint nicht geeignet, ein Bild für die adäquate Gestalt des Menschen im technischen Zeitalter zu liefern, eines Menschen, der über die notwendige Autonomie und Flexibilität verfügt, um die sich aufzwingenden Grenzüberschreitungen zwischen den sozialtechnisch angeglichenen Rollen von Frauen und Männern zu vollziehen und die verbleibenden Widersprüche in sich zu integrieren. Aber es ist – auch im Rahmen der poststrukturalistischen Ausrichtung der feministischen Theoriebildung – eine „neue“ Lesart von Androgynie möglich. Diese besteht darin, Androgynie nicht mehr in bekannter Manier als harmonisierende, sondern als eine „diskontinuierliche Figur“ (Funk 1999) zu verstehen, die gerade durch ihre internen Differenzen und Asymmetrien für den aktuellen Geschlechterdiskurs produktiv gewendet werden kann. In diesem Sinne kann die Androgynie-Debatte in den neueren Diskussionen über die Konstruktion von Geschlecht, in denen es nicht mehr um Einheit und Vollkommenheit, sondern um Vielfalt und Differenz geht, einen erhellenden Hintergrund bieten. Verweise: Differenz, Genealogie, Affidamento Französischer Feminismus Geschlechterstereotype Literatur Mode
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Literatur Aurnhammer, Achim 1986: Androgynie. Studien zu einem Motiv in der europäischen Literatur. Köln, Wien: Böhlau Badinter, Elisabeth 1986: Ich bin Du. Die neue Beziehung zwischen Mann und Frau oder Die androgyne Revolution. München: Piper Bierhoff-Alfermann, Dorothee 1989: Androgynie. Möglichkeiten und Grenzen der Geschlechterrollen. Opladen: Westdeutscher Verlag Bock, Ulla/Dorothee Alfermann, 1999: Androgynie. Vielfalt der Möglichkeiten. Querelles Jahrbuch für Frauen- und Geschlechterforschung. Bd. 4. Stuttgart, Weimar: Metzler Fausto-Sterling, Anne 2002: Sich mit Dualismen duellieren. In: Pasero, Ursula/Anja Gottburgsen (Hrsg.): Wie natürlich ist Geschlecht? Gender und die Konstruktion von Natur und Technik. Opladen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 17-64 Funk, Julika 1999: Die melancholische (Un)Ordnung der Geschlechter in der Moderne und die Androgynie-Utopie. In: Bock, Ulla/Dorothee Alfermann: Androgynie: Vielfalt der Möglichkeiten. Querelles. Jahrbuch für Frauenforschung. Bd. 4. Stuttgart, Weimar: Metzler, S. 35-54 Funk, Julika 1997: Judith Butler's „Gender Trouble“. Eine Anstiftung zur Geschlechterverwirrung. In: Gender Studies an der Universität Konstanz. Vortragsreihe im Wintersemester 1996/97. Hrsg. vom Frauenrat der Universität Konstanz. Konstanz, S. 69-78 Giddens, Anthony 1993: Wandel der Intimität. Sexualität, Liebe Erotik in modernen Gesellschaften. Frankfurt/M.: Fischer Lehnert, Gertrud 1997: Wenn Frauen Männerkleidung tragen. Geschlecht und Maskerade in Literatur und Geschichte. München: dtv Penkwitt, Meike/Tina-Karen Pusse 1999: Cross-dressing und Maskerade. Einleitung zu Crossdressing und Maskerade. Freiburger FrauenStudien, Jg. 5, H. 1, S. 9-15 Schößler, Franziska 1999: „Als sie ein Knabe war“ – Cross-dressing und Poetik in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre und Woolfs Orlando. In: Cross-dressing und Maskerade. Freiburger FrauenStudien. Jg. 5, H. 1, S. 61-74 Schröter, Susanne 2002: FeMale. Über Grenzverläufe zwischen den Geschlechtern. Frankfurt/M.: Fischer Schmerl, Christiane/Ruth Großmaß 1996: Menschlichkeitsbilder oder Geschlechterdivisionen? Eine Plünderung des feministischen Familienalbums. In: Dies. (Hrsg.): Leitbilder, Vexierbilder und Bildstörungen. Über die Orientierungsleistung von Bildern in der feministischen Geschlechterdebatte. Frankfurt/M., New York: Campus, S. 267-326 Sieverding, Monika/Dorothee Alfermann 1992: Instrumentelles (maskulines) und expressives (feminines) Selbstkonzept: ihre Bedeutung für die Geschlechtsrollenforschung. In: Zeitschrift für Sozialpsychologie, H. 1, S. 6-15
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Lesbenforschung und Queer Theorie: Theoretische Konzepte, Entwicklungen und Korrespondenzen
Lesbenforschung Lesbenforschung bezeichnet den Korpus kritischen Wissens über Lesben, lesbische Lebensformen und Geschichte aus einer Vielzahl disziplinärer Perspektiven. Schwerpunkte der Forschung liegen in den Sozial- und Erziehungswissenschaften, der kritischen Sexualwissenschaft und der Psychologie sowie der Geschichte und den Literaturwissenschaften. Lesbenforschung entstand ab Anfang der 1970er Jahre meist außerhalb der Hochschulen im Kontext selbstorganisierter politischtheoretischer Zusammenhänge wie feministischen und lesbischen Archiven (z.B. das Archiv „Spinnboden. Archiv zur Entdeckung und Bewahrung von Frauenliebe“, Berlin) und Zeitschriften (z.B. die zwischen 1990 und 2004 erscheinende „IHRSINN – eine radikalfeministische Lesbenzeitschrift“, Bochum) ohne nennenswerte institutionelle oder finanzielle Absicherung. Die Mehrzahl der Studien wurde zunächst als Examensarbeit oder Dissertation angefertigt, ohne dass Lesbenforschung ein anerkannter Forschungs- und Lehrzweig an deutschsprachigen Hochschulen geworden wäre. Auch in den seit Mitte der 1990er Jahre entstehenden Studiengängen für Geschlechterforschung bzw. Gender Studies finden sich nur gelegentlich Lehrveranstaltungen zu Themen der Lesbenforschung. Ein Forum für die Präsentation neuer Forschungen sowie für inhaltlichen und professionellen Austausch bieten die autonom organisierten „Symposien deutschsprachiger Lesbenforschung“, die seit 1991 an wechselnden Orten stattfinden (Berlin 1991, Zürich 1993, Hamburg 1995, Berlin 1998, Bielefeld 2000).
Entpathologisierung und Coming-Out Die neue deutschsprachige Lesbenforschung ab Anfang der 1970er Jahre ist zunächst bestrebt, sich kritisch von älteren psychiatrischen, pathologisierenden und kriminalisierenden Ansätzen der Untersuchung weiblicher Homosexualität zu distanzieren. Insbesondere handlungstheoretische soziologische Perspektiven bestimmen die ersten Studien. So führt etwa Siegrid Schäfer (1975) in ihrer Studie lesbischer Frauen eine symbolisch-interaktionistische Sichtweise von weiblicher Homosexualität ein. Lesbisches Sein wird hier nicht länger als pathologische Veranlagung sondern als Ergebnis symbolisch-interaktiven Handelns verstanden. Inhaltlich stehen in dieser ersten Phase Themen wie Coming-Out, Identität, Sexualität und Diskriminierung im Zentrum. Identitätsbildung und Coming-Out sowie die Rekonstruktion der Geschichte von Frauenliebe und Lesbianismus sind die Themen, die auch international das Forschungsinteresse in den Lesbian Studies bestimmen. Bahnbrechend für die Geschichtswissenschaft ist hier die Studie von Lilian Faderman Surpassing the Love of Men (1981, dt. 1990); für die Soziologie ist besonders Susan Kriegers Studie The Mirror Dance. Identity in a Women’s Community (1983) zu nennen. Ab Mitte der 1970er Jahre ist deutlich ein feministischer Einfluss festzustellen. In den Vordergrund rücken theoretisch-politische Fragen, insbesondere danach, was eine lesbische Frau ist
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bzw. was einen lesbischen Lebensentwurf ausmacht. Ein Verständnis von Lesbianismus als ausschließlich private sexuelle Präferenz bzw. Orientierung wird als reduktionistisch zurückgewiesen. Stattdessen wird eine Definition favorisiert, die Lesbianismus als feministisch geprägten, ganzheitlichen, persönlich-politischen Lebensentwurf versteht: „Ich möchte hier diejenige Frau als lesbisch oder homosexuell bezeichnen, die sich in ihren sozialen, emotionalen, erotischen und auch sexuellen Interessen und Bedürfnissen auf Frauen bezieht, d.h. ihnen eine primäre Stellung in ihrem Leben einräumt, und die sich selbst als lesbisch versteht, hiermit also alle Formen der Diskriminierung gegenüber lesbischen Frauen auf sich nimmt.“ (Brauckmann 1981: 69)
Der wachsende Einfluss der feministischen Bewegung zeigt sich aber auch an den gewählten empirischen Gegenständen: Neben den theoretisch und politisch bedeutsamen Fragen nach individueller lesbischer Identität und der politischen Bedeutung von Lesbianismus rücken Fragen sozialer Bewegungsforschung in den Vordergrund, z.B. die Formen der Selbstorganisation lesbischer Frauen (vgl. Kokula 1983). Aber auch die empirische Untersuchung der vielfältigen Formen von sozialer, politischer und alltäglicher Diskriminierung (vgl. Paczensky 1984, Rheinberg/ Rossbach 1985) spielt nach wie vor eine gewichtige Rolle.
Heterosexualitätskritik, kritisches lesbisches Selbstbewusstsein und Streit um Differenz In den 1980er Jahren entstehen im Anschluss etwa an Lilian Faderman (1981), aber auch an Caroll Smith-Rosenbergs einflussreichen Aufsatz „‚Meine innig geliebte Freundin!‘ Beziehungen zwischen Frauen im 19. Jahrhundert“ (1981) mehrere historische Studien, die die Geschichte lesbischer Lebensformen und Beziehungen, Identitäten, Bewegungen und Kulturen sowie die Geschichte der Produktion wissenschaftlichen Wissens über (weibliche) Homosexualität zum Thema machen. Herausragend ist hier Hanna Hackers (1987) Studie „Frauen und Freundinnen. Studien zur ‚weiblichen Homosexualität‘ am Beispiel Österreich 1870-1938“ (vgl. auch: ELDORADO 1984, Vogel 1985, Schwarz 1983, Schoppmann 1991, Göttert 1987, 1989, 2000). Ein weiterer Schwerpunkt der historischen Forschung ist die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Sexualpolitik (vgl. insbesondere Schoppmann 1991). Daneben entstehen eine Reihe von theoretisch argumentierenden Arbeiten, die, stark von feministischen bzw. lesbisch-feministischen Axiomen inspiriert, eine „lesbische Sehweise in feministischer Theoriebildung“ (Hark 1987b: 91, vgl. auch Pagenstecher 1990) entwickeln und Lesbisch-Sein als Widerständigkeit gegen Heterosexismus artikulieren (u.a. Streib 1985, Hark 1987a, John 1987). Ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein kennzeichnet die Lesbenforschung in dieser Phase: Nicht mehr Entpathologisierung und Coming-Out sind die Themen, sondern die kritische Behauptung einer eigenen Identität und Geschichte sowie der Nachweis wissenschaftlicher Leerstellen zu (weiblicher) Homosexualität. Diese Phase markiert auch den Übergang zu einer kritischen lesbischen Theorie, in der das eigene, aber auch das feministische Wissen (z.B. Hacker 1989) im Hinblick auf seine epistemischen und sozialen Ausschlüsse sowie mythisierenden Effekte (z.B. Hänsch 1987) reflektiert wird. Das Thema der ethnischen, kulturellen, subkulturellen, sozialen und politischen Differenzen zwischen Lesben (z.B. Hark 1989) bestimmt die politischen, zunehmend aber auch die wissenschaftlichen Auseinandersetzungen. Im Gefolge der Rezeption von Adrienne Richs einflussreichem Aufsatz „Zwangsheterosexualität und lesbische Existenz“ (1983) rückt ab der zweiten Hälfte der 1980er Jahre auch die Thematisierung von Zwangsheterosexualität (vgl. Streib 1985) bzw. Heterozentrismus (vgl. Hark 1987a) stärker in den Vordergrund. Nicht die lesbischen Frauen bzw. Lesbianismus seien das Problem, sondern eine Gesellschaft, in der „Heterosexualität zur scheinbar naturwüchsigen, nicht mehr hinterfragten Norm“ (Palzkill 1990: 28) geworden sei. In deutlicher Absetzung von
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der Frauen- und Geschlechterforschung, aber auch historisch vor der Queer Theorie thematisiert die Lesbenforschung das, was Monique Wittig in „The Straight Mind“ (1992) den „heterosexuellen Kontrakt“ genannt hatte, den Konnex also zwischen Heterosexualität „als Herrschaftsform, als persönliche Eigenschaft und als sexuelle Praxis“ (Hacker 1987: 35) und dem „System der Zweigeschlechtlichkeit“ (Hagemann-White 1984). In den 1990er Jahren wird dies in der sich disziplinär und im Hinblick auf die verwendeten theoretischen Ansätze weiter ausdifferenzierenden kritischen Lesbenforschung zum Basisaxiom. Darüber hinaus sind die 1990er Jahre gekennzeichnet von Auseinandersetzungen um die Verortung von Lesbenforschung zwischen feministischer und queerer Theorie, um den politischen Anspruch wissenschaftlicher Forschung, aber auch um die Angemessenheit sozialkonstruktivistischer und dekonstruktivistischer Perspektiven (für einen Überblick vgl. z.B. Marti u.a. 1994, beiträge zur feministischen theorie und praxis 52/1999).
Queer Theorie Queer Theorie bezeichnet einen interdisziplinären Korpus von Wissen, der Geschlecht(skörper) und Sexualität als Instrumente und zugleich als „Effekte bestimmter moderner Bezeichnungs-, Regulierungs- und Normalisierungsverfahren“ (Hark 1993: 104) begreift, d.h. Geschlecht und Sexualität liegen der Kultur nicht voraus, sondern sind gleichursprünglich mit ihr. Eine zweite zentrale – der kritischen Lesbenforschung verwandte – Annahme von Queer Theorie ist die These, dass die Zwei-Geschlechter-Ordnung und das Regime der Heterosexualität in komplexer Weise koexistieren, sich bedingen und wechselseitig stabilisieren. Insbesondere garantieren sie wechselweise jeweils ihre „Naturhaftigkeit“ und beziehen ihre affektive Aufladung voneinander. Damit lenkt die Queer Theorie die theoretische Aufmerksamkeit darauf, dass die – im Sinne eines expressiven, mimetischen oder gar kausalen Verhältnisses gedachte – Kohärenz von sex, gender, Begehren und Identität sozial gestiftet ist. Die theoretisch entscheidende Leistung von Queer Theorie ist es, Heterosexualität analytisch als ein Machtregime rekonstruiert zu haben, dessen Aufgabe die Produktion und Regulierung einer Matrix von hegemonialen und minoritären sozio-sexuellen Subjektpositionen ist. Das bedeutet, dass das Regime der Heterosexualität nicht allein Subjektivitäten, Beziehungsweisen und Begehrensformen organisiert, vielmehr strukturiert es auch gesellschaftliche Institutionen, wie Recht, Ehe, Familie und Verwandtschaft oder wohlfahrtsstaatliche Systeme; es ist eingeschrieben in (alltags-)kulturelle Praxen, wie Fotos in der Brieftasche tragen, Familienpackungen einkaufen, Gäste empfangen, Weihnachten feiern, eine Waschmaschine kaufen, ein Formular ausfüllen oder Diät halten, und es organisiert schließlich ökonomische Verhältnisse, etwa in der geschlechtlichen Arbeitsteilung. Queer Theory entsteht zunächst in den USA ab Anfang der 1990er Jahre in kritischer Fortführung lesbischer, lesbisch-feministischer und schwuler Forschungen und Theoriebildungen sowie dort im Kontext einer sich angesichts der AIDS-Epidemie erneut radikalisierenden schwul-lesbischen Bewegung (vgl. hierzu Hark/Genschel 2003). In den akademischen Diskurs eingeführt wird queer im Jahr 1991 durch ein von Teresa de Lauretis herausgegebenes Heft der Zeitschrift „differences. A Journal of Feminist Cultural Studies“ zum Thema „Queer Theory. Lesbian and Gay Sexualities“. De Lauretis begründet in der Einleitung zu diesem Band die Entscheidung für den Begriff queer mit der Hoffnung, dieser könne geeignet sein, kategoriale und identitätsorientierte Begrenzungen, die die Begriffe lesbisch bzw. schwul historisch begleiten, zu überwinden. Mit Queer Theory sei daher eine doppelte Schwerpunktsetzung verbunden: „Queer Theory betont zweierlei – die konzeptionelle und spekulative Arbeit neuer Diskursproduktion sowie die notwendig kritische Arbeit der Dekonstruktion dieser Diskurse und dessen, was diese verschweigen“ (de Lauretis 1991: iv, eigene Übersetzung). Queer ersetzt daher zwar häufig an-
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dere Selbstdefinitionen wie schwul, lesbisch, bisexuell und neuerdings transgender; letztlich steht es jedoch quer zu all diesen Kategorien und beansprucht, diesen gleichsam den ontologischen Boden unter den Füßen wegzureißen: „Wie kann die hetero/homo Opposition in den Kollaps getrieben werden? Wie können wir sie bis zum kritischen Punkt der Erschöpfung durcharbeiten und welche Effekte – materiell, politisch, sozial – wird ein solches Unterfangen, die konzeptuelle Basis unserer Identitäten zu reorganisieren, auf unsere sexuellen Praktiken und unsere Politik haben?“ (Fuss 1991: 1, eigene Übersetzung)
Institutionell konnte sich Queer Theory in den USA zumindest partiell schnell etablieren. Auf die vielerorts bereits existierenden Lesbian and Gay Studies aufbauend werden Queer Studies innerhalb kurzer Zeit in Form von einzelnen Kursen oder gar Programmen an mehreren USamerikanischen Colleges und Universitäten angeboten, z.B. in New York, Los Angeles und Berkeley. Ab Mitte der 1990er Jahre ist deutlich eine programmatische Abkehr von Lesbian and Gay Studies zu Queer Theory bzw. Studies festzustellen. Dies ist etwa an den Titeln einschlägiger Publikationen ablesbar (vgl. etwa Seidman 1996: „Queer Theory/Sociology“, Sedgwick 1997: „Novel Gazing: Queer Readings in Fiction“, Thomas/Aimone 2000: „Straight with a Twist: Queer Theory and the Subject of Heterosexuality“, seit 1994 erscheint auch die explizit queeren theoretischen Perspektiven verpflichtete Zeitschrift „GLQ: A Journal of Gay and Lesbian Studies“). Entsprechend einer Konzentration auf Fragen von (kultureller) Repräsentation weisen Queer Studies ein stark kultur-, film- und medien- sowie literaturwissenschaftliches Profil auf (für einen Überblick vgl. Jagose 2001, Genschel u.a. 2001, Krass 2003). Aber auch sozialtheoretische Perspektiven sowie Fragen politischer Theorie (vgl. Phelan 1997, 2000) stellen bis heute ein zentrales Feld queerer Theoriebildung dar. Im deutschsprachigen Raum wurde Queer Theory zunächst durch Judith Butlers Buch „Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity“ (1990, dt. 1991) wahrgenommen. Mit ihrer These, dass sex immer schon gender gewesen sei, provozierte Butler eine vehement und erbittert geführte Kontroverse in der deutschsprachigen Frauen- und Geschlechterforschung. Die Rezeption blieb allerdings zunächst fokussiert auf die geschlechtertheoretischen Implikationen. Die heterosexualitätskritischen Perspektiven, namentlich Butlers Argument, dass Geschlecht innerhalb einer „heterosexuellen Matrix“ (1991: 63) hervorgebracht werde, die die „Matrix der Intelligibilität“ (1991: 39) von Geschlecht darstelle, blieb dagegen im mainstream der Frauenund Geschlechterforschung weitgehend ausgeblendet. Allerdings spielt der Begriff queer in „Gender Trouble“ – entstanden vor der politischen und theoretischen Re-Artikulation von queer – noch keine Rolle. Erst in „Bodies That Matter“ (1993, dt. 1995) setzt sich Butler im Schlusskapitel „Critically Queer“ explizit mit der subversiven Aneignung von queer auseinander. Im Kontext der Kritik an Identitätspolitik warnt sie eindringlich davor, queer als fest umrissene Identitätskategorie zu verstehen oder gar zu gebrauchen. Denn kein Begriff, keine Identitätskategorie, so auch queer nicht, könne vollständig angeeignet werden. Das kritische Potenzial von queer bestehe im Gegenteil gerade darin, Fixierungen immer wieder zu durchkreuzen und die Begriffe für das aus ihnen Ausgeschlossene zu öffnen. Insbesondere an diese identitätskritischen Perspektiven sowie die Dekonstruktion von (lesbischer bzw. lesbisch-feministischer) Identitätspolitik schließen die ersten deutschsprachigen Arbeiten an, die im Feld von Queer Studies verortet werden können (Hark 1996, 1999). Weitere im Laufe der Jahre hinzukommende Schwerpunkte deutschsprachiger Queer Studies sind vor allem Repräsentationskritiken (Engel 2002), kulturwissenschaftliche Studien zu geschlechtertransgressiven Subkulturen (z.B. Funk 1997, Hark 1998, Breger 2001), Studien zur politischen Regulierung von Zweigeschlechtlichkeit (z.B. Genschel 1998, 2000) sowie gesellschaftstheoretische (z.B. Genschel 1997, Hark/Genschel 2003) und rechtspolitische Analysen (Quaestio 2000). Dabei ist ein deutliches Charakteristikum deutschsprachiger im Unterschied zu einem Großteil der anglo-amerikanischen Queer Studies, dass queere und feministische Perspektiven aufeinander bezogen und nicht als sich wechselseitig ausschließende begriffen werden.
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Heteronormativitätskritik Queer Theorie schließt unter anderem an die lesbisch-feministischen Problematisierungen von Heterosexualität an. Denn hier lagen bereits Ansätze vor, die Heterosexualität als Institution, Norm oder produktive Matrix konzipierten und die Verschränkung von (Hetero-)Sexualität und Geschlecht untersuchten. Allerdings grenzt sich Queer Theorie auch deutlich von feministischen Ansätzen ab. Da letztlich, so der Vorwurf, gender implizit als heteronormativ verfasst begriffen würde, stelle die feministische Theorie keine adäquaten Instrumente für die Analyse von Sexualität bereit. Im direkten Anschluss an die von Gayle Rubin erstmals 1984 in „Thinking Sex. Notes for a Radical Theory of the Politics of Sexuality“ (dt. 2003) vertretene Position, dass die feministische Theorie nicht den privilegierten Rahmen für eine Analyse von Sexualität darstelle, plädieren queere TheoretikerInnen folglich dafür, Sexualität und Geschlecht analytisch zu unterscheiden, um deren distinkte soziale Existenz präziser verstehen zu können. Queer Theorie rückt daher die in der Sozial- bzw. Gesellschaftstheorie, aber auch in der Frauen- und Geschlechterforschung vernachlässigte, hierarchische Figur der hetero/homo-Binarität ins Zentrum. Denn, so die queere Generalthese, „das Verständnis jeglichen Aspekts moderner westlicher Kultur wird unvollständig, wenn nicht gar substantiell beschädigt sein, sofern eine kritische Analyse der modernen Definition von homo/heterosexuell unterbleibt“ (Sedgwick 1990: 1). Queer Theorie untersucht, wie in der Moderne diese Binarität Wissensfelder und kulturelle Bedeutungssysteme, die Subjektivitäten, soziale Verhältnisse und Normen konfigurieren, strukturiert und Heterosexualität als Heteronormativität grundlegend in Gesellschafts- und Geschlechterverhältnisse eingeschrieben ist: „Heterosexualität geht als Dispositiv in die Geschlechterverhältnisse ein, stützt sie materiell als Regulativ der Wissensproduktion, als Normalisierungsmodell, als Anrufungsverhältnis und als Zuweisungsmodus in der Arbeitsteilung.“ (Wagenknecht 2001: 816)
Analysiert wird folglich, wie Heterosexualität in die soziale Textur unserer Gesellschaft (vgl. Hartmann/Kleese/Wagenknecht u.a. 2007), in Biografien (vgl. besonders Hänsch 2003), in Geschlechterkonzeptionen (vgl. polymorph 2002) und in kulturelle Vorstellungen von Körper, Familie, Individualität, Nation, in die Trennung von privat/öffentlich (vgl. Haase/Siegel/Wunsch 2005) eingewoben ist, ohne selbst als soziale Textur bzw. als produktive Matrix von Geschlechterverhältnissen, Körper, Familie, Nation usw. sichtbar zu werden. Denn die soziale „Natur“ von Heterosexualität wird gerade durch die Denkgewohnheit, Sexualität mit dem Privaten, mit Empfinden, zu assoziieren, geleugnet: Wo es um ein solches „Empfinden“ geht, kann von Sozialität und Historizität nicht die Rede sein. „Heterosexualität historisch sichtbar zu machen, ist deshalb so schwierig, weil es der Heterosexualität unter ihren verschiedenen institutionellen Pseudonymen wie Erbschaft, Heirat, Dynastie, Familie, Domestizität oder Bevölkerung erlaubt wurde, sich vollständig als die Geschichte selbst zu maskieren“ (Sedgwick 1993: 10f., eigene Übersetzung).
Sexualität als Kategorie der Macht Sexualität ist in einer queeren Perspektive folglich zunächst eine Kategorie der Macht – und nicht ein Moment des Privaten, etwa ein „Persönlichkeitsmerkmal“ oder ein „privater Lebensentwurf“. Ebenso wie Geschlecht, geopolitische Positionierung, „Rasse“ und Klasse muss Sexualität verstanden werden als Kategorie sozialer und politischer Strukturierung. Als gesellschaftliches Ordnungsprinzip positioniert sie Individuen an der sozialen Peripherie oder im Zentrum, platziert sie in einer bestimmten und bestimmenden Relation zu institutionellen und ökonomischen Ressourcen, zu sozialen Möglichkeiten, rechtlichem Schutz und sozialen Privilegien sowie in Relation zu einer Bandbreite von Formen sozialer Kontrolle, die vom Ein- bzw. Ausschluss aus Bürgerrechten bis zu verbaler Verhöhnung und physischer Gewalt reichen.
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Lesbische und queere Herausforderungen für die Frauen- und Geschlechterforschung Worin liegen nun die Herausforderungen aus einer queeren bzw. lesbischen Perspektive für die Frauen- und Geschlechterforschung? Offensichtlich ist erstens, dass Heterosexualität eine bisher nur sehr unzureichend untersuchte Machtkonfiguration ist. Begründet ist dies in ihrer umfassenden und systematischen Naturalisierung, weshalb sie nur schwer als Institution, produktive Matrix und als Identitätsposition sichtbar zu machen ist. Die deutschsprachige Frauen- und Geschlechterforschung hat es allerdings bis heute versäumt, die kritischen Analysen sowohl aus der Lesbenforschung als auch der Queer Theorie zur modernen Dichotomie hetero/homo systematisch mit einzubeziehen. Ein Verständnis der spezifisch modernen Konstruktion von Zweigeschlechtlichkeit, ihrer Reproduktion, aber auch der Möglichkeiten ihrer Transformation, wird jedoch ohne eine Analyse dessen, wie Geschlecht durch das Regime der Heterosexualität organisiert ist, nicht möglich sein. Zum Zweiten sind Ansätze, die Geschlecht und Sexualität als soziale Konstruktionen begreifen, zwar mittlerweile Konsens in der Geschlechterforschung, hier könnten allerdings die Anstöße insbesondere aus der Queer Theorie, nach den (diskursiv organisierten) Regulierungs- und Normalisierungsverfahren zu fragen, in denen Geschlecht produziert wird, zu einer komplexeren Analyse der Herstellung und Stabilisierung geschlechtlicher Realität und Normalität beitragen. Drittens wäre Geschlecht zu begreifen als nur in Kontexten gegeben. Denn es gibt keine Fragen des Geschlechts, die nicht immer auch Fragen der Organisation von Begehren sind. Dies würde eine vielschichtigere Analyse der Überschneidungen und wechselseitigen Konstituierung von Geschlecht und Sexualität, aber auch von „Rasse“, Klasse, Kultur oder Ethnizität ermöglichen, die über ein bloß additives Verständnis der Mechanismen von Unterdrückung und Assimilation hinausgeht. Die Fokussierung auf Geschlecht und Geschlechterverhältnisse hat es dagegen tendenziell erschwert, wenn nicht gar unmöglich gemacht, die Komplexität von Macht und Modi etwa von Subjektformierung zu verstehen. Schließlich liefert queer viertens Anstöße, die Identitätsfixierungen in Politik und Theorie in Frage zu stellen, und eröffnet Möglichkeiten von neuen (theoretischen und politischen) Koalitionen über die Barrieren von Klasse, „Rasse“, Sexualität und Geschlecht hinweg. Verweise: (De)Konstruktion und Diskurs-Genealogie Frauen-„Körper“ Lesbenbewegung Sexualität
Literatur beiträge zur feministischen theorie und praxis. Heft 52/1999: Lesbenleben quer gelesen Brauckmann, Jutta 1981: Weiblichkeit, Männlichkeit und Antihomosexualität. Berlin: Rosa Winkel Breger, Claudia 2001: Queens und King, oder: Performing Power. In: Amerikastudien/American Studies 46/1, S. 105-122 Butler, Judith 1990: Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity. New York, London: Routledge (dt. Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991) Butler, Judith 1993: Bodies That Matter. On the Discursive Limits of Sex. London, New York: Routledge (dt. Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Berlin: Berlin Verlag 1995) Eldorado 1984: Homosexuelle Frauen und Männer in Berlin 1850-1950. Geschichte, Alltag und Kultur. Katalog zur Ausstellung im Berlin Museum. Hrsg. vom Berlin Museum, Berlin: Frölich & Kaufmann Engel, Antke 2002: Wider die Eindeutigkeit. Sexualität und Geschlecht im Fokus queerer Politik der Repräsentation. Frankfurt/M., New York: Campus Faderman, Lilian 1981: Surpassing the Love of Men. (dt. Köstlicher als die Liebe der Männer. Zürich: ecoVerlag 1990)
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Funk, Julia 1997: „Butch“ und „Femme“ – Original oder Kopie? Ver-Führung zu einer lesbischen Ikonographie. In: Härle, Wolfgang/Wolfgang Popp/Annette Runte (Hrsg.): Ikonen des Begehrens. Bildsprachen der weiblichen und männlichen Homosexualität in Literatur und Kunst. Stuttgart: Metzler, S. 41-62 Fuss, Diana (Hrsg.) 1991: inside/out. Lesbian Theories, Gay Theories. New York, London: Routledge Genschel, Corinna 1997: Umkämpfte sexualpolitische Räume. Queer als Symptom. In: Etgeton, Stefan/Sabine Hark (Hrsg.): Freundschaft unter Vorbehalt. Berlin: Quer Verlag, S. 77-98 Genschel, Corinna 1998: Von medizinischen Objekten zu politischen Subjekten: Die Formierung der Transgender Bewegung in den USA. In: Ferdinand, Ursula u.a. (Hrsg.): Verqueere Wissenschaft? Zum Verhältnis von Sexualwissenschaft und Sexualreformbewegung in Geschichte und Gegenwart. Münster: Lit Verlag, S. 309-320 Genschel, Corinna 2000: Wann ist ein Körper ein Körper mit (Bürger-)Rechten? In: Quaestio (Hrsg.): Queering Demokratie. Berlin, S. 113-129 Genschel, Corinna/Caren Lay/Nancy Wagenknecht/Volker Woltersdorff 2001: Anschlüsse. In: Jagose, Annamarie: Queer Theory. Eine Einführung. S. 167-194 Göttert, Margit 1987: Fremdbilder – Selbstbilder. Medikalisierung der Homosexualität und die Entstehung lesbischer Subkultur. Diplomarbeit. Frankfurt: J. W. v. Goethe-Universität/Soziologie Göttert, Margit 1989: Über die „Wuth, Frauen zu lieben“. Die Entdeckung der lesbischen Frau. In: Feministische Studien, Heft 2/Jg. 7, S. 23-38 Göttert, Margit 2000: Macht und Eros. Frauenbeziehungen und weibliche Kultur um 1900 – eine neue Perspektive auf Helene Lange und Gertrud Bäumer. Königstein: Ulrike Helmer Verlag Haase, Matthias/Marc Siegel/Michaela Wunsch (Hrsg.) 2005: Outside. Die Politikqueerer Räume. Berlin: b_books Hacker, Hanna 1987: Frauen und Freundinnen. Studien zur weiblichen Homosexualität am Beispiel Österreich 1870-1938. Weinheim, Basel: Beltz Verlag Hacker, Hanna 1989: Lesbische Denkbewegungen. In: beiträge zur feministischen theorie und praxis, Heft 25+26/Jg. 12, S. 49-56 Hagemann-White, Carol 1984: Thesen zur kulturellen Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit. In: Schaeffer-Hegel, Barbara/Brigitte Wartmann (Hrsg.): Mythos Frau. Projektionen und Inszenierungen im Patriarchat. Berlin: TU publica, S. 137-139 Hänsch, Ulrike 1987: Zum Schweigen der Lesben. Die Lesbe als Gegen-täterin und Mit-täterin. In: beiträge zur feministischen theorie und praxis, Heft 20/Jg. 10, S. 95-102 Hänsch, Ulrike 2003: Individuelle Freiheiten – heterosexuelle Normen in Lebensgeschichten lesbischer Frauen. Opladen: Leske + Budrich Hark, Sabine 1987a: Lesbische Frauen in der heterozentrischen Ordnung. Diplomarbeit. Frankfurt: J. W. v. Goethe-Universität/Soziologie Hark, Sabine 1987b: Eine Frau ist eine Frau, ist eine Frau … Lesbische Fragen und Perspektiven für eine feministische Gesellschaftsanalyse und -theorie. In: beiträge zur feministischen theorie und praxis, Heft 20/Jg. 10, S. 85-94 Hark, Sabine 1989: Eine Lesbe ist eine Lesbe, ist eine Lesbe … oder? Notizen zu Identität und Differenz. In: beiträge zur feministischen theorie und praxis, Heft 25+26/Jg. 12, S. 59-70 Hark, Sabine 1993: Queer Interventionen. In: Feministische Studien, Heft 2/Jg. 11, S. 104-110 Hark, Sabine (Hrsg.) 1996: Grenzen lesbischer Identitäten. Berlin: Quer Verlag Hark, Sabine 1998: Parodistischer Ernst und politisches Spiel. Zur Politik in der GeschlechterParodie. In: Hornscheidt, Antje/Gabi Jähnert/Annette Schlichter (Hrsg.): Kritische Differenzen – geteilte Perspektiven. Zum Verhältnis von Postmoderne und Feminismus. Opladen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 115-139 Hark, Sabine 21999: deviante Subjekte. Die paradoxe Politik der Identität. Opladen: Leske + Budrich Hark, Sabine/Corinna Genschel 2003: Die ambivalente Politik von Citizenship und ihre sexualpolitische Herausforderung. In: Knapp, Gudrun-Axeli/Angelika Wetterer (Hrsg.): Achsen der Differenz. Gesellschaftstheorie und feministische Kritik II. Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 134-169 Hartmann, Jutta/Christian Kleese/Peter Wagenknecht/Bettina Fritzsche/Kristina Hackmann (Hrsg.) 2007: Heteronormalität. Empirische Studien zu Geschlecht, Sexualität und Macht. Wiesbaden: VS Verlag Jagose, Annamarie 2001: Queer Theory. Eine Einführung. Herausgegeben und übersetzt von Corinna Genschel, Caren Lay, Nancy Wagenknecht, Volker Woltersdorff. Berlin: Quer Verlag John, Claudia 1987: Die gibt, was sie nicht hat, und zu tun nicht müde wird, was ihr fehlt – Lesbisches Begehren und der Diskurs des Vaters. Diplomarbeit. Berlin: Freie Universität/Psychologie
Lesbenforschung und Queer Theorie
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Nikki Wedgwood, RW Connell
Männlichkeitsforschung: Männer und Männlichkeiten im internationalen Forschungskontext
Mit der zweiten Welle des Feminismus im Westen kamen die Geschlechterbeziehungen so in Bewegung, dass sich in den 1990er Jahren bereits mehrere ganz unterschiedliche Reaktionen von westlichen Männern herauskristallisiert hatten. Das eine Extrem dieses Spektrums bildeten der anti-feministische Backlash (vgl. Faludi 1991) und ein „konkurrierender Opferdiskurs“ (Cox 1995), wie er z.B. in der Diskussion um die Benachteiligung von Jungen im Bildungssystem zum Ausdruck kam („What About the Boys?“ Yates 1997, Lingard/Douglas 1999). Das andere Extrem waren die anti-sexistischen, pro-feministischen Männerbewegungen. Zwischen diesen Extremen standen die mythopoetische Männerbewegung (vgl. Kimmel 1995, Schwalbe 1996) und weitere Reaktionen z.B. von Männern des ‚New Age‘. Einen Gesamtüberblick über dieses Spektrum gibt das hervorragende Buch von Messner (1997). So unterschiedlich die Wirkungen auch waren, die diese zweite Welle des Feminismus bei den Männern hervorrief, so sicher ist es ihr doch gelungen, Männer und Männlichkeit zu problematisieren.
Soziale Theorie In den 1970er und 1980er Jahren begannen auch die Sozialwissenschaftler im Lichte der feministischen Forschung zum Geschlechterverhältnis die Position von Männern und Jungen in der Gesellschaft in Frage zu stellen. In dem Aufsatz „Toward a New Sociology of Masculinity“ (Carrigan/Connell/Lee 1985) wurde dieser Umschwung beschrieben und Kritik an der Abstraktheit der Geschlechtsrollentheorie geübt, die zwar seit den 1950er Jahren die soziologische Männerforschung beherrschte, aber zum Verständnis von Problemen wie Macht, Gewalt oder materieller Ungleichheit nichts beigetragen hatte. Carrigan u.a. traten dafür ein, Männer nicht als homogene Kategorie zu behandeln, sondern historisch bestimmte Männlichkeiten zu untersuchen, und führten das Konzept der hegemonialen Männlichkeit als einer kulturell herausgehobenen Form von Männlichkeit an der Spitze einer Hierarchie von Männlichkeiten ein. Ihre These war, dass Herrschaft über Frauen kein universales Merkmal von Männern sei. Vielmehr sei männliche Herrschaft ein dynamisches System, das über die Geschlechterbeziehungen unter wechselnden Bedingungen, zu denen auch der Widerstand von untergeordneten Gruppen gehört, ständig reproduziert und neu konstituiert wird. Damit „ist Gewalt im Geschlechterverhältnis nicht so sehr ein Wesensmerkmal der Männlichkeit (...) als vielmehr ein Maß für die Heftigkeit dieses Kampfs“ (Carrigan/Connell/Lee 1985: 598). Ein Großteil der sozialwissenschaftlichen Forschung zu Männern und Männlichkeit steht seither unter dem Einfluss dieser Theorie von multiplen Männlichkeiten und Hegemonie (vgl. Connell 1995). Doch wurden auch andere Wege zur Erforschung und Konzeptualisierung von Männlichkeiten beschritten, die wir in diesem Kapitel näher betrachten wollen. Unsere besondere Aufmerksamkeit gilt dabei Arbeiten aus jüngster Zeit.
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Ein Ansatz zur Untersuchung von Männlichkeit, der zunehmend an Bedeutung gewinnt, ist die Diskurspsychologie. Ihre Prämisse ist, dass „unsere sozialen Beziehungen durch Sprache weniger beschrieben, als vielmehr hervorgebracht werden“ (Riley 2001: 61). Großen Einfluss in diesem Forschungsfeld hatten Wetherell und Edley (1999) mit ihrer These, dass Männlichkeiten nicht als feste Charakterstrukturen existieren, sondern als imaginäre Positionen im Diskurs. Diese Positionen werden von den konkreten Männern strategisch genutzt, indem sie sie von Fall zu Fall übernehmen oder sich von ihnen distanzieren. Ein interessantes Beispiel für diesen Ansatz ist die Untersuchung von Toerien und Durrheim (2001) über die südafrikanische Ausgabe der populären Zeitschrift „Men’s Health“. Diese Zeitschrift versucht, für weiße Männer aus den Mittelklassen das Dilemma zu lösen, wie man sich wesentliche Züge der Männlichkeit erhalten und sich zugleich von der feministischen Männerkritik distanzieren kann. Nach Meinung von Toerein und Durrheim bringt die Zeitschrift dieses Kunststück fertig, indem sie einen Diskurs von den ‚echten Männern‘ entwickelt und „sich dabei nicht nur auf die zum Wesensmerkmal erklärte Männlichkeit des ‚Macho-Mannes‘ beruft, sondern auch nur diejenigen Veränderungen des ‚neuen Mannes‘ aufgreift, die es diesem erlauben, seine Macht (im Verhältnis zu Frauen) auf neue und sozial eher akzeptable Art und Weise aufrecht zu erhalten“ (Toerien/Durrheim 2001: 52). Für das Verständnis von Gender ist die Diskursforschung eine große Bereicherung. Für sich genommen dürfte sie jedoch kaum ausreichen, denn zur Konstituierung der Geschlechterbeziehungen tragen auch nichtdiskursive Praktiken wie Arbeit, Gewalt, Sexualität und Kinderversorgung bei, ebenso wie sie von ihnen durchdrungen sind. Zweifel am Konzept der ‚Männlichkeiten‘ selbst wurden von der postmodernen und poststrukturalistischen Literatur formuliert. Collier (1998) z.B. stellt in seinem Buch „Masculinities, Crime and Criminology“ die Verknüpfung von biologischen Männern und autoritärer, unterdrückender oder ‚hegemonialer‘ Männlichkeit in Frage. Zwar werden zweifellos die meisten Verbrechen von Männern begangen und also müssen sich die Kriminologen auch mit den Verbrechen von Männern als Männern beschäftigen. Doch äußert Collier Zweifel an der jüngsten, auf der Prämisse der sozialkonstruktivistischen Erklärungen von Männlichkeit beruhenden ‚Männlichkeitswende‘ in der Kriminologie. Seiner Meinung nach wird die Forschung immer noch von der binären Aufteilung von ‚sex‘ (biologisches Geschlecht) und ‚gender‘ (soziales Geschlecht) wie auch von anderen hierarchischen Bipolaritäten (wie Mann/Frau, heterosexuell/homosexuell, öffentlich/privat, Arbeit/Zuhause) beherrscht. In seiner Analyse der britischen Diskussion über das Verhältnis von Männern, Männlichkeit und Verbrechen versucht Collier, anknüpfend an die postmodernen Feministinnen und die ‚Queer‘-Theorie, gegen diese binären Aufteilungen anzugehen. Der australische Kulturanalytiker Buchbinder hat, ausgehend von Butlers einflussreicher Theorie von Gender als „Performance“, ein nuanciertes Konzept von Männlichkeiten entwickelt, dem die Idee zu Grunde liegt, dass Gender eine Performance ist, die die Menschen ständig aktiv betreiben müssen. Dieser Zwang zur ständigen Verkündung des eigenen Geschlechts erzeugt Angst, die bei Männern, die der dominanten Männlichkeit angehören möchten, besonders groß ist (Buchbinder 1994). Die performative Konstituierung von Gender muss jedoch unsichtbar vonstatten gehen, damit sie ‚natürlich‘ und über jeden Zweifel erhaben erscheint. Laut Buchbinder (1998) wird dies nicht nur durch die Art und Weise erreicht, wie Männer und Männlichkeiten repräsentiert und reproduziert werden, sondern auch und v.a. durch das, was diese Repräsentationen versuchen, nicht zu sagen, oder wovon sie vielleicht auch nichts wissen wollen. In der modernen westlichen Kultur z.B. wird das Männliche zweifach negativ definiert: Das Männliche ist nicht weiblich, und es ist nicht homosexuell. „Männliches homosoziales Begehren und männliche Misogynie sind also Strategien, die darauf abzielen, männlich und weiblich als Kategorien im Geschlechtersystem der Kultur auf Abstand zu halten“ (Buchbinder 1998: 125). Indem das Weibliche und das Homosexuelle als Kategorien in Schach gehalten und zugleich für minderwertig erklärt und zurückgewiesen werden, kann das Männliche weiter als normal, natürlich und unangreifbar erscheinen.
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Die europäische Männerforschung wurde zunehmend von Bourdieus (1998) Theorie der männlichen Herrschaft beeinflusst (vgl. z.B. Brandes 2001). Für ihn ist die männliche Herrschaft ein Beispiel der symbolischen Gewalt par excellence. Grundlage seiner Theorie ist seine ethnografische Analyse der ‚phallonarzisstischen‘ Kosmologie der algerischen Kabylen, die er mehr oder weniger ahistorisch auf die heutige westliche Gesellschaft überträgt. Männlichkeit, so Bourdieu, ist dem Habitus aller Männer wie auch aller Frauen eingeschrieben. Dies führt dazu, dass Frauen das Verhältnis der Geschlechterherrschaft vom Standpunkt der Herrschenden aus interpretieren, d.h. als natürlich, und dadurch „über die Komplizenschaft ihres sozialisierten Körpers an ihrem eigenen Beherrschtsein mitwirken“ (Bourdieu 1996: 199). Bourdieus Kernaussage, dass die sozial konstruierten Unterschiede und Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern in das Körperliche eingegangen sind und dadurch die männliche Herrschaft natürlich und unvermeidlich erscheinen lassen, ist wichtig. Zum Beispiel ist in einer neueren australischen Untersuchung mit Familien von Industriearbeitern zu sehen, wie die traditionelle geschlechtsspezifische Arbeitsteilung als naturwüchsig wahrgenommen und einem „Mutterinstinkt“ oder sonstigen frauen- bzw. männerspezifischen Veranlagungen zugeschrieben wird (vgl. Uhlmann 2000). Die dominanten Geschlechterstrukturen sind so sehr in den Habitus von Männern wie von Frauen eingegangen, dass diese dominanten Strukturen nicht nur reproduziert sondern auch als natürlich erlebt werden. Das Ergebnis ist, dass die automatische Zuweisung der Frauen zum häuslichen Bereich und der Männer zum Wirtschaftsleben auch dann noch bestehen bleibt, wenn die traditionelle Arbeitsteilung innerhalb einer Familie aufgrund ökonomischer Notwendigkeiten zeitweilig durcheinander gerät. Einen weiteren sozialwissenschaftlichen Ansatz zur Konstruktion von Männlichkeit verdanken wir dem jüngsten Wiederaufleben der lebensgeschichtlich orientierten Forschung (vgl. Messner 1992, Wedgwood 2003, 2005). Lebensgeschichtliche Forschung ist eine „Methode zur Erforschung der Funktionsweise von sozialen Prozessen anhand der erzählten Erfahrungen individuellen Lebens“ (Dowsett 1996). Diese Methode hat den Vorteil, dass sie das Individuum ausdrücklich in seinem eigenen historischen und kulturellen Kontext verankert und sich für die Vielfalt innerhalb von Kategorien interessiert, etwa der Kategorie ‚Männer‘, deren Angehörige durchaus nicht alle eine hegemoniale oder problematische Männlichkeit konstruieren. Ein hervorragendes Beispiel für die Leistungen des lebensgeschichtlichen Ansatzes bei der Erforschung von Spannungen in der Konstruktion und Verkörperung von Männlichkeit ist Messerschmidts (2000) Studie über gewalttätige Jugendliche in den USA. Mit Hilfe intensiver Fallstudien vergleicht Messerschmidt Jungen, die in Verbindung mit Gewalt in zweierlei Form (sexueller Missbrauch und Körperverletzung) auffällig geworden waren, mit nicht gewalttätigen Jungen gleicher sozialer Herkunft. Dabei zeigt sich, dass Jungen, die gewalttätig werden, oft entweder Opfer oder Täter in gewalttätigen Peer-Beziehungen und in ihrer Sexualität und ihrem Verhältnis zu Mädchen von Konflikten geprägt sind. Es stellte sich heraus, dass die körperliche Konstitution männlicher Jugendlicher mit darüber bestimmt, welche Position sie in gewalttätigen Peer-Gruppen einnehmen, und auch darüber, welchen Verlauf ihre problembelastete Persönlichkeitsentwicklung nimmt. Aber nicht alle Jugendlichen entwickeln problematische Männlichkeiten. Messerschmidts Vergleichsgruppe zeigt, wie andere Jugendliche in der Lage sind, eine Männlichkeit zu konstruieren, die bei der Lösung von Problemen zwischen Personen nicht auf körperliche Gewalt angewiesen ist. Die Ausweitung des Forschungsfelds „Männer und Männlichkeiten“ ist selber ein schlagendes Beispiel für positive Geschlechterbeziehungen, da hier Frauen wie Männer führende Rollen spielen. In Deutschland z.B. führten feministische Forscherinnen eine Reihe von bemerkenswerten quantitativen Untersuchungen zu Männern und ihren Genderpraktiken und -einstellungen durch, darunter die Umfrage der Zeitschrift „Brigitte“ aus den Jahren 1984-85 mit einer repräsentativen Stichprobe, bei der es um Hausarbeit, Berufsleben, Gewalt und einige Aspekte von Sexualität ging (vgl. Metz-Göckel/Müller 1985). Auch in Lateinamerika wurden Untersuchungen zur Männlichkeit oft von Frauen oder in Zusammenarbeit von Frauen und Männern durch-
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geführt (vgl. Valdés/Olavarría 1998). Hier wurde das Feld von Anfang an als ein integraler Bestandteil von Gender Studies im Kontext politischer Kämpfe gegen geschlechtstypische Ungleichheiten, wie auch allgemeiner Auseinandersetzungen mit Wirtschaftskrisen und politischem Wandel begriffen (vgl. Vigoya 2001). Diese Sichtweise gilt auch für Segal (1997) in Großbritannien und ihr Buch „Slow Motion“, das einen der besten Gesamtüberblicke über das Feld bietet. Ein historischer Rückblick auf gewandelte Muster von männlicher Sexualität, Gewalt, Herrschaft, Familienrollen und weitere Transformationen von Männlichkeiten in den westlichen Ländern führt sie zu einer Bestandsaufnahme der Ängste und Unsicherheiten westlicher Männer, die aus unterschiedlichen soziohistorischen Dynamiken entspringen. Segals These ist, dass nicht Frauen die ständige Bedrohung des gesellschaftlich produzierten männlichen Macht- und Überlegenheitsideals darstellen (und auch nie dargestellt haben), sondern andere Männer – z.B. Schwarze, Schwule und anti-sexistische Männer. Dieser Konflikt, so Segal, beschädige die Männer bis heute und tyrannisiere zugleich die Frauen: „Was Männer heute zermürbt, ist der – durch schrumpfende Sozialleistungen, sinkende Löhne und zunehmende Arbeitsplatzunsicherheit verschärfte – Kampf um den Erhalt der ‚Männlichkeit‘ selbst“ (Segal 1997: xxxii). Männer, sagt sie, waren immer ‚in der Krise‘, dies sei kein modernes Phänomen. Dem Wandel historischer Dynamiken gilt auch das Interesse einer anderen neueren Denkrichtung. In den letzten Jahren haben sich ungeheure globale ökonomische, politische und soziale Veränderungen vollzogen. Diese Umwälzungen werden allmählich auch in der Männlichkeitsforschung reflektiert (vgl. Connell 2000, Pease/Pringle 2001). Bis vor Kurzem ging es bei einem großen Teil der Männlichkeitsforschung um Männer in reichen Ländern (vgl. z.B. Mac an Ghaill 1996, Messner 1992). Einige Arbeiten befassten sich auch mit Immigranten in Erste-Welt-Kontexten (vgl. z.B. Poynting/Noble/Tabar 2003). Männlichkeiten in Ländern der Dritten Welt und/oder postkolonialen Ländern jedoch wurden bis zu den 1980er Jahren kaum erforscht, und was an Forschungsarbeiten vorlag, war eurozentrisch geprägt. In seiner hervorragenden ethnografischen Studie über Männer in Mexico City kritisiert Gutmann (1996) ausführlich die Tendenz westlicher Forscher, lateinamerikanische Männer als ‚Machos‘ zu charakterisieren. Erst in neueren Studien wird die große Vielfalt der Männlichkeiten in der lateinamerikanischen Welt zur Kenntnis genommen. Fuller (2001) z.B. belegt Klassenunterschiede und regionale Unterschiede in der Konstruktion von Männlichkeit in Peru. Eine bemerkenswerte, von Olavarría koordinierte Untersuchungsreihe (Olavarría 2001, Olavarría/ Moletto 2002), bei der es hauptsächlich um Chile geht, wenn auch unter Beteiligung von Forschern in anderen Ländern, dokumentiert die Vielfalt in Bezug auf Identität, Vaterschaft, Gewalt und Sexualität. Besonders bedeutsam ist Olavarrías Arbeit über die Dilemmata chilenischer Jugendlicher, die versuchen, in einem von der Globalisierung erfassten Land für sich einen Weg zur Vaterschaft zu finden. Auch in anderen Regionen außerhalb der Metropolen entwickelt sich zunehmend die Forschung, z.B. in Japan und dem Mittleren Osten (vgl. Ghoussoub/Sinclair-Webb 2000, Taga 2001). Die einzigartigen soziohistorischen Kontexte der Geschlechterbeziehungen in Gesellschaften, die in einem radikalen Wandel begriffen sind, werden in der wachsenden Forschung zu Männlichkeiten und Männerbewegungen in postkolonialen Ländern und Entwicklungsländern reflektiert (vgl. Horowitz 2001, Siddartha 2001). Zum Beispiel vertritt Wah (2001) die These, dass sich in Hongkong nicht nur wegen der patriarchalischen chinesischen Kultur keine profeministische Männerbewegung entwickelt hat, sondern auch deshalb, weil Hongkong bis 1997 eine britische Kolonie war und Konzeptionen wie Freiheit, Bürgerrechte und Gleichheit nicht Teil der Kolonialkultur sind. Ein noch krasseres Beispiel für die Auswirkungen, die Eroberung, Kolonialisierung und Kapitalismus auf das Geschlechterverhältnis haben, ist das postkoloniale Südafrika in der Zeit nach der Apartheid. In einem solchen Kontext werden die Geschlechtermuster massiv von Fragen der Rasse und Klasse beeinflusst (vgl. Morrell 2001). Ende der 1990er Jahre lag Südafrika als Übergangsgesellschaft
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bei der Rate der gewaltsamen Todesfälle und Vergewaltigungen weltweit an erster, bei Totschlag mit Schusswaffengebrauch an zweiter Stelle und belegte bei der Rate von HIV-Infektionen weltweit einen der vordersten Plätze. Im Kontext von Entwicklungsländern, so Morrell, muss die Genderforschung über Männer und Männlichkeiten ganz andere Schwerpunkte setzen als in der entwickelten Welt. Aus diesem Grund arbeitet die Forschung in postkolonialen Kontexten nicht unbedingt mit Theorien von hegemonialer Männlichkeit oder neuen Männlichkeiten nach dem Modell der Ersten Welt. Tatsächlich wurde die Idee des ‚neuen Mannes‘ von weißen Männern der Mittelklassen in den Städten des Nordens und auch nur für diese Männer entwikkelt (vgl. Morrell/Swart 2005). Die soeben genannten Studien belegen die mittlerweile große Bandbreite der Länder und sozialen Kontexte, in denen Forschung zur Konstruktion von Männlichkeiten betrieben wird. Damit wird auch unser Bild von den Genderpraxen der Männer vielfältiger. Zugleich wird das lokale Geschehen aber auch von globalen Mächten – multinationalen Kooperationen, globalen Märkten, geopolitischen Auseinandersetzungen und transnationalen Medien – beeinflusst. Die derzeitige Transformation in Südafrika ist hier nur ein wichtiges Beispiel neben anderen. Ihr Auslöser war der lokale Kampf gegen das Apartheidsregime, doch war sie immer auch abhängig von den Veränderungen der wirtschaftlichen und politischen Weltordnung. Zurzeit richtet sich die Aufmerksamkeit verstärkt auf Männlichkeitsmuster in transnationalen Agenturen und Institutionen. Connell (1998) vertritt die These, dass derzeit die älteren, lokalen, in den lokalen herrschenden Klassen und konservativen Kulturen verankerten Modelle von bürgerlicher Männlichkeit von einer transnationalen Männlichkeit abgelöst werden, deren Modell der Geschäftsmann ist. Verglichen mit den älteren hegemonialen Männlichkeiten ist diese Männlichkeit individualistischer, „liberaler“ in Bezug auf Sexualität und soziale Einstellungen und eher an Macht durch Marktbeherrschung orientiert als an bürokratischer Herrschaft. Auch dieses Modell wurde kritisiert (vgl. Pringle/Pease 2001), und das Wechselspiel von Männlichkeit und Globalisierung muss auf jeden Fall noch sehr viel gründlicher erforscht werden. Hooper (2000) zeigt, wie sich im Zusammenhang mit der Globalisierung die Männlichkeitsbilder in den Wirtschaftsmedien ändern. Kimmel (2005) untersucht das Wiedererstarken der einheimischen Patriarchate in Ländern wie Iran und Afghanistan, aber auch bei Gruppen rassistischer Männer in der „Ersten Welt“, als geschlechtstypische Reaktionen auf die Globalisierung. Er versteht diese Veränderungen der Männlichkeit als Reaktion auf von globalen ökonomischen Mächten ausgelöste Umwälzungen in Kulturen, Wirtschaftsformen und Haushalten. Eine Kontroverse hat sich anhand der Frage entwickelt, wie Männer in die Forschung und Politik zu „Gender und Entwicklung“ einbezogen werden sollten (vgl. White 2000). In einem Feld, das bislang – und in letzter Zeit durchaus erfolgreich – bestrebt war, die Interessen von Frauen auf die Tagesordnung der Entwicklungsagenturen zu setzen, wirft dies komplexe politische Kernfragen auf. Auch bei den Untersuchungen zur Sexualität von Männern gibt es – teils aufgrund des Aufkommens der ‚Queer‘-Theorie und teils aufgrund der HIV/AIDS-Epidemie – neue Schwerpunkte. Mit der ungeheuren Zunahme der HIV-Infektionen in Afrika und inzwischen auch in Südasien wuchs das Interesse an den heterosexuellen Praktiken von Männern. Die männliche Heterosexualität wurde sowohl in den Entwicklungsländern als auch in den entwickelten Ländern problematisiert (vgl. Campbell 2001, Holland u.a. 1998). Zugleich wurde auch die männliche Homosexualität genauer untersucht. Homosexualität, wie sie im Westen üblicherweise verstanden wird, ist in manchen Kulturen einfach keine kulturell relevante Kategorie (vgl. Kulick 1997). Aber auch in den entwickelten Ländern ist, wie Dowsetts (1996) Forschung in Australien zeigt, die herkömmliche Vorstellung von „dem Homosexuellen“ als Kategorie problematisch. Sexuelle Praxis und sexuelles Begehren führen im konkreten Leben von Männern zu einer Aufweichung der „Geschlechtergrenzen“. Zeitgleich mit der starken Zunahme von empirischen Untersuchungen und politischen Wirkungsanalysen in Regionen außerhalb der Metropolen wird in den entwickelten Ländern die innovative Forschung weiter voran getrieben. In Deutschland z.B. wurde die bemerkenswerte Rei-
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he quantitativer Untersuchungen mit einer neuen landesweiten Befragung zur Genderperspektive deutscher Männer fortgesetzt (vgl. Zulehner/Volz 1998). Tatsächlich liegt in Deutschland und in Japan soviel Umfragematerial vor, dass Mohwald (2002) eine äußerst interessante vergleichende Analyse des Wandels der Gendereinstellungen in diesen beiden Ländern durchführen konnte. Mohwald betont generationsbedingte Veränderungen und zeigt auf, wie komplex genderbezogene Einstellungen sind. Während bei den meisten Forschungsarbeiten in den Metropolen männliche Stadtbewohner im Mittelpunkt standen, erstreckt sich das Interesse inzwischen auch auf die Lage von Männern auf dem Land und die Eigenheiten der Konstruktion von Männlichkeiten in der Landbevölkerung (vgl. Campbell/Bell 2000). Dies dürfte sich als wichtiges Forschungsgebiet noch ausweiten. In den entwickelten Ländern mag die männliche Landbevölkerung eine Minderheit darstellen, doch in Regionen wie Osteuropa ist ihr Anteil größer und kulturell ist sie für die Definitionen von Männlichkeit überall von Bedeutung. Auf einer anderen Ebene bewegt sich eine Diskussion über Männlichkeit und Nationalismus, bei der es um den geschlechtstypischen Charakter von nationaler Identität, Staatsbürgerschaft und Kriegsführung geht (vgl. Nagel 1998). Auf neues Interesse stößt die theoretische Aufarbeitung der Männlichkeit bzw. der Genderpraktiken und Genderpositionen von Männern. Hearn (1998) gibt einen Überblick über die möglichen Standpunkte von Männern, die über Männer forschen, und plädiert für eine Art kritischen Realismus. Collier (1998) verfolgt, wie oben schon gesagt, einen dekonstruktivistischen Ansatz, der zunehmend an Einfluss gewinnt. In einer Arbeit des norwegischen Soziologen Holter (1997), die auf ausführlichen empirischen Langzeitstudien sowie einer sorgfältigen Konzeptualisierung basiert, wird die Strukturanalyse wiederbelebt. Holter vertritt die These, die dem modernen Geschlechtersystem zu Grunde liegende Aufteilung zwischen Zuhause und Arbeitsplatz sei auf die strukturelle Entwicklung der europäischen Gesellschaft zurückzuführen. Männlichkeitsmuster seien resistent gegen kurzfristige Veränderungen, weil sie auf strukturellen Merkmalen der kapitalistischen Gesellschaft beruhten. Doch zeigt Holter (1996) im Rahmen einer erneuten Beschäftigung mit dem „autoritären Charakter“ und seinen Wurzeln in familialen Erfahrungen auch, wie vielfältig diese Muster sind.
Soziale Praxis Kritische Ansätze der Männlichkeitsforschung sind inzwischen über die Grenzen der akademischen Sozialwissenschaften hinaus in eine Reihe von Feldern der sozialen Praxis vorgedrungen. Dazu gehören Erziehung und Bildung, Gewaltprävention, Psychotherapie und Sozialarbeit und das Gesundheitswesen. Im Bereich von Erziehung und Bildung wurden Fragen der Männlichkeit im Zusammenhang mit der Lesekompetenz von Jungen, Gewalt und Schikanen („Bullying“) in der Schule, Fächerwahl, Schulsport, sexueller Identität und Schulabbruch behandelt (vgl. Mac an Ghaill 1994, Connell 2000). Auch bildungspolitisch beginnt die Männlichkeitsforschung im Hinblick auf die Gleichbehandlung der Geschlechter in Bildungssystemen wie auf die Praxis in den Schulen an Einfluss zu gewinnen, auch wenn ihre Wirkung immer noch schwer messbar ist (vgl. Lingard/Douglas 1999). Ein weiteres wichtiges Feld für die praktische Anwendung ist die Gewaltprävention bei Männern (vgl. Welsh 2001, Denborough 1996). Dieses Feld überschneidet sich natürlich mit dem der Erziehung und Bildung. Wölfl (2001) legte vor Kurzem eine Bestandsaufnahme vor zu den Problemen und Möglichkeiten einer „genderorientierten Pädagogik“ als einer Strategie im Umgang mit gewaltgeneigten Jungen. Eine bemerkenswerte Initiative für Erwachsene ist die 1991 in Kanada begründete White Ribbon Campaign, die Männern Mut machen soll, den „Verkrüppelungsprozess“, der „mit der Ausbildung der ‚normalen‘ hegemonialen Formen von Männ-
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lichkeit“ einhergeht, „der der Ursprung des Problems der Männergewalt ist“ (Kaufman 2001: 46), zu erkennen und zu bekämpfen. Zu den Aktivitäten dieser Organisation gehören öffentliche Veranstaltungen unter Einbeziehung von Massenmedien und Regierungsvertretern, Zusammenarbeit mit Frauenorganisationen, Erschließen von Finanzierungsmöglichkeiten für Frauenhäuser, Krisenzentren für vergewaltigte Frauen und andere Frauenprogramme, Arbeit in weiterführenden Schulen und Arbeit an einer neuen, um die Aspekte der Pflege und Fürsorge erweiterten Definition von Vaterschaft und Männlichkeit. Die schädlichen Auswirkungen der Männlichkeit betreffen das Leben von Männern wie von Frauen. Beispiele für Gesundheitsprobleme von Männern sind Sterblichkeit durch Herzkrankheiten, höhere Raten von Unfallverletzungen, höhere Selbstmordraten und höhere Raten von Alkoholmissbrauch (vgl. Schofield u.a. 2000). Dies sind praktische Probleme, die angegangen werden müssen, und die jüngste Entwicklung des Bereichs „Gender und Gesundheit“ (Hurrelmann/Kolip 2002) liefert den richtigen Kontext. Das Thema „Männergesundheit“ als soziales Problem in liberaldemokratischen Ländern entwickelte sich im Allgemeinen im Zusammenhang mit dem Thema Frauengesundheit und hat in dem stark konkurrenzorientierten Umfeld der Gesundheitsdienstleistungen häufig einen antifeministischen Beigeschmack (vgl. Wadham 2001: 80). Ein Ansatz, der Gesundheitsprobleme daraufhin untersucht, wie das Geschlechterverhältnis – etwa geschlechtstypische Arbeitsteilung und geschlechtstypische Machtverhältnisse – auch körperlich in Gestalt bestimmter Gesundheitsprobleme zum Ausdruck kommt, beginnt erst in jüngster Zeit Eingang in die Gesundheitspolitik zu finden (vgl. Schofield u.a. 2000). Negative Effekte von Männlichkeitsdynamiken wurden auch auf der Ebene des individuellen Lebens thematisiert, und zwar durch Therapie. So entwickelte Kupers (1993) einen therapeutischen Ansatz für Identitätskrisen bei Männern, der sowohl die emotionalen Realitäten des Lebens von Männern als auch gesellschaftliche Verhältnisse, wie etwa die wachsende Arbeitslosigkeit, berücksichtigt. Mitte der 1990er Jahre war die „Männerarbeit“ in Psychotherapie und Sozialarbeit bereits ein hoch entwickeltes und diversifiziertes Praxisfeld (vgl. Brandes/Bullinger 1996), in dem die Männlichkeitsforschung zunehmend Anwendung fand. Zwar ist persönliche Veränderung wichtig, doch um die heutige Geschlechterordnung zu verändern, muss man, wie Segal (1997: 294) betont, gegen das gesamte Netz aus ineinandergreifenden sozialen, ökonomischen und politischen Praktiken, Auffassungen von Gemeinwohl, sozialer Absicherung und Verständnis von Sexualität angehen, das Männern Macht verleiht.
Ausblick Zur Zeit analysiert die Forschung multiple Formen der Männlichkeit und Probleme von Jungen und Männern in einer sich verändernden Weltordnung. Dabei werden ihre theoretischen und methodologischen Ansätze immer vielfältiger. Zweck dieser Untersuchungen über die noch im Entstehen begriffenen Formen der Männlichkeit ist nicht bloß, sie zu verstehen und/oder zu erfassen. Gerade in Zeiten des Wandels und der Umwälzung in den Geschlechterbeziehungen können auch die Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern neu ausgehandelt werden. Dies kann zu unheilvollen Ergebnissen führen, wie derzeitige internationale Konflikte nahe legen. Doch auf begrenzteren Schauplätzen sind Männer und Jungen oft auch Mitwirkende bei Veränderungen hin zu demokratischen Geschlechterbeziehungen. Ein besseres Verständnis der Konstruktion von Männlichkeit kann dazu beitragen, geschlechterbezogene Aushandlungsprozesse auf mehr Gleichheit und mehr Frieden hin zu orientieren. Ins Deutsche übertragen von Hella Beister
Verweise: Jungen Junge Männer
Männlichkeitsforschung
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Angelika Wetterer
Konstruktion von Geschlecht: Reproduktionsweisen der Zweigeschlechtlichkeit
Zentrale Grundgedanken Grundlegend für den Begriff der Geschlechterkonstruktion und die inzwischen vielfältigen Konzepte, die sich mit der kulturellen bzw. sozialen Konstruktion von Geschlecht befassen, ist eine Perspektive, die dem Alltagswissen kompetenter Mitglieder unserer Gesellschaft diametral entgegengesetzt ist. Zu den fraglosen und nicht weiter begründungsbedürftigen Selbstverständlichkeiten unseres Alltagswissens gehört es, die Geschlechtszugehörigkeit von Personen und die Zweigeschlechtlichkeit des Menschen als natürliche Vorgabe sozialen Handelns und sozialer Differenzierung zu betrachten. Dass es zwei und nur zwei Geschlechter gibt; dass jeder Mensch entweder das eine oder das andere Geschlecht hat; dass die Geschlechtszugehörigkeit von Geburt an feststeht und sich weder verändert noch verschwindet; dass sie anhand der Genitalien zweifelsfrei erkannt werden kann und deshalb ein natürlicher, biologisch eindeutig bestimmbarer Tatbestand ist, auf den wir keinen Einfluss haben – all das sind Basisregeln unserer „Alltagstheorie der Zweigeschlechtlichkeit“ (Hagemann-White 1984), die ebenso unbezweifelbar richtig scheinen wie die Annahme, dass dies zu allen Zeiten so war und auch in anderen Kulturen nicht anders ist. Konzepte der sozialen Konstruktion von Geschlecht verstehen die soziale Wirklichkeit zweier Geschlechter in Gesellschaften wie der unseren hingegen als Ergebnis historischer Entwicklungsprozesse und einer fortlaufenden sozialen Praxis, die immer neu auch zur Reproduktion der Alltagstheorie der Zweigeschlechtlichkeit beiträgt. Anders als in den Ansätzen der Frauen- und Geschlechterforschung, die auf einer Unterscheidung von Sex und Gender, von biologischem und sozialem Geschlecht basier(t)en und sich auf dieser Grundlage auf die Analyse des sozialen Geschlechts konzentrier(t)en, wird damit in der Konsequenz auch das biologische Geschlecht, auch der Geschlechtskörper historisiert und „nicht als Basis, sondern als Effekt sozialer Praxis“ begriffen (Hirschauer 1989: 101). In Konzepten der Geschlechterkonstruktion gibt es keine außerkulturelle Basis sozialen Handelns, keine vorsoziale Grundlage oder Anschlussstelle sozialer Differenzierungs- und Klassifikationsprozesse, keine der Geschichte vorgelagerte ‚Natur des Menschen‘ (mehr), die gleichsam in die Gegenwart hineinragt und sie – wie auch immer vermittelt – präformiert. Trotz ansonsten erheblicher Unterschiede im Einzelnen haben konstruktivistische Ansätze darin einen gemeinsamen, erkenntnistheoretisch begründeten Ausgangspunkt, dass sie die Unterscheidung von Natur und Kultur rsp. von Sex und Gender nicht ihrerseits fortschreiben, sondern als Bestandteil einer reflexiven sozialen Praxis begreifen, die beides zugleich hervorbringt. Natur und Kultur, Sex und Gender werden entsprechend als „gleichursprünglich“ verstanden (Gildemeister/Wetterer 1992: 210). Sie konstituieren einander wechselseitig. Die Bedeutung des einen hängt an der Bedeutung des anderen, weil es „überhaupt keine ‚natürliche‘, von der Dimension des Sozialen freie Wahrnehmung und Betrachtung des Körpers geben kann“ (Douglas 1974: 106). Über die ‚Natur des Menschen‘ lässt sich deshalb allenfalls eine „Null-Hypothese“ formulieren: „daß es keine notwendige, naturhaft vorgeschriebene Zweigeschlechtlichkeit gibt, sondern nur verschiedene kulturelle Konstruktionen von Geschlecht“ (Hagemann-White 1988: 230).
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Von diesem Ausgangspunkt her verschiebt sich zugleich die zentrale Forschungsfrage: Für Konzepte der Geschlechterkonstruktion ist nicht (mehr) die Frage nach Geschlechtsunterschieden und geschlechtsspezifischen Differenzen dieser oder jener Art und Reichweite zentral, die implizit ein mimetisches Verhältnis zwischen Sex und Gender voraussetzt. Sie konzentrieren sich statt dessen auf die Rekonstruktion von Prozessen der Geschlechterunterscheidung. Die für sie zentrale Frage lautet, wie Frauen und Männer zu verschiedenen und voneinander unterscheidbaren Gesellschaftsmitgliedern werden und zugleich das Wissen miteinander teilen, dass dies natürlich, normal und selbstverständlich ist. Ihr Gegenstand ist von daher stets ein doppelter, auch wenn die verschiedenen „Spielarten des Konstruktivismus“ (Knorr-Cetina 1989) hier durchaus unterschiedliche Akzente setzen. Es geht ihnen um die Analyse der sozialen Prozesse, die zwei Geschlechter hervorbringen, und um die Rekonstruktion der „Zweigeschlechtlichkeit als Wissenssystem“ (Hirschauer 1996). Die Konstruktionsweisen der Zweigeschlechtlichkeit, die unterschiedlichen Modi und Medien der Geschlechterkonstruktion, sind ebenso ihr Thema wie die Naturalisierungsprozeduren, die den Gesellschaftsmitgliedern den Blick darauf verstellen, dass sie selbst daran beteiligt sind hervorzubringen, was sie immer schon und vor jedem Tun zu haben meinen.
Erste Bausteine für eine Theorie der Geschlechterkonstruktion Die ersten Bausteine für eine Theorie der Geschlechterkonstruktion sind in der soziologischen Interaktionstheorie und in der Kulturanthropologie entwickelt worden. Harold Garfinkels klassische Studie zum Geschlechtswechsel der Transsexuellen „Agnes“ (1967) zeigt erstmals, wie die Geschlechtszugehörigkeit von Personen in Alltagsinteraktionen fortlaufend hergestellt wird, statt ihr als natürliche Tatsache zu Grunde zu liegen, und wird damit zum Ausgangspunkt für das in der Folgezeit weitläufig ausgebaute Konzept des „doing gender“ (West/Zimmerman 1987). Erving Goffman (1977, dt. 1994) erweitert wenig später die Perspektive durch den Blick auf die institutionalisierten Rahmenbedingungen, die Geschlechterarrangements, die ein „doing gender“ nahelegen, es vorstrukturieren und abstützen, und bezieht damit Reproduktionsweisen der Zweigeschlechtlichkeit in die Analyse ein, die erkennbar über die später vielfach monierten mikrosoziologischen Engführungen des konstruktivistischen Paradigmas hinausweisen (zu den an Garfinkel und Goffman anschließenden Konzeptualisierungen vgl. ausführlich den Artikel „doing gender“ in diesem Buch). Ist im Rahmen der interaktionstheoretischen Tradition das Alltagshandeln in unserer Gesellschaft der Ort, an dem sich „die Konstrukteure des Geschlechts auf frischer Tat ertappen“ lassen (Hagemann-White 1993), so gelangt die Kulturanthropologie durch den Blick auf andere Gesellschaften zu dem Schluss, dass wir es bei der Zweigeschlechtlichkeit nicht mit einer natürlichen Tatsache, sondern mit einem „matter of objective, institutionalized facts, i.e. moral facts“ zu tun haben (Garfinkel 1967: 122). Nicht alle Gesellschaften, das zeigt inzwischen eine Vielzahl von Studien, kennen zwei und nur zwei Geschlechter; nicht in allen Kulturen ist die Geschlechtszugehörigkeit eine lebenslange Obligation; nicht alle Gesellschaften stimmen mit uns darin überein, dass es die Genitalien sind, die sie anzeigen und verbürgen, und die Natur, die sie bereitstellt (zuerst: Ortner/Whitehead 1981, Pommata 1983). So weisen insbesondere die aus vielen frühen Kulturen bekannten Initiationsriten darauf hin, dass der Übergang vom Kind zum Status eines ‚Mannes‘, einer ‚Frau‘ oder u.U. eines dritten Geschlechts andernorts kollektiv inszeniert und vollzogen werden muss, um ‚wirklich‘ und sozial verbindlich zu werden. Hier ist (noch) unverstellt sichtbar, was bei uns allenfalls für Transsexuelle und die Angehörigen von „intersexed infants“ (Kessler 1998) zu einer offenkundigen Erfahrung wird: Dass die Geschlechterklassifikation auf sozialer Übereinkunft basiert und die Kriterien der Geschlechtszuordnung soziale Kriterien sind, die von Fall zu Fall der Validierung
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bedürfen (vgl. u.a. Williams 1986, Amadiumi 1987, Godelier 1987, Herdt 1996, kritisch dazu: Schröter 2003). Die Anfänge dieser Studien gehen bis auf Margaret Mead zurück, die schon Ende der 1950er Jahre darauf aufmerksam gemacht hat, dass es Gesellschaften gibt, die institutionalisierte Geschlechtswechsel oder mehr als zwei Geschlechter kennen und damit nachdrücklich vor Augen führen, dass unsere Alltagstheorie der Zweigeschlechtlichkeit keineswegs von universaler Selbstverständlichkeit ist (Mead 1958). Ebenfalls schon bei Mead findet sich die Beobachtung, dass die Menschen in allen Gesellschaften, gemessen allein an ihrer körperlichen Erscheinungsform, weit eher ein Kontinuum bilden, als in zwei differente Gruppen auseinander zu fallen; eine Beobachtung, die Hartmann Tyrell noch einmal aufgreift, um deutlich zu machen, dass der Rigorismus, mit dem die zahllosen Mittellagen zwischen ‚eindeutig männlich‘ und ‚eindeutig weiblich‘ ausgeblendet und ausnahmslos alle Menschen entweder dem einen oder dem anderen Geschlecht zugeschlagen werden, „ersichtlich etwas Künstliches (ist), auf das das geschlechterklassifikatorisch ungeübte Auge (...) ohne weiteres nicht kommen würde“ (Tyrell 1986: 457). Für ihn ist das zweigeschlechtliche Klassifikationsverfahren u.a. deshalb „etwas an sich eher Unwahrscheinliches“ (ebd.: 456). Ähnliche Überlegungen haben Gayle Rubin (1975) schon früh zu der Frage veranlasst, woher das zweigeschlechtliche Klassifikationsverfahren denn stammt, wenn nicht aus der Natur. Die Antwort, die sie in ihrer Auseinandersetzung mit Levi-Strauss entwickelt, ist in der konstruktivistischen Geschlechterforschung historischer und soziologischer Provenienz inzwischen theoretisch und empirisch umfangreich ausgearbeitet und fundiert worden. Sie lautet: Es ist vor allem anderen die Arbeitsteilung, die ein „sameness taboo“ institutionalisiert und Frauen und Männer zu Verschiedenen macht: „The division of labor can (...) be seen as a ‚taboo‘: a taboo against the sameness of men and women, a taboo dividing the sexes in two mutually exclusive categories, a taboo which exacerbates the biological differences between the sexes and thereby creates gender. (....) In fact, from the standpoint of nature, men and women are closer to each other than either is to anything else – for instance mountains, kangaroos or coconut palms. The idea that men and women are more different from one another than either is from anything else must come from somewhere other than nature. (...) Far from being the expression of natural differences, exclusive gender identity is the supression of natural similarities.“ (Rubin 1975: 178-180)
Weichenstellend für die Weiterentwicklung des Konzepts der Geschlechterkonstruktion ist schließlich die Studie „Gender. An Ethnomethodological Approach“ von Suzanne Kessler und Wendy McKenna (1978) geworden. Kessler/McKenna verwenden nicht nur erstmals explizit den Begriff der „social construction of gender“ (1978: XI & 19), der schnell zum Oberbegriff für teils divergierende Zugangsweisen avanciert (vgl. etwa Lorber/Farell 1991). Sie sind auch die ersten, die die zwei bislang erörterten Theorietraditionen zusammenführen und das Spektrum konstruktivistischen Nachdenkens um neue, bis heute wichtige Themen erweitern. Sie eröffnen die inzwischen traditionsreiche Diskussion um den Stellenwert biologischen Wissens für die Analyse der Geschlechterkonstruktion, und sie fragen, wie Kinder sich die Regeln des kulturellen Systems der Zweigeschlechtlichkeit aneignen, und werden damit zu den Wegbereiterinnen einer konstruktivistisch orientierten Sozialisationsforschung. Kessler/McKennas Studie lässt sich zudem als Einführung in die wissenschafts- und erkenntniskritischen Dimensionen des Konzepts der Geschlechterkonstruktion lesen. Am Beispiel von Biologie und Psychologie zeigen sie detailliert, dass auch wissenschaftliche Untersuchungen über Geschlechtsunterschiede an unser Alltagwissen anschließen und die Existenz zweier Geschlechter nicht ‚beweisen‘, sondern ganz im Gegenteil voraussetzen: „Subjects in all research on human behavior are either females or males. For a psychologist to ask the question, ‚How are girls different from boys?‘ overlooks the fact that in order to ask the question she or he must already know what girls and boys are. Before we can ask questions about gender differences,
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similarities, and development, gender must be attributed. (...) And we will never be able to say how this is done (i.e. the gender attribution) by making more and more detailed lists of differenciating factors (...), because in order to make these lists we must already have differentiated.“ (Kessler/McKenna 1978: ix)
Die „Zweigeschlechtlichkeit als Wissenssystem“ erweist sich so, auch was das wissenschaftliche Wissen anbelangt, als integraler Bestandteil der sozialen Konstruktion von „boys and girls“; sie „gibt nur einem schon im Alltag laufenden distinguierenden Vergleich zwischen zwei sozialen Kategorien eine wissenschaftliche Form“ (Hirschauer 1996: 244) und trägt so ihren Teil zur Plausibilität und Stabilität dieser Kategorisierung bei. Einblick in einen bestimmten Ausschnitt der „gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit“ (Berger/Luckmann 1966, dt. 1970) gibt diese Erkenntnis – ebenso wie das Studium anderer Kulturen – allerdings erst, wenn man eine Schlussfolgerung ins Auge fasst, die unserem Alltagswissen womöglich noch mehr widerstrebt als die Annahme, es könne – vielleicht, irgendwann, irgendwo – mehr als zwei Geschlechter geben: „Our reality is constructed in such a way that biology is seen as the ultimate truth. This is, of course, not necessary. In other realities, for example, deities replace biology as the ultimate source of final truth. What is difficult to see, however, is that biology is no closer to the truth, in any absolute sense, than a deity.“ (Kessler/McKenna 1978: 162)
Modi & Medien der Geschlechterkonstruktion In der deutschen Frauen- und Geschlechterforschung sind die ersten Bausteine für eine Theorie der Geschlechterkonstruktion erst relativ spät breit rezipiert worden. Noch eingangs der 1990er Jahre war von einer regelrechten „Rezeptionssperre“ die Rede (Gildemeister/Wetterer 1992: 203), die vor allem Carol Hagemann-White zu spüren bekam, die schon in den 1980er Jahren die interaktionstheoretischen und kulturanthropologischen Befunde aufgriff und sie für die Sozialisationsforschung (1984) ebenso fruchtbar machte wie für die kritische Auseinandersetzung mit den differenzorientierten Ansätzen in der deutschen Frauenforschung (1988). Das änderte sich im Verlauf der 1990er Jahre schnell und grundlegend. Heute ist es nicht mehr die Rezeptionssperre, die moniert wird, sondern die inflationäre Verwendung des Begriffs der Geschlechterkonstruktion, die auch zur Folge habe, dass „der Begriff ‚konstruktivistische Ansätze‘ i.d.R. mehr verwirrt als erhellt“ (Gildemeister 2000: 217), weil unter dem Homogenität suggerierenden Label Zugangsweisen versammelt sind, die in Gegenstandsbezug und theoretischem Bezugsrahmen teilweise große Unterschiede aufweisen (vgl. Gildemeister 2001, Behnke/Meuser 1999). Das Spektrum ist in der Tat weit gefächert. Unter dem Label „konstruktivistisch“ finden sich heute nicht nur sozialkonstruktivistische, wissenssoziologische, diskurstheoretische und dekonstruktivistische Ansätze; auch innerhalb der ‚Schulen‘ gibt es vielfältige Varianten, die mit der disziplinären Einbindung ebenso zusammenhängen wie mit dem jeweiligen Forschungsgegenstand. Von einer wie auch immer einheitlichen Theorie der Geschlechterkonstruktion sind wir weit entfernt. Gleichwohl teilen konstruktivistische Ansätze den eingangs skizzierten gemeinsamen Ausgangspunkt. Und so lassen sich die Erträge der in den 1990er Jahren durchgeführten historischen und soziologischen Studien zu je verschiedenen Modi und Medien der Geschlechterkonstruktion durchaus aufeinander beziehen und in ein Gesamtbild integrieren, das auf zentrale Reproduktionsweisen der Zweigeschlechtlichkeit aufmerksam macht.
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Die Verzweigeschlechtlichung der Natur: Wissenschaftliches Wissen als Medium der Geschlechterkonstruktion In vielen Publikationen zur Geschlechterkonstruktion findet sich an zentraler Stelle eine Darstellung der in der Biologie entwickelten Verfahren der Geschlechtsbestimmung (vgl. u.a. Hagemann-White 1984: 29-42, Lorber 1994: 37-54, Christiansen 1995). Die Frage, die dabei im Hintergrund steht, ist, ob die Biologie eigentlich einlöst, was unser Alltagswissen ihr zuschreibt: ob sie ‚wirklich‘ beweist, dass es von Natur aus zwei und nur zwei Geschlechter gibt. Selbst wenn die Antwort nicht nur aus den bei Kessler/McKenna genannten Gründen negativ ausfällt – auch viele BiologInnen finden an und in den Körpern das schon von Mead beobachtete Kontinuum; zudem sind biologische Geschlechtsbestimmungen weder eindeutig, noch widerspruchsfrei (vgl. Fausto-Sterling 1985, 2000) –, so ist jedoch bereits die Frage selbst nicht unproblematisch. Sie lässt die Definitionsmacht der Biologie untangiert; und sie hält daran fest, man könne einen ‚objektiven‘, sozial unverstellten Blick auf den Körper werfen. Im Anschluss an die wissenschafts- und erkenntniskritischen Überlegungen von Kessler/ McKenna und Hirschauer ist eine andere Frage vordringlich: die Frage, inwiefern sich auch in der Biologie und anderen mit dem Menschen befassten Naturwissenschaften „die Konstrukteure des Geschlechts auf frischer Tat ertappen“ lassen. Sie lassen sich ‚ertappen‘ – und zwar in einem historisch relativ gut eingrenzbaren Zeitraum. Das wissenschaftliche Wissen um die natürliche Zweigeschlechtlichkeit gewinnt – ebenso wie das Alltagswissen um die natürliche Geschlechterdifferenz – im 18. und 19. Jahrhundert zunehmend deutliche Konturen und wird im 20. Jahrhundert in Teildisziplinen der Biologie und Medizin weiter ausgebaut. Ein erster wichtiger Beitrag zur Rekonstruktion der Zweigeschlechtlichkeit als Wissenssystem stammt von Thomas Laqueuer (1990, dt. 1992), der zeigt, wie im 18. Jahrhundert in der Medizin das noch aus der Antike stammende „Ein-Geschlechter-Modell“ abgelöst wird durch ein „Zwei-Geschlechter-Modell“, das Männer und Frauen als grundlegend verschieden denkt und den Unterschied an den Geschlechtsorganen festmacht. Die weiblichen Genitalien sind nicht mehr die nach innen gewendete Version der männlichen und ansonsten aus dem gleichen Stoff gemacht, wenn auch nicht ganz so vollkommen. Frauenkörper und Männerkörper sind im modernen, aufgeklärten Denkmodell durch und durch verschieden geworden. Das macht wenig später auch Claudia Honegger (1991) in ihrer Geschichte der Anthropologie deutlich. In der neuen Wissenschaft vom Menschen, die im 18. Jahrhundert entsteht, repräsentiert der Mann als ‚Kulturwesen‘ den Menschen schlechthin. Die „Sonderanthropologie des Weibes“ hingegen kann – vollends im 19. Jahrhundert – in der Gynäkologie abgehandelt werden: Für die Frau als ‚Naturwesen‘ ist der Uterus zum zentralen Organ geworden. Ihm lässt sich auch die ‚natürliche Bestimmung des Weibes‘ entnehmen und so wird der Gynäkologe zum Sachverständigen in allen Frauenfragen, seien diese körperlicher, psychischer, sozialer oder politischer Art. Im wahrsten Sinne des Wortes ver-zwei-geschlechtlicht wird im 18. Jahrhundert aber nicht nur der Mensch, sondern die gesamte belebte Natur, wie Londa Schiebinger (1993, dt. 1995) am Beispiel von Linnés Klassifikation der Arten anschaulich nachzeichnet. Selbst die Pflanzen, an denen zuvor andere Merkmale wichtig schienen, erhalten nun Geschlechtsorgane, ja sie liegen im ‚Brautbett‘ und ‚vermählen‘ sich. Instruktiv ist neben dem „Intimleben der Pflanzen“ (Schiebinger 1995: 26-66) die Klärung der Frage, „woher die Säugetiere ihren Namen haben“ (ebd.: 67-113). Querverbindungen zur Sozialgeschichte und den politischen Diskussionen der Zeit, zur Debatte um das Ammenwesen, das Stillen und die ‚natürliche‘ Mutterliebe (vgl. Badinter 1981), machen eine auch in der zeitgenössischen Ikonografie ablesbare Obsession mit der weiblichen Brust sichtbar, die in der Bezeichnung „mammalia“ ihre Fortsetzung findet – obwohl der lateinische Terminus nur die Hälfte der Spezies erfasst und deshalb Linnés sonstiger Systematik eigentlich nicht entspricht. In einer dezidiert wissenschaftstheoretischen und erkenntniskritischen Perspektive hat auch Evelyn Fox-Keller die Metaphorik biologischen Denkens untersucht, wobei sie sich auf die Mo-
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lekularbiologie des 20. Jahrhunderts bezieht (1995, dt. 1998). Fox-Keller macht differenziert deutlich, was inzwischen durch eine Vielzahl weiterer Studien belegt ist: Nicht nur die zweigeschlechtliche Klassifikation, sondern die grundlegenden Denkmodelle der Biologie sind der Sozialwelt und dem jeweils zeitgenössischen Alltagswissen entnommen. Die Geschlechterdifferenz und mit ihr ggfs. historisch variable Geschlechterstereotype werden aus der Gesellschaft in die Wissenschaft und von der Wissenschaft in die Natur transferiert – nicht umgekehrt. Nicht nur Linnés Hochzeit haltende Pflanzen, auch die „man-the-hunter-woman-the-gatherer“-Hypothese der Primatenforschung (vgl. Haraway 1989, Sperling 1991) oder die vom aktiven Sperma und dem passiven Ei handelnde ‚Erzählung‘ der Molekularbiologie (vgl. Martin 1991) zeigen, dass die Produktion wissenschaftlichen Wissens als ein spezifischer, den Regeln wissenschaftlichen Beweisens folgender Modus der Geschlechterkonstruktion zu verstehen ist. Die Metaphern – auch darauf weist Fox-Keller hin – sind in unterschiedlichem Maße wissenschaftlich produktiv; ihre Erklärungsreichweite stößt an Grenzen, die auch im Gegenstand liegen. Aber entnommen sind sie der Sozialwelt und nicht der Natur ‚selbst‘, da sind auch die avancierten Denkmodelle der Gen- und Reproduktionsforschung keine Ausnahme (vgl. Fox-Keller 2000, dt. 2001).
Arbeitsteilung und Geschlechterkonstruktion: Institutionalisierte Reproduktionsweisen der Zweigeschlechtlichkeit Im 18. Jahrhundert finden wir nicht nur die Anfänge des zweigeschlechtlichen Wissenssystems in Biologie, Medizin und Anthropologie, sondern auch die Anfänge der bürgerlichen Familie und einer mit ihr verbundenen Arbeitsteilung, die Frauenwelt und Männerwelt in einer Weise trennt, die in der Geschichte beispiellos ist. Auch und zu allererst die Sozialwelt wird in der neu entstehenden bürgerlichen Gesellschaft auf qualitativ neue Weise ver-zwei-geschlechtlicht und – im Verständnis der Zeitgenossen – naturalisiert. Hier liegt der Ausgangspunkt auch für die Metaphorik der Biologie. Wie tiefgreifend der Übergang von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft das alltagsweltliche Verständnis der Geschlechterdifferenz veränderte, hat Karin Hausen bereits in ihrem klassischen Aufsatz zur „Polarisierung der Geschlechtscharaktere“ (1978) herausgearbeitet. Waren in der ständischen Gesellschaft die an die Geschlechtszugehörigkeit geknüpften Rechte und Pflichten an bestimmte soziale Positionen gebunden, so werden sie – zunächst im Bürgertum – ins Innere der Person verlagert und zur inneren Verpflichtung, die als solche alles Handeln, Denken und Fühlen bestimmt. Der Geschlechtscharakter ist gerade nicht mehr positional verankert und insofern ersichtlich sozial konzipiert. Er wird zum ‚natürlichen Geschlechtscharakter‘ und die an die Geschlechtszugehörigkeit geknüpften sozialen Erwartungen werden zur ‚natürlichen Bestimmung‘ insbesondere des Weibes, das im Inneren der Familie seinen naturgemäßen Platz findet, während der Mann hinaus geht in die Welt der Kultur, der Berufe, der Wissenschaften und der Künste (vgl. dazu am Beispiel der Begriffsgeschichte auch: Frevert 1995). Die mit der bürgerlichen Familie einsetzende Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern ist in einem sozialkonstruktivistischen Theoretisierungsrahmen bislang vor allem mit Blick auf die berufliche Arbeitsteilung eingehend untersucht worden. Dabei lassen sich zwei einander ergänzende Spielarten unterscheiden. Zum einen ist die mikrosoziologische Perspektive des „doing gender while doing work“ in den letzten Jahren in zahlreichen Studien differenziert ausgearbeitet worden. Zum anderen ist die an Geschlechtswechseln reiche Geschichte der Frauen- und Männerberufe zum Ausgangspunkt dafür geworden, Prozesse der Berufskonstruktion und Professionalisierung als spezifischen Modus der Geschlechterkonstruktion zu begreifen und – im Anschluss an Goffman – institutionalisierte Reproduktionsweisen der Zweigeschlechtlichkeit in die Analyse einzubeziehen (so ansatzweise bereits bei Gildemeister/Wetterer 1992, vgl. auch Wetterer 1992, 1995). Im Mittelpunkt steht dabei das Vorhaben, Prozesse der Geschlechterkonstruktion (auch) auf der Meso-Ebene der Institutionen und Organisationen zu lokalisieren und so
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Angelika Wetterer
die mikrosoziologischen Engführungen abzubauen, die die Erklärungsreichweite des „doing gender“-Konzepts begrenzen. Eingehend behandelt ist diese theoretische Perspektive bei Angelika Wetterer (2002), die am Beispiel der Arbeitsteilung im Gesundheitsbereich eine Entwicklung rekonstruiert, die an die Polarisierung der Geschlechtscharaktere anschließt. In einer ersten Phase findet die neue, bürgerliche Konzeption der Geschlechterdifferenz ihr Korrelat im Berufsbereich in der hierarchischen Beziehung zwischen der Männern vorbehaltenen Profession des Arztes und der Krankenpflege, die im 19. Jahrhundert zum ersten bürgerlichen Frauenberuf wird. Dabei ist es – im Unterschied zur schon in der ständischen Gesellschaft verbreiteten Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern – nun der „natürliche Geschlechtscharakter“, der die spezifische Eignung der Frauen für die Pflege begründet und ‚beweist‘, dass nur Männer Ärzte sein können. In einer zweiten Phase wird die interberufliche Arbeitsteilung als Modus der Geschlechterkonstruktion erweitert um die intraberufliche Arbeitsteilung – zunächst zwischen Ärzten und Ärztinnen, in der Folgezeit in einer Vielzahl weiterer Berufe und Professionen. Im einen wie im anderen Fall wird die Verbindung zwischen Beruf und Geschlecht hergestellt durch Prozesse der Analogiebildung, die für die Zeitgenossen auf plausible Weise zeigen, dass berufliche Tätigkeit und Geschlechtscharakter einander korrespondieren. Von einer solchen Korrespondenz geht noch das in den 1970er Jahren entwickelte Konzept des „weiblichen Arbeitsvermögens“ aus (Beck-Gernsheim/Ostner 1979; Ostner 1991). Konstruktivistisch gewendet, stellt sich die Sache hingegen anders dar: Hier erweist sich die Etablierung von Frauenberufen und Männerberufen rsp. von Frauen- und Männerterrains innerhalb der Berufe als Institutionalisierung eines „sameness taboos“ (Rubin), das die Geschlechter überhaupt erst zu verschiedenen macht. Der Entwicklung der Krankenpflege zum bürgerlichen Frauenberuf korrespondiert deshalb nicht zufällig ein Prozess der „Verweiblichung der Frauen“, der im Nachhinein die Plausibilität der Analogiebildung zu ‚beweisen‘ scheint. Umstritten ist in der Forschung gegenwärtig, inwiefern auch aktuelle Prozesse der Geschlechterkonstruktion im Medium der beruflichen Arbeitsteilung grosso modo diesem Muster folgen. So haben insbesondere Bettina Heintz und Eva Nadai wiederholt die These vertreten, in den letzten Jahren sei eine „De-Institutionalisierung“ der Differenz zu beobachten, die auf eine folgenreiche Umstellung im Reproduktionsmodus geschlechtlicher Differenzierungen hinweise. Anders als früher sei die Reproduktion geschlechtlicher Differenzierung heute in hohem Maße kontextabhängig und angewiesen darauf, im „doing gender“ realisiert und relevant gemacht zu werden. Zudem sei es bereichsweise zu einer Neutralisierung der Differenz gekommen, der ein „undoing gender“ korrespondiere (Heintz u.a. 1997; Heintz/Nadai 1998; Nadai 1999).
Aktuelle Forschungsfragen Aktuelle Forschungsfragen lassen sich vor allem drei Problemkomplexen zuordnen. Kontrovers diskutiert wird zur Zeit – erstens – die Frage, wie grundlegend die zunehmende Integration der Frauen in den Berufsbereich und Veränderungen im Selbstverständnis, die auf einen Bedeutungsverlust geschlechts‚spezifischer‘ Deutungsmuster hinweisen, das Geschlechterverhältnis und die Reproduktionsweise(n) der Zweigeschlechtlichkeit verändert haben. Der These einer De-Institutionalisierung oder De-Thematisierung der Differenz (vgl. Pasero 1995) stehen andere Gegenwartsdiagnosen gegenüber, die darauf aufmerksam machen, dass die in den Diskursen dominierende Semantik der Gleichheit vielfach durch eine Praxis der Differenzierung konterkariert wird, die tradierte Geschlechterpositionen bewahrt und fortschreibt (vgl. Gildemeister 2005a, 2005b). Auf die widersprüchliche Gleichzeitigkeit von Prozessen der Erosion und der Reproduktion geschlechtlicher Differenzierungen weisen auch die Ergebnisse des DFG-Forschungsschwerpunkts „Professionalisierung, Organisation, Geschlecht“ hin (vgl. Gildemeister/Wetterer 2007).
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Aktuelle Forschungsfragen ergeben sich – zweitens –, wenn man den in der Soziologie derzeit zu beobachtenden „Body Turn“ (Gugutzer 2006) aufgreift und in die Überlegungen zur Geschlechterkonstruktion ebenso einbezieht wie Bourdieus’ Konzept des Habitus als inkorporierter Form von Gesellschaftlichkeit (vgl. Bock/Dölling/Krais 2007). Der Sozialkonstruktivismus in der Tradition von Schütz und Berger/Luckmann weist, wie Michael Meuser (2006) gezeigt hat, kognitivistische Engführungen auf, die wesentliche Dimensionen der Konstruktion und Reproduktion von Geschlecht ausblenden. Für eine gleichgerichtete Revision der theoretischen Grundlagen hat kürzlich auch Stefan Hirschauer in seinem Plädoyer „Für eine Somatisierung des Wissensbegriffs“ votiert (Hirschauer 2008). Ein dritter und letzter Fragenkomplex ist eng mit einer Entwicklung verknüpft, auf die vor allem Joan Scott (2001) eindringlich hingewiesen hat: Naturalisierende Deutungsmuster haben – u.a. im Gefolge der Gen- und Reproduktionstechnologien und der Gender-Medizin – neu an Boden gewonnen. Das ist für die konstruktivistische Geschlechterforschung nicht nur deshalb bedeutsam, weil es einen ihrer zentralen Gegenstandsbereiche, das Wissen um die naturale Basis der Geschlechterunterscheidung, re-traditionalisiert. Gewichtiger noch ist Scott zu Folge die Frage, ob die vorliegenden Konzepte der Geschlechterforschung diese Entwicklung durch ihre Konzentration auf Gender mitbedingt haben und ihr deshalb bislang nur wenig entgegensetzen können. Scotts pointierte Kritik daran, dass der Begriff Gender inzwischen vielfach zu einem Synonym für Sex geworden sei und deshalb an analytischer Schärfe wie politischer Sprengkraft verloren habe, lässt sich als weiteres Plädoyer dafür lesen, den Konzepten der Geschlechterkonstruktion durch die Fokussierung auf die „Sexy Bodies“ (Villa 2001) neues Gewicht zu verleihen. Verweis: Beruf Biologie Doing gender
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Angelika Wetterer
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Regine Gildemeister
Doing Gender: Soziale Praktiken der Geschlechterunterscheidung
Zentrale Definitionen Das Konzept des „doing gender“ entstammt der interaktionstheoretischen Soziologie und ist in der Geschlechterforschung zu einem Synonym für die in dieser Tradition entwickelte Perspektive einer „sozialen Konstruktion von Geschlecht“ geworden. „Doing gender“ zielt darauf ab, Geschlecht bzw. Geschlechtszugehörigkeit nicht als Eigenschaft oder Merkmal von Individuen zu betrachten, sondern jene sozialen Prozesse in den Blick zu nehmen, in denen „Geschlecht“ als sozial folgenreiche Unterscheidung hervorgebracht und reproduziert wird. Das Konzept wurde von West/Zimmerman 1987 in einer expliziten und programmatischen Abgrenzung zur gängigen „sex-gender-Unterscheidung“ entwickelt, in der implizit von einem „natürlichen Unterschied“ ausgegangen und die kulturellen Ausprägungen von „gender“ lediglich als gesellschaftlicher Reflex auf Natur gefasst wurde. Das Konzept des „doing gender“ wurde dagegen vor dem Hintergrund von soziologischen Analysen zur Transsexualität entwickelt und besagt im Kern, dass Geschlechtszugehörigkeit und Geschlechtsidentität als fortlaufender Herstellungsprozess aufzufassen sind, der zusammen mit faktisch jeder menschlichen Aktivität vollzogen wird und in den unterschiedliche institutionelle Ressourcen eingehen: „Das Herstellen von Geschlecht (doing gender) umfasst eine gebündelte Vielfalt sozial gesteuerter Tätigkeiten auf der Ebene der Wahrnehmung, der Interaktion und der Alltagspolitik, welche bestimmte Handlungen mit der Bedeutung versehen, Ausdruck weiblicher oder männlicher ‚Natur‘ zu sein. Wenn wir das Geschlecht (gender) als eine Leistung ansehen, als ein erworbenes Merkmal des Handelns in sozialen Situationen, wendet sich unsere Aufmerksamkeit von Faktoren ab, die im Individuum verankert sind, und konzentriert sich auf interaktive und letztlich institutionelle Bereiche. In gewissem Sinne sind es die Individuen, die das Geschlecht hervorbringen. Aber es ist ein Tun, das in der sozialen Situation verankert ist und das in der virtuellen oder realen Gegenwart anderer vollzogen wird, von denen wir annehmen, dass sie sich daran orientieren. Wir betrachten das Geschlecht weniger als Eigenschaft von Individuen, sondern vielmehr als ein Element, das in sozialen Situationen entsteht: Es ist sowohl das Ergebnis wie auch die Rechtfertigung verschiedener sozialer Arrangements sowie ein Mittel, eine der grundlegenden Teilungen der Gesellschaft zu legitimieren“ (West/Zimmerman 1987: 14; Übersetzung in Gildemeister/Wetterer 1992: 237).
Damit wurde die mit dem sex-gender-Modell vorgegebene Sichtweise auf Geschlecht praktisch „umgedreht“: Geschlecht bzw. Geschlechtszugehörigkeit wird nicht als quasi natürlicher Ausgangspunkt von und für Unterscheidungen im menschlichen Handeln, Verhalten und Erleben betrachtet, sondern als Ergebnis komplexer sozialer Prozesse. Erst diese im „doing gender“ gebündelten Prozesse machen etwa die Gebärfähigkeit von Frauen zur Grundlage eines separierten und tendenziell benachteiligenden Status – und nicht umgekehrt (Lorber 1991: 356). Etwas anders ausgedrückt: Nicht „der Unterschied“ konstituiert die Bedeutung, sondern die Bedeutung die Differenz. Dieser „Zirkel der Selbstbezüglichkeit“ funktioniert eben dadurch, dass wir diese Klassifikation in der „Natur“ oder der Biologie verankern („naturalisieren“). Der Vorgang der sozialen Konstruktion wird damit unsichtbar und tritt uns im Ergebnis als so hochgradig selbstverständlich entgegen, dass schon die Frage nach dem Herstellungsmodus i.d.R. Irritationen auslöst (vgl. Douglas 1991).
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Regine Gildemeister
Um den „heimlichen Biologismus“ der sex-gender Unterscheidung zu überwinden, wurde von West/Zimmerman mit dem Konzept des „doing gender“ eine dreigliedrige Neufassung dieser Unterscheidung erarbeitet, die dem Kriterium der Selbstbezüglichkeit (Reflexivität) Rechnung trägt und ohne „natürliche“ Vorgaben auskommt. Sie unterscheiden: – „sex“: die Geburtsklassifikation des körperlichen Geschlechts aufgrund sozial vereinbarter biologischer Kriterien; – „sex-category“: die soziale Zuordnung zu einem Geschlecht im Alltag aufgrund der sozial geforderten Darstellung einer erkennbaren Zugehörigkeit zur einen oder anderen Kategorie. Diese muss der Geburtsklassifikation nicht entsprechen; – „gender“: die intersubjektive Validierung in Interaktionsprozessen durch ein situationsadäquates Verhalten und Handeln im Lichte normativer Vorgaben und unter Berücksichtigung der Tätigkeiten, welche der in Anspruch genommenen Geschlechtskategorie angemessen sind. In dieser Neufassung werden Geburtsklassifikation (sex), soziale Zuordnung (sex-category) und soziales Geschlecht (gender) als analytisch unabhängig voneinander gedacht. Die wechselseitige reflexive Beziehung zwischen diesen Dimensionen eröffnet gleichzeitig aber einen Weg, Natur als kulturell gedeutete in die soziale Konstruktion von Geschlecht hineinzuholen. Sie bewahrt vor dem Missverständnis, Geschlecht sei etwas, was ein Individuum „hat“ und das im alltäglichen Handeln nur seinen Ausdruck findet. Indem die Zugehörigkeit zur „sex-category“ ebenso wie die Innenrepräsentanz von „gender“ permanent von anderen bestätigt und interaktiv validiert werden muss, wird die schon von George Herbert Mead herausgestellte intersubjektive Konstitution von sozialer und personaler Identität in einen Bezug zur Geschlechtlichkeit gestellt. Man „hat“ ein Geschlecht erst dann, wenn man es für andere hat (vgl. Hirschauer 1993: 53f.). Für das Verständnis einer solchen Sichtweise auf Geschlecht und Geschlechtszugehörigkeit ist es unerlässlich, sich den Kontext soziologischer Interaktionstheorien zu vergegenwärtigen. Interaktion entsteht zwangsläufig immer dann, wenn Personen physisch präsent sind und sich wechselseitig wahrnehmen und aufeinander reagieren (können). „Interaktion“ ist aber nicht einfach ein Medium, in dem mehr oder weniger vorsozial gedachte Personen (als „Frauen“ oder als „Männer“) mit oder auch gegeneinander handeln, sondern Interaktion stellt einen formenden Prozess eigener Art dar, weil er Zwänge impliziert, in welche die Akteure involviert sind und denen sie nicht ausweichen können. Einer dieser Mechanismen ist der Zwang zur kategorialen und individuellen Identifikation der Interaktionsteilnehmer – und genau dabei wird Geschlechtszugehörigkeit zentral. In diesem Sinne stellt Interaktion eine eigenständige Analyseebene in der Geschlechterforschung dar (nicht: die einzige!), weil hier basale (generative) Mechanismen wirksam werden, die dem Interaktionsgeschehen als solche innewohnen und nicht weiter reduziert werden können. Jede Interaktion basiert auf Typisierung und Klassifikation. Klassifikationen sind in umfassendere Wissenssysteme und in eine Vielzahl institutioneller Arrangements eingelassen, über die Verhaltensregelmäßigkeiten und situativ angemessene Handlungsmuster zuverlässig erwartbar werden. „Geschlecht“ stellt in diesem Kontext ein in hohem Maße komplexitätsreduzierendes Klassifikationsschema dar, mit dem wir die Welt ordnen und unser Gegenüber einordnen. Bei der Kategorisierung von Personen kommt dieses Klassifikationsschema jedoch nicht einfach „zur Anwendung“ – stattdessen aktualisieren die institutionellen Arrangements und das Wissen um die damit verbundenen Verhaltens- und Handlungsmuster umgekehrt permanent den Klassifikationsprozess. Diesen wechselseitigen Prozess hatte Erving Goffman im Auge, als er die Figur des „institutional genderism“ und der „institutionellen Reflexivität“ entwickelte, dass nämlich „Geschlecht“ in sozialen Abläufen so institutionalisiert wird, „dass es genau die Merkmale des Männlichen und Weiblichen entwickelt, welche angeblich die differente Institutionalisierung begründen“ (Kotthoff 1994: 162).
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Untersuchungen zur Transsexualität und ihre theoriestrategische Bedeutung Das Konzept des „doing gender“ bzw. der interaktiven Konstruktion von Geschlecht basiert auf den Transsexuellenstudien von Harold Garfinkel (1967) und Susan Kessler/Wendy McKenna (1978). Die besondere Bedeutung dieser Studien für die Geschlechterforschung im Allgemeinen und das Konzept des „doing gender“ im Besonderen liegt darin, dass im Falle der Transsexualität Geschlecht bzw. Geschlechtszugehörigkeit nicht „einfach“ vorhanden ist und quasi naturwüchsig in der Lebensgeschichte realisiert wird, sondern dass ein Geschlechtswechsel angestrebt und vollzogen wird. Damit tritt Transsexualität in einen Gegensatz zu den grundlegenden Selbstverständlichkeiten des Alltagswissens, nämlich dass es „von Natur aus“ zwei und nur zwei Geschlechter gibt und die Geschlechtszugehörigkeit am Körper eindeutig ablesbar, angeboren und unveränderbar ist. Garfinkel folgte in seiner Fallstudie „Agnes“ dem auch andernorts fruchtbaren Prinzip, etwas über Konstruktionsweisen von „Normalität“ zu erfahren, indem er analysierte, was geschieht, wenn diese Normalität verletzt wird. Dafür ist das Phänomen Transsexualität nicht zuletzt deshalb in besonderem Maße geeignet, weil im Prozess des Wechsels von einem Geschlecht zum anderen wie in einer Art Zeitlupe sich Prozesse der Geschlechtszuweisung und der Darstellung von Geschlecht vollziehen. Die in den späten 1950er Jahren durchgeführte Fallstudie beruht auf Tonbandmitschnitten von Gesprächen zwischen einer Mann-zu-Frau-Transsexuellen („Agnes“) und einem Psychiater, in die auch Garfinkel selbst einbezogen war. Auch Transsexuelle folgen der Vorstellung einer „Natur der Zweigeschlechtlichkeit“: Sie sind sich ihrer eigenen Geschlechtszugehörigkeit sicher. Nur wenige bezeichnen sich selber als „transsexuell“. Im Fall von Agnes sind in der Stunde ihrer Geburt nicht die konsensuell begründeten Merkmale einer Klassifikation „weiblich“ vorhanden – sie wächst als Junge heran. Dennoch betrachtet sie sich selbst – sie sagt: schon immer – als Frau. Als Frau mit einem Penis. Der Penis sei ein Fehler, der korrigiert werden müsse. Der Wunsch nach und die Entscheidung für die Operation, die diesen Fehler beseitigt, folgen eben jener alltagsweltlichen Überzeugung einer biologisch begründeten Natur der Zweigeschlechtlichkeit. Vor dieser Operation ist ihr Anspruch, eine Frau zu sein, diskreditierbar. Sie muss daher ständig darauf achten, dass diese für sie selbstverständliche Kategorisierung nicht von anderen bedroht wird. Aber auch mit einer gelingenden Kategorisierung ist noch nicht alles getan: Geschlechtszuordnung (sex category) und die Validierung des sozialen Geschlechts (gender) sind nicht identisch. Die Fallstudie Agnes dokumentiert wie kaum eine andere, wie voraussetzungsvoll das „Frau-Sein“ ist – es geht um mehr und um anderes als um auf eine „Rolle“ bezogene Bündel von Verhaltenserwartungen. Es geht um komplexe ineinander verwobene und aufeinander verweisende Muster von „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“, die in jeweils situationsadäquater Weise im praktischen Handeln und Verhalten realisiert werden müssen. Indem Agnes lernt, neben einer angemessenen Erscheinungsweise (Kleidung, Frisur, Figur, Make-up etc.) die Kategorisierung verhaltens-, handlungs- und erlebnismäßig auszufüllen, erlernt sie zugleich die in die Muster eingewobene Asymmetrie: Zurückhaltung, Dienstbarkeit und Subordination als „weibliche“ Qualitäten. Am Beispiel von Transsexuellen werden uns jene sozialen Praktiken vorgeführt, die alltäglich so in Routine übergegangen sind, dass wir sie i.d.R. nicht mehr bemerken. Die Binarität/ Zweipoligkeit der Geschlechterklassifikation stellt eines der grundlegenden Typisierungsmuster dar, in denen die soziale Welt sich ordnet. Sozial kompetente Akteure handeln auf dieser Grundlage und realisieren sie als „wirklich“ – geschieht das nicht, setzen gesellschaftlich und historisch spezifische Reaktionen bis hin zu Ausgrenzungsprozessen ein. Vor diesem Hintergrund hat Garfinkel die Zweigeschlechtlichkeit als „a matter of objective, institutionalized facts, i.e. moral facts“ (1967: 122) bezeichnet. Ein Überschreiten dieses moralischen Tatbestands wie etwa im Fall der Transsexualität löst keine Erschütterung der alltagsweltlich unhinterfragten Wirklichkeit aus, sondern führt zur Konstruktion eines Dritten als „anormal“ und der darin enthaltenen Ab-
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wertung und Ausgrenzung. In diesem Sinne spricht Garfinkel von einer „Omnirelevanz“ der Kategorie Geschlecht: Sie bildet einen „invariant but unnoticed backround (...) of everyday life“ (1967: 118). Schon Garfinkel weist dabei darauf hin, dass das Wissen um die Zweigeschlechtlichkeit im Alltag nicht auf Physiologie, Hormone und/oder Chromosome rekurriert, sondern auf Darstellungsleistungen und Interpretationen dieser Darstellungen. Die ebenfalls klassisch gewordene Untersuchung von Kessler/McKenna (1978) nimmt diese Fragestellung dezidiert auf. In sehr subtilen Forschungsarrangments gehen sie den Darstellungs-, Wahrnehmungs- und Geschlechtsattributionsprozessen im „doing gender“ sowie dem darin eingewobenen Mechanismus der differenten Wertung von „weiblich“ und „männlich“ nach: dem alltäglichen Phallozentrismus. In der von ihnen untersuchten Population – amerikanische Frauen, Männer und Kinder – zeigt sich, dass der Penis das allein ausschlaggebende Kriterium der Geschlechtszuschreibung ist: „Penis equals male but vagina does not equal female“ (Kessler/McKenna 1978: 151). Es gibt keine positiven Merkmale, deren Fehlen zur Einstufung als „Nicht-Frauen“ (also: als Mann) führen würde. Eine Person wird nur dann als „weiblich“ wahrgenommen, wenn „männliche“ Zeichen abwesend sind, und so folgern die Autorinnen: „In the social construction of gender male is the primary construction“ (1978: 159). In dem damit offengelegten Modus der Konstruktion liegt ein wichtiger Ausgangspunkt für Generalisierungen und Strukturbildungen, denn das alltagsweltlich so ausschlaggebende „Faktum“ ist in alltäglichen Abläufen ja so gut wie nie sichtbar. Andere Merkmale (Kleidung, Frisur, Stimme, Mimik etc.) dienen als Hinweise auf die Existenz entsprechender Genitalien. Auf ihrer Grundlage wird angenommen, dass sie existieren. Nicht zuletzt deswegen ist die Schauseite in der Herstellung von Geschlecht so bedeutsam: Die Darstellung muss selbstevident sein. Nach der Geschlechtszugehörigkeit zu fragen, stellt einen Normbruch auf beiden Seiten dar. Kessler/McKenna betonen daher neben der Darstellungsleistung vor allem auch die „Arbeit“ der Rezipienten, eine einmal getroffene Kategorisierung auch bei Ungereimtheiten aufrechtzuerhalten. Der Akteur ist vor allem für die initiale Kategorisierung verantwortlich – entsteht dabei keine Irritation, dann kann praktisch jede Äußerung dahin gewendet werden, die einmal getroffene Zuordnung zu unterstützen: „Gender is an anchor, and once people decide what you are, they interpret everything you do in the light of that“ (Kessler/ McKenna 1978: 6). Wahrnehmung und Attribution können sich auf die machtvollste Ressource stützen, die jedem „doing gender“ zu Grunde liegt: die Zweipoligkeit der Geschlechterkategorisierung als Tiefenschicht des Alltagshandelns. Durch die Unterstellung binärer Geschlechtlichkeit kann in faktisch jeder Interaktion auf ein Reaktions- und Interpretationspotenzial vertraut werden, das auch Irritationen noch verarbeitet. Die Attributionsmuster sind damit hochflexibel: Frauen können durchaus „unweiblich“ sein – das macht sie aber noch nicht zu Nicht-Frauen. Genau diese Flexibilität wird ein Problem für Transsexuelle: In ihrer Sorge, sich durch „Fehler“ in der Darstellung der angestrebten Geschlechtszugehörigkeit zu „verraten“, wird Geschlecht für sie zu einem Dauerthema, dem sie sich nicht entziehen können. Mit der Studie von Kessler/McKenna wird die Perspektive gegenüber der Untersuchung von Garfinkel noch einmal geöffnet und weitergeführt: Es wird möglich, „queer“ als prospektiven und innovativen Umgang mit Klassifikationssystemen zu begreifen. Damit wird auf einer theoretischen Ebene das Problem des „Zwischen“ zumindest angegangen, seine Ausgrenzung als „Anomalie“ problematisiert und kritisierbar. So kann das Phänomen der Transsexualität selber als Ausdruck einer historisch spezifischen Geschlechterkonstruktion analysiert werden. Einbezogen in ein medizinisches Behandlungsprogramm, in dem vor allem der Operationswunsch zu einem Nachweis für die Echtheit der angestrebten Geschlechtszugehörigkeit wird, entrichten Transsexuelle eine Art „Normalisierungstribut“ (Hirschauer 1993: 328ff.) an die sozial durchgesetzte Norm der Zweigeschlechtlichkeit („moral fact“).
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Forschungsfelder und empirische Untersuchungen Folgt man der Omnirelevanzannahme, so können Prozesse des „doing gender“ in faktisch jeder sozialen Situation zum Gegenstand empirischer Geschlechterforschung werden. Zu berücksichtigen ist dabei jedoch, dass empirische Untersuchungen, die „nicht que(e)re“ Phänomene wie die Trans- oder auch die Intersexualität (Kessler 1990) zum Gegenstand haben, verstärkt mit einem grundlegenden Problem konfrontiert sind: der Positionierung einer externen Beobachtung. Die soziale Wirklichkeit ist zweigeschlechtlich strukturiert, die Differenz immer schon in die soziale Welt eingeschrieben und unsere Wahrnehmung darauf ausgerichtet, in jeder Situation Frauen und Männer zu unterscheiden. Im jeweiligen Untersuchungsfeld sind Forscher und Beforschte als Männer und Frauen erkennbar und als solche in den forschungsbezogenen Interpretationen und Auswertungen präsent (vgl. Gildemeister 2000). Damit besteht für Analysen des „doing gender“ immer das Problem und die Herausforderung, die eigenen, oft nicht bewussten alltagsweltlichen Annahmen über „Unterschiede“ der Geschlechter zu kontrollieren und zu reflektieren. Ein gutes Beispiel für dieses Problem sind Interaktionsanalysen (Konversationsanalysen) aus den 1970er Jahren, in denen in guter interaktionstheoretischer Tradition der Blick auf das Kommunikationsverhalten von Männern und Frauen gerichtet wurde und in denen dann aus den dort zu beobachtenden Unterschieden auf differierende Sprechweisen und Verständigungsmuster von Frauen und Männern geschlossen wurde (z.B. Fishman 1978). In der Perspektive des „doing gender“ dagegen können die Untersuchungen auch gelesen werden als Analyse der Praxis der Unterscheidung, wie nämlich Geschlechtszugehörigkeit in Interaktionen in Handeln und Verhalten übersetzt („enaktiert“) und damit hervorgebracht wird. Die Organisation der Interaktion und die Organisation des Sprechens bringen eine Vielzahl von Ereignissen hervor, die als Zeichen benutzt werden können, um die binäre Differenzierung nach Geschlecht herzustellen, aufrechtzuerhalten und zu validieren: Wer betritt zuerst einen Raum, wer eröffnet ein Gespräch, wer bezieht eine Position, wer setzt sich als nächster Sprecher in einem Redezugwechsel durch etc. Dieser Perspektivenwechsel, dass nämlich mit dem „doing gender“ nicht „Unterschiede“ untersucht werden, sondern primär Prozesse der Unterscheidung in den Blick genommen werden, ist erst in einigen wenigen Forschungsfeldern konsequent realisiert worden, noch eher rudimentär in der Soziologie des Paares, etwas ausgebauter in der Kinder- und Jugendlichenforschung sowie im Bereich der Arbeits- und Berufsforschung. Grundlegend für Untersuchungen zur Paarsoziologie können unter dem Gesichtspunkt des „doing gender“ die von Goffman (1994: 142ff.) herausgestellten Paarbildungsregeln gelten. Über die Inszenierung von Größen-, Alters-, Erfahrungs- und Kompetenzunterschieden wird auf der Paarebene eine Komplementarität hergestellt, die es beständig ermöglicht, dass sich „Frauen und Männer ihre angeblich unterschiedliche ‚Natur‘ gegenseitig wirkungsvoll vorexerzieren können“ (ebd.: 143). Paarkonstellationen und die Interaktionslogik ihrer Herstellung sind auch die Grundlage für die spezifische Form der physischen Verletzlichkeit von Frauen und ihre „Schutzbedürftigkeit“, nicht etwa Körperkraft und Physiologie. In Bezug auf die praktizierte Arbeitsteilung weisen Fenstermaker/West/Zimmerman (1991) einerseits eine erstaunliche Flexibilität nach, mit der Verhaltensbesonderheiten in Paarkonstellationen mit geschlechtlichem Sinn aufgeladen werden können; anderseits zeigen sie, dass gerade die Hausarbeit (bzw. ihre Vermeidung) in so hohem Maße „vergeschlechtlicht“ („gendered“) ist, dass auch offenkundig ungleiche Verteilungen als „fair“ und gerecht betrachtet werden (ähnlich auch: Hochschild/Machung 1993). Untersuchungen zu Paaren und Paarbildungen aus dem geschlechtertheoretischen Blick des „doing gender“ stehen derzeit noch in den Anfängen; gerade hier aber sind wichtige Aufschlüsse zur Hartnäckigkeit und Persistenz geschlechtlicher Ungleichheit qua Naturalisierung der Differenz zu erwarten. In der Kinder- und Jugendlichenforschung wird vor allem danach gefragt, wie Kinder und Jugendliche das „kulturelle System der Zweigeschlechtlichkeit“ (Hagemann-White 1984) erwerben und ihren eigenen Platz darin finden. Beispielhaft dafür sind die Untersuchungen von Barrie Thorne (1993) und Georg Breidenstein/Helga Kelle (1998).
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Die Untersuchung von Thorne zu „gender play“ in der Schule kritisiert die Mädchen und Jungen vergleichende Forschung dahingehend, dass sie die Kohärenz innerhalb der Geschlechtsgruppen übertreibe, „Mädchen ungleich Junge“ wichtiger nehme als „Mädchen ungleich Mädchen“. Statt „getrennte Kulturen“ zu untersuchen, sei es genauso wichtig, jene Situationen in den Blick zu nehmen, in denen Mädchen und Jungen miteinander agieren, und Fragen zu stellen wie die, warum die Geschlechtertrennung in (koedukativen!) Schulen sehr viel ausgeprägter ist als in vielen Nachbarschaften. Erst so gerate die „Choreographie von Geschlechterseparation und Geschlechterintegration“ (Kelle 1999: 313) systematisch in den Blick. Breidenstein/Kelle (1998) nehmen die Frage nach der „Arbeit an der Geschlechtergrenze“ in ihrer Untersuchung zu den Praktiken der Geschlechterunterscheidung in Schulklassen auf. Auch sie kommen (ähnlich wie Thorne) zu dem Ergebnis, dass der situative Sinn und die situative Relevanz der Geschlechterunterscheidung sehr verschieden sein kann – die Bedeutung kann darin liegen, Spiele zu stimulieren und zu strukturieren, Tischgruppen sich zusammenfinden zu lassen oder Außenseiter in die Klasse zu integrieren. Sie kann zurücktreten, wenn Mädchen und Jungen gemeinsam eine Aufgabe im Schulunterricht bearbeiten. Beide Studien zeigen, dass mit Geschlecht als „Zugehörigkeitsressource“ nicht automatisch „männliche Dominanz“ und „weibliche Subordination“ aktualisiert werden, sondern dass die Dynamik von Macht und Dominanz ebenfalls kontextuell analysiert werden muss. Aufgrund dieser und ähnlicher Ergebnisse entstanden mit den Forschungen immer neue Fragen, denn „häufig stellt sich die soziale Praxis eben nicht so dar, dass die Kategorie ‚Geschlecht‘ in einer Weise interaktiv bedeutsam gemacht oder aber vergessen wird, die es erlaubte, ihr eine eindeutige soziale Bedeutung (für die betreffende Situation) zuzuordnen“ (Kelle 2001: 41). Nicht zufällig verkoppeln sich viele Untersuchungen zum „doing gender“ mit der Untersuchung der Arbeitsteilung als einem ebenfalls grundlegenden Muster der Vergesellschaftung. Dabei zeigt sich, dass die Vergeschlechtlichung (gendering) von Berufsarbeit auf das engste mit der differenten Wertung der Geschlechter verbunden ist und Benachteiligungen von Frauen zur Folge hat. Statt von „geschlechtsspezifischer“ wird im Kontext dieser Untersuchungen von „geschlechterdifferenzierender“ (Gildemeister/Robert 1999) oder sogar „geschlechterkonstituierender“ (Wetterer 1995) Arbeitsteilung gesprochen, um so zu verdeutlichen, dass die Arbeitsteilung eine der wichtigsten und grundlegendsten Ressourcen in der Herstellung von zwei Geschlechtern ist und nicht umgekehrt. Unter der Fragestellung „doing gender while doing work“ sind vor allem die Studien von Christine Williams (1989, 1993) und Robin Leidner (1991, 1993) klassisch geworden. So untersuchte Williams Frauen und Männer in geschlechtsuntypischen Berufen (männliche Krankenpfleger und Frauen in der US-Armee). Sie schließt dabei an die Überlegungen in den ethnomethodologischen Studien zur Transsexualität an, dass sich Konstruktionsweisen von „Normalität“ vor allem dort gut erschließen lassen, wo diese „Normalität“ verletzt oder durchbrochen wird. In ihren facettenreichen Untersuchungen stellt sie fest, dass von der jeweiligen Minderheit im Beruf erhebliche Anstrengungen unternommen werden, die „unpassende Geschlechtszugehörigkeit“ so in das berufliche Alltagshandeln einzubringen, dass sie dem Stigma entgehen, als Frau „unweiblich“ oder als Mann „unmännlich“ zu sein. Dabei erzeugt das „doing gender“ für Männer in Frauenberufen erhebliche Vorteile, die ihnen Aufstiegschancen sichern, Frauen in Männerberufen dagegen stoßen auf vielfache Barrieren. Leidners Studie über Versicherungsvertreter und Angestellte von Fast-Food-Ketten zeigt auf, dass auch dort, wo Frauen und Männer in gemischtgeschlechtlichen Arrangements arbeiten, sie ihre Arbeit (wechselseitig) in einer Weise interpretieren, die kongruent ist zur jeweiligen Geschlechtszugehörigkeit. Ihr Fazit ist, dass es kaum eine Arbeit gibt, die nicht als „männlich“ oder „weiblich“ gedeutet werden kann – es hängt allein davon ab, wer sie ausübt. Diese Überlegung stellt auch einen wichtigen Hintergrund für die Analyse des „Geschlechtswechsels“ von Berufen dar (im Überblick: Wetterer 2002). Eine Studie, die in dem Sinne in diesen Kontext gehört, dass sie die Reproduktion der Differenz in verschiedenen Berufen untersucht, ist die Studie von Bettina Heintz u.a. (1997). In ihren
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Analysen wird aufgewiesen, dass Männer in frauendominierten Berufen wie der Krankenpflege ihre Geschlechtszugehörigkeit betonen, Frauen in männerdominierten Berufen (Informatik) dagegen die ihre in den Hintergrund treten lassen. In geschlechtsausgeglichenen Berufen wie der Sachbearbeitung verliert diese „Geschlechter-Differenzierungs-Arbeit“ auf der interaktiven Ebene an Bedeutung, stattdessen aber werden Arbeitszeitnormen, Mobilitätserfordernisse und der Ausschluss aus informellen Netzwerken zu strukturellen Hindernissen für die Berufswege von Frauen. Gerade die Herausarbeitung der Unterschiede zwischen verschiedenen Berufen führt ebenso wie die Ergebnisse der Schulforschung dazu, dass die Grundkonzeption des „doing gender“ erneut befragt werden muss: Der Vorteil der Transsexuellenforschung, an ihnen die alltäglichen Selbstverständlichkeiten geschlechtlicher Attributionen und (Selbst-)Darstellungen ans Licht bringen zu können, trägt dann nicht oder wendet sich sogar zum Nachteil, wenn es darum geht, der Frage der Bedeutung von Geschlecht in verschiedenen Kontexten auf den Grund zu gehen: Was hält unter welchen Bedingungen Prozesse der Geschlechterunterscheidung in Gang und wann und wie können sie in den Hintergrund treten oder sogar „vergessen“ werden (Hirschauer 2001)?
Ausblick auf Forschungsfragen In dem zu Beginn aufgerufenen programmatischen Beitrag stellen West/Zimmerman (1987) die Frage: „Can we ever not do gender?“ und beantworten diese mit einem strikten „No“: Die Zweiteilung der Menschen sei so tief in Wahrnehmung, Denken, Verhalten und Handeln eingedrungen und wird über so machtvolle institutionelle Ressourcen wie etwa die Arbeitsteilung und die Paarbildung abgestützt, dass wir auch dort nicht ausbrechen können, wo der Konstruktionscharakter der Zweigeschlechtlichkeit vergleichsweise offen zutage tritt wie im Falle der Transoder Intersexualität oder bisexueller oder gleichgeschlechtlicher sexueller Neigungen: Die geschlechtliche Kategorisierung sei „omnirelevant“ und unhintergehbar. Diese Einschätzung wird inzwischen von unterschiedlicher Seite in Frage gestellt: theorieimmanent, wenn die Aufmerksamkeit darauf gelenkt wird, dass in Interaktionen „gender“ niemals allein sondern stets simultan mit Klassen- und ethnischen Unterschieden erzeugt wird und dabei auch in den Hintergrund treten kann („doing difference“: West/Fenstermaker 1995, Fenstermaker/West 2001) oder wenn erwogen wird, dass neben einem „doing gender“ auch ein „undoing gender“ denkbar sein müsse (Hirschauer 1994). Eher von außen kommend wird angemahnt, dass die weltweite Institutionalisierung von Gleichberechtigungsnormen Folgen habe und „Geschlecht“ inzwischen eher ein Unordnungs- als ein Ordnungsprinzip sei (Heintz 2001). So „ordentlich“ und unhintergehbar, wie im „doing gender“ unterstellt, funktioniere etwa das Ungleichgewicht (die Asymmetrie) zwischen den Geschlechtern nicht mehr; an die Stelle einer „Semantik der Differenz“ sei eine „Semantik der Gleichheit“ getreten, so dass die Reproduktion der asymmetrischen Geschlechterdifferenz nicht mehr automatisch und routineartig erfolgt. Aus dieser Perspektive steigt die kontextuelle Kontingenz der Kategorie Geschlecht: Geschlecht muss relevant gemacht werden (vgl. Heintz/Nadai 1998). Mit beiden Perspektiven – der theorieimmanenten wie der von außen kommenden – ist die grundlegende Frage verbunden, inwieweit die Antwort eines rigiden „No“ nicht erneut die Geschlechterklassifikation reifiziert und damit außerstande ist, sozialen Wandel systematisch aufzunehmen. Die oben skizzierten neueren Forschungen, die mit dem Konzept des „doing gender“ arbeiten, differenzieren zunehmend zwischen der Omnipräsenz der Kategorie Geschlecht und ihrer differenziellen Relevanz: Die Organisation der Interaktion bringt zwar die geschlechtliche Kategorisierung der Akteure nahezu unvermeidlich hervor und in diese sind Annahmen über Status- und Wertunterschiede zwischen den Geschlechtern („gender-status-beliefs“: Ridgeway
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1997 und 2001) sehr subtil eingelassen. Inwieweit diese „gender-status-beliefs“ aber mit der Kategorisierung auch automatisch und zwingend relevant (gemacht) werden und die Geschlechterasymmetrie sich damit selbstläufig reproduziert, ist nur über vermehrte, Oberflächen- und Tiefenstrukturen von Interaktionen sowie die Zeitdimension von sozialen Prozessen in den Blick nehmende empirische Forschung zu beantworten. Verweis: Konstruktion von Geschlecht
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Paula-Irene Villa
(De)Konstruktion und Diskurs-Genealogie: Zur Position und Rezeption von Judith Butler
(De)Konstruktivistische Positionen Das soziale Gewordensein von Frauen (und Männern) ist eine der zentralen Perspektiven der Frauen- und Geschlechterforschung, die – je nach außer- und innerwissenschaftlichen Bedingungen – mehr oder weniger Konjunktur hat. So geht die Hinterfragung der Ontologie des Geschlechts innerhalb feministischer Theorien und Praxen durchaus auch auf de Beauvoir (Orig. 1949) zurück, doch kann von einer kontinuierlichen oder konsistenten Bezugnahme auf das entsprechende Motto des „Gewordenseins der Frau“ nicht die Rede sein. Zu unterschiedlich sind die je spezifischen Anknüpfungen an die von de Beauvoir formulierte Annahme, Frauen würden durch gesellschaftliche und historische Bedingungen zu solchen – und nicht durch eine Natur oder eine ontologische Bestimmung. Im Laufe der nunmehr mindestens drei Jahrzehnte umspannenden Auseinandersetzung mit der sozialen Konstruktion und Konstitution von Geschlecht haben sowohl empirische Arbeiten wie theoretische Auseinandersetzungen auf verschiedenste Disziplinen und Traditionen zurückgegriffen (und diese wiederum beeinflusst): Wissenschaftskritik, Diskursanalyse, Ethnomethodologie, Wissenssoziologie, Zivilisationstheorien, Marxismus, Psychoanalyse, Poststrukturalismus, Ideologiekritik usw. stellen die Werkzeuge dar, die Frauenund GeschlechterforscherInnen benutzen, wenn sie (de)konstruktivistisch vorgehen. Im deutschsprachigen Raum haben (sozial-)konstruktivistische Positionen eine durchaus gewichtige Tradition, die sich vor allem aus drei Richtungen speist. Zum einen hat die historisch orientierte Frauenforschung bereits in den 1970er Jahren wesentliche Arbeiten zur historischgesellschaftlichen Konstitution der „Geschlechtscharaktere“ (Hausen 1976) und zur historischen Fabrikation scheinbar universaler und biologisch begründeter „weiblicher Eigenschaften“ wie Fürsorge und Mutterschaft (Bock/Duden 1977) vorgelegt. Zum anderen hat in den 1980er Jahren eine zunächst vereinzelte, dann breite Rezeption ethnomethodologisch inspirierter Arbeiten zum Thema „doing gender“ eingesetzt (vgl. Hagemann-White 1984, 1988; Hirschauer 1989, Gildemeister/Wetterer 1992), die sich ihrerseits auf die US-amerikanischen Forschungen von Garfinkel (1967) und Kessler/McKenna (1978) beziehen. Auch die sozialisationstheoretischen Arbeiten (exemplarisch Bilden 1980) greifen das de Beauvoirsche Motto des Gewordenseins von Frauen auf und waren in der deutschsprachigen Frauenforschung bzw. sind nach wie vor in der z.B. pädagogischen Praxis prominent. Was allerdings genau „konstruktivistisch“ in diesen Perspektiven meint, ist – wie in allen „Spielarten des Konstruktivismus“ (Knorr-Cetina 1989) – je verschieden. Konstruktivismus kann sich auf historische Prozesse der Konstitution von idealtypischen Geschlechtscharakteren beziehen, auf frühkindliche Sozialisationsprozesse, auf situationsgebundene Interaktionsprozesse oder anderes mehr. Auch Judith Butler gehört mit ihren Arbeiten nach eigenem Bekunden zu solchen feministischen (Theorie-)Positionen, „die darum bemüht waren, den Sinn der Biologie als Schicksal, Biologie als Zwang zu überwinden“ (Butler 1995: 10) und sich damit der Konstruktion einer (scheinbaren) Ontologie des Geschlechts zuzuwenden. Doch greift Butler auf ein anderes Instrumentarium zurück als die oben genannten. Der Ort und Modus der Konstruktion des Geschlechts ist bei Butler vor allem der Bereich der Sprache, des Diskurses, der symbolisch-
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diskursiven Ordnungen. Sie greift, wie sich zeigen wird, auf poststrukturalistische, diskurstheoretische und sprachtheoretische Argumentationen zurück, die ihrerseits z.T. dezidiert dekonstruktivistisch operieren. Damit hat sie zunächst Irritationen und Missverständnisse ausgelöst.
Eine unbehagliche Autorin Judith Butler ist eine der prominentesten feministischen Theoretikerinnen der letzten Dekade. Seit 1991 ihr Buch „Das Unbehagen der Geschlechter“ im Deutschen erschien, hat sie die aktuellen hiesigen feministischen Theoriedebatten wie kaum eine andere Autorin beeinflusst. Dabei ist sie im deutschsprachigen Raum zunächst mit viel Skepsis rezipiert worden (vgl. Feministische Studien 11/1993), erst allmählich öffnete sich die Diskussion hierzulande einer fundierten Auseinandersetzung. Die z.T. erbitterten Debatten um Judith Butler im Kontext der deutschsprachigen Frauen- und Geschlechterforschung hatten zwei Bezugspunkte: Zum einen stellen Butlers Texte selbst auf brisante Weise zentrale Kategorien feministischer Theorie – Subjekt, Körper, Identität – in Frage. Zum anderen riefen Butlers Thesen eine heftige Diskussion über Möglichkeiten und Ausrichtungen feministischer Politik und Praxis hervor. Diese Fragen wurden von Butler nur teilweise selbst gestellt – auch wenn sie sich immer wieder als feministische Autorin mit politischem Anspruch positioniert (vgl. Butler 1991: 7; 53f. und 190ff.; 1993a: 32, 49, 51; 1998: 29, 40, 63, 227; 2001: 139f.) –, weitaus häufiger wurden insbesondere Fragen zur konkreten feministischen Praxis jedoch gleichsam ‚von außen‘ an ihre Texte herangetragen. Butler selbst verknüpft – wenn überhaupt – nur mittelbar abstrakte Begriffsarbeit und konkrete politische Praxen miteinander. Für sie ist Theorie auch eine im weitesten Sinne politische Praxis. Die zunächst polemische Rezeption Butlers war zudem so eng verknüpft mit der „Generationenfrage“ (Stoehr 1994) in der Frauen- und Geschlechterforschung, dass Butler zum regelrechten „Symptom“ (Annuß 1996) einer schwierigen Neuorientierung selbiger stilisiert wurde: Es waren tatsächlich eher junge Frauen (und auch Männer), die Butler z.T. begeistert rezipierten, wohingegen die bereits etablierten Frauen- und Geschlechterforscherinnen auf Defizite, Grenzen und Probleme der Butlerschen Überlegungen hinwiesen. Zugleich kann diese Rezeptionsdifferenz als Teil einer grundlegenden Auseinandersetzung innerhalb des „akademischen Feminismus“ verstanden werden (Hark 2005: Kap. 5). Vor diesem Hintergrund kann die Provokation gar nicht überschätzt werden, die von der systematischen Theoretisierung der Sexualität und vor allem von der unübersehbaren Butlerschen Heteronormativität ausging. Und schließlich wurde ihre Rezeption dadurch verkompliziert, dass die intensiven Diskussionen um das Butlersche Oeuvre auch die Auseinandersetzungen um den Stellenwert postmoderner und poststrukturalistischer Ansätze für feministisches Denken repräsentierten (vgl. Benhabib/Butler/Cornell/Fraser 1993). Der regelrechte ‚Butler-Boom‘, der Mitte der 1990er Jahre einsetzte, ist also nur teilweise mit der immanenten Provokation zu erklären, die von ihren Werken ausgeht. Zu diesem Boom haben vielmehr auch externe – teilweise lokale bzw. regional spezifische – Faktoren beigetragen (nationalstaatlich gerahmte politische Kulturen, spezifische Formen feministischer Bewegungen, subkulturelle Phänomene etc.). Dies darf bei einer USamerikanischen Autorin, deren erstes Buch in inzwischen mehr als 20 Sprachen übersetzt wurde, nicht wundern: Theoretische Texte sind ihrem Entstehungszusammenhang verpflichtet, auch wenn sie diesen transzendieren wollen und können. Eine internationale Rezeption muss demnach immer auch inhaltliche Übersetzungs- und kritisch-produktive Wiederaneignungsarbeit leisten. Dass dies durchaus im Butlerschen Sinne ist, steht dabei außer Frage. Im Folgenden werden die Überlegungen Judith Butlers entlang zentraler Stichworte rekonstruiert sowie die sich an ihnen entzündende Kritik kurz skizziert. Am Ende steht eine knappe Zusammenfassung wesentlicher Grenzen der Butlerschen Perspektive sowie ihre aktuellen Verwendungen. Zunächst werden aber die Schriften Butlers in der Diskussion um Konstruktion und Dekonstruktion von Geschlecht verortet.
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(De)Konstruktivismus und genealogische Methode Das Stichwort der Konstruktion von Geschlecht, das ‚doing gender‘, ist zum Leitmotiv der jüngeren Frauen- und (insbesondere) Geschlechterforschung geworden. Butler verortet sich selbst, wenn auch nicht allzu systematisch, im Kontext feministischer konstruktivistischer Ansätze (Butler 1995: 10, 131ff.). Jenseits von Butler – und zeitlich wesentlich früher – meint Konstruktivismus im Kontext der Geschlechterforschung zunächst eine Perspektive, die davon ausgeht, dass das Geschlecht keine natürliche oder ontologische Tatsache darstellt, sondern als Produkt (sozialer) Praxen begriffen werden muss. Dabei wird gerade auch biologisches Wissen – in je sehr unterschiedlicher Weise – hinterfragt und als epochenspezifischer Diskurs (feministische Wissenschaftsgeschichte und -kritik) bzw. spezifisches lebensweltliches Wissen (Ethnomethodologie, symbolischer Interaktionismus) relativiert. Allerdings sind die konstruktivistischen Perspektiven innerhalb der Geschlechterforschung sehr verschieden. Die „Spielarten des Konstruktivismus“ (Knorr-Cetina 1989) reichen von naturwissenschaftlich orientierten Ansätzen im Kontext des ‚radikalen Konstruktivismus‘ bis hin zu phänomenologisch geprägten mikrosoziologischen Studien zur Leiblichkeit des Geschlechts (vgl. Lindemann 1993). Insofern ist es nicht unproblematisch, sich wie Butler im Kontext des (feministischen) Konstruktivismus zu verorten, ohne dabei zu klären, was genau darunter verstanden wird. Mit dem Begriff der Dekonstruktion verhält es sich ähnlich: In der Frauen- und Geschlechterforschung hat sich eine sprachliche Gleichsetzung von Konstruktion und Dekonstruktion eingeschlichen, die ungenau ist. Dekonstruktion bezeichnet (vgl. Wartenpfuhl 2000) Argumentationen im Anschluss an Derrida, die sich vor allem in der Sprach- und Literaturwissenschaft gegen hermeneutische Verfahren abgrenzen und nach textimmanenten Differenzen und deren produktiver Kraft für die Schaffung von Sinn suchen. Der Sinn eines Textes ergibt sich demnach auch daraus, dass das, was nicht gesagt bzw. geschrieben wird, konstitutiv für den explizit formulierten Sinn ist. Beide Stoßrichtungen – die Analyse der sozialen Konstruktion vermeintlich gegebener oder natürlicher ‚Tatsachen‘ sowie die Analyse nicht expliziter, eigenlogischer Widersprüche in der textlichen Produktion von Sinn – finden sich auch in Butlers Arbeiten. Die „Genealogie der Geschlechter-Ontologie“ (Butler 1991: 60) will untersuchen, wie „bestimmte kulturelle Konfigurationen der Geschlechtsidentität die Stelle des ‚Wirklichen‘ eingenommen haben und durch diese geglückte Selbst-Naturalisierung ihre Hegemonie festigen und ausdehnen“ (ebd.; Hervorh. d.V.). Diese Analyse der diskursiven Erzeugung von Naturhaftigkeit ist der konstruktivistische Impetus der Butlerschen Arbeiten, die sich vor allem auf vermeintlich eindeutige und gegebene Geschlechtsidentitäten, stabile sexuelle Orientierungen (z.B. als ‚Triebe‘), auf das identitätslogische Subjekt oder auf die Materialität von Geschlechtskörpern beziehen. Allerdings verfährt Butler, anders als die meisten konstruktivistischen Ansätze, weder empirisch noch historisch. Ihre Überlegungen sind begriffsanalytisch, d.h. theorieimmanent; eine gegenstandsbezogene Untersuchung kultureller oder sozialer Mechanismen der Konstruktion bietet Butler nur selten und im engen Sinne auch nicht systematisch (vgl. kritisch Hagemann-White 1993). Butler beantwortet die Frage nach der Konstruktion des Geschlechts (als Identität und Körper) ausschließlich auf der diskursanalytischen Ebene. Kritische Einwände gegen Butler haben denn auch auf die Butlersche Diskursontologie abgehoben (vgl. Maihofer 1995: 51f.), in der sämtliche Realität – auch die Materialität des Körpers – zu Text mutiere (vgl. Duden 1993, Lorey 1993: 15ff.). Dekonstruktivistisch sind Butlers Arbeiten insofern, als sie ihr Augenmerk immer wieder darauf lenkt, dass vermeintlich stabile und eindeutige Begriffe und Diskurse (z.B. zur Heterosexualität) immanent und in ihren produktiven Effekten tatsächlich mehrdeutig, instabil und inkohärent sind. So sind beispielsweise Frau- bzw. Mann-Sein „in sich instabile Angelegenheiten“ (Butler 1995: 171), weil sie so sehr von Ambivalenzen und Unmöglichkeiten geprägt sind, dass ihre Verwirklichung quasi scheitern muss. Dies spiegelt sich u.a. darin, dass die geschlechtliche und auch die sexuelle Existenz bzw. Identität immer wieder aufs Neue performativ hergestellt werden muss.
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Zentrale Aspekte in Butlers Arbeiten Es ist (nicht) alles Text: Diskurstheorie Butler ist Diskurstheoretikerin, sie kann als eine der Urheberinnen des ‚linguistic turns‘ in der feministischen Theorie gelten. Grundsätzlich bedeutet eine diskurs- bzw. sprachtheoretische Perspektive – bei aller Heterogenität der unter dem Stichwort geführten Ansätze – die Fokussierung auf Sprache bzw. Diskurs als Ort und Modus der Konstruktion von Wirklichkeit sowie auf die Ausübung von Macht durch Diskursregimes. Diskurse sind in einer poststrukturalistischen Perspektive, zu der sich Butler selbst, wenn auch zögerlich, rechnet (Butler 1993a: 36), insofern produktiv, als sie das, was sie angeblich nur bezeichnen, eigentlich hervorbringen: „‚Diskurs‘ ist nicht bloß gesprochene Wörter, sondern ein Begriff der Bedeutung; (…) Ein Diskurs stellt nicht einfach vorhandene Praktiken und Beziehungen dar, sondern er tritt in ihre Ausdrucksformen ein und ist in diesem Sinne produktiv“ (Butler 1993b: 129; vgl. auch Weedon 1990: 34-42). Zwischen uns und der Welt im Allgemeinen, zwischen uns und der ‚Natur des Geschlechts‘ im Besonderen, steht für Butler immer die Sprache bzw. stehen epistemische Diskurse. Unsere Bezugnahme auf die Welt ist immer und unausweichlich ein „linguistischer Rekurs“ (Butler 1995: 11). Dieser Rekurs ist offensichtlich mehr als die bloße Bezugnahme, die beispielsweise deskriptiv wäre. Vielmehr sind Diskurse epistemische Systeme des Denkens und Sprechens, die die Welt intelligibel machen, d.h. sinnvoll ordnen. Diskurse sind vor allem deshalb so produktiv, weil sie durch die Benennung (eines Objektes, einer Person, einer Idee) geschiedene und in spezifischer Weise definierte Gegenstände „konfigurieren“ (Butler 1995: 54, 99; auch 1993c). Für Butler ist (in Anlehnung an Foucault) die diskursive Konfiguration immer auch eine Form von Macht, eventuell auch von Unterdrückung: Konfigurationen sind notwendigerweise repressiv, denn alternative Definitionen oder Ordnungen werden zwangsläufig ausgeschlossen. Diskurse stecken also den Bereich des Denk- und Lebbaren ab, indem andere Optionen nicht denk- oder lebbar erscheinen. Butler beschäftigt sich mit denjenigen Diskursen, die das Geschlecht und (geschlechtliche) Subjekte „intelligibel“ (Butler 1991: 38) erscheinen lassen. Um nun zu klären, inwiefern und wie aus Diskursen konkrete und materiale Wirklichkeiten werden, bedient sich Butler der Sprechakttheorie von John L. Austin. Zwischen Diskurs und materieller Realität liegt die Rede, das Sprechen. Austins Theorie der Performativa (Austin 1985) zu Folge haben diese die Fähigkeit, das, was sie benennen, auch zu erzeugen – und zwar ausschließlich durch das Tätigen einer Aussage. Performative Sprechakte sind folglich Handlungen: „Eine performative Handlung ist eine solche, die das, was sie benennt, hervorruft oder in Szene setzt und so die konstitutive oder produktive Macht der Rede unterstreicht“ (Butler 1993b: 123f.). Aber Worte werden nicht automatisch zu Taten, es gibt in diesem Prozess nichts Mechanisches (vgl. Butler 1998: 37). Vielmehr liegt zwischen Worten und ihren Realitätseffekten, zwischen „Sagen und Tun“ (Butler 1998: 146) eine riskante Kluft, auf die Butler immer wieder insistiert (vgl. z.B. Butler 1998: 40, 146ff.). Zunächst ist sprachliche Performativität eine „ständig wiederholende und zitierende Praxis“ (Butler 1995: 22). Sobald also gesprochen wird, treten SprecherInnen in bereits bestehende Diskurse und Semantiken ein, die sie zu nutzen gezwungen sind. Jedes Wort ist ein Zitat. Doch sind Zitate niemals „einfach Ausfertigungen desselben Sinns“ (Butler 1995: 299). Jede Wiederholung ist eine „Reiteration“ (Butler 1998: 208), wie Butler unter Bezugnahme auf Derrida betont. Weder liegen nämlich die Kontexte einer Rede noch die Subjekte jemals in genau derselben Art und Weise vor. Wer wo zu wem in welcher Absicht spricht, dies ist allen Konventionen zum Trotz je einzigartig. Sprechakte können nur dann tatsächlich performativ sein, wenn sie in angemessener Weise in soziale Rituale eingelassen sind. Performative Sprechakte funktionieren demnach nur insofern „sie sich aus Konventionen herleiten“ (Butler 1993b: 124). Solche Konventionen implizieren auch Macht- und Herrschaftsverhältnisse, die sich etwa in unterschiedlichen Definitionsmächtigkeiten oder in Autoritäts- und Hierarchiepositionen einer konkreten Redesituation nie-
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derschlagen. Gleichzeitig impliziert die Ritualisierung auch die Wiederholbarkeit. Damit wird die Rede in gewisser Weise unabhängig vom konkreten Sprecher/von der konkreten Sprecherin. „Das Austinsche Subjekt“, so Butler (1998: 43) „spricht konventional, d.h. mit einer Stimme, die niemals völlig einzigartig ist“. Das heißt: Aus Worten werden nicht deshalb Handlungen bzw. Worte sind nicht deshalb Handlungen, „weil sie die Absichts- oder Willenskraft eines Individuums widerspiegeln, sondern weil sie sich aus Konventionen herleiten“ (Butler 1993b: 124). Sprechen bedeutet also zwangsläufig zu zitieren – „es gibt keine Möglichkeit, nicht zu wiederholen“ (Butler 1998: 147) –; allerdings sind die Wiederholungsweisen und ihre Effekte relativ offen: „Die Frage ist nicht: ob, sondern wie wir wiederholen“ (Butler 1991: 217). Und genau hier setzt das kritische, auch feministische Potenzial der Rede im Diskurs nach Butler an. Kritik ist demnach „subversive Wiederholung“ (Butler 1991: 216). Der Sprechakt – der gezwungen ist, sich auf bestehende Konventionen zu beziehen – kann ein Akt des Widerstands sein (Butler 1998: 226), und zwar auch ohne dass dies unbedingt von einem Individuum intendiert sein muss. Ironie oder das „Anführen“ (Butler 1998: 26) sprachlicher Äußerungen sind Butlers bevorzugte Beispiele dafür, dass das Sprechen die immanente Widerständigkeit besitzt, mit den sozialen Kontexten zu brechen, aus denen es stammt, und in neuartiger, politisch kritischer Weise zu zirkulieren (Butler 1998: 63f.). So sind die Wiederaneignungen vormals beleidigender oder rassistischer Äußerungen wie queer oder ‚nigger‘ durch soziale Bewegungen, in der Kunst oder im Pop (vgl. z.B. Butler 1998: 143ff.) erfolgreiche Umdeutungen, die Butler immer wieder als Argument gegen Zensurbestrebungen in den USA – auch von feministischer Seite – anführt. Zitate können also auch Kritik sein, Politik ist „Sprachkampf“ (Butler 1998: 64). Doch bleibt mit Butler ungeklärt, wie kritische Wiederaneignungen und Reiterationen sprachlicher Äußerungen gesellschaftlich effektiv sein können, wenn sie zugleich auf Konventionen angewiesen sind. Welches sind die Bedingungen dafür, neue wirkmächtige Konventionen zu schaffen, in denen Bedeutungen nicht nur variiert, sondern auch sozial relevant werden können? Sind diese Bedingungen mit einer diskursimmanenten Analyse einzuholen – oder bedarf ihre Untersuchung nicht vielmehr einer im engeren Sinne sozialwissenschaftlichen Perspektive, die z.B. Institutionengefüge, Ungleichheitskonstellationen oder politische Rahmenbedingungen berücksichtigt? Die feministische Brisanz der Butlerschen Diskurstheorie deutet sich an: Das Individuum ist nicht ‚Herr seiner Rede‘, Kritik speist sich nicht aus einem utopischen Ort jenseits bestehender Diskurse und Äußerungen, sondern ist darauf angewiesen, Bestehendes zu verwenden. Beide Aspekte haben Butler wesentliche Kritik eingebracht. Insbesondere die Butlersche Ablehnung (feministischer) Handlungsmächtigkeit als willentliche, absichtsvolle Handlung konkreter Individuen ist deutlich kritisiert worden. So fragt Seyla Benhabib, neben Nancy Fraser eine der profiliertesten Kritikerinnen: „Wie kann man von einem Diskurs konstituiert sein, ohne von ihm determiniert zu sein? (...) Was befähigt das Selbst, die Geschlechtercodes zu ‚variieren‘, hegemonischen Diskursen zu widerstehen? (...) Kann diese Theorie die Fähigkeiten der Handlungsfähigkeit und Umdeutung, die sie Individuen zuschreiben will, begründen, und d.h. (...) den Widerstand dieses selben Selbst gegen Macht-/Diskursparadigmen erklären?“ (Benhabib 1993b: 109f.) Butler kann durchaus eine Theorie des Selbst begründen, die den Widerstand konkreter Subjekte systematisch berücksichtigt. Allerdings impliziert dies eine neuartige Vorstellung vom Subjekt und auch eine Neuformulierung von Handlungsmächtigkeit.
Postsouveräne Subjekte Zwei eng miteinander verwobene Ausgangspunkte prägen die Butlerschen Überlegungen zum Subjekt und ihre Kritik am ‚traditionellen‘ Subjektbegriff: Zum einen ist ihre Kritik im engeren Sinne politisch motiviert, zum anderen ist ihr Erkenntnisinteresse philosophisch-theoretischer Natur. Kritisch gegen die totalisierende Verwendung der identitätslogischen Kategorie „Frau“ in
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der feministischen Theorie und Praxis, beharrt Butler darauf, dass sich „die ‚Geschlechtsidentität‘ nicht aus ihren politischen und kulturellen Vernetzungen herauslösen (lässt)“ (Butler 1991: 18). Und so lässt sich auch das Subjekt „Frau“ nicht aus den konkreten Produktions- und Existenzweisen herauslösen, in denen es real wird. Vor allem auf erstere richtet Butler ihr Augenmerk. Sie will – insbesondere in ihrem Buch „Psyche der Macht“ (Butler 2001), aber auch in derart vielen anderen Texten, dass manche (vgl. Hauskeller 2000, Lorey 1996) die Subjekttheorie als das Hauptthema ihrer Arbeiten betrachten – der Frage nachgehen, wie das Subjekt konstituiert oder „geformt“ wird (Butler 1993b: 130). Mit ihrer „antifundamentalistischen Methode“ (Butler 1991: 36, 1993a: 37) bezweckt Butler explizit die Destabilisierung bzw. ‚Befreiung‘ vermeintlich fixer und gegebener Kategorien wie Vernunft, Universalität, Identität oder Subjekt. Diese sind davor zu bewahren, abschließend definiert zu werden. So ist prinzipiell auch „das Subjekt niemals vollständig konstituiert, sondern wird immer wieder neu entworfen (subjected) und produziert“ (Butler 1993a: 45). Subjekte sind für Butler den Diskursen, auch den feministischen, nicht vorgängig. Dabei geht Butler davon aus, dass Subjekte realiter – zumindest bislang – nur als mit-sich-identische sowie als Kollektivsubjekte intelligibel sind; Subjekte also identitätslogisch verfasst sein müssen. Butler zeichnet „diskursive Identitätserzeugung“ (2001: 83) anhand der Analyse von Subjektivationsprozessen nach: „‚Subjektivation‘ bezeichnet den Prozess des Unterworfenwerdens durch Macht und zugleich den Prozess der Subjektwerdung“ (ebd.: 8). Subjekte sind für Butler nicht Personen oder Individuen (ebd.: 15) sondern diskursive Formationen bzw. „sprachliche Gelegenheiten“ (ebd.): „Individuen besetzen die Stelle des Subjekts (...) und verständlich werden sie nur, soweit sie gleichsam zunächst in der Sprache eingeführt werden“ (ebd.). Subjektivationsprozesse sind maßgeblich von den aufeinander verwiesenen Modi der Anrufung und Umwendung geprägt. Anrufungen bezeichnen nach Althusser (1977) spezifische Weisen der Anreden, d.h. die Verleihung eines Namens, eines sozialen Titels, der seinerseits auf eine Identität bezogen ist. Personen werden durch Anrufungen aufgefordert, eine Bezeichnung, einen Namen anzunehmen, d.h. sich mit diesem zu identifizieren (Mädchen, Frau, Ausländerin, Schwuler usw.). Diese Anrufungen verleihen Anerkennung, denn sie verwenden intelligible Titel (vgl. Butler 2003: 37ff.). Der Vorgang des Annehmens (der Umwendung) ist dabei nicht so sehr die Bestätigung einer vorausgehenden Identität, vielmehr ist die Annahme eines Namens/Titels selbst Teil des Prozesses der Subjektivation. Das Ich wendet sich um – dies kann auch wörtlich verstanden werden, denkt man z.B. an Anreden im öffentlichen Raum – und damit sich selbst zu. Umwendungen als Teil der Subjektwerdung sind für Butler vor allem deshalb zentral, weil sie darauf verweisen, dass sich das Subjekt nur mittels eines Umwegs seiner/ihrer selbst sicher sein kann. Zu dem von ihr kritisierten Subjektbegriff gehört die Idee des autonomen, mit sich selbst identischen, authentischen Subjekts, das womöglich sozialen Macht- und Herrschaftsverhältnissen vorgelagert oder äußerlich ist. So arbeitet Butler gegen das „Trugbild der Souveränität“ des Subjekts an (Butler 1998: 29). Ihre Argumentation wendet sich gegen die Vorstellung, Subjekthaftigkeit sei unvermittelt. Vielmehr „[ist] das Subjekt, das als sprechendes Wesen auftaucht, fähig, sich selbst als ein ‚Ich‘ zu zitieren“ (Butler 1993b: 131). Butler meint damit, dass sich Subjekte nur kennen können, indem sie sich selbst ansprechen, sich sozusagen zitieren: „erst durch Rückwendung gegen sich selbst erlangt das Ich überhaupt den Status eines Wahrnehmungsobjekts“ (Butler 2001: 158). Auch hier argumentiert Butler also im obigen Sinne diskurstheoretisch, da wir uns selbst nur durch das Zitieren bestehender sprachlicher Kategorien (er)kennen können. Und sie argumentiert herrschaftskritisch insofern, als Subjektivationsprozesse normativ sind: „Die Normen, nach denen ich mich anerkennbar zu machen suche, sind nicht wirklich meine. Sie kommen nicht mit mir in die Welt“ (Butler 2003: 48). Fazit: In den Subjektivationskategorien ist Geschichte sedimentiert, das Ich gelangt nicht durch autonome Entscheidung über seine/ihre Identität zur Anerkennung, sondern durch das Platziertwerden in bereits bestehende Subjektpositionen. Identitätskategorien, Anrufungen und Umwendungen wären für Butler womöglich nicht besonders problematisch, wären sie nicht auch immer totalisierend und „ausschließend“ (Butler
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1993a: 49). Die „zeitweilige Totalisierung“ (Butler 1996: 16) von subjektsbezogenen Identitätskategorien liegt darin, dass man als etwas angesprochen wird, sich mit einem Namen identifizieren soll, der – zumindest zunächst – alles ist, was man ist. Als Frau angesprochen zu werden bedeutet die vorläufige Ausblendung anderer Subjektpositionen, die man einnehmen könnte: „Die Behauptung ich sei etwas, impliziert eine vorläufige Totalisierung meines ‚Ichs‘“ (ebd.: 18). Spricht beispielsweise jemand als Wissenschaftlerin, tut sie dies nicht als Tochter, Mutter oder lesbische Migrantin. Andere Subjektpositionen werden also (immer nur vorläufig!) verworfen, wenn eine Subjektposition eingenommen wird. Solche Verwerfungen sind im Kontext der Subjektivation auch deshalb problematisch, weil „der Prozess der Subjektformierung ein Prozess der Unsichtbarmachung (ist)“ (Butler 2001: 177) – und zwar im biografischen, psychischen wie im politischen, öffentlichen Sinne. Nicht nur nach außen hin sind wir gezwungen, uns in einer Subjektposition und damit Identität zu verorten, auch nach innen wirkt die Verwerfung potenzieller Subjektpositionen und Identitäten als konstitutiver Teil dessen, was wir sind. Identität ist immer auch das, was man nicht ist, argumentiert Butler ebenso psychoanalytisch wie machttheoretisch (und dekonstruktivistisch): Frau-Sein ist Nicht-Mann-Sein, homosexuelle Identität beruht konstitutiv darauf, nicht heterosexuell zu sein usw. Und – dies ist so trivial wie bedeutsam – immer auch umgekehrt: eine homosexuelle Identität beruht auf der Verwerfung der heterosexuellen Identität usw. Solche konstitutiven Verwerfungen stellen sich unbewusst und unwillentlich her, sie sind „keine einzelne Handlung, sondern der wiederholte Effekt einer Struktur“ (Butler 1998: 196). Sobald sich ein Ich erkennt und sich damit eine Identität (oder mehrere) aneignet, hat es bestimmte Verluste erlitten. Da dies aber vor der (notwendig reflexiven) Bewusstwerdung geschieht, kann der Verlust nicht betrauert werden, sondern bleibt „gesperrt“ (Butler 2001: 170). Wir wissen nicht, wer wir hätten sein können und können damit nicht offen um das (oder die) trauern, was (oder wer) wir nicht sind. Das, was verworfen oder verloren wurde, ist nun keinesfalls beliebig oder im Rahmen primärer Sozialisation etwa von Eltern frei wählbar. Vielmehr sind anerkannte Subjektpositionen von Herrschaftsverhältnissen reguliert. Im Kontext derzeit hegemonialer Diskurse sind z.B. eindeutige Geschlechtsidentitäten gefordert, ist Heterosexualität weiterhin die Norm und sind in spezifischer Weise materialisierte Geschlechtskörper notwendig. Das Subjekt geht nach Butler also auf zwei Ebenen aus einer „Verlustspur“ (Butler 2001: 181) hervor: Zum einen wird auf der individuell-subjektiven Ebene das Subjekt-als-Identität durch die Verwerfung dessen produziert, was es nicht ist. Zum anderen werden auf der politischen bzw. sozialen Ebene nur solche Subjekte anerkannt, deren Identität in gängigen Kategorien – und Gesetzen – intelligibel ist. Wo aber ist dann noch Handlungsfähigkeit angesiedelt? Wie kann ein solches Subjekt kritisch oder widerständig agieren? Wie ließen sich feministische Subjekte begründen, die Widerstand gegen diskriminierende und Ungleichheit produzierende Diskurs- und Herrschaftsregimes nicht nur formulieren, sondern auch leben könnten (vgl. Benhabib 1993b: 109f.)? Butler versteht (kritische) Handlungsfähigkeit nicht als willentliche Absicht autonomer Individuen, sondern verortet sie „genau an solchen Schnittpunkten, wo der Diskurs sich erneuert“ (Butler 1993b: 125). Diese Erneuerung findet unentwegt statt. So tun ‚konkrete Täter(innen)‘ durchaus etwas, auch etwas womöglich kritisches, aber was sie tun, übersteigt ihre individuelle Kontrolle und ihre konkrete Zeit (vgl. Butler 2001: 19f.). Das „postsouveräne Subjekt“ (Butler 1998: 198), das also um seine bzw. ihre Abhängigkeit und Verstricktheit mit herrschaftsförmigen Diskursstrukturen weiß, agiert im Spannungsfeld von diskursiver Konstitution und sprachlicher Reiteration. Wenn wir auch gezwungen sind zu zitieren und wenn wir nur intelligibel sind aufgrund von Sperrungen und Verwerfungen, ist es dennoch möglich, subversiv und kreativ mit diesen Bedingungen umzugehen. So sind etwa Umwendungen keine einseitigen Akte des Gehorsams, sondern potenziell kreativ. Die Verweigerung von vereindeutigenden und totalisierenden Anrufungen oder der ironische Umgang mit ihnen sind Beispiele kritischer Handlungsfähigkeit.
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Anstiftung zur Verwirrung: Geschlechtertheorie Butlers Thematisierung des Geschlechts knüpft an die de Beauvoirsche Einsicht in die „Gewordenheit der Frau“ an, radikalisiert diese aber um eine konstruktivistische Perspektive auf das vermeintlich natürliche oder biologische Fundament, auf das de Beauvoir noch selbstverständlich gebaut hatte. Für Butler ist klar, dass „das Geschlecht keine vordiskursive anatomische Gegebenheit sein (kann)“ (Butler 1991: 26). Da aber – auch in Teilen der feministischen Theorie – das Geschlecht immer noch als teilweise natürliche Tatsache behandelt wird, geht es Butler darum, „die angeblich natürlichen Sachverhalte des Geschlechts“ (ebd.: 3) als angebliche zu entlarven, ihnen den ontologischen Status zu nehmen und zu zeigen, dass auch der Geschlechtskörper (sex) ein – sehr realer – Effekt hegemonialer Diskurse ist. Ziel ihrer „Genealogie der Geschlechterontologie“ (ebd.: 60) ist es weiterhin, „zur Geschlechter-Verwirrung an(zu)stiften“ (Butler 1991: 61), d.h. zu subversiven und kreativen Umgangsweisen mit dem Geschlecht. Dies kann logischerweise nicht aus einer utopischen Position jenseits bestehender Diskurse und Machtverhältnisse geschehen, sondern nur innerhalb bestehender diskursiver Praxen. Hierfür ist eine Analyse der Konstitutionsmodi des Geschlechts hilfreich (ebd.: 28), und zwar als Kritik der Metaphysik der Substanz“ (ebd.). Erkennt man, dass Diskurse und Normen institutionalisierte Wunschvorstellungen sind, und stellt man die unkontrollierbare und immanent offene Dynamik diskursiver Praxis in Rechnung, dann erweist sich auch die Realität des Geschlechts (als Identität und nichtdiskursive Praxis) als brüchig, inkohärent, widersprüchlich und prozesshaft, und damit auch als veränderbar. Der performative Charakter des Geschlechts besteht in der „ritualisierten Produktion“ (ebd.) spezifischer Akte, die ihrerseits die „Verkörperung von Normen“ (ebd.: 305) darstellen. Aus idealtypischen, meist diffusen, inkohärenten Normen von Weiblichkeit bzw. Männlichkeit, die diskursiv sind, werden konkrete Handlungsweisen, die – insbesondere als Effekt zeitlicher Prozesse – auch Körper formen bzw. Körper nur in bestimmter Weise sichtbar, also signifikant werden lassen. Allerdings verschleiern performative Akte durch die Logik der Inszenierung einer angeblich natürlichen Substanz ihren sozialen Charakter. Sie verschleiern, dass sie die Natur produzieren, welche sie angeblich zum Ausdruck bringen. So betrachtet, sind performative Geschlechtsidentitäten Naturalisierungsstrategien (vgl. Butler 1991: 60f., 74, 112). An dieser Stelle ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass Butler mit dieser Auffassung keinesfalls einer willkürlichen, beliebigen oder gar künstlichen theatralischen Darstellung des Geschlechts das Wort redet. Sie kritisiert ausdrücklich solche Interpretationen, die ihr unterstellen, den performativen Charakter des Geschlechts wie einengende Kleider zu betrachten, die man gegen andere austauschen könne (Butler 2001: 97). Vielmehr will sie auf die Gleichzeitigkeit normativer Zwänge und ihrer produktiven, ermöglichenden Kraft hinweisen. Nur wer versteht, welche Bedingungen uns konstituieren, ist auch in der Lage, diesen „die Stirn zu bieten“ (ebd.: 100). Butler stellt also mit ihrer Geschlechtergenealogie die Existenz einer authentischen oder eigentlichen Natur des Geschlechts in Frage. Sie tut dies zunächst auf der Ebene von gender als Geschlechtsidentität. Anerkannte Geschlechtsidentitäten sind demnach solche, bei denen sex, gender und sexuelle Orientierung in scheinbar kohärenter Weise aufeinander bezogen sind (vgl. Butler 1991: 38). Anatomie, Lust und Geschlechtsidentität scheinen sich zu bedingen. Butler zeichnet nun die diskursive Produktion der Beziehungen zwischen ihnen nach und liest sie als weitaus weniger kohärent als sie uns (und vielen Theoretikerinnen) erscheinen. Die Kohärenz und Kontinuität stellen sich vielmehr durch politische Regulierungen, diskursive und kulturelle Praktiken und spezifische ‚Gesetze‘ (z.B. Heteronormativität) her. Keine der drei Komponenten ist naturgegeben oder ontologisch begründet. Daraus ergeben sich drag und Travestie, queere Identitäten jenseits eindeutiger sexueller Identitäten oder pop-kulturelle Veruneindeutigungen von Geschlecht als wegweisende Phänomene: „Parodistische Vervielfältigung der Identitäten nimmt der hegemonialen Kultur ihren Anspruch auf naturalisierte oder wesenhafte geschlechtlich bestimmte Identitäten“ (ebd.: 203). Ob diese auch politisch z.B. im feministischen Sinne
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wirksam ist, das hinterfragt Butler durchaus (vgl. ebd.: 204ff.). Aber sie beharrt darauf, dass jegliche „Entnaturalisierungen“ (Butler 1995: 179) subversiv sein können.
Materialisierungen des Geschlechtskörpers Die dekonstruktivistische Lesart intelligibler Geschlechter impliziert eine Destabilisierung und De-Naturalisierung auch von sex als Körpergeschlecht, für die Butler vielfach kritisiert worden ist, insbesondere weil Entnaturalisierung mit Entmaterialisierung gleichgesetzt wurde (vgl. Duden 1993, Lindemann 1993, Lorey 1993, Maihofer 1995). War der Gedanke, dass „das biologische Geschlecht bereits durch die Geschlechtsidentität kulturell konstruiert“ sei (Butler 1995: 16), in ihrem Buch „Das Unbehagen der Geschlechter“ angelegt, so beschäftigt sie sich in ihrem nachfolgenden Buch „Körper von Gewicht“ (1995) auch in Auseinandersetzung mit entsprechenden kritischen Einwänden, vertieft mit Fragen des Körpers und der Materialität des Geschlechts. Für Butler sind die „angeblich natürlichen Sachverhalte“, die im sex enthalten sind, „in Wirklichkeit diskursiv produziert, nämlich durch verschiedene wissenschaftliche Diskurse“ (Butler 1991: 23). So ist auch die paradigmatische Unterscheidung zwischen sex und gender, die lange Zeit die Debatten innerhalb feministischer Theorien bestimmt hat, selbst eine diskursive, sozialwissenschaftlich fundierte Trennung. Das sex/gender-System ist für Butler nicht nur diskursiv produziert, sondern auch deshalb zu verwerfen, weil es die symptomatisch moderne Trennung von Körper und Geist reproduziert und damit phallogozentrisch bleibt (vgl. ebd.: 31). Butler verortet ihre Überlegungen zur Materialität des Geschlechts im Kontext des Konstruktivismus. Für sie muss eine konstruktivistische Perspektive auf den Körper vor allem „den Bereich der Zwänge berücksichtigen“ (Butler 1995: 132), die die historisch und kulturell spezifischen Materialisierungsprozesse prägen. Die Aufdeckung dieser Zwänge und ihres sozialen bzw. diskursiven Charakters dient der politischen Perspektive, den Körper von seinem ontologischen oder natürlichen Nimbus zu befreien und damit einer „Rückkehr zum Körper (...), dem Körper als einem gelebten Ort für eine Reihe sich kulturell erweiternder Möglichkeiten“ (Butler 1995: 11). In ihrem Versuch, den Körper neu zu denken, greift sie auf den Begriff der Materialität zurück. Sie begreift Materialität als diskursiven Effekt „ständig wiederholende(r) und zitierende(r) Praxis“ (Butler 1995: 22). Die sexuelle Differenz ist diskursiv erzeugt. Materie ist für Butler keine prädiskursive Masse, sondern ein zeitlicher Prozess der Einschreibung (ebd.: 31) – konkrete Körpergrenzen und Beschaffenheiten stabilisieren sich in biografischen Prozessen, die ihrerseits die „Morphogenese“ des Ichs darstellen. Allerdings, und dies ist oft in der Auseinandersetzung mit Butlers Gedanken zur Materialität des Körpers unterschlagen worden, fallen dabei Diskurs und Materie eben nicht zusammen. Der Körper ist nicht Text: Sprache und Materialität sind „niemals vollkommen identisch noch vollkommen verschieden“ (ebd.: 100). Butler lehnt zwar die Vorstellung ab, Materialität sei irreduzibel (ebd.: 54) bzw. eine „Verdinglichung“ (ebd.: 52), doch ist sie nachdrücklich dafür, den Begriff der Materie als etwas Eigenlogisches beizubehalten. Dafür ist die Zusammenführung von Konstruktion und Faktizität, von Natur und Kultur, von Essenz und Phänomen notwendig, die Butler im Sinne eines Gewordenseins von Sein vollzieht. Körper nehmen durch Subjektivationsprozesse eine Morphe an (Butler 1995: 101ff.). Zum Erwerb der eigenen Identität gehört ganz wesentlich das Bild, welches man sich – z.B. vor dem Spiegel – von sich selbst macht: „Das Ich wird um das spekuläre Bild des Körpers selbst herum gebildet“ (ebd.: 108). Doch ist dieses Bild kein Abbild, sondern eine imaginäre und gesellschaftlich vermittelte „Antizipation“ (ebd.), in die regulative Diskurse wesentlich einfließen. Weil aber solche Diskurse mehr Idealisierungen und normative Regulierungen als Deskriptionen der Wirklichkeit sind, sind morphogenetische Konstitutionsprozesse letztendlich „projektive Idealisierungen“ (ebd.: 125). Das führt dazu, dass wir nie den Körper haben, den wir meinen haben zu sollen. Dass die Geschlechtsdifferenz als naturgegebene Tatsache ein Diskurseffekt ist, ist indes im Kontext feministischer Auseinandersetzungen nicht neu. Gerade im Kontext von Wissenschafts-
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kritik und -geschichte haben zahlreiche AutorInnen zeigen können, wie sich insbesondere seit Beginn der Moderne eine Vernaturwissenschaftlichung der Zweigeschlechtlichkeit durchgesetzt hat, die herrschaftspolitisch weitreichende Konsequenzen hatte und noch hat. Butler greift in ihrer Analyse der diskursiven Erzeugung dichotomer Morphologien auf diese Einsichten nicht zurück und fällt damit hinter den Stand entsprechender Diskussionen. Ein weiteres Defizit der Butlerschen Analyse von Materialität ist die „Verdrängung des Leibes“ (Lindemann 1993) aus ihren Überlegungen. Ihr Körperbegriff bleibt eigentümlich steril und bisweilen ungenau. Er ist zwar keinesfalls nur Text, sondern wird von Butler in seiner Eigenlogik gewürdigt (vgl. z.B. Butler 1995: 98). Auch wendet sie sich ausdrücklich gegen eine „kulturnominalistische“ Perspektive (Butler 1995: 25), die dem Sozialen ein kausales Primat gegenüber dem Natürlichen einräumen würde. Trotz dieser Abgrenzungen und Ansprüche bleibt ein systematisches Durchdenken dessen aus, was es bedeutet, ein Leib zu sein. Wie sich also Diskurse (praxeologisch) zu Erlebnissen, zu Gefühlen wie Scham oder Lust materialisieren, darüber schweigt Butler. Butler postuliert auf der konzeptuellen Ebene die Verschränktheit von Konstruktion und Faktizität, verwendet aber ihre gesamte textliche Energie darauf, die Konstitution von Materialität im Hinblick auf ihren Ursprung zu analysieren. Den subjektiv-sinnenhaften Effekten wendet sie sich indes nicht zu. Doch ist es durchaus möglich, die produktiven Überlegungen von Butler zur Materialität des Geschlechtskörpers mit anderen Perspektiven wie der Leibphänomenologie zu verknüpfen (vgl. Lindemann 1994, Villa 2006).
Grenzen, Kritik und produktive Fortführungen Butler stellt zentrale Fragen der feministischen Theorie neu; sie hinterfragt im „radikalen Gestus dekonstruktiver Kritik“ (Becker-Schmidt/Knapp 2000: 81) zentrale Kategorien feministischen Denkens und Tuns. Dies stimmt unbehaglich und hat ebenso Kritik wie Begeisterung ausgelöst. Ihr Entwurf eines „postsouveränen Subjekts“ (Butler 2003) hat ihr im feministischen Kontext den Vorwurf eingehandelt, Handlungsfähigkeit und eine darin begründete Chance feministischen Widerstands gegen hegemoniale Verhältnisse ad absurdum zu führen. Wie kann sich feministische Kritik gegen bestehende Sexismen und Herrschaftsverhältnisse richten, wenn jede Frau anerkennen muss, mit diesen Verhältnissen nicht nur heillos verstrickt zu sein, sondern diesen die eigene Existenz als intelligibles Subjekt zu verdanken? Obwohl Butler diesen Punkt plausibel parieren kann, bleibt es einer andauernden Diskussion überlassen, an genau welchen ‚Schnittpunkten des Diskurses‘ (feministische) Kritik an Diskursregimes formulierbar wird und wie die Individuen, die dies leisten (können oder sollen), beschaffen sein müssen. Diese Frage berührt nicht nur die Analyse der Konstitution von Subjekten, sondern – und vielleicht noch mehr – die nach gesellschaftlichen Strukturverhältnissen. Denn Diskurse sind auch immer gebunden an ihre Seinsbedingungen, sie wirken in konkreten Räumen, zu konkreten Zeiten. Butlers Analysen vollziehen sich aber im „geschichts- und empiriefreien Raum“ (Becker-Schmidt/ Knapp 2000: 84, auch Villa 2003: 135f.). Dies ist umso bedauerlicher, als es inzwischen einen reichen Fundus entsprechender Arbeiten und Perspektiven gibt (Wissenschaftsgeschichte, Wissenschaftskritik, konstruktivistische Empirie, Diskursanalyse etc.). Andererseits bleibt es auch hier wieder der zukünftigen Arbeit überlassen, diese verschiedenen Stränge zusammenzuführen. Insbesondere die Frage, wie die Zweigeschlechtlichkeit als Geschlechterdifferenz einerseits und ihre strukturellen Folgen bzw. Verwendungen als Geschlechterverhältnis andererseits miteinander verwoben sind, wird auch weiterhin ein weites Forschungsfeld bleiben. Hier wäre auch der Frage im Einzelnen nachzugehen, wie sich z.B. die performative Kraft von Diskursen, ihre potenziell kritischen Effekte und Sprache als eine zentrale Ressource im Kontext sozialer Ungleichheit (Bourdieu 1990) zueinander verhalten. Die Macht des Wortes ist eben nicht dasselbe wie das Recht auf das gewichtige Wort. Letzteres ist auch nicht allein auf der sprachimmanenten Ebene zu beantworten, auch wenn Butlers Diskurstheorie systematisch von Macht handelt.
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Schließlich ist wichtig zu sehen, dass sich Butler mit Identität beschäftigt, wenn sie etwa von gender spricht. Meines Erachtens stellt dies eine Engführung des Begriffes dar (Villa 2003: 148ff.), denn gender ist in den Sozialwissenschaften weitaus mehr. Gender zielt hier auf Vorstellungen, Normen und ideologische Aspekte des Geschlechts sowie ihrer institutionellen, politischen und sozialen Sedimentierungen. Anders gesagt: Butler unterschlägt die gesellschafstheoretischen Aspekte des Geschlechts und engt den Begriff auf die Geschlechtsidentität ein. Gleichzeitig weitet sie den Begriff der Identität stark aus. Muss man aber (Geschlechts-)Subjekte notwendigerweise identitätslogisch denken? Neuere Arbeiten, etwa zu Phänomenen der Populärkultur (vgl. z.B. Menrath 2001), zu queer theory (vgl. Hark 1996, Jagose 2001) sowie neuartige politische Interventionspraxen (vgl. z.B. www.kanak-attack.de) zeugen davon, dass zu dieser Frage produktiv weiter gedacht wird. Dass die Diskussionen mit und über Butler anregend und produktiv bleiben, daran besteht kein Zweifel – nicht zuletzt auch deshalb, weil sich für Butler kein Begriff abschließend definieren lässt. Auch ihre Texte sollen und können für überraschende, ebenso produktive wie verstörende Wiederaneignungen offen sein. Verweise: Diskursanalyse Frauen-„Körper“ Konstruktion von Geschlecht Linguistik Poststrukturalismus
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B Rezeptionen und Weiterentwicklung von Theorien Renate Nestvogel
Sozialisationstheorien: Traditionslinien, Debatten und Perspektiven Zentrale Definitionen Der Begriff der Sozialisation bezieht sich auf die Entwicklung des Individuums in seinem Verhältnis zur Umwelt. Dieses Verhältnis wird theoretisch-konzeptuell hinsichtlich der Subjektkonzepte, der sozialisatorischen Umwelten und der Gewichtung ihrer jeweiligen Bedeutung (nature vs. nurture) sowie ihrer Verwobenheit ineinander unterschiedlich gefasst. Hieraus haben sich, philosophisch fundiert, verschiedene theoretische Traditionslinien entwickelt, an denen wissenschaftliche Disziplinen wie die Soziologie, Psychologie, Erziehungswissenschaft, Ethnologie, Biologie beteiligt sind. Der Begriff Sozialisation lässt sich im Englischen und Französischen auf die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen und wurde im Oxford Dictionary of the English Language 1828 als „to render social, to make fit for living in society“ definiert (Geulen 1991: 21). In neueren Konzepten wird Sozialisation als „... Prozess der Entstehung und Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit in Abhängigkeit von und in Auseinandersetzung mit den sozialen und den dinglich-materiellen Lebensbedingungen verstanden, die zu einem bestimmten Zeitpunkt der historischen Entwicklung einer Gesellschaft existieren. Sozialisation bezeichnet den Prozess, in dessen Verlauf sich der mit einer biologischen Ausstattung versehene menschliche Organismus zu einer sozial handlungsfähigen Persönlichkeit bildet, die sich über den Lebenslauf hinweg in Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen weiterentwickelt“ (Hurrelmann 1993: 14). In dem Versuch, den Dualismus zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Persönlichkeits- und Sozialstruktur zu überwinden, wird Sozialisation auch als „emergenter Prozess verstanden, in den Biologisches und soziale Erfahrung eingehen und sich untrennbar verbinden (Verkörperung)“ (Bilden 2002: 29). Neuere Konzepte geschlechtsspezifischer Sozialisation wurden maßgeblich durch die Frauenbewegung angeregt. Sie haben Entwicklungen in der Sozialisationsforschung mit vollzogen und teilen deshalb „im Ansatz die Grundkategorien und Blickrichtungen – und damit auch die Probleme – des Sozialisationsparadigmas“ (Dausien 1999: 232).
Sozialisationsverständnis und Traditionslinien Ein Sozialisationsverständnis, das sowohl dem Einfluss einer sozialisationsrelevanten Umwelt als auch einem Subjekt Rechnung trägt, das sich aktiv mit dieser auseinander setzt, lässt sich von zwei Traditionslinien abgrenzen, die aufgrund ihrer Einseitigkeit zwar als wissenschaftlich überholt gelten, im Alltagsdenken und -handeln aber immer noch eine bedeutende Rolle spielen und zum Teil auch (populär-)wissenschaftlich im neuen Gewand erscheinen.
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Sozialisation als biologisch determinierter Prozess Die erste dieser Traditionslinien erklärt die menschliche Entwicklung aus dem Organismus des Menschen heraus und misst der Umwelt einen geringen Stellenwert bei (reifungstheoretische, organismische, anlagenorientierte, essentialistische, biologistisch-rassistische Ansätze). Bei aller Unterschiedlichkeit hinsichtlich ihrer philosophischen und wissenschaftlichen Provenienz ist diesen Ansätzen die Annahme gemeinsam, dass Persönlichkeitsentwicklung allein oder überwiegend durch genetische Faktoren oder durch innere Reifungsprozesse bestimmt sei und sich (relativ) unabhängig von einer gegebenen Umwelt vollziehe. Im Mainstream der Sozialisationstheorien werden dieser Traditionslinie v.a. entwicklungsbezogene psychodynamische Ansätze zugeordnet, in denen kognitive, physische und psychische Reifungs- und Entwicklungsprozesse einzelner Lebensphasen aus einer innerpersonalen und organismischen Perspektive heraus fokussiert werden. Bezüglich Geschlecht unterstellen extreme, z.B. biologistische Ansätze naturgegebene Unterschiede zwischen Männern und Frauen, die auch unterschiedliche Fähigkeiten und Fertigkeiten, Einstellungs- und Verhaltensmuster, kognitive und affektive Merkmale implizieren. Das heißt sie beruhen auf der Überzeugung, dass geschlechtsspezifische Körperfunktionen mit angeborenen, geschlechtstypischen Persönlichkeitsmerkmalen einhergehen. Solche biologistisch konstruierten männlichen und weiblichen ‚Geschlechtscharaktere‘ haben eine lange Tradition in der europäischen Kultur- und Geistesgeschichte und enthalten überwiegend Defizitzuschreibungen zum weiblichen Geschlecht. Analog wurden im Rahmen des europäischen Kolonialismus rassistische Menschenbilder konstruiert, in denen äußere, physische Merkmale (wie Hautfarbe) mit spezifischen Eigenschaften, Verhaltensweisen, intellektuellen Fähigkeiten etc. verknüpft sind. In ‚Rassentheorien‘ früherer Jahrhunderte bis hin zum Nationalsozialismus wurden vielfältige Einteilungen der Menschheit in verschiedene ‚Rassen‘ sowie Hierarchisierungen in ‚höherwertige‘ und ‚minderwertige Rassen‘ vorgenommen. Verschiedene Strömungen in der Kulturanthropologie, Biologie, Medizin und Psychologie waren darum bemüht, Thesen von der Ungleichwertigkeit der Geschlechter wie auch sozialer, kultureller oder an äußeren Merkmalen festgemachter Gruppen wissenschaftlich zu belegen. Meines Erachtens ist es gefährlich zu behaupten, biologistische Ansätze spielten in der Wissenschaft keine Rolle mehr (Hoffmann 1997: 384) und sie damit ad acta zu legen. Pseudowissenschaftliche Annahmen einer genetischen Minderwertigkeit von Frauen sowie Menschen (mancher) anderer Kulturen können aus rechtsextremen Kreisen heraus offensichtlich leicht in die „Mitte der Gesellschaft“ Eingang finden (z.B. Quambusch 1993; kritisch: Hopfner/Leonhard 1996: 11ff.). Die feministische Forschung hat essentialistische Vorstellungen von ‚natürlichen‘ geschlechtsspezifischen Persönlichkeitsunterschieden kritisiert, aber auch nachgewiesen, dass sie sich ebenfalls in feministischen Differenzdiskursen finden lassen. Hierin erscheinen Frauen jedoch nicht minderwertig, sondern eher höherwertig, indem ihnen Eigenschaften wie Friedfertigkeit, Fürsorglichkeit, Beziehungsfähigkeit und Naturnähe qua Geschlecht zugeschrieben und diese gleichzeitig den Männern abgesprochen werden.
Sozialisation als gesellschaftlich gesteuerter Prozess Die zweite Traditionslinie fasst die Sozialisation als überwiegend von der Gesellschaft aus gesteuerten Prozess auf (sozialdeterministische, strukturfunktionalistische, mechanische, prägungstheoretische Ansätze). Auf der Grundlage eines (aufklärerischen) Menschenbildes galt/gilt es nach diesem Sozialisationsverständnis, eine „rohe menschliche Natur“ den Bedürfnissen der (jeweiligen) Gesellschaft entsprechend zu „zähmen“ (Hobbes), anzupassen (Spencer, Darwin; vgl. Geulen 1991: 21), „dem eben geborenen egoistischen und asozialen Wesen ein anderes Wesen hinzuzufügen, das imstande ist, ein soziales und moralisches Leben zu führen“ (Durkheim 1997: 51), „Verhaltensmaß-
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stäbe und Ideale der Gruppe in sich aufzunehmen“ (Parsons 1973: 55) und die „Bereitschaft zur Erfüllung eines spezifischen Rollentyps innerhalb der Struktur der Gesellschaft“ zu entwickeln (Parsons 1997: 99). Dieses normative Verständnis von Sozialisation als Mittel zur Integration in die Gesellschaft galt prinzipiell für beide Geschlechter. Es wurde vor allem an die Erziehung herangetragen, die den als „außerordentlich plastisch“ (Durkheim 1997: 46) gedachten Menschen im Interesse der jeweiligen Gesellschaft zu formen hatte: „Der Mensch, den die Erziehung in uns verwirklichen muss, ist nicht der Mensch, den die Natur gemacht hat, sondern der Mensch, wie ihn die Gesellschaft haben will; und sie will ihn so haben, wie ihn ihre innere Ökonomie braucht.“ (Durkheim 1997: 49)
Für die Geschlechterbildung bedeutete dieses Postulat, dass nur eine den hegemonial-gesellschaftlichen „Stereotypen über Männlichkeit/Weiblichkeit entsprechende Entwicklung einer Person eine ‚gesunde‘, positive Anpassung ermöglichende Persönlichkeitsentwicklung sei; bzw. soziologisch ausgedrückt, dass nur klar nach Geschlechtsrollen differierende Sozialisation funktional für Individuum und Gesellschaft sei“ (Bilden 1980: 782). Weniger normativ als manche Soziologen und Erziehungswissenschaftler erklärten auch Psychologen behavioristisch-lerntheoretischer Richtungen geschlechtsspezifisches „Verhalten aus Umwelteinflüssen, die auf einen als passiv vorgestellten Organismus einwirken“ (Nunner-Winkler 1994: 68f.). In expliziter Abgrenzung zu biologistisch-deterministischen Vorstellungen von ‚natürlichen‘ Persönlichkeitsunterschieden wurde die gesellschaftliche Prägung auch in einem Teil der geschlechtsspezifischen Sozialisationsforschung betont. Den Weg dazu hatte bereits die kulturvergleichende anthropologische Forschung der 1920er und 1930er Jahre gebahnt. Sie erbrachte den Nachweis, dass Geschlechterverhältnisse und Vorstellungen darüber, was männliche, weibliche oder geschlechtsneutrale Aufgaben, Eigenschaften und Verhaltensweisen sind, eine große kulturelle Vielfalt aufweisen, und sah damit „das Übergewicht der kulturellen Gegebenheiten gegenüber den ‚angeborenen Eigenschaften‘“ bestätigt (Mead 1970: 15). Die Frauen- und Geschlechterforschung in westlichen Industrieländern analysierte seit den 1970er und 1980er Jahren insbesondere Frauen benachteiligende und unterdrückende Gesellschafts- und Interaktionsverhältnisse. Eine sozialdeterministische Zuspitzung fand diese gesellschaftskritische Perspektive in der gleichsam universalisierten Vorstellung, (alle) Frauen seien Opfer patriarchaler Herrschaftsverhältnisse. Der viel zitierte Titel „Wir werden nicht als Mädchen geboren – wir werden dazu gemacht“ (Scheu 1977; kritisch dazu Dausien 1999: 225f.; vgl. auch Hopfner/Leonhard 1996: 179ff.) verdeutlicht diese Zuspitzung. Prämissen „passiven Sozialisiertwerdens“ (Bilden 1980) in einer männlich dominierten Welt hatten weitreichende Folgen hinsichtlich der Wahrnehmung weiblicher Mitverantwortung an gesellschaftlichen wie auch persönlichen Entwicklungen. Deterministische Vorstellungen von sozialisationsbedingter Geschlechterdifferenz (Frauen und Männer werden unterschiedlich sozialisiert, leben in verschiedenen Welten und entwickeln unterschiedliche Geschlechtscharaktere) entfalteten sich nicht nur defizitorientiert (Frauen sind benachteiligt gemessen am Maßstab männlicher Privilegien), sondern auch in positiven Umdeutungen. Zu Letzteren zählen Gilligans (1984) These von einer männlichen und einer weiblichen Moral (Gerechtigkeit vs. Fürsorge) sowie weibliche Karriere- und Managementkonzepte, die mit den Vorzügen „weiblicher Eigenschaften“ argumentieren. Die Grenzen zwischen biologistisch oder sozial determinierten Geschlechterdifferenz-Konstrukten sind dabei fließend.
Sozialisation als kontextgebundener wechselseitiger Prozess Die neueste und zur Zeit wissenschaftlich relevante Traditionslinie betrachtet die Sozialisation als ‚Entwicklung im Kontext‘ (systemtheoretisch-ökologische und reflexiv-handlungstheoretische Ansätze). Diese Ansätze stellen die Grundlage für die eingangs definierten neueren Sozialisationskonzepte. Sie versuchen, die Einseitigkeit der vorgenannten Traditionslinien zu überwinden, indem sie
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das „Wechselspiel von sozialen und individuellen Konstruktionsprozessen“ betonen (Grundmann 1999: 12). Psychologen wie John Dewey, George Herbert Mead, Kurt Lewin und Lev S. Wygotski betrachten bereits am Anfang des 20. Jahrhunderts psychologische Entwicklungen in sozialinteraktiven und gesellschaftlichen Zusammenhängen. Bronfenbrenner (1981: 24) hat diese Ansätze in seiner „Ökologie der menschlichen Entwicklung“ aufgegriffen und zu einer „Theorie der Umweltkontexte und ihrer Auswirkungen auf die Kräfte, die das psychische Wachstum unmittelbar beeinflussen“, ausformuliert. Seine zentrale Sozialisationsthese von der „fortschreitenden gegenseitigen Anpassung zwischen dem aktiven, sich entwickelnden Menschen und den wechselnden Eigenschaften seiner unmittelbaren Lebensbereiche“ (ebd.: 37) hat er in der Form ineinandergreifender Systeme dargestellt (Mikro-, Meso-, Exo- und Makrosystem-Modelle). Hieraus entwickelten Geulen/Hurrelmann (1980: 65) ein „Strukturmodell der Sozialisationsbedingungen“, das um eine weltsystemische Ebene ergänzt wurde (Nestvogel 1999, 2002). Das Modell ist theoretisch offen und lässt die Integration verschiedener Theorien zu. Systemisch-ökologische Ansätze ordnen die Subjektentwicklung eher in größere institutionelle und gesellschaftliche Bezüge ein, während reflexiv-handlungstheoretische Ansätze mehr individuelle Beziehungserfahrungen fokussieren, d.h. die Ebene der Interaktionen. In einer Makroperspektive treten damit eher Gesellschaftstheorien ins Blickfeld – z.B. Systemtheorien, Kritische Theorie, Macht-, Individualisierungs-, Modernisierungs-, Globalisierungs-, Postkolonialismus-Theorien etc. – in einer Mikroperspektive dagegen Psychoanalyse, sozial-kognitive Lerntheorien, Interaktions-, biografische und lebenslauftheoretische Ansätze in ihren diversen Verknüpfungen. Ein großer Teil der empirischen Kinder-, Jugendund Geschlechterforschung basiert auf reflexiv-handlungstheoretischen Ansätzen im Gefolge des symbolischen Interaktionismus von George Herbert Mead inklusive späterer Ausdifferenzierungen durch andere (vgl. Joas 1991). Diese Ansätze bieten vielfältige methodische Zugänge für die Analyse menschlichen Interpretierens, Ausgestaltens und Handelns in Interaktionssituationen. Ab den 1980er Jahren fächerte sich das empirische Forschungsspektrum auf, und es entstanden zahlreiche Untersuchungen zu Kindern, Jugend/Adoleszenz, Familie, Schule, Gleichaltrigen/Peers, Gesundheit, Moral, Medien, Körper, Beruf, Sprache/Kommunikation, Migration etc. Zum Verhältnis von Theorie und Empirie schrieb Geulen (1991), dass „... nach der Etablierung der sozialisationstheoretischen Perspektive die empirische Forschung theoretisch selbständiger, nun stärker von Problemen her bestimmt werden und sich Feldern und Fragen zuwenden konnte, die nicht mehr aus vorliegenden Theorien abgeleitet bzw. durch die akademische Frage ihrer Bestätigung oder Widerlegung motiviert waren“ (Geulen (1991: 34). Für die Frauen- und Geschlechterforschung galt allerdings, dass sie vermeintlich geschlechtsneutrale Theorien auf deren männlichen Blickwinkel hin analysiert, den Androzentrismus in den einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen kritisiert und über eine intensive Auseinandersetzung damit Theorien weiterentwickelt bzw. theoretische Weiterentwicklungen für eigene Fragestellungen aufgenommen hat. Dabei wurden und werden die o.g. Sozialisationsthemen auch jeweils geschlechtsspezifisch analysiert (zur frühkindlichen Sozialisation vgl. z.B. Grabrucker 1985, zur weiblichen Adoleszenz Flaake/King 1995, zu Gleichaltrigen Kolip 1994). Zahlreiche Studien entstanden im Rahmen der geschlechtsspezifischen schulischen Sozialisationsforschung (als Teil der feministischen Schulforschung), die dem Beitrag der Schule zur Reproduktion, aber auch Produktion, von Geschlechterstereotypisierungen nachging. Sie untersuchte die Entwicklung von geschlechtsspezifischem Selbstbewusstsein, Selbst- und Fremdkonzepten, Interessen, Leistungen etc. und deren Auswirkungen auf gewählte Leistungskurse, Berufsorientierungen, Ausbildungsprofile und Studiengänge. Analysen von Schulbüchern und anderen Medien (Grossmann/Naumann 1986, Jäger 1989), zu Interaktionen und Beziehungsstrukturen in der Schule (Enders-Dragässer/Fuchs 1988), zu Entwicklungen geschlechtsspezifischen Selbstvertrauens (Horstkemper 1995) etc. förderten Benachteiligungen von Mädchen und die Reproduktion von Geschlechterhierarchien in der (koedukativen) Schule zutage. Aus solchen Defizitthesen wurden Forderungen nach strukturellen, d.h. gesellschaftlichen und schulischberuflichen Veränderungen in Richtung Geschlechtergleichheit und -gleichbehandlung abgelei-
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tet und kritisch-aufklärerische, selbstreflexive Konzepte zur eigenaktiven Gestaltung von Sozialisationsprozessen entwickelt. Manche geschlechterdifferenzorientierten Ansätze betonten dabei weniger die Defizite als die sozialisationsbedingten Stärken von Mädchen und versuchten, deren Erfahrungen, Interessen und Lebenswelten stärker ins (koedukative) Schulgeschehen hineinzuholen. Im Laufe von gut zwei Jahrzehnten hat diese Forschung mit einer Vielzahl von Subjektund Geschlechterkonzepten sowie gesellschaftstheoretischen Prämissen gearbeitet (zusammenfassend: Faulstich-Wieland/Nyssen 1998, Kampshoff/Nyssen 1999). Parallel zur Suche nach und Erklärung von Unterschieden zwischen den Geschlechtern begründeten einige Sozialisations- und GeschlechterforscherInnen ab den 1980er Jahren ausführlich, warum die ermittelten Unterschiede umstritten bzw. wissenschaftlich nicht haltbar sind. Hagemann-White (1984: 42) kritisierte an einer Forschung im „Denkstil der Eigenschaftspsychologie“ u.a., „dass den Individuen eine zeitlich überdauernde, situationsübergreifende Neigung oder Fähigkeit zu einem bestimmten Verhalten unterstellt wird.“ „Doch was als Widerlegung von biologistisch behaupteten Unterschieden begann, gerät in den Sog, eine eigene Erklärung für den weiblichen Sozialcharakter zu liefern, so dass am Ende der Eindruck siegt: Mädchen sind gefühlsbetonter, an Personen interessierter, abhängiger, braver – aber eben nicht so geboren, sondern dazu gemacht worden“ (ebd.: 77). Bilden (1991: 279) wies auf das Problem der Reifikation hin, das darin besteht, dass schon die Frage nach geschlechtsspezifischen Sozialisationsunterschieden im Denken, Fühlen und Verhalten unterstelle, es gebe solche Unterschiede tatsächlich. Damit aber werde die dualistische gesellschaftliche Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit, eines „männlichen und eines weiblichen Sozialcharakters“, reproduziert. Nunner-Winkler (1994: 65) betont, dass abgesehen von einigen primären und sekundären Geschlechtsmerkmalen die Unterschiede innerhalb der Gruppe von Frauen bzw. Männern größer sind als der Unterschied zwischen den Durchschnittswerten der beiden Gruppen. Die Kritik an dualistischen Geschlechterdifferenz-Ansätzen führte zu vielfältigen Differenzierungsansätzen (vgl. Metz-Göckel 2000; Nestvogel 1997, 2000). Die Heterogenität innerhalb des weiblichen Geschlechts wurde anhand von sozialstrukturellen Aspekten (soziale Herkunft/ Schicht, Bildungsstand, Beruf, Einkommen), sexuellen Orientierungen etc. wahrgenommen. Auf Geschlechter übergreifende Gemeinsamkeiten im Sozialisationsprozess wurde im Kontext von Kolonialismus (Mamozai 1982, Nestvogel 1992) und Nationalsozialismus (Oguntoye u.a. 1986, Ebbinghaus 1987) hingewiesen. Wie Simone de Beauvoir (1960: 9) schon 1949 schrieb, leben Frauen „verstreut unter den Männern, durch Wohnung, Arbeit, wirtschaftliche Interessen, soziale Stellung mit ihnen enger verbunden als mit den anderen Frauen. Als Frauen des Bürgertums sind sie solidarisch mit männlichen Bourgeois und nicht mit den Frauen des Proletariats, als Weiße mit den weißen Männern und nicht mit schwarzen Frauen.“ (Psychoanalytisch fundiert findet sich diese These bei Rohde-Dachser 1991.) Bipolare biologische und soziale Geschlechtscharakter-Konzepte („Es gibt (nur) Frauen und Männer, nichts dazwischen“; Bilden 2002: 27) wurden durch Androgyniekonzepte, Transsexualitätsforschung und Nachweise, dass auch das biologische Geschlecht ein Konstrukt ist, in Frage gestellt. Konzepte zur Pluralität von Subjektpositionen rückten andere Kategorien als das Geschlecht in den Vordergrund. Die Schwarze Frauenbewegung in den USA und später Teile der Migratinnen- und ‚Dritte-Welt‘Forschung verknüpften das Geschlecht mit Kategorien wie ‚Rasse‘ und Klasse und arbeiteten struktur- und machttheoretisch Differenzierungen unter Frauen heraus (z.B. Kraft/Ashraf-Khan/ Rukhsana 1994, Uremovic/Oerter 1994). Die Perspektive von Minderheiten auf die jeweilige „Dominanzgesellschaft“ (Rommelspacher 1995) machte deutlich, dass es sich bei den vermeintlich universalen Diskursen der weißen, westlichen, bürgerlichen Frauen(-forscherInnen) um einen ethnozentrisch-hegemonialen Partikularismus handelte – analog zum männlichen Partikularismus, der sich als Universalismus ausgab. Die Kritik an Konzepten, die Geschlecht als Bündel relativ statischer Identitäten, Eigenschaften und Verhaltensweisen definieren, führte – parallel zu den dargestellten Differenzierungsansätzen – zur Entwicklung (sozial-)konstruktivistischer Ansätze, die Geschlecht und „Ge-
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schlechterverhältnis(se) bzw. Männlichkeit/Weiblichkeit als Produkte andauernder sozialer Konstruktionsprozesse“ (Bilden 1991: 280) konzipieren. Das Geschlecht wird dabei als etwas gedacht, das in mikro- und makrosozialen Prozessen immer wieder hergestellt wird (‚doing gender‘). Das Prozesshafte, Dynamische und Relationale eines solchen (aus der US-amerikanischen Ethnomethodologie stammenden) ‚doing gender‘ kann dabei auch ein reflektiertes ‚undoing gender‘ beinhalten. Im Gefolge entwickelten sich (de-)konstruktivistische Konzeptionen von Geschlecht, Geschlechterdifferenz und -verhältnissen, die in Distanzierung zum ‚natürlichen‘ Geschlecht das kulturell erzeugte betonen und dem sozialdeterministischen ‚sozialisiert Werden‘ (‚zu etwas gemacht werden‘) das ‚Selbst-Machen‘ gegenüberstellen. Eher strukturtheoretische Argumentationslinien wurden in der Professionsforschung entwickelt, die die Prämisse ablehnt, dass Frauen aufgrund ihrer Sozialisation ein spezifisch weibliches Arbeitsvermögen erwerben, das sie dazu disponiere, eher typisch weibliche Berufe zu wählen und in diesen Berufen nach weiblichen Mustern zu agieren (Maihofer 2002: 13f.). Die Begründung dafür lautet: Hierdurch würden Geschlechterstereotypisierungen verfestigt und die Frauen selbst für ihre Diskriminierung im Arbeitsleben verantwortlich gemacht. Statt dessen wird Geschlecht als soziale Strukturkategorie aufgefasst, die „etwas aussagt über die spezifische Verortung von Frauen und Männern im Kontext eines hierarchischen Systems“ (Knapp 1988, zitiert nach Maihofer 2002: 14; vgl. auch Schmerl 2002: 62f.). Solche gesellschafts- und strukturtheoretischen Konzepte wurden zum Teil mit einer (modifizierten) sozialisationstheoretischen sowie machttheoretischen Perspektive verknüpft, aber zum Teil auch als nicht kompatibel mit einem (subjekttheoretisch verengten) Sozialisationsbegriff gesehen (vgl. Maihofer 2002: 14).
Aktuelle Debatten über Sozialisationskonzepte Die bisherigen sozialisationstheoretischen Entwicklungen und daraus hervorgegangene Forschungserträge werden sehr unterschiedlich eingeschätzt, und zwar sowohl aus einer allgemeinen (männlich dominierten?) als auch aus einer geschlechtsspezifischen (eher weiblichen) sozialisationstheoretischen Perspektive. Einigkeit besteht in der Notwendigkeit neuer theoretischkonzeptioneller Debatten (Zinnecker/Geulen 2002: 115; Dausien 1999: 217; Maihofer 2002: 16). Begründet wird diese Notwendigkeit aus Mängeln des Sozialisationsparadigmas allgemein, aus der bereits dargelegten Kritik an geschlechtsspezifischen Sozialisationstheorien und an der Kategorie Geschlecht bis hin zu deren Abschaffung, aus der unausgewogenen Gewichtung von Subjekt- und Strukturkategorien sowie aus den Dichotomien zwischen Individuum und Gesellschaft. Diese Kritikpunkte, die vielfältig miteinander verwoben sind, werden im Folgenden dargestellt. Einige Wissenschaftler befürworten die Aktualisierung klassischer Konzepte und ihre Integration in Sozialisationskonzepte, z.B. konstruktivistische, sozialökologische oder biografische Sozialisationsforschung (Zinnecker/Geulen 2002: 115). Andere ForscherInnen können Sozialisationskonzepten kaum noch etwas abgewinnen und plädieren für deren Ausschluss zugunsten anderer Kategorien wie Lebenslauf-, Biografie-, Kindheits- und Schulforschung (vgl. Dausien 1999: 233ff.). Das Konzept der geschlechtsspezifischen Sozialisation wird dafür verantwortlich gemacht, dass auch „ ,dekonstruktiv‘ gemeinte Strategien, z.B. Modelle einer geschlechtskritischen Erziehung von Mädchen und Jungen oder Forschungen zur Geschlechterdifferenz, letztlich zu neuen Kategorisierungen nach Geschlecht geführt haben, zumindest aber das Klassifikationskriterium Geschlecht selbst verstärkt haben“ (Dausien 1999: 225). Meines Erachtens hat dies mehr mit in jede Theorie eingehenden vorwissenschaftlichen Prämissen zu tun als mit den Theorien selbst, denn auch geschlechtsspezifische Forschung kann nach der Bedeutung der Kategorie Geschlecht im Verhältnis zu anderen Kategorien fragen und anstelle von geschlechtsspezifischer Differenz
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geschlechterübergreifende Differenzierungen ermitteln (vgl. Popp 2002, Rendtorff 2002, Schmerl 2002). So haben Breidenstein/Kelle (1998) in einer ethnografischen Studie zur Gleichaltrigenkultur in der Schulklasse zwar das Klassifikationskriterium Geschlecht beibehalten, aber darauf geachtet, „die Bedeutsamkeit der Geschlechterunterscheidung, anstatt sie vorauszusetzen, als empirische Frage zu behandeln“, indem sie „jene Situationen und Praktiken [identifizierten], die der Geschlechterunterscheidung Relevanz verleihen“ (ebd.: 15f.). Die Perspektive wird also von den „Unterschieden der Geschlechter zur Praxis der Unterscheidung zwischen Mädchen und Jungen“ verschoben (ebd.: 16). Eine Auflösung der Geschlechterpolarität sieht Bilden (2002: 27) zum einen in der biologisch-medizinischen und kulturellen Transsexualitätsforschung, zum anderen in der Konzipierung von Geschlecht als sozialer Strukturkategorie in Verschränkung mit anderen „Kategorien sozialer Ungleichheit (wie ‚Ethnizität‘, Kultur, ‚Schicht‘, sexueller Orientierung, Behinderung ...)“. Eine weitere Kontroverse bezieht sich auf die Gewichtung von Subjekt- und Strukturkategorien. Bauer (2002: 130) z.B. sieht in den sozialisationstheoretischen Erklärungsansätzen, die in den letzten beiden Jahrzehnten sehr dominant waren, einen „strukturlosen Subjektzentrismus“, einen „Pendelausschlag“ von der extremen strukturdeterministischen Position der 1960er und 1970er Jahre hin zur ebenso extremen individuumszentrierten der 1980er und 1990er Jahre. Dabei hätte man sich „auf ein Katalogisieren des Alltagsbewusstseins Heranwachsender“ beschränkt und die „Analyse der häufig invisibilisierten, differenzierten Struktur der Sozialisationsbedingungen“ vernachlässigt. Begriffe wie „Selbstsozialisation“ (Zinnecker 2000), „Selbstorganisation“ (Hurrelmann 2002), aber auch ‚doing/undoing gender‘ legen Vorstellungen von einem überpointiert ‚autonom handlungsfähig‘ gedachten Subjekt nahe. Schon Kotthoff (1993: 80) hat darauf hingewiesen, dass konstruktivistisch-interaktionistische ‚doing gender‘-Ansätze bei Analysen von Mikrophänomenen häufig gesellschafts- und machtspezifische Bezüge ausblenden und davor gewarnt „zu unterschätzen, dass wir bereits in bestimmte kulturelle Verhältnisse hineingeboren werden, die wir uns interaktiv aneignen.“ Lorber (1999) stellt am Beispiel von Geschlecht eine Balance zwischen Subjekt- und Strukturaspekten her, indem sie dieses als soziale Institution im Sinne eines „der wichtigsten Ordnungsprinzipien für die Lebensgestaltung der Menschen“ (ebd.: 57) definiert: „Gender regelt die Sozialbeziehungen im Alltag wie auch die umfassenderen sozialen Strukturen wie soziale Klassen und die Hierarchien bürokratischer Organisationen [...] Die vergeschlechtlichte Mikrostruktur und die vergeschlechtlichte Makrostruktur reproduzieren und verstärken einander wechselseitig. Die soziale Reproduktion von gender in Individuen reproduziert auch die vergeschlechtlichte Gesellschaftsstruktur, konstruieren die Individuen doch, indem sie gender-Normen und -Erwartungen in der direkten Interaktion in Handeln umsetzen, die vergeschlechtlichten Herrschafts- und Machtsysteme.“ (Lorber 1999: 47)
Bezogen auf das Strukturmodell der Sozialisationsbedingungen wäre also das Geschlechterverhältnis auf allen fünf miteinander verknüpften Ebenen (Individuum, Interaktionen und Tätigkeiten, Institutionen, Gesellschaft, Weltsystem) zu untersuchen. Dagegen fokussiert Maihofer (2002: 16) die theoretischen Veränderungen in Richtung Konstruktivismus aus einem anderen Blickwinkel. Sie sieht darin erstens „eine Verschiebung des Blicks weg vom Geschlecht auf die Geschlechterverhältnisse, also vom Individuum auf die Verhältnisse, Kontexte, sozialen Interaktionen, in denen es agiert; zweitens erfolgt eine Verschiebung des Blicks vom Geschlecht als ‚Produkt‘ sozialisatorischer Prozesse hin auf die sozialen und gesellschaftlichen Konstruktionsprozesse, in denen ‚Männlichkeit‘/‚Weiblichkeit‘ hergestellt wird.“ Hierbei werde aber kaum noch die Frage gestellt, „wie in diesen konkreten Gesellschaftsverhältnissen unter Bedingungen eines hegemonialen Diskurses qualitativer, heterosexueller Geschlechterdifferenz aus einem kleinen Wesen eine erwachsene ‚Frau‘ (und) oder ein erwachsener ‚Mann‘ wird und wie sich dies im Laufe des Lebens modifiziert“ (ebd.). Während Bilden (1991: 279) meint, „dem Sozialisationskonzept“ (gibt es nur eins? R.N.) seien grundlegende Annahmen wie die Trennung von Individuum und Gesellschaft „nicht wirklich auszutreiben“, sehen andere diese Trennung in der Sozialisationsforschung im Allgemeinen
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zwar als gegeben, aber als überwindbar an. In dem Bemühen, individuell-interaktive und gesellschaftliche Dimensionen von Subjektentwicklung zu verbinden, werden verschiedene Ansätze vorgeschlagen, die es zu berücksichtigen und weiterzuentwickeln gelte: Grundmann schlägt eine Verbindung strukturgenetischer (Piaget), interaktionstheoretischer (G.H. Mead) und sozialkonstruktivistischer (Berger, Luckmann, Schütz) Ansätze vor, um „soziale und individuelle Konstruktionsprozesse abzubilden, d.h. Sozialisation als „wechselseitige Anregung und Stabilisierung von onto-, sozio- und historiogenetischen Prozessen“ zu erfassen (Grundmann 1999: 28). Andere befürworten das Konzept der biografischen Konstruktion von Geschlecht, weil es „in der analytischen Schnittmenge individuellen Handelns und gesellschaftlicher Bedingungen angesiedelt“ ist (Thiessen 2002: 65) und „aus einigen Widersprüchen in der ‚konstruktivistischen‘ Diskussion und der vermeintlichen Gefahr einer Auflösung aller Strukturen (Gesellschaft und Subjekt) heraushelfen“ könne (Dausien 1999: 236f.; Schmerl 2002: 64). Am Habitus-Konzept von Bourdieu trennen sich die Geister; einige sprechen der darin enthaltenen „Inkorporierung sozialer Verhältnisse“ eine hohe sozialisationstheoretische Relevanz zu (Meuser 2002: 51f.; Bauer 2002: 134ff.), andere deuten es eher sozialdeterministisch (Zinnecker 2002: 154) bzw. vermissen einen auch psychologisch gefassten Subjektbegriff (Maihofer 2002: 20), „der den objektiven Strukturen gegenübergestellt werden könnte“ (Geulen 2002: 193). Des Weiteren werden entwicklungs- und sozialpsychologische Ansätze zur Geschlechterforschung (Eckes 2002) sowie biologische und neurowissenschaftliche Ansätze empfohlen.
Ausblick auf Forschungsfragen Sozialisation im eingangs definierten Sinne kann als anthropologisches Grundphänomen gedacht werden. Daher sollte nicht gleich das gesamte sozialisationstheoretische Potenzial lediglich aufgrund unzureichender (einseitig ausgewählter oder interpretierter) Sozialisationskonzepte ungenutzt bleiben. Als inter- und transdisziplinäres Projekt mit verschiedenen empirischen Fokussierungen sowie methodischen und theoretischen Zugängen ist Sozialisation potenziell in eine unendliche Geschichte eingebunden. Die Sozialisationstheorie oder das Sozialisationsparadigma gibt es nicht, aber richtungweisend wären verschränkende Ansätze, die eine Überwindung des Dualismus zwischen Individuum und Gesellschaft anstreben, nach der Bedeutung des Geschlechts im Zusammenhang mit anderen Subjektpositionen im Sozialisationsprozess fragen und eine den gegenwärtigen Bedingungen entsprechende subjekt- wie auch gesellschafts- bzw. strukturtheoretische Seite ausformulieren. Eine Subjektentwicklung kann „... nur mikrologisch untersucht werden. Die Analyse ihrer Genese hingegen verlangt eine Perspektiverweiterung. In den Blick kommen müssen Umweltkonstellationen, privilegierende und restriktive Einflüsse der sozialen Herkunft, soziale, materielle und symbolische Ungleichheiten, die die Ausprägung spezifischer Habituskonfigurationen wahrscheinlich machen. Dies erfordert umso mehr eine meso- und makrologische Analyse von Sozialisationsprozessen“ (Bauer 2002: 137f.; vgl. auch Hauser 2002: 45). Hinsichtlich des Subjekts wären Kategorien wie Identität, Ich, Selbst, Subjekt, psychische Strukturen, Persönlichkeit, neue Sozialcharaktere etc. theoretisch auszudifferenzieren, weil sie häufig statisch und homogen gedacht werden. Fraglich ist aber, ob es ausreicht, sie nur aus den Anforderungsprofilen abzuleiten, die sich für Individuen aus einem gesellschaftlichen Wandel im Sinne einer Pluralisierung von Lebenswelten, Individualisierung, anstehenden Modernisierungsschüben etc. in westlichen Industriegesellschaften ergeben (Maihofer 2002: 16f., 20f.; kritisch: Bauer 2002: 126, 132f.). Meines Erachtens wäre die gesellschaftsstrukturelle Seite – durchaus auch unter Berücksichtigung älterer Theorieansätze – kritischer zu durchdenken. Wenn Sozialisationstheorien und -forschung nicht nur eine affirmative oder deskriptive (welchen Sozialisationstyp braucht bzw. erzeugt die bestehende Gesellschaft) sondern eine kritische Funktion haben sollen, wird eine verstärkte Einbeziehung von Kategorien wie Macht, Herr-
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schaft, Ungleichheit und Gewalt (Bauer 2002: 138) notwendig. Diese waren auch Bestandteil eines großen Teils der früheren Geschlechterforschung. Geschlechtsspezifische Sozialisationsforschung und eine entsprechende Theorieentwicklung dürfte so lange von gesellschaftlicher Relevanz sein, wie Geschlecht eine zentrale Kategorie darstellt, die „die Verteilung und Gestaltung von Macht“ regelt (Forster 2002: 44), eine Funktion in Legitimationsdiskursen „um die Ungleichverteilung von Ressourcen und Zugangschancen zu Mobilitätskanälen“ einnimmt (Nunner-Winkler 1994: 65) und für bestimmte Interessen instrumentalisiert werden kann (Schmerl 2002: 63; Wetterer 2002: 70). Die machttheoretische Perspektive hätte dabei die Verschränkung von Individuum und Gesellschaft zu berücksichtigen: „In einer beruflichen [schulischen oder sonstigen R.N.] Situation treffen daher nie nur einzelne Individuen aufeinander, sondern Individuen, die bereits innerhalb eines komplexen und vielschichtigen Netzes von Macht- und Kräfteverhältnissen agieren, das sie in eine solche Situation mit einbringen“ (Maihofer 2002: 17; vgl. auch Nestvogel 2002, 51ff.).
Zentrale gesellschaftstheoretische Begriffe und Konzepte können geschlechtsspezifisch, sozio-kulturell oder geografisch nicht auf westliche ‚Dominanzgesellschaften‘ und die Sozialisation von deren Mitgliedern beschränkt bleiben. Begriffe wie westliche, pluralisierte, moderne, hochkomplexe Industriegesellschaften sind auch in der Sozialisationsforschung weit verbreitet, aber inhaltlich wenig präzisiert. Zudem schließen sie implizit sowohl einen Teil der im ‚Westen‘ lebenden, aber nicht zur Dominanzgesellschaft gehörenden Bevölkerung als auch die vielfältigen, historisch unter hegemonialem Einfluss der westlichen Welt gewachsenen Verflechtungen mit der ‚restlichen Welt‘ aus. Letztere ist mit der Kehrseite der Begriffe, die die ‚westliche Welt‘ sich zuschreibt (also nichtkomplex, traditionell, homogen etc.), kaum angemessen, sondern eher euro-/ethnozentrisch charakterisiert. Es sind also globale Bezüge, die diese in größeren Zusammenhängen verorten, einzubeziehen. Strukturtheoretisch richtungweisend wären transnationale Perspektiven (vgl. Conrad/ Randeria 2002: 15), denn Europa kann nicht aus sich heraus, sondern nur aus seinen vielfältigen Interaktionen innerhalb des Weltsystems erklärt werden, die ‚geteilte Geschichten‘ produziert haben und weiterhin produzieren. Solche ‚postkolonialen‘ Perspektiven haben Konsequenzen für Wissen und Wissenschaft, denn diese sind keine „Instrumente neutraler und ‚objektiver‘ Beschreibung“ und daher „von den Mechanismen der Macht nicht zu trennen“ (ebd.: 34): Der „konzeptuelle Nationalismus in den Sozialwissenschaften und der Eurozentrismus der Historiographie“ (ebd.: 11) haben Dichotomien zwischen dem Westen und dem „Rest“ konstruiert, wodurch „die Ausgliederung des ‚Anderen‘ aus der Moderne [...] durch die Organisation des europäischen Wissens auch theoretisch festgeschrieben“ wurde (ebd.: 21). Es geht also auch um eine Dezentrierung und Dekonstruktion eurozentrischer (auch wissenschaftlicher) Paradigmen. Ohne struktur- und wissenschaftstheoretische Dekonstruktionen sind viele sozialisationsrelevante soziale, politische und ökonomische Prozesse in westlichen Industriegesellschaften nicht hinreichend erklärbar – weder der relativ große Wohlstand eines relativ großen Teils der Bevölkerung noch weltweite Migrations- und Fluchtprozesse und die Zunahme ethnisch-kultureller Minderheiten sowie deren Funktionen in multikulturellen Gesellschaften. Auch hier sind – anstelle von additiven oder polarisierten – verschränkende Sichtweisen zu fordern, die z.B. die Sozialisation von Kindern mit Migrations- und Fluchthintergrund innerhalb derselben gesellschaftstheoretischen Zusammenhänge zu analysieren vermögen wie die von Mitgliedern der sog. Dominanzgesellschaft. Studien zur Arbeitsteilung zwischen Frauen, z.B. zwischen Beschäftigten und Arbeitgeberinnen in privaten Haushalten (Thiessen 2002: 65) und die neuere MigrantInnenforschung, die das Zusammenwirken von Geschlecht mit anderen Unterdrückungsverhältnissen benennt (Klingebiel/Randeria 1998, Gutiérrez Rodríguez 1999, Eggers u.a. 2005), machen diese Verschränkungen sichtbar. Sie werden aber auch in kolonialistischen und nationalsozialistischen Spuren biologistischer und rassistischer Sozialisationsauffassungen sichtbar, mit denen herkömmliche Sozialisationsforschung sich kaum befasst. Dabei wären sie gerade im Hinblick auf ihre weite
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Verbreitung in Alltagspraxen zu berücksichtigen. Nicht nur Menschen mit Migrationshintergrund, auch viele Deutsche (Juden, Afro-Deutsche oder Sinti) müssen sich damit bis heute – in Alltagsinteraktionen und strukturell – als einem wesentlichen Bestandteil ihrer Sozialisation auseinander setzen. Darüber hinaus prägt z.B. Rassismus „... nicht nur das Leben von Schwarzen Frauen [...], sondern auch das der Frauen, die davon profitieren [...]. Für letztere bleibe die rassistische Ordnung meist unsichtbar. Zum Thema werde sie erst, wenn ihre hegemoniale Position in Frage gestellt würde: ‚Wie männliche Privilegien werden weiße Privilegien eher als gegeben hingenommen als benannt, und für ihre Nutznießerinnen sind sie eher unsichtbar als sichtbar‘“ (Frankenberg 1996, zitiert nach Gutiérrez Rodríguez 1999: 11; vgl. auch Eggers u.a. 2005). Aus diesen Verflechtungen ergibt sich, dass über die Kategorie Geschlecht hinaus weitere Strukturkategorien stärker zu berücksichtigen wären, die das Zusammenwirken von Geschlecht mit anderen Unterdrückungsverhältnissen (Klasse, Ethnizität, Hautfarbe) benennen (auch solche innerhalb des ‚weiblichen‘ Geschlechts). Im Rahmen einer kritischen Reformulierung geschlechtsspezifischer Sozialisationstheorien wäre dabei nicht nur dem „‘gesellschaftlich hegemonialen Geschlechterdiskurs‘, sondern auch „der eigenen diskursiven Praxis die Machtfrage zu stellen“ (Bührmann 2002: 31). Dabei stellt sich die Frage, wie Sozialisationstheorien das durch Herrschaft Ausgeblendete sichtbar machen, oder, in den Worten des Ethnopsychoanalytikers Mario Erdheim (1984), „die gesellschaftliche Produktion von Unbewusstheit“ bewusst machen können. Hiermit wird insofern etwas qualitativ Neues in die Debatte gebracht, als es sich nicht nur um theoretische Anforderungen an die Entwicklung neuer Identitäts- und anderer Sozialisationskonzepte im Rahmen gesellschaftlicher Veränderungen handelt, sondern um etwas, das vorher schon da war, aber aus männlichen wie weiblichen Dominanzdiskursen ausgeblendet blieb. Ob sozialisationstheoretisch für relevant erachtete Ansätze dies aus ihren eigenen empirisch-theoretischen Be- und Verschränkungen heraus leisten können, ist noch zu klären. Verweise: Androgynie Biografieforschung Differenz, Genealogie, Affidamento Doing Gender Geschlechterstereotype Habitus und sozialer Raum Konstruktion von Geschlecht Migrationsforschung Postkolonialismus Schule Weibliche Moral
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B Rezeptionen und Weiterentwicklung von Theorien Renate Nestvogel
Sozialisationstheorien: Traditionslinien, Debatten und Perspektiven Zentrale Definitionen Der Begriff der Sozialisation bezieht sich auf die Entwicklung des Individuums in seinem Verhältnis zur Umwelt. Dieses Verhältnis wird theoretisch-konzeptuell hinsichtlich der Subjektkonzepte, der sozialisatorischen Umwelten und der Gewichtung ihrer jeweiligen Bedeutung (nature vs. nurture) sowie ihrer Verwobenheit ineinander unterschiedlich gefasst. Hieraus haben sich, philosophisch fundiert, verschiedene theoretische Traditionslinien entwickelt, an denen wissenschaftliche Disziplinen wie die Soziologie, Psychologie, Erziehungswissenschaft, Ethnologie, Biologie beteiligt sind. Der Begriff Sozialisation lässt sich im Englischen und Französischen auf die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen und wurde im Oxford Dictionary of the English Language 1828 als „to render social, to make fit for living in society“ definiert (Geulen 1991: 21). In neueren Konzepten wird Sozialisation als „... Prozess der Entstehung und Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit in Abhängigkeit von und in Auseinandersetzung mit den sozialen und den dinglich-materiellen Lebensbedingungen verstanden, die zu einem bestimmten Zeitpunkt der historischen Entwicklung einer Gesellschaft existieren. Sozialisation bezeichnet den Prozess, in dessen Verlauf sich der mit einer biologischen Ausstattung versehene menschliche Organismus zu einer sozial handlungsfähigen Persönlichkeit bildet, die sich über den Lebenslauf hinweg in Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen weiterentwickelt“ (Hurrelmann 1993: 14). In dem Versuch, den Dualismus zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Persönlichkeits- und Sozialstruktur zu überwinden, wird Sozialisation auch als „emergenter Prozess verstanden, in den Biologisches und soziale Erfahrung eingehen und sich untrennbar verbinden (Verkörperung)“ (Bilden 2002: 29). Neuere Konzepte geschlechtsspezifischer Sozialisation wurden maßgeblich durch die Frauenbewegung angeregt. Sie haben Entwicklungen in der Sozialisationsforschung mit vollzogen und teilen deshalb „im Ansatz die Grundkategorien und Blickrichtungen – und damit auch die Probleme – des Sozialisationsparadigmas“ (Dausien 1999: 232).
Sozialisationsverständnis und Traditionslinien Ein Sozialisationsverständnis, das sowohl dem Einfluss einer sozialisationsrelevanten Umwelt als auch einem Subjekt Rechnung trägt, das sich aktiv mit dieser auseinander setzt, lässt sich von zwei Traditionslinien abgrenzen, die aufgrund ihrer Einseitigkeit zwar als wissenschaftlich überholt gelten, im Alltagsdenken und -handeln aber immer noch eine bedeutende Rolle spielen und zum Teil auch (populär-)wissenschaftlich im neuen Gewand erscheinen.
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Sozialisation als biologisch determinierter Prozess Die erste dieser Traditionslinien erklärt die menschliche Entwicklung aus dem Organismus des Menschen heraus und misst der Umwelt einen geringen Stellenwert bei (reifungstheoretische, organismische, anlagenorientierte, essentialistische, biologistisch-rassistische Ansätze). Bei aller Unterschiedlichkeit hinsichtlich ihrer philosophischen und wissenschaftlichen Provenienz ist diesen Ansätzen die Annahme gemeinsam, dass Persönlichkeitsentwicklung allein oder überwiegend durch genetische Faktoren oder durch innere Reifungsprozesse bestimmt sei und sich (relativ) unabhängig von einer gegebenen Umwelt vollziehe. Im Mainstream der Sozialisationstheorien werden dieser Traditionslinie v.a. entwicklungsbezogene psychodynamische Ansätze zugeordnet, in denen kognitive, physische und psychische Reifungs- und Entwicklungsprozesse einzelner Lebensphasen aus einer innerpersonalen und organismischen Perspektive heraus fokussiert werden. Bezüglich Geschlecht unterstellen extreme, z.B. biologistische Ansätze naturgegebene Unterschiede zwischen Männern und Frauen, die auch unterschiedliche Fähigkeiten und Fertigkeiten, Einstellungs- und Verhaltensmuster, kognitive und affektive Merkmale implizieren. Das heißt sie beruhen auf der Überzeugung, dass geschlechtsspezifische Körperfunktionen mit angeborenen, geschlechtstypischen Persönlichkeitsmerkmalen einhergehen. Solche biologistisch konstruierten männlichen und weiblichen ‚Geschlechtscharaktere‘ haben eine lange Tradition in der europäischen Kultur- und Geistesgeschichte und enthalten überwiegend Defizitzuschreibungen zum weiblichen Geschlecht. Analog wurden im Rahmen des europäischen Kolonialismus rassistische Menschenbilder konstruiert, in denen äußere, physische Merkmale (wie Hautfarbe) mit spezifischen Eigenschaften, Verhaltensweisen, intellektuellen Fähigkeiten etc. verknüpft sind. In ‚Rassentheorien‘ früherer Jahrhunderte bis hin zum Nationalsozialismus wurden vielfältige Einteilungen der Menschheit in verschiedene ‚Rassen‘ sowie Hierarchisierungen in ‚höherwertige‘ und ‚minderwertige Rassen‘ vorgenommen. Verschiedene Strömungen in der Kulturanthropologie, Biologie, Medizin und Psychologie waren darum bemüht, Thesen von der Ungleichwertigkeit der Geschlechter wie auch sozialer, kultureller oder an äußeren Merkmalen festgemachter Gruppen wissenschaftlich zu belegen. Meines Erachtens ist es gefährlich zu behaupten, biologistische Ansätze spielten in der Wissenschaft keine Rolle mehr (Hoffmann 1997: 384) und sie damit ad acta zu legen. Pseudowissenschaftliche Annahmen einer genetischen Minderwertigkeit von Frauen sowie Menschen (mancher) anderer Kulturen können aus rechtsextremen Kreisen heraus offensichtlich leicht in die „Mitte der Gesellschaft“ Eingang finden (z.B. Quambusch 1993; kritisch: Hopfner/Leonhard 1996: 11ff.). Die feministische Forschung hat essentialistische Vorstellungen von ‚natürlichen‘ geschlechtsspezifischen Persönlichkeitsunterschieden kritisiert, aber auch nachgewiesen, dass sie sich ebenfalls in feministischen Differenzdiskursen finden lassen. Hierin erscheinen Frauen jedoch nicht minderwertig, sondern eher höherwertig, indem ihnen Eigenschaften wie Friedfertigkeit, Fürsorglichkeit, Beziehungsfähigkeit und Naturnähe qua Geschlecht zugeschrieben und diese gleichzeitig den Männern abgesprochen werden.
Sozialisation als gesellschaftlich gesteuerter Prozess Die zweite Traditionslinie fasst die Sozialisation als überwiegend von der Gesellschaft aus gesteuerten Prozess auf (sozialdeterministische, strukturfunktionalistische, mechanische, prägungstheoretische Ansätze). Auf der Grundlage eines (aufklärerischen) Menschenbildes galt/gilt es nach diesem Sozialisationsverständnis, eine „rohe menschliche Natur“ den Bedürfnissen der (jeweiligen) Gesellschaft entsprechend zu „zähmen“ (Hobbes), anzupassen (Spencer, Darwin; vgl. Geulen 1991: 21), „dem eben geborenen egoistischen und asozialen Wesen ein anderes Wesen hinzuzufügen, das imstande ist, ein soziales und moralisches Leben zu führen“ (Durkheim 1997: 51), „Verhaltensmaß-
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stäbe und Ideale der Gruppe in sich aufzunehmen“ (Parsons 1973: 55) und die „Bereitschaft zur Erfüllung eines spezifischen Rollentyps innerhalb der Struktur der Gesellschaft“ zu entwickeln (Parsons 1997: 99). Dieses normative Verständnis von Sozialisation als Mittel zur Integration in die Gesellschaft galt prinzipiell für beide Geschlechter. Es wurde vor allem an die Erziehung herangetragen, die den als „außerordentlich plastisch“ (Durkheim 1997: 46) gedachten Menschen im Interesse der jeweiligen Gesellschaft zu formen hatte: „Der Mensch, den die Erziehung in uns verwirklichen muss, ist nicht der Mensch, den die Natur gemacht hat, sondern der Mensch, wie ihn die Gesellschaft haben will; und sie will ihn so haben, wie ihn ihre innere Ökonomie braucht.“ (Durkheim 1997: 49)
Für die Geschlechterbildung bedeutete dieses Postulat, dass nur eine den hegemonial-gesellschaftlichen „Stereotypen über Männlichkeit/Weiblichkeit entsprechende Entwicklung einer Person eine ‚gesunde‘, positive Anpassung ermöglichende Persönlichkeitsentwicklung sei; bzw. soziologisch ausgedrückt, dass nur klar nach Geschlechtsrollen differierende Sozialisation funktional für Individuum und Gesellschaft sei“ (Bilden 1980: 782). Weniger normativ als manche Soziologen und Erziehungswissenschaftler erklärten auch Psychologen behavioristisch-lerntheoretischer Richtungen geschlechtsspezifisches „Verhalten aus Umwelteinflüssen, die auf einen als passiv vorgestellten Organismus einwirken“ (Nunner-Winkler 1994: 68f.). In expliziter Abgrenzung zu biologistisch-deterministischen Vorstellungen von ‚natürlichen‘ Persönlichkeitsunterschieden wurde die gesellschaftliche Prägung auch in einem Teil der geschlechtsspezifischen Sozialisationsforschung betont. Den Weg dazu hatte bereits die kulturvergleichende anthropologische Forschung der 1920er und 1930er Jahre gebahnt. Sie erbrachte den Nachweis, dass Geschlechterverhältnisse und Vorstellungen darüber, was männliche, weibliche oder geschlechtsneutrale Aufgaben, Eigenschaften und Verhaltensweisen sind, eine große kulturelle Vielfalt aufweisen, und sah damit „das Übergewicht der kulturellen Gegebenheiten gegenüber den ‚angeborenen Eigenschaften‘“ bestätigt (Mead 1970: 15). Die Frauen- und Geschlechterforschung in westlichen Industrieländern analysierte seit den 1970er und 1980er Jahren insbesondere Frauen benachteiligende und unterdrückende Gesellschafts- und Interaktionsverhältnisse. Eine sozialdeterministische Zuspitzung fand diese gesellschaftskritische Perspektive in der gleichsam universalisierten Vorstellung, (alle) Frauen seien Opfer patriarchaler Herrschaftsverhältnisse. Der viel zitierte Titel „Wir werden nicht als Mädchen geboren – wir werden dazu gemacht“ (Scheu 1977; kritisch dazu Dausien 1999: 225f.; vgl. auch Hopfner/Leonhard 1996: 179ff.) verdeutlicht diese Zuspitzung. Prämissen „passiven Sozialisiertwerdens“ (Bilden 1980) in einer männlich dominierten Welt hatten weitreichende Folgen hinsichtlich der Wahrnehmung weiblicher Mitverantwortung an gesellschaftlichen wie auch persönlichen Entwicklungen. Deterministische Vorstellungen von sozialisationsbedingter Geschlechterdifferenz (Frauen und Männer werden unterschiedlich sozialisiert, leben in verschiedenen Welten und entwickeln unterschiedliche Geschlechtscharaktere) entfalteten sich nicht nur defizitorientiert (Frauen sind benachteiligt gemessen am Maßstab männlicher Privilegien), sondern auch in positiven Umdeutungen. Zu Letzteren zählen Gilligans (1984) These von einer männlichen und einer weiblichen Moral (Gerechtigkeit vs. Fürsorge) sowie weibliche Karriere- und Managementkonzepte, die mit den Vorzügen „weiblicher Eigenschaften“ argumentieren. Die Grenzen zwischen biologistisch oder sozial determinierten Geschlechterdifferenz-Konstrukten sind dabei fließend.
Sozialisation als kontextgebundener wechselseitiger Prozess Die neueste und zur Zeit wissenschaftlich relevante Traditionslinie betrachtet die Sozialisation als ‚Entwicklung im Kontext‘ (systemtheoretisch-ökologische und reflexiv-handlungstheoretische Ansätze). Diese Ansätze stellen die Grundlage für die eingangs definierten neueren Sozialisationskonzepte. Sie versuchen, die Einseitigkeit der vorgenannten Traditionslinien zu überwinden, indem sie
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das „Wechselspiel von sozialen und individuellen Konstruktionsprozessen“ betonen (Grundmann 1999: 12). Psychologen wie John Dewey, George Herbert Mead, Kurt Lewin und Lev S. Wygotski betrachten bereits am Anfang des 20. Jahrhunderts psychologische Entwicklungen in sozialinteraktiven und gesellschaftlichen Zusammenhängen. Bronfenbrenner (1981: 24) hat diese Ansätze in seiner „Ökologie der menschlichen Entwicklung“ aufgegriffen und zu einer „Theorie der Umweltkontexte und ihrer Auswirkungen auf die Kräfte, die das psychische Wachstum unmittelbar beeinflussen“, ausformuliert. Seine zentrale Sozialisationsthese von der „fortschreitenden gegenseitigen Anpassung zwischen dem aktiven, sich entwickelnden Menschen und den wechselnden Eigenschaften seiner unmittelbaren Lebensbereiche“ (ebd.: 37) hat er in der Form ineinandergreifender Systeme dargestellt (Mikro-, Meso-, Exo- und Makrosystem-Modelle). Hieraus entwickelten Geulen/Hurrelmann (1980: 65) ein „Strukturmodell der Sozialisationsbedingungen“, das um eine weltsystemische Ebene ergänzt wurde (Nestvogel 1999, 2002). Das Modell ist theoretisch offen und lässt die Integration verschiedener Theorien zu. Systemisch-ökologische Ansätze ordnen die Subjektentwicklung eher in größere institutionelle und gesellschaftliche Bezüge ein, während reflexiv-handlungstheoretische Ansätze mehr individuelle Beziehungserfahrungen fokussieren, d.h. die Ebene der Interaktionen. In einer Makroperspektive treten damit eher Gesellschaftstheorien ins Blickfeld – z.B. Systemtheorien, Kritische Theorie, Macht-, Individualisierungs-, Modernisierungs-, Globalisierungs-, Postkolonialismus-Theorien etc. – in einer Mikroperspektive dagegen Psychoanalyse, sozial-kognitive Lerntheorien, Interaktions-, biografische und lebenslauftheoretische Ansätze in ihren diversen Verknüpfungen. Ein großer Teil der empirischen Kinder-, Jugendund Geschlechterforschung basiert auf reflexiv-handlungstheoretischen Ansätzen im Gefolge des symbolischen Interaktionismus von George Herbert Mead inklusive späterer Ausdifferenzierungen durch andere (vgl. Joas 1991). Diese Ansätze bieten vielfältige methodische Zugänge für die Analyse menschlichen Interpretierens, Ausgestaltens und Handelns in Interaktionssituationen. Ab den 1980er Jahren fächerte sich das empirische Forschungsspektrum auf, und es entstanden zahlreiche Untersuchungen zu Kindern, Jugend/Adoleszenz, Familie, Schule, Gleichaltrigen/Peers, Gesundheit, Moral, Medien, Körper, Beruf, Sprache/Kommunikation, Migration etc. Zum Verhältnis von Theorie und Empirie schrieb Geulen (1991), dass „... nach der Etablierung der sozialisationstheoretischen Perspektive die empirische Forschung theoretisch selbständiger, nun stärker von Problemen her bestimmt werden und sich Feldern und Fragen zuwenden konnte, die nicht mehr aus vorliegenden Theorien abgeleitet bzw. durch die akademische Frage ihrer Bestätigung oder Widerlegung motiviert waren“ (Geulen (1991: 34). Für die Frauen- und Geschlechterforschung galt allerdings, dass sie vermeintlich geschlechtsneutrale Theorien auf deren männlichen Blickwinkel hin analysiert, den Androzentrismus in den einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen kritisiert und über eine intensive Auseinandersetzung damit Theorien weiterentwickelt bzw. theoretische Weiterentwicklungen für eigene Fragestellungen aufgenommen hat. Dabei wurden und werden die o.g. Sozialisationsthemen auch jeweils geschlechtsspezifisch analysiert (zur frühkindlichen Sozialisation vgl. z.B. Grabrucker 1985, zur weiblichen Adoleszenz Flaake/King 1995, zu Gleichaltrigen Kolip 1994). Zahlreiche Studien entstanden im Rahmen der geschlechtsspezifischen schulischen Sozialisationsforschung (als Teil der feministischen Schulforschung), die dem Beitrag der Schule zur Reproduktion, aber auch Produktion, von Geschlechterstereotypisierungen nachging. Sie untersuchte die Entwicklung von geschlechtsspezifischem Selbstbewusstsein, Selbst- und Fremdkonzepten, Interessen, Leistungen etc. und deren Auswirkungen auf gewählte Leistungskurse, Berufsorientierungen, Ausbildungsprofile und Studiengänge. Analysen von Schulbüchern und anderen Medien (Grossmann/Naumann 1986, Jäger 1989), zu Interaktionen und Beziehungsstrukturen in der Schule (Enders-Dragässer/Fuchs 1988), zu Entwicklungen geschlechtsspezifischen Selbstvertrauens (Horstkemper 1995) etc. förderten Benachteiligungen von Mädchen und die Reproduktion von Geschlechterhierarchien in der (koedukativen) Schule zutage. Aus solchen Defizitthesen wurden Forderungen nach strukturellen, d.h. gesellschaftlichen und schulischberuflichen Veränderungen in Richtung Geschlechtergleichheit und -gleichbehandlung abgelei-
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tet und kritisch-aufklärerische, selbstreflexive Konzepte zur eigenaktiven Gestaltung von Sozialisationsprozessen entwickelt. Manche geschlechterdifferenzorientierten Ansätze betonten dabei weniger die Defizite als die sozialisationsbedingten Stärken von Mädchen und versuchten, deren Erfahrungen, Interessen und Lebenswelten stärker ins (koedukative) Schulgeschehen hineinzuholen. Im Laufe von gut zwei Jahrzehnten hat diese Forschung mit einer Vielzahl von Subjektund Geschlechterkonzepten sowie gesellschaftstheoretischen Prämissen gearbeitet (zusammenfassend: Faulstich-Wieland/Nyssen 1998, Kampshoff/Nyssen 1999). Parallel zur Suche nach und Erklärung von Unterschieden zwischen den Geschlechtern begründeten einige Sozialisations- und GeschlechterforscherInnen ab den 1980er Jahren ausführlich, warum die ermittelten Unterschiede umstritten bzw. wissenschaftlich nicht haltbar sind. Hagemann-White (1984: 42) kritisierte an einer Forschung im „Denkstil der Eigenschaftspsychologie“ u.a., „dass den Individuen eine zeitlich überdauernde, situationsübergreifende Neigung oder Fähigkeit zu einem bestimmten Verhalten unterstellt wird.“ „Doch was als Widerlegung von biologistisch behaupteten Unterschieden begann, gerät in den Sog, eine eigene Erklärung für den weiblichen Sozialcharakter zu liefern, so dass am Ende der Eindruck siegt: Mädchen sind gefühlsbetonter, an Personen interessierter, abhängiger, braver – aber eben nicht so geboren, sondern dazu gemacht worden“ (ebd.: 77). Bilden (1991: 279) wies auf das Problem der Reifikation hin, das darin besteht, dass schon die Frage nach geschlechtsspezifischen Sozialisationsunterschieden im Denken, Fühlen und Verhalten unterstelle, es gebe solche Unterschiede tatsächlich. Damit aber werde die dualistische gesellschaftliche Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit, eines „männlichen und eines weiblichen Sozialcharakters“, reproduziert. Nunner-Winkler (1994: 65) betont, dass abgesehen von einigen primären und sekundären Geschlechtsmerkmalen die Unterschiede innerhalb der Gruppe von Frauen bzw. Männern größer sind als der Unterschied zwischen den Durchschnittswerten der beiden Gruppen. Die Kritik an dualistischen Geschlechterdifferenz-Ansätzen führte zu vielfältigen Differenzierungsansätzen (vgl. Metz-Göckel 2000; Nestvogel 1997, 2000). Die Heterogenität innerhalb des weiblichen Geschlechts wurde anhand von sozialstrukturellen Aspekten (soziale Herkunft/ Schicht, Bildungsstand, Beruf, Einkommen), sexuellen Orientierungen etc. wahrgenommen. Auf Geschlechter übergreifende Gemeinsamkeiten im Sozialisationsprozess wurde im Kontext von Kolonialismus (Mamozai 1982, Nestvogel 1992) und Nationalsozialismus (Oguntoye u.a. 1986, Ebbinghaus 1987) hingewiesen. Wie Simone de Beauvoir (1960: 9) schon 1949 schrieb, leben Frauen „verstreut unter den Männern, durch Wohnung, Arbeit, wirtschaftliche Interessen, soziale Stellung mit ihnen enger verbunden als mit den anderen Frauen. Als Frauen des Bürgertums sind sie solidarisch mit männlichen Bourgeois und nicht mit den Frauen des Proletariats, als Weiße mit den weißen Männern und nicht mit schwarzen Frauen.“ (Psychoanalytisch fundiert findet sich diese These bei Rohde-Dachser 1991.) Bipolare biologische und soziale Geschlechtscharakter-Konzepte („Es gibt (nur) Frauen und Männer, nichts dazwischen“; Bilden 2002: 27) wurden durch Androgyniekonzepte, Transsexualitätsforschung und Nachweise, dass auch das biologische Geschlecht ein Konstrukt ist, in Frage gestellt. Konzepte zur Pluralität von Subjektpositionen rückten andere Kategorien als das Geschlecht in den Vordergrund. Die Schwarze Frauenbewegung in den USA und später Teile der Migratinnen- und ‚Dritte-Welt‘Forschung verknüpften das Geschlecht mit Kategorien wie ‚Rasse‘ und Klasse und arbeiteten struktur- und machttheoretisch Differenzierungen unter Frauen heraus (z.B. Kraft/Ashraf-Khan/ Rukhsana 1994, Uremovic/Oerter 1994). Die Perspektive von Minderheiten auf die jeweilige „Dominanzgesellschaft“ (Rommelspacher 1995) machte deutlich, dass es sich bei den vermeintlich universalen Diskursen der weißen, westlichen, bürgerlichen Frauen(-forscherInnen) um einen ethnozentrisch-hegemonialen Partikularismus handelte – analog zum männlichen Partikularismus, der sich als Universalismus ausgab. Die Kritik an Konzepten, die Geschlecht als Bündel relativ statischer Identitäten, Eigenschaften und Verhaltensweisen definieren, führte – parallel zu den dargestellten Differenzierungsansätzen – zur Entwicklung (sozial-)konstruktivistischer Ansätze, die Geschlecht und „Ge-
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schlechterverhältnis(se) bzw. Männlichkeit/Weiblichkeit als Produkte andauernder sozialer Konstruktionsprozesse“ (Bilden 1991: 280) konzipieren. Das Geschlecht wird dabei als etwas gedacht, das in mikro- und makrosozialen Prozessen immer wieder hergestellt wird (‚doing gender‘). Das Prozesshafte, Dynamische und Relationale eines solchen (aus der US-amerikanischen Ethnomethodologie stammenden) ‚doing gender‘ kann dabei auch ein reflektiertes ‚undoing gender‘ beinhalten. Im Gefolge entwickelten sich (de-)konstruktivistische Konzeptionen von Geschlecht, Geschlechterdifferenz und -verhältnissen, die in Distanzierung zum ‚natürlichen‘ Geschlecht das kulturell erzeugte betonen und dem sozialdeterministischen ‚sozialisiert Werden‘ (‚zu etwas gemacht werden‘) das ‚Selbst-Machen‘ gegenüberstellen. Eher strukturtheoretische Argumentationslinien wurden in der Professionsforschung entwickelt, die die Prämisse ablehnt, dass Frauen aufgrund ihrer Sozialisation ein spezifisch weibliches Arbeitsvermögen erwerben, das sie dazu disponiere, eher typisch weibliche Berufe zu wählen und in diesen Berufen nach weiblichen Mustern zu agieren (Maihofer 2002: 13f.). Die Begründung dafür lautet: Hierdurch würden Geschlechterstereotypisierungen verfestigt und die Frauen selbst für ihre Diskriminierung im Arbeitsleben verantwortlich gemacht. Statt dessen wird Geschlecht als soziale Strukturkategorie aufgefasst, die „etwas aussagt über die spezifische Verortung von Frauen und Männern im Kontext eines hierarchischen Systems“ (Knapp 1988, zitiert nach Maihofer 2002: 14; vgl. auch Schmerl 2002: 62f.). Solche gesellschafts- und strukturtheoretischen Konzepte wurden zum Teil mit einer (modifizierten) sozialisationstheoretischen sowie machttheoretischen Perspektive verknüpft, aber zum Teil auch als nicht kompatibel mit einem (subjekttheoretisch verengten) Sozialisationsbegriff gesehen (vgl. Maihofer 2002: 14).
Aktuelle Debatten über Sozialisationskonzepte Die bisherigen sozialisationstheoretischen Entwicklungen und daraus hervorgegangene Forschungserträge werden sehr unterschiedlich eingeschätzt, und zwar sowohl aus einer allgemeinen (männlich dominierten?) als auch aus einer geschlechtsspezifischen (eher weiblichen) sozialisationstheoretischen Perspektive. Einigkeit besteht in der Notwendigkeit neuer theoretischkonzeptioneller Debatten (Zinnecker/Geulen 2002: 115; Dausien 1999: 217; Maihofer 2002: 16). Begründet wird diese Notwendigkeit aus Mängeln des Sozialisationsparadigmas allgemein, aus der bereits dargelegten Kritik an geschlechtsspezifischen Sozialisationstheorien und an der Kategorie Geschlecht bis hin zu deren Abschaffung, aus der unausgewogenen Gewichtung von Subjekt- und Strukturkategorien sowie aus den Dichotomien zwischen Individuum und Gesellschaft. Diese Kritikpunkte, die vielfältig miteinander verwoben sind, werden im Folgenden dargestellt. Einige Wissenschaftler befürworten die Aktualisierung klassischer Konzepte und ihre Integration in Sozialisationskonzepte, z.B. konstruktivistische, sozialökologische oder biografische Sozialisationsforschung (Zinnecker/Geulen 2002: 115). Andere ForscherInnen können Sozialisationskonzepten kaum noch etwas abgewinnen und plädieren für deren Ausschluss zugunsten anderer Kategorien wie Lebenslauf-, Biografie-, Kindheits- und Schulforschung (vgl. Dausien 1999: 233ff.). Das Konzept der geschlechtsspezifischen Sozialisation wird dafür verantwortlich gemacht, dass auch „ ,dekonstruktiv‘ gemeinte Strategien, z.B. Modelle einer geschlechtskritischen Erziehung von Mädchen und Jungen oder Forschungen zur Geschlechterdifferenz, letztlich zu neuen Kategorisierungen nach Geschlecht geführt haben, zumindest aber das Klassifikationskriterium Geschlecht selbst verstärkt haben“ (Dausien 1999: 225). Meines Erachtens hat dies mehr mit in jede Theorie eingehenden vorwissenschaftlichen Prämissen zu tun als mit den Theorien selbst, denn auch geschlechtsspezifische Forschung kann nach der Bedeutung der Kategorie Geschlecht im Verhältnis zu anderen Kategorien fragen und anstelle von geschlechtsspezifischer Differenz
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geschlechterübergreifende Differenzierungen ermitteln (vgl. Popp 2002, Rendtorff 2002, Schmerl 2002). So haben Breidenstein/Kelle (1998) in einer ethnografischen Studie zur Gleichaltrigenkultur in der Schulklasse zwar das Klassifikationskriterium Geschlecht beibehalten, aber darauf geachtet, „die Bedeutsamkeit der Geschlechterunterscheidung, anstatt sie vorauszusetzen, als empirische Frage zu behandeln“, indem sie „jene Situationen und Praktiken [identifizierten], die der Geschlechterunterscheidung Relevanz verleihen“ (ebd.: 15f.). Die Perspektive wird also von den „Unterschieden der Geschlechter zur Praxis der Unterscheidung zwischen Mädchen und Jungen“ verschoben (ebd.: 16). Eine Auflösung der Geschlechterpolarität sieht Bilden (2002: 27) zum einen in der biologisch-medizinischen und kulturellen Transsexualitätsforschung, zum anderen in der Konzipierung von Geschlecht als sozialer Strukturkategorie in Verschränkung mit anderen „Kategorien sozialer Ungleichheit (wie ‚Ethnizität‘, Kultur, ‚Schicht‘, sexueller Orientierung, Behinderung ...)“. Eine weitere Kontroverse bezieht sich auf die Gewichtung von Subjekt- und Strukturkategorien. Bauer (2002: 130) z.B. sieht in den sozialisationstheoretischen Erklärungsansätzen, die in den letzten beiden Jahrzehnten sehr dominant waren, einen „strukturlosen Subjektzentrismus“, einen „Pendelausschlag“ von der extremen strukturdeterministischen Position der 1960er und 1970er Jahre hin zur ebenso extremen individuumszentrierten der 1980er und 1990er Jahre. Dabei hätte man sich „auf ein Katalogisieren des Alltagsbewusstseins Heranwachsender“ beschränkt und die „Analyse der häufig invisibilisierten, differenzierten Struktur der Sozialisationsbedingungen“ vernachlässigt. Begriffe wie „Selbstsozialisation“ (Zinnecker 2000), „Selbstorganisation“ (Hurrelmann 2002), aber auch ‚doing/undoing gender‘ legen Vorstellungen von einem überpointiert ‚autonom handlungsfähig‘ gedachten Subjekt nahe. Schon Kotthoff (1993: 80) hat darauf hingewiesen, dass konstruktivistisch-interaktionistische ‚doing gender‘-Ansätze bei Analysen von Mikrophänomenen häufig gesellschafts- und machtspezifische Bezüge ausblenden und davor gewarnt „zu unterschätzen, dass wir bereits in bestimmte kulturelle Verhältnisse hineingeboren werden, die wir uns interaktiv aneignen.“ Lorber (1999) stellt am Beispiel von Geschlecht eine Balance zwischen Subjekt- und Strukturaspekten her, indem sie dieses als soziale Institution im Sinne eines „der wichtigsten Ordnungsprinzipien für die Lebensgestaltung der Menschen“ (ebd.: 57) definiert: „Gender regelt die Sozialbeziehungen im Alltag wie auch die umfassenderen sozialen Strukturen wie soziale Klassen und die Hierarchien bürokratischer Organisationen [...] Die vergeschlechtlichte Mikrostruktur und die vergeschlechtlichte Makrostruktur reproduzieren und verstärken einander wechselseitig. Die soziale Reproduktion von gender in Individuen reproduziert auch die vergeschlechtlichte Gesellschaftsstruktur, konstruieren die Individuen doch, indem sie gender-Normen und -Erwartungen in der direkten Interaktion in Handeln umsetzen, die vergeschlechtlichten Herrschafts- und Machtsysteme.“ (Lorber 1999: 47)
Bezogen auf das Strukturmodell der Sozialisationsbedingungen wäre also das Geschlechterverhältnis auf allen fünf miteinander verknüpften Ebenen (Individuum, Interaktionen und Tätigkeiten, Institutionen, Gesellschaft, Weltsystem) zu untersuchen. Dagegen fokussiert Maihofer (2002: 16) die theoretischen Veränderungen in Richtung Konstruktivismus aus einem anderen Blickwinkel. Sie sieht darin erstens „eine Verschiebung des Blicks weg vom Geschlecht auf die Geschlechterverhältnisse, also vom Individuum auf die Verhältnisse, Kontexte, sozialen Interaktionen, in denen es agiert; zweitens erfolgt eine Verschiebung des Blicks vom Geschlecht als ‚Produkt‘ sozialisatorischer Prozesse hin auf die sozialen und gesellschaftlichen Konstruktionsprozesse, in denen ‚Männlichkeit‘/‚Weiblichkeit‘ hergestellt wird.“ Hierbei werde aber kaum noch die Frage gestellt, „wie in diesen konkreten Gesellschaftsverhältnissen unter Bedingungen eines hegemonialen Diskurses qualitativer, heterosexueller Geschlechterdifferenz aus einem kleinen Wesen eine erwachsene ‚Frau‘ (und) oder ein erwachsener ‚Mann‘ wird und wie sich dies im Laufe des Lebens modifiziert“ (ebd.). Während Bilden (1991: 279) meint, „dem Sozialisationskonzept“ (gibt es nur eins? R.N.) seien grundlegende Annahmen wie die Trennung von Individuum und Gesellschaft „nicht wirklich auszutreiben“, sehen andere diese Trennung in der Sozialisationsforschung im Allgemeinen
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zwar als gegeben, aber als überwindbar an. In dem Bemühen, individuell-interaktive und gesellschaftliche Dimensionen von Subjektentwicklung zu verbinden, werden verschiedene Ansätze vorgeschlagen, die es zu berücksichtigen und weiterzuentwickeln gelte: Grundmann schlägt eine Verbindung strukturgenetischer (Piaget), interaktionstheoretischer (G.H. Mead) und sozialkonstruktivistischer (Berger, Luckmann, Schütz) Ansätze vor, um „soziale und individuelle Konstruktionsprozesse abzubilden, d.h. Sozialisation als „wechselseitige Anregung und Stabilisierung von onto-, sozio- und historiogenetischen Prozessen“ zu erfassen (Grundmann 1999: 28). Andere befürworten das Konzept der biografischen Konstruktion von Geschlecht, weil es „in der analytischen Schnittmenge individuellen Handelns und gesellschaftlicher Bedingungen angesiedelt“ ist (Thiessen 2002: 65) und „aus einigen Widersprüchen in der ‚konstruktivistischen‘ Diskussion und der vermeintlichen Gefahr einer Auflösung aller Strukturen (Gesellschaft und Subjekt) heraushelfen“ könne (Dausien 1999: 236f.; Schmerl 2002: 64). Am Habitus-Konzept von Bourdieu trennen sich die Geister; einige sprechen der darin enthaltenen „Inkorporierung sozialer Verhältnisse“ eine hohe sozialisationstheoretische Relevanz zu (Meuser 2002: 51f.; Bauer 2002: 134ff.), andere deuten es eher sozialdeterministisch (Zinnecker 2002: 154) bzw. vermissen einen auch psychologisch gefassten Subjektbegriff (Maihofer 2002: 20), „der den objektiven Strukturen gegenübergestellt werden könnte“ (Geulen 2002: 193). Des Weiteren werden entwicklungs- und sozialpsychologische Ansätze zur Geschlechterforschung (Eckes 2002) sowie biologische und neurowissenschaftliche Ansätze empfohlen.
Ausblick auf Forschungsfragen Sozialisation im eingangs definierten Sinne kann als anthropologisches Grundphänomen gedacht werden. Daher sollte nicht gleich das gesamte sozialisationstheoretische Potenzial lediglich aufgrund unzureichender (einseitig ausgewählter oder interpretierter) Sozialisationskonzepte ungenutzt bleiben. Als inter- und transdisziplinäres Projekt mit verschiedenen empirischen Fokussierungen sowie methodischen und theoretischen Zugängen ist Sozialisation potenziell in eine unendliche Geschichte eingebunden. Die Sozialisationstheorie oder das Sozialisationsparadigma gibt es nicht, aber richtungweisend wären verschränkende Ansätze, die eine Überwindung des Dualismus zwischen Individuum und Gesellschaft anstreben, nach der Bedeutung des Geschlechts im Zusammenhang mit anderen Subjektpositionen im Sozialisationsprozess fragen und eine den gegenwärtigen Bedingungen entsprechende subjekt- wie auch gesellschafts- bzw. strukturtheoretische Seite ausformulieren. Eine Subjektentwicklung kann „... nur mikrologisch untersucht werden. Die Analyse ihrer Genese hingegen verlangt eine Perspektiverweiterung. In den Blick kommen müssen Umweltkonstellationen, privilegierende und restriktive Einflüsse der sozialen Herkunft, soziale, materielle und symbolische Ungleichheiten, die die Ausprägung spezifischer Habituskonfigurationen wahrscheinlich machen. Dies erfordert umso mehr eine meso- und makrologische Analyse von Sozialisationsprozessen“ (Bauer 2002: 137f.; vgl. auch Hauser 2002: 45). Hinsichtlich des Subjekts wären Kategorien wie Identität, Ich, Selbst, Subjekt, psychische Strukturen, Persönlichkeit, neue Sozialcharaktere etc. theoretisch auszudifferenzieren, weil sie häufig statisch und homogen gedacht werden. Fraglich ist aber, ob es ausreicht, sie nur aus den Anforderungsprofilen abzuleiten, die sich für Individuen aus einem gesellschaftlichen Wandel im Sinne einer Pluralisierung von Lebenswelten, Individualisierung, anstehenden Modernisierungsschüben etc. in westlichen Industriegesellschaften ergeben (Maihofer 2002: 16f., 20f.; kritisch: Bauer 2002: 126, 132f.). Meines Erachtens wäre die gesellschaftsstrukturelle Seite – durchaus auch unter Berücksichtigung älterer Theorieansätze – kritischer zu durchdenken. Wenn Sozialisationstheorien und -forschung nicht nur eine affirmative oder deskriptive (welchen Sozialisationstyp braucht bzw. erzeugt die bestehende Gesellschaft) sondern eine kritische Funktion haben sollen, wird eine verstärkte Einbeziehung von Kategorien wie Macht, Herr-
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schaft, Ungleichheit und Gewalt (Bauer 2002: 138) notwendig. Diese waren auch Bestandteil eines großen Teils der früheren Geschlechterforschung. Geschlechtsspezifische Sozialisationsforschung und eine entsprechende Theorieentwicklung dürfte so lange von gesellschaftlicher Relevanz sein, wie Geschlecht eine zentrale Kategorie darstellt, die „die Verteilung und Gestaltung von Macht“ regelt (Forster 2002: 44), eine Funktion in Legitimationsdiskursen „um die Ungleichverteilung von Ressourcen und Zugangschancen zu Mobilitätskanälen“ einnimmt (Nunner-Winkler 1994: 65) und für bestimmte Interessen instrumentalisiert werden kann (Schmerl 2002: 63; Wetterer 2002: 70). Die machttheoretische Perspektive hätte dabei die Verschränkung von Individuum und Gesellschaft zu berücksichtigen: „In einer beruflichen [schulischen oder sonstigen R.N.] Situation treffen daher nie nur einzelne Individuen aufeinander, sondern Individuen, die bereits innerhalb eines komplexen und vielschichtigen Netzes von Macht- und Kräfteverhältnissen agieren, das sie in eine solche Situation mit einbringen“ (Maihofer 2002: 17; vgl. auch Nestvogel 2002, 51ff.).
Zentrale gesellschaftstheoretische Begriffe und Konzepte können geschlechtsspezifisch, sozio-kulturell oder geografisch nicht auf westliche ‚Dominanzgesellschaften‘ und die Sozialisation von deren Mitgliedern beschränkt bleiben. Begriffe wie westliche, pluralisierte, moderne, hochkomplexe Industriegesellschaften sind auch in der Sozialisationsforschung weit verbreitet, aber inhaltlich wenig präzisiert. Zudem schließen sie implizit sowohl einen Teil der im ‚Westen‘ lebenden, aber nicht zur Dominanzgesellschaft gehörenden Bevölkerung als auch die vielfältigen, historisch unter hegemonialem Einfluss der westlichen Welt gewachsenen Verflechtungen mit der ‚restlichen Welt‘ aus. Letztere ist mit der Kehrseite der Begriffe, die die ‚westliche Welt‘ sich zuschreibt (also nichtkomplex, traditionell, homogen etc.), kaum angemessen, sondern eher euro-/ethnozentrisch charakterisiert. Es sind also globale Bezüge, die diese in größeren Zusammenhängen verorten, einzubeziehen. Strukturtheoretisch richtungweisend wären transnationale Perspektiven (vgl. Conrad/ Randeria 2002: 15), denn Europa kann nicht aus sich heraus, sondern nur aus seinen vielfältigen Interaktionen innerhalb des Weltsystems erklärt werden, die ‚geteilte Geschichten‘ produziert haben und weiterhin produzieren. Solche ‚postkolonialen‘ Perspektiven haben Konsequenzen für Wissen und Wissenschaft, denn diese sind keine „Instrumente neutraler und ‚objektiver‘ Beschreibung“ und daher „von den Mechanismen der Macht nicht zu trennen“ (ebd.: 34): Der „konzeptuelle Nationalismus in den Sozialwissenschaften und der Eurozentrismus der Historiographie“ (ebd.: 11) haben Dichotomien zwischen dem Westen und dem „Rest“ konstruiert, wodurch „die Ausgliederung des ‚Anderen‘ aus der Moderne [...] durch die Organisation des europäischen Wissens auch theoretisch festgeschrieben“ wurde (ebd.: 21). Es geht also auch um eine Dezentrierung und Dekonstruktion eurozentrischer (auch wissenschaftlicher) Paradigmen. Ohne struktur- und wissenschaftstheoretische Dekonstruktionen sind viele sozialisationsrelevante soziale, politische und ökonomische Prozesse in westlichen Industriegesellschaften nicht hinreichend erklärbar – weder der relativ große Wohlstand eines relativ großen Teils der Bevölkerung noch weltweite Migrations- und Fluchtprozesse und die Zunahme ethnisch-kultureller Minderheiten sowie deren Funktionen in multikulturellen Gesellschaften. Auch hier sind – anstelle von additiven oder polarisierten – verschränkende Sichtweisen zu fordern, die z.B. die Sozialisation von Kindern mit Migrations- und Fluchthintergrund innerhalb derselben gesellschaftstheoretischen Zusammenhänge zu analysieren vermögen wie die von Mitgliedern der sog. Dominanzgesellschaft. Studien zur Arbeitsteilung zwischen Frauen, z.B. zwischen Beschäftigten und Arbeitgeberinnen in privaten Haushalten (Thiessen 2002: 65) und die neuere MigrantInnenforschung, die das Zusammenwirken von Geschlecht mit anderen Unterdrückungsverhältnissen benennt (Klingebiel/Randeria 1998, Gutiérrez Rodríguez 1999, Eggers u.a. 2005), machen diese Verschränkungen sichtbar. Sie werden aber auch in kolonialistischen und nationalsozialistischen Spuren biologistischer und rassistischer Sozialisationsauffassungen sichtbar, mit denen herkömmliche Sozialisationsforschung sich kaum befasst. Dabei wären sie gerade im Hinblick auf ihre weite
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Verbreitung in Alltagspraxen zu berücksichtigen. Nicht nur Menschen mit Migrationshintergrund, auch viele Deutsche (Juden, Afro-Deutsche oder Sinti) müssen sich damit bis heute – in Alltagsinteraktionen und strukturell – als einem wesentlichen Bestandteil ihrer Sozialisation auseinander setzen. Darüber hinaus prägt z.B. Rassismus „... nicht nur das Leben von Schwarzen Frauen [...], sondern auch das der Frauen, die davon profitieren [...]. Für letztere bleibe die rassistische Ordnung meist unsichtbar. Zum Thema werde sie erst, wenn ihre hegemoniale Position in Frage gestellt würde: ‚Wie männliche Privilegien werden weiße Privilegien eher als gegeben hingenommen als benannt, und für ihre Nutznießerinnen sind sie eher unsichtbar als sichtbar‘“ (Frankenberg 1996, zitiert nach Gutiérrez Rodríguez 1999: 11; vgl. auch Eggers u.a. 2005). Aus diesen Verflechtungen ergibt sich, dass über die Kategorie Geschlecht hinaus weitere Strukturkategorien stärker zu berücksichtigen wären, die das Zusammenwirken von Geschlecht mit anderen Unterdrückungsverhältnissen (Klasse, Ethnizität, Hautfarbe) benennen (auch solche innerhalb des ‚weiblichen‘ Geschlechts). Im Rahmen einer kritischen Reformulierung geschlechtsspezifischer Sozialisationstheorien wäre dabei nicht nur dem „‘gesellschaftlich hegemonialen Geschlechterdiskurs‘, sondern auch „der eigenen diskursiven Praxis die Machtfrage zu stellen“ (Bührmann 2002: 31). Dabei stellt sich die Frage, wie Sozialisationstheorien das durch Herrschaft Ausgeblendete sichtbar machen, oder, in den Worten des Ethnopsychoanalytikers Mario Erdheim (1984), „die gesellschaftliche Produktion von Unbewusstheit“ bewusst machen können. Hiermit wird insofern etwas qualitativ Neues in die Debatte gebracht, als es sich nicht nur um theoretische Anforderungen an die Entwicklung neuer Identitäts- und anderer Sozialisationskonzepte im Rahmen gesellschaftlicher Veränderungen handelt, sondern um etwas, das vorher schon da war, aber aus männlichen wie weiblichen Dominanzdiskursen ausgeblendet blieb. Ob sozialisationstheoretisch für relevant erachtete Ansätze dies aus ihren eigenen empirisch-theoretischen Be- und Verschränkungen heraus leisten können, ist noch zu klären. Verweise: Androgynie Biografieforschung Differenz, Genealogie, Affidamento Doing Gender Geschlechterstereotype Habitus und sozialer Raum Konstruktion von Geschlecht Migrationsforschung Postkolonialismus Schule Weibliche Moral
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Thomas Eckes
Geschlechterstereotype: Von Rollen, Identitäten und Vorurteilen
Definitionen Geschlechterstereotype sind kognitive Strukturen, die sozial geteiltes Wissen über die charakteristischen Merkmale von Frauen und Männern enthalten (Ashmore/Del Boca 1979, Eckes 1997). Nach dieser Definition gehören Geschlechterstereotype (wie andere Stereotype auch, z.B. nationale Stereotype oder Altersstereotype) einerseits zum individuellen Wissensbesitz, andererseits bilden sie den Kern eines konsensuellen, kulturell geteilten Verständnisses von den je typischen Merkmalen der Geschlechter. Hierin liegt die duale Natur von Geschlechterstereotypen. Eine umfassende Analyse muss daher sowohl die individuellen als auch die konsensuellen Stereotypanteile und ihre jeweiligen Wirkungen berücksichtigen (Schneider 2004). Für Geschlechterstereotype ist (anders als für nationale Stereotype oder Altersstereotype) kennzeichnend, dass sie deskriptive und präskriptive Anteile haben. Die deskriptiven Anteile umfassen traditionelle Annahmen darüber, wie Frauen und Männer sind, welche Eigenschaften sie haben und wie sie sich verhalten. Frauen „sind“ danach verständnisvoll und emotional, Männer „sind“ dominant und zielstrebig. Aus Verletzungen dieser Annahmen folgt typischerweise Überraschung. Die präskriptiven Anteile beziehen sich auf traditionelle Annahmen darüber, wie Frauen und Männer sein sollen oder wie sie sich verhalten sollen. So „sollen“ Frauen einfühlsam sein, Männer „sollen“ dominieren. Werden präskriptive Annahmen verletzt, resultiert in der Regel Ablehnung oder Bestrafung. Wie auch immer die Reaktion lautet, Verletzungen der stereotypen Erwartungen führen nur selten zu einer Änderung der Stereotype (Prentice/Carranza 2003). Mit anderen Worten, Geschlechterstereotype sind in hohem Maße änderungsresistent. Eng verwandt ist das Konzept der Geschlechterrolle. Sein Gebrauch ist allerdings in der Literatur etwas uneinheitlich. Teils werden Geschlechterrollen präskriptiv im Unterschied zu bloß deskriptiv verstandenen Geschlechterstereotypen konzipiert (Alfermann 1996), teils werden sie, insbesondere im Kontext der Analyse von Familien-, Berufs- und Führungsrollen, sowohl in ihren deskriptiven als auch in ihren präskriptiven Funktionen diskutiert (Eagly/Karau 2002, Eagly/Wood/Diekman 2000). In jedem Falle aber liegt die Betonung beim Geschlechterrollenkonzept auf den sozial geteilten Verhaltenserwartungen, die sich auf Individuen aufgrund ihres sozial zugeschriebenen Geschlechts richten. Stereotype als soziokognitive Strukturen sind zu unterscheiden von Prozessen der Stereotypisierung. Unter Stereotypisierung wird die Anwendung stereotypgestützten Wissens auf konkrete Personen verstanden. Anders ausgedrückt, es ist eine Frage, über Stereotypwissen zu verfügen, aber eine andere, dieses Wissen in einem bestimmten Kontext zu nutzen. Da aber geschlechtsstereotypes Wissen schon sehr früh in der Kindheit erworben wird und sich dieser Lernprozess bis ins Erwachsenenalter hinein fortsetzt, vollzieht sich Stereotypisierung aufgrund des Geschlechts einer wahrgenommenen Person zumindest in den ersten Augenblicken implizit oder automatisch, d.h. ohne bewusste Kontrolle (Zemore/Fiske/Kim 2000). Eine willentliche Beeinflussung von Prozessen der Stereotypisierung ist durchaus möglich, doch ist dies an eine Reihe von Voraussetzungen geknüpft (z.B. eine hinreichend hohe Motivation bei der Verarbeitung stereotypinkonsistenter Information über eine Person; Fiske 1998).
Geschlechterstereotype
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Geschlechterstereotype bilden eine zentrale Komponente sozial geteilter impliziter Geschlechtertheorien („gender belief system“; Deaux/LaFrance 1998). Solche Theorien sind umfassende Systeme von Alltagsannahmen über die Geschlechter und ihre wechselseitigen Beziehungen. Neben Geschlechterstereotypen enthalten sie Einstellungen gegenüber den Geschlechtern und ihren jeweiligen Rollen, Bewertungen von Individuen mit rollenabweichendem Verhalten sowie geschlechtsbezogene Wahrnehmungen und Einschätzungen der eigenen Person. Damit lassen sich impliziten Geschlechtertheorien auch die Konzepte des Sexismus und der Geschlechtsidentität subsumieren. Unter Sexismus (oder Geschlechtervorurteil) fallen geschlechtsbezogene Stereotype, Affekte und Verhaltensweisen, die einen ungleichen sozialen Status von Frauen und Männern zur Folge haben (Swim/Campbell 2001). Geschlechtsidentität ist im weiten Sinne ein System von Aspekten des Selbst, die mit der Geschlechtskategorie in Verbindung stehen, also z.B. die Selbstwahrnehmung von geschlechtstypischen Eigenschaften, Präferenzen oder Zugehörigkeiten zu sozialen Gruppen (Deaux/Stewart 2001, Spence 1993).
Inhalte von Geschlechterstereotypen Die Forschung zu den Inhalten von Geschlechterstereotypen zeichnet seit Jahren ein klares Bild: Merkmale, die häufiger mit Frauen als mit Männern in Verbindung gebracht werden, lassen sich in den Konzepten der Wärme oder Expressivität (auch: Femininität, Gemeinschaftsorientierung, „communion“) bündeln; Merkmale, die häufiger mit Männern als mit Frauen in Verbindung gebracht werden, lassen sich mit den Konzepten der (aufgabenbezogenen) Kompetenz oder Instrumentalität (auch: Maskulinität, Selbstbehauptung, „agency“) umschreiben (Deaux/LaFrance 1998, Eckes 1997). Weiterhin hat sich gezeigt, dass diese beiden Merkmalsbündel in hohem Maße kulturell invariant sind (Williams/Best 1990). Auch die Stabilität über die Zeit ist bemerkenswert hoch (Bergen/Williams 1991, Spence/Buckner 2000). Allerdings hat sich in den letzten ca. 25 Jahren die von Frauen über sich selbst berichtete Instrumentalität kontinuierlich erhöht bei unverändert geringer selbstberichteter Expressivität von Männern (Twenge 1997). Die Erfassung von Geschlechterstereotypen erfolgt traditionell durch verschiedene Formen von Eigenschaftslisten und verwandte Fragebogen. Hierzu zählen die „Adjective Check List“ (ACL; Williams/Bennett 1975), der „Sex-Role Stereotype Questionnaire“ (Rosenkrantz u.a. 1968), der „Personal Attributes Questionnaire“ (PAQ; Spence/Helmreich/Stapp 1974; deutsche Version: Runge u.a. 1981) oder das „Bem Sex Role Inventory“ (BSRI; Bem 1974; deutsche Version: Schneider-Düker/Kohler 1988). Die letzten beiden Instrumente können auch zur Erfassung des geschlechtsbezogenen Selbstkonzepts (mit den Facetten Maskulinität, Femininität, Androgynie) eingesetzt werden. Ein neueres Verfahren der Stereotyperfassung ist die Prozentschätzmethode. Die befragten Personen geben dabei auf einer Skala von 0 bis 100 an, wie viel Prozent der Frauen (oder der Männer) ein vorgegebenes Merkmal besitzen. Diese Methode erzeugt in der Regel weniger Widerstände auf Seiten der Befragten, ist nicht auf Persönlichkeitseigenschaften beschränkt und erlaubt die Berechnung verschiedener Maße der Relation zwischen Merkmal und Stereotyp (Eckes 1997). Wie lässt sich aber erklären, dass Frauen in so konsistenter Weise Wärme/ExpressivitätsMerkmale und Männer in ebenso konsistenter Weise Kompetenz/Instrumentalitäts-Merkmale zugeschrieben werden? Gegenwärtig bieten zwei theoretische Positionen Erklärungen an. Nach Alice Eaglys Theorie der sozialen Rollen („social role theory of sex differences and similarities“; Eagly 1987, Eagly u.a. 2000) neigen Menschen zur Annahme, dass Frauen und Männer diejenigen Merkmale aufweisen, die für ihre jeweiligen sozialen Rollen, insbesondere für ihre Familien- und Berufsrollen, typisch sind. Wärme/Expressivität als Kerninhalt des Frauenstereotyps ergibt sich daraus, dass Frauen überwiegend die Hausfrauenrolle bzw. Berufsrollen
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mit eher niedrigem Status (z.B. Grundschullehrerin, Krankenschwester) ausüben; Kompetenz/ Instrumentalität folgt entsprechend daraus, dass Männer überwiegend die Ernährerrolle bzw. Berufsrollen mit eher hohem Status (z.B. Manager, Rechtsanwalt) ausüben. Mit anderen Worten, Menschen schließen vom beobachteten Rollenverhalten unmittelbar auf Eigenschaften der Rolleninhaber und vernachlässigen dabei den Einfluss der in der jeweiligen Situation verhaltenswirksamen Rollenanforderungen (auch Conway/Pizzamiglio/Mount 1996). Diese Schlussfolgerungen können zudem (vermittelt über interaktionale Prozesse) Unterschiede im Verhalten zwischen Frauen und Männern nach sich ziehen, die Geschlechterstereotypen ein gewisses Maß an „Genauigkeit“ verleihen (Eagly/Diekman 1997). Eine andere Erklärung liefert Susan Fiskes Stereotypinhaltsmodell („stereotype content model“; Fiske 1998, Fiske u.a. 2002). Die Inhalte von Stereotypen werden danach bestimmt vom relativen Status der Gruppen (hoch vs. niedrig) und von der Art der Interdependenz zwischen den Gruppen (kooperativ vs. kompetitiv). Unter kooperativer Interdependenz sind die Handlungsergebnisse der einen Gruppe mit denen der anderen positiv korreliert (beide Gruppen gewinnen bei der Interaktion), unter kompetitiver Interdependenz ist diese Korrelation negativ (die eine Gruppe gewinnt, die andere verliert). Die soziostrukturelle Hypothese des Modells besagt nun, dass der relative Status die Einordnung einer Gruppe auf der Kompetenzdimension bestimmt, und zwar in dem Sinne, dass Gruppen mit hohem Status als kompetent eingeschätzt werden, solche mit niedrigem Status als inkompetent; die Art der Interdependenz bestimmt dagegen die Einordnung einer Gruppe auf der Wärmedimension, und zwar in der Weise, dass kooperative Gruppen als warm bzw. als unbedrohlich für die eigenen Gruppenziele und kompetitive Gruppen als kalt bzw. als bedrohlich eingeschätzt werden. Aus Sicht des Stereotypinhaltsmodells ergibt sich das traditionelle Frauenstereotyp aus einem relativ niedrigen sozialen Status von Frauen in der Gesellschaft kombiniert mit einer kooperativen Interdependenz mit Männern (in häuslich-familiären und partnerschaftlichen Kontexten); umgekehrt ergibt sich das traditionelle Männerstereotyp aus einem relativ hohen gesellschaftlichen Status in Kombination mit einer kompetitiven Orientierung gegenüber Frauen (im beruflichen Kontext). Es ist die Interdependenz zwischen Frauen und Männern, die Geschlechterstereotypen nicht nur deskriptive, sondern auch präskriptive Anteile zuweist. Letztlich dienen diese Verhaltensvorschriften der Aufrechterhaltung bzw. Stabilisierung der Geschlechterhierarchie in der Gesellschaft. Allgemein gesprochen kommen Stereotypen präskriptive Funktionen dann zu, wenn in einem stabilen sozialen System Gruppen mit höherem Status von Gruppen mit niedrigerem Status abhängig sind (Jackman 1994, Jost/Banaji 1994). Die rollentheoretische Perspektive und die Intergruppenperspektive sind keineswegs als wechselseitig ausschließend zu verstehen. Vielmehr haben beide Ansätze eine Reihe von konzeptionellen Berührungspunkten, die es möglich und lohnend erscheinen lassen, eine allgemeinere, integrative Theorie zur Erklärung der Inhalte von Geschlechterstereotypen zu formulieren (Johannesen-Schmidt/Eagly 2002).
Entwicklung von Geschlechterstereotypen Das Zusammenwirken von biologischen, sozialen und psychischen Prozessen der Geschlechterdifferenzierung wird als Geschlechtstypisierung bezeichnet. Für ein tieferes Verständnis dieses Differenzierungsgeschehens ist es wesentlich anzuerkennen, dass Geschlechtstypisierung über die gesamte Lebensspanne eines Individuums Entwicklungsprozessen und zugleich Prozessen des sozialen Einflusses unterliegt. Entwicklung und sozialer Einfluss bilden eine untrennbare Einheit (Eckes/Trautner 2000, Lippa 2002). Dies ist bei kaum einer anderen sozialen Kategorie so klar wie beim Geschlecht. Eltern, Geschwister, Gleichaltrige, Medien, um nur einige soziokulturelle Einflussquellen zu nennen, bestimmen mit, was es bedeutet, Junge oder Mädchen, Mann oder Frau zu sein (Bussey/Bandura 1999, Ruble/Martin/Berenbaum 2006).
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Erste kategoriale Unterscheidungen in der Wahrnehmung von geschlechtstypischen Merkmalen finden sich schon bei Kleinkindern in einem Alter bis zu sechs Monaten. In diesem Alter sind Kinder in der Lage, zwischen männlichen und weiblichen Stimmen zu unterscheiden. Bis zu einem Alter von ca. neun Monaten sind Kleinkinder fähig, kategoriale Unterscheidungen zwischen männlichen und weiblichen Gesichtern zu treffen. Nach Fagot, Rodgers und Leinbach (2000) nehmen Kinder im Alter von ca. 12 Monaten andere Personen in eindeutig geschlechtsdifferenzierender Weise wahr. Da Stereotypisierung die Verfügbarkeit von entsprechenden kognitiven Kategorien (männlich, weiblich) und die Zuordnung von anderen Personen zu der einen oder anderen Kategorie notwendig voraussetzt, ist schon bei Einjährigen die Grundlage für die Ausbildung von Stereotypen und für Prozesse der Stereotypisierung gegeben. Im Zeitraum zwischen dem ersten und dem dritten Lebensjahr entwickeln sich in zunehmendem Maße geschlechtstypische Präferenzen für Spielsachen, Aktivitäten und Spielpartner (Bischof-Köhler 2002, Maccoby 2000). Besonders stark ausgeprägt ist die Geschlechtssegregation beim Spielen im Vorschul- und frühen Grundschulalter: Gleichgeschlechtliche Spielpartner werden eindeutig bevorzugt. Genau in diese Entwicklungsphase fällt der rasch voranschreitende Aufbau von bewusstem, kommunizierbarem Wissen über Geschlechterstereotype (Fagot/Rodgers/Leinbach 2000, Martin 2000). Bis zu einem Alter von drei Jahren können die meisten Kinder das eigene Geschlecht und das anderer Kinder oder Erwachsener richtig bestimmen. Bis zum Eintritt in die Grundschule haben sich bereits rigide Formen der Stereotypisierung ausgebildet, die allerdings gegen Ende der Grundschulzeit wieder etwas flexibler werden (Trautner u.a. 1988). Mit der Zunahme gegengeschlechtlicher Interaktionen im Jugendalter treten neben die überwiegend negativ gefärbten Charakterisierungen des anderen Geschlechts nach und nach positive Merkmale. Diese Merkmale beziehen sich hauptsächlich auf traditionelle Geschlechterrollen (vgl. Eagly/Mladinic 1994, Glick/Hilt 2000). Ergebnis ist eine erhöhte Ambivalenz in den Stereotypen (Eckes/Trautner/Behrendt 2005). Deutlichen Ausdruck finden die Veränderungen in den wechselseitigen Wahrnehmungen und Interaktionen im Kontext des „Dating“, d.h. bei der Entwicklung romantischer heterosexueller Beziehungen. Hier haben Jungen nach wie vor eine aktiv-dominante Rolle und Mädchen eine passiv-submissive Rolle, was nicht selten Kommunikationsprobleme zur Folge hat (vgl. Krahé 2000).
Substereotype Geschlechterstereotype würden nicht so früh erworben und nicht in so hohem Maße kulturell geteilt, wenn sie sich nicht als nützlich für die individuelle Orientierung und Handlungsplanung in der sozialen Welt erwiesen. Allgemein gesprochen ist ihre Nützlichkeit abhängig vom Grad, in dem sie folgende Funktionen für das Individuum erfüllen. (a) Ökonomie: Maximierung von Informationsgehalt bei Minimierung des kognitiven Aufwandes, (b) Inferenz: Reduktion der Unsicherheit durch Schlüsse auf nicht direkt beobachtbare Merkmale (hierunter fallen auch Erklärungen, Vorhersagen, Verallgemeinerungen), (c) Kommunikation: sprachliche wie nichtsprachliche Verständigung zwischen Menschen, (d) Identifikation: Selbstkategorisierung mit dem Ziel eines kohärenten Selbstkonzepts, und (e) Evaluation: Bewertung von Eigengruppen (d.h. Gruppen, zu denen sich ein Individuum selber zählt) und ihren Merkmalen in Relation zu Fremdgruppen. Zahlreiche Untersuchungen haben nun gezeigt, dass Globalstereotype, d.h. Stereotype über die allgemeinen Kategorien von Frauen und Männern, zu weit und unscharf gefasst sind, als dass sie die genannten Funktionen in hinreichender bzw. erschöpfender Weise unterstützen könnten. Globalstereotype sind strukturell heterogen, sie setzen sich aus einer Reihe spezifischerer und in sich homogenerer Kategorien zusammen, deren mentale Repräsentationen Substereotype genannt werden.
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Eine der ersten Untersuchungen zum Thema der Substereotype stammt von Clifton, McGrath und Wick (1976). In freien Assoziationen zum Begriff „Frau“ nannten die Befragten nicht nur die erwarteten Eigenschaften, sondern auch mehrere Frauentypen. Darunter fanden sich inhaltlich klar voneinander abgesetzte Typen wie Hausfrau, Bunny oder Karrierefrau. Nachfolgende Studien haben eine ganze Reihe weiterer Frauen- und Männer-Substereotype identifiziert, und zwar mit einem überraschend hohen Grad an Übereinstimmung, auch zwischen Kulturen (Carpenter/Trentham 1998, Coats/Smith 1999, Eckes 1994, 1997). Einige der wiederholt beobachteten Substereotype stehen dabei in klarem Gegensatz zu ihrem jeweiligen Globalstereotyp. Bei den Frauentypen sind dies insbesondere die Karrierefrau (beschrieben als dominant, kühl, selbstbewusst) oder die Emanze (mit den Merkmalen: tritt für Frauenrechte ein, politisch links, liest Frauenliteratur). Bei den Männertypen handelt es sich z.B. um den Alternativen (beschrieben als nachdenklich, offen, zeigt Gefühle) oder den Intellektuellen (mit den Merkmalen: redegewandt, selbstkritisch, kulturell interessiert). Die Existenz oder Konstruktion von Subtypen, die auf der übergeordneten, globalen Ebene stereotypkonträr sind, führt allerdings nicht zu einer Invalidierung des Globalstereotyps, sondern lässt dieses eher unverändert (Richards/Hewstone 2001, Wänke/ Bless/Wortberg 2003). In einer Studie zu den Dimensionen von Substereotypen über Frauen und Männer (Eckes 2002) konnte die soziostrukturelle Hypothese des oben skizzierten Stereotypinhaltsmodells (Fiske u.a. 2002) bestätigt werden. Sowohl bei Frauen- als auch bei Männertypen fanden sich alle vier theoretisch postulierten Kombinationen aus hoher bzw. niedriger Wärme und hoher bzw. niedriger Kompetenz. Die folgende Tabelle gibt eine entsprechende Taxonomie auf der Grundlage von Ergebnissen dieser Studie wieder. In der Terminologie von Fiske u.a. (2002) werden Stereotype, die bestimmte Frauen (oder Männer) als warmherzig, aber inkompetent charakterisieren, paternalistisch („paternalistic“) genannt. Stereotype, die bestimmte andere Frauen (oder Männer) als kalt, aber kompetent charakterisieren, heißen neidvoll („envious“). Adressaten von Stereotypen, die als verachtend („contemptuous“) bezeichnet werden, sind Frauen (oder Männer), die als kalt und inkompetent gelten. Und schließlich sind bewundernde Stereotype („admiration“) auf Frauen (oder Männer) gerichtet, die ein hohes Maß an Wärme mit einem ebenso hohen Maß an Kompetenz verbinden (hierbei handelt es sich zumeist um Angehörige der Eigengruppe). Tabelle: Eine Taxonomie von Geschlechterstereotypen Kompetenz Wärme
Niedrig
Hoch
Hoch
Paternalistische Stereotype niedriger Status, kooperative Interdependenz (z.B. die Hausfrau; der Softie)
Bewundernde Stereotype hoher Status, kooperative Interdependenz (z.B. die Selbstbewusste; der Professor)
Niedrig
Verachtende Stereotype niedriger Status, kompetitive Interdependenz (z.B. die Spießerin; der Prolet)
Neidvolle Stereotype hoher Status, kompetitive Interdependenz (z.B. die Karrierefrau; der Yuppie)
Paternalistische und neidvolle Stereotype über bestimmte Frauentypen sind im Hinblick auf das Geschlechterverhältnis besonders aufschlussreich. Paternalistische Frauenstereotype sind Ausdruck dessen, wie Frauen aus männlicher Sicht sein sollten. Da diese Stereotype mit der Zuschreibung von Wärme-Merkmalen zu bestimmten Frauentypen Anteile besitzen, die von vielen Frauen und Männern positiv bewertet werden, fördern die damit kommunizierten Verhaltenserwartungen die Übernahme traditioneller Rollen durch Frauen; zugleich können sich Männer selbst als relativ frei von sexistischen Tendenzen wahrnehmen, da sie ja Frauen in ein „positives
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Licht“ stellen. Neidvolle Frauenstereotype haben zwar entgegengesetzte Inhalte, tragen aber ihrerseits zur Aufrechterhaltung der Geschlechterhierarchie bei: Sie liefern (wieder aus männlicher Sicht) eine Rechtfertigung für fortgesetzte Diskriminierung von Frauen. So werden Frauen, die in traditionell von Männern dominierten Berufen Erfolg haben, als bedrohliche oder unfaire Konkurrentinnen wahrgenommen, die in ihre Schranken zu verweisen seien. Negative Merkmalszuschreibungen, wie die Zuschreibung sozioemotionaler Kälte, verstärken derartige Einschätzungen noch.
Sexismus Unter Sexismus lassen sich, wie schon eingangs definiert, kategoriegestützte Kognitionen (Stereotype), Affekte (Vorurteile) und Verhaltensweisen (Diskriminierung) fassen, die auf einen ungleichen sozialen Status von Frauen und Männern hinwirken. Diese Definition schließt Männer als mögliche Adressaten von Sexismus ein. Mit nur wenigen Ausnahmen konzentriert sich allerdings das Forschungsinteresse auf Sexismus gegenüber Frauen, hauptsächlich wegen ihrer untergeordneten Position in der Geschlechterhierarchie (Sidanius/Pratto 1999, Swim/Campbell 2001). Das Sexismuskonzept hat etwa seit Mitte der 1990er Jahre eine deutliche Differenzierung erfahren. Den Ausgangspunkt markiert das Konzept des traditionellen Sexismus (auch offener Sexismus genannt; Benokraitis/Feagin 1995). Dieses Konzept zeichnet sich im Wesentlichen durch drei Aspekte aus: (a) stereotypkonforme Betonung von Geschlechtsunterschieden, (b) Glaube an eine Minderwertigkeit von Frauen (relativ zu Männern) und (c) Befürwortung herkömmlicher Geschlechterrollen. Einer der ersten Fragebogen zur Erfassung des traditionellen Sexismus war die „Attitudes Toward Women Scale“ (AWS; Spence/Helmreich 1972). Die AWS wurde in der Forschung mit Abstand am häufigsten eingesetzt. In neueren Untersuchungen hat sich allerdings herausgestellt, dass die Skalenwerte am egalitären, nichtsexistischen Pol der AWS stark gehäuft auftraten, sodass Zweifel an der Brauchbarkeit der Skala zur Messung der mit der Zeit veränderten Einstellungen gegenüber der Rolle von Frauen in der Gesellschaft aufkamen (Spence/Hahn 1997). Als Reaktion auf diese Ergebnisse (und im Anschluss an ähnliche Befunde der Rassismusforschung) wurde mit dem modernen Sexismus (Swim u.a. 1995) oder Neosexismus (Tougas u.a. 1995) ein alternatives Konzept entwickelt. Die zentrale Dimension des modernen Sexismus ist die Leugnung fortgesetzter Diskriminierung von Frauen. Beispiele für Aussagen, die diese Dimension erfassen, sind „Diskriminierung von Frauen ist in Deutschland immer noch ein Problem“ (umgekehrt gepolt), „Heutzutage werden Frauen im Berufsleben fair behandelt“ und „In den westlichen Ländern ist Gleichberechtigung von Frauen schon lange verwirklicht“. Diese Aussagen sind der „Skala zur Erfassung des modernen Sexismus“ (Eckes/Six-Materna 1998) entnommen. Traditionelle und moderne Formen sexistischer Einstellungen teilen eine negative Richtung bei der Bewertung von Frauen und frauenrelevanten Themen. Wie aber schon im Zusammenhang mit der Veränderung von Geschlechterstereotypen im frühen Jugendalter und den Inhalten von Global- und Substereotypen ausgeführt, sind stereotype Merkmalszuschreibungen keineswegs durchgängig negativ getönt. Aus der Interdependenz von Frauen und Männern erwachsen den Frauenstereotypen Merkmalsinhalte, die aus sexistischer Sicht eindeutig positiver Natur sind. Als Ergebnis erhält man das Diskriminierungs-Zuneigungs-Paradox (Eckes 2002): Einerseits sehen sich Frauen fortgesetzter Diskriminierung ausgesetzt (Benokraitis/Feagin 1995, Eagly/Karau 2002, Swim/Campbell 2001), andererseits erfahren sie vielfach positive Gesamtbewertungen, häufig sogar positivere Gesamtbewertungen als Männer („women-are-wonderful“Effekt; Eagly/Mladinic 1994). Aus der Perspektive der Theorie des ambivalenten Sexismus (Glick/Fiske 1996, 2001a, 2001b) verschwindet dieses Paradox, wenn man sich klarmacht, dass die spezifische Art der Zu-
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neigung und Idealisierung, die in der positiven Bewertung von Frauen zum Ausdruck kommt, lediglich die andere Seite ein und derselben „sexistischen Münze“ ist. Mit anderen Worten, Sexismus hat eine duale Bewertungsstruktur, die sich aus ablehnenden, feindseligen (hostilen) Einstellungen und subjektiv positiven, wohlmeinenden (benevolenten) Einstellungen zusammensetzt. Strukturelle Macht von Männern schürt hostilen Sexismus, Abhängigkeit der Männer von Frauen in engen interpersonellen Beziehungen begünstigt benevolenten Sexismus. Der sexistische Charakter der Benevolenz (früher auch: Ritterlichkeit, Kavalierstum; vgl. Schmerl/Steinbach 1973) lässt sich mit den folgenden Aspekten umreißen: (a) Belohnung von Frauen bei Erfüllung ihrer traditionellen Rollen (bei Verletzung der Rollenerwartungen resultiert Bestrafung, d.h. Hostilität), (b) Begrenzung auf soziale Situationen mit klar definierten geschlechtstypischen Rollen (z.B. Dominanz des Mannes und Submissivität der Frau im hierarchisch strukturierten beruflichen Umfeld), (c) Teil einer betont frauenfreundlichen Selbstdarstellung von Männern, allerdings nur bezogen auf „gute“ Frauentypen wie die Hausfrau oder die typische Frau, im Unterschied etwa zur Karrierefrau. Gerade von ambivalent-sexistischen Personen (d.h. von Personen, die sich durch hohe Hostilität und gleichzeitig hohe Benevolenz auszeichnen) werden Karrierefrauen besonders stark abgelehnt (Eckes 2001). Die Erfassung des hostilen Sexismus (HS) und des benevolenten Sexismus (BS) kann mittels des „Ambivalent Sexism Inventory“ (ASI; Glick/Fiske 1996, 2001a) erfolgen. Beispiele für Aussagen, die Hostilität anzeigen, sind „Die meisten Frauen sehen gar nicht, was Männer alles für sie tun“ oder „Frauen sind zu schnell beleidigt“; für Benevolenz sprechen die Aussagen „Frauen sollten von Männern umsorgt und beschützt werden“ oder „Verglichen mit Männern haben Frauen ein besseres moralisches Empfinden“. Diese Aussagen entstammen der deutschen Fassung des ASI („Skala zur Erfassung des ambivalenten Sexismus“; Eckes/Six-Materna 1999). Die Ergebnisse einer umfangreichen kulturvergleichenden Untersuchung mit dem ASI an mehr als 15.000 Befragten in 19 Ländern aus allen Teilen der Welt lauteten wie folgt: (a) HS und BS lassen sich als sexistische Teilstrukturen mit gegenläufiger Valenz zuverlässig identifizieren, (b) HS und BS sind positiv miteinander korreliert, (c) HS sagt die Zuschreibung negativer Merkmale und BS die Zuschreibung positiver Merkmale zu Frauen vorher, (d) verglichen mit Männern lehnen Frauen HS eher als BS ab (vor allem, wenn das Sexismusniveau innerhalb eines Landes hoch ist) und (d) HS und BS sagen im nationalen Durchschnitt das Ausmaß der Chancenungleichheit von Frauen und Männern vorher (vgl. Glick u.a. 2000). In einer verwandten Studie mit 8.360 Befragten in 16 Ländern wurden ambivalente Einstellungen gegenüber Männern (Glick u.a. 2004) untersucht. Als Messinstrument diente das „Ambivalence toward Men Inventory“ (AMI; Glick/Fiske 1999; deutsche Version: „Skala zur Erfassung ambivalenter Einstellungen gegenüber Männern“; Eckes 2001). Die beiden Hauptdimensionen dieser Einstellungen lauten „Hostilität gegenüber Männern“ (HM) und „Benevolenz gegenüber Männern“ (BM). Aussagen, die auf HM verweisen, sind z.B. „Männer werden stets dafür kämpfen, mehr Macht in der Gesellschaft zu haben als Frauen“ oder „Wenn Männer krank sind, stellen sie sich an wie kleine Kinder“. BM indizieren Aussagen wie „Auch wenn beide Ehepartner berufstätig sind, sollte die Frau darauf achten, zuhause für ihren Mann zu sorgen“ oder „Männer behalten bei Notfällen eher den Überblick als Frauen“. Die Studie von Glick u.a. (2004) erbrachte den Nachweis, dass HM und BM miteinander sowie mit HS und BS positiv korreliert sind und einen je eigenständigen Beitrag zur Vorhersage negativer bzw. positiver Stereotype über Männer leisten. HM, BM, HS und BS bilden danach eng miteinander verflochtene Komponenten eines „sexistischen Quartetts“, das die soziale Ungleichheit zwischen den Geschlechtern stützt.
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Geschlechterstereotype in der sozialen Interaktion Geschlechterstereotype beeinflussen aber nicht nur die Wahrnehmung, Beurteilung und Bewertung anderer Menschen, sondern nehmen auch Einfluss auf Form und Verlauf zwischenmenschlicher Interaktionen (Zemore u.a. 2000). Das Interaktionsmodell geschlechtsbezogenen Verhaltens (Deaux/Major 1987; vgl. auch Deaux/LaFrance 1998) verbindet die folgenden Komponenten sozialer Interaktionen miteinander: (a) die Annahmen und Erwartungen der wahrnehmenden Person, (b) das Selbstkonzept und die Interaktionsziele der Person, auf die sich die Erwartungen richten, und (c) die Situation, in der die Interaktion stattfindet. Die Grundidee dabei lautet, dass Variabilität und Kontextabhängigkeit geschlechtsbezogenen Verhaltens eher die Regel als die Ausnahme sind. Das Auftreten oder Nichtauftreten geschlechtstypischen Verhaltens wird etwa von Tendenzen zur Selbstdarstellung mitbestimmt. Unter Selbstdarstellung wird die zielgerichtete Kontrolle von Information über die eigene Person verstanden. Menschen sind stets (bewusst oder unbewusst) bemüht, bei anderen einen ganz bestimmten, in der Regel positiven Eindruck von sich zu vermitteln. In einer klassischen Studie von Zanna und Pack (1975) gaben Frauen, die erwarteten, mit einem attraktiven Mann zusammenzutreffen, von sich dann ein rollenkonformes Bild, wenn auch der Mann traditionelle Rollenvorstellungen hatte; die Selbstbeschreibungen fielen dagegen eher rollenkonträr aus, wenn der Mann gegenüber Frauen nichttraditionell eingestellt war. Ein anderer Prozess, der unter bestimmten Bedingungen geschlechtstypisches Verhalten erzeugt und so Geschlechterstereotype stützt, betrifft das Auftreten von behavioralen Erwartungseffekten (auch: sich selbst erfüllende Prophezeiungen, „behavioral confirmation“). Von einem behavioralen Erwartungseffekt wird gesprochen, wenn die (nicht explizit genannten) Erwartungen einer Person eine andere Person bewegen, sich in einer Weise zu verhalten, die den anfänglichen Erwartungen der ersten Person entspricht. Erwartet z.B. ein (traditionell eingestellter) Mann, dass sich eine Mitarbeiterin lieber mit „femininen“ als mit „maskulinen“ Aufgaben beschäftigt, dann neigt sie tatsächlich eher dazu, bei einem gemeinsamen Projekt die „femininen“ Aufgaben zu wählen (Skrypnek/Snyder 1982). Wenn sich Menschen (aufgrund des Verhaltens anderer oder auch nur aufgrund situationaler Hinweisreize) bewusst werden, dass sie durch ihr Verhalten negative Stereotype bestätigen könnten, kann ein temporärer Zustand der Aktivation entstehen, der wiederum stereotypkonforme Verhaltenswirkungen erzielt. Diese komplexere Variante behavioraler Bestätigung ist z.B. im Bereich der Mathematikleistung von Schülerinnen nachgewiesen worden: Die Leistung von Schülerinnen, aber nicht die von Schülern, fiel niedriger aus, wenn Bearbeitungshinweise zu einem anspruchsvollen Mathematiktest Geschlechtsunterschiede in diesem Leistungsbereich stereotypkonform betonten (O’Brien/Crandall 2003, Spencer/Steele/Quinn 1999).
Forschungsperspektiven Eine der größten Herausforderungen für die Forschung zu Geschlechterstereotypen besteht darin, die komplexen wechselseitigen Beziehungen zwischen den strukturellen Machtverhältnissen von Frauen und Männern in der Gesellschaft einerseits und den deskriptiven und präskriptiven Stereotypkomponenten andererseits aufzuschlüsseln. Hierbei ist der kulturvergleichende Forschungsansatz von herausragender Bedeutung (Gibbons 2000, Glick u.a. 2000, Glick u.a. 2004). Nicht minder wichtig erscheint eine integrative Forschungsorientierung, die die Stabilität und Veränderung von Geschlechterstereotypen über die Zeit auf der Ebene individueller Kognitionen genauso sorgfältig in den Blick nimmt wie auf der interpersonellen Ebene, auf der Rollen- oder Gruppenebene und auf der gesellschaftlichen, soziokulturellen Ebene (Eckes/Trautner 2000). In theoretischer Hinsicht stellen sowohl die Theorie der sozialen Rollen (Eagly 1987, Eagly u.a.
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2000) als auch das Stereotypinhaltsmodell (Fiske u.a. 2002) vielversprechende Konzeptionen bereit. Angesichts des seit den frühen 1970er Jahren kontinuierlich gestiegenen Anteils erwerbstätiger Frauen mag die weitgehende Invarianz der deskriptiven Inhalte der etwa im gleichen Zeitraum dokumentierten Geschlechterstereotype überraschen. Nimmt man den hohen Grad an nachgewiesener kultureller Invarianz der Stereotypinhalte hinzu, so drängt sich die Vermutung auf, dass dies eine Auswirkung der nach wie vor stark geschlechtssegregierten Arbeitswelt ist (Cejka/Eagly 1999, Kite 2001). Aber auch im Bereich der Familienrollen ist bislang keine substanzielle Änderung der Rollenverteilung in Sicht: Frauen haben im internationalen Vergleich immer noch die primäre Verantwortung für Haushalt und Kindererziehung. Dieses Ungleichgewicht bleibt selbst dann bestehen, wenn beide Partner gleichermaßen berufstätig sind (Bianchi u.a. 2000, Wagner/Brandstätter 1994). Mit der Rollenkongruenztheorie („role congruity theory“) haben Eagly und Karau (2002) eine Weiterentwicklung der Theorie der sozialen Rollen vorgelegt, die darauf abzielt, eine umfassende Analyse der Unterrepräsentation von Frauen in Führungspositionen zu liefern. Danach führt die Wahrnehmung einer mangelnden Passung zwischen der weiblichen Geschlechterrolle und Führungsrollen zu verschiedenen Formen von Vorurteilen, die gemeinsam dazu beitragen, dass Frauen nur geringe Chancen haben, in Führungspositionen aufzusteigen. In dem Maße allerdings, in dem Führungsrollen selber einer Veränderung in Richtung auf feminine Rollenkomponenten unterliegen (Eagly 2003, Schein 2001), ist hier mit verbesserten Aufstiegsmöglichkeiten für Frauen zu rechnen. Eine wichtige Forschungsimplikation des Stereotypinhaltsmodells betrifft die Entwicklung und Evaluation von Maßnahmen zur Veränderung oder Reduktion von Geschlechterstereotypen und sexistischen Tendenzen (Fiske 2000). Die scheinbar positiven Aspekte paternalistischer und neidvoller Geschlechterstereotype leisten auf kaum merkliche, subtile Weise einen Beitrag zur Aufrechterhaltung und Stabilisierung der Status- und Machtdifferenzen, die das Geschlechterverhältnis in der Gesellschaft prägen. Maßnahmen zur Stereotypreduktion müssen demnach berücksichtigen, dass nicht nur negative Merkmalszuschreibungen, sondern auch verschiedene Facetten der Wertschätzung und Bewunderung von Frauen sexistischer Natur sein können und so mithelfen, das bestehende System der Chancenungleichheit zu rechtfertigen (Eckes 2002, Fiske u.a. 2002, Glick u.a. 2000, Glick u.a. 2004, Jackman 1994). Darüber hinaus dürften die verschiedenen Formen von Geschlechterstereotypen (paternalistische, neidvolle, verachtende Stereotype) zu ihrer Reduktion je spezifische Interventionsmaßnahmen erforderlich machen. Verweise: Jungen Mädchen Psychologie Sozialisationstheorien
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Gudrun-Axeli Knapp
Kritische Theorie: Ein selbstreflexives Denken in Vermittlungen
Unter der Bezeichnung „Kritische Theorie“ wird eine Richtung gesellschafts-, kultur- und erkenntniskritischen Denkens verstanden, die sich um das 1923 in Frankfurt gegründete Institut für Sozialforschung herausgebildet hat und die bis heute durch Brüche und Neuaneignungen hindurch in unterschiedlichen Traditionslinien fortgeführt wird. Als ihre herausragenden Theoretiker gelten Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, aber auch Herbert Marcuse und Walter Benjamin haben die Entwicklung dieser Strömung beeinflusst. Weitere wichtige Mitglieder des Instituts für Sozialforschung waren Leo Löwenthal, Friedrich Pollock und Erich Fromm (vgl. Demirovic 1999, Jay 1976, Wiggershaus 1986). Zwar lässt sich der Anspruch auf eine kritische Analyse der modernen Kultur und Gesellschaft nicht auf die „Frankfurter Schule“ beschränken. Dennoch gibt es ein Charakteristikum, das sie von anderen Richtungen unterscheidet: die Auffassung, dass Kritik nicht von außen an die Gesellschaft heranzutragen, sondern als immanente Kritik in deren Widersprüchen und Konflikten selbst zu begründen sei. Diese Form der Rückbindung der eigenen Kritikperspektive an den gesellschaftlich-historischen Kontext verweist auf Wurzeln in der hegel-marxistischen Tradition. Die Aufgabe einer Kritischen Theorie der Gesellschaft in diesem Verständnis ist eine doppelte: die großen Veränderungen in den historischen Konstellationen von Individuum, Natur und Gesellschaft zu erhellen und Kritik selbstreflexiv als geschichtliche Möglichkeit auszuweisen (vgl. Postone 1999). In der gesellschaftstheoretischen Bestimmung dieses Zusammenhangs rekurrieren Adorno und Horkheimer auf Karl Marx, gehen aber über die Konzentration auf die ökonomische Sphäre hinaus. Sie konzipieren die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft als herrschaftsförmige Konfiguration, als von Widersprüchen durchzogenen interdependenten Zusammenhang unterschiedlicher Bereiche (Wirtschaft, Staat, Familie, Kultur), als Konstellation von Kräften und Gegenkräften. Um die spannungsreiche Vermittlung von Individuum und Gesellschaft, von innerer und äußerer Vergesellschaftung, in den Blick nehmen zu können, knüpfen sie subjekttheoretisch und sozialpsychologisch an die Freud’sche Psychoanalyse an. Ausgehend von deren konflikttheoretisch-dynamischem Verständnis von Individuation als Effekt kultureller Disziplinierung gehen sie der Frage nach, auf welche Weise und wie weitgehend gesellschaftliche Herrschaft die psychische Verfasstheit der Subjekte bestimmt und welche Formen Subjektivität historisch annimmt. In der Historiografie der „Frankfurter Schule“ und des Instituts für Sozialforschung hat es sich eingebürgert, ihre Entwicklung in einem Phasenmodell darzustellen, dem paradigmatische Texte zugeordnet sind. Eine in vielen Varianten kursierende Unterteilung ist die zwischen einer revolutionären Vorgeschichte in den 1920er Jahren, einer noch „optimistisch“ genannten Frühphase des Instituts für Sozialforschung und seines von Max Horkheimer formulierten Forschungsprogramms eines Interdisziplinären Materialismus in den 1930er Jahren (Horkheimer 1988a); der mit seinem programmatischen Aufsatz Traditionelle und kritische Theorie 1937 (Horkheimer 1988b) eingeleiteten Präzisierung der Konturen einer kritischen Theorie (damals mit kleinem k) und schließlich der „pessiministisch“ oder „negativistisch“ genannten Wende in den 1940er Jahren, als deren emble-
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matisches Werk die von Adorno und Horkheimer gemeinsam im amerikanischen Exil verfasste „Dialektik der Aufklärung“ (1998) gilt, die ihre konsequente philosophische Fortsetzung in Adornos „Negativer Dialektik“ (1998) erfahren habe. Sei das Programm des Instituts zunächst noch der Idee einer interdisziplinären, empirisch fundierten emanzipatorischen Gesellschaftstheorie und einem Selbstverständnis von Theoriebildung als Element des Klassenkampfes verpflichtet gewesen, so sei der Zusammenhang zwischen Theorie und außertheoretischer Praxis aufgrund der gesellschaftlich-politischen Entwicklung, die im verwalteten Massenmord an den europäischen Juden kulminierte, zunehmend fragwürdig geworden. Der ursprüngliche Anspruch auf die Formulierung einer durch interdisziplinäre Forschung empirisch gesättigten Theorie des historisch-gesellschaftlichen Verlaufs sei aufgegeben, der Sinn von Wissenschaft selber fraglich geworden. Mit der totalisierten Vernunftkritik in der „Dialektik der Aufklärung“, die Vernunft nur noch als instrumentelle in den Blick nehme, habe sich kritische Theorie schließlich ihrer eigenen begrifflichen Grundlagen beraubt und sei selbstwidersprüchlich geworden (vgl. Benhabib 1992, Brunkhorst 1983, Dubiel 1978, Habermas 1985). Gegen diese Lesart ist zu Recht eingewandt worden, dass das Phasenmodell zu Überzeichnungen führt und dass die damit verbundenen Urteile, obzwar nicht haltlos, so doch voreilig seien (vgl. Demirovic 1999, Schmid Noerr 1997). Zwar waren unbestreitbar mit der politischen Entwicklung für die Mitglieder des Frankfurter Instituts Zäsuren verbunden, die sich in ihren Schriften spiegeln. Alex Demirovic erinnert jedoch in seiner materialreichen Rekonstruktion der Geschichte der „Frankfurter Schule“ daran, dass die „Dialektik der Aufklärung“ aufs Engste mit theoretischen Überlegungen zur Kritik der politischen Ökonomie und zur Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft ebenso wie mit der empirischen Arbeit an den „Studien über Autorität und Vorurteil“ (Adorno u.a. 1968) verknüpft gewesen sei. Von einer „kulturkritisch-philosophischen Distanz“ gegenüber einzelwissenschaftlicher Forschung könne nicht die Rede sein (Demirovic 1999: 46ff.). Momente der Kontinuität, die es bei allem Wandel im Denken der Kritischen Theoretiker gegeben habe, würden in der Logik des Phasen- und Wendemodells unterschätzt. So heißt es in einem Papier von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno unter der Überschrift „Rettung der Aufklärung. Diskussionen über eine geplante Schrift zur Dialektik“ von 1946: „Wir sehen dieses Einheitsmoment (in der Analyse von Politik und Philosophie) im Festhalten der radikalen Impulse des Marxismus und eigentlich der gesamten Aufklärung – denn Rettung der Aufklärung ist unser Anliegen –, ohne daß dabei noch die Identifizierung mit einer empirisch existierenden Partei oder Gruppe vollzogen wäre. Die Paradoxie, das dialektische Geheimnis einer wahren Politik besteht in der Wahl eines kritischen Standpunkts, der sich selber als positiver Standpunkt nicht hypostasiert“ (Horkheimer 1985: 597, zit. n. Demirovic 1999). Die Ausnahmestellung, die der von jüdischen Theoretikern geprägten Kritischen Theorie und ihren aus dem Exil zurückgekehrten Mitgliedern in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit zukam, die Anziehungskraft, die sie für junge Deutsche besaß, die die Monstrosität des Nationalsozialismus als Teil der eigenen Geschichte begreifen wollten, können nicht genug betont werden. Nicht nur durch ihre großen Schriften, auch durch vielfältige Formen praktischer Einmischung und öffentlicher Problematisierung haben Adorno und Horkheimer nach der Rückkehr nach Frankfurt aktiv den wissenschaftlichen, pädagogischen und politischen Diskurs der 1950er und 1960er Jahre geprägt (vgl. Demirovic 1999: 29ff.).
Traditionen Brüche Über die Frage, ob und in welcher Weise die Tradition der Kritischen Theorie fortzusetzen sei, hat sich seit den 1968er Jahren eine fächer- und länderübergreifende Diskussion entfaltet. Die systematische Bedeutung des historischen Kontexts und des Bewusstseins ihrer eigenen Geschichtlichkeit, des spezifischen Zeitkerns der Erfahrungen, die Kritische Theorie reflektiert,
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schließen es aus, sie als ein in sich abgeschlossenes „Lehrgebäude“ aufzufassen, wie es das in den 1960er Jahren aufgekommene Etikett von der „Frankfurter Schule“ suggeriert. Die Nichttradierbarkeit der älteren Kritischen Theorie im Sinne einer affirmativen Weitergabe und Fortsetzung, gehört insofern gerade zum Kernbestand dessen, was tradiert werden konnte (vgl. Claussen 1986, Schmid Noerr 1997). Gleichzeitig dokumentiert eine kaum mehr überblickbare Fülle an Einzelstudien die nachhaltige Bedeutung der Kritischen Theorie als Bezugspunkt in der Reflexion der Gegenwartsgesellschaft. Als Repräsentanten einer zweiten Generation der Kritischen Theorie gelten vor allem Jürgen Habermas und Oskar Negt, die Impulse von Adorno und Horkheimer aufgenommen haben, theoretisch dabei jedoch eigene Wege gegangen sind. Während Oskar Negt in materialreichen Studien eine politische Ökonomie der Arbeit und des Arbeitsvermögens sowie eine Mikrophysik der Gegenmacht und des subjektiven Eigensinns fortschreibt und im historisch-materialistischen Horizont der älteren Kritischen Theorie verbleibt (Negt/Kluge 1972, 2001), bricht Jürgen Habermas’ Programm einer grundbegrifflichen Revision und rationalen Rekonstruktion der normativen Grundlagen kritischer Theorie in zentralen Aspekten mit seinen Lehrern. Habermas steht inzwischen für einen Paradigmenwechsel in der Frankfurter Tradition der Gesellschaftskritik, der als „kommunikationstheoretische Wende“ bezeichnet wird. Mit einer systematischen Unterscheidung von instrumenteller und kommunikativer Vernunft will er die in seinen Augen selbstwidersprüchliche Gleichsetzung von Vernunft mit instrumenteller Rationalität überwinden, die er Adorno und Horkheimer vorhält. Die normative Idee einer vernünftigen Gesellschaft ist bei Habermas orientiert an einer Vorstellung unversehrter Intersubjektivität und herrschaftsfreier Kommunikation, die er in seiner Universalpragmatik sprachtheoretisch entfaltet. Gesellschaftstheoretisch geht Habermas in seinem Hauptwerk, der „Theorie des kommunikativen Handelns“ (1981) von einem dualen Konzept aus, das handlungstheoretische Einsichten der „verstehenden Soziologie“ und Aspekte der funktionalistischen Systemtheorie verbindet. Die frühere subjekttheoretische Orientierung an der Psychoanalyse wird aufgegeben zugunsten kognitiver und intersubjektivitätstheoretischer Ansätze. Die gesellschaftstheoretisch zentrale begriffliche Unterscheidung ist die zwischen System und Lebenswelt. Während das System die Funktionsbereiche von Wirtschaft und Staat und deren Steuerungsmedien wie Geld und Macht bezeichnet, gilt die Lebenswelt als die Sphäre der intersubjektiven Generierung von Normen und Sinn. Beide Sphären sind aufeinander angewiesen; sie können jedoch dann zueinander in Konflikt geraten, wenn systemische Zwänge über ihren Bereich hinausgreifen und die lebensweltlich-kulturelle Reproduktion blockieren und „kolonialisieren“. Während Gesellschaftskritik bei Adorno und Horkheimer in letzter Konsequenz auf die Aufhebung der herrschaftsförmigen Prinzipien kapitalistischer Vergesellschaftung zielt, wird sie bei Habermas zum Problem einer mangelnden Balance zwischen System und Lebenswelt, zur Kritik am Expansionismus systemischer Imperative. Die feministische Weiterentwicklung der Kritischen Theorie im deutschsprachigen Bereich ist wesentlich von den Arbeiten Regina Becker-Schmidts geprägt, die sich sowohl in ihren gesellschaftstheoretischen Überlegungen als auch in Beiträgen zum Zusammenhang von Gesellschafts- und Erkenntniskritik vor allem auf Adorno bezieht. Feministische Autorinnen im englischsprachigen Raum, die auf die Kritische Theorie rekurrieren, sind u.a. Jessica Benjamin, Seyla Benhabib und Nancy Fraser. Jessica Benjamin greift vor allem den psychoanalytischen Strang der Kritischen Theorie auf. Sie rekonstruiert die „Antinomien patriarchalen Denkens“ (1982), die sie in Adornos und Horkheimers Vorstellung väterlicher Autorität ausmacht und stellt deren triebtheoretisch orientierter Subjekttheorie eine anerkennungs- und objektbeziehungstheoretisch reformulierte Theorie männlicher und weiblicher Subjektkonstitution gegenüber (Benjamin 1982, 1993, 1995, 1996). Seyla Benhabib (Benhabib 1992, 1993, 1995, 1999) und Nancy Fraser (Fraser 1985, 1994, 1997) stehen dagegen eher für eine Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas und daran anknüpfende Versuche einer begrifflichen Klärung der normativen Grundlagen kritischer Theorie (vgl. Fraser/Honneth 2003).
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Feministische Rezeption und Kritik Die Beziehung feministischen Denkens zur „Frankfurter Schule“ ist von einer spannungsreichen Gleichzeitigkeit bestimmt, die quer liegt zu den gängigen Phaseneinteilungen in der Historiografie zur Kritischen Theorie. Darin reflektiert sich die historische Situierung der Frauenbewegung im Verhältnis zur Geschichte der Kritischen Theorie: Feministische Kritik entstammt einer Emanzipationsbewegung nach Auschwitz. In der feministischen Theorie finden sich sowohl Bezugnahmen auf frühe Untersuchungen wie die „Studien zu Autorität und Familie“ (Horkheimer/Fromm/Marcuse u.a. 1936/Reprint 1987), aus denen insbesondere die Ausführungen zum Patriarchatsbegriff produktiv aufgenommen wurden (vgl. Gerhard 1978, 1983); es finden sich Rekurse auf das Programm des Interdisziplinären Materialismus in der Diskussion zum feministischen Interdisziplinaritätspostulat (vgl. Kuhn 1992); einen Schwerpunkt der feministischen Rezeption bildete jedoch die Kritik der instrumentellen Vernunft und der Identitätslogik, wie sie in der „Dialektik der Aufklärung“ (Adorno/Horkheimer 1998) und in Adornos „Negativer Dialektik“ vorgelegt wurden (vgl. Kulke 1988, Kulke/Scheich 1992, Schultz 1992). Insbesondere die Dialektik der Aufklärung mit ihren sozialphilosophischen Modellanalysen des Zusammenhangs von Männlichkeit, instrumenteller Vernunft, Selbsterhaltung und Unterdrückung wurde intensiv diskutiert. Im Zentrum der feministischen Kritik an der Kritischen Theorie stand ihre unzureichende Analyse des Geschlechterverhältnisses. Vorstellungen eines weiblichen Sozialcharakters sowie, insbesondere bei Horkheimer, ein idealisiertes Bild von Familie, kristallisiert im Begriff des „Mütterlichen“, wurden denn auch zu zentralen Ansatzpunkten feministischer Revisionen Kritischer Theorie (Knapp 1993, 1996, 1998, 1999). Mechthild Rumpf hat exemplarisch am Beispiel der Schriften Max Horkheimers die widersprüchliche Gleichzeitigkeit eines kritischen Blicks auf männliche Herrschaft und Ausbeutung und seiner affirmativen und von einem bürgerlichen bias durchzogenen Aussagen zur Institution Familie, geschlechtlicher Arbeitsteilung und Mutterliebe offengelegt. Präzise rekonstruiert sie die Geschlechtermetaphysik seiner Theorie sowie seine konservative Haltung zur mütterlichen Berufstätigkeit, arbeitet jedoch neben den blinden Flecken auch die kritische Intention heraus, die Horkheimer leitet und die sich mit feministischen Erkenntnisinteressen durchaus berührte: „Er fragt nach den Bedingungen der Möglichkeit einer männlichen Subjektivität, die sich nicht durch Distanz, Egoismus, abstrakte Autonomie und die Nicht-Anerkennung des Anderen definiert“ (Rumpf 1989: 18). In der mit der mütterlichen Praxis verbundenen Erfahrung, bedingungslos Zweck und nicht Mittel zu sein, in der schwer fassbaren utopischen Dimension von Kindheit, auf die auch Adorno immer wieder verwiesen hat, sahen die Autoren der Kritischen Theorie gefährdete Momente einer innergesellschaftlichen Transzendenz bewahrt, die über den status quo der durch die Herrschaft instrumenteller Vernunft „verhärteten Verhältnisse“ hinausweisen könnten. Auch Theoretiker der nachfolgenden Generation variieren diese Motive. So beschreiben etwa Oskar Negt und Alexander Kluge die weibliche Praxis in der Familie als den „Rest einer matriarchalischen Produktionweise“, in deren „Überlegenheit“ der „eigentliche Emanzipationsanspruch der Frau“ begründet liege (Negt/Kluge 1972: 50). Und bei Jürgen Habermas werden Frauen – ganz beiläufig – zu Vermittlerinnen von Kontrasterfahrungen und Trägerinnen von Kontrasttugenden: „Im übrigen verfügen die Frauen aus dem historischen Erbe der geschlechtlichen Arbeitsteilung, der sie in der bürgerlichen Kleinfamilie unterworfen waren, über Kontrasttugenden, über ein zur Männerwelt komplementäres, der einseitig rationalisierten Alltagspraxis entgegengesetztes Wertregister“ (Habermas 1981: 579). In der Frauenforschung der 1970er und 1980er Jahre finden sich bei einigen Autorinnen vergleichbare Tendenzen einer Positivierung des Weiblich/Mütterlichen. Bezeichnenderweise waren es Feministinnen, die sich selbst in der Tradition der älteren Kritischen Theorie begriffen, die besonders entschieden mit den begrifflichen Mitteln dieser Tradition gegen die kritischtheoretischen wie feministischen Varianten einer Harmonisierung von Weiblichkeit und Mütterlichkeit argumentiert und die Gewalt, Identitätszwänge, Widersprüche und Dissonanzen im
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weiblichen Lebenszusammenhang stärker in den Blick gerückt haben (vgl. Becker-Schmidt 1991a, 1992, Knapp 1988, 1993; Rajewsky 1967, Rumpf 1989, 1999). Im Kontext der Kritik identitätslogischer Konstruktionen von Weiblichkeit und der kulturellen Formen der Naturalisierung von Geschlechterdifferenz ist insbesondere das negativdialektische Denken Adornos zu einer wichtigen Quelle erkenntnistheoretischer und methodologischer Anregung geworden. Während manche Beiträge zur Sex/Gender-Debatte in ihrer berechtigten Kritik an Ontologisierungen und Naturalisierungen von Geschlechterdifferenz in die Falle nominalistischer und diskursontologischer Reduktionen tappen, eröffnet der Rekurs auf Adornos Vermittlungsbegriff Reflexionsräume, die die Spannung zwischen Natur und Kultur nicht nach einer Seite hin auflösen (vgl. Becker-Schmidt 2003a, Knapp 1999, Weber 2003). Neben der Subjektvermitteltheit des epistemischen Objekts, die alle KritikerInnen eines naiven Realismus betonen, hebt Adorno die Objektvermitteltheit des Subjekts hervor. Mit dem Gedanken vom „Vorrang des Objekts“ betont er die Relativierung und historische Dezentrierung des Subjekts. Die Rede vom Vorrang des Objekts bezieht sich auf zwei Dimensionen: Die erste betrifft den somatischen Charakter kognitiver Prozesse, die er jeglicher idealistischen Hybris entgegenhält. Die zweite bezieht sich auf eine historische Dimension, die erkenntniskritisch in Rechnung zu stellen ist: auf den historischen Wandel in Subjekt-Objekt-Konstellationen, die die Möglichkeit von Erkenntnis selber tangieren. In Bezug auf Nietzsche und Benjamin wird Wahrheit entschieden historisiert, ohne jedoch den emphatischen Anspruch auf Einsicht in historische Verhältnisse preiszugeben. Das aporetische Moment dieser Konstellation, das ihm oft vorgeworfen wird, setzt Adorno ganz bewusst ein und führt es vor in den Reflexionsbewegungen der negativen Dialektik (vgl. Kager 1988, Thyen 1989). Vergleiche zwischen dem anti-ontologischen Denken von Adorno und Judith Butler in „Körper von Gewicht“ (1995) liegen durchaus nahe (vgl. Becker-Schmidt 2003b). In ihnen zeigen sich in nuce sowohl die Verwandtschaften zwischen der älteren Kritischen Theorie und Butlers dekonstruktivem Feminismus aus der poststrukturalistischen Tradition als auch die grundlegenden Unterschiede, die vor allem im anti-relativistischen, aufklärerischen Erkenntnisanspruch und im Festhalten an einem gesellschaftstheoretischen Reflexionshorizont bestehen.
Vergesellschaftung im Geschlechterverhältnis Zu den wenigen feministischen Theoretikerinnen, die sich kontinuierlich mit eigenen Weiterentwicklungen auf die ältere Kritische Theorie beziehen, gehört Regina Becker-Schmidt, die bei Adorno studiert hat und in den 1960er Jahren Mitarbeiterin am Frankfurter Institut für Sozialforschung war. In zahlreichen Aufsätzen hat sie ihre Überlegungen zur gesellschaftlichen Organisation des Geschlechterverhältnisses, zur Sozialpsychologie der Geschlechterdifferenz und zur feministischen Erkenntnis- und Androzentrismuskritik fortentwickelt, die im deutschsprachigen feministischen Diskurs breit rezipiert worden (vgl. Aulenbacher 2004, Gransee 1999, Scheich 1993). Im Folgenden sollen ihre gesellschaftstheoretischen Anknüpfungen an Adorno im Grundriss kurz skizziert werden. Ein Großteil der im weitgefassten Sinne sozialtheoretisch orientierten feministischen Theorie operiert im Horizont handlungstheoretisch orientierter Gesellschaftsanalysen. Diese konzentrieren sich vorwiegend oder ausschließlich auf Akteure und deren Praxen mit Blick auf sozialstrukturelle und diskursive Bedingungen ihres Handelns sowie auf Gesellschaft als einem Gefüge von Institutionen (vgl. im Überblick: Gottschall 2000, Knapp/Wetterer 1992, 2001, 2003). Der Begriff Vergesellschaftung akzentuiert in diesem Theoriekontext die historisch entstandene Formierung von Machtkonstellationen, von Austausch- und Interdependenzbeziehungen zwischen gesellschaftlichen Akteuren und Akteursgruppen. Die an Marx anknüpfende Kritische Gesellschaftstheorie, die Regina Becker-Schmidt aufgreift, bezieht demgegenüber zusätzlich noch eine darüber liegende Ebene ein und fokussiert Formen der historischen Ausdifferenzierung der Gesellschaft in Teilsysteme oder
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Sphären sozialer Reproduktion und deren Zusammenhang untereinander. Dementsprechend bezieht sich der Begriff Vergesellschaftung hier nicht (nur) auf die Formen der Einbindung von Akteuren bzw. sozialen Gruppen in den gesellschaftlichen Lebensprozess, sondern auf die Interdependenzund Machtverhältnisse zwischen gesellschaftlich ausdifferenzierten Funktionsbereichen. Gefragt wird, wie die unterschiedlichen Sphären sozialer Reproduktion selber vergesellschaftet sind (unter welchen Formbestimmungen sie miteinander als interdepente zusammenhängen) und wie die Art und Entwicklungsdynamik dieser Vergesellschaftung (ihres Zusammenhangs untereinander) rückwirkt auf Strukturen und Prozesse in den Teilbereichen und umgekehrt. Regina Becker-Schmidt geht davon aus, dass sich im Laufe der Gesellschaftsgeschichte ökonomische, militärische, nationale und androkratische Vormachtansprüche amalgamiert haben. Diese schlagen sich sowohl in der spezifischen strukturellen Verfasstheit der Sektoren und ihrer Funktionsteilung als auch in den hierarchischen Relationen zwischen den Teilsystemen nieder. Geschlechterverhältnisse sind in diese Gesellschaftsgeschichte eingebunden als Konstituens und Konstitutum zugleich. Der Begriff „Geschlechterverhältnis“ bezeichnet dabei das Insgesamt an institutionalisierten Regelungen in einem sozialen Gefüge, durch welche die Genus-Gruppen zueinander relationiert sind und die Prinzipien, denen diese Relationierungen folgen (BeckerSchmidt 1987, 1991a, 1991b, 1992, 1998, 1999). Becker-Schmidt arbeitet Strukturähnlichkeiten zwischen den Relationen im Geschlechterverhältnis und denen auf der Ebene der gesellschaftlichen Sektoren heraus und begründet diese mit der durcheinander vermittelten Wirksamkeit nicht personalisierter Herrschaftsformen, die sich mit dem Kapitalismus herausgebildet haben, und patriarchaler Machtstrukturen, die eine vorindustrielle Genese haben, in der modernen kapitalistischen Gesellschaft aber einer spezifischen Formbestimmung unterliegen. Mit ihrer sozialhistorisch-gesellschaftstheoretischen Fokussierung gehört Regina Becker-Schmidt – wie Ursula Beer (1990) und Ute Gerhard (1978, 1983, 1990) – in eine Tradition strukturtheoretisch orientierter feministischer Forschung im Überschneidungsbereich von Marx, Max Weber und der älteren Kritischen Theorie, die es im anglo-amerikanischen Sprachraum nicht in vergleichbarer Weise gibt. In den USA sind eine Reihe von wichtigen Beiträgen zur feministischen Theorie vor allem in der Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas und der spezifisch amerikanischen Konstellation von politischer Partizipation und Identitätspolitik entstanden, in der die Frage der Differenz eine besondere Dynamik entfaltete. In der Politischen Theorie breit rezipiert sind die Arbeiten von Seyla Benhabib und Nancy Fraser. Beide fragen nach den Möglichkeiten von Gerechtigkeit, Solidarität und Anerkennung unter den Bedingungen einer postnationalen, globalisierten Gesellschaft und im Zeitalter der Identitätspolitik. Ein zentraler Streitpunkt zwischen ihnen ist die Frage, ob und inwieweit feministische Kritik der philosophisch-normativen Grundlegung bedarf und wie eine solche nach der linguistischen Wende und in Zeiten von „Postmoderne“ und Identitätspolitik aussehen könnte. Während Nancy Fraser aus einer neo-pragmatistischen Perspektive für einen offensiven, nichtpuristischen Eklektizismus plädiert, der sich zur Analyse der komplexen Gegenwartsphänomene aus dem theoretischen Reservoir unterschiedlicher Ansätze bedient, aber auf normative Fundierungen seiner Kritik verzichtet, beharrt Benhabib auf der Notwendigkeit normativer Rechtfertigung und entsprechender grundbegrifflicher Klärungen sowie der Unverzichtbarkeit zentraler Konzepte wie Autonomie, Subjekt und Utopie, die im postmodernen Diskurs angegriffen werden (vgl. Benhabib/Butler/Cornell/Fraser 1993). In kritischer Tuchfühlung mit der Habermas’schen Diskursethik geht Benhabib vor allem dem Problem nach, wie die Geltungsansprüche ethischer Normen so begründet werden können, dass sie sensibel sind für differente Kontextbedingungen, gleichwohl aber kontextübergreifend allgemeine Verbindlichkeit beanspruchen können (Benhabib 1992, 1999). Nancy Fraser bewegt sich mit ihren Arbeiten im Überschneidungsbereich von Moralphilosophie, Sozialtheorie, politischer Theorie und praktischer Politik. In der Moralphilosophie geht es ihr darum, ein Konzept von Gerechtigkeit zu entwickeln, das sowohl Ansprüche auf Gleichheit als auch Ansprüche auf Anerkennung von Differenz aufnehmen kann. Bezogen auf praktische Politik verfolgt sie die Aufgabe, demokratisches Engagement auf breiter Ebene zu stärken und dafür eine programmatische Orientierung zu entwerfen,
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die die tragfähigen Argumente aus Politiken der Umverteilung und der Anerkennung verbindet (Fraser 1997, vgl. Becker-Schmidt 2001). Zweifellos haben beide Autorinnen mit wichtigen Impulsen und begrifflichen Klärungen zur feministischen Theorie beigetragen. Der soziologisch-gesellschaftstheoretische Horizont ihrer Beiträge ist jedoch, was ihnen selbst durchaus bewusst ist, zu wenig entfaltet. Die Abarbeitung an diesen Desideraten und die Auslotung der Frage der Kontextspezifik und Reichweite gesellschaftstheoretischer Aussagen unter heutigen Bedingungen gehört zu den Aufgaben, die nicht allein die feministische Theorie beschäftigen werden.
Baustellen für die Zukunft In der Frage der Aktualität Kritischer Theorie für feministische Kritik ist zu differenzieren: Kritisch anknüpfen ließ sich an sie nicht als eine substantielle Theorie für befreiende Praxis, wie dies sozialistische Studenten der 1968er Protestbewegung in einem unbegriffenen Akt der „Zwangsaktualisierung“ (Claussen 1986) der Schriften aus den 1930er Jahren versuchten. Wichtig und aktuell geblieben ist die Theorie Adornos und Horkheimers als theoretisch facettenreiche Form einer historisch-materialistisch orientierten Gesellschafts-, Subjekt- und Erkenntniskritik und als ein negativ-dialektisches Denken, das den Vermittlungen in der Genese des Faktischen ebenso nachspürt wie der historischen Situiertheit ihrer kritischen Reflexion. Anders als die gängigen klischeehaften Vorwürfe des „totalisierenden“ Denkens dies nahe legen, gingen auch die älteren Kritischen Theoretiker davon aus, „daß die gegenwärtige Gesellschaft einer in sich kohärenten Theorie sich entwindet“ (Adorno 1990: 359). Gleichzeitig haben sie jedoch den Anspruch nie aufgegeben, Einzelphänomene in ihrer Einbettung in übergreifende gesellschaftlich-kulturelle Zusammenhänge zu analysieren und die Anstrengung zu unternehmen, die Verstelltheit des Einblicks sowohl als erkenntnistheoretisches Problem wie auch ideologiekritisch als Problem der soziokulturellen und historischen Entwicklung selbst zu verstehen. In beiden Hinsichten könnte es sich heute für feministische Theorie lohnen, die Fäden aufzunehmen. Um eine Vorstellung ihrer eigenen Möglichkeit gewinnen zu können, ist eine feministische kritische Theorie der Gegenwartsgesellschaft darauf angewiesen, sich in beiden Hinsichten zu situieren: Der schonungslose Blick auf die tatsächlichen Kräfteverhältnisse und Gestaltungsmöglichkeiten unter den Bedingungen der Verwertungsimperative eines globalisierten Kapitalismus und der „Kälteströme“ (Negt) des Zweck-Mittel-Denkens, die in alle Poren der Gesellschaft eindringen, schützt vor Illusionen und hilft bei der Reflexion der Formen, die feministische Theorie und Praxis angenommen hat; der Bezug auf Potenziale der Kritik, die sich gleichwohl unter diesen Bedingungen artikulieren und politisch praktisch werden, die Bestimmung auch noch so geringer Spielräume und Handlungsmöglichkeiten, wendet sich gegen Resignation und ist darin auf andere Weise realistisch. Auf diese Dialektik spielt Adorno in seiner Einleitung in die Soziologie an: dass nämlich „je mehr die gegenwärtige gesellschaftliche Struktur den Charakter einer ungeheuerlich zusammengeballten ‚zweiten Natur‘ hat – unter Umständen die armseligsten Eingriffe in die bestehende Realität eine viel größere, ich möchte fast sagen, symbolische Bedeutung haben, als ihnen an sich zukommt“ (Adorno 1993: 52). Um Veränderungspotenziale eruieren und befördern zu können, wie es (auch) feministische Forschung beansprucht, reicht allerdings der überkommene begriffliche Rahmen der älteren Kritischen Theorie, so wichtig seine gesellschafts- und erkenntniskritischen Perspektiven auch sein mögen, nicht aus: In ihren dialektischen Rekonstruktionen der Vermittlungen von Subjektivität und Objektivität, Individuum und Gesellschaft blieben intermediäre Dimensionen, wie etwa der Bereich des Symbolischen, Diskurse, Sprache, intersubjektive Praxen der Sinngebung, in der Regel unterbelichtet. Diese aber sind nicht nur aus theoriesystematischen Gründen, wie sie u.a. Habermas vorgebracht hat, einzubeziehen, sondern – aus feministischer Sicht – auch von der „Sache“ her. Ein wachsender Fundus an Forschung hat gezeigt, dass die Berücksichtigung dieser intermediären Ebe-
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nen für Analysen des Geschlechterverhältnisses und Fragen der Reproduktion von Geschlechterhierarchien unabdingbar sind. Andererseits ist unübersehbar, dass sich im Zuge der mikrosoziologischen sowie sprach- und kulturtheoretischen Wende, die in der Kritik makrotheoretischer und funktionalistisch-erklärender Ansätze seit Anfang der 1990er Jahre den feministische Diskurs bestimmt, der Blick auf eine Weise eingeengt hat, die heute zunehmend wieder zum Problem wird. Eine stärkere gesellschaftstheoretische Ausarbeitung feministischer Kritik wird aus zwei Gründen dringlich und neuerdings auch vernehmbarer angemahnt: zum einen, weil die derzeit stattfindenden Formen gesellschaftlicher Neustrukturierung (Globalisierung, Neoliberalismus, Abbau sozialstaatlicher Leistungen, Europäische Integration, Relativierung bzw. Veränderung von Nationalstaatlichkeit u.a.) in vielfältiger Weise mit Statik und Dynamiken im Geschlechterverhältnis verwoben sind, die ohne einen erweiterten Horizont nicht begriffen werden können. Feministische Kritik, die nichts mehr zu den großen gesellschaftlichen Entwicklungen zu sagen hat, sieht „alt“ aus. Der andere Grund hat mit der immanenten Entwicklung feministischer Theorie zu tun, in der seit den 1990er Jahren die Frage nach den Achsen der Differenz in den Mittelpunkt gerückt ist: die Frage nach den Relationen und Vermittlungen zwischen unterschiedlichen Formen von Ungleichheit und Differenz. Wie sind Vergesellschaftungen im Geschlechterverhältnis historisch-gesellschaftlich vermittelt mit Klassenverhältnissen oder ethnisch bzw. rassistisch begründeten Formen gesellschaftlicher Ausgrenzung und Ungleichheit? Diese großen Fragen angemessen zu beantworten setzt zum einen voraus, dass der identitätstheoretische oder demokratietheoretisch-normative Horizont, in dem sie bisher überwiegend verhandelt wurden, dezentriert und erweitert wird durch eine gesellschafts- bzw. makrotheoretisch orientierte Sichtweise auf historische Konstellationen dieser Zusammenhänge. Er setzt zum anderen eine sozialhistorisch komplexe Form der Gesellschaftstheorie voraus, der es gelingt, ökonomische, sozialstrukturelle und kulturelle Dimensionen auf nicht ableitungslogische Weise zusammenzudenken. Das Potenzial der Kritischen Theorie für die Klärung dieser brennenden Fragen ist noch nicht ausgelotet. Baustellen finden sich reichlich im Überschneidungsbereich von Feminismus, Kritischer Theorie und Poststrukturalismus (Klinger/ Knapp/Sauer 2007). Verweise: (De)Konstruktion und Diskurs-Genealogie Doppelte Vergesellschaftung Sekundärpatriarchalismus
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Karin Gottschall
Soziale Ungleichheit: Zur Thematisierung von Geschlecht in der Soziologie
Einleitung Soziale Ungleichheit ist ein gesellschaftliches Phänomen und unterliegt sozialem Wandel. Insbesondere die Frage, was überhaupt als soziale Ungleichheit begriffen und von daher in einer demokratisch verfassten Gesellschaft als veränderungsbedürftig angesehen wird, ist Gegenstand von gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Dies gilt nicht zuletzt für soziale Disparitäten zwischen Männern und Frauen im öffentlichen wie privaten Bereich, die vor allem die neue Frauenbewegung seit den 1970er Jahren verstärkt ins öffentliche Bewusstsein gerückt hat. Nicht nur soziale Bewegungen, auch die Sozialwissenschaften mit ihrem Anspruch der Diagnose sozialer Prozesse haben Anteil an der Definition und Interpretation von sozialer Ungleichheit. So war die Ungleichheitsthematik für die Soziologie, die sich als Einzelwissenschaft erst mit der Entstehung von bürgerlicher Gesellschaft und kapitalistischer Ökonomie herausgebildet hat, von Anfang an konstitutiv. Ihr normativer Bezugspunkt für das Verständnis sozialer Ungleichheit ist die spezifische Realität moderner, demokratisch verfasster Gesellschaften, einerseits Gleichheitsansprüche für alle Gesellschaftsmitglieder zu verbürgen, zugleich jedoch andererseits immer auch ungleiche soziale Verhältnisse oder Probleme sozialer Integration hervorzubringen. Dabei haben sich in der Soziologie vor allem mit Bezug auf Marx und Weber konkurrierende Sichtweisen entwickelt, die jedoch gleichwohl im Kern ein erwerbszentriertes Verständnis von sozialer Ungleichheit teilen. Unterstellt wird eine Hierarchie von Erwerbspositionen, die mit unterschiedlichen Formen der Lebensführung einhergeht, so dass dauerhaft weitgehend homogene soziale Lagen entstehen und sich entsprechend handlungsfähige soziale Großgruppen (Klassen oder Schichten) identifizieren lassen. Diese in der Soziologie lange vorherrschende Sicht von sozialer Ungleichheit kann soziale Disparitäten zwischen Männern und Frauen nur als Differenzierung innerhalb von Klassen oder Schichten erfassen und vernachlässigt die sozialen Verhältnisse in Paarbeziehungen und Familie. Zugleich hat sich dieses, an den Verhältnissen frühindustrialisierter Gesellschaften gewonnene Verständnis sozialer Ungleichheit für die Erfassung sozialen Wandels innerhalb moderner Gesellschaften als unzulänglich erwiesen. Seit den 1970er Jahren ist die deutsche ungleichheitssoziologische Diskussion durch Kritik an dem sog. vertikalen Paradigma geprägt und hat eine Fülle neuer gesellschaftstheoretischer Ansätze und Konzeptionen mittlerer Reichweite hervorgebracht, von denen hier nur einige vorgestellt werden (vgl. ausführlich Gottschall 2000). Relevant sind vor allem jene Ansätze, die eine erweiterte Definition des Gegenstandsbereichs von Ungleichheitsanalyse (Einbezug von Geschlecht) beinhalten – und damit die Trennung von feministischer Diskussion und soziologischem Diskurs zum Teil überwinden – und die zugleich eine erhöhte, für Dynamiken sozialen Wandels sensible gesellschaftsdiagnostische Aussagekraft aufweisen. So lenkt die am gesellschaftstheoretischen Anspruch der Klassiker anknüpfende Konzeption ‚horizontaler Disparitäten‘ den Blick vom Erwerbssystem auf die sozialpolitische Regulation von Arbeitsmarktlagen und damit auch auf den Reproduktionsbereich. Damit einher geht die These einer sinkenden sozialen Prägekraft von Erwerbsarbeit, die freilich in der aktuellen ungleichheitssoziologischen Diskussion umstritten ist. Sie wird insbesondere in Ansätzen, die mit Kategorien wie Lebensla-
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Karin Gottschall
ge, Lebensführung und Lebenslauf die Verzeitlichung und Institutionenprägung sozialer Ungleichheit betonen und akteursbezogene Veränderungen im Geschlechterverhältnis fokussieren, nicht geteilt.
Das erwerbszentrierte Verständnis sozialer Ungleichheit Das den Mainstream der Soziologie lange prägende erwerbszentrierte Verständnis von sozialer Ungleichheit mit den zentralen Analysekategorien ‚Klasse‘ und ,Schicht‘ geht auf unterschiedliche gesellschaftstheoretische Konzepte von Marx und Weber zurück. Für Marx erschließt sich die Logik gesellschaftlicher Strukturen aus der Art, wie die Gesellschaftsmitglieder ihre materielle Produktion organisieren. Unter kapitalistischen Verhältnissen steht eine Minderheit von Produktionsmittelbesitzern einer Mehrheit von Individuen gegenüber, die über keine Produktionsmittel (mehr) verfügt und daher gezwungen ist, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Die gesellschaftliche Struktur ist demnach eine Klassenstruktur, in der sich Lohnarbeiterklasse und Kapitalistenklasse antagonistisch gegenüberstehen (Marx 1974). In diesem Modell kommt dem sozialen Verhältnis der Geschlechter explizit keine besondere Rolle zu. Dies hängt auch damit zusammen, dass Marx in der Kapitaltheorie, anders als im Frühwerk, einen analytisch eng definierten, auf den Kapitalkreislauf und die damit gesetzten sozialen Verhältnisse gerichteten Begriff gesellschaftlicher Produktion und Reproduktion zu Grunde legt. Geschlechterungleichheit existiert demnach vor allem als geschlechtsspezifische Differenzierung innerhalb von Klassenlagen. Als solche kann sie nach derselben Logik erklärt werden wie die Klassenstrukturierung selbst, nämlich arbeitswerttheoretisch bzw. mit der Verfügung über kollektive Handlungsressourcen: Der geringere Wert weiblicher Lohnarbeitskraft ist Ausdruck geringerer Reproduktionskosten bzw. mangelnder kollektiver Interessenvertretung. Implizit geht freilich in die politökonomische Argumentation sehr wohl eine Vorstellung von gesellschaftlich vermittelten geschlechtshierarchischen Verhältnissen ein: Die Konzeption der Reproduktion der Ware Arbeitskraft unterstellt als Normalfall den männlichen Lohnarbeiter als Familienernährer und Familienoberhaupt. Sie begreift den ‚Familienlohn‘ als ‚normale‘ Gegenleistung für den Wert der männlichen Arbeitskraft und setzt damit die unentgeltlich von Frauen verrichtete Hausarbeit und die geschlechtsspezifischen Abhängigkeitsverhältnisse des bürgerlichen Familienmodells voraus. Auch die in der Kritik der politischen Ökonomie vorherrschende Vorstellung von menschlicher ‚Praxis‘ ist verkürzt: Denn sie zielt nur auf instrumentelles Handeln und nicht auch auf ‚Interaktion‘ als Ausdruck spezifischer menschlicher Sozialität; des Weiteren umfasst der Praxisbegriff nur instrumentelles Handeln in der Lohnarbeitssphäre und nicht auch Arbeit in der Sphäre der privaten Reproduktion (vgl. Nicholson 1987, Beer 1990, Sichtermann 1990). Ein wesentlicher Bereich gesellschaftlicher Tätigkeit und potenzieller sozialer Anerkennung wird damit theoretisch nicht angemessen erfasst (Fraser 2001). Im Unterschied zu diesem dichotomen, produktionsorientierten Konzept formuliert Weber ein pluralistisches marktorientiertes Klassenkonzept. Er unterscheidet Besitz und Erwerb als unterschiedliche Formen der Erzielung von Markteinkünften. Dabei kann es qua Definition eine Vielzahl von Besitz- wie Erwerbsklassen geben, die wiederum sowohl hierarchisch wie auch horizontal (etwa im Nebeneinander verschiedener Berufsgruppen) gelagert sein können (Weber 1980). Anders als Marx sieht Weber eine ‚rationale‘ Interessenwahrnehmung der Lohnabhängigen nicht in einer Infragestellung, sondern eher umgekehrt in einer Anerkennung der Spielregeln des Marktes, indem Einzelne versuchen, ihre ‚Chancen‘ (unter Rekurs auf Spezialqualifikationen, Standortvorteile etc.) in der Konkurrenz zu anderen zu wahren. Eine Maximierung von Chancen kann auch durch Bildung sozialer Gemeinschaften im Zuge ‚sozialer Schließung‘ geschehen, indem der Zugang zu Privilegien und Erfolgschancen auf einen begrenzten Kreis von
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Personen beschränkt wird, die nicht nur nach erwerbsorientierten Merkmalen, sondern nach Merkmalen wie sozialer Herkunft, Religion, Sprache ausgewählt sein können. Als weiteres, die Existenz sozialer Klassen überlagerndes Strukturierungsprinzip sieht Weber ständische Lagen, d.h. unterschiedliche Formen der Lebensführung. Auch wenn Weber Klassen und Stände geschlechtsneutral konzipiert, enthält seine Konzeption mit ihrer mehrdimensionalen Anlage und handlungstheoretischen Ausrichtung Anhaltspunkte für eine differenziertere Bestimmung der Relevanz von Geschlechterungleichheit. So hat die Frauenforschung in der Analyse geschlechtsspezifischer Arbeitsmarktstrukturierung die Denkfigur sozialer Schließung weiterentwickelt (vgl. Cyba 1995, Wetterer 1992). Auch die Vorstellung ständischer Vergemeinschaftung ist (auch mit Rekurs auf Simmel) in der Tradition subjektorientierter Soziologie zur Analyse von geschlechtsspezifischen Disparitäten aufgegriffen worden; etwa in der Vorstellung einer gelebten Zugehörigkeit zu einer reproduktionsbezogenen ‚weiblichen Kultur‘ (vgl. Beck-Gernsheim/Ostner 1978) und in modernisierungstheoretischen Vorstellungen von Geschlechterungleichheit als ‚ständischer Struktur‘ (Beck 1986). Weber unterscheidet mit der Differenzierung von Klasse und Stand im Erwerbsleben angesiedelte ökonomisch strukturierte Chancen von Chancen, die sich aus Wertschätzung (Prestige) in der privaten Lebensführung ergeben. Diese Dualisierung ist von zahlreichen Autoren genutzt worden, um die Sozialrelevanz des Geschlechterverhältnisses vor allem im Bereich der Lebensführung anzusiedeln. So sieht etwa Habermas in seinem System und Lebenswelt verknüpfenden zweistufigen Modell von Gesellschaft die gleichsam selbstverständliche Reproduktion von Geschlechtsnormen vor allem im kommunikativen Handeln in der Lebenswelt und weniger im zweckrationalen Handeln in systemischen Kontexten (vgl. Habermas 1995, zur Kritik: Fraser 1992). Weber selbst hat freilich in Bezug auf den modernen Kapitalismus letztlich doch die sozioökonomische Strukturierung als dominant begriffen und Geschlechterungleichheit, ähnlich wie Marx, eher innerhalb von Klassenlagen als quer zu diesen verortet. Dem entspricht, dass Weber seine Analysen patriarchaler Herrschaft als integrale sozioökonomische und geschlechtsspezifische Ungleichheitsstruktur ausdrücklich als vorkapitalistische Herrschaftsform verortet (vgl. Weber 1980, Gerhard 1991). Eine Gegenposition zu diesen erwerbsorientierten und scheinbar geschlechtsneutralen Vorstellungen von sozialer Ungleichheit findet sich in Theorien sozialer Differenzierung. Hier werden weniger sozioökonomische Entwicklungen und deren Konfliktpotenzial als vielmehr der Strukturwandel sozialer Systeme und die Mechanismen sozialer Integration fokussiert und zugleich das Geschlechterverhältnis prominent thematisiert. So sahen Durkheim und Simmel die spezifisch moderne Gestalt des Geschlechterdualismus in Form einer Trennung und Entgegensetzung sozialer Räume (Berufsleben und Öffentlichkeit einerseits, Ehe, Familie und Privathaushalt andererseits) und Kompetenzen (Vernunft, Intellekt einerseits, Gefühl, Intuition andererseits) als Paradebeispiel sozialer Differenzierung (Durkheim 1992, Simmel 1998), eine Vorstellung, die im strukturfunktionalistischen Geschlechtsrollenbegriff wie auch in systemtheoretischen Vorstellungen aufgegriffen wurde (vgl. Parsons 1976, Tyrell 1986). Parsons unterscheidet in seiner einflussreichen Geschlechtsrollenkonzeption eine als expressiv definierte Frauenrolle von einer als instrumentell definierten Männerrolle. Demnach korrespondiert die Frauenrolle mit den Erfordernissen der Versorgung von Ehemann und Kindern, die Männerrolle hingegen mit den Erfordernissen des ‚Berufsmenschentums‘. Diese Rollendifferenzierung und ihr institutioneller Ausdruck in der (Einverdiener-) Ehe sind nicht zuletzt deshalb funktional, weil sie eine Konkurrenz der Ehepartner bzw. zwischen Männern und Frauen um berufliche Positionen verhindern (Parsons/Bales 1966). Kritik an dieser Sichtweise bezieht sich darauf, dass der Arbeitscharakter der Situation von Frauen in der Familie zugunsten der Betonung expressiver Verhaltensaspekte ausgeblendet wird und Machtstrukturen und Interessenkonflikte in der Ehe eher unterbelichtet bleiben. Indem die Geschlechtsrolle und hier insbesondere die Rolle der Frau vorrangig im familialen Kontext situiert ist, wird zugleich die soziale Wirkung von Geschlechtzugehörigkeit analytisch begrenzt. Vor allem gegen diese, nicht nur den
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Strukturfunktionalismus kennzeichnende Verkürzung, hat die Frauenforschung eine Perspektive auf Geschlecht als Strukturkategorie eingefordert (Lopata/Thorne 1978). Für die Ungleichheitssoziologie hat die differenzierungstheoretische Sicht von Geschlecht jedoch kaum eine Wirkung entfaltet. Als Fazit zur älteren Soziologie sozialer Ungleichheit kann daher festgehalten werden, dass sich in klassentheoretischen wie schichtungssoziologischen Ansätzen ebenso wie in der empirisch orientierten Sozialstrukturanalyse ein an der Erwerbsposition orientiertes Verständnis sozialer Ungleichheit herausgebildet hat, das Familie und Haushalt, wenn überhaupt, nur als ‚organisches Ganzes‘ und nicht als mögliche eigenständige Quelle von sozialer Ungleichheit in den Blick nimmt. Die damit einhergehenden systematischen Schwächen in der empirischen Erfassung der sozialen Lage von Frauen, wie etwa Unterrepräsentanz aufgrund ihrer geringeren Präsenz im Erwerbssystem und als Haupternährer, haben Kontroversen über die Indikatoren empirischer Ungleichheitsanalyse ausgelöst und in Teilen der Ungleichheitssoziologie, insbesondere in der Mobilitätsforschung, zu Analysedesigns geführt, die neben Schichtzugehörigkeit nunmehr auch ‚Geschlecht‘ und ‚Alter‘ berücksichtigen (Crompton/Mann 1994, Acker 1988, Handl 1993, Frerichs/Steinrücke 1993). Neben der ‚Geschlechtsindifferenz des vertikalen Sozialstrukturmodells‘ (Kreckel 1989) weist die erwerbszentrierte Sichtweise sozialer Ungleichheit auch im Hinblick auf die Erfassung sozialen Wandels Defizite auf. So kann die durch industriegesellschaftliche und wohlfahrtsstaatliche Modernisierung gewandelte Sozialstruktur (u.a. Ausweitung der Gruppe der nicht erwerbstätigen Personen wie SchülerInnen, Studierende, RentnerInnen; Differenzierung der Erwerbstätigen durch Ausweitung von Managementfunktionen) nur unzureichend erfasst werden. Auch die in den traditionell querschnittsorientierten Untersuchungen praktizierte Unterstellung einer im Zeitverlauf stabilen Zurechnung von Personen zu Erwerbspositionen wirft angesichts einer Flexibilisierung von ‚Normalbiografien‘ und Erwerbsarbeitsverhältnissen Probleme auf (Hradil 1987). Diese Probleme sind seit den 1970er Jahren in der deutschen Ungleichheitssoziologie unterschiedlich adressiert worden.
Soziale Ungleichheit als wohlfahrtsstaatlich vermittelte soziale Disparität Ein gegen die Sackgassen ökonomistischer marxistischer Theorien wie auch gegen Theorien gesellschaftlicher Nivellierung (vgl. u.a. Schelsky 1979) gerichteter Ansatz in der Tradition der Kritischen Theorie argumentiert, dass sich ein sog. staatlich regulierter Kapitalismus herausgebildet habe. Dieser erzeuge eine neue ‚horizontale Disparität von Lebensbereichen‘, da nicht mehr allein die Verteilung von Einkommen und Status, die selbst wiederum durch staatliche Redistributionsmaßnahmen politisch vermittelt ist, soziale Gruppenbildung strukturiert. Vielmehr seien Möglichkeiten und Formen der Bedürfnisbefriedigung durch Ausweitung von politisch-institutionell vermittelten Bereichen kollektiven Konsums wie Bildung, Wohnen, Gesundheit, Verkehr zunehmend durch staatliches Handeln bestimmt (Bergmann u.a. 1969). Eine weitere, hier anschließende Argumentation präzisiert mit Bezug auf die in den 1970er Jahren in vielen westeuropäischen Ländern einsetzende Massenarbeitslosigkeit und deren ‚sozialpolitische Bearbeitung‘, dass weniger die Stellung in der Erwerbshierarchie als vielmehr die Arbeitsmarktlage, d.h. Art und Ausmaß der Integration in den Arbeitsmarkt, sozialstrukturrelevant ist. Demnach ist der Arbeitsmarkt, anders als dies marxistische wie ökonomische Ansätze unterstellen, keine flächendeckende Institution, weil es neben der Lohnarbeit auch noch weitere Formen der gesellschaftlichen Nutzung von Arbeitskraft bzw. Formen der Versorgung geben muss, um diejenigen zu reproduzieren, „die zwar eigentumslos, aber nicht Lohnarbeiter sind“ (Offe/Hinrichs 1984: 60ff).
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Erkenntnisgewinne dieser Sichtweise liegen in der Betonung politisch-institutioneller Regulation für die soziale Positionierung; zugleich wird der Blick auch auf den Nicht-Erwerbsbereich als Ort der Befriedigung existenzieller Bedürfnisse und des (staatlich regulierten) kollektiven Konsums gerichtet. Soziale Ungleichheit zwischen den Geschlechtern kommt damit insoweit in das Blickfeld, als Geschlechtszugehörigkeit direkt oder indirekt Bezugspunkt staatlichen Handelns und damit Auslöser von sozialen Beeinträchtigungen sein kann. So wird etwa in einer einflussreichen Analyse strukturierter Arbeitslosigkeit die Betroffenheit von Dauerarbeitslosigkeit von bestimmten sozialen Gruppen, nämlich Jugendlichen, AusländerInnen, gesundheitlich Beeinträchtigten und vor allem auch Frauen, als Ausdruck einer wohlfahrtsstaatlich induzierten Ausgliederung bestimmter Bevölkerungsgruppen aus dem Erwerbssystem begriffen. Die wohlfahrtsstaatlich vermittelte sog. Alternativrolle belaste die Inhaber in ihrer personalen Identität und beschränke ihre strategischen Handlungsmöglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt, so dass sie zu Problemgruppen des Arbeitsmarktes werden (Offe/Hinrichs 1984). Webers Vorstellung sozialer Schließung wird hier erweitert: Nicht nur gruppenspezifische Verhaltensweisen, sondern auch sozialpolitische Leistungen bzw. institutionelle Regulierungen können ambivalente soziale Wirkungen zeitigen. Diese Erkenntnis hat sich für die Analyse geschlechtsspezifischer Ausschlussmechanismen auf dem Arbeitsmarkt als weiterführend erwiesen (vgl. u.a. Eckart 1986 zur Teilzeitarbeit; Allmendinger u.a. 1991 zur Alterssicherung; Gottschall/ Bird 2003 zum Erziehungsurlaub). Gleichwohl ist die Interpretation von Frauen als einer Problemgruppe des Arbeitsmarktes aus heutiger Sicht theoretisch und empirisch unzulänglich. Denn Frauen werden vorrangig als eine Gruppe gesehen, die von kontinuierlicher Arbeitsmarktteilhabe freigestellt ist. Damit lässt sich weder die Spezifik ihrer Lage im Reproduktionsbereich noch die Widersprüchlichkeit ihrer Arbeitsmarktintegration hinreichend erfassen. So erscheint vor allem ein dynamisches Moment moderner kapitalistischer Gesellschaften, nämlich die Rolle von Frauen als ,Trägerinnen‘ soziokulturellen und sozioökonomischen Wandels (durch erhöhte Erwerbsbeteiligung und Bildung, spätere Heirat und sinkende Geburtenraten) einschließlich der Expansion des Dienstleistungssektors, unterbelichtet (Gottschall 2001). Weiter impliziert die Subsumierung von Frauen und weiteren sozialen Gruppen als homogenes Objekt politischer Regulation die Annahme, dass askriptive Merkmale wie Alter, Geschlecht, Gesundheitsstatus und Nationalität bzw. ethnische Zugehörigkeit in ihrer sozialen Relevanz gleichgesetzt werden können. Dabei wird freilich übersehen, dass Geschlecht offensichtlich dasjenige Kriterium ist, das im Verein mit den anderen hier relevanten askriptiven Kriterien immer noch zusätzlich Geltung erlangt, so dass hier komplexe kumulierende oder aber auch gegenläufige soziale Wirkungen entstehen. So treffen etwa Zuwanderungsgesetze oder Vorruhestandsregelungen, um zwei Beispiele zu nennen, die an Nationalität und Alter anknüpfen, Männer und Frauen unterschiedlich.
Plurale Dimensionierung sozialer Ungleichheit: Lebenslagen, Lebensführung, Lebensläufe Wesentliche Erkenntnisgewinne der o.a. Denkrichtung, nämlich die Bestimmung von sozialen Lagen nicht einfach mit Bezug auf Berufsposition oder Stellung im Produktionsprozess sondern mit Bezug auf Arbeitsmarktlagen wie auch die Anerkennung der Sozialrelevanz von Geschlechtszugehörigkeit, sind in jüngeren Ansätzen der Ungleichheitssoziologie in den 1980er und 1990er Jahren vielfältig aufgegriffen oder aber mit anderem theoretischem Rüstzeug ähnlich formuliert worden. Dabei zeichnen sich Bourdieus Konzeption der Reproduktion sozialer Ungleichhheit (vgl. Frerichs/Steinrücke 1993, Krais 2001) wie auch kritische milieutheoretische Ansätze (Vester 1998) dadurch aus, dass sie die kulturelle Reproduktion sozialer Ungleichheit betonen, ohne jedoch die nach wie vor strukturierende Wirkung von ökonomischer Positionierung bzw. Erwerbslagen zu relativieren. Neben diesen gesellschaftstheoretisch orientierten Ar-
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gumentationen gibt es in der jüngeren deutschen Ungleichheitssoziologie weitere Ansätze eher mittlerer Reichweite, die mit einer empirisch fundierten Theorieentwicklung zu einer höheren gesellschaftsdiagnostischen Aussagekraft von Ungleichheitsanalyse wie auch zur Klärung der Frage beitragen, worin die besondere sozial strukturierende Wirkung von Geschlecht besteht. Sie setzen auf der Mesoebene von Institutionen an und versuchen handlungs- wie strukturtheoretische Sichtweisen zu verbinden. Dabei erlauben die entwickelten Kategorien wie ‚Lebenslage‘, ‚alltägliche Lebensführung‘ oder ‚Lebenslauf‘ – mit jeweils unterschiedlichem theoretischen Hintergrund – eine räumlich und zeitlich kontextualisierte Rekonstruktion der Strukturierung sozialer Ungleichheit, mit der sich widersprüchliche Dynamiken aktuellen sozialen Wandels gerade auch im Hinblick auf das Geschlechterverhältnis plausibel diagnostizieren lassen. So ermöglicht ein Rekurs auf das Konzept der Lebenslage eine differenzierte Erfassung von Statuspassagen spezifischer sozialer Risiken und Handlungsoptionen, wie sich an der Lebensplanung junger Frauen zeigen lässt (Geissler/Oechsle 1996). Das in der Tradition der subjektorientierten Soziologie entwickelte Konzept ‚alltägliche Lebensführung‘ fokussiert die Verarbeitung sozialer Ungleichheit im Zusammenspiel von institutionellen Zwängen, normativen Mustern und individuellem Verhalten; in dieser Perspektive kommen sowohl Aushandlungsprozesse über Alltagsorganisation zwischen den Geschlechtern wie auch veränderte Erwerbsarbeitsregime und infrastrukturelle Versorgungsmöglichkeiten in den Blick (Jurczyk/Rerrich 1993, Weihrich/Voß 2002). In der sozialstrukturell orientierten Lebenslaufforschung schließlich kann mit einer systematischen Analyse der unterschiedlichen Verknüpfung von erwerbsorientierten und familienzentrierten Statuspassagen im männlichen und weiblichen Lebenslauf der Masterstatus von Geschlecht im Lebenslauf begründet werden. Deutlich wird, dass die Familie als Konfigurationsinstitution im männlichen wie im weiblichen Lebenslauf relevant ist, jedoch unterschiedliche Ungleichheitswirkung entfaltet. Gerade im bundesdeutschen Institutionensystem, das Bildungsressourcen und Erwerbsverläufe über differente Berufsausbildungswege (insbesondere die Trennung von schulischen und dualen Berufsausbildungen) unterschiedlich verknüpft, lassen sich geschlechtsspezifisch unterschiedliche Formen ‚prozessualer Ungleichheit‘ identifizieren, die mit den traditionellen Indikatoren der Sozialstrukturanalyse wie soziale Herkunft, Bildungsstand und Erwerbsposition in ihrer kumulativen oder kompensatorischen Dynamik nicht hinreichend erfasst werden (Krüger 1995).
Neue Dynamiken und Perspektiven: Exklusion, ‚Familiarisierung’ und Globalisierung sozialer Ungleichheit Die angeführten Ansätze tragen zu einer differenzierten Gesellschaftsdiagnose auch deshalb bei, weil sie neben der Annahme einer Verzeitlichung von Ungleichheit die handlungsprägende Kraft von Institutionen und Normen nicht einfach voraussetzen, sondern als offene Forschungsfrage behandeln (vgl. Born u.a. 1996). Seit Mitte der neunziger Jahre gewinnt neben der Untersuchung des temporären Charakters auch die Frage der Verfestigung sozialer Ungleichheit bis hin zu sozialer Exklusion an Bedeutung (Kronauer 2002), wobei als Mechanismen dauerhafter Reproduktion von Ungleichheit neben Erwerbslosigkeit vor allem die Rolle von Bildung, bzw. der Zusammenhang von Bildung und sozialer Herkunft, wieder neu ins Blickfeld rückt (Becker/Lauterbach 2004). Hier wie auch in weiteren Studien, die eine integrierte Betrachtung von Lebensform und Berufskarriere verfolgen, werden Frauen insbesondere bei sog. Doppelkarrierepaaren auch als ‚Modernisierungsgewinner‘ sichtbar. Mit dem Fokus auf Paarbeziehungen, Haushaltsführung und gemeinsame Lebensplanung (linked lives) wird neben der sozialstrukturierenden Wirkung von Homogamie auch die Bedeutung von häuslicher Arbeitsteilung, Aushandlungsprozessen um Zeit und Geld sowie Re-Definitionen von Liebe (zu Partnern und Kindern) für die soziale Positionierung von Männern und Frauen ‚im Privaten‘ wie in der Gesellschaft deutlich (Drobni/
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Blossfeld 2004, Wimbauer/Henninger/Gottwald 2007). Der ungleichheitssoziologische Blick auf Differenzierungen unter Frauen (nach Klasse, Ethnizität) gewinnt nicht zuletzt angesichts der Globalisierung von Arbeits-, Dienstleistungs- und Heiratsmärkten und dem Entstehen einer neuen transnationalen Dienstbotinnnenklasse an Bedeutung (vgl. u.a. Friese 1995, Hochschild/Ehrenreich 2002, Rerrich 2006). Diese neue räumliche Dimension trägt zu einer weiteren Komplexität ‚alter und neuer sozialer Ungleichheiten‘ bei (Berger/Vester 1998) und fordert die soziologische Forschung vielfältig heraus: zu einer stärkeren Berücksichtigung politischer und sozialer Strukturierung sozialer Ungleichheit (etwa durch Regelungen staatsbürgerlicher Zugehörigkeit und durch transnationale Netzwerke), zu gesellschafts- bzw. ländervergleichenden Forschungen wie auch zur Reflexion der sozio-kulturellen Grundlagen und wissenschaftlichen Konstruktion von sozialer Ungleichheit (vgl. u.a. Heidenreich 2006, Knapp 2005, Farzin 2006). Gerade weil die soziale Komplexität von Geschlecht steigt, bleibt sie theoretisch und empirisch als Analysekategorie wichtig. Verweise: Alltägliche Lebensführung Doppelte Vergesellschaftung Globalisierung Habitus und sozialer Raum Konstruktion von Geschlecht Modernisierungstheorien Systemtheorie
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Mechtild Oechsle, Birgit Geissler
Modernisierungstheorien: Anregungspotenziale für die Frauen- und Geschlechterforschung
Mit ‚Modernisierung‘ bezeichnen die Sozialwissenschaften in dreifacher Weise Prozesse des sozialen Wandels: Zum einen meint Modernisierung den säkularen Prozess der Herausbildung moderner Gesellschaften im Zusammenhang mit den industriellen und demokratischen Revolutionen, zweitens bezeichnet er die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Aufholprozesse der Gesellschaften der ‚zweiten‘ und ‚dritten‘ Welt und drittens wird er im Kontext der Beschreibung der aktuellen Veränderungsprozesse moderner Gesellschaften als „Modernisierung der Moderne“ verwendet (vgl. Zapf 1991, 1996; Beck/Bonß 2001). Bezogen auf den Prozess der Entstehung moderner Gesellschaften meint Modernisierung strukturell die Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme sowie der Formen sozialer Integration, kulturell die Prozesse der Rationalisierung und Wertegeneralisierung und auf der Handlungsebene Freisetzungs- und Individualisierungsprozesse. Modernisierungstheorien wollen also die Herausbildung und den ökonomischen und machtpolitischen ‚Vorsprung‘ des westlichen Gesellschaftstypus aus den Prozessen der Säkularisierung, Rationalisierung und Verwissenschaftlichung, der Demokratisierung und Alphabetisierung, der Technisierung, Industrialisierung und Tertiarisierung der Wirtschaft, schließlich der Urbanisierung und Pluralisierung der Lebensformen erklären. Stärker noch als der der Modernisierung ist der Begriff der Individualisierung (oft in simplifizierender Tendenz) in den alltäglichen Sprachgebrauch eingegangen. Individualisierung meint den Bedeutungsverlust „von Stand und Klasse“ (Beck 1986), von Familie und religiösem Glauben als das Handeln anleitenden und rechtfertigenden, Sinn gebenden Institutionen. Die Reichweite und Beschleunigung des sozialen Wandels führt zu Entbettungsprozessen (Giddens 1995), was dem Einzelnen auferlegt, sich kontinuierlich der Bedingungen seines Handelns neu zu vergewissern. Individualisierung unterstellt nicht die individuelle Steuerbarkeit des Lebens; Selbstverantwortung und „biographische Selbststeuerung“ (Geissler/Oechsle 1996) sind jedoch zentrale Bestandteile gesellschaftlicher Deutungsmuster zur modernen Lebensführung geworden. Auch wenn oft die Wahlmöglichkeiten zu stark betont und strukturelle Restriktionen ausgeblendet werden, so sind diese Deutungsmuster doch höchst wirkungsmächtig.
Soziologie als Theorie der Moderne Die Konzepte der Modernisierung und Individualisierung leiten die soziologische Theoriebildung und Gesellschaftsdiagnose von ihren Anfängen her an. Die Entstehung der Soziologie als reflexive Wissenschaft und die Verwissenschaftlichung der gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen sind untrennbare Elemente der Modernisierung selbst; Soziologie hat sich explizit als Theorie der modernen Gesellschaft von Philosophie, Geschichtswissenschaft und Nationalökonomie abgelöst. Auf diesen weiten Begriff von Moderne und Modernisierung, für den die Pro-
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zesse der gesellschaftlichen Differenzierung und der Autonomisierung des Individuums seit der Aufklärung, der französischen Revolution und der Industrialisierung zentral sind, wird in der aktuellen Theoriedebatte wieder Bezug genommen (vgl. dazu Wagner 1995). Mit einem engeren Begriff der Modernisierung wird – ausgehend von der amerikanischen Soziologie – seit den 1950er und 60er Jahren der Prozess der Verallgemeinerung des westlichen Gesellschafts- und Politikmodells benannt. Diese funktionalistische Modernisierungstheorie in der Tradition von Parsons (1951), Lerner (1968) und Anderen sieht seit dem geistesgeschichtlichen, wirtschaftlichen und politischen Epochenbruch im 18. und 19. Jahrhundert einen universellen und irreversiblen Prozess der Durchsetzung von (wirtschafts)liberalem Denken, Vernunft und Rechtsprinzipien in Gang, der sich wegen der immanenten Freiheits- und Wohlstandsgewinne weit über die westliche Welt hinaus verbreitet. Als grundlegende Institutionen, die modernen Gesellschaften Überlegenheit und internationale Attraktivität verleihen, sind Demokratie, Vertragsfreiheit und Rechtsgleichheit, Marktwirtschaft und Wohlfahrtsstaat, Wissenschafts- und Bildungssystem anzusehen. Auf der Seite der Individuen wird die Ausbildung von Leistungsorientierung, von Kompetenzen der Selbstorganisation, Selbstbestimmung und Partizipation als Folge und Bedingung von Modernisierung gesehen. In systematischer Betrachtung gilt Modernisierung dieser Theorietradition als „Steigerung der gesellschaftlichen Anpassungs- und Selbststeuerungskapazitäten, d.h. als positive Bilanz von steigenden Ressourcen und steigenden Belastungen“ (Zapf 1986: 368). Im Unterschied zu den Analysen etwa von Weber, der sehr früh die Ambivalenz der Moderne, die mit den Gewinnen der Moderne auch verbundenen Verluste und Gefahren thematisiert hat, bilanziert demnach die funktionalistische Modernisierungstheorie diese Prozesse positiv, das heißt als kontinuierlichen Fortschritt.
Frauen- und Geschlechterforschung – eine andere Beschreibung der Moderne Dieser Beschreibung der Moderne ist von der Frauen- und Geschlechterforschung mit Nachdruck widersprochen worden. Sie hat gezeigt, dass der modernen Gesellschaft eine von der Wissenschaft nicht thematisierte Geschlechterordnung zugrunde liegt (Klinger 2000), und dass die Familie mit ihrer Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern die „heimliche Ressource“ (Beck-Gernsheim 1991) moderner Gesellschaften darstellt. Dagegen erkennt die Frauenforschung in der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und der mit ihr verbundenen Ungleichheit im Geschlechterverhältnis konstitutive Bedingungen der modernen Gesellschaft. Die modernen Institutionen, insbesondere der mit dem Industriekapitalismus sich entwickelnde Arbeitsmarkt, das Bildungssystem und das System sozialer Sicherung setzen die von Frauen geleistete Haushalts- und Sorgearbeit voraus. Die Polarisierung der Geschlechtscharaktere als Aussagen über ‚natürliche‘ Eigenschaften von Frauen und Männern ist Ausdruck der modernen Trennung von öffentlicher und privater (Reproduktions-)Sphäre (Hausen 1978) und entwickelte sich in dieser Form erst mit der Durchsetzung der modernen Gesellschaftsverfassung. Die Institutionen der modernen Gesellschaft sind implizit – und damit sehr wirksam – als männliche Institutionen konstruiert worden; dabei gingen mit der Durchsetzung liberaler und demokratischer Werte in Politik und Öffentlichkeit und mit der sozial-kulturellen Individualisierung Exklusionsprozesse einher, die zugleich Abwertung und Missachtung der Interessen, Fähigkeiten und Leistungen von Frauen mit sich brachten. Zur Entwicklung der modernen Gesellschaft gehörte jedoch – ungeachtet der Grenzziehungen – auch eine verbreitete Zustimmung zu dieser Geschlechterordnung, weil mit den privaten Lebensformen positive Konnotationen des Unentfremdeten und nicht Rationalisierbaren verbunden werden (vgl. Klinger 2000, Jurczyk/Oechsle 2008). Die Versprechen der Moderne – wirtschaftliche und politische Freiheit und rechtliche Gleichheit – waren also entgegen ihrem Anspruch nicht wirklich universell, sondern partikular,
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insoweit war die Moderne eine „halbierte“ Moderne (Beck 1986). Die Geltung dieser liberalen Versprechen auch für die Frauen musste von den Frauenbewegungen erst erkämpft werden (Gerhard 1995). Die bis heute nach Geschlechtern unterschiedlich wirksame Inklusion in die grundlegenden Institutionen und die Weiterexistenz von strukturellen Zugangshindernissen wird von der klassischen Modernisierungstheorie übersehen oder als Übergangsproblem der noch nicht völlig durchgesetzten Modernisierung angesehen („nachholende Modernisierung“). Demgegenüber sind die neueren Modernisierungstheorien, insbesondere die Theorie reflexiver Modernisierung, ohne diese aus der Frauenforschung kommende Kritik nicht zu verstehen. Die Ausblendung der Geschlechterordnung als Bestandteil der Moderne in klassischen Modernisierungstheorien hat ganz wesentlich dazu beigetragen, dass Modernisierungstheorie und feministische Gesellschaftsanalyse in Teilen der Frauen- und Geschlechterforschung als „gegenläufige Selbstbeschreibungen der Moderne“ gelten (Aulenbacher 2001: 189). Die Gegenläufigkeit der beiden Theorietraditionen bezieht sich demnach auf das Verhältnis von Affirmation und Kritik in der Analyse und Reflexion der Moderne. Während die klassische Modernisierungstheorie den westlichen Weg gesellschaftlicher Entwicklung als evolutionär überlegen und daher alternativlos ansieht, fragt die feministische Theorie nach Potenzialen gesellschaftlicher Veränderung; die evolutionären Universalien werden als androzentrisch konnotiert und damit als partikular angesehen (Aulenbacher 2001, 2005). Die „theoriepolitische Gegenläufigkeit“ (Aulenbacher 2001: 190), die Aulenbacher dem Verhältnis von Modernisierungstheorie und feministischer Theorie bescheinigt, gilt sicher für modernisierungstheoretische Ansätze in der Tradition von Parsons, dessen Beschreibung moderner Gesellschaften jedoch im Kontext der historisch-gesellschaftlichen Situation der Nachkriegszeit gesehen werden muss. Daraus auf eine prinzipielle Unverträglichkeit von feministischer Theorie und Modernisierungstheorie zu schließen, würde mögliche Erkenntnispotenziale aktueller modernisierungstheoretischer Ansätze für die Frauen- und Geschlechterforschung ungenutzt lassen.
Die Kontingenz und Vielfalt der Moderne – neuere Theorien zur Entwicklung der modernen Gesellschaft Seit den 1990er Jahren gibt es eine Renaissance von Ansätzen, die sich auf die Analyse aktueller Modernisierungsprozesse richten. Dabei rücken nun die Ambivalenzen der Moderne (Wagner 1995, Bauman 1995), die Vielfalt (Eisenstadt 2000), die Beschleunigung als „selbstantreibender Prozess“ (Rosa 2005), die Uneindeutigkeit von Handlungskontexten, Ungewissheit und Vertrauensverlust (Giddens 1995) und – allgemeiner – die Kontingenz der Moderne in den Mittelpunkt der Überlegungen (vgl. auch Knöbl 2001). Ihnen gemeinsam ist der Versuch, aktuelle Transformationsprozesse als „Modernisierung moderner Gesellschaften“ (Beck 1991) empirisch wie theoretisch zu fassen. In Abgrenzung zur Postmoderne-Diagnose werden aktuelle Entwicklungen in den fortgeschrittenen Industriegesellschaften innerhalb des Paradigmas der Moderne situiert. Trotz einiger Differenzen in der Einschätzung der Veränderungsprozesse ist den neueren Ansätzen gemeinsam, dass sie diese als Diskontinuität, ja als Epochenbruch innerhalb der Moderne begreifen. Wagner spricht von einer „zweiten Krise“ der Moderne, Giddens von einer „radikalisierten Moderne“ und Beck von einer „zweiten Moderne“, die sich in der Folge der Spannung zwischen den freiheitlichen Prinzipien und den Institutionen der (ersten) Moderne entwickelt. Im Unterschied zu den Ansätzen der 1950er/60er Jahre, die davon ausgingen, dass Prinzipien und Institutionen der Moderne in den westlichen Gesellschaften einen Reifegrad erreicht hatten, der ihre Ausdehnung auf ‚zurückgebliebene‘ Länder legitimiert, werden heute eher die immanenten Widersprüche thematisiert: Vernunft als (Selbst-)Disziplinierungsmittel, Exklusion und Entfrem-
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dung durch Institutionen und Grenzen der rationalen Steuerung sozialer Prozesse. So betont Wagner (1995) in seiner historisch-systematischen Analyse die Ambivalenz der Modernisierung. Der liberalen Utopie der Freiheit und den Partizipationsinteressen der Bürger stehen Machtstrukturen und Disziplinierungsmechanismen gegenüber. Welche individuellen Freiheitschancen bestehen und welche gesellschaftlichen Praktiken zu Gleichheit, Demokratie und Wohlstand führen können, muss am konkreten Fall analysiert werden; die These der universellen Geltung dieser Prinzipien und Praktiken kann so nicht aufrecht erhalten werden. In der deutschsprachigen Soziologie prominent und zugleich Anlass für Kontroversen ist die seit Mitte der 1980er Jahre von Beck entwickelte Theorie reflexiver Modernisierung, die auf die theoretische Analyse des Epochenbruchs innerhalb der Moderne zielt. Die zentrale These ist, dass die Institutionen, die sich im säkularen Prozess der Modernisierung herausgebildet haben, durch die Dynamik der Moderne selbst transformiert werden. Demnach untergräbt die weitergehende Modernisierung moderner Gesellschaften die mit der ersten Moderne entstandenen Institutionen. Die damit verbundenen Widersprüche lassen sich im Rahmen industriegesellschaftlicher Strukturen nicht lösen; es entsteht eine „zweite Moderne“, die sich in ihren Institutionen und Prozessen grundlegend von denen der ersten Moderne unterscheidet (Beck 1996). Neben der Risikoproduktion moderner Gesellschaften und ihrer Bedeutung für die Entstehung der zweiten Moderne sind es vor allem die Veränderungen im Geschlechterverhältnis und in den Lebenslaufmustern, an denen Beck seine These entfaltet. Explizit thematisiert er die hierarchische Ordnung der Geschlechter als konstitutiv für die Struktur moderner (Industrie-)Gesellschaften. Charakteristisch für diese „halbierte Moderne“ ist es, dass Frauen qua Geschlecht aus zentralen Institutionen der modernen Gesellschaft und dem Zugang zu ihren Ressourcen, Risiken und Handlungsspielräumen ausgeschlossen sind. Sie unterliegen damit einem „modernen Ständeschicksal“, das in fundamentalem Widerspruch zu den Prinzipien der Moderne steht. Im Gegensatz zu älteren modernisierungstheoretischen Annahmen geht Beck aber nicht davon aus, dass die zunehmende Integration von Frauen in Bildung, Arbeitsmarkt und Politik schlicht als „nachholende Modernisierung“ gefasst werden kann. Die Gleichstellung von Frauen und Männern „ist nicht in institutionellen Strukturen zu schaffen, die die Ungleichstellung von Männern und Frauen voraussetzen“ (Beck 1986: 181).
Modernisierungstheoretische Ansätze in der Frauen- und Geschlechterforschung Die Individualisierungsthese von Beck und die Theorie reflexiver Modernisierung sind innerhalb der Frauen- und Geschlechterforschung stark umstritten. Stärker strukturtheoretisch orientierte Ansätze werfen Beck die Vernachlässigung nach wie vor bestehender sozialer Ungleichheit zwischen den Geschlechtern vor (Gottschall 2000), ebenso wie ein reduktionistisches Verständnis vom Geschlechterverhältnis als Strukturzusammenhang (Beer 1992, Aulenbacher 2001, 2005). Diese Kritik trifft sich mit der anderer Soziologen, die Beck begriffliche Unschärfen und falsche Verallgemeinerungen vorwerfen (Münch 2002) und Individualisierung auf bestimmte Milieus und privilegierte Gruppen beschränkt sehen (vgl. Burkart 1993). Mit dieser Kritik ist die Frage verknüpft, ob Individualisierungsprozesse zu einem Abbau tradierter Ungleichheitsmuster führen oder ob es nicht Indizien für weiter bestehende oder sogar zunehmende soziale Ungleichheiten gibt (vgl. Geißler 1996). Zum anderen wird der Individualisierungsthese vorgeworfen, sie leiste der Illusion über die Machbarkeit und Steuerbarkeit des eigenen Lebens Vorschub. Trotz dieser Kritik ist die Individualisierungsthese inspirierender Ausgangspunkt für eine Reihe von empirischen Studien in der Frauen- und Geschlechterforschung gewesen, die Veränderungen in der Lebensführung, im Lebenslauf und im Selbstverständnis vor allem der jüngeren Frauengeneration untersucht haben. Bereits 1983 hat Beck-Gernsheim in ihrem zum Klassiker
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gewordenen Aufsatz „Vom ‚Dasein für andere‘ zum Anspruch auf ein Stück ‚eigenes Leben‘“ Individualisierungsprozesse im weiblichen Lebenszusammenhang analysiert und war damit maßgeblich an der Formulierung der Individualisierungsthese beteiligt. Diezinger (1991) beschreibt die mit der Erwerbsintegration von Frauen einhergehenden Veränderungen der Selbstwahrnehmung und Lebensführung von Frauen als „kontrollierte Individualisierung“, eingebunden in Strukturen geschlechtshierarchischer Arbeitsteilung und in eine patriarchale Kodierung von Liebe, die von einem „harmonischen Ungleichgewicht“ der Geschlechter ausgeht. Auch die Theorie der reflexiven Modernisierung diente, wenn auch nicht unkritisch, als theoretischer Bezugspunkt für eine Reihe von empirischen Untersuchungen über Lebensläufe und Lebensführung von Frauen. Die Studie von Geissler und Oechsle (1996) beschreibt Veränderungen in der Lebensführung und den Lebensläufen junger Frauen als einseitige und deshalb widersprüchliche Modernisierung des Frauenlebens, bei der trotz zunehmender Erwerbsintegration von Frauen ihre nachrangige Einbindung in die wohlfahrtsstaatlichen Institutionen (vgl. auch Geissler 2004) und die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern unverändert bleibt. Da die „doppelte Lebensführung“ von Frauen nicht als Normalbiografie institutionalisiert ist, sind Frauen mit der Aufgabe konfrontiert, den eigenen Lebenslauf selbst zu ‚erfinden‘. Individualisierung meint in diesem Kontext die strukturell erzeugte Anforderung an biografische Selbststeuerung. Dies ist zwar ein generelles Merkmal moderner Gesellschaften, wird aber Frauen im Zuge ihrer doppelten Vergesellschaftung (Becker-Schmidt 1987) in besonderem Maße abverlangt. Während sich die Studie von Geissler und Oechsle auf die Planung und Gestaltung biografischer Zeit bezieht, wird in einer etwa gleichzeitig durchgeführten Studie der Wandel in der Gestaltung der alltäglichen Lebensführung untersucht (Jurczyk/Rerrich 1993). Veränderungen in der Lebensführung von Frauen werden hier als patriarchale Modernisierung (Jurczyk 2001) gedeutet, die mit einer zunehmenden Ausdifferenzierung innerhalb der Gruppe der Frauen einhergeht und die weibliche Zuständigkeit für die Sorgearbeit zwischen Frauen (ungleich) verteilt (Diezinger/Rerrich 1998). Auch in der feministischen Analyse wohlfahrtsstaatlicher Geschlechterpolitik finden sich modernisierungstheoretische Bezüge und Argumentationsmuster, vor allem dann, wenn der Fokus auf längerfristige Wandlungstendenzen gerichtet ist und sich nicht auf die Analyse aktueller Politiken beschränkt. Diese Veränderungstendenzen in der Geschlechterpolitik europäischer Wohlfahrtsstaaten und im Geschlechter-Arrangement werden als Modernisierungsprozesse beschrieben, die, in Abhängigkeit von kulturellen Leitbildern, historischen Traditionslinien und Aushandlungsprozessen zwischen verschiedenen kollektiven Akteuren, entlang divergierender Entwicklungspfade verlaufen können. Diese Modernisierungsprozesse lassen sich als divergierende Konfigurationen von zunehmender Erwerbsintegration und Förderung der Gleichstellung von Frauen, aber auch fortbestehender geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung und widersprüchlicher kultureller Leitbilder analysieren (Pfau-Effinger 2001). Auch für die Analyse des Wandels kultureller Geschlechtercodes und geschlechtsbezogener Identitätskonstruktionen können modernisierungstheoretische Bezüge fruchtbar gemacht werden. So untersuchen Buchmann und Eisner auf dem Hintergrund modernisierungstheoretischer Annahmen den Wandel des kulturellen Selbstverständnisses der Geschlechter am Beispiel von Heiratsanzeigen. Sie analysieren die Veränderungstendenzen als sich überlagernde Prozesse der Auflösung polarer Geschlechtercodes bei gleichzeitiger Reproduktion kultureller Geschlechterdifferenzen (in allerdings abgeschwächter Form) sowie den Gestaltwandel von Geschlechtercodes, der ebenfalls dazu beiträgt, kulturelle Geschlechterdifferenzen abzuschwächen (Buchmann/Eisner 2001). In dieser Perspektive erscheint die Moderne als „langer Bogen der Ausgestaltung, Hegemonie und Zerfall des bürgerlichen dualen Geschlechtermodells“ (ebd.: 77), ohne dass (im „Zerfall“) die Geschlechterdifferenzen deshalb gänzlich verschwinden. Systemtheoretisch orientierte Ansätze innerhalb der Geschlechterforschung gehen von einer abnehmenden Bedeutung von Geschlecht für Modernisierungsprozesse aus. Funktionale Differenzierung führe zu einer zunehmenden „Dethematisierung von Geschlecht“ (Pasero 1995), die
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Geschlechterdifferenz sei nicht mehr funktional für moderne Gesellschaften (Weinbach/Stichweh 2001). Heintz konstatiert eine De-Institutionalisierung der Geschlechterdifferenz, die dazu führt, dass die Geschlechterdifferenz kein einheitliches Ordnungsprinzip mehr ist, sondern zunehmend von kontextspezifischen Bedingungen abhängig wird (Heintz 2001, vgl. auch Heintz u.a. 1997). Aktuelle Studien der Frauen- und Geschlechterforschung betonen vor allem Widersprüche und Ungleichzeitigkeiten in der Entwicklung der Geschlechterverhältnisse und weisen darauf hin, „dass wir es heute mit beidem zugleich zu tun haben: Mit der Erosion und der Reproduktion geschlechtlicher Differenzierungen und Hierarchien“ (Wetterer 2007: 189). Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Analyse widersprüchlicher Tendenzen und teilweise gegenläufiger Entwicklungen im Bereich kultureller Leitbilder, organisationaler Praktiken und struktureller Geschlechterarrangements in ihrer widersprüchlichen Verknüpfung von Erwerbsarbeit und privatem Lebensbereich (Wetterer 2003, 2007; Krüger 2006).
Geschlechterforschung und Modernisierungstheorie – Anregungspotenziale statt theoriepolitischer Unverträglichkeit Wie diese Auswahl an Studien zeigt, sind feministische Gesellschaftsanalyse und Modernisierungstheorie nicht unvereinbar. Geht man von einem Spannungsverhältnis zwischen den als universell gedachten Prinzipien der Moderne und ihrer gleichzeitigen Eindämmung aus, dann lässt sich auf diesem Hintergrund der kollektive Kampf der Frauen um Teilhabe an den Institutionen der Moderne ebenso erklären wie das Gleichheitsverständnis vor allem der jüngeren Frauengeneration. Die zunehmende Integration von Frauen in Bildung, Erwerbsarbeit und Politik kann zunächst durchaus als nachholende Modernisierung analysiert werden; zumindest trifft diese Denkfigur das Bewusstsein vor allem der jüngeren Frauengeneration, die sich im Vergleich zu früheren Frauengenerationen als weitgehend gleichgestellt erlebt. Noch bestehende Ungleichheiten werden eher als ‚Altlast‘ wahrgenommen, die sich im Zuge weiterer Modernisierungsprozesse gleichsam von selbst auflösen wird, denn als anhaltende und strukturell bedingte soziale Ungleichheit zwischen den Geschlechtern. Für die meisten Mädchen und jungen Frauen ist ‚Individualisierung‘ ein Deutungsmuster, auf das sie sich positiv beziehen und das subjektiv wie objektiv Handlungsspielräume für sie schafft. Der Bezug auf Geschlecht als Strukturkategorie scheint ihnen dagegen wenig zur Erklärung ihrer Erfahrungen beizutragen. Der jüngeren Generation fehlt die biografische Erfahrung des offen hierarchischen, ‚patriarchalischen‘ Geschlechterverhältnisses, des Ausschlusses von Frauen aus Bildung, qualifizierter Erwerbsarbeit und Politik. Viele der von der Frauenbewegung erkämpften Erfolge sind für sie heute selbstverständlich; viele feministische Forderungen bleiben ihnen daher fremd (Geissler/Oechsle 2000). Dieses Bewusstsein der jüngeren Frauengeneration trifft sich mit einem dominanten gesellschaftlichen Deutungsmuster, das „Selbstkontrolle, Selbstverantwortung und Selbststeuerung“ (WohlrabSahr 1992: 28) betont und Ungleichheit im Status und den Lebenschancen dem Einzelnen als Folge individueller Entscheidungen zurechnet. Die Beschreibung des Wandels in der Lebenslage und der Lebensführung von Frauen als nur nachholende Modernisierung verkennt allerdings die gesellschaftliche Relevanz und Reichweite dieses Prozesses. Vielmehr ist davon auszugehen, dass mit der Durchsetzung rechtlicher Gleichheit und im Zuge der zunehmenden wirtschaftlichen und politischen Teilhabe von Frauen neue Konstellationen von Lebensformen, Machtverhältnissen und Geschlechterbeziehungen entstehen, die die Institutionen der (ersten) Moderne nicht unberührt lassen (Beck 1986, 1996; Castells 2002). Die empirische wie theoretische Analyse der damit einhergehenden Verwerfungen und Transformationen moderner Gesellschaften ist eine der wichtigsten Herausforderung für die Frauen- und Geschlechterforschung der nächsten Jahre, zumindest dann, wenn sie den Anspruch
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hat, in ihrer gesellschaftstheoretischen Fundierung und ihren politischen Implikationen auf der Höhe der Zeit zu sein (Nickel 2003). In ihrer kritischen Auseinandersetzung mit Modernisierungstheorien weist Aulenbacher (2005) auch auf Leerstellen in der feministischen Theorie hin. Den gegenwärtige Stand der feministischen Theoriebildung sieht sie vor allem durch „kategoriale Einsprüche“ gegen geschlechtsindifferente Gesellschaftsanalysen charakterisiert, während „eigenständige zeitdiagnostische Betrachtungen eher punktuell“ geblieben seien (Aulenbacher 2005: 106). Eine differenziertere Auseinandersetzung mit neueren modernisierungstheoretischen Ansätzen und einer Soziologie der Moderne könnte dazu beitragen, das zeitdiagnostische Potenzial der Geschlechterforschung stärker zu konturieren und den Blick für die Ambivalenzen und Ungleichzeitigkeiten aktueller Veränderungsprozesse im Geschlechterverhältnis zu schärfen. Beispielhaft sei hier auf Kahlert (2006) verwiesen, die in ihrer Re-Lektüre von Giddens’ Strukturierungstheorie wichtige Anschlussstellen für eine „geschlechtskategoriale Theorie der Moderne“ aufzeigt, die es ermöglicht, die „Verfasstheit moderner Gesellschaften und der modernen Geschlechterverhältnisse in ihrer Kontinuität und ihrem Wandel zu analysieren“ (Kahlert 2006: 206). „Optionen für eine gendersensible Modernisierungstheorie“ entwickeln auch Degele und Dries (2005: 206), indem sie Ver- und Entgeschlechtlichung als zentralen Faktor in ein Modell integrieren, das Modernisierung als „multidimensionalen, ambivalenten und paradoxen Entwicklungsprozess“ (ebd.: 28) begreift. Der Vorteil ihres Modells liegt darin, dass es nicht mit der theoretischen Hypothek eines Epochenbruchs innerhalb der Moderne behaftet ist, sondern im Rahmen eines Konzepts von Spätmoderne argumentiert (ebd.: 31ff.). Ein solches Konzept könnte geeignet sein, sowohl die Kontinuität der wesentlichen Strukturmerkmale der Moderne als auch qualitative und quantitative Veränderungen im Rahmen aktueller Modernisierungsprozesse ebenso wie die Ungleichzeitigkeit von Kontinuität und Wandel im Geschlechterverhältnis zu erfassen. Verweise: Alltägliche Lebensführung Doppelte Vergesellschaftung Junge Frauen Lebenslauf Soziale Ungleichheit
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Helga Krüger
Lebenslauf: Dynamiken zwischen Biografie und Geschlechterverhältnis
Forschungsvariationen und die Geschlechterfrage Die Geschlechterforschung hat bei der empirischen Spurensuche in Längsschnittbetrachtungen häufig qualitativ erhobene biografische Narrative in den Mittelpunkt ihres Interesses gerückt (vgl. Dausien 1996, Geissler/Oechsle 1996, Koppetsch/Burkart 1999). Der Lebenslauf oder auch -verlauf – er reicht von der Wiege bis zur Bahre – gibt seinerseits Auskunft über die gesellschaftliche Rahmung von Biografien. Zwei Zugänge liegen vor: Während sich die Lebensverlaufsanalyse, auf standardisierte und oftmals als Kohortenvergleich angelegte Längsschnittdaten gestützt, vorrangig Effekten von Lebensereignissen (wie Scheidung, Aufstieg, Arbeitslosigkeit) über die biografische Zeit widmet, verknüpft die Lebenslaufanalyse häufig qualitative und quantitative Erhebungsmethoden miteinander und konzentriert sich auf Standardisierung/Labilisierung von Lebensphasen, Lebensabschnitten und sozialen Positionen (etwa: die immer mehr Lebensjahre umfassende Jugend-, die immer kürzer werdende Erwerbs-, die an Lebensjahren reicher werdende Ruhestandsphase) oder auf Übergänge von einem Lebensabschnitt zum nächsten (etwa: Flexibilisierungen und Verwerfungen des Übergangs von Allgemeinbildenden in Berufsbildende Schulen, vom Ausbildungs- oder Studienabschluss in entsprechende Arbeitsmarktpositionen, von Erwerbsarbeit in den Ruhestand usw.). Gerade die seit rund 20 Jahren erstarkende Lebenslaufanalyse belegt sehr gut die historisch tradierte Gestaltung und politische Gestaltbarkeit von Geschlechtergleichheit oder -differenz in männlichen und weiblichen Erwerbs- und Familienverläufen. Sie zeigt auf, dass Geschlecht a) ein Strukturgeber in der Gestaltung gesellschaftlicher Ordnung und b) eine kulturelle Feldbestimmung mit weitreichenden Interpretationsvorgaben ist (vgl. Born/Krüger 2001, BeckerSchmidt 1994, 1987; Beer 1990, Gildemeister/Wetterer 1992, Knapp/Wetterer 2003, Knapp 2001, Leisering 2003). Geschlecht als Strukturgeber für Ordnung ist oft keineswegs kongruent mit Geschlecht als kultureller Feldbestimmung; doch beide zusammengenommen bieten die Chance, Modernisierungsambivalenzen und ihre Folgen rund um die Praxis der Geschlechter aufzudecken. Im Ländervergleich zeigen sich erhebliche Unterschiede in der Regelungsdichte und -typik von gesellschaftlichen Ordnungssystemen. So weist das deutsche Lebenslaufregime eine relativ „harte“ gesellschaftliche Rahmung auf durch die politisch gesicherte Etablierung von Entsprechungen zwischen Bildungs- und Beschäftigungsniveaus, Tarifansprüchen und Rentensystemen usw., die jedermann und jede Frau biografisch einfangen. In Deutschland fungiert die Erwerbsarbeit als Strukturgeber des Gesamtverlaufs, denn dieser gliedert sich in eine auf Erwerbspositionen vorbereitende Bildungs-, eine erwerbsaktive und schließlich eine auf die Erwerbsarbeit rückbezogene Ruhestandsphase (vgl. zuerst Kohli 1985). In der US-amerikanischen Tradition, einem Land mit schwacher Lebenslaufrahmung, spielen z.B. Ordnungsmuster wie Altersgraduierungen, historische Verwerfungen und Kohortenschicksale, Geschlechter- und Paarverläufe als biografische Verknüpfungen eine prägende Rolle (vgl. im Überblick: Heinz/Krüger 2001, Levy u.a. 2005, Marshall/Mueller 2003). In der deutschen Tradition sind diese Sichtweisen zwar durchaus einflussreich (vgl. Blossfeld 1986, Buchmann 1989, Mayer 1986), aber – mit wenigen
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Ausnahmen (vgl. Huinink 1991) – zugleich spezifisch eingefärbt durch den erwerbszentrierten Blick (vgl. Solga/Wimbauer 2005). Die Erweiterung der Analyse auf den Sozialstaat (vgl. Allmendinger/Hinz 1998, Allmendinger 1994, Kulawik 1999, Ostner 1995, Pfau-Effinger 1999) legt frei, wie sehr auch dessen Prinzipien erwerbsarbeitszentriert gelagert sind. Ein für die Geschlechterforschung gravierender theoretischer wie empirischer Effekt liegt darin, dass in der US-amerikanischen Tradition die Familie neben der Erwerbsarbeit von Beginn an eine große Rolle gespielt hat (vgl. Blossfeld/Drobni 2001, Elder/O’Rand 1995, Elder 1974, Foner/Kertzer 1978, Hagestad/Neugarten 1985, McMullin 1995, Moen 2003, Ryder 1965), während die Familie in der deutschen Sichtweise als von der Erwerbsarbeit abgeleitete und nur für Frauen strukturgebende Größe gilt. Hiernach stellt sich der weibliche Lebenslauf als von der männlichen Erwerbskarriere abweichender und unterbrechungsanfälliger Verlauf mit familial bedingten Sonderregelungen dar. Die Geschlechterfrage greift, so diese Sichtweise, erst als Familienverhältnis in den Lebenslauf ein, in der Konfiguration des ernährenden Vaters und der familienversorgenden Mutter (vgl. kritisch hierzu: Becker-Schmidt 1994, Krüger 2003, Leisering 2003, Levy 1996). Der Reiz dieser Betrachtung liegt empirisch in der Verbindung von Makro-, Meso- und Mikro-Dynamiken über die biografische Zeit, der theoretische Gewinn in der Identifizierung von Geschlecht als Ordnungsprinzip des Lebenslaufs, das durch subjektive (Gegen-) Entschlossenheit kaum individuell auszuhebeln ist. Und schon im gewählten Forschungsansatz selbst steckt oft auch die Entscheidung darüber, welche Bausteine zur Verfügung gestellt werden, um Einblick in die gesellschaftlichen Verhältnisse zu erhalten. So bietet der erwerbszentrierte Ansatz bei aller eingrenzenden Fokussierung auf den Arbeitsmarkt dennoch einen wichtigen Akzent: Er erweitert die Lebenslaufforschung um den Zusammenhang von Lebenslauf und Institutionen und rückt damit die Geschlechterfrage als Gegenstand politisch-institutionaler Steuerungen ins Blickfeld.
Die institutional gestaltete Geschlechterdifferenz Die als ‚Institutionenansatz‘ in der Geschlechterforschung bekannt gewordene Lebenslaufanalyse stellt heraus, dass sich die Geschlechterfrage – sozusagen oberhalb des aktuellen Handelns – in der Leistungs- und Funktionslogik der lebenslaufrelevanten Institutionen verankert hat (vgl. Krüger 2001, 2006). Hiernach gestalten Institutionen nicht nur den Lebenslauf von Individuen, sondern in der Art und Weise, wie sie dieses tun, „unterstellen, produzieren und gestalten sie auch ein Geschlechterverhältnis, das Individualisierung mit Interdependenz verknüpft“ (Krüger 2001: 260). Als Institutionen gelten ja nicht nur Ordnungs- und Wertesysteme, etwa ‚die Bildung‘ oder ‚die Familie‘ oder ‚der Arbeitsmarkt‘ usw., sondern auch deren konkrete Erscheinungsformen wie etwa: – dreigliedriges Schulsystem mit Abschlüssen auf dem höchsten Niveau, die jungen Frauen viele Jahre lang vorenthalten wurden, – Familie mit geschlechtsspezifischen Zuständigkeiten in vielfältigen Lebensformen, – Arbeitsmärkte als Hierarchie- und Berufsstruktur usw. Für die Gestaltung des Lebenslaufs spielen die hieran gebundenen sozialen Platzierungen ebenso eine Rolle wie die Verzahnung zwischen Institutionen. So regelt sich z.B. die Beziehung von Schule, Arbeitsmarkt und Rentensystem über den in der jeweiligen Institution erreichten Leistungsnachweis – ohne Rücksicht auf dazwischen geschobene Familienzeiten. Die ‚LebensläuferInnen‘ werden über diese Zertifikate von einer zur nächsten Institution durchgereicht, mit kumulativen Effekten bis in den Ruhestand hinein, die jedoch positiv nur dann kumulieren, wenn keine Auszeiten oder Unterbrechungen vorliegen (vgl. Krüger/Levy 2001).
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Die Institution Familie hingegen weist nicht dieses lineare Ablauf- und Belohnungssystem auf, sondern konstituiert sich in konzentrischen Kreisen um die Familienmitglieder. Diese wiederum sind extern jeweils in andere Institutionen eingebunden, und hierüber wird die Familie Teil des Supportverbundes von Kindertagesstätten, Schulen, Krankenhäusern, Altenbetreuung, Ämtern, Geschäften usw. (vgl. Geissler/Oechsle 2001). Und während die altersbiografisch aufeinander folgenden Institutionen ihr bestes Passstück umstands- und problemlos im Individualisierungstheorem der Postmoderne finden, lenkt der Blick auf Familie und familialen Support das Augenmerk auf Beziehungsstrukturierungen und Präsenzregeln zwischen Familienmitgliedern, auf komplementär gedachte Rollen etwa von Eltern und Betreuungseinrichtungen, zwischen Familienernährer – Familienerhalterin – Kind, auf Konfigurationen der Beteiligung in Doppelrollen, etwa als Kunde/in oder Beschäftigte/r, als Abhängige/r oder Selbstgestaltende/r usw. Dass auch hier keine Beliebigkeit gesellschaftlicher Positionsübernahmen herrscht, sondern sich fest gefügte Zuständigkeiten einschleifen, verdanken wir der Geschlechterordnung in der Handlungslogik dieser Institutionen (vgl. Douglas 1987). Drei soziale Tatbestände verdienen hier besondere Aufmerksamkeit: a) Jene Institutionen, die sich wie eine Perlenschnur auf der Achse des Älterwerdens aufreihen und den Lebensverlauf per jeweils erreichter Leistung bis ins Rentensystem hinein beeinflussen, weisen zugleich interne Segmentierungen auf. Diese in ihrer Gesellschaftsrelevanz segmentationstheoretisch gut erklärbare und seit der Gründung des Sozialstaats implementierte strukturelle Praxis der Differenz lenkt, ganz jenseits von individueller Leistung, den Lebenslauf in männlich oder weiblich konnotierte Felder mit eigenwilligem Arbeitsmarktbezug (vgl. Born 2000, Dorn/Rozema 1992, Gottschall 2000, 1995). So bietet die an die Allgemeinbildung anschließende Berufliche Bildung ein duales und ein bald ebenso umfangreiches Schulberufssystem an (vgl. Krüger 2004, 1991; Stooss 1997). Während das duale System per Lehrlings- und Tarifvertrag in männlich stereotypisierten Berufen familienernährende Langfristbeschäftigungsverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt verspricht, folgen die Vollzeitschulen dem Grundmuster der Ausbildung für Assistenzberufe, für Berufe ohne Aufstiegswege oder für an die Mutterschaft angelehnte Berufe des Erziehens, Pflegens, Versorgens, der Gesunderhaltung – der personenbezogenen Dienstleistungsberufe also, deren Verschleißcharakter für die dort Beschäftigten gut belegt ist (vgl. Heinz/Thiessen 2003, Flieder 2002). Frauenberufe im dualen System nehmen eine Zwitterstellung ein. b) In dieser Segmentation, die quer zu der bisher empirisch und theoretisch viel diskutierten Segmentierung in Rand- oder Stammbelegschaften oder in Arbeitsmarktsektoren (Agrar-, Industrie-, Verwaltungs-, Dienstleistungssegmente) läuft, liegt eine sozialstaatlich begründete, seit der vorletzten Jahrhundertwende ‚ererbte‘ und nach Phasen der Aufweichung immer wieder verfestigte Geschlechterpolitik (vgl. Gottschall 1990, Hess-Diebäcker/SteinHilbers 1998, Mantl 2006, Schütze 1986). Sie legt jungen Mädchen nahe, statt der explizit Jungen vorbehaltenen Bildung für Berufe mit Langfristcharakter die Existenzsicherung über Heirat zu ‚regeln‘, und zwar nicht nur moralisch, sondern auch durch Bildungsstrukturierung, und in der Ehefrauen- und Mutterrolle aufzugehen. Drei ökonomische Kalküle addierten sich hier zu einem Prinzip: die Orientierung der Gewerkschaften an einer Lohnhöhe (nur) für Männerberufe, die eine ganze Familie zu Hause ernährt (vgl. Kulawik 1999); die arbeitgeberseitige Nutzbarkeit von Frauen in ‚fristigen‘ (oder Teilzeit-) Beschäftigungsverhältnissen (vgl. Bednarz-Braun 1983); die Einsparungsmöglichkeiten von Sozialkosten durch die über den Mann ernährte Frau zu Hause (vgl. Daly 2000, Ostner 1995). c) Die Tatsache, dass im mittleren Erwachsenenalter ein ganzes Bündel von Institutionen gleichzeitig ihre Verfügbarkeits- und Verantwortlichkeitsansprüche formulieren, wirft ihre Schatten weit vor Eintritt der konkreten Familiengründung voraus. Der Arbeitsmarkt einerseits und die Familie samt ihrer Supportsysteme andererseits, beide von den jeweiligen Institutionen bisher ohne Rücksicht aufeinander und als nicht vereinbar mit der je anderen
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organisiert, sind bei bestehenden Organisationsmodellen reibungslos nur durch ‚Exklusivverträge‘ mit der einen und der anderen Person zu bedienen. Ähnlich wie in den oftmals Schulgeld fordernden statt Lehrlingsentgelt zahlenden Vollzeitschulausbildungen begegnen wir auch hier einer ‚Geschlechtergeschichte‘ mit historisch tiefgefrorenen Lösungen. Denn so wie sie kontextualisiert sind – der Arbeitsmarkt durch Lohn, Gleichschaltung der Arbeitszeiten und Segmentierung der Berufe, die familialen Support-Institutionen durch Zeitlage und -begrenzung der Angebotsseite –, bieten sich eigentlich nur Lösungen durch Spezialisierung der Paare an, kaum aber die Vereinbarkeit beider Felder in einer Person – es sei denn durch politisch gewollte Veränderungen der Rahmenbedingungen auf beiden Feldern des Lebensverlaufs (vgl. Bertram u.a. 2006). Die Familienungleichheit kann durchaus als Ergebnis von Sozialisation, von Selbstkonstruktion, normativen Bindungen und Liebe entstehen, wenn sie denn kongruent sind mit dem bestehenden Lebenslaufregime. Ihre Basis aber ist, ganz jenseits von subjektiven Gegenbemühungen, strukturell darin begründet, dass die Kategorie Geschlecht einen das Leben ab dem Jugendalter sozialstrukturell durchziehenden Kontext liefert, dem man sich weder in Phasen der SingleExistenz noch in privaten Umdefinitionen der Geschlechterkonfigurationen entziehen kann. So nimmt es nicht wunder, dass junge Frauen (spätestens seit 1982, vgl. Allerbeck/Hoag 1985, Geissler/Oechsle 1996, Seidenspinner/Burger 1982) sich zwar partnerschaftliche Umverteilungen der traditionellerweise Frauen zugewiesenen Arbeit wünschen, dass sich die Realität dann aber doch dreht – und um der Beziehung willen durchaus mit beidseitigem Einverständnis (vgl. Knapp 2001). Beim deutschen Modell handelt es sich jedoch keineswegs um einen ‚Naturzwang‘, sondern um das Ergebnis politischer (Fehl-)Steuerungen, wie der komparative Blick auf die Familienpolitik anderer hoch industrialisierter Länder belegt (vgl. Bertram u.a. 2006). So haben Länder mit auf Geschlechtergerechtigkeit ausgerichteter Erwerbspolitik und entsprechend hoher Frauenerwerbsquote zugleich – im Vergleich zur Bundesrepublik Deutschland – hohe Geburtenraten. Schweden etwa, nicht zuletzt mit Blick auf gleichberechtigte Teilhabechancen von Frauen und Männern an Erwerb und Familie, hält an der 32,5-Stundenwoche fest und hat im Gegenzug die Urlaubszeit und die Zahl der Feiertage gekürzt. Die Niederlande investieren vermehrt in Betreuungszeiten und zugleich werden arbeitszeitliche Stundenreduzierungen für Väter und Mütter belohnt. Dänemark, das gar kein Familienressort besitzt, aber sich im Sinne der Linie der nordeuropäischen Länder an Geschlechter-Gleichheitspolitik orientiert, unterstützt die VollzeitErwerbsintegration beider Partner auch bei Elternschaft. Die Müttererwerbsquoten dort liegen bei 76%, die Tagesbetreuungsrate bei 64%, und zwar als Ganztagsangebot konzipiert, und ab dem sechsten Lebensmonat sind bereits 50% der Kinder dort integriert. Die Quote Alleinerziehender unterhalb der Armutsgrenze liegt entsprechend weit unter der in der Bundesrepublik Deutschland; wie überhaupt ein kinderfreundliches Betriebsklima, eine Infrastrukturpolitik über den gesamten Lebenslauf, auch für Ältere, und eine aktive Arbeitsmarktpolitik unter Abbau von Geschlechterdiskriminierung dort Selbstverständlichkeiten sind.
Sozialer Wandel Institutional verankerte Geschlechterregelungen, die für die Sozialpolitik und den Arbeitsmarkt ökonomisch vorteilhaft sind, scheinen auf der Meso-Ebene kaum veränderbar. Und doch: Ulrich Beck (1986) war der erste, der auf das Zurückbleiben von Institutionen gegenüber kulturellem Wandel verwiesen hat. Den verkrusteten Institutionen, so seine These, laufen die Individuen weg – und irgendwann werden diese Institutionen sich wandeln müssen, um zu überleben. Er hatte dabei u.a. die Familie im Blick, und er führt später aus, es sei
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„nicht mehr klar, ob man heiratet, wann man heiratet, ob man zusammenlebt und nicht heiratet, heiratet und nicht zusammenlebt, ob man das Kind außerhalb oder innerhalb der Familie empfängt und aufzieht, mit dem, mit dem man zusammenlebt oder mit dem, den man liebt, der aber mit einer anderen zusammenlebt, vor oder nach der Karriere oder mittendrin“ (Beck 2004: 79).
Während Beck unterstreicht, dass die alltäglich transportierten Annahmen über Ereignisverknüpfungen im Familienleben nicht mehr zutreffen und die Formalisierung von Beziehungen auch bei Elternschaft abnimmt (vgl. auch Benseler u.a. 2003), zeigen die Demographen den zunehmenden Verzicht auf Kinder schlechthin. Dieses fordert die Geschlechterforschung geradezu heraus, neben Selbstkonstruktion und -verortung die institutionelle Seite der Verankerung von Geschlechterdifferenz auch aus politischer Perspektive neu zu denken. Denn der Kinderwunsch selbst hat nicht abgenommen, sondern er wird im Zeitverlauf aufgegeben oder zu lange verschoben (vgl. Nave-Herz 1987, Schaeper 2006). Aus der Sicht der Lebenslaufforschung ergibt sich der Hinweis auf Widerspruchsproduktionen zwischen Segmentationssteuerung, kulturellem und strukturellem Wandel. Betrachtet man die Nutzung vorfamilial bedeutsamer Institutionen, so verlieren die Geschlechtersegmentierungen für die Einlösung des Familien-Erwerbsarrangements nach altem Vorbild aus unterschiedlichen Gründen an Gestaltungskraft. a) Im Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft stellt sich die eingefressene Geschlechtertypisierung der Berufe als kaum mehr angemessen heraus. Zudem müssen Wirtschaftskrisen bewältigt werden, die der männlichen Alleinernährerrolle den Boden entziehen, und schließlich wird auch die Eingangsverankerung im Arbeitsmarkt nach Ausbildungsende gerade für junge Männer zunehmend schwieriger (vgl. Helfferich/Klindworth/Kruse 2005). b) Frauen hingegen, deren Bildungsbeteiligung seit den 1960er Jahren enorm zunahm, erweitern – ganz im Sinne der Bildungskampagne ‚Mädchen in Männerberufe‘ – ihre Kompetenzpalette längst auf alle Berufe, und auch im Hochschulbereich steigt nicht nur die Zahl der weiblichen Studierenden, sondern unter diesen fällt seit den 1980er Jahren das Studienziel Lehrerin (dem besten Vereinbarkeitsberuf im traditionellen Sinne) weit hinter den weiblichen Diplom- und Magisterabschlüssen zurück (vgl. Schaeper 2006, Stat. Bundesamt, Hochschulstatistik bis 2003). Diese Abschlüsse zielen auf einen gleichen Arbeitsmarkt wie den der Männer; die Alternative Kind oder Beruf gleicht sich hier der Situation der Männer an. Zudem: Von einem Gehalt, und ausgerechnet dem des männlichen Parts, leben zu sollen/ wollen, wird auch wegen der Partnerschaftsrisiken eine durchaus problematische Konstellation. Beide Trends spitzen sich tendenziell zu und treffen die geschlechterdifferente Positionierung der Zuständigkeiten im Familienleben grundlegend. Sie labilisieren existenzielle Zukunftssicherheiten, wenn es nur einen Familienernährer gibt und – in der Perspektive konvergierend – die Rolle der Allein-Familienerhalterin ebenso wie die Idee von der Vereinbarkeitsfrage als Frauenproblem (vgl. Helfferich/Klindworth/Kruse 2005, Tölke 1989). Der Verzicht auf Kinder ist beidseitig angelegt. Weniger die Flucht aus der, als vielmehr die Flucht vor der Familie scheint angesagt.
Struktur als Ambivalenz Die Ausgangsthese war, dass Institutionen weibliche und männliche Lebensläufe als differente strukturieren und zugleich die Geschlechter über Zuständigkeitsmodalitäten untereinander in Beziehung zueinander setzen. Insofern führt der Lebenslaufansatz eine Sonde in Gefilde ein, die Geschlechterdifferenz hinter der alltäglichen Beziehung, der Aushandlung von Lösungen und
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subjektiven Entscheidungen strukturiert. Der Versuch des individuellen oder auch gemeinsamen Festhaltens an Gleichheit konfligiert mit Sachzwängen von Arbeitsmarkt und Supportinstitutionen, die sich unter der Hand durchaus auch ungewollt und nicht intendiert einschleichen (vgl. Erler 2005, Finch/Mason 1990, Fthenakis/Kalicki/Peitz 2002) und Ungleichheit, und zwar Ungleichheit in persönlicher Abhängigkeit, einfordern. Die hieraus erzeugten Ambivalenzen bezeichnet Angelika Wetterer (2002) als Auslöser ‚rhetorischer Modernisierung‘. Hiernach versinken Ungleichheiten – weil nicht sein kann, was nicht sein darf – im Ort des ‚Schweigens‘, genauer: Sie fallen der De-Thematisierung aus nicht zugelassenem Unmut über sich langsam verändernde Beziehungen anheim – und machen der schrittweise legitimierten Aussöhnung mit dem/der Partner/in zuliebe gefundenen Lösungen Platz. Der Wandel im Bildungsprofil junger Frauen und die Unsicherheiten im Arbeitsmarkt auch in männlich stereotypisierten Berufen legen es allerdings nahe, auf die Familiengründung ganz zu verzichten. Ulrich Beck hatte recht, wenn er von der Flucht der Individuen aus nicht mehr passenden Institutionen sprach – und doch wieder nicht (vgl. Krüger 2006). Denn die Menschen scheinen nur vor der Familiengründung wegzulaufen, während sie, empirisch gut belegt, immer mehr und länger die Bildungsinstitutionen nachfragen. Unter dem Verständnis von Demokratie und Gleichberechtigung dürfen Frauen lernen, was möglicherweise nicht zur Familienarbeit passt, während mehr Bildung auch für Männer die Ernährerposition nicht sicherer macht. Es stimmt also etwas mit dem Zeitplan und mit den Planungsgewissheiten im Lebenslauf nicht, sondern dieser ist inzwischen fast als Widerspruch der Institutionen zueinander organisiert. Die politische Erneuerung der Institution Familie kann bei Strafe ihres Untergangs nicht länger auf sich warten lassen. Die Lösungen liegen auf der Hand, bräuchten aber eine gezielte Genderpolitik bezüglich: a) der Abschaffung von Geschlechtersegmentierungen im Bildungs- und Berufssystem, b) der Einpassungspolitik eines Familienlebens mit zumindest chancengleicher Teilhabe an Erwerbs- und Familienarbeit in alle Bausteine des Lebenslaufs und c) der Absicherung der Familie durch zweimal Erwerbs- und zweimal Familienarbeit. Ein solcher Ansatz allerdings fordert Praxis und Forschung neu heraus, denn er bettet die Geschlechterfrage in neuer Weise in das Institutionengeflecht ein. Verweise: Arbeit Beruf Biografieforschung Erwerbsarbeit Familie Gender-Mainstreaming Soziale Ungleichheit Work-Life-Balance
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Angelika Diezinger
Alltägliche Lebensführung: Die Eigenlogik alltäglichen Handelns
„Alltägliche Lebensführung“ ist als deskriptiv-analytisches Konzept im Zusammenhang mit modernisierungstheoretischen Fragestellungen entwickelt worden. Dabei haben Aspekte des Geschlechterverhältnisses als Erklärungsursache und Erkenntnisziel eine wichtige Rolle gespielt (vgl. Jurczyk/Voß 1995). Es kann daher als ein offenes, geschlechtersensibles Konzept gesehen werden, das entsprechend auch in der Frauen- und Geschlechterforschung angewandt wird.
Allgemeine Kennzeichnung des Konzepts „Alltägliche Lebensführung“ bezeichnet das Arrangement bzw. den Zusammenhang der unterschiedlichen praktischen Tätigkeiten, die eine Person tagtäglich in den verschiedenen Lebensbereichen ausübt. Bezugspunkt des Konzepts ist die „Breite des Lebens“, die Synchronie des Alltags (vgl. Jurczyk/Rerrich 1993a), es ergänzt damit die Perspektive auf Lebenslauf und Biografie. Dabei geht es nicht um eine bloße Addition oder Abfolge der verschiedenen Tätigkeiten, sondern um die Art und Weise, wie diese zu einem kohärenten und konsistenten Ganzen zusammengefügt werden. Seine Gestalt ergibt sich zum einen aus der Verteilung der Alltagspraxis auf eine mehr oder weniger große Anzahl von Lebensbereichen. Entscheidend bestimmt wird sie jedoch zum anderen durch die Art und Weise, wie Menschen zeitlich, räumlich, sachlich, sozial und sinnhaft die je spezifischen Anforderungen in einzelnen Tätigkeitsfeldern organisieren, koordinieren und zu ihrem Alltag zusammenfügen. Diese Eigenlogik steht im Mittelpunkt des Interesses, denn sie – und nicht isolierte Einzelhandlungen – bestimmt, wie Menschen sich mit den Lebensbedingungen auseinandersetzen (vgl. Voß 1991). Alltägliche Lebensführung ist eine Leistung der Person, also nicht einfach Folge sozialer Lebensbedingungen, sondern aktive Verarbeitung sozialer Anforderungen. Diese sind Bedingungen des individuellen Handelns, determinieren es aber nicht. Dies gilt auch für die Strukturen der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung. In dieser „subjekt-orientierten“ Sichtweise wird alltägliche Lebensführung ausdrücklich als personales Handlungssystem konzeptualisiert, zugleich gilt sie als Bindeglied zwischen Struktur und Handeln. Voß (1991) spricht sogar von einem „missing link“ zwischen Individuum und Gesellschaft. Obwohl von Personen hervorgebracht, verselbständigt sich das Arrangement, entwickelt eine relative Eigenständigkeit gegenüber den Personen, was sowohl die Regeln bestimmter Abläufe wie den Modus von Handlungen (wie Dinge erledigt werden) anbelangt. Nur so kann Lebensführung ihrer Funktion einer Entlastung von täglich wiederkehrenden Entscheidungen und Abstimmungen gerecht werden. Zwar ändern sich Lebensführungen mit den Lebensumständen, doch auf der Basis dieser „eingelebten“ Muster. Alltägliche Lebensführung ist als individuelle Aktivität gefasst und ist in dieser Form, wie die Gestaltung der eigenen Biografie, ein Kennzeichen der Moderne (vgl. Kudera/Voß 2000:
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19). Zugang zu und Verfügungsmöglichkeiten über materielle, kulturelle und soziale Ressourcen bestimmen entscheidend die Muster der Lebensführung, diese wiederum prägen konkrete Ungleichheitserfahrungen (vgl. Rerrich/Voß 1992). Als individuelle Aktivität muss Lebensführung jedoch auch abgestimmt und verschränkt werden mit den Aktivitäten derer, mit denen man den Alltag teilt. Daher zählen nicht nur Aufgaben, die selbst erledigt werden, Lebensführung umfasst auch Formen der Delegation, der Kooperation und der Übernahme von Aufgaben für andere. Hier stellt sich die empirisch zu klärende Frage, wieweit die „Eigenlogik“ der Lebensführung durch Bedürfnisse, Erwartungen und Interessen anderer beeinflusst wird und wie eine Verschränkung individueller Lebensführungen auf der Basis verschiedener Formen von Arbeitsteilung aussieht. Das Konzept nimmt wichtige Erkenntnisse aus der Frauenforschung auf: Es thematisiert den Lebenszusammenhang, aus dem heraus Menschen handeln. Indem alle Tätigkeiten, auch „Erledigungen, die Arbeit machen, aber nicht der Arbeit zugerechnet werden“ (Jurczyk/Rerrich 1993a: 11) erfasst werden, z.B. die Organisation institutioneller, wohlfahrtsstaatlicher Einbindungen, etwa in das Gesundheits-, Bildungs- und Sozialversicherungssystem, aber auch Kontakte im Freundeskreis, Erholung und Vergnügen, geht das Konzept deutlich über Fragen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf hinaus; diese sind Teil der alltäglichen Lebensführung. Daher besteht die Möglichkeit, das Konzept für Fragen der Frauen- und Geschlechterforschung so zu operationalisieren, dass Formen sozialer Ungleichheit zwischen den Geschlechtern, v.a. Zusammenhänge und hierarchische Zuordnungen zwischen unterschiedlichen Formen der Lebensführung, erfasst werden. Dies gilt auch für Differenzierungen und Ungleichheiten in den Lebensführungen von Frauen (nach Lebensphasen, sozialen Milieus, ethnischer Zuordnung u.Ä.).
Lebensführung als Arbeit im Geschlechterverhältnis Das Konzept wurde Anfang der 1990er Jahre von einer Projektgruppe in München ausdrücklich für die empirische Forschung entwickelt. Dort entstanden auch die ersten Studien, deren Gegenstand Muster der Lebensführung von (sozial stark kontrastierend – Stadt/Land, beruflicher Status, Bildungsstatus – ausgewählten) Paaren waren, die sowohl Erziehungsverantwortung trugen, als auch erwerbstätig (in unterschiedlichen, v.a. auch flexiblen Arbeitszeitregelungen) waren. Die Fragestellung war, ob sich aufgrund ökonomischer und sozialer Veränderungen (Individualisierung, Pluralisierung der Lebensformen, Deregulierungen im Erwerbsbereich) neue Formen der Lebensführung etablieren und wie diese Muster aussehen. Explizit wurde auch untersucht, ob sich dabei Veränderungen im Geschlechterverhältnis abzeichnen. Die breit dokumentierten Ergebnisse (vgl. Jurczyk/Rerrich 1993a, Projektgruppe „Alltägliche Lebensführung“ 1995) zeigen: Die Komplexität des Alltags nimmt zu, Lebensführung selbst wird tendenziell zur Arbeit, zur bewussten, planmäßigen Organisation. Allerdings lassen sich durchaus unterschiedliche Typen von Lebensführung zeigen, die von eher traditionalen, stark auf gewohnheitsmäßige Routinen und Rhythmisierungen beruhenden Mustern bis hin zu „modernen“, auf methodisch planende oder flexibel steuernde Handlungsmodi basierenden Mustern reichen. Letztere sind die „Antwort“ auf eine größere Variabilität der institutionellen Vorgaben, der geringeren Verbindlichkeit zeitlicher Regelungen des Alltags, die eine stärkere Selbststeuerung verlangen. Vermutet wird ein Trend zur Rationalisierung der Lebensführung, zu einem zielgerichteten, reflexiven Modus, der nicht nur die öffentlichen Aktivitäten, sondern auch private Arbeit und Tätigkeiten prägen wird. Erkennbar sind hier milieuspezifische Unterschiede, v.a. zwischen ländlichen und städtischen Milieus. Im Geschlechterverhältnis, d.h. in der hierarchischen Zuordnung der Lebensführungen von Frauen und Männern, zeigen sich auf den ersten Blick keine neuen Muster. Allerdings handelt es
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sich nicht einfach um eine Tradierung des Herkömmlichen, sondern um eine „Neuerfindung“ auf der Basis widersprüchlicher Modernisierungserfahrungen. Erkennbar sind daneben deutliche Differenzierungen in den Lebensführungen von Frauen, wobei sich die Frage stellt, welche Auswirkungen dies auf Geschlechterbeziehungen und Geschlechterdifferenzen (normativkulturelle Zuschreibungen „geschlechtsspezifischer“ Fähigkeiten) hat.
Patriarchale Modernisierung der Lebensführung von Frauen Erwerbstätigkeit und Fürsorge für andere haben die größte strukturierende Wirkung auf die Form der Lebensführung. Der Vergleich zwischen verschiedenen Berufsgruppen zeigt, wie die unterschiedlichen Vorgaben aus dem Erwerbsbereich die Abstimmung mit anderen Aktivitäten und anderen Personen beeinflussen. Die verantwortliche Fürsorge für andere schränkt die Handlungsautonomie der Lebensführung v.a. in zeitlicher und räumlicher Hinsicht stark ein. Dies gilt allgemein für beide Geschlechter. An beiden Strukturgebern lässt sich jedoch die Wirkung von Gender auf die Lebensführung deutlich erkennen: Da die institutionellen Vorgaben des Erwerbsbereichs, die „Normalitätsfolien“ der wohlfahrtsstaatlichen Sicherungs-, Betreuungs- und Bildungssysteme implizit oder explizit auf einer geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung aufbauen, ergeben sich empirisch unterschiedliche Lebensführungen von Frauen und Männern. An dieser Stelle werden die Zuweisungsprozesse von Aufgaben und Tätigkeiten als soziale Konstruktionen erfassbar (vgl. Jurczyk/Rerrich 1993b). Frauen übernehmen die Organisation des Alltags und zwar nicht nur für sich selbst, sondern auch für den Mann und die Kinder (vgl. Jurczyk/Rerrich 1993b: 292): Sie sind verantwortlich für die familiale Lebensführung, das „Arrangement der Arrangements“. Hausarbeit reicht dafür als Bezugspunkt nicht mehr aus: Es handelt sich um die Herstellung von Regelmäßigkeit und Gemeinsamkeit aus einer Vielzahl unabgestimmter Vorgaben aus den verschiedensten „Anliegerinstitutionen“ der verschiedenen Familienmitglieder (vgl. Rerrich 1994, Kortendiek 1999). Daher haben alltägliche Aktivitäten von Frauen deutlich mehr Charakter von Arbeit, was den Freiraum für andere Aktivitäten und Tätigkeitsformen einengt. Der kompetente Umgang mit Zeit wird für Frauen, insbesondere für Mütter zu einer wichtigen Kompetenz der Lebensführung, die Ressource Zeit jedoch zum knappen Gut (vgl. Jurczyk 2002, Kortendiek 1999). Frauen delegieren Teile der Fürsorgetätigkeiten, behalten jedoch die Verantwortung für das Funktionieren der Alltagsorganisation. Ihre Lebensführung ist daher weiter stark verschränkt mit denen der übrigen Familienmitglieder und darüber hinaus beeinflusst von Bedingungen im persönlichen sozialen Netz. Es stellt eine wichtige Ressource bei der Organisation des Alltags dar, zugleich muss es jedoch durch Leistungen auf der Basis von Gegenseitigkeit gepflegt werden. Auch hier zeigen sich geschlechtspezifische Zuweisungen: Tätige und tägliche Fürsorge wird von Frauen an andere Frauen delegiert (vgl. Jurczyk/Rerrich 1993b: 296f.): Unter- und innerhalb der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung etabliert sich ein zumeist ebenfalls hierarchisches Arbeitsteilungsmuster zwischen Frauen (vgl. Rerrich 2002). Im Sinne des Konzepts „Lebensführung“ müssen diese geschlechtstypischen Formen der Lebensführung als Resultat aktiver Auseinandersetzung mit widersprüchlichen Rahmenbedingungen gelesen werden. Einerseits werden die Grenzen „eigenlogischer“ Veränderungen von institutionellen Geschlechterarrangements erkennbar, wenn Frauen und Männer ihren Alltag als „Notlösung“ sehen, weil egalitäre Muster unzumutbare Komplikationen hervorrufen und damit die Aufgabe, „alles unter einen Hut zu bringen“, gefährden würden. Umgekehrt zeigt es sich durchaus auch, dass objektiv vorhandene Spielräume, die nicht im subjektiven Bewusstsein verankert sind, auch nicht handlungsleitend werden können (vgl. Jurczyk/Rerrich 1993b: 290f.). Innerhalb der Gruppe der Frauen ist eine zunehmende Ausdifferenzierung der Lebensführungen festzustellen. Als Trennlinie wirkt hier (wie zwischen Frauen und Männern) die konkrete Verant-
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wortung für die alltägliche Fürsorge für andere. Sie markiert auch deutlich Chancen und Risiken von Frauen bei der Auseinandersetzung mit Arbeitsanforderungen und -bedingungen, die den Zugriff auf außerberufliche Kompetenzen und Ressourcen erfordern (vgl. Andresen/Völker 2005, Lohr/Nickel 2005). Die Alltagsgestaltung steht dann vor der paradoxen Situation, zunächst erst einmal die offensichtlich nicht mehr so verbindliche Grenze der Privatheit zu definieren, ebenso wie die Schnittstellen und die notwendigen oder gar erwünschten Vermischungen (vgl. Gottschall/Voß 2003). Vergleicht man Frauen mit familialer Lebensführung, erweisen sich zum einen unterschiedliche individuelle Ressourcenausstattung, Unterschiede in den sozialstaatlichen Angeboten und die privaten Lebensformen als bedeutsame Rahmenkriterien für Differenzierungen. Im minimalen Vergleich zwischen Frauen mit ähnlichen Lebensbedingungen zeigen sich schließlich individuelle Optionshorizonte als wichtig. Sie beziehen sich zum einen auf die Frage, welche Bedeutung die Erwerbstätigkeit aktuell und biografisch einnimmt, und beinhalten zum anderen Normen in Bezug auf die private Fürsorgearbeit, die darüber entscheiden, ob und wenn ja bei welchen Arbeiten und in welchen Formen eine Delegation machbar und erwünschbar erscheint (vgl. Diezinger/Rerrich 1998). Hierbei sind milieuspezifische Differenzierungen und konkrete Erfahrungen mit (sozial)politischen Geschlechterregimen wirksam (letzteres bes. zwischen Frauen in Ost- und Westdeutschland) (Ludwig u.a. 2002, Gerhard u.a. 2003). Die unterschiedlichen Muster der Lebensführung von Frauen lassen sich zwar zwischen den Polen „traditional“ und „modernisiert“ aufreihen, Potenziale sowohl der Stabilisierung wie auch der Veränderung des Geschlechterverhältnisses sind jedoch in allen Mustern erkennbar (vgl. Diezinger/Rerrich 1998).
Zukünftige Forschungsfragen Lebensführung geht davon aus, dass jede und jeder unabhängig von Grad der Einbindung in den Arbeitsmarkt und unabhängig von der Art der privaten Lebensform ihren und seinen Alltag gestalten und führen muss. Damit wird die bestehende geschlechtsspezifische Arbeitsteilung nicht zum unhinterfragten Ausgangspunkt der Analyse; es kann vielmehr untersucht werden, wie sie sich trotz zunehmender Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt immer wieder herstellt bzw. oft wider Willen in die Alltagsgestaltung „einschleicht“ und verfestigt. Dies stellt gegenüber einer engen Perspektive auf „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ eine deutliche Erweiterung der Analyse dar. Die darin liegenden Erkenntnispotenziale werden derzeit vor allem genutzt, die Auswirkungen betrieblicher und beruflicher Veränderungen auf den Alltag zu untersuchen. Die neuen Bedarfe der Abstimmung, die spätmoderne Lebensformen selbst produzieren, bleiben dagegen noch unterbelichtet: etwa als multilokale Familien, deren Zusammenhalt mehr Aufwand an Zeit und Mobilität verlangt, durch egalitärere Eltern-Kind-Beziehungen, die Verhandlungen auch mit Kindern erfordern, um deren individuelle Interessen zu beachten (vgl. Jurczyk u.a. 2005). Dies gilt auch in Bezug auf Formen nicht-familialer verlässlicher gemeinsamer Alltagsorganisation und deren emanzipativem Potenzial im Hinblick auf Geschlechterbeziehungen (vgl. Roseneil/Budgeon 2006). Diese Klärungen sind notwendig, um der Gefahr zu entgehen, eine bloß „funktionalistische“ Perspektive der „Passförmigkeit“ von Lebensführung mit spezifischen Regelungen (vor allem des Erwerbsbereichs) zu etablieren. Dann könnten aus der „Eigenlogik“ alltäglicher Lebensführung „Grenzen der Entgrenzung“ von Erwerbsarbeit markiert (vgl. Jürgens 2006) und die Debatte um den Stellenwert von Selbstsorge und Fürsorge für andere schärfer geführt werden. Dies würde jedoch auch voraussetzen, die bisher offene theoretische und empirische Frage nach der Entstehung und Stabilisierung der Modi der Lebensführung anzugehen. Sie werden als individuelle praktische Kompetenzen der Selbststeuerung im Umgang mit zunehmend unsicheren und offenen Rahmenbedingungen bedeutsamer. Es könnten sich dadurch interessante Anschlussmöglichkeiten an die Sozialisations- und Biografieforschung (vgl. Nissen 2001) sowie an die Ungleichheits-
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forschung ergeben: Modi der Lebensführung werden vermutlich biografisch geprägt und bringen damit milieuspezifische Ressourcen individuell „zur Geltung“. Aus dieser Perspektive könnten soziale Ungleichheiten von Frauen genauer analysiert werden als allein durch den Rekurs auf unterschiedliche Deutungsmuster oder ungleiche soziale Lagen (vgl. Diezinger 2005). Verweis: Lebenslauf Modernisierungstheorien
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Mechtild Oechsle
Work-Life-Balance: Diskurse, Problemlagen, Forschungsperspektiven
Work-Life-Balance (WLB) ist ein eher schillernder Begriff; er bezeichnet eine komplexe Gemengelage von Problemen, Diskursen und Praktiken im Spannungsfeld von Erwerbsarbeit und Privatleben sowie darauf bezogene Versuche der wissenschaftlichen Analyse und Konzeptionalisierung. Ursprünglich ein Begriff aus dem US-amerikanischen Human Resource Management hat er sich zu einem Oberbegriff entwickelt, der verschiedene Facetten des Verhältnisses von Arbeit und privater Lebensführung bündelt.
WLB – Versuch einer Begriffsbestimmung Innerhalb der breiten Verwendung des Begriffs lassen sich die folgenden Dimensionen unterscheiden. Auf normativer Ebene formuliert WLB die Vorstellung eines ganzen, gelungenen Lebens mit einer Balance der verschiedenen Lebensbereiche. Auf der Handlungsebene beschreibt der Begriff, was Menschen tun und wie sie handeln, um eine Balance von Arbeit und Leben im Rahmen ihrer alltäglichen Lebensführung und ihrer Biografie herzustellen. Hierzu bedarf es entsprechender Kompetenzen, die nicht immer vorausgesetzt werden können; entsprechende Ratgeberliteratur und Trainings haben daher Hochkonjunktur. WLB bezeichnet hier sowohl das Ziel als auch Techniken und Methoden, mit denen dieses Ziel erreicht werden kann. Auf der Ebene von Organisationen bezeichnet WLB betriebliche Praktiken und Maßnahmen zur Unterstützung einer besseren Balance von Arbeit und Leben der Beschäftigten; die Verwendung des Konzepts dient aber auch der Selbstdarstellung der Unternehmen und soll eine bestimmte Unternehmenskultur signalisieren. Auf wissenschaftlicher Ebene werden unter dem Begriff verschiedene theoretische und empirische Zugänge zur Analyse dieser verschiedenen Dimensionen von WLB gefasst. Die Vagheit und Mehrdimensionalität des Konzeptes, obwohl wissenschaftlich ein Problem, macht zugleich seine Attraktivität aus. Als eher lebensweltlich orientierter Begriff bündelt WLB aktuelle Problemlagen samt den entsprechenden Deutungen sowie individuelle wie organisationale Lösungsansätze und Programme und fasst sie in einer griffigen Formel zusammen.
Diskursive Verschiebungen: WLB statt Vereinbarkeit? Aktuell scheint WLB das Konzept der Vereinbarkeit abzulösen oder doch in den Hintergrund zu drängen (vgl. Oechsle 2007), wenngleich sowohl im wissenschaftlichen Feld wie in der betrieblichen Praxis parallel zu WLB nach wie vor auch andere Konzepte und Begrifflichkeiten verwendet werden. Bezogen auf betriebliche Programme und Maßnahmen werden im deutschen wie im angelsächsischen Bereich häufig die Begriffe Familienfreundlichkeit, familienfreundliche Personalpolitik (vgl. Dilger/Gerlach/Schneider 2007, Rost 2004) bzw. family friendly poli-
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cies (vgl. Hochschild 2006) verwendet, auch das Audit Beruf&Familie der Hertiestiftung fokussiert auf den Zusammenhang von Familie und Beruf und zielt auf eine „familienbewusste“ Personalpolitik. Statt des Balancebegriffes wird im angelsächsischen Bereich auch von work-family conflict oder work life integration (vgl. Kossek/Lambert 2005) gesprochen. Insgesamt kann eine erhebliche Unschärfe in der Verwendung dieser Begrifflichkeiten konstatiert werden; sie verweist auf Probleme einer klaren Definition und Abgrenzung des Forschungsgegenstandes (Kossek/Lambert 2005: 517; Resch/Bamberg 2005). Vereinbarkeit von Beruf und Familie war ein prominentes Konzept der Frauenforschung und eine Forderung der Frauenbewegung: Es ging von der Lebenssituation der Frauen aus, formulierte Handlungsbedarfe wie den Abbau entsprechender Hindernisse im Erwerbsleben, aber auch normative Ansprüche auf Anerkennung der von Frauen geleisteten (unbezahlten) Haus- und Carearbeit und war letztlich eingebettet in ein gesellschaftstheoretisch fundiertes Konzept von Geschlechtergerechtigkeit. Lange Zeit war die „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ implizit oder explizit als Frauenproblem konstruiert, entstanden aus den Anforderungen der doppelten Lebensführung bei ansonsten unveränderten Strukturen von Erwerbsarbeit, fehlender Kinderbetreuung und einer geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung. Die diskursive Verschiebung von Vereinbarkeit zu WLB hat mehrere Implikationen: Der Gegenpol von Arbeit in diesem Konzept ist nicht mehr „Familie“, sondern „Leben“; damit werden aktuelle Differenzierungen in den Lebensformen mit ihren unterschiedlichen Bedürfnissen und Anforderungen aufgegriffen. In den Blick geraten nicht nur Arbeit und Beruf auf der einen und Familie und Partnerschaft auf der anderen Seite, auch Körper und Gesundheit, Freizeit, Hobbys und soziale Beziehungen im persönlichen Umfeld werden als Lebensbereiche thematisiert (vgl. Kastner 2004). Im Unterschied zum Begriff der Vereinbarkeit ist WLB weniger geschlechtlich konnotiert und offener für verschiedene Perspektiven und differente Problemlagen. Als „dynamischerer, aktiverer und spannungsreicherer Begriff“ (Jurczyk 2005: 110) ist er sicher besser geeignet, die aktuellen Anforderungen auf den Begriff zu bringen. Mehr als Vereinbarkeit impliziert WLB auch eine Organisationsperspektive und bezeichnet organisationsinterne Programme und Praktiken, die die individuelle Balance von Beschäftigten unterstützen sollen. Damit wird Vereinbarkeit über den Binnenraum der Familie hinaus zu einem Thema, das auch (Wirtschafts-)Organisationen und ihre Personalentwicklung betrifft. Familie und Privatleben und die Gestaltung der Beziehung zwischen Organisation und privater Lebensführung werden nicht mehr ausschließlich als individuelle Handlungsprobleme, sondern auch als Problem von Organisationen definiert und stärker ökonomisch gerahmt – WLB ‚rechnet sich‘ (vgl. Prognos 2003, 2005), „Familie bringt Gewinn“ (Schmidt/Mohn 2004); auch die Gewerkschaften entdecken WLB als „strategisches Handlungsfeld“ für sich (Dettling 2004, Hans-Böckler-Stiftung 2006).
Neue Problemlagen und aktuelle Kontroversen Veränderte Semantiken verweisen auf neue Problemlagen – diese betreffen Individuen und Organisationen, aber auch gesellschaftliche Makrostrukturen. Individuelle Handlungsprobleme ergeben sich zum einen durch veränderte Formen der Arbeitsorganisation und einem neuen Modus der Nutzung von Arbeitskraft. Entgrenzung und Subjektivierung von Arbeit (vgl. Gottschall/Voß 2003, Kratzer 2003, Moldaschl/Voß 2002, Lohr/ Nickel 2005) fordern eine aktivere und eigenverantwortliche Selbstorganisation und Strukturierung der beruflichen wie der außerberuflichen Lebenssituation – sowohl alltäglich wie biografisch (vgl. Voß 2000). Flexible und verlängerte Arbeitszeiten erhöhen den Zeitdruck und führen bei nicht gelingender Balance zu Überforderung und gesundheitlichen Problemen (vgl. Kastner 2004, Badura/Schellschmidt/Vetter 2004). Auch wenn Deutschland im internationalen Vergleich nicht zu den Spitzenreitern im Bereich langer und überlanger Arbeitszeiten gehört, so hat doch
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auch hier die Erfahrung von Zeitnot in den letzten Jahren deutlich zugenommen (vgl. Bauer u.a. 2004, Garhammer 2004). Die höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen sowie ein tiefgreifender Wandel im Geschlechterverhältnis (vgl. Lenz/Ullrich/Fersch 2007, Oppen/Simon 2004, Heintz 2001) führen dazu, dass Probleme der Vereinbarkeit zunehmen und zwar nicht nur bei Frauen, sondern auch bei Männern, die entweder selbst Wünsche nach aktiverer Vaterschaft haben (vgl. Fthenakis/Minsel 2002, Mühling/Rost 2007, Tölke/Hank 2005, Hobson 2002, Müller/Oechsle 2008, Varanka/Forslund 2006) oder deren Partnerinnen als Ressource für das Privatleben weniger als bisher zur Verfügung stehen. Hinzu kommt, bedingt durch den demographischen Wandel, die Pflege älterer Angehöriger als wenn auch nicht neues, so doch verschärftes Vereinbarkeitsproblem, das zudem an öffentlicher Aufmerksamkeit gewinnt (vgl. BMFSFJ 2006). Strukturveränderungen in der Erwerbsarbeit wie im privaten Lebensbereich stellen also erhöhte Anforderungen an die Gestaltung der Beziehung zwischen Arbeit und Leben (vgl. Jurczyk/Oechsle 2008). Die Flut von Ratgebern zum Thema Zeit- und Selbstmanagement zeigt, dass die eigenständige Strukturierung von Lebensführung und die Balance zwischen den verschiedenen Lebensbereichen zu einer Anforderung für immer mehr Beschäftigte wird (vgl. als ein Beispiel von vielen Seiwert 2002). Auf betrieblicher Ebene führt die umfassendere und ganzheitlichere Nutzung des Arbeitsvermögens (vgl. Voß 2000, Moldaschl/Voß 2002), der erweiterte Zugriff auf die Flexibilitätsund Selbststeuerungspotenziale der Beschäftigten und ihre kommunikativen Fähigkeiten (vgl. Kratzer/Sauer 2007) dazu, dass die private Lebenswelt mit ihren zeitlichen, räumlichen und sozialen Ressourcen zu einem wichtigen Element des Arbeitsvermögens wird, dessen Reproduktion auch im Interesse des Unternehmens liegt. Ein sich in einigen Bereichen bereits abzeichnender Mangel an Fach- und Führungskräften führt zu einem verstärkten Wettbewerb um qualifizierte Arbeitskräfte; Instrumente der MitarbeiterInnenbindung gewinnen in diesem Kontext an Bedeutung (vgl. Michalk/Nieder 2007). Auch der Verlust von Humankapital durch das Ausscheiden qualifizierter Frauen während der Elternzeit führt zu einem verstärkten Interesse von Unternehmen, hochqualifizierte weibliche Arbeitskräfte durch entsprechende Maßnahmen zu halten. Hinzu kommen Kosten durch hohe Fehlzeiten (vgl. Badura/Schellschmidt/Vetter 2004) und vermehrte Gesundheitsprobleme (vgl. Kastner 2004). Auf gesellschaftlicher Ebene sind es vor allem der demographische Wandel und seine Folgen für die sozialen Sicherungssysteme, die dem Thema WLB eine brisante Aktualität verleihen und im Bereich der Familienpolitik zum Umdenken geführt haben (vgl. Berger/Kahlert 2006, MacInnes 2006, BMFSFJ 2005, 2006). International vergleichende Forschung hat gezeigt, dass die Geburtenrate in Ländern mit hoher Frauenerwerbstätigkeit und ausgebauten Angeboten zur Kinderbetreuung am höchsten ist, während Länder mit niedrigerer Frauenerwerbstätigkeit und einer stark auf die Familie zugeschnittenen Kinderbetreuungsstruktur die niedrigsten Geburtenraten aufweisen (vgl. BMFSFJ 2006, Eichhorst/Thode 2004). Auch volkswirtschaftlich liegt es daher auf der Hand, hier gesellschaftlich mehr als bisher zu investieren (vgl. Prognos 2005). Aktuelle Umfragen zeigen, dass die Erwartungen an die Familienfreundlichkeit von Unternehmen groß sind (vgl. Klenner 2004) und dass WLB als Faktor bei der Arbeitgeberwahl an Bedeutung gewonnen hat (vgl. Trendence 2007). Dennoch stellen Studien häufig eine nur zögerliche Nutzung der angebotenen Programme fest. Während Hochschild (2006) in ihrer prominenten Studie „The Time Bind“ v.a. veränderte Werte und Prioritäten der Beschäftigten für die immer weitere Ausdehnung der Arbeitszeiten und die Verknappung der Familienzeiten verantwortlich macht, verweisen andere Erklärungen des „take-up gap“ (Kodz/Harper/Dench 2002) eher auf die betrieblichen und ökonomische Rahmenbedingungen (vgl. Hildebrandt/Littig 2006, Eberling u.a. 2004, Rump/Eilers 2007). Ein wichtiger Faktor ist die Unternehmenskultur: WLBKonzepte laufen ins Leere, wenn in den Unternehmen eine Arbeitszeitkultur der langen Anwesenheiten als Gradmesser für Leistungsfähigkeit und Engagement dominiert (vgl. Klenner 2007, Böhm/Hermann/Trinczek 2004, Trinczek 2005). Eine Befragung von Führungskräften kommt zu dem Ergebnis, dass die entsprechenden Instrumente in vielen Fällen durchaus vorhanden sind, dass
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aber die Unternehmenskultur nur eine eingeschränkte Nutzung erlaube; verwiesen wird hier insbesondere auf die Rolle von Führungskräften und deren Werteverständnis (vgl. IGS 2007). Welche Bedeutung Familienfreundlichkeit und WLB-Programme aktuell in den Unternehmen haben, wird kontrovers beurteilt. Von feministischer wie von gewerkschaftlicher Seite sind eher kritische Stimmen zu hören: WLB wird mehr als Oberflächenrhetorik denn als grundlegender Wandel im Umgang mit dem Arbeitsvermögen gesehen. Kritisiert wird, dass die Angebote sich vorwiegend an hochqualifizierte Beschäftigtengruppen richten und das Konzept Klassenunterschiede und Hierarchien neutralisiert (vgl. Dausien 2006). Bezweifelt wird, ob mit den WLB-Programmen wirklich ein ausbalancierteres Verhältnis von Berufs- und Privatleben erreicht wird oder ob es nur darum geht, die MitarbeiterInnen noch mehr für das Unternehmen verfügbar zu machen. Gefragt wird auch, ob WLB-Konzepte zu mehr Geschlechtergerechtigkeit und einer angemessenen Berücksichtigung von Care-Verpflichtungen aller Beschäftigten führen (vgl. Metz-Göckel 2004, Jurczyk 2005). Ein genereller Ideologieverdacht gegenüber WLB-Konzepten ist hier allerdings nicht hilfreich (vgl. Erler 2005). Wichtig sind differenzierte Analysen und ein Ausloten der Ambivalenzen und differenten Interessen, die sich mit diesem Konzept verbinden (vgl. Eberling u.a. 2004, Kossek/Lambert 2005). WLB als Element betrieblicher Personalpolitik verweist auf eine veränderte betriebliche Nutzung des Arbeitsvermögens. Diese ist umfassender geworden, gefragt ist die ganze Person mit ihrem subjektiven Potenzial. WLB-Konzepte können in diesem Kontext als Human Resource Management interpretiert werden, das versucht, die effektivere Nutzung des Arbeitsvermögens mit Elementen der Kompensation und des Erhalts dieses Arbeitsvermögens zu verbinden (vgl. Jurczyk 2005). Von zentraler Bedeutung ist deshalb ein Verständnis der qualitativ veränderten Nutzung des menschlichen Arbeitsvermögens und der darin angelegten Spannung zwischen Autonomie und Selbstentfaltung einerseits und größerer Selbstinstrumentalisierung andererseits (vgl. Glissmann 2005, Moldaschl/Voß 2002, Kratzer/Sauer 2005, Jürgens 2006).
Forschungsperspektiven WLB als ein aus der US-amerikanischen Unternehmenspraxis stammendes Konzept zum Human Resource Management ist v.a. in Deutschland erst nach einer längeren Phase wissenschaftlicher Zurückhaltung und Skepsis auch zu einem wissenschaftlichen Forschungsansatz geworden. Anders als in den USA, wo WLB seit Längerem als Oberbegriff der Forschungen zu den Wechselbeziehungen zwischen den Lebensbereichen verbreitet und in entsprechenden Forschungszentren auch institutionalisiert ist (vgl. Jürgens 2006: 165), wird dieses Konzept in Deutschland erst seit Kurzem in einigen wissenschaftlichen Disziplinen explizit aufgegriffen (vgl. für die Arbeitsund Organisationspsychologie z.B. Resch/Bamberg 2005; für die Gesundheitswissenschaft Kastner 2004; für die Soziologie Hildebrandt/Littig 2006), ohne dass es jedoch wie in den USA zu einer nennenswerten Institutionalisierung dieses Forschungsfeldes gekommen wäre. WLB als Forschungsperspektive, die explizit auf die Wechselwirkungen und Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Lebensbereichen fokussiert, ist ein wissenschaftliches Programm, das in vielfältiger Weise disziplinäre und innerdisziplinäre Grenzen und Arbeitsteilungen überschreitet (vgl. Jürgens 2006, Kossek/Lambert 2005). Auf der Mikroebene von Handeln befassen sich die Psychologie und die Gesundheitswissenschaften, aber auch die Soziologie sowie die Frauen- und Geschlechterforschung mit Handlungsund Bewältigungsstrategien (vgl. Kastner 2004), mit Formen der Lebensgestaltung (vgl. Hoff u.a. 2005, Abele 2005) mit Mustern der alltäglichen Lebensführung (vgl. Jurczyk/Voß 2000), mit Handlungsmustern und -strategien (vgl. Eberling u.a. 2004), dem Zeit- bzw. umfassender dem Reproduktionshandeln (vgl. Jürgens 2003, 2006) oder mit dem Vereinbarkeitshandeln von
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Frauen. Für die US-amerikanische Debatte gibt der Sammelband von Kossek/Lambert (2005) einen Überblick über relevante Konzepte und Forschungsperspektiven zur Analyse individuellen Handelns und subjektiver Orientierungen. Work-Life Integration wird hier etwa im Rahmen von Entscheidungstheorien, Sozialisations- und Identitätstheorien oder auch von persönlichkeitspsychologischen Konzepten analysiert. Ein Teil dieser Forschung knüpft an vorhandene theoretische Ansätze und Konzepte an; andere Theorieansätze wie die Border Theory versuchen neue theoretische wie empirische Zugänge zur Thematik der Balance von Arbeit und Leben zu entwickeln (vgl. Clark 2000, Nippert-Eng 1996). Im Zentrum dieser Ansätze steht die Frage, wie Individuen sich zwischen den verschiedenen Bereichen bewegen, wie sie eine Balance zwischen den verschiedenen Lebensbereichen herstellen, auf welche Ressourcen sie hierbei zurückgreifen können und über welche Kompetenzen sie verfügen. Geschlechtsspezifische Aspekte spielen in diesen Konzepten und theoretischen Ansätzen eine wichtige Rolle. Auf der Organisationsebene untersuchen Arbeits-, Industrie- und Organisationssoziologie, aber auch die Wirtschaftswissenschaften, wie sich durch veränderte betriebliche Nutzung von Arbeitsvermögen die Rahmenbedingungen für die Balance von Arbeit und Leben verändern und wie damit zusammenhängende Probleme von Wirtschaftsorganisationen aufgegriffen und organisationsintern behandelt werden. Von besonderer Relevanz ist die Frage, wie entsprechende WLB-Programme in Unternehmen implementiert und genutzt werden, welche Effekte dies für die Beschäftigten, aber auch für die Organisation selbst hat (vgl. Rapoport u.a. 2002) und welche Einflussfaktoren die Nutzung von solchen Programmen steuern und ggf. auch verhindern können (vgl. Sutton/Noe 2005, Hochschild 2006); Unternehmens- und Arbeitszeitkulturen, aber auch Führungskräfte spielen hier eine wichtige Rolle (vgl. Trinczek 2005, Klenner 2007, IGS 2007). In den Wirtschaftswissenschaften untersucht v.a. die Betriebswirtschaftslehre den ökonomischen Nutzen und die Kosten von WLB und fragt nach den Möglichkeiten einer familienfreundlichen Personalpolitik (vgl. Prognos 2003, Krell 2004, 2005). Auch in der Genderforschung erfährt WLB als Element von Diversity-Strategien mehr Aufmerksamkeit als bisher (vgl. Belinski/Hansen/Müller 2003, Andresen/Koreuber/Lüdke 2007). Auf der Makroebene analysiert die Wirtschaftswissenschaft die volkswirtschaftlichen Effekte einer verstärkten Implementation von WLB (vgl. etwa Prognos 2005). Von besonderem Interesse ist die Analyse des Einflusses von wohlfahrtsstaatlicher Sozialpolitik auf die betriebliche Ebene. Wohlfahrtsstaatliche Regulierungen geben rechtliche Rahmenbedingungen für Unternehmen wie für Individuen vor; sie haben aber auch Einfluss darauf, welche Ansprüche und Verpflichtungen von Individuen wie von Organisationen als legitim wahrgenommen werden und steuern so auch das Handeln dieser Akteure (vgl. Lewis/Haas 2005, Hobson/Duvander/Halldèn 2006). Zunehmend werden auch transnationale Analysen von WLB-Programmen gefordert (vgl. Poster 2005). Die Komplexität der WLB-Thematik erschließt sich erst im Zusammenspiel der verschiedenen Analyseebenen – Mehrebenen-Analysen sind bislang eher selten, aber dringend erforderlich (vgl. Hildebrandt/Littig 2006, MacInnes 2006, Kossek/Lambert 2005).
WLB und Geschlechterforschung Eines der großen Verdienste der Frauenforschung ist die Analyse des widersprüchlichen Zusammenhangs der verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereiche und der damit verbundenen Benachteiligung von Frauen gewesen. Der innere Zusammenhang zwischen dem Erwerbssystem und der Familie wurde auf der Ebene individuellen Handelns als Vereinbarkeitsproblem analysiert; Ausgangspunkt waren die alltäglichen und biografischen Handlungsprobleme von Frauen bei ihren Versuchen, beide Bereiche mit ihren differenten Anforderungen und Logiken lebensweltlich zu verbinden (vgl. Becker-Schmidt u.a. 1983, Diezinger 1991, Geissler/Oechsle 1996). Auf der
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Strukturebene wurde die Relation von Erwerbssystem und Familie als strukturelle Asymmetrie, als Herrschaftsverhältnis analysiert (vgl. Krüger 2001). Mit dem Begriff der doppelten Vergesellschaftung (Becker-Schmidt 1987) wurde das komplexe Zusammenspiel von Trennungen und Verknüpfungen zwischen Erwerbsarbeit und privatem Lebensbereich einschließlich der dort geleisteten Reproduktionsarbeit in seinen strukturellen wie subjektiven Dimensionen analysiert. Die Frage nach den Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Lebensbereichen gewinnt heute unter den Bedingungen der Entgrenzung und Subjektivierung von Arbeit neue Relevanz und Aktualität (vgl. Kratzer/Sauer 2007, Jürgens 2006). Der Blick auf die „verborgene Unterseite der gesellschaftlichen Reproduktion von Arbeitskraft“ (Kratzer/Sauer 2007: 246), lange Zeit von der Frauen- und Geschlechterforschung gegenüber dem Mainstream der Arbeitsforschung angemahnt, gewinnt an Bedeutung. Die Frage, wie die Reproduktion des Arbeitsvermögens unter den Bedingungen postfordistischer Arbeitsverhältnisse sichergestellt werden kann und welche Geschlechterverhältnisse dies impliziert, wird zu einer zentralen Frage auch innerhalb der Arbeitsforschung und eröffnet neue Möglichkeiten des Dialogs zwischen Geschlechterund Arbeitsforschung (Aulenbacher u.a. 2007). Der reichhaltige Fundus der Frauen- und Geschlechterforschung an theoretischen Konzepten, methodologischen Erfahrungen und empirischen Erkenntnissen stellt hierbei eine wichtige Ressource dar (vgl. Becker-Schmidt 2007). Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang WLB als wissenschaftliches Konzept, kann es von der Geschlechterforschung produktiv aufgegriffen werden, welchen Vorteil hat es gegenüber dem Konzept der Vereinbarkeit, gibt es alternative Konzepte? Vereinbarkeit als eher statischer und zudem fast ausschließlich weiblich konnotierter Begriff ist für die aktuelle Analyse der komplexen und widersprüchlichen Anforderungen sicher nur noch begrenzt geeignet. Jürgens hält ihn für eine „semantische Verharmlosung von strukturell Widersprüchlichem“ (Jürgens 2006: 104ff.) und plädiert stattdessen für die Verwendung von „Wechselwirkung“ als analytischer Begrifflichkeit, die neutral genug sei, um „keine Assoziationen hinsichtlich einer Harmonisierung der Lebensbereiche“ (Jürgens 2006: 143) zu wecken und sowohl die Handlungs- wie die Strukturebenen in den Blick nehme. WLB fokussiert stärker als der Begriff der Wechselwirkung auf die Subjektseite und betrachtet Individuen mit ihren Orientierungen und Strategien, Ressourcen und Kompetenzen. Die „konsequente Subjektorientierung“ (Jürgens 2006: 174) ist insofern sinnvoll, als Anforderungen an die aktive Herstellung einer Balance (sowohl alltäglich wie biografisch) nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer Erosion kollektiver Regulierungen gestiegen sind (vgl. Voß 2000). Eine ausschließliche Fokussierung auf individuelle Balanceleistungen läuft jedoch Gefahr, strukturelle Interessenskonflikte und institutionelle Rahmenbedingungen aus dem Blick zu verlieren und die Balance von Arbeit und Leben auf ein individuelles Handlungsproblem zu reduzieren. Die Nähe zur betrieblichen Praxis, die der Begriff WLB insbesondere vor dem Hintergrund der angelsächsischen Forschungstradition beinhaltet, ist Chance und Risiko zugleich. Konzeptuell bietet sich die Möglichkeit, nicht nur die Subjektseite, sondern auch die Organisationsebene zu analysieren; die begriffliche Nähe zu Human-Resource-Strategien kann jedoch ein Hindernis für die kritische Analyse differenter Interessen und struktureller Widersprüche sein. Die engere Verbindung von wissenschaftlicher Forschung und betrieblicher Praxis ebenso wie die Reflexion der damit verbundenen methodischen und methodologischen Herausforderungen (vgl. exemplarisch hierzu Ruderman 2005), wie sie in Teilen der US-amerikanischen Forschung zu WLB zu finden sind, sind sicher nicht ohne Weiteres auf den deutschen Kontext zu übertragen, könnten aber Anregungen für die Etablierung eines solchen Forschungsfeldes auch in Deutschland geben. Im Begriff der Balance schwingt die normative Idee des Gelingens (vgl. Jürgens 2006: 175, Dausien 2006: 69), mehr noch die normative Vorstellung eines guten Lebens mit. Auch der Begriff der Vereinbarkeit implizierte eine solche – kritisch gegen die reale Unvereinbarkeit gerichtete – Zielformulierung; dies gilt im Übrigen auch für andere sozialwissenschaftliche Begriffe, insbesondere wenn sie mit Gesellschaftskritik und Gestaltungsperspektiven verknüpft sind.
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Risiken und mögliche Gewinne der Verwendung solch normativ aufgeladener Begriffe und Konzepte sind hier gegeneinander abzuwägen. Geht man davon aus, dass sozialwissenschaftliche Begriffe und Analysen auch der ‚Übersetzung‘ und der Rekonstruktion alltäglicher Erfahrungen dienen (vgl. Rössler 2008), dann scheint der Begriff der Balance von Arbeit und Leben für ein breites Spektrum lebensweltlicher Erfahrungen beider Geschlechter und verschiedener Beschäftigtengruppen anschlussfähig zu sein. Jürgens konstatiert für Deutschland eine „Lücke“ in der Forschung zu den Wechselwirkungen von Arbeit und Leben, entstanden durch die abgeschwächte Vereinbarkeitsforschung in den 1980er und frühen 1990er Jahren, die nicht durch eine entsprechende Institutionalisierung der WLB-Forschung „gefüllt“ worden sei (Jürgens 2006: 175). Für die Frauen- und Geschlechterforschung wäre es eine lohnende Herausforderung, dieses Forschungsfeld erneut zu besetzen, die Erkenntnisse der eigenen Vereinbarkeitsforschung offensiv einzubringen, die Vernetzung und den Austausch mit anderen (Teil-)Disziplinen voranzutreiben und Geschlecht als wichtige Analysedimension stark zu machen. Verweise: Arbeit Doppelte Vergesellschaftung Managing Diversity Organisation
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Elisabeth Klaus, Ricarda Drüeke
Öffentlichkeit und Privatheit: Frauenöffentlichkeiten und feministische Öffentlichkeiten
Öffentlichkeit hat wortgeschichtlich mehrere Bedeutungen. Öffentlich meint im 17. Jahrhundert den „staatlichen“ Bereich, der sich von der privaten Sphäre abgrenzt und allmählich zu der von Habermas (1993/1962) beschriebenen „Diskurssphäre des Staatsbürgers“ wird. Ab dem 18. Jahrhundert verweist Öffentlichkeit auf die allgemeine Zugänglichkeit gesellschaftlicher Ressourcen und die Transparenz von Ereignissen. In diesem Sinne impliziert sie einen Anspruch auf Teilhabe an staatlichem und wirtschaftlichem Handeln. Schließlich verbinden sich die Begriffe des Öffentlichen mit dem des Publikums. Dass ein Ereignis vor den Augen des „publicus“, vor dem gemeinen Volk geschieht, macht es zur öffentlichen Angelegenheit (vgl. Hohendahl 2000). Als demokratisches Prinzip wird Öffentlichkeit ursprünglich von den der Aufklärung verpflichteten Geheimgesellschaften vertreten und durchgesetzt, zu denen Frauen keinen Zugang haben (vgl. Ebrecht 1989). So bleiben sie auch aus der bürgerlichen Öffentlichkeit zunächst ausgeschlossen.
Öffentlichkeit und Geschlecht/Gender Die Beschäftigung mit Öffentlichkeit ist ein zentrales Thema feministischer Theoriebildung (z.B. Elshtain 1981, Pateman 1988, Hausen 1992). Seit der Aufklärung wird Öffentlichkeit als Raum oder Sphäre gedacht, die im Gegensatz zur Privatheit steht. In der Öffentlichkeit zu agieren, das bedeutet außerhalb der häuslichen Sphäre zu handeln. Der Dualismus von Öffentlichkeit und Privatheit ist so mit der symbolischen Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit eng verknüpft, da Haus und Privates an die Frau und an Weiblichkeit gebunden sind, außerhäusliche Aktivitäten und öffentliches Agieren aber dem Mann zugesprochen werden. Der Ausschluss von Frauen ist für die bürgerliche Öffentlichkeit bis heute strukturbildend. So wurden die einflussreichen öffentlichen Institutionen weitgehend durch Männer geprägt. Frauen mussten sich demgegenüber erst mühsam und Schritt für Schritt den Weg in Politik, Wirtschaft, Medien, Universität oder Justiz erkämpfen. Wie Öffentlichkeit definiert und gestaltet werden könnte, das wurde zu einer Schlüsselfrage der Emanzipationsbewegungen der Frauen und hat feministische Wissenschaftlerinnen in vielen Disziplinen beschäftigt. Die Entgegensetzung von Öffentlichkeit und Privatheit und ihre Bindung an den Geschlechterdualismus hatte weiter zur Folge, dass Probleme des ungleichen Geschlechterverhältnisses zur Privatsache erklärt werden konnten und damit die Interessen und Anliegen von Frauen, wie das Recht auf körperliche Unversehrtheit oder selbstbestimmte Sexualität, als nicht-öffentliche familiäre Angelegenheiten galten, in die der Staat nicht einzugreifen hatte. Vor diesem Hintergrund wurde „Das Private ist politisch“ zu einem einflussreichen Slogan der neuen Frauenbewegung.
Öffentlichkeit und Privatheit
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Öffentlichkeit und Massenmedien In allen Öffentlichkeitstheorien spielen, mehr oder weniger explizit, die Massenmedien eine große Rolle, weil sie zunehmend die Beteiligung von StaatsbürgerInnen am öffentlichen Diskurs sichern. Mit dem Siegeszug des Fernsehens werden alle Menschen als Publikum zu „citizens of the media“ (Hartley 1999). Medien vermitteln zwischen der „Welt da draußen“ und dem häuslichen Raum. Sie dienen zugleich als Mittel, um gesellschaftliche Beziehungen täglich neu zu bestätigen und auszuhandeln. Die neuere Publikumsforschung sieht in der Medienrezeption folglich einen sozial kontextuierten, aktiven Aneignungsprozess. Diesen Ansätzen steht die Wirkungsforschung entgegen, die von einem Transmissionsmodell der Mediennutzung ausgeht. Medien wird darin eine besonders große, wenn nicht gar alleinige Rolle bei der Herstellung von Öffentlichkeit zugesprochen. Dabei wird häufig von einer negativen Wirkung der Medien auf Öffentlichkeit ausgegangen. Unbestritten fungieren Medien als Agenda-Setter und stellen Themen für den öffentlichen Diskurs bereit. Weitergehend liefern sie, z.B. durch spezifische Verweise und Einordnung in bestimmte historische Kontexte, eine Rahmung (Framing) von Ereignissen, die zugleich eine sinnvolle öffentliche Debatte ermöglicht und diese im Interesse der gesellschaftlichen Eliten reguliert. Eng verwandt mit dem Begriff der Öffentlichkeit ist der der öffentlichen Meinung. Öffentliche Meinung oder Publizität bezeichnet dabei sowohl den Grad der Aufmerksamkeit wie auch die Zustimmung oder Ablehnung der Allgemeinheit gegenüber einer sozialen Bewegung oder einem bestimmten Thema (vgl. Pöttker 2001). Um öffentliches Interesse zu wecken und die öffentliche Meinung zu erreichen, versuchen die verschiedenen sozialen Gruppen ihre Positionen mittels Öffentlichkeitsarbeit zu verbreiten und so ihren Interessen Nachdruck zu verleihen. Öffentlichkeitsarbeit richtet ihr Augenmerk vor allem darauf, in den Medien präsent zu sein. Alternative soziale Bewegungen wie etwa die Frauenbewegung verbinden dabei eigene publizistische Aktivitäten mit dem Versuch, die traditionellen Massenmedien zu erreichen.
Wichtige Studien und Debatten Im Rahmen der gängigen Öffentlichkeitstheorien kam das Gendering gesellschaftlicher Institutionen ebenso wenig vor wie das Leben von Frauen und ihr gemeinschaftliches Handeln Beachtung fanden. So blieb es zunächst Historikerinnen, Soziologinnen und Medienwissenschaftlerinnen vorbehalten, die vielfältigen Ausdrucksmöglichkeiten von Frauen und ihr Agieren in der Öffentlichkeit nachzuzeichnen und dann weitergehend theoretisch zu interpretieren.
Frauenöffentlichkeiten Markt und Bleichplatz wurden als Orte untersucht, die den Austausch von Frauen mittels „Klatsch und Tratsch“ ermöglichten und so das Zusammenleben in der dörflichen Gemeinschaft entscheidend mitprägten (Schulte 1992, vgl. auch Benard/Schlaffer 1981). Weil Frauen für den Konsum zuständig waren, erschlossen sich ihnen Anfang des 19. Jahrhunderts mit den Kaufhäusern neue öffentliche Räume (vgl. Haupt 1997). Auch in den werbenden Diskursen, die rund um das Kino entstanden, waren Frauen äußerst präsent. Dass sich parallel dazu ihre politische Partizipation steigerte und die Frauenbewegung das Wahlrecht erkämpfte, kann damit in einem engen Zusammenhang gesehen werden (vgl. Bernold/Ellmeier 1997). In der soziologischen und kommunikationswissenschaftlichen Genderforschung fanden Frauenzeitschriften und Soap Operas als Medienangebote, die sich speziell an Frauen richten, besondere Beachtung. Zunächst überwog dabei ein negativer Blick auf die Produkte für die Zielgruppe Frau (vgl. z.B. Tuchman
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1980). Spätere Arbeiten zeigen aber, wie stark Frauenzeitschriften (vgl. Röser 1992) und Soap Operas (vgl. Brown 1994) dem sozialen Wandel unterliegen und sich auf sozial differenzierte Gruppen einstellen. Im Unterschied zu anderen Medien beschäftigen sie sich zentral mit den Frauen zugesprochenen Tätigkeitsbereichen und Entwicklungsaufgaben und verleihen ihnen damit eine gewisse Anerkennung. Die hier nur beispielhaft angeführten Forschungsergebnisse zeigen, dass Männer und Frauen als Folge der Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit partiell anders in der Öffentlichkeit agieren und ihre öffentlichen Ausdrucksformen bis heute unterschiedlich wahrgenommen und bewertet werden. Darauf Bezug nehmend können Frauenöffentlichkeiten definiert werden, ohne dabei zugleich die Geschlechterdifferenz essentialistisch zu bestätigen. „Frauenöffentlichkeiten umfassen all jene Kommunikationsforen und -formen, in denen sich Frauen untereinander und ohne Anwesenheit von Männern am gesellschaftlichen Kommunikationsprozess beteiligen und in denen ihre Erfahrungen eigenständige Relevanz erhalten“ (Klaus 2001: 27). Von einem feministischen Standpunkt ausgehend, sind Frauenöffentlichkeiten ambivalent und stützen häufig die bestehende patriarchale Ordnung.
Feministische Öffentlichkeiten Diese können entsprechend als spezifische politische Frauenöffentlichkeiten angesehen werden, die das ungleiche Geschlechterverhältnis diagnostizieren und es verändern wollen. Sie stehen in einer Tradition mit den Emanzipationsbewegungen der Frauen und ihrem Streben nach politischen Rechten und Publizität (vgl. Gerhard 1992, Hervé 1995). Im Zuge der neuen Frauenbewegung entstanden zu Beginn der 1970er Jahre zahlreiche feministische Initiativen und Gruppen, die ein verändertes gesellschaftliches Frauenbild präsentierten und die Diskriminierung von Frauen in der Gesellschaft anprangerten. Eine wichtige Rolle bei der Herstellung feministischer Öffentlichkeit, die sich als Gegenöffentlichkeit und Gegenkultur formierte, kam den meist regionalen Frauenzeitschriften zu. Mit der „Emma“ und der inzwischen wieder eingestellten „Courage“ gründeten sich zwei überregionale feministische Zeitschriften. Zahlreiche Fachzeitschriften begleiteten auch die Entwicklung der Gender Studies. Im Laufe der Zeit kamen mit dem lokalen Hörfunk und vor allem mit dem Internet neue Medien dazu, in denen für feministische Belange geworben wurde. Im so genannten Cyberspace schienen Umdeutungen von gesellschaftlichen Konzepten wie Identität und Körper möglich (vgl. Paasonen 2005), zudem zeichnete sich mit dem Internet eine weitere Artikulationsebene für feministische Öffentlichkeiten ab (vgl. Shade 2002). Schließlich gelang es der feministischen Bewegung, manche ihrer Themen auch auf die Agenda der traditionellen Öffentlichkeit von Massenmedien und Parlament zu setzen. Die Debatte um Autonomie oder Integration begleitete die Entwicklung der feministischen Öffentlichkeit. Sollten Feministinnen die traditionelle Öffentlichkeit suchen und in mühsamer Überzeugungsarbeit ihre Themen hier einbringen oder ihre Zeit besser zum Aufbau eigener Netzwerke und selbstbestimmter Formen der Kommunikation verwenden? Diese Frage berührt unmittelbar einen weiteren wichtigen Streitpunkt über die richtige Strategie der feministischen Bewegung, nämlich die Forderung nach Gleichheit oder Differenz. In ihrer Analyse des Kampfes um den Gleichberechtigungsparagraphen im Grundgesetz löst Böttger (1990) den vermeintlichen Gegensatz aber überzeugend auf, indem sie argumentiert, dass Gleichheit – die Aufhebung der Herrschaft des Mannes über die Frau – nur vor dem Hintergrund der Anerkennung differenter Ausgangs- und Lebensbedingungen wirksam werden kann. Umgekehrt stützt das Beharren auf Differenz angesichts der symbolischen Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit das ungleiche Geschlechterverhältnis, wenn es nicht zugleich mit dem Kampf um Gleichheit verbunden wird.
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Öffentlichkeit und Privatheit Die Wirkmächtigkeit von Frauenöffentlichkeiten und die Erfolge der Frauenbewegungen werfen die Frage auf, wie die Eroberung des öffentlichen Raumes möglich war, wenn Frauen doch zunächst von der Teilnahme an der bürgerlichen Öffentlichkeit ausgeschlossen und damit vermeintlich im Privatraum eingeschlossen waren. Jedoch waren zahlreiche Frauen auch in jenen Zeiten, in denen sie kein Wahlrecht besaßen und nicht selbstständig wirtschaften durften, politisch engagiert oder gingen einer außerhäuslichen Erwerbstätigkeit nach. Ein Schlüssel zur Beantwortung der oben gestellten Frage stellt deshalb die Auflösung des Gegensatzes von Öffentlichkeit und Privatheit dar, der den öffentlichen Raum ideologisch als Domäne des Mannes, den privaten als Reich der Frau fixiert. Der Slogan „Das Private ist politisch“ drückt aus, dass das, was als öffentliche und damit relevante Lebensäußerung gilt, und das, was als privat und damit unwichtig abgetan wird, auch vom Geschlecht der Sprechenden abhängt. Zugleich haben vor allem schwarze Frauen in den USA sich kritisch mit dem im Slogan enthaltenen Absolutheitsanspruch auseinander gesetzt. Die Forderung nach Veröffentlichung vermeintlich privater Erfahrung sei für die weiße Mittelstandsfrau vielleicht sinnvoll, für schwarze Familien ginge es aber vorrangig darum, die ständigen Eingriffe des Staates in die Gestaltung des häuslichen Lebens und in den intimen Raum abzuwehren (vgl. Bobo/Seiter 1991). Von Seiten der Queer-Forschung wird andererseits angemerkt, dass (sexuelle) Praktiken, die nicht der „heterosexuellen Matrix“ entsprechen (vgl. Butler 1991) häufig in das Private und damit gesellschaftlich Unsichtbare abgedrängt wurden; somit biete eine Veröffentlichung von bisher privat Konnotiertem die Möglichkeit einer stärkeren gesellschaftlichen Wahrnehmbarkeit (vgl. Philips 2007). Auch Fraser (1994b, 2001: 151ff.) zeigt, dass die Fähigkeit, eine Grenze zwischen Intimsphäre und Öffentlichkeit zu ziehen, von der gesellschaftlichen Macht der AkteurInnen abhängt. Sauer (2001) weist darauf hin, dass ebenfalls die Rolle des Staates bzw. der Institutionen bei einer solchen Grenzziehung zu beachten sei. Öffentlichkeit und Privatheit werden dann zu strategischen Positionierungen und eine Veröffentlichung von intimen, privaten Lebensentscheidungen ist keinesfalls pauschal mit Fortschritt gleichzusetzen. Vielmehr gilt insbesondere in einer durch Medienwirklichkeiten und Medieninszenierungen bestimmten Welt, dass eine starre Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit die soziale Realität nicht sinnvoll erfassen kann (vgl. Herrmann/Lünenborg 2001b: 11). Dass heute lange tabuisierte Privatthemen im Fernsehen öffentlich verhandelt werden, zeigt sich dann als eine ambivalente Entwicklung, die auch neue Formen des Sexismus und der Verstärkung der Geschlechterdifferenz hervorgebracht hat (vgl. Herrmann/Lünenborg 2001a). Rössler (2001) versucht eine normative Theorie der Privatheit zu formulieren, die der Falle der geschlechtshierarchischen Festlegung entgeht. Sie zeigt, dass der Schutz des Privatlebens zentral ist, um ein unabhängiges und autonomes Leben führen zu können. Allerdings hat die ausgesprochen negative Sicht auf das Eindringen des Privaten in die Öffentlichkeit eine lange Tradition. Anknüpfend an Arendt haben Habermas und Giddens das Eindringen des Privaten in den öffentlichen Raum negativ beurteilt. Wenn Arendt (vgl. Benhabib 1998) oder auch Giddens und Sennett (vgl. Schneider 2001) zur Grundlegung feministischer Öffentlichkeitstheorien herangezogen werden, dann ist die Gefahr groß, damit auch den Dualismus von Privatheit und Öffentlichkeit zu übernehmen, den ihre Theorien implizit voraussetzen. In der Logik getrennter Geschlechterräume verharrt beispielsweise Giddens, der den Frauen eine besondere Verantwortung für die Demokratisierung des Privaten zuspricht. Da er zugleich die Verschränkung von Öffentlichkeit und Privatheit für unumkehrbar hält, fällt den Frauen damit en passant die Aufgabe zu, die gesamte Gesellschaft zu verbessern (vgl. Giddens 1993).
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Von der Gegenöffentlichkeit zu den subalternen Öffentlichkeiten In der sozialen Bewegungsforschung wird die Existenz einer einzigen, großen Öffentlichkeit als eine weitere Prämisse der dominanten Öffentlichkeitstheorien hinterfragt. Negt und Kluge (2001) haben Öffentlichkeit als eine Organisationsform sozialer Erfahrung definiert. Sie begründeten, warum sich neben der bürgerlichen Öffentlichkeit eine proletarische Gegenöffentlichkeit mit eigenen Interaktionsformen und Räumen formiert. Wenn man dieses Argumentationsmuster verallgemeinert und auf weitere soziale Konstellationen und Interessengruppen bezieht, dann wird eine Vielfalt von Öffentlichkeiten sichtbar. Gerade queere oder postkoloniale TheoretikerInnen wiesen auf die Möglichkeiten dezentrierter Öffentlichkeiten hin, etablierte Strukturen in Frage zu stellen und vielfältigen gesellschaftlichen Gruppen eine Stimme zu verleihen. Spivak (1994) schreibt in ihrem Artikel „Can the subaltern speak?“, dass Angehörige von subkulturellen oder marginalisierten Gruppen nicht sprechen können, solange sie nicht gehört oder ihre Äußerungen von westlichen Intellektuellen gemäß deren Deutungen interpretiert werden. Fraser (1994a) greift die Bezeichnung wieder auf und argumentiert, dass solche „subalternen“ Öffentlichkeiten zum Funktionieren der von Habermas entworfenen rationalen Diskurssphäre der BürgerInnen notwendig sind und hier als Korrektiv fungieren. Öffentlichkeit ist demnach ein diskursives Forum zur Inszenierung von Konflikten, das aus starken und schwachen Öffentlichkeiten besteht (vgl. Fraser 2001: 107ff.).
Forschungsfragen und Zukunftsvisionen An die Ausführungen von Fraser hat Klaus (1998, 2001) theoretisch angeknüpft, während Wischermann (2003) sie empirisch für eine Studie fruchtbar gemacht hat, in der sie dem Erfolg der Frauenstimmrechts- und Sittlichkeitsbewegung nachspürt. Weitere empirische Arbeiten untersuchen Ausdrucksformen, Praktiken und Wirkungen von Öffentlichkeiten, die durch die neuen Frauenbewegungen angestoßen wurden.
Drei Ebenen von Öffentlichkeit Klaus definiert Öffentlichkeit als „Selbstverständigungsprozess der Gesellschaft“, in dem Normen und Werte ausgehandelt, Regeln für das gesellschaftliche Zusammenleben festgelegt sowie Identitäten entworfen werden. So gesehen wird dann auch in der häuslichen Sphäre und im Alltag Öffentliches verhandelt. Statt des Gegensatzes von Privatheit und Öffentlichkeit können dann drei Ebenen von Öffentlichkeit unterschieden werden mit ihren je eigenen Kommunikationsformen und -foren. Die Ebene der einfachen Öffentlichkeit, deren Prototyp Alltagskommunikationen bilden, stellt sich durch spontane Begegnungen her und zeichnet sich durch direkte Kommunikationsformen aus. Auf der mittleren Ebene, deren Prototyp die Bürgerinitiativen und Vereine darstellen, findet eine erste Rollendifferenzierung in SprecherInnen und einfache Mitglieder statt. Versammlungen und Publikationen dienen hier dem Zusammenhalt der durch ein gemeinsames Interesse verbundenen Mitglieder. Auf der komplexen Ebene der Öffentlichkeit, deren Prototyp die Massenmedien sind, wird die Kommunikation weitergehend professionalisiert und die Rollen zwischen KommunikatorInnen und Publikum, zwischen Medien und Teilöffentlichkeiten sind nicht umkehrbar festgelegt. Für diese drei Ebenen der Öffentlichkeit gilt: je komplexer die Kommunikationsstruktur, umso kleiner die Zahl der kommunikativen Foren, und weiter auch: je komplexer die Öffentlichkeit, umso größer ihr gesellschaftlicher Einfluss. Damit lassen sie sich als eine hierarchisch gegliederte Pyramide visualisieren.
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Frauenbewegungen und Öffentlichkeiten Wischermann (2003) untersucht die Kommunikations- und Interaktionsformen der deutschen Frauenstimmrechts- und Sittlichkeitsbewegung um die vorige Jahrhundertwende und fragt nach deren Erfolgsbedingungen. In ihrer Untersuchung identifiziert sie drei miteinander verschränkte Ebenen des einflussreichen Agierens der Frauenbewegung. Im Bereich der „Bewegungskulturen“ wird diese durch ein Netz persönlicher Freundschaften zusammengehalten: in Frauenclubs, geselligen Veranstaltungen, durch die Verwendung bestimmter Symbole und Rituale zu einer starken Identifikation und einer dauerhaften Bindung der die Bewegung tragenden Frauen. Die Ebene der „Bewegungsöffentlichkeiten“ bezeichnet Wischermann als Basis und Motor der Frauenbewegung: Ein reges Versammlungswesen, Vortragsreisen und Schulungsangebote, nicht zuletzt auch eine vielfältig ausgeprägte Alternativpresse dienten zur Verbreitung ihrer Ziele, Themen und Argumente. Unabdingbar für das erfolgreiche Wirken der Bewegung war schließlich ihre Präsenz auf der Ebene der „öffentlichen Meinung/Publizität“, die sie durch Einmischung in die etablierte politische Öffentlichkeit und durch die Mobilisierung der öffentlichen Wahrnehmung erzielen konnte. Insgesamt zeigt Wischermann überzeugend, dass der Schlüssel zur mobilisierenden Kraft der Frauenstimmrechts- und Sittlichkeitsbewegung in der Dynamik von Bewegungskulturen (einfache Ö.), Gegenöffentlichkeiten (mittlere Ö.) und den dominanten Öffentlichkeiten (komplexe Ö.) lag.
Zum Wirken subalterner Öffentlichkeiten Neuere Studien erlauben intensive Einblicke in einzelne der seit den 1970er Jahren entstandenen Frauenöffentlichkeiten und feministischen Öffentlichkeiten und untersuchen diese in ihrem komplexen Wechselverhältnis. Doderer (2003) zeigt beispielsweise, durch welche Strategien die Schaffung neuer Räume gelang und durch welche „urbanen Praktiken“ öffentliches Terrain erobert werden konnte, das vorher Männern vorbehalten war. Offensichtlich kam den Großstädten in der Formierung der neuen Frauenöffentlichkeiten eine wichtige Rolle zu, da sie aufgrund ihrer sozialen Struktur vielfältige Interessenskonstellationen und -artikulationen ermöglichten. Lesbische Frauen und ihr Beitrag zur Öffentlichkeit der Autonomen Frauenbewegung liefern dafür Anschauungsmaterial (vgl. Münst 1998). Eine der vielen Schnittstellen zwischen Frauenöffentlichkeiten und feministischen Öffentlichkeiten stellt die Mütterzentrenbewegung dar, die Kortendiek (1999) in einer Vollerhebung analysiert. „Mütterzentrumsfrauen entwickeln durch die Gestaltung und Nutzung von Mütterzentren eine kollektive Strategie der alltäglichen Lebensführung, die nicht nur die Möglichkeit zur Bewältigung von Ambivalenz in sich birgt, sondern auch das Potential, auf der Basis einer ‚Frauenöffentlichkeit‘ eine ‚feministische Öffentlichkeit‘ zu schaffen“ (ebd.: Klappentext). Solche weiterhin bestehenden Schnittstellen zwischen den verschiedenen Öffentlichkeiten zeugen von anhaltendem Erfolg der neuen Frauenbewegungen. Die vorhandenen Grauzonen zwischen den verschiedenen Ebenen des Öffentlichkeitsprozesses in ihrem Genderbezug genauer zu beschreiben, bleibt auch deshalb eine wichtige Herausforderung für die Forschung.
Ausblick Öffentlichkeit wird eine zentrale Kategorie der Gender Studies bleiben, weil subalterne, nichtdominante Gruppen immer die Öffentlichkeit erreichen müssen, um ihre Interessen und Ziele durchzusetzen. Mit der Fokussierung auf verschiedene Ebenen der Öffentlichkeit kann der Dualismus von Öffentlichkeit und Privatheit zumindest in seiner Bindung an die Geschlechterdifferenz überwunden werden u.a. deshalb, weil emotionale und erfahrungsbezogene Aspekte der
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Formierung von Öffentlichkeit mehr Gewicht erhalten. Das wirft allerdings wiederum die Frage auf, ob es überhaupt Sinn macht, von Frauenöffentlichkeiten zu sprechen, oder ob damit notwendig essentialistische Gendervorstellungen aufrecht erhalten werden. Die Massenmedien erscheinen in dem vorgeschlagenen Drei-Ebenen-Modell nicht als ausschließliche Träger von Öffentlichkeit. Trotzdem bleiben Medienkritik und Öffentlichkeitsarbeit für die Durchsetzung feministischer Forderungen und Alternativen zentral, solange die Vielfalt der Öffentlichkeiten im Interesse der gesellschaftlichen Eliten hierarchisch geordnet ist. Verweise: Frauenbewegungen Frauenprojekte Medien- und Kommunikationsforschung
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Ursula Pasero
Systemtheorie: Perspektiven in der Genderforschung
Systemtheorien Systemtheorien sind ein multidisziplinärer Fokus in der Wissenschaft, der in den 40er und 50er Jahren des 20. Jahrhunderts in den Bio-Wissenschaften und in der Kybernetik entsteht (vgl. Bertalanffy 1976, Ashby 1956). Entscheidend ist dabei der paradigmatische Wechsel von der Beobachtung einzelner Phänomene auf die Beobachtung ihrer Vernetzung. In dem Maße, in dem die Wirkungen der Vernetzung nicht mehr der Summe der Einzelphänomene, sondern der Dynamik der Vernetzung selber zugerechnet werden, gewinnt der Systembegriff an Plausibilität: Systeme bilden sich als Resultate einer solchen Dynamik. Sie sind generierende Ordnungen, die aus der Verarbeitung der Vernetzung hervorgehen.
Soziologische Systemtheorien Zeitgleich in den 1950er Jahren entwickelt Talcott Parsons (1964, 11951) eine soziologische Systemtheorie, die schließlich von Niklas Luhmann nicht nur aufgegriffen, sondern paradigmatisch umgestellt wird: von Handlung auf Kommunikation (vgl. Luhmann 2002: 12ff.). Soziale Systeme sind Systeme, die operativ sowohl aus Kommunikationen bestehen als auch an Kommunikationen anschließen. Dabei wird Gesellschaft in einer spezifischen Weise beobachtet: nicht identitätslogisch, sondern differenzlogisch. Es gibt Systeme dann und nur dann, wenn sie sich von ihrer Umwelt unterscheiden. Und diesen Unterschied generieren Systeme selber. Sie konstruieren ihre Grenze zur Umwelt ebenso wie das, was sie sich selber zurechnen oder ausschließen und zur Umwelt machen. Grenze und Umwelt sind damit Eigenleistungen von Systemen ebenso wie die systemtypischen Restriktionen, die ein System gegenüber anderen Systemen kennzeichnen (vgl. Baecker 2002: 85). Auf diese Weise lassen sich z.B. Systeme wie Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, Kunst oder Religion voneinander funktionstypisch unterscheiden. Wie kommen nun Frauen, Männer und Geschlechterverhältnisse darin vor?
Die Positionierung der Geschlechterdifferenz Die Geschlechterfrage hat in der Systemtheorie von Niklas Luhmann keinen prominenten Platz. Die Differenz der Geschlechter gilt hier nicht als omnirelevantes Ordnungsmuster, weil die primäre Differenzierungsform der modernen Gesellschaft nach Funktionen und nicht mehr nach Herkunft, Alter und Geschlecht geordnet wird. Luhmanns direkt auf die Geschlechterfrage zielender Essay „Frauen, Männer und George Spencer Brown“ (1988) ist eher wegen seiner scharfen Polemik als für seine relevanten differenzlogischen Fragen aufgefallen. 1983 entsteht ein erster systemtheoretischer Beitrag (Leupold 1983), der an Luhmanns Studie „Liebe als Passion“ (1982) anschließt und den Fokus auf moderne Partnerschaften erweitert.
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Für eine systemtheoretisch orientierte Genderforschung stellt sich die Frage, wie der Geschlechtsdimorphismus und seine Asymmetrie-Effekte in den primären Formen sozialer Differenzierung eingelassen sind und ob sie durch andere Unterscheidungsmuster relativiert werden. Dabei ist der Zugang über die Systemtheorie mit ihrer Leitunterscheidung von System und Umwelt folgenreich. Diese bricht mit einer subjektzentrierten Perspektive von Gesellschaft (vgl. Luhmann 1995a) und ersetzt sie durch die Unterscheidung zweier basaler Systemtypen, die unterschiedlich operieren – einerseits kommunikativ operierende soziale Systeme und andererseits über Wahrnehmung operierende Bewusstseinssysteme. Beide werden zwar als strukturell gekoppelt gedacht, aber strikt auseinander gehalten. Bewusstseinssysteme – also Individuen – nehmen wahr und sind an Kommunikationen beteiligt, aber Kommunikation ist eine emergente Leistung der sozialen Systeme selbst. Kommunikation ist eine ausschließlich systeminterne Operation und kein Ergebnis handelnder Individuen: „Kommunikation ist ein von Handlung abgehobener Prozess, der Handlungen attribuiert, zurechnet, konstruiert, aber nicht selbst Handlung ist“ (Luhmann 2002: 302). Individuen sind zwar in das Kommunikationsgeschehen sozialer Systeme involviert, aber keineswegs leiblich, sondern als personalisierte Konstrukte der jeweiligen Kommunikation – zum Beispiel als Kundinnen, als Erwerbstätige, als Wissenschaftlerinnen. Individuen sind somit aufgrund eingeschränkter, systemtypischer Erwartungen inkludiert, was im Konzept der Form ‚Person‘ zum Ausdruck kommt (vgl. Luhmann 1995a: 142ff.). Soziale Systeme beobachten Individuen also entlang partikularer Personenmerkmale und keinesfalls als „ganze Person“. Aber sie müssen zugleich die Individualität der ganzen Person unterstellen. Gesellschaft ist für Luhmann das umfassende soziale System. Dabei gibt die primäre Form der Differenzierung des Gesellschaftssystems vor, wie die Gesellschaft gebaut ist und wie die Individuen in die Gesellschaft ein- und ausgeschlossen werden: segmentär (Luhmann 1997: 634ff.), stratifikatorisch (Luhmann 1997: 678ff.) oder funktional (Luhmann 1997: 707ff.). Segmentäre Differenzierung inkludiert Individuen nach Zugehörigkeit in Familienverbänden. Stratifizierte Differenzierung sortiert Individuen hingegen ständisch nach Schichten. Funktionale Differenzierung muss die Anschlussfähigkeit aller Individuen in alle Funktionssysteme offen halten, allerdings nicht körperlich/leiblich, sondern kommunikativ. Niemand lebt in der Wirtschaft oder Wissenschaft der Gesellschaft. Mit Ausnahme familialer Systeme gehört niemand irgendeinem Funktionssystem dauerhaft an, sondern interagiert im Hinblick auf systemtypische kommunikative Anforderungen. Die Gesellschaftsstruktur legt durch ihren primären Differenzierungstypus fest, wie Ordnung wahrgenommen wird. Hierarchische – d.h. stratifizierte – Gesellschaften verfügen noch über unangefochtene Positionen der Repräsentation, sei es durch Könige, Kaiser oder männliche Haushaltsvorstände. Die alten Repräsentationsmuster werden durch den sukzessiven Umbau der Gesellschaft in Richtung auf primär funktionale Differenzierung prekär und legitimierungsbedürftig. Mit der funktionalen Differenzierung entsteht also eine Gesellschaftsstruktur, in der Unterschiede zwischen den Individuen keine Ausschlusskriterien mehr sein können. Auch die Unterscheidung von Frauen und Männern kann damit nicht mehr „in einem asymmetrischen Sinne benutzt werden, um den Männern die Funktion der Repräsentation des Systems im System zu geben“ (Luhmann 1988: 47). An die Stelle von Repräsentationsasymmetrien treten funktional gebaute Asymmetrien, die an Unterschieden in der Bildung, der Ausbildung und dem Einkommen, also an auf- wie absteigenden individuellen „Karrieren“, ablesbar werden.
Anschließende Perspektiven Die Diskussion systemtheoretisch orientierter Geschlechterforschung konzentriert sich auf die Frage, ob sich die Unterscheidungs-Asymmetrien zwischen Frauen und Männern auch in der funktional differenzierten Gesellschaft halten können. Von einer systemtheoretischen Perspektive aus gesehen fungieren die Codierungen der Funktionssysteme indifferent gegenüber geschlechtstypischen
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Unterscheidungen. Es kann also weder von weiblicher oder männlicher Wissenschaft, Wirtschaft, Politik oder Kunst gesprochen werden. Dennoch lassen sich geschlechtstypische Inklusionsmuster nachweisen, die mit der Durchsetzung funktionaler Differenzierung einhergegangen sind (vgl. Weinbach 2002). Der neuralgische Ort asymmetrischer Arrangements der Geschlechter wird heute vor allem in hierarchisch gebauten Organisationssystemen vermutet, die das Problem bislang noch hinter komplementären oder segregierten Anordnungen ihres männlichen und weiblichen Personals unsichtbar machen (vgl. Pasero 2003, 2004b; Ohlendieck 2003a und b; Baecker 2003a). Erste an Luhmann anschließende Beiträge zur Geschlechterforschung sind in den 1990er Jahren entstanden (vgl. Pasero 1994, 1995, 1997, 1999). Die Diskussion wird inzwischen auf breiterer Basis fortgesetzt. Dabei fallen die Positionen keineswegs einheitlich aus. Auf der einen Seite wird die Wirkungsmächtigkeit sichtbarer Frauen- und Männerkörper hervorgehoben (vgl. Nassehi 2003) und die Aktivierung geschlechtstypischer Unterscheidungen im Kontext von Interaktionen verortet (vgl. Weinbach/Stichweh 2001, Weinbach 2007). Auf der anderen Seite wird der Imperativ des Geschlechtsdimorphismus relativiert und den Spielräumen von Individualisierung und dem Durchkreuzen geschlechtsdifferenter Stereotype eine größere Chance eingeräumt (vgl. Pasero 2003, 2004a, 2004b, 2007; Ohlendieck 2003b). Nassehi (2003: 80ff.) versteht die Geschlechterdifferenz als eine ausgesprochen elastische Unterscheidung, die in der Lage ist, sich an einen beliebigen anderen Unterscheidungsgebrauch anzupassen. Die Unterscheidung bleibt sichtbar, auch wenn sie nicht zur Debatte steht. Die Sichtbarkeit ist der Kern. Wo Personen sichtbar werden, treten sie als Frauen und Männer auf. Dieser Zirkel der Sichtbarkeit zielt auf den Körper, dem keine Chance gelassen wird, selbst kontingent zu wirken. Ihm scheinen geschlechtstypische, ethnische oder alterstypische Bedeutungen anzuhaften, die kaum dementiert werden können. So entsteht eine Plausibilität des Sichtbaren, die eine Robustheit der Geschlechterunterscheidung erzeugt und die sich selber trägt, weil die Wahrnehmung auf das Schema konditioniert ist. Weinbach (vgl. 2003, 2004, 2007) sieht den Primat funktionaler Differenzierung durch vergeschlechtlichte soziale Erwartungen durchkreuzt, die insbesondere in interaktiven Kontexten aufleben. Sie koppelt die Geschlechterdifferenz an die Form ‚Person‘ und lässt sie damit in die funktionale Differenzierungsform ein. Das Konzept der Form ‚Person‘, das heißt der Luhmannsche Mechanismus der strukturellen Kopplung von Bewusstsein und Kommunikation wird mit Hilfe von Ergebnissen aus der Stereotypen- und Attributionsforschung ergänzt und das geschlechtstypische Unterscheidungsmuster als geschlechtsstereotypisierte Form ,Person‘ gefasst. Sie bündelt für Frauen und Männer unterschiedlich attribuierte soziale Erwartungen, die durchaus noch asymmetrische Inklusionsmuster auslösen. Geschlechtstypische Inklusionsmuster in Unternehmen und Organisationen führt Ohlendieck (2003a und b) auf differente Wirkungen zwischen formalen Organisationen und informellen Netzwerken zurück: Während Organisationssysteme ihr personales Inventar vorrangig funktionstypisch beobachten, nutzen Netzwerke die Form der sozialen Adresse (vgl. Fuchs 1997, Tacke 2000, 2007), bei der auch askriptive Merkmale aktiviert werden können. Informelle Netzwerke folgen anderen als funktionstypischen Regeln. Ihre Selbsterhaltung zwingt nicht nur zur informellen Kooperation ihrer Angehörigen, sondern auch zur informellen Kooptation neuer Mitglieder mit einer deutlichen Neigung zur Homosozialität. Netzwerkangehörige werden bevorzugt aufgrund (geschlechts)stereotyper Selbstähnlichkeit ausgewählt, um Irritationen gering zu halten. Die damit einhergehende Aktivierung von Geschlechterstereotypen zieht nach sich, dass Frauen mehr familiale als professionelle Kompetenzen zugerechnet werden. Gendering als situatives Geltendmachen des Geschlechts in einem strukturell geschlechtsneutralen Organisationssystem stellt einen Rückfall in alte Asymmetrien dar. Gendering markiert dann einen „ambiguity failure“ (Baecker 2003b: 133ff.), wenn im situativen Kontext solcher Interaktionen geschlechtstereotype Zuschreibungen gerade nicht erwartet werden. Organisationen invisibilisieren das Problem bislang noch durch geschlechtstypische Segregation. Das Ende solcher Anordnungen zeichnet sich da ab, wo Frauen mit Männern um dieselben Positionen konkurrieren. Solange
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allerdings gleichrangig qualifizierte Frauen und Männer nicht als wechselseitig substituierbar gelten, muss weiterhin mit geschlechtstypischen Positionierungen gerechnet werden – eine anachronistische Verknappung von Personal (Pasero 2004b). Allerdings bilden sowohl Funktionssysteme als auch formale Organisationen jene gesellschaftlichen Kontexte, die das netzwerkspezifische Potenzial für geschlechtliche Zuschreibungen disziplinieren können (Tacke 2007). Ein auf solche Auflösungsprozesse ausgerichteter systemtheoretischer Ansatz (vgl. Pasero 1995, 2003, 2004a, 2004b, 2007) fragt darüber hinausgehend, wie einerseits IndividualitätsErwartungen durch geschlechtstypische Erwartungen durchkreuzt werden und wie andererseits geschlechtsstereotype Verweise durch den Imperativ der Individualisierung auf Distanz gebracht werden. Während die Unterstellung von Individualität ergebnisoffen, elastisch und korrigierbar gebaut sein muss, adressiert der Geschlechtsdimorphismus strikte Eindeutigkeit – ein Unterschied, der einen Unterschied macht. Die wachsende Unzuverlässigkeit geschlechtstypischer Zuschreibungen wird hier als empirischer Ausdruck des Dilemmas von geschlechtstypischer Bestimmtheit und individueller Unbestimmtheit aufgefasst. Geschlecht ist ein stereotyp gebautes soziales Merkmal. Aber dieses Merkmal wird durch Inklusionsprozesse in die Funktions- und Organisationssysteme der modernen Gesellschaft nachhaltig irritiert und relativiert. Die alten komplementär gebauten Arrangements der Geschlechter, die im semantischen Formenvorrat der Gesellschaft gespeichert sind, werden durch funktionstypische Erwartungen überlagert, die durch ihre offenere Ausrichtung auf Individualität in the long run die besseren Anpassungsleistungen versprechen und möglicherweise erfolgreicher sind. Niklas Luhmann selber hat zur Frage der Geschlechterdifferenz schließlich eine überraschende Perspektive in Erwägung gezogen, die der Rückverwandlung der sicheren Unterscheidung zwischen Frauen und Männern in Unsicherheit: „Präkommunikative Sozialität zwingt jeden zur Identifikation mit dem eigenen Geschlecht – auch dann, wenn Situationen zunehmen, in denen es selbstverständlich ist oder in denen das Individuum mitteilen möchte, dass es auf sein Geschlecht nicht ankommen sollte (...). Das Problem des Geschlechterverhältnisses ist vielmehr, wie und wozu diese Sicherheit in Unsicherheit rückverwandelt werden kann; und mehr noch: wie diese Differenz von Eindeutigkeit und offener, erst noch zu bestimmender Vieldeutigkeit benutzt werden kann, um die evolutionäre Vorgabe von Bisexualität den sich evolutionär verändernden Gesellschaftsstrukturen anzupassen“ (1995b: 314).
Es geht nicht um die Selbstverständlichkeit der Unterscheidung durch präkommunikative Sozialität – damit wäre die Debatte beendet –, sondern vielmehr um das Durchkreuzen der Geschlechterdifferenz durch funktionale Differenzierung. Verweise: Geschlechterstereotype Netzwerkforschung
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Luhmann, Niklas 1982: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt/M.: Suhrkamp Luhmann, Niklas 1988: Frauen, Männer und George Spencer Brown. In: Zeitschrift für Soziologie 17, Heft 1, S. 47-71 Luhmann, Niklas 1995a: Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch. Opladen: Westdeutscher Verlag Luhmann, Niklas 1995b: Geschlecht – und Gesellschaft? In: Soziologische Revue 18. S. 314-319 Luhmann, Niklas 1997: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Teilbände. Frankfurt/M.: Suhrkamp Luhmann, Niklas 2002: Einführung in die Systemtheorie. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Nassehi, Armin 2003: Geschlecht im System. Die Ontologisierung des Körpers und die Asymmetrie der Geschlechter. In: Pasero, Ursula/Christine Weinbach (Hrsg.): Frauen, Männer, Gender Trouble. Systemtheoretische Essays. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 80-104 Ohlendieck, Lutz 2003a: Gender trouble in Organisationen und Netzwerken. In: Pasero, Ursula/Christine Weinbach (Hrsg.): Frauen, Männer, Gender Trouble. Systemtheoretische Essays. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 171-185 Ohlendieck, Lutz 2003b: Die Anatomie des Glashauses. Ein Beitrag zum Verständnis des glass ceiling Phänomens. In: Pasero, Ursula (Hrsg.): Gender: from costs to benefits. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag Parsons, Talcott 1964: The Social System. New York: Free Press (1. Auflage 1951) Pasero, Ursula 1994: Geschlechterforschung revisited: Konstruktivistische und systemtheoretische Perspektiven. In: Wobbe, Theresa/Gesa Lindemann (Hrsg.): Denkachsen. Zur theoretischen und institutionellen Rede vom Geschlecht. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 264-296 Pasero, Ursula 1995: Dethematisierung von Geschlecht. In: Pasero, Ursula/Friederike Braun (Hrsg.): Konstruktion von Geschlecht. Pfaffenweiler: Centaurus, S. 50-66 Pasero, Ursula 1997: Kommunikation von Geschlecht – stereotype Wirkungen: Zur sozialen Semantik von Geschlecht und Geld. In: Braun, Friederike/Ursula Pasero (Hrsg.): Kommunikation von Geschlecht. Pfaffenweiler: Centaurus, S. 242-260 Pasero, Ursula 1999: Wahrnehmung – ein Forschungsprogramm für Gender Studies. In: Pasero, Ursula/ Friederike Braun (Hrsg.): Wahrnehmung und Herstellung von Geschlecht. Perceiving and Performing Gender. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 13-20 Pasero, Ursula 2003: Gender, Individualität, Diversity. In: Pasero, Ursula/Christine Weinbach (Hrsg.): Frauen, Männer, Gender Trouble. Systemtheoretische Essays. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 105-124 Pasero, Ursula 2004a: Frauen und Männer im Fadenkreuz von Habitus und funktionaler Differenzierung. In: Nassehi, Armin/Gerd Nollmann (Hrsg.): Bourdieu und Luhmann. Ein Theorievergleich. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 191-207 Pasero, Ursula 2004b: Gender Trouble in Organisationen und die Erreichbarkeit von Führung. In: Pasero, Ursula/Priddat, Birger (Hrsg.): Organisationen und Netzwerke: der Fall Gender. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. S. 143-197 Pasero, Ursula 2007: Individualität und die Semantik von Diversität. In: Kabalak, Alihan/Birger Priddat (Hrsg.): Wieviel Subjekt braucht die Theorie? Ökonomie/Soziologie/Philosophie. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. S. 131-146 Pasero, Ursula/Christine Weinbach (Hrsg.) 2003: Frauen, Männer, Gender Trouble. Systematische Essays. Frankfurt/M.: Suhrkamp Tacke, Veronika 2000: Netzwerk und Adresse. In: Soziale Systeme 6, Heft 2, S. 291-320 Tacke, Veronika 2007: Netzwerk und Geschlecht – im Kontext. In: Weinbach, Christine (Hrsg.): Geschlechtliche Ungleichheit in systemtheoretischer Perspektive. VS Verlag für Sozialwissenschaften. S. 165-189 Weinbach, Christine 2002: Systemtheorie und Gender. Überlegungen zum Zusammenhang von politischer Inklusion und Geschlechterdifferenz. In: Soziale Systeme 8, Heft 2, S. 307-332 Weinbach, Christine 2003: Die systemtheoretische Alternative zum Sex-und-Gender-Konzept: Gender als geschlechtsstereotypisierte Form „Person“. In: Pasero, Ursula/Christine Weinbach (Hrsg.): Frauen, Männer, Gender Trouble. Systemtheoretische Essays. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 144-170 Weinbach, Christine 2004: Systemtheorie und Gender. Das Geschlecht im Netz der Systeme. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften Weinbach, Christine 2007: Überlegungen zu Relevanz und Bedeutung der Geschlechterdifferenz in funktional gerahmten Interaktionen. In: Weinbach, Christine (Hrsg.): Geschlechtliche Ungleichheit in systemtheoretischer Perspektive. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. S. 141-164 Weinbach, Christine/Rudolf Stichweh 2001: Die Geschlechterdifferenz in der funktional differenzierten Gesellschaft. In: Heintz, Bettina (Hrsg.): Geschlechtersoziologie. KZfSS Sonderheft 41/2001, S. 30-52
Steffani Engler
Habitus und sozialer Raum: Zur Nutzung der Konzepte Pierre Bourdieus in der Frauen- und Geschlechterforschung
Pierre Bourdieu hat den Sozialwissenschaften eine aus Denkwerkzeugen bestehende Theorie von der sozialen Welt hinterlassen, die er in forschungspraktischen Arbeiten entwickelt und modifiziert hat. Der mit diesen Denkwerkzeugen verbundene Zugang zur sozialen Welt beinhaltet allerdings einen Paradigmenwechsel im sozialwissenschaftlichen Denken. So liefert Bourdieu Denkwerkzeuge, um die soziale Praxis von AkteurInnen mit einem reflexiven Blick zu analysieren, der weder implizit noch explizit durch Normativität gekennzeichnet ist, sondern durch eine relationale Betrachtungsweise; diese ermöglicht es, das Wirken und die Funktionsweise von Macht- und Herrschaftsverhältnissen in der sozialen Praxis offenzulegen. Beim Habitus-Konzept und dem Konzept der symbolischen Gewalt, der Konstruktion des sozialen Raumes und der Vorstellung von sozialen Feldern handelt es sich um zentrale Denkwerkzeuge, die von Bourdieu im Laufe seiner Forschungsarbeiten entwickelt wurden. Diese dienen dazu, die soziale Praxis mit ihrer eigenen, praktischen Logik und ihrem praktischen Sinn zu verstehen. Damit ist eine Abkehr von der Vorstellung verbunden, dass soziales Handeln als durchgängig rationales zu fassen ist. Die Kohärenz der Theorie der sozialen Welt erschließt sich hierbei durch das soziologische Denken Bourdieus, das allerdings hierzulande immer noch wenig vertraut ist. So werden die Arbeiten Bourdieus wahrgenommen und bewertet mit jenem sozialwissenschaftlichem Denken, gegen das Bourdieu seine Konzepte entwickelt hat. Das heißt auf die Arbeiten und Konzepte wird ein Denkstil angewendet, den Bourdieu mit seinen Konzepten aufzubrechen sucht. Darin liegt ein Kardinalfehler in der Rezeption der Arbeiten Bourdieus (vgl. dazu Engler/Zimmermann 2002), denn es erschwert den Gebrauch und die Nutzung seiner Konzepte in den Sozialwissenschaften, auch in der Frauen- und Geschlechterforschung. In der deutschsprachigen Frauen- und Geschlechterforschung werden von einigen Autorinnen seit Mitte der 1980er Jahre in unterschiedlichen Arbeiten Versuche unternommen, Konzepte von Bourdieu zur Analyse des Geschlechterverhältnisses einzuführen, vorzustellen oder zu nutzen (Schlüter 1986, Janshen/Rudolph 1987, Engler 1988, Bock-Rosenthal 1990, Engler/Friebertshäuser 1992). In den 90er Jahren setzt sich das fort (Dölling 1993, Engler 1993, Frerichs/Steinrücke 1993, Krais 1993, Hasenjürgen 1996, Dölling/Krais 1997, Frerichs 1997, Rohleder 1997, Haas 1999, Schlüter 1999), ebenso wie am Anfang des 21. Jahrhunderts (Frerichs 2000, Krais 2001, Zimmermann 2000, Vester/Gardemin 2001, Engler 2001, Rademacher 2002, Beaufaÿs 2003). Dennoch spielt im mainstream der Frauen- und Geschlechterforschung die Theorie der sozialen Welt von Bourdieu eine marginale Rolle. Allenfalls werden hier einzelne Begriffe wie Habitus oder Kapital herausgegriffen, um auf Bourdieu zu verweisen oder um ‚kritisch‘ festzustellen, dass einer seiner Begriffe zu statisch ist bzw. zu kurz greift. Diese Umgangsweise teilt die Frauen- und Geschlechterforschung mit dem Mainstream in den Sozialwissenschaften. Dabei bieten sich die Denkwerkzeuge Bourdieus an, um sie zur Analyse von Dominanz- und Herrschaftsverhältnissen zu nutzen, die die Geschlechterordnung in modernen Gesellschaften durchziehen. Darüber hinaus ist Bourdieu einer der wenigen Soziologen, der sich mit dem Beitrag „Die männliche Herrschaft“ (1990a, dt. 1997a) in die Geschlechterdiskussion eingeschaltet hat.
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Um die Konzepte zu gebrauchen und fruchtbar weiterzuentwickeln, ist es vorab notwendig, die Denkweise zu verstehen und die Konzepte zur Kenntnis zu nehmen. Im Folgenden wird daher zunächst in den Denkstil Bourdieus eingeführt, dann das Habitus-Konzept und die Theorie der sozialen Felder sowie die Konstruktion des sozialen Raumes vorgestellt und darauf hingewiesen, wie diese Konzepte bisher in der Frauen- und Geschlechterforschung genutzt werden.
Wissenschaftliche Reflexivität als Kennzeichen des Denkstils Bourdieus Wer an die Arbeiten Bourdieus herangeht und nach eindeutigen Definitionen von Begriffen sucht, nach schematischen, formalen Festlegungen, der wird enttäuscht. Eine solche Suche ist vergeblich. Das hängt damit zusammen, dass Bourdieu die soziale Praxis von Akteurinnen und Akteuren zum Gegenstand macht und die AkteurInnen als Konstrukteure ihrer Realität in unterschiedlichen sozialen Feldern ins Zentrum rückt. Diese AkteurInnen sind in ihrem jeweiligen sozialen Gefüge kreativ und erfinderisch, so dass man der Logik ihres Handelns mit vorgeformten Klassifikationsrastern nicht beikommen kann. Klassifikationsraster sind aber Selbstverständlichkeiten des alltäglichen ebenso wie des wissenschaftlichen Denkens. Und damit ist ein Denken in Dualismen und Substanzen verbunden. In dieser klassifikatorischen Denkweise verbleibend ‚gibt‘ es Subjekt und Objekt, Individuum und Gesellschaft, Mikro- und Makrotheorien, und es ‚gibt‘ Frauen und Männer, denen man Eigenschaften zu- und absprechen kann. Die wissenschaftliche Reflexivität, die die Arbeiten Bourdieus durchzieht und seine Denkweise kennzeichnet, beinhaltet einen Bruch mit einem Denken in solchen Dualismen, das mit einem Substanzdenken verbunden ist und voraussetzt, dass es soziale Dinge ‚gibt‘. In der Frauen- und Geschlechterforschung hat die Diskussion um ‚doing gender‘ thematisiert, dass Geschlecht nicht etwas ist, was man hat, sondern was man tut. So wird der Sachverhalt, dass es Frauen und Männer gibt, als sozial produzierter Unterschied gefasst. Bei Bourdieu geht das Aufbrechen von dualistischem Denken über die Kategorie Geschlecht hinaus. Im Verständnis von Bourdieu bilden nicht Frauen und Männer als Einzelwesen den Ausgangspunkt von Untersuchungen, sondern „Relationen“ als „Realisierungen des historischen Handelns“ (Bourdieu 1996a: 160). Dieses relationale Denken kommt ohne einen Rückbezug auf soziale Felder nicht aus. Hier gibt es kein von der sozialen Praxis der AkteurInnen losgelöstes Konstruieren und Dekonstruieren von Geschlecht. Aber es gibt auch keine abstrakten und allgemeingültigen Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata, die losgelöst von der sozialen Praxis universell und allgemeingültig sind. Bourdieu reflektiert – wie kein anderer Wissenschaftler – die mit dem eigenen Standpunkt als Wissenschaftler verbundenen Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata und bricht mit der illusio, mit dem Glauben, dass es allgemeingültige Schemata gibt und WissenschaftlerInnen darüber verfügen. Es sind die genannten Besonderheiten des sozialwissenschaftlichen Denkens – der Bruch mit dem Denken in Dualismen und Substanzen, das relationale Denken und die Einführung des besonderen Standpunktes des Wissenschaftlers –, die den analytischen Blick Bourdieus kennzeichnen und für seine Arbeiten grundlegend sind (vgl. ausführlich dazu Bourdieu 1995, Bourdieu/Wacquant 1996a, Engler/Zimmermann 2002). Es ist dieser kurz skizzierte Denkstil, der den „eigentlichen Kern“ (Bourdieu 1998a: 7) des analytischen Blicks Bourdieus ausmacht. Er liegt den in vielfältigen Forschungsarbeiten entwickelten und modifizierten Konzepten zugrunde. Und diese Konzepte sind nicht isoliert zu verstehen, sondern bilden aufeinander bezogene Denkwerkzeuge.
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Das Konzept des Habitus Der Habitus-Begriff findet sich bei unterschiedlichen Wissenschaftlern wie Émile Durkheim, Marcel Mauss, Norbert Elias und Erwin Panofsky. Erst Bourdieu verwendet den Habitus als soziologisches Interpretationskonstrukt bzw. als ein Analysekonzept. Dieses Habitus-Konzept setzt den oben genannten Bruch mit dem dualistischen Denken voraus. Leider wird das Konzept jedoch im dualistischen Substanzdenken verbleibend rezipiert, als sei damit der Anspruch verbunden, zwischen Handeln und Struktur, Objektivismus und Subjektivismus, Individuum und Gesellschaft zu vermitteln, eine Brücke zu schlagen etc. Das Individuum wird als Entgegensetzung zur Gesellschaft verstanden und zwischen diesen beiden wird der Habitus positioniert. Das Habitus-Konzept Bourdieus operiert aber nicht mit dieser „wissenschaftlich absurden Gegenüberstellung von Individuum und Gesellschaft“ (Bourdieu 1986: 160, vgl. auch Bourdieu 1987: 49), daher ist der Habitus auch nicht als verknüpfende Schnittstelle zwischen Individuum und sozialen Strukturen zu verstehen. Die angewandten Gegenüberstellungen müssen sich jedoch nicht auf Individuum und Gesellschaft beziehen, sondern können auch anders ausgerichtet sein. Ein Beispiel dafür ist die sozialpsychologisch orientierte Gegenüberstellung von „Habituskonsistenz“ (als berufliches Selbstbild bei Männern) und als „Habitusambivalenz“ insbesondere von Ingenieurinnen (Janshen/Rudolph 1987: 28 ff.). Bourdieu bricht mit dem Habitus-Konzept solche Dichotomien auf (vgl. Bourdieu 2001: 177). Doch stellt sich die Frage, wie der Habitus jenseits vertrauter dualistischer Gegenüberstellungen zu verstehen ist; denn dies ist die Grundlage, um zu verstehen, wie Bourdieu „die eigentümliche Wirkungsweise des vergeschlechtlichten und vergeschlechtlichenden Habitus“ (Bourdieu 1997a: 167) fasst. Bourdieu erläutert dies so: „Die menschliche Existenz, der Habitus als das Körper gewordene Soziale, ist jene Sache der Welt, für die es eine Welt gibt; Pascal hat das so ausgedrückt: Le monde me comprend, mais je le comprends – also etwa: Ich bin in der Welt enthalten, aber die Welt ist auch in mir enthalten. Die soziale Realität existiert sozusagen zweimal, in den Sachen und in den Köpfen, in den Feldern und in den Habitus, innerhalb und außerhalb der Akteure. [...] Ich könnte, um mich verständlich zu machen, Pascals Ausspruch so fortführen: Ich bin in der Welt enthalten, aber sie ist auch in mir enthalten, weil ich in ihr enthalten bin; weil sie mich produziert hat und weil sie die Kategorien produziert hat, die ich auf sie anwende, scheint sie mir selbstverständlich, evident. Im Verhältnis zwischen Habitus und Feld geht die Geschichte ein Verhältnis mit sich selbst ein: Der Akteur [...] und die soziale Welt [...] sind [...] in einem regelrechten ontologischen Einverständnis vereint. Dieses Verhältnis der praktischen Erkenntnis entsteht nicht zwischen einem Subjekt und einem als solchem konstituierten und ihm als Problem aufgegebenen Objekt.“ (Bourdieu 1996a: 161)
Der Habitus als das Körper gewordene Soziale enthält demnach diese doppelte soziale Realität. Der sozialisierte Körper (das, was man Individuum nennt) ist nicht das Gegenteil von Gesellschaft, sondern eine ihrer Existenzformen (Bourdieu 1987). Auf dieser doppelten Realität oder „doppelsinnigen Relation“ (Bourdieu 1998a: 7) beruht die gesamte Theorie der sozialen Welt. Um das neue und völlig andere Verständnis des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft zu verstehen, bietet sich ein Blick in Sozialisationstheorien an. Für Theorien der Sozialisation ist eine Gegenüberstellung von Individuum und Gesellschaft grundlegend, in der das Individuum mit Subjektivität (und Freiheit) ausgestattet wird und die Gesellschaft als Negativum, als diese Subjektivität in Zwänge verweisend und einbindend, gefasst wird. Das Hineinentwickeln eines Individuums in die Gesellschaft wird dann verstanden als ein mehr oder minder gelungenes Hineintragen von eigener Subjektivität in die Gesellschaft, der äußere Grenzen gesetzt werden. Beim Habitus-Konzept Bourdieus gibt es keine vorsoziale Subjektivität. Individuen sind durch ihre körperliche Existenz, durch ihre Bewegungen, Blicke und Gesten, immer schon Mitglieder der Gesellschaft – wenn auch als Kleinkind mit einem niedrigen Entwicklungsstand. Individuen und Welt stellen sich in der sozialen Praxis gegenseitig her. Das bedeutet allerdings auch, dass die Macht- und Herrschaftsverhältnisse den Akteuren (den ‚Herrschenden‘ wie den
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‚Beherrschten‘) nicht äußerlich sind, sondern die symbolische Ordnung der sozialen Welt ist in Form von Klassifikationssystemen in den Sachen und in den Köpfen präsent. Auch das Klassifikationsschema Geschlecht, das weiblich und männlich als bipolaren Gegensatz konstruiert, ist in unsere Sicht der Welt eingelagert. Das bedeutet aber auch, die Herstellung von Geschlecht in der sozialen Praxis, das ‚doing gender‘ ist nicht voraussetzungslos, es ist nicht beliebig, sondern immer zugleich vorstrukturierte soziale Praxis. Diese doppelte soziale Realität beschreibt Bourdieu in seinen Formulierungen des Habitus. Als ein „System dauerhafter und übertragbarer Dispositionen“ ist der Habitus strukturierte Struktur, die wie geschaffen ist, als strukturierende Struktur zu fungieren, als Erzeugungs- und Ordnungsgrundlage für Praktiken und Vorstellungen (Bourdieu 1987: 98, Bourdieu 2001: 177). In den Habitus gehen die Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata ein, die Prinzipien des Denkens, Fühlens und Handelns, die in einer Gesellschaft wirken. Mit anderen Worten: Wir bringen unsere je eigene und besondere Sichtweise der sozialen Welt hervor, aber wir tun dies mit Schemata, die wir nicht selbst erfunden haben, mit Schemata, die in uns und „in der Welt enthalten“ sind. „Als ein Produkt der Geschichte ist er (der Habitus, d.V.) ein offenes Dispositionssystem, das ständig mit neuen Erfahrungen konfrontiert und damit unentwegt von ihnen beeinflusst wird“ (Bourdieu 1996a: 167). Dabei ist der Habitus nicht einfach gesellschaftlich bedingt, sondern er ist durch ‚Mitspielen‘, durch Handeln in der sozialen Praxis, erworben und wird in der sozialen Praxis auch verändert und umgebildet. So ist der Habitus zu verstehen als verinnerlichte, auch in den Körper eingeschriebene, inkorporierte Geschichte und als ein Dispositionssystem, das vielfältige Praktiken hervorbringt, als ein Konzept, das es dem Wissenschaftler oder der Wissenschaftlerin ermöglicht zu zeigen, dass es einen Zusammenhang zwischen „höchst disparaten Dingen“ gibt: „wie einer spricht, tanzt, lacht, liest, was er liest, was er mag, [...] All das ist eng miteinander verknüpft“ (Bourdieu 1989: 25). Diese Verknüpfung, die soziale Logik der Praktiken, kommt jedoch ohne einen Rückbezug auf ein soziales Feld oder einen sozialen Kosmos nicht aus. Wird der Habitus als isoliertes, aus der Theorie der sozialen Welt herausgerissenes Konzept eingesetzt, verliert er einen Großteil seiner analytischen Kraft auch deshalb, weil die sozialen Voraussetzungen, die Macht- und Herrschaftsverhältnisse dann nicht expliziert werden, die in den Habitus eingehen. Das Habitus-Konzept zur Analyse differenzierter Gesellschaften zu benutzen, macht nur Sinn, wenn es auf ein spezifisches soziales Feld oder auf einen sozialen Kosmos bezogen wird; denn nur so ist es möglich, die soziale Logik der Praxis an die Oberfläche zu bringen.
Habitus und Geschlecht – Die männliche Herrschaft Die Bezugnahmen auf das Habitus-Konzept mit dem expliziten Anspruch, es in die Frauen- und Geschlechterforschung einzuführen oder zur Analyse zu nutzen, sind unterschiedlich. Hierbei wird der Habitus gefasst als „weiblicher Habitus“ (Bock-Rosenthal 1990), „geschlechtsspezifischer Habitus“ (Schlüter 1986, Krais 1993), „Geschlechterhabitus“ und als „habitualisierte Geschlechtlichkeit“ (Engler/Friebertshäuser 1992). Bourdieu verwendet den Habitus in der oben genannten doppelsinnigen Realität, als einen Operator, in den die zweigeschlechtliche Weltsicht eingeht und der zur zweigeschlechtlichen Ein- und Aufteilung der sozialen Welt führt. Er bezeichnet ihn daher auch als „vergeschlechtlichten und vergeschlechtlichenden Habitus“ (Bourdieu 1997a: 167). In seiner Arbeit „Die männliche Herrschaft“, die zunächst als Artikel (1990a, dt. 1997a), dann überarbeitet als Buch (1998b) erschienen ist, fragt Bourdieu, wieso die etablierte Ordnung mit ihren Herrschaftsverhältnissen so reibungslos funktioniert (von ein paar Zwischenfällen abgesehen) und immer wieder reproduziert wird und diese Herrschaftsverhältnisse als naturgegeben und natürlich erscheinen. Bourdieu argumentiert, dass in unserer Sicht der Welt die männliche Herrschaft so
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selbstverständlich präsent ist, dass wir bei einer Analyse dieser Herrschaft immer Gefahr laufen, Schemata zur Analyse anzuwenden, die selbst Produkt von Jahrtausenden männlicher Herrschaft sind und zum Analysegegenstand gemacht werden müssten. Deshalb bedient er sich eines „methodischen Kunstgriffs“ zur Aufdeckung der in unseren Habitus eingehenden vergeschlechtlichten Strukturen (Bourdieu 1997b: 90). Er führt eine anthropologische Analyse anhand eines besonderen historischen Falles durch: der kabylischen Gesellschaft. Die gesamte Ordnung dieser Gesellschaft ist ausgerichtet an einer grundlegenden Einund Aufteilung aller Praktiken und Gegenstände entlang des Gegensatzes weiblich und männlich. Das Klassifikationsschema basiert auf der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern. An diesem Beispiel macht Bourdieu deutlich, dass die männliche Herrschaft als alltägliche Sicht der Welt funktioniert, als eine Herrschaft, die selbstverständlich in unsere Schemata des Habitus eingelagert ist als vergeschlechtlichte Sicht der Welt. Das Klassifikationsschema, in dem männlich und weiblich als binäre Opposition konstruiert ist, geht in den Habitus ein und wird angewendet, um unsere Sicht der Welt hervorzubringen. Als Oppositionsschema ist es in ein unerschöpfliches System homologer Oppositionen verstrickt, die „einander wechselseitig verstärken“. Um dies zu verifizieren, schlägt Bourdieu ein kleines Experiment vor: „Bitten Sie einen Kellner im Restaurant, Ihnen Käse und Desserts zu bringen. Sie werden beobachten, dass er in fast allen Fällen spontan die salzigen Speisen den Männern und die Süßen den Frauen serviert“ (Bourdieu 1997b: 92). Neben dem Sachverhalt, dass so unterschiedliche soziale Klassifikationsschemata verknüpft auftreten, zeigt sich auch hier, dass es die dualistische Sichtweise ist (salzig/süß oder auch hart/weich), die man aufbrechen muss, um die mit den Klassifikationsschemata verbundenen Herrschaftsverhältnisse zu analysieren. Geschlecht wird hier verstanden als eine Dimension des Sozialen, als eine Dimension der Hervorbringung sozialer Wirklichkeit durch die Ein- und Aufteilung der sozialen Welt, wie sie von AkteurInnen vorgenommen wird (vgl. Krais 2001). Als vergeschlechtlichte, in den Habitus eingelagerte Sicht der Welt ist Geschlecht nicht als Strukturkategorie zu konzeptualisieren, die man mit anderen soziologischen Kategorien kombinieren kann. Als Dimension des Sozialen ist das Klassifikationsschema Geschlecht Bestandteil der sozialen Ordnung und der von uns verwendeten Ordnungsschemata. Als in den Habitus eingelagertes Klassifikationsschema, „als das Körper gewordene Soziale“, das als solches von den AkteurInnen nicht erkannt wird, realisiert sich die Herrschaftsausübung in der symbolischen Gewalt, die in die alltäglichen Beziehungen ganz selbstverständlich eingeht. Die männliche Herrschaft setzt voraus, dass die praktischen Ordnungsschemata im Habitus der Beherrschten (Frauen) und der Herrschenden (Männer) verankert sind. Die Ausübung symbolischer Gewalt setzt „ein gewisses Einverständnis voraus“ (Bourdieu 1990b: 27) bei denen, die sie ausüben, ebenso wie bei denen, die sie erleiden. Aber sie „(kann) nur auf Menschen wirken, die (von ihrem Habitus her) für sie empfänglich sind, während andere sie gar nicht bemerken“ (Bourdieu 1990b: 28). Dabei nimmt „der Beherrschte den Herrschenden mittels Kategorien wahr, die von der Herrschaftsbeziehung hervorgebracht wurden und von daher im Interesse des Herrschenden liegen“ (Bourdieu 1998a: 197). Mit dem Konzept der symbolischen Gewalt wird das Problem der Anerkennung symbolischer Ordnung durch die AkteurInnen aufgegriffen, so dass ihr „Einverständnis“ mit der jeweils herrschenden Ordnung analysiert werden kann. Das „Einverständnis“ ist dabei nicht zu verstehen als ein rationales Einverständnis, sondern vielmehr als ein praktisches Einverständnis, das eingelassen ist in alltägliche Selbstverständlichkeiten von AkteurInnen und anhand dieser auch analysiert werden kann (vgl. Engler 2003). Man kann die Ausführungen zur „männlichen Herrschaft“ auch als eine Demonstration lesen, in der Bourdieu vorführt, wie das Habitus-Konzept und das Konzept der symbolischen Gewalt zur Analyse von Herrschaftsverhältnissen fruchtbar gemacht werden können und dass es sich dabei um offene Konzepte handelt, die jeweils auf einen bestimmten Gegenstand bezogen und angewendet werden müssen. Das Habitus-Konzept wird nicht als isoliertes Konzept für
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theoriegeleitete empirische Forschung genutzt, sondern vielmehr im Zusammenhang mit dem Feld-Konzept.
Das soziale Feld – Theorie der sozialen Felder Auch beim Begriff des sozialen Feldes handelt es sich um ein offenes Konzept, das ausgehend von und für systematische empirische Anwendungen entwickelt wurde (vgl. Bourdieu 1996a, Bourdieu 1998c), um zeitlich und räumlich bestimmbare Realitäten zu erforschen. Bourdieu verwendet das Konzept des sozialen Feldes in konkreten Forschungszusammenhängen zur Beschreibung des Analysegegenstandes. „Der Begriff des Feldes ist dazu da, daran zu erinnern, dass das eigentliche Objekt einer Sozialwissenschaft nicht das Individuum [...] ist, auch wenn man ein Feld nur von den Individuen aus konstruieren kann. Das Feld muss im Mittelpunkt der Forschungsoperation stehen“ (Bourdieu 1996a: 139). Ein soziales Feld ist zu verstehen „als ein Netz oder eine Konfiguration von objektiven Relationen zwischen Positionen“ (Bourdieu 1996a: 127), die von AkteurInnen eingenommen werden. Diese sind verschieden, wobei diese Heterogenität Bestandteil des Konzepts ist. Dabei werden soziale Felder als Kräftefelder vorgestellt, deren Dynamik in den Beziehungen der AkteurInnen zueinander liegt. Die Theorie der sozialen Felder bezieht sich auf Forschungsarbeiten zum künstlerischen und literarischen Feld (Bourdieu 1999), dem wissenschaftlichen und religiösen Feld, dem Feld des Rechts und der Bürokratie (vgl. Bourdieu 1996a: 124). Grundlegend ist hierbei, dass es sich bei der modernen Gesellschaft um eine ausdifferenzierte handelt und dass die arbeitsteilige Organisation in sozialen Feldern nach je spezifischen Prinzipien funktioniert, deren soziale Logik sich nicht auf ein einheitliches, universelles Grundprinzip reduzieren lässt. Das, was im wissenschaftlichen Feld zählt und im sozialen Handeln der AkteurInnen zu entdecken ist, ist nicht identisch mit dem, was im wirtschaftlichen Feld die AkteurInnen umtreibt und miteinander konkurrieren lässt. In den verschiedenen sozialen Feldern sind unterschiedliche Dinge relevant, die wiederum bestimmte Praktiken und praktische Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata erzeugen und somit eine spezifische Logik bewirken, welche das Besondere des Funktionierens eines Feldes jeweils ausmacht. Für die Analyse von männlicher Herrschaft bedeutet dies, dass Geschlecht als Dimension des Sozialen durch die Vermittlung der Felder zum Tragen kommt und dass die Mechanismen, die in unterschiedlichen sozialen Feldern wirken und Geschlechtseffekte produzieren, je spezifisch sind. In der Frauen- und Geschlechterforschung wird das Feld-Konzept von einigen Autorinnen als theoretischer Zugang für empirische Forschung genutzt. Hierbei wurde wiederholt die Hochschule als relativ autonomes Feld gefasst und AkteurInnen, die unterschiedliche Positionen einnehmen, ins Zentrum gerückt. Wurden zunächst Studentinnen und Studenten unterschiedlicher Fächer im Feld der Hochschule untersucht, um herauszufinden, wie sich in ganz alltäglichen Dingen soziale Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern äußern (Engler 1988, 1993), rückten dann NachwuchswissenschaftlerInnen ins Blickfeld mit dem Anspruch, die „Spielfähigkeit“ von promovierenden Frauen und Männern auszuloten und zu analysieren, welche Bedeutung dabei dem Geschlecht und der sozialen Herkunft zukommen (Hasenjürgen 1996). Schlüter (1999) wiederum nutzt die Konzepte Bourdieus als Folie, um studierende, promovierende und habilitierte Arbeitertöchter und -söhne und deren Bildungswege bzw. deren soziale Bedingungen des Aufstiegs zu untersuchen. Kernfrage bei den neueren Untersuchungen ist, wie es gelingt, Frauen aus der Wissenschaft herauszuhalten bzw. hinauszudrängen. Hierbei geht es um die Mechanismen und Funktionsweisen des wissenschaftlichen Feldes, das als vergeschlechtlichtes gefasst wird, und darum, wie Konstruktionen von Leistung und Begabung in Prozessen von Zuschreibungen und Anerkennung dazu führen, dass Frauen aus der Wissenschaft hinausgedrängt werden. Zimmermann
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(2000) rückt das soziale Geschehen von Berufungsverhandlungen im Feld der Wissenschaft ins Zentrum. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf das komplexe Geflecht von universitären Aushandlungs- und Entscheidungsprozessen, deren Ergebnis wir in dem Sachverhalt vorfinden, dass es immer noch wesentlich weniger Professorinnen als Professoren gibt. Engler (2001) analysiert die Konstruktion der wissenschaftlichen Persönlichkeit, wie sie von Professorinnen und Professoren vorgenommen wird, und zeigt, wie über Anerkennungs- und Zuschreibungsprozesse große und kleine wissenschaftliche Persönlichkeiten zustande kommen. Beaufaÿs (2003) wiederum untersucht mit dem Feld-Konzept, wie wissenschaftlicher Nachwuchs rekrutiert wird, und bezieht sowohl NachwuchswissenschaftlerInnen als auch ProfessorInnen in ihre Untersuchung ein. Dabei wird insbesondere in den jüngeren Arbeiten deutlich, dass nicht der oder die Einzelnen den Ausgangspunkt der Untersuchung bilden, sondern dass das wissenschaftliche Feld konstruiert wird als eines, in dem AkteurInnen unterschiedliche Positionen einnehmen. Bourdieu situiert Frauen allerdings ganz allgemein außerhalb der sozialen Spiele in Feldern, in denen es um Macht und Einfluss geht. Er bestimmt eine Geschlechtsdifferenzierung in der Sozialisation, „die Männer dazu bestimmt, die Machtspiele zu lieben, und die Frauen dazu, die Männer, die sie spielen, zu lieben“ (Bourdieu 1997a: 201). Dieser männliche Blick, der an Resultaten, nicht an Prozessen orientiert ist, schließt nicht nur Frauen allgemein von den Männerspielen aus; er blendet auch jene Frauen aus, die nicht die Männer lieben, die Machtspiele lieben, sondern vielmehr selbst eine Positionen des Erfolgs anstreben. An diesem Beispiel zeigt sich, dass man die Konzepte Bourdieus nutzen kann, ohne den von ihm vorgegebenen Interpretationen zu folgen, denn es handelt sich nicht um vorgeformte fertige Konzepte, die man auf die Praxis applizieren kann, sondern um offene Konzepte, die in Auseinandersetzung mit der Konstruktion des Gegenstandes zuzuschneiden und weiter zu entwickeln sind. Dies hat den Vorzug, dass Geschlecht nicht als ein Merkmal oder eine Eigenschaft von Personen konzipiert wird, sondern dass es darum geht, welche besonderen sozialen Praktiken in einem Feld zu Geschlechtseffekten führen, deren Resultat wir beispielsweise im Ausschluss von Frauen aus Spitzenpositionen kennen. Da in der Theorie der sozialen Felder AkteurInnen konzeptualisiert werden als Personen, die in einem spezifischen Feld um Ansehen, Macht und Einfluss konkurrieren, wird deutlich, dass hierbei bestimmte Sozialfiguren und bestimmte Aspekte des sozialen Handelns ins Blickfeld geraten und andere nicht. Es werden Dimensionen sozialen Handelns beleuchtet, die sich auf Konkurrenz und Wettkampf beziehen. So rücken im Feld der Wissenschaft ProfessorInnen und NachwuchswissenschaftlerInnen in den Blick, um die illusio herauszuarbeiten, das, woran alle glauben, die in diesem Spiel um Macht und Einfluss befangen sind. Aber was ist mit den Hausmeistern und Sekretärinnen, die auch zum wissenschaftlichen Feld als Mikrokosmos gehören, aber nicht an den Kämpfen um Anerkennung und Einfluss beteiligt sind. Wo sind diese Sozialfiguren zu positionieren? Es stellt sich auch die Frage, wie die Theorie der sozialen Felder zur Analyse der Familie, die sich nicht hauptsächlich unter den Aspekten von Wettkampf und Konkurrenz einfangen lässt, genutzt werden kann. Zwar kann man Bourdieu nicht vorwerfen, er habe die Familie nicht berücksichtigt, dennoch rückt diese bisher lediglich als Ort des Austauschs und der Weitergabe von Ressourcen und Besitz ins Blickfeld (Bourdieu 1996b). Aspekte wie Liebe und Sexualität, Emotionen wie Zuneigung, aber auch Verzweiflung etc. bleiben unterbelichtet. Ich denke hier an Dimensionen des sozialen Lebens, wie sie von Arlie Russell Hochschild (1990, 2002) eingefangen werden. Zukünftige Arbeiten müssen zeigen, ob und wie die Theorie der sozialen Felder und das Habitus-Konzept zur Analyse dieser Dimensionen des sozialen Handelns nutzbar gemacht werden können, die in unserer sozialen Welt ausgesprochen wichtig sind, um die Reproduktion und Transformation von Geschlechterverhältnissen zu fassen.
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Die Konstruktion des sozialen Raums Bourdieu hat in seiner Arbeit „Die feinen Unterschiede“ ein Modell des sozialen Raums vorgelegt (Bourdieu 1982: 212-213), in dem anhand von Berufspositionen Verhältnisse und Beziehungen in einer Gesellschaft relational dargestellt werden. Die üblichen Trennungen von sozialen Strukturen einer Gesellschaft und sozialem Handeln von AkteurInnen wird aufgebrochen und das Soziale in seiner doppelten Existenzweise abgebildet: als Raum der sozialen Positionen und als Raum der Lebensstile. Dieses Modell ermöglicht es, soziale Felder als Kräftefelder im Raum zu verorten und sie als Mikrokosmen zu beschreiben. So kann die jeweilige soziale Welt aus der Nähe betrachtet werden, ohne dass die dort wirkenden Mechanismen losgelöst vom Makrokosmos analysiert werden (vgl. Bourdieu et al. 1997). In „Die feinen Unterschiede“ wird Geschmack als etwas Soziales, nicht als etwas Natürliches analysiert. Die unterschiedlichen kulturellen Praktiken und Vorlieben werden rückgebunden in soziale Bezüge bzw. an eine soziale Position im Raum. Hierbei hat Bourdieu eine Kapitaltheorie entwickelt, entlang derer er das dynamische Gefüge von unterschiedlichen Positionen in diesem Modell relational beschreibt. Neben dem ökonomischen Kapital, das nur ungenügend geeignet war, die vielfältigen analysierten Geschmacksdifferenzen und damit verbundenen symbolischen Auseinandersetzungen einzufangen, führt Bourdieu das kulturelle (gemessen u.a. anhand von Bildungstiteln) und soziale Kapital (das sich in Beziehungen und Netzwerken realisiert) ein, um die Konstruktion des sozialen Raums zu entwickeln (vgl. Bourdieu 1983). Der Habitus als inkorporierte Sozialstruktur bezeichnet hier die Körper gewordenen sozialen Unterschiede, die sich im Geschmack zu einem gegebenen Zeitpunkt zeigen. In diesem Modell des sozialen Raums werden Akteure vermittelt über (männliche) Berufsgruppen konzeptualisiert bzw. soziale Klassen konstruiert. Dennoch spielt die Kategorie Geschlecht eine wichtige Rolle: „Die geschlechtsspezifischen Merkmals sind ebenso wenig von den klassenspezifischen zu isolieren wie das Gelbe der Zitrone von ihrem sauren Geschmack: eine Klasse definiert sich wesentlich durch Stellung und Wert, welche sie den beiden Geschlechtern [...] einräumt. Darin liegt begründet, warum es ebenso viele Spielarten der Verwirklichung von Weiblichkeit gibt wie Klassen und Klassenfraktionen, und warum die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern auf der Ebene der Praxis wie der Vorstellungen innerhalb der verschiedenen Gesellschaftsklassen höchst unterschiedliche Ausprägungen annimmt“ (Bourdieu 1982: 185). Doch wie sind Frauen in diesem sozialen Raum, der entlang von Berufspositionen aufgespannt ist, zu positionieren? Zur Konstruktion des sozialen Raums wurden Variablen herangezogen, die dazu führen, dass es sich „um einen öffentlichen Raum, d.h. männlichen Raum handelt. Man weiß dann nicht, wo man die Frauen sozial plazieren soll, die im Haus arbeiten. Nach allgemeiner Konvention werden Frauen den sozialen Positionen zugeordnet, die ihre Ehemänner einnehmen.“ (Bourdieu im Gespräch 1997: 222, vgl. Engler 1988: 48f.). Die Frage, wie die mit den Kategorien „Klasse“ und „Geschlecht“ verbundenen Ungleichheiten miteinander verschränkt sind, wurde von Frerichs und Steinrücke empirisch gewendet. Dabei wurde zunächst ein vergeschlechtlichter Raum der Erwerbsarbeit modelliert, in welchem die Verschränkung von Klasse und Geschlecht abgebildet wurde. In einem Forschungsprojekt wurden „die Lebenschancen, Lebenszusammenhänge und Habitusformen von Männern und Frauen aus verschiedenen Klassen im Vergleich zum Gegenstand“ gemacht, um zu analysieren, welche der beiden Hypothesen zutreffend ist (Frerichs/Steinrücke 1997: 232, Frerichs 1997, 2000) bzw. um zu prüfen, ob Klasse oder Geschlecht als dominantes Klassifikationssystem zu fassen ist. Auch Vester und Gardemin (2001) knüpfen an den sozialen Raum und die von Frerichs und Steinrücke entwickelte „Klassengeschlechtshypothese“ an und rücken das leistungsorientierte Arbeitnehmermilieu ins Zentrum, um zu klären, „wie ökonomische Ungleichheit von Frauen und Männern mit ihrer gesellschaftspolitischen Einstellung zusammenhängt“ (Vester/ Gardemin 2001: 454). Diese Untersuchung lässt erahnen, wie fruchtbar es ist, den sozialen
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Raum für heuristische Zwecke zu nutzen, um z.B. die durch die im Zuge der Bildungsexpansion gestiegenen Bildungsbeteiligungen von Frauen und die damit verbundenen Erwartungen bezogen auf Berufspositionen im Zusammenhang mit sozialem Wandel bzw. Verschiebungen im sozialen Raum zu analysieren. Diese wenigen Untersuchungen zeigen, wie die Vorstellung des sozialen Raums zur Generierung von Fragen genutzt werden kann, die empirisch zu beantworten sind (vgl. auch Koppetsch/Burkart 1999). Allerdings zeigen sie auch, dass es mühsam ist, der Frage nachzugehen, ob Geschlecht oder Klasse als dominantes Ungleichheitsmerkmal anzusehen ist. Als Klassifikationssysteme, die als Dimensionen des Sozialen in den Habitus eingehen, sind sie verschieden: Geschlecht ist bipolar und mit einem körperlichen Bezugspunkt konstruiert und erscheint als natürliche Ordnung. Soziale Klassenunterschiede werden angezeigt durch Klassifikationssysteme und Unterscheidungsprinzipien, die vielfältige Fassetten und Abstufungen kennen, die in die Hervorbringung sozialer Wirklichkeit eingehen. In Untersuchungen deutet sich an, dass „Klasse“ und „Geschlecht“ als Dimensionen des Sozialen, die vermittelt über den Habitus in die Hervorbringung der Sicht der Welt und in das Handeln eingehen, in unterschiedlichen Zusammenhängen von unterschiedlicher Relevanz sein (Engler 1997, auch Vester/Gardemin 2001) bzw. als Modi der Generierung von sozialen Unterschieden mal in den Vordergrund und mal in den Hintergrund treten können. Dass Geschlecht in verschiedenen sozialen Feldern mit unterschiedlichen Relevanzstrukturen versehen werden kann, macht es notwendig, die Mechanismen und Funktionsweisen von Ordnungssystemen in den jeweiligen Feldern aufzuzeigen. Bourdieu stellt die Mittel bereit, nicht nur die Verschiedenheit der Bedeutung von Geschlecht und damit verbundene Ungleichheiten festzustellen, sondern die Funktionsweise von Mechanismen in den jeweils unterschiedlichen sozialen Gefügen aufzuzeigen und somit zu analysieren, wie diese Unterschiede zustande kommen. Hierzu dient die Konstruktion des sozialen Raums als Hintergrund der Generierung von Fragestellungen. Die relationale Betrachtungsweise führt dazu, dass nicht Frauen oder Männer zum Ausgangspunkt der Untersuchung gemacht werden, sondern das soziale Gefüge, in dem Frauen und Männer agieren.
Ausblick: „Prinzipien des Komponierens“ Mit der von Bourdieu entwickelten soziologischen Sicht der Welt verlässt man das Alltagsdenken und die damit verbundenen Gewissheiten, die besagen, dass es soziale Dinge gibt, aber auch die Gewissheit, dass es universelle Schemata gibt, die in der sozialen Praxis auf immer gleiche Weise wirken und denen eine allgemeingültige Bedeutung zukommt. So ist das Ordnungsschema Geschlecht zwar in unsere Köpfe und Körper ebenso wie in unsere Handlungen eingelassen, entfaltet seine Herrschaft in den sozialen Feldern und Mikrokosmen jedoch auf vielfältige und immer wieder neue Arten und Weisen. Die AkteurInnen in sozialen Feldern handeln kreativ und erfinderisch, allerdings nicht beliebig. Dieser sozialen Praxis kann man nicht mit großen Theorien beikommen, die zwar in sich theoretisch logisch sind, aber die praktische Logik vielfach verfehlen. Die von Bourdieu entwickelten Konzepte zur Analyse der sozialen Welt setzen an der sozialen Praxis an. Bei den vorgestellten Konzepten handelt es sich weder um Patentideen noch um Rezeptbücher, sondern vielmehr um Erkenntniswerkzeuge, denen ein soziologisches Denken zu Grunde liegt, das einen Umbau des weit verbreiteten Denkens in Dualismen und Substanzen voraussetzt und daher eine Herausforderung für Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler darstellt. Bourdieu wählt eine Analogie zur Musik, um zu veranschaulichen, wie er mit wissenschaftlichen Werken umgegangen ist, aber auch um darzulegen, wie die von ihm entwickelten Erkenntniswerkzeuge zu gebrauchen sind. Die mit seiner soziologischen Denkweise verbunde-
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nen Erkenntnisinstrumente gleichen „einer Musik, die nicht für mehr oder minder passives Hören oder selbst Spielen geschaffen würde, sondern dafür, Prinzipien des Komponierens zu liefern.“ Die Erkenntniswerkzeuge bzw. Konzepte zu verstehen heißt, „dass man von der Denkweise, die in ihnen zum Ausdruck kommt, an einem anderen Gegenstand praktischen Gebrauch macht, sie in einem neuen Produktionsakt reaktiviert, der ebenso inventiv und originär ist wie der ursprüngliche ...“ (Bourdieu 1997c: 65). Dabei „ist die aktive Aneignung einer wissenschaftlichen Denkweise [...] ebenso schwierig und selten [...] wie ihre ursprüngliche Ausarbeitung“ (Bourdieu 1997c: 66). Bourdieu erspart jenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die sich bei der Analyse männlicher Herrschaft oder anderer Dimensionen des Sozialen auf die von ihm entwickelte Denkweise und die damit verbundenen Denkwerkzeuge beziehen, eine Auseinandersetzung mit diesen Konzepten ebenso wenig wie eine Auseinandersetzung mit dem Forschungsgegenstand. Die Erforschung der männlichen Herrschaft ist dabei mit der Absicht verbunden, die Mechanismen und Funktionsweisen ihres Wirkens aufzuzeigen. Denn was in der Sozialwelt hervorgebracht wurde, kann auch in der sozialen Welt verändert werden. Verweise: Doing gender Sozialisationstheorien
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Steffani Engler
Krais, Beate 2001: Die feministische Debatte und die Soziologie Pierre Bourdieus: Eine Wahlverwandtschaft. In: Knapp, Gudrun-Axeli/Angelika Wetterer (Hrsg.): Gesellschaftstheorie und feministische Kritik. Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 317-338 Krais, Beate 1993: Geschlechterverhältnis und symbolische Gewalt. In: Gebauer, Gunther/Christoph Wulf (Hrsg.): Praxis und Ästhetik: neue Perspektiven im Denken Pierre Bourdieus. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 208-250 Rademacher, Claudia 2002: Jenseits männlicher Herrschaft. Pierre Bourdieus Konzept einer Geschlechterpolitik. In: Ebrecht, Jörg/Frank Hillebrandt (Hrsg.): Bourdieus Theorie der Praxis. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 127-138 Rohleder, Christiane 1997: Zwischen Integration und Heimatlosigkeit. Arbeitertöchter in Lehramt und Arztberuf. Münster: Westfälisches Dampfboot Schlüter, Anne 1999: Bildungserfolge. Eine Analyse der Wahrnehmungs- und Deutungsmuster und der Mechanismen für Mobilität in Bildungsbiographien. Opladen: Leske + Budrich Schlüter, Anne 1986: „Wenn zwei das Gleiche tun, ist das noch lange nicht dasselbe“ – Diskriminierungen von Frauen in der Wissenschaft. In: Schlüter, Anne/Annette Kuhn (Hrsg): Lila Schwarzbuch. Zur Diskriminierung von Frauen in der Wissenschaft. Düsseldorf: Schwann, S. 10-33 Vester, Michael/Daniel Gardemin 2001: Milieu, Klasse und Geschlecht. Das Feld der Geschlechterungleichheit und die „protestantische Alltagsethik“. In: Heintz, Bettina (Hrsg.): Geschlechtersoziologie. Sonderheft 41/2001 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, S. 454-486 Zimmermann, Karin 2000: Spiele mit der Macht in der Wissenschaft. Passfähigkeit und Geschlecht als Kriterium für Berufungen. Berlin: Edition sigma
Paula-Irene Villa
Poststrukturalismus: Postmoderne + Poststrukturalismus = Postfeminismus?
Postmoderne und Poststrukturalismus werden in sozial- oder kulturwissenschaftlichen sowie philosophischen Debatten immer wieder in einem Atemzug genannt und nicht selten synonym verwendet. Auch die mannigfaltige feministische Aneignung entsprechender Denkfiguren hat nicht immer sauber zwischen beiden – in sich heterogenen – Perspektiven unterschieden. So gilt Judith Butler weithin als postmoderne Autorin, obwohl sie sich ausdrücklich als Poststrukturalistin bezeichnet (vgl. Butler 1993a: 36). Dabei bilden postmoderne und poststrukturalistische Perspektiven je unterschiedliche theoretische bzw. gesellschaftsdiagnostische Aussagesysteme, die zwar Überschneidungspunkte teilen, doch nicht deckungsgleich sind. Beide Perspektiven haben für die feministischen Theorie- und Praxisdebatten der letzten zwei Jahrzehnte entscheidende Impulse geliefert und manche Autorinnen haben im Aufgreifen postmoderner und poststrukturalistischer Perspektiven einen regelrechten Paradigmenwechsel innerhalb des feministischen Denkens ausgemacht (vgl. für eine kritische Übersicht Brooks 1997, zum Verhältnis zwischen Feminismus und Postmoderne Klinger 1998, Knapp 1998, zum Verhältnis von Poststrukturalismus und Feminismus Weedon 1990). Für einzelne Autorinnen (etwa Benhabib 1995) sind postmoderne Denkweisen mit feministischen Anliegen unvereinbar bzw. eine potenziell „unglückliche Ehe“ (vgl. Klinger 1998).
Postmoderne – Ein zweifaches Anliegen Grundsätzlich gilt es zunächst, zwei Ebenen bzw. Gegenstandsbereiche zu unterscheiden, auf die sich Postmoderne beziehen kann. Erstens ist mit Postmoderne eine Zeitdiagnose gemeint („postmodernity“: Preda 2002: 11865). Soziologische Autoren wie etwa Zygmunt Bauman (1995) sprechen von einem Zeitalter der Postmoderne in Abgrenzung zur Moderne und stellen ersteres als durch Pluralisierung, Fragmentierung, Medialisierung, Symbolisierung und Konsum gekennzeichnet dar. Die Pluralisierung und Verflüssigung von Identitäten sowie die Auflösung bisheriger politischer und sozialer Leit-Differenzen (z.B. Öffentlichkeit/Privatheit) sind für AutorInnen, die postmoderne Zustände diagnostizieren, herausragende qualitative Neuerungen im Übergang von der Moderne zur Postmoderne: Waren in modernen Gesellschaften individuelle Identitäten, Biografien und soziale Stellungen mehr oder minder stark von strukturellen und institutionellen Vorgaben bestimmt (Beruf/soziale Lage, Familienstand, Wohnort, Religion, Geschlecht usw.), so sind diese inzwischen aufgrund von Individualisierungsprozessen (vgl. Beck/Beck-Gernsheim 1994) stärker individuell gestalt- und verhandelbar. Sinnstiftungs-, Deutungs- und symbolische Aushandlungsprozesse gewinnen gegenüber institutionell verankerten Traditionen und Zwängen an Bedeutung. Fraser (1995) postuliert z.B. eine „postmoderne Konzeption“ des öffentlichen Raums im Anschluss an eine empirisch fundierte theoretische Kritik moderner politischer Theorien. Ob die Diagnose eines epochalen sozialen Wandels zutreffend ist, darüber ist innerhalb der Sozialwissenschaften viel und
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kontrovers debattiert worden. Grundsätzlich ist nicht immer klar, was die angebliche Postmoderne von der Moderne – empirisch und gesellschaftsdiagnostisch – unterscheidet. Bei der kritischen Hinterfragung der Kategorie „postmodernism“ „(wurde) ans Licht gebracht, dass die ‚postmoderne Kritik‘ der Moderne allzu oft einem undifferenzierten Blick von Neuzeit, Aufklärung und Moderne gilt und alle Traditionen der ästhetischen, philosophischen und im weiten Sinne politischen Selbstkritik der Moderne unterschlägt“ (Knapp 1998: 203). Anders gesagt: Vielen schien, dass die Diagnose einer postmodernen Ära darauf baue, die Moderne als Negativfolie in einer Weise zu zeichnen, die die faktische Komplexität und die realen – auch kritischen, selbstreflexiven, widersprüchlichen – Erscheinungen der Moderne ausblendete. Feministische Arbeiten hatten schließlich lange vor Ausrufung der Postmoderne die bislang hegemonialen Diagnosekategorien bürgerlicher Philosophie, Soziologie usw. (z.B. Universalismus, Aufklärung) ob ihrer Geschlechtsblindheit kritisiert und idealtypische Abstraktionen wie die Differenz zwischen öffentlich/privat, Produktion/Reproduktion in Frage gestellt; d.h. auf die geschlechterdifferenten Ungleichzeitigkeiten der Moderne hingewiesen. In Anbetracht der Skepsis gegenüber der Annahme, wir lebten in qualitativ neuen Gesellschafts- (und Geschlechter-)verhältnissen, zogen manche AutorInnen die Rede von der Hoch-, reflexiven oder Spätmoderne zur Kennzeichnung ambivalenter Entwicklungen vor. Zweitens ist die Postmoderne eine (neue) Erkenntnisweise („postmodernism“: Preda 2002: 11865), d.h. eine Epistemologie bzw. eine kritische Denkbewegung, die sich ihrerseits gegen – vorgebliche – Grundannahmen vermeintlich „modernen“ Denkens richtet. Als epistemologische Kritik ist die Postmoderne eine (neue) Form des „Wissens“ (vgl. Lyotard 1994). Postmodernism als Denk- und Theorieperspektive und postmodernity als Gesellschaftsdiagnose sind freilich aufeinander bezogen. Jane Flax, eine der exponiertesten Vertreterinnen einer postmodernen feministischen Theorie, sieht in der „grundlegenden Transformation“ (Flax 1992b: 69) von der Moderne zur Postmoderne eine ebenso epochale Zäsur wie zwischen Mittelalter und Moderne und folgert, dass dem neue „Formen des Denkens“ (ebd.) entsprächen. Zu diesen seien die Psychoanalyse, die feministische Theorie und die postmoderne Philosophie zu zählen (Flax 1992b: 69ff.). Auch Seyla Benhabib – ihrerseits eine der exponiertesten Kritikerinnen postmoderner Zugänge – teilt die Vorstellung, dass neue Zugänge bei der Reflexion auf veränderte gesellschaftliche Konstellationen relevant und notwendig sind. Gerade für ein feministisches Projekt, das auf soliden gesellschaftstheoretischen Füßen stehen muss, sowie aufgrund grundlegender theorieimmanenter Probleme bisheriger Reflexionszugänge seien tatsächlich kritische Einwände gegen traditionelle (moderne) Kategorien angebracht. Doch sie macht zugleich, sicherlich stellvertretend für viele, auf die nicht immer stichhaltige Negativfolie der „Moderne“ aufmerksam: „Aus der Sicht der intellektuellen und akademischen Kultur westlicher kapitalistischer Demokratien erscheinen der Feminismus und die Postmoderne als zwei führende Denkströmungen unserer Zeit. Beide sind auf ihre Weise tief kritisch gegenüber den Prinzipien und Metaerzählungen der westlichen Aufklärung und der Moderne – wobei allerdings keineswegs ganz klar ist, was genau diese ‚Aufklärung‘ und ‚Moderne‘ ausmacht, welches die Prinzipien wirklich sind, von denen wir uns verabschieden sollen.“ (Benhabib 1995: 221)
Drei Grundgedanken postmodernen Denkens Grundsätzlich lässt sich bei aller Heterogenität der unter dem label „postmodern“ versammelten Ansätze eine dreifache Grundsatzkritik ausmachen: 1. Kritik an einem universalisierenden Paradigma der Deutung von Geschichte oder Gesellschaft („post-metaphysisches Denken“, vgl. Klinger 1998: 25): „der Fortschritt“, „die Rationalität“, „die Vernunft“ usw. werden als homogenisierende Abstraktionen kritisiert, die die tatsächliche Vielfalt und Widersprüchlichkeit sozial-historischer Logiken unterschlagen. Angesichts realer und womöglich systematischer Ungleichheit und Unterdrückung innerhalb
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demokratischer, bürgerlich verfasster, formal auf Gleichheit beruhender Gesellschaften wird der normative Gehalt scheinbar neutraler, allgemeingültiger Kategorien wie Universalität, Gleichheit, Gerechtigkeit usw. als ein partieller entlarvt. Ergo ist jede Kategorie kontextbezogen, d.h. situiert. Vermeintlich neutrale Kategorien des Politischen und der Philosophie konstituieren oder perpetuieren faktisch nicht nur herrschaftsförmige Geschlechterverhältnisse (z.B. durch den faktischen Ausschluss von Frauen aus der Öffentlichkeit, vgl. Fraser 1995: 288-295). Durch das Leitbild einer idealtypischen weißen, heterosexuellen Männlichkeit, werden zudem marginalisierte Gruppen wie ethnisch oder sexuell „Andere“ konstituiert und ausgegrenzt. Als Vernunftkritik ist postmodernes Denken auch für viele Feministinnen attraktiv: „The epistemological stories philosophers have told tend primarily to be about the experiences, problems, and acts of repression of a stereotypically white, Western, masculine self“, wie Flax in Verteidigung feministischen postmodernen Denkens – als Alternative zu solchen epistemologischen Erzählungen – formuliert (Flax 1992a: 451). 2. Von der Vernunftkritik ist auch die abendländische Kategorie „Subjekt“ betroffen. So üben postmoderne Ansätze auch Kritik an einem universellen Subjekt (vgl. Flax 1992b: 74). „Der Mensch“ ist nicht losgelöst von jeweiligen Kontexten zu denken, sondern ist radikal situiert. Subjektkritisch ist postmodernes Denken im Sinne einer anti-ontologischen Sichtweise: Wer jemand ist (Identität), ist demnach keine Frage einer „Essenz“, die sich im Laufe eines Lebens entweder entfaltet oder sich verfremdet, sondern vor allem eine Frage der wechselseitigen Beziehung zwischen (sozialen, ökonomischen, kulturellen) Kontexten und deren individueller Aneignung und Gestaltung. Und weil Kontexte synchron und diachron wechseln, womöglich gegenwärtig schneller und unverbindlicher als zuvor, sind Subjekte prozesshaft und instabil. Subjekthaftigkeit befindet sich demnach immer im Werden; jenseits der radikalen Situiertheit lässt sich nicht von einem oder „dem“ Subjekt sprechen. 3. Kritik an normativen Letztbegründungen, insbes. in politischer Hinsicht. Was emanzipatorisch oder herrschaftsstabilisierend, was befreiend bzw. entfremdend oder was eine feministische Utopie bzw. ein anti-feministischer „backlash“ ist, lässt sich demnach nicht a priori sagen, lässt sich weder eindeutig noch an sich begründen. Politische Strategien können kritisch und affirmativ zugleich sein, abhängig von den jeweiligen Rezeptions- und Anwendungskontexten. Dies ist nicht zuletzt deshalb so, weil – und dies ist genau genommen eine poststrukturalistische These – es keinen Ort außerhalb bestehender Macht- und Herrschaftsverhältnisse gibt. Grundsätzlich also plädieren postmoderne Perspektiven für eine Abkehr von „großen Erzählungen“ oder „Meta-Theorien“ (vgl. Lyotard 1994) zugunsten situierter, kontextgebundener, relativer und historisch durchaus kontingenter Verortungen des Denkens. Für Benhabib – als deutliche Kritikerin einer feministischen postmodernen Theorie – sind obige drei Grundannahmen, die sie in ihren konsequenten Ausprägungen als „Tode“ bezeichnet (Benhabib 1995: 231ff.), unvereinbar mit feministischen Anliegen, denn sie untergraben kritische Handlungsfähigkeit im Sinne von individueller „Intentionalität, Zurechnungsfähigkeit, Selbstreflexivität und Autonomie“ (Benhabib 1995: 236) und machen utopische (z.B. feministische) Visionen als die „Sehnsucht nach dem ‚ganz Anderen‘“ (Besseren) (ebd.: 256) undenkbar. Postmoderne ist für Benhabib in gewisser Weise postfeministisch, vor allem dann, wenn sie mit einem poststrukturalistischen Subjekt- und Realitätsbegriff gepaart wird.
Poststrukturalismus – Der ‚linguistic‘ turn Poststrukturalistische Perspektiven – zu denen so heterogene Positionen gehören wie z.B. das Derridasche Denken der différance, die Foucaultsche Diskurstheorie, die Psychoanalyse von Lacan, die Baudrillardsche Ordnung der Simulakren sowie feministische Ansätze von Kristeva und Irigaray
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(vgl. Hofmann 2002, Stäheli 2000, Weedon 1990) – sind dadurch gekennzeichnet, dass sie Sprache und symbolische Ordnung als privilegierten Ort der Konstitution von Wirklichkeit betrachten. Sprache ist demnach nicht Abbild einer gegebenen Wirklichkeit, sondern sinn- und damit ordnungsstiftend, d.h. welterzeugend. Diskurse sind, z.B. für Butler im Anschluss an Foucault, „produktiv“ (Butler 1993b: 129): Sprache und die in ihr eigenlogisch wirkenden eingelagerten Überschüsse sind aus poststrukturalistischer Perspektive der Ort, an dem soziale Wirklichkeit organisiert wird (vgl. Weedon 1990: 35). Für Butler, die poststrukturalistisches Denken im Sinne Foucaults explizit aufgreift, sind Diskurse Bedeutungsbegriffe, die „Objekte und Subjekte in ihrer Intelligibilität ausdrücken“ (Butler 1993b: 129). Materielle Umwelt, Objekte, Natur sind demnach ebenso diskursiv konstituiert wie es Subjekte sind. Ersteres ist eine letztendlich auf Kant zurückgehende erkenntnistheoretische Position, der zufolge zwischen der Wahrnehmung der Dinge und den Dingen selbst Begriffe und Kategorien stehen (müssen). Bei Foucault werden Phänomene des Wirklichen bzw. Sozialen wie „Vernunft“, „Wahrheit“, „Sexualität“, „Körper“ hinsichtlich ihrer diskursiven Genese genealogisch befragt (vgl. exemplarisch Foucault 1977). Daran anschließend, wenngleich weitaus weniger empirisch oder historisch situiert, verfährt Butler, indem sie ihr feministisches Projekt als eine „Genealogie der Geschlechterontologie“ (Butler 1991: 60) konzipiert. In poststrukturalistischen Perspektiven kommt der diskursiven Konstitution des Realen – z.B. der Geschlechterdifferenz – zudem eine immanente Machtdimension zu. Diskurse konstituieren Realität vor allem durch Ausschlüsse und Verwerfungen: Das, was intelligibel ist, wird durch die Abgrenzung von dem, was eben als nicht intelligibel gilt, geschaffen. Nun beschränkt sich die sprachlogische Konstitution nicht nur auf Objekte, sondern erstreckt sich auch auf Subjekte. Für Butler gibt es, wie für Foucault, keinen „Täter hinter der Tat“ (Butler 1991: 209). Auch Subjekte sind nur dann und insofern intelligibel, als sie durch diskursive Regimes hervorgebracht werden, d.h. erst durch diskursive Prozesse gelangen Individuen in sprachlich kodierte Subjektpositionen. Butler löst sich damit, wie auch andere poststrukturalistische Positionen, von der Annahme eines Subjekts-alsSubstanz und nimmt vielmehr an, dass es „als Form konstituiert (wird), die ganz unterschiedliche Arten der Selbstbeziehung des Subjekts zu sich selbst erlaubt“ (Stäheli 2000: 50). So sind jegliche Subjekte in gewisser Weise im Netz der Diskurse gefangen, da sie durch diese überhaupt hervorgebracht werden. Und damit gibt es keinen Ort außerhalb von ihnen, sei die eingenommene Subjektposition noch so kritisch oder radikal (vgl. Butler 1993a: 36). Anders gesagt: Auch Feministinnen sind durch diejenigen Diskurse konstituiert, die sie überwinden wollen und von denen sie sich bisweilen gedanklich und praxeologisch weit entfernt wähnen.
Skeptischer Ausblick Angesichts dieser Konzeptionen, die das Subjekt als autonomes und kritisch handlungsfähiges dekonstruieren, bleibt eine für feministische Theorie und Praxis (überlebens-)wichtige Frage offen: „Was ermöglicht es dem Selbst, die kulturabhängigen Geschlechter-Codes ‚abzuwandeln‘? Widerstand gegen hegemoniale Diskurse zu leisten?“ (Benhabib 1995: 241). Auch wenn manche poststrukturalistische Autorin hierauf Antworten gegeben hat, bleibt es der Zukunft überlassen, diese Antworten an ihrer Realitätsmächtigkeit zu überprüfen. Diese Realität darf allerdings nicht auf Phänomene von Identität, Kultur, Sprache und Repräsentation verkürzt werden, sondern muss als auch materiell-ökonomische und historische in den feministischen Blick genommen werden. Die im Zuge des so genannten „linguistic (discoursive)“ oder „cultural turn“ vernachlässigten Aspekte sozialer, ökonomischer und politischer Ungleichheit und die entsprechenden empirischen Analysen zur materiellen Wirklichkeit der Geschlechterverhältnisse müssen nach wie vor eingeholt werden. Ansonsten droht womöglich eine postfeministische Phase der Konzentration auf kulturelle und symbolische Aspekte der Geschlechterdifferenz (vgl. etwa die Ausrichtung von Brooks 1997), die zwar intellektuell außerordentlich anregend, politisch aber nicht hinreichend wirksam ist.
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Verweise: (De)Konstruktion und Diskurs-Genealogie Feministische Wissenschaftskritik und Epistemologie Französischer Feminismus Linguistik
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Encarnación Gutiérrez Rodríguez
Postkolonialismus: Subjektivität, Rassismus und Geschlecht
Kolonialismus und Post-Kolonialismus Als Zauberwort der Kultur- und Literaturwissenschaften taucht die Bezeichnung „Postkolonialismus“ in den 1990er Jahren im englischsprachigen Raum auf. Unter der Rubrik „Postcolonial Studies“ versammeln sich eine Reihe von kulturtheoretischen, sozialhistorischen und sozialwissenschaftlichen Arbeiten, die von der Kritik am europäischen Kolonialismus der 1940er und 1950er, über die Imperialismustheorie der 1970er Jahre und die Auseinandersetzungen um Diaspora, Migration und Rassismus der 1980er und 1990er Jahre in den westlichen Ländern reichen. Im deutschen Kontext ereignete sich die Auseinandersetzung um die Spuren des Kolonialismus im Werden und Machen von Welt, Menschen und Dingen an mindestens zwei Orten: zum einem im akademisch und kritisch-künstlerischen Bereich, in dem „Postkolonialität“ als „neues PostmodernePotpourri“ und anglophones Exportgut behandelt wird, und zum anderen kam es bei TheoretikerInnen und insbesondere feministischen Denkerinnen mit einem Diaspora-, Exil- und Migrationshintergrund angesichts ihrer eigenen Auseinandersetzung mit der Kolonialgeschichte und den Rassismuserfahrungen in der Bundesrepublik zu einer verstärkten Rezeption postkolonialer Theorie (vgl. Gutiérrez Rodríguez/Steyerl 2003, Gelbin/Konuk/Piesche 1999). Insbesondere Schwarze Deutsche Feministinnen haben auf die koloniale Kontinuität deutscher Geschichte hingewiesen (vgl. Oguntoye u.a. 1986, Oguntoye 1996, Ayim 1997, Hügel-Marshall 2001, El-Tayeb 2001). Die Auseinandersetzung mit „postkolonialen Zuständen“ hat nicht nur die europäische Nationbildung auf der Grundlage des Kolonialimus zum Gegenstand. Sie hat vielmehr, wie die Arbeiten von Edward Said (vgl. z.B. 1979) und Gayatri C. Spivak (vgl. 1988, 1990, 1999a) zeigen, das Zusammenwirken von materiellen und diskursiven Bedingungen im Machen und Werden von Welt in Bezug auf das imperiale Projekt Europa aufgedeckt. Die Annahme, Sprache sei einfach eine simple Beschreibungsformel, verliert im Lichte des geografischen und historischen Kontextes ihrer Produktions- und Reproduktionsbedingungen den Anschein der Objektivität. Ihre Wirkungsmächtigkeit in der Produktion von Wirklichkeit setzt ein asymmetrisches Verhältnis fort, das koloniale Bedingungen hervorruft, die historisch und politisch obsolet scheinen. Diese Ungleichzeitigkeit zwischen der politisch faktisch erlangten Befreiung und der fortwährenden kulturellen, psychischen und sozialen Kolonialisierung wird durch den Präfix „post“ konnotiert. Sprache, so die postkolonialen TheoretikerInnen, stellt ein Repräsentationssystem dar, auf dessen Grundlage Räume der Performativität und Akte der Intelligibilität initiiert und fundiert werden. Die Fragen danach, wer wie spricht, was gesehen und wie etwas gesehen wird, berühren daher nicht nur die Ebene der Darstellung im Sinne der Sichtbarmachung, sondern auch die des Sprechens und des Gehörtwerdens (vgl. Gutiérrez Rodríguez 1999a, b und Castro Varela/Dhawan 2003). Das Sprechen und das Tun der Subjekte hängen unmittelbar zusammen. Das Präfix „Post“ in Postkolonialismus benennt zwei Bedeutungsebenen. Als erstes verweist es auf die historische Abfolge von Kolonialismus, Imperialismus und nachkolonialen Gesellschaftszuständen. Zweitens benennt es ein komplexes theoretisches Gebäude, erwachsend aus dem Dreieck Marxismus (Kolonialismus- und Imperialismustheorie), Poststrukturalismus (Foucault, Dekonstruktion) und Feminismus („Third World Feminism“, Anti-Rassismus, Postmoderne).
Postkolonialismus
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Die Expansion Europas verfolgte nicht nur die Ausbeutung und Aneignung von Arbeit, Ressourcen und Land, sondern auch eine politische und kulturelle Unterwerfung der kolonialisierten Menschen. Um 1930 standen 84,6 Prozent der Erdoberfläche unter vormals oder noch bestehender europäischer Kolonialherrschaft. Nur Teile von Arabien, Persien, Afghanistan, der Mongolei, Tibet, China, Siam und Japan waren formell keiner europäischen Regierungen unterstellt. Das geografische und historische Ausmaß des europäischen Kolonialismus macht es ungleich schwer, Kolonialismus als einheitliches Phänomen zu fassen. Es sind jedoch Gemeinsamkeiten bei den kolonialen Regierungs- und Verwaltungsinstanzen auszumachen. Im 20. Jahrhundert fängt die koloniale Macht Europas an zu bröckeln. Mit der Erlangung der Unabhängigkeit Haitis 1804 setzt eine Welle von bürgerlichen und revolutionären Unabhängigkeitskämpfen in Afrika, Asien und Lateinamerika ein, die ihren Höhepunkt mit der Erkämpfung der Unabhängigkeit Indiens 1947, der Gründung unabhängiger souveräner Staaten in einer Reihe afrikanischer Länder wie Kamerun und Togo 1960 und schließlich der Befreiung Algeriens von französischer Vorherrschaft 1967 finden. An diesem Punkt taucht die Frage auf, ob es angebracht ist von „postkolonialen“ Bedingungen zu sprechen oder wir heute eher von „neokolonialen“ Verhältnissen sprechen sollten. Bei genauerer Betrachtung des Adjektivs „postkolonial“ ist zunächst festzuhalten, dass es auf mindestens drei Gegenstandsebenen verweist: 1. auf eine geografisch-politische Situierung von Subjekten, die sich in der Transition von Kolonialismus zu Postkolonialismus befinden oder in nachkolonialen Gesellschaften leben; 2. auf die postkoloniale kulturelle, politische, ökonomische und historische Verfasstheit postkolonialer Gesellschaften; 3. und drittens bezeichnet Postkolonialität nach Frankenberg und Mani (1993: 292) eine „conjuncture“, einen Ort der geopolitischen Verortung („Politics of Location“). Dieser Ort ist in das Gedächtnis und das Vermächtnis einer kolonialen Vergangenheit und seiner gegenwärtigen Ausformungen und Wirkungsweisen eingewoben.
Feministische postkoloniale Kritik Unter „Post-Colonial Studies“ finden wir u.a. zwei Herangehensweisen, eine sozialhistorische und eine gesellschaftskritisch-poststrukturalistisch-feministische. Aus einer sozialhistorischen Perspektive wird der Schwerpunkt auf postkoloniale Räume, Erfahrungen und Kulturen von ehemaligen europäischen Kolonialgebieten gelegt, die die ökonomischen, politischen, sozialen und kulturellen Merkmale aufweisen, welche ein entkolonisiertes Land prägen sowie die Art und Weise, in der das koloniale Erbe verhandelt wird. Die feministisch postkoloniale Perspektive wurde von Wissenschaftlerinnen und Aktivistinnen (u.a. Combahee River Collective, Barbara Smith, Audre Lorde, bell hooks, Angela Davis, Adrienne Rich, Gloria Anzaldúa, Cherríe Moraga, Crystos), die kritisch zu Imperialismus, Rassismus und Imperialismus arbeiteten, angeführt (vgl. Lewis/Mills 2003). Sie setzten die ersten Bausteine für die Auseinandersetzung mit Rassismus, Macht, Kultur und Imperialismus (vgl. Anzaldúa 1987). Postkoloniale feministische Kritik hat postkoloniale Theorie auf ihre androzentrische Sichtweise hin analysiert. Einige männliche Theoretiker sind für ihren ausschließlichen Blick auf den „weißen Mann“ als dem dominanten Subjekt des Imperialismus kritisiert worden. Im Gegensatz zu Ronald Hyams Werk zur Rolle des britischen Mannes im Kolonialismus „Empire and Sexuality: the British Experience“ (1990), haben zum Beispiel feministische Theoretikerinnen wie Jenny Sharpe und Vron Ware auf die Komplizenschaft weißer Frauen im kolonialen System hingewiesen (vgl. Sharpe 1993, Ware 1992). Auch Edward Saids Studie Orientalismus schenkt der Beteiligung von Frauen im Kolonialismus und den feministischen Studien in diesem Feld
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kaum Beachtung (vgl. Said 1978, 1993 sowie Kritik an Said in Lewis/Mills 2003). Während einige feministische Untersuchungen die Erfahrungen von Frauen in den Mittelpunkt setzen (vgl. Lewis/Mills 2003), verfolgen andere die Dezentrierung der normativen Voraussetzung eines „männlichen Subjekts“. Studien wie die von Mrinalini Sinha (1995 in Lewis/Mills 2003) verweisen auf die Unsichtbarmachung von Geschlecht, indem sie das „männliche Subjekt“ nicht als Universalie setzen, sondern eher den Prozess der Vergeschlechtlichung diskutieren. Die feministischen Interventionen zu kolonialer und postkolonialer Männlichkeit hat zu einer verstärkten Auseinandersetzung der Rolle von Rassismus bei der Ausbildung von Geschlecht geführt (vgl. Lewis/Mills 2003). In diesem Zusammenhang sind auch Studien zur Verbindung von Männlichkeit und Nationalismus entstanden, die nicht nur Männlichkeit in den Blick bekommen, sondern insbesondere auch Weiblichkeitskonstruktionen in der nationalen anti-kolonialen Symbolik, in der „Frauen“ das Präkoloniale, die Tradition und die Sphäre des unberührten Raumes des Privaten symbolisieren (vgl. ebd). Im Mittelpunkt postkolonialer feministischer Kritik stehen sechs Themenblöcke: Kolonialismus/Postkolonialismus und Geschlecht, die Auseinandersetzung mit Weißsein, die Redefinition des „Dritten Welt“-Subjekts, Sexualität und sexuelle Rechte und feministische Kritik am Orientalismus sowie Geschlecht und Post/Koloniale Raumbeziehungen. Quer zu diesen sechs Blöcken bewegen sich die Debatten um Geschlecht, Ökonomie, Sexualität, Repräsentation und politischen Aktivismus.
Kolonialismus/Postkolonialismus und Geschlecht Die feministische postkoloniale Theorie verfolgt zwei Projekte: die Einführung einer kritischen Auseinandersetzung mit Rassismus in der „mainstream“-feministischen Theorie (vgl. Lewis/ Mills 2003) und einer feministischen Konzeptualisierung des kolonialen und postkolonialen Momentes (s. weiter unten: Spivak, Mohanty, Sharpe, Shohat). Anti-rassistischer Feminismus entwickelte sich in der Auseinandersetzung mit feministischer Politik und der Forderung nach Anerkennung geopolitischer sowie sozialer Differenzen unter Frauen (vgl. ebd., aber auch im deutschen Kontext Oguntuye/Opitz/Schultz 1986, beiträge zur feministischen theorie und praxis 1991, FeMigra 1994, Konuk 1996). In dieser Debatte wurden die Theorien weißer Feministinnen auf ihren sich als transparent darstellenden Standpunkt hin abgeklopft. Schwarze und postkoloniale Feministinnen machten auf die Implikationen einer sich als „universell“ darstellenden Identität „Frau“ aufmerksam, die jedoch gesellschaftlich und sozial verortet ist. Im westlich feministischen Diskurs der 1970er und 1980er Jahre wurde zumeist der Erfahrungshintergrund „weißer, heterosexuell lebender Mittelschichtsfrauen“ thematisiert und als „universelle weibliche Erfahrung“ verallgemeinert. Diese Form der Darstellung führte zum Verschweigen und der Unsichtbarmachung der Erfahrungen, Kämpfe und Theorien minorisierter Frauen insbesondere Schwarzer Frauen, Frauen aus dem Süden und Migrantinnen (vgl. Kritik von Anzaldúa/Moraga 1983, Hull 1982). So verweist Chela Sandoval auf die Diskrepanz zwischen dem Verständnis einer „weißen“ feministisch-radikalen Bewegung und separatistischen Frauenbewegung der 1960er und 1970er Jahre in den USA und den zeitgleich stattfindenden Kämpfen von Feministinnen in der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung (Sandoval in Lewis/Mills 2003). Das Konzept der separaten politischen Organisierung oder der Zweigeschlechtlichkeit als Hauptwiderspruch konnte von anti-rassitischen Feministinnen, die das Verständnis eines durch Rassismus, Heterosexismus, kapitalistische Produktionsverhältnisse und Sexismus simultan geprägten Alltags vertraten, nicht geteilt werden. Das Manifest des Kollektivs Schwarzer Lesben Feministinnen, des Combahee River Collective CRC (1978), und die Anthologie Schwarzer Theoretikerinnen wie zum Beispiel „Home Girls: A Black Feminist Anthology“ (1983), führten in die feministische Analyse den Gedanken der Intersektion heterogener antagonistischer Verhältnisse ein. Sie schrieben: „ (...) sexual politics under patriarchy is as pervasive in Black women’s lives as are
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the politics of class and race (...) We know that there is such a thing as racial-sexual oppression which is neither solely racial nor solely sexual“ (CRC in: Smith 1983: 275). Auch Audre Lorde bestimmte die Differenzen unter Frauen als Hierarchien, die auf unterschiedliche Positionen der Privilegierung wie Deprivilegierung zurückzuführen seien. So sei die Aufwärtsmobilität von weißen Frauen mit der Unterwerfung von schwarzen Frauen und „Women of Color“ verknüpft (Lorde in Lewis/Mills 2003). Für Adrienne Rich folgte aus dieser Analyse die Vorstellung eines „situierten Wissens“, das Feministinnen in eine geografisch und politisch verortete Beziehung zueinander positioniert. Unterschiedliche Markierungen von Körpern und Subjektivitäten konfigurieren sich auf dieser Basis, die sich zum Teil diametral zueinander verhalten (vgl. Rich in Lewis/Mills 2003). In diesem Zusammenhang führt Rich ihr Konzept der „Politics of Location“ ein, mittels dessen sie geografisch und politisch situierte Standorte des Sprechens und der politischen Praxis benennt. Durch diese Perspektive wird eine Sichtweise auf Geschlechterverhältnisse und Konstruktionen entwickelt, die historisch politisch und gesellschaftlich verfährt und den Blick insbesondere auf die Effekte des Kolonialismus, des Rassismus und des Postkolonialismus schärft. Unter diesem theoretischen Vorzeichen wurden die Grundsteine für die Ende 1980er Jahre einsetzende Debatte um die Kategorie „Geschlecht“ als soziale und diskursive Konstruktion gesetzt (vgl. Gutiérrez Rodríguez 1996). Die Kategorie „Geschlecht“ betont nicht nur die Konstruktion zu „Frau“ oder „Mann“, sondern artikuliert insbesondere das Zusammenkommen unterschiedlicher Achsen der Macht wie die zum Beispiel des Rassismus und der Heteronormativität. Vor diesem Hintergrund gründeten sich politische Gruppen, wie die seit 1989 in London arbeitende „Women against Fundamentalism“ (WAF), die den Diskurs um Fundamentalismus im Islam um eine kritische Auseinandersetzung mit religiösen Fundamentalismen und deren mysogene Politiken im Allgemeinen erweiterteten (Sahgal und Yuval-Davis in Lewis/Mills 2003). Neben der Debatte um Rassismus setzte eine Auseinandersetzung um die Konstruktion von Weißheit und Weiblichkeit ein, die in Arbeiten wie denen von Zemon Davis zur Positionierung von Indigenität und Weiblichkeit (vgl. Davis in Lewis/Mills 2003) oder von Jane Haggis zur Beziehung weiblicher Missionare zu ihren Bediensteten (vgl. Haggis in Lewis/Mills 2003) behandelt wurden. Nicht zuletzt wird unter der kritischen Auseinandersetzung mit Weißheit, die unter anderem von Richard Dyer (1997) analytisch entwickelt wird, die Seite der Privilegien „weißer Frauen“ durchleuchtet (Frankenberg 1993). Ein anderer (post)kolonialer kritischer Strang fokussiert seinen Blick auf die kapitalistischen Produktionsbedingungen und den Imperialismus. Der kapitalismus- und imperialismuskritische Strang im Feminismus setzt die Konstruktion zur „Dritten-Welt-Frau“ beziehungsweise des „Dritten-Welt-Subjekts“ in das Zentrum seiner Betrachtung (Dirlik 1998). Neben kritischer Untersuchungen zum Symbol des Schleiers und des Sati (der Witwenverbrennung) im nationalen Befreiuungskampf und der aktiven Rolle von „Frauen“ (Lewis/Mills 2003), widmet sich dieser Strang der Dekonstruktion den epistemologischen Prämissen, die grundlegend für die Konstruktion der „Dritte-Welt-Frau“ im westlichen Kontext sind (s. Spivak, Mohanty, Suleri, Shohat im Folgenden).
Marxismus, Feminismus und Dekonstruktion 1990 wird der Interviewband „The Post-Colonial Critic“ veröffentlicht, der eine Reihe von Interviews mit der Kultur- und Gesellschaftstheoretikerin Gayatri Chakravorty Spivak beinhaltet. Die „postkoloniale Kritik“ Spivaks knüpft an Edward Saids Diagnose des Orientalismus an. Im Zentrum der Analyse stehen Wissensproduktion und die Rolle der Wissenschaft sowie der Intellektuellen bei der Produktion und Reproduktion kolonialer Diskurse. Das Wissen um die Welt bildet sich nach Spivak nicht in einem herrschaftsfreien Raum heraus. Wissensproduktionen seien in Westeuropa im Zusammenhang des Kolonialismus entstanden; Kolonialismus bildet ein Wissenssystem, das sich auf symbolische, diskursive und performative Weise zusammensetzt.
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Der Begriff der „Kolonie“ ist demnach nicht eine unschuldige Bezeichnung, sondern ein Effekt einer historisch-politischen Konstellation. Tzvetan Todorov weist darauf hin, dass die Bezeichnung „Kolonie“ als Produkt der westlichen Wissenschaft zu verstehen und aus der impliziten binären Logik der Identität erwachsen sei. In diesem Sinne bildet die „Kolonie“ die Voraussetzung für die Existenz der „Kolonialmacht“ (vgl. Todorov 1992). Erst durch die Schaffung von „Kolonien“ und der „Neuen Welt“ als Erkenntnisobjekt wurde die „Kolonialmacht“ im Namen des autonomen Subjekts als regierendes und wissendes Subjekt geschaffen (vgl. Spivak 1990), ein Aspekt, der bereits in den 1930er und 40er Jahren von der Negritude-Bewegung thematisiert wurde. Die Negritude-Bewegung (Senghor 1964) entstand in der unmittelbaren Nachkriegsgesellschaft Frankreichs. In Paris begegneten schwarzafrikanische frankophone Schriftsteller wie Leopold Sédar Senghor und Birago Diop westindischen Kollegen wie Aimé Césaire. Zusammen entwickelten sie eine Kritik an der Kulturhegemonie des Westens und propagierten eine eigenständige Schwarze Geschichts-, Wissens- und Kulturtradition (Schwarz wird im Folgenden groß geschrieben, da es eine politische Identitätskategorie benennt). Von dieser Überlegung ausgehend knüpft Spivak an Jacques Derridas (1967) Kritik des Logozentrismus und des Textbegriffs an. Demnach wird die Darstellung von Wirklichkeit als Wahrheitseffekt von Diskurspraktiken analysiert. Das Soziale bilde eine Textualität, ein Ergebnis diskursiver intertextueller Praktiken. Diesen Vorgang der „Schreibung“, d.h. der diskursiven Aneignung von Welt durch Sprache und Schrift, nennt Spivak „worlding“ („Welt machen“) (Spivak 1990). „Worlding“ betont die Dynamik einer ethnozentristischen Logik, auf deren Basis ein Wissen von und über Welt erzeugt wird. Die Frage, die Spivak immer wieder formuliert, lautet: Wie reproduziert sich der Westen nicht nur auf der Grundlage der Annektierung von Territorien und Ressourcen, sondern auch durch die Aufoktroyierung von Schrifttraditionen, die das Denken und die Lebensweise, d.h. die Lebensanschauung, prägen? In ihrem Aufsatz „Can the Subaltern Speak?“ thematisiert Spivak die Position der Subalternen als eine Artikulation, die von den Herrschenden zum Schweigen gebracht wird (1988, 1999a/b). Spivak diskutiert in diesem Essay die Interpretationen um Bhusvaneswari Bhaduris Freitod. Unterschiedliche Gruppen, so kommentiert sie, würden diese Tat auf der Grundlage der Witwenverbrennung (Sati) interpretieren. Während die nationale Befreiungsbewegung den Akt als rebellische Antwort auf die englischen Kolonialherren deutet, symbolisiert er für die englischen Kolonialisten die „unzivilisierte Kultur“ Indiens (Spivak 1988: 297), die der Überwachung und Disziplinierung durch die Kolonialmacht bedarf. Die Tat dient den weißen Kolonisatoren als Legitimation für ihr Kolonisierungsprojekt, in dem sie sich als die „weißen Männer“ „saving brown woman from brown man“ sehen. Wiederum andere soziale Gruppen interpretieren die Tat als verzweifelten Akt einer „verlassenen Geliebten“ oder vermuten eine Schwangerschaft. Doch Bhaduri menstruiert zur Zeit der Tat und hinterlässt einen Brief, in dem sie den Grund für ihre Tat benennt. Als militante Befreiungskämpferin verweigert sie sich, einen Mord an einem englischen Kolonisatoren zu begehen. Sie nimmt sich das Leben. Trotz des Vorhandenseins dieses Briefes wird der Stimme von Bhaduri kein Gehör geschenkt. In eben diesem Zusammenhang schreibt Spivak: „What I’m saying is that even when, whether showing her political impotence or her political power, she tries to speak and make clear, so that it would be read one way, the women in the family – radical women – decide to forget it. The rhetoric of the ending is a rhetoric of despair. It was at the moment, right after the story, when I said, throwing up my hand, ‚The subaltern cannot speak‘“ (Spivak 1999b: 89).
In „A Critique of Postcolonial Reason“ (1999a) erweitert Spivak ihr Konzept der Subalternität um die Figur der Großnichte Bhaduris, die in der Logik des „New Empires“ aufwächst. Ihre Geschichte ist die einer wohlsituierten diasporischen „South Asian“, die in einem US-amerikanischen Konzern arbeitet. Mittels dieser Figur thematisiert Spivak das Zusammenkommen von Globalisierung und lokalem Wissen beziehungsweise Positionierung. Als „indische Frau“ arbeitet Bhaduris Nichte für das Wohl ihres Unternehmens und betrachtet dies als Beitrag für den Fortschritt Indiens (vgl. Spivak 1999a). Der Kapitalismus sei an die Wurzeln des Imperialismus
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zurückgekehrt. Das „postkoloniale Subjekt“, eine paradoxe Figur, die auf der einen Seite auf brutale globale Produktionsverhältnisse verweise und auf der anderen zur Insignie einer postmodernen Kapitallogik im Empire mutiere, konnotiere nun den Geist eines global agierenden Kapitalismus. Das „postkoloniale Subjekt“ bilde eine normative Voraussetzung für die Ontologie des globalen Kapitalismus. Eine „neue Subalterne“ entstehe am Schnittpunkt der Institutionen des Welthandels, der NGOs, der Bioforschungszentren, der UN-Entwicklungsorganisationen und der Menschenrechtsprojekte. Ein „Subjekt“, das von diesen Institutionen kooptiert und in Datenmaterial und intellektuelles Eigentum umgewandelt worden ist. Das „worlding“ des „New Empire“ findet heute im Spannungsverhältnis zwischen Kolonialismus als Zivilisationsmission und Globalisierung, zwischen Entwicklungsorganisationen und Hilfsprogrammen für die so genannte Dritte Welt statt. Spivak schreibt: „The third world woman is now mobilized in the name of a global agenda“ (1999a: 200). In dieser Herangehensweise Spivaks findet die im Feminismus eingeleitete Wissenschaftskritik und Erkenntnistheorie (vgl. Hill Collins 1992) ihr Korrektiv. Demzufolge sind nicht nur die Subjekte innerhalb ihrer geopolitischen Kontexte situiert, sondern insbesondere der Grundsatz der Objektivität ist als Effekt eines vermachteten Aushandlungsfeldes zu verstehen, in dem unterschiedliche Herrschaftsverhältnisse ihre Spuren und Prägungen hinterlassen haben. So schreibt Chandra Talpade Mohanty in ihrem für die „postkoloniale kritische Theoriebildung“ grundlegenden Aufsatz „Aus westlicher Sicht: feministische Theorie und koloniale Diskurse“ (1988), dass die Repräsentation der „Dritte-Welt-Frau“ ein Konstrukt des westlichen Feminismus sei. Demnach müsse, so Mohanty, der akademische Feminismus im Westen ihre Geschlechtskategorien geopolitisch situieren. Denn Geschlechterbeziehungen bilden sich nach Mohanty nicht an jedem Ort identisch aus, da sie Produkt von sozialen, politischen und historischen Aushandlungen und Kämpfen sind. Ein Reden über das „Patriarchat“ und über „Frauen“, das diese Kategorien nicht geo-politisch kontextualisiere und sie nicht in ihrer spezifisch verorteten Geschichte aufzeige, verschleiere die konkreten, heterogenen und komplexen Lebenslagen von Subjekten. In ihrem 2002 erschienenen Aufsatz „‚Under Western eyes‘ Revisited: Feminist Solidarity through Anticapitalist Struggle“ betont Mohanty die Notwendigkeit eines transkulturellen Feminismus, der auf der Ebene der Mikropolitik den Kontext, die Subjektivitäten und die Kämpfe sowie auf der der Makropolitik die globale Ökonomie, die politischen Systeme und Prozesse thematisiere. Sie schreibt: „Making gender and power visible in the processes of global restructuring demands looking at, naming, and seeing the particular raced and classed communities of women from poor countries as they are constituted as workers in sexual, domestic, and service industries, as prisoners, and as household managers and nurturers“ (Mohanty 2002: 526). Angesichts der aktuell stattfindende Kriege konstatiert Mohanty eine Beteiligung des liberalen Feminismus am westlichen Zivilisationsdiskurs, der „sisterhood is global“ zum Kernbestand der Verbindung zwischen dem Kampf um die Achtung von „Human and Women’s Right“ und Krieg mache. Für die Entwicklung eines globalen, transnationalen Feminismus bedeutet dies achtsam zu werden gegenüber Vereinnahmungsstrategien eines sich „solidarisch gebärdenden Feminismus“, der jedoch im Dienste der Legitimation von Gewalt arbeitet. Mohantys Auffassung wird von einer Reihe von postkolonialen Kritikerinnen geteilt. Festgestellt wird, dass die Konstruktion der „Dritte-Welt-Frau“ als Opfer der Konstruktion der weißen westlichen Frau als modernes emanzipiertes Subjekt diene. Doch der Viktimisierungsdiskurs der „Dritten Welt-Frau“ birgt auch die Kehrseite der Idealisierung. So schreibt Sara Suleri (1992: 58): „The coupling of postcolonial with woman inevitably leads to the simplicities that underlie unthinking celebrations of oppression, elevating the racially female voice into a metaphor for ‚the good‘“. Such metaphoricity cannot be called exactly essentialist, but it certainly functions as an impediment to a reading that attempts to look beyond obvious questions of good and evil“ und bereitet „an iconicity that is altogether too good to be true.“ Es ist diese Perspektive, die in den weiteren Jahren von einer Reihe von TheoretikerInnen unter der Rubrik „postkoloniale Kritik“ weitergeführt wird (vgl. z.B. Spivak 1988).
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Postkolonialität im deutschen Kontext Im deutschsprachigen Raum gründet die Rezeption postkolonialer Theorie und Kritik auf die Auseinandersetzung mit dem Schwarzen Feminismus, der kolonialen Geschichte Deutschlands und der antirassistischen Politik (vgl. Caixeta/Salgado 2000, Gelbin/Konuk/Piesche 1999, Gutiérrez Rodríguez/Steyerl 2003, Oguntuye/May/Schultz 1986, Poopola/Sezen 1999). Diese Autorinnen verfolgen zwei Ebenen der „postkolonialen Kritik“: zum einen die Dekonstruktion des hegemonialen Wissens und der Figur der „Migrantin“ sowie der „Schwarzen Frau“ und zweitens die Ausformulierung von Widerstand. So zeigt Hito Steyerl in ihrem Film „Die Leere Mitte“ (1998), wie sich ein zentraler Platz, der Postdamer Platz in Berlin, als postkoloniales Chronotop entlang historischer Ereignisse, die diesen Platz durchkreuzen und herstellen, zusammenfügt. Diese Geschichte ist die des deutschen Kolonialismus, des Antisemitismus und der aktuellen restriktiven nationalen und transnationalen Asyl- und Migrationspolitik. Luzenir Caixeta und Rubia Salgado (2000) sprechen im österreichischen Kontext vom anthropofagischen Widerstand: der Kannibalismus als Metapher für die Platzeinnahme und Behauptung von Migrantinnen in einer Gesellschaft, die sie „aufzufressen“ versucht. In der antirassistischen Bewegung der Bundesrepublik fußt der Bezug auf den Postkolonialismus auf der Auseinandersetzung mit einer Denklogik des Ein- und Ausschlusses, die die Folie für die Ausformung rassistischer Institutionen und Praktiken bis heute ausbildet. Im Kontext von Migrations- und Asylpolitik sowie auch in Bezug auf die rassistische Normalität nach der Wiedervereinigung betont Postkolonialität eine historische und insbesondere diskursive Verfasstheit, in der sich nicht nur die Bundesrepublik, sondern ganz Europa befinden. Diese unterschiedlichen Formen der Repräsentation verweisen auf eine kritische Haltung gegenüber romantisierenden, herrschaftsrelativierenden und ahistorischen Betrachtungen gesellschaftlicher Phänomene in den „Post-Colonial Studies“. Kwame Anthony Appiah (1991) vermutet in seinem Aufsatz: „Is the post- in postmodernism the post- in postcolonial?“, dass die metaphorische Sprache in den „Post-Colonial Studies“ zu einer ambivalenten Rezeption geführt habe. Einerseits habe das bilderreiche Vokabular zur diskursiven Erfassung von postkolonialen kulturellen Artikulationen beigetragen, andererseits hätte die Rezeption dieses Sprachgebrauchs die Lebensbedingungen im Exil, in der Diaspora und in der Migration ästhetisiert. Auf globaler Ebene fänden Übertragungen der Metaphern der Deterritorialisierung, des Nomadismus und der Hybridität statt, die die lokalen geografischen und politischen Lebensbedingungen der Subjekte im Exil, Diaspora und der Migration verklärten (Appiah 1998: 28). Dass die im Kontext „postkolonialer Kritik“ entstandenen Konzepte wie Repräsentation, Subalternität, Text, Textualität, Kontext, Differenz, Identität, Hybridität und Subjektivität gerade die Doppeldeutigkeit, die Ambivalenz und die Vermittlung zwischen materiellen Verhältnissen und diskursiven Machtgeflechten auszuloten intendieren, gerät in der aktuellen Rezeption aus dem Blickfeld. Die Kritik Mohantys oder Spivaks am „Postkolonialismus-Hype“ weist auf einen wichtigen Aspekt hin, wenn „Postkolonialismus“ zur multikulturellen Staffage im neo-liberalen Supermarkt der Diversität wird. In diesem Sinne schließe ich mich Stephen Slemons Einschätzung an: “Definitions of the post-colonial, of course, vary widely, but for me the concept proves most useful not when it is used synonymously with a post-idenpendence historical period in once-colonised nations, but rather when it locates a specifically anti- or post-colonial discursive purchase in culture, one which begins in the moment that the colonising power inscribes itself onto the body and space of its Others and which continues as an often occluded tradition into the modern theatre of neo-colonialist inernational relations. “ (Slemon 1991: 3)
Verweise: Feministische Wissenschaftskritik und Epistemologie Migrationsforschung Rassismustheorien
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Encarnación Gutiérrez Rodríguez
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Nora Räthzel
Rassismustheorien: Geschlechterverhältnisse und Feminismus
Definitionen Schwarze Feministinnen in Britannien und den USA führten den Begriff Rassismus in die feministische Debatte ein (vgl. Davis 1983, hooks 1981, Carby 1982). Weiße Feministinnen verhielten sich rassistisch, so argumentierten sie, insofern sie die Erfahrungen und Lebensbedingungen schwarzer Frauen und Frauen aus der „Dritten Welt“ entweder ignorierten oder von einem rassistischen, d.h. von einem Standpunkt aus darstellten, der die eigenen Werte unhinterfragt zum Maßstab der Bewertung anderer machte. Ein solcher Feminismus könne nicht den Anspruch erheben, alle Frauen zu vertreten (Amos/Parmar 1984: 4ff.). Diese Kritik begreift Rassismus nicht als eine vorsätzliche Praxis, sondern vornehmlich als Effekt der Zugehörigkeit zu einer dominanten Ethnie oder „Rasse“, ein Verständnis, das sich von früheren Rassismustheorien unterschied. Der Weg von den ersten zu den gegenwärtigen Theorien über Rassismus soll hier kurz skizziert werden. Es lassen sich zwei Schulen von Rassismustheorien unterscheiden (die sich gleichwohl aufeinander beziehen): diejenige, die sich auf den so genannten wissenschaftlichen Rassismus des 19. Jahrhunderts und auf dessen Ausformulierung im faschistischen Deutschland beziehen, und diejenige, deren Bezugspunkt Kolonialismus und Sklavenhandel sind. Die erste Schule ist in deutschsprachigen, die zweite in englischsprachigen Ländern vorherrschend.
Rassismus als Antisemitismus – Rassenhygiene und Genozid Robert Miles zufolge (1991) findet sich der Begriff Rassismus erstmalig bei Magnus Hirschfeld. Dessen Buch, 1933 und 1934 im Exil konzipiert, erschien nach seinem Tod 1938 auf englisch unter dem Titel „Racism“. Als Rassismus definierte und kritisierte er die Vorstellung, man könne die Menschheit in eine biologisch determinierte Hierarchie verschiedener Rassen einteilen. Phänotypische Merkmale dienten diesem Rassismus als Indikator für psychische, kulturelle und intellektuelle Überlegenheit bzw. Unterlegenheit. Die „arische Rasse“ galt als allen anderen Rassen überlegen, die Juden, als „asiatisches Volk“ definiert, standen auf der untersten Stufe der Hierarchie. Begründer dieses so genannten wissenschaftlichen Rassismus waren Joseph-Arthur Comte de Gobineau (1816-1882) und Houston Stewart Chamberlain (1855-1927, 1912), der Schwiegersohn Richard Wagners. Gobineau prophezeite die „Rassenmischung“ werde den Untergang der „arischen Rasse“ und damit der menschlichen Zivilisation verursachen. Chamberlains Behauptung, die Arier seien das rassisch und kulturell überlegene Element der europäischen Kultur, beeinflusste Hitler. Einige Theoretiker (z.B. Poliakov et al. 1985) heben die Besonderheit des Antisemitismus gegenüber anderen Rassismusformen hervor: Juden würden als Rasse konstruiert, ohne dass es Merkmale gäbe, an denen sich eine solche Konstruktion festmachen könne. Es sei gerade die Ununterscheidbarkeit der Juden von den Bevölkerungen, in denen sie leben, die sie zu Hassobjekten machten (siehe dazu auch Bauman 1992). Dagegen zeigt Gilman, dass es schon bei
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Nora Räthzel
Chamberlain eine Verschmelzung von einem gegen Juden und Schwarze gerichteten Rassismus gibt: Die Juden, so Chamberlain, seien eine „Bastardrasse“, weil sie sich in der alexandrinischen Diaspora mit Schwarzen vermischt hätten (Gilman 1992: 25f.). Aufgrund der Rolle, die der Antisemitismus im deutschen Faschismus gespielt hat, und dieser wiederum für das politische und theoretische Selbstverständnis in Deutschland, werden Antisemitismus und Rassismus hier oft gleichgesetzt. Rassismus, der sich gegen MigrantInnen richtet, wird als Ausländerfeindlichkeit oder Fremdenfeindlichkeit bezeichnet (ähnlich in Frankreich mit seiner antisemitischen Tradition, vgl. Silverman/Yuval-Davis 1999). Seit dem Anstieg rassistischer Angriffe und Mordanschläge im Kontext der deutschen Vereinigung hat der Begriff Rassismus verstärkt Eingang in die deutsche Diskussion gefunden. Jedoch konzentriert sich die Rassismusforschung nach wie vor auf Gruppen, deren Ideologie und Praxis eine unmittelbare Kontinuität mit den biologistischen Rassismustheorien aus dem 19. Jahrhundert erkennen lässt (vgl. kritisch dazu: Kalpaka/Räthzel 1994, Rommelspacher 2002, Osterkamp 1996, Mecheril/ Teo 1997).
Rassismus als Versklavung und Kolonisierung In anglophonen Ländern entstanden Rassismustheorien ebenfalls nach dem zweiten Weltkrieg, aber sie bezogen sich auf die Versklavung und Kolonisierung außereuropäischer Bevölkerungen in und außerhalb Europas, Nordamerikas und Australiens (vgl. Cox 1976). Ideologien, die Kolonialismus, Sklavenhandel oder das südafrikanische Apartheidregime legitimierten, indem sie die Bevölkerungen Afrikas, Asiens und Südamerikas als „minderwertige Rassen“ darstellten, wurden als Rassismus analysiert. Als früheste Form dieses Rassismus wurde die Ideologie spanischer Conquistadores im 15. Jahrhundert identifiziert, für die Ausbeutung, Enteignung und Ermordung der südamerikanischen Urbevölkerungen legitim waren, weil diese anderen Ursprungs seien als die Spanier, „ihnen ebenso unterlegen wie Kindern den Erwachsenen, Frauen den Männern und man kann sogar sagen, Affen den Menschen“ (Juan Ginés de Sepúlveda, Democrates II „Concerning the Just Cause of the War Against the Indians“; Encyclopædia Britannica, Stichwort: Bartolomé de las Casas). Bartolomé de las Casas bekämpfte diese Position und die Ausbeutung der Indianer mit dem Argument, sie hätten eine Seele ebenso wie Christen. Auf dieser Basis forderte er ihre Missionierung, statt ihre Ausbeutung. Obgleich er sich ideologisch beim spanischen Hof durchsetzte, war es Sepulvedas Theorie, die sich praktisch in den Kolonien durchsetzte. Aufgrund des historischen Kontexts, auf den sich Rassismustheorien in den anglophonen Ländern beziehen, wird er vor allem als ein Problem zwischen Weißen und Schwarzen verstanden. Ein anderer Begriff für Rassismus ist hier „White supremacy“ (Fredrickson 1982, Blee 2002). Rassismus gegen Gruppen, die nicht schwarz sind, wird meist nicht als solcher definiert, z.B. antiirischer Rassismus in Britannien (vgl. Hickman/Walter 2001).
Rassismus als kulturelle Differenz Nach dem zweiten Weltkrieg (1949-1952) versammelte die UNESCO Sozialwissenschaftler, Genetiker und Anthropologen mit der Absicht, dem Rassenbegriff die wissenschaftliche Legitimität zu entziehen. Trotz vieler Einschränkungen (vgl. Weingart u.a. 1988: 602ff.) wurde eine Erklärung verabschiedet, die u.a. feststellte, dass es keine wissenschaftliche Basis für die Einteilung der Menschheit in Rassen gebe. Dass die genetischen Unterschiede zwischen Bevölkerungsgruppen (die als Rassen klassifiziert wurden) minimal sind im Vergleich zu den Unterschieden innerhalb solcher Gruppen, ist heute genetisches Elementarwissen. Das Human Genome Project hat festgestellt, dass 99,9% der DNA aller Menschen identisch ist (vgl. Cavalli-
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Sforza 1996, Wells 2002). Ironischerweise verleiht jedoch gerade diese neue Genforschung und die daraus resultierende Gentechnologie, z.B. im Rahmen individuell betriebener Geburtenkontrolle, der Vorstellung von der genetischen Determiniertheit der Menschen neue Glaubwürdigkeit (vgl. Weingart u.a. 1988: 669ff.). Die Diskreditierung des so genannten wissenschaftlichen Rassebegriffs und der Eugenik durch die Vernichtungspolitik im deutschen Faschismus und seine Kritik durch die Genetik selbst, hat nicht zu einem Verschwinden des Rassismus geführt. Einerseits wird der genetische Rassismus nach wie vor verteidigt, andererseits haben sich in Politik und im Alltag neue Praktiken und Argumentationsmuster herausgebildet. In Frankreich organisierte sich um Alain Benoist eine Gruppe von Philosophen als „Nouvelle Droite“. Sie eignete sich den Slogan der jungen Einwanderer, droit à la différence, an. Auch die Franzosen hätten ein Recht auf Differenz, das durch Einwanderung bedroht sei. Um den Reichtum der verschiedenen Kulturen zu bewahren, so argumentieren sie, müssten die Menschen an ihren jeweiligen Orten bleiben. Sowohl im anglophonen wie im deutsch- und französischsprachigen Raum werden diese neuen Formen von Rassismus als differentieller (vgl. Taguieff 2000) oder kultureller Rassismus analysiert (vgl. Barker 1981). Da der Differenzbegriff im Zentrum steht, hierarchisiert diese Form von Rassismus die Kulturen nicht explizit. Jedoch wird nur die Einwanderung derjenigen Gruppen, die im „alten Rassismus“ als minderwertig definiert sind, als Gefahr beschrieben. Auch im alten Rassismus wurden „Rassen“ als kulturell anders definiert, wenn man auch nicht von Kultur, sondern von Eigenschaften oder Mentalität sprach. Man spricht nicht offen davon, dass Kulturen vererbt sind, warnt aber vor ihrer „Vermischung“, wie der alte Rassismus vor der „Rassenmischung“ warnte. Die Behauptung, Kulturen änderten sich nicht, wenn Menschen an ihrem Ursprungsort blieben, beinhaltet eine Naturalisierung von Kultur, die der Naturalisierung von Gruppen als „Rassen“ entspricht (vgl. Hall 2000, 2004). Explizit naturalisiert wird der Rassismus selbst. Es sei natürlich, dass eine Bevölkerung ab einer gewissen „Toleranzschwelle“ mit Aggressivität auf „Fremde“ reagiere. Trotz dieser Ähnlichkeiten ist es wichtig, die neuen Argumentationsweisen ernst zu nehmen (vgl. Demirovi/Paul 1996, Demirovi/Bojadžijev 2002), um Gegenstrategien entwickeln zu können. Ihr größter Erfolg besteht darin, dass es ihnen gelungen ist, die Forderung nach „Anerkennung der Differenz“ zu besetzen und in einen rassistischen Diskurs zu integrieren, indem Differenz als statisch definiert und in einen Gegensatz zu „Vermischung“ gebracht wird. In den quasi-theoretischen Artikulationen der neuen Rassismen ist man bemüht, sich vom alten, diskreditierten Rassismus zu unterscheiden. Im Alltagsrassismus finden sich neuer und alter Rassismus vermischt (vgl. Leiprecht 2001, Jäger 1996). Die meisten Theorien stimmen überein, dass es verschiedene Rassismen gibt, je nach dem politischen, sozialen und ökonomischen Kontext, in dem sie sich entwickeln, und den Bevölkerungsgruppen, gegen die sie sich richten. Miles (1991) schlug eine Definition vor, die es ermöglichen sollte, die Gemeinsamkeit verschiedener Formen von Rassismus zu bestimmen. Danach ist Rassismus eine Ideologie, die eine soziale Gruppe als „Rasse“ konstruiert, indem sie vorhandene oder behauptete phänotypische Merkmale mit behaupteten sozialen Verhaltensweisen verknüpft. Soziale Verhaltensweisen werden dadurch zu unveränderlichen Eigenschaften von Gruppenmitgliedern naturalisiert. Die so als Rasse konstruierte Gruppe wird als minderwertig definiert im Verhältnis zu denjenigen, die diese Rassenkonstruktion vornehmen. Die ideologische Konstruktion legitimiert rassistische Praxen der Ausgrenzung, Marginalisierung und Verfolgung. In dieser Definition fehlen die Machtverhältnisse, die es der konstruierenden Gruppe ermöglichen, ihre Definition der anderen praktisch durchzusetzen, das heißt sie gesellschaftlich zu marginalisieren, ihnen z.B. Rechte vorzuenthalten, sie in geringer bewertete Arbeitsbereiche abzuschieben, etc. Auch kulturelle Rassismen, für die phänotypische Merkmale nicht der Ausdruck biologisch oder genetisch determinierter Eigenschaften sind, stützen sich auf äußere Merkmale zur Identifizierung kultureller Andersartigkeit. Visualisierung ist ein konstitutives Merkmal aller Rassis-
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men. Das gilt für alle Diskriminierungsprozesse. Wer seine „wahre“ Zugehörigkeit unsichtbar macht (seien es Transvestiten, Schwarze o.a.), dem wird vorgeworfen zu betrügen, nicht authentisch zu sein (vgl. Appiah 1997, Garber 1992).
Ursachen und Erscheinungsformen von Rassismen Auf die Frage, wie Rassismus sich äußert und wer oder was dafür verantwortlich ist, geben verschiedene Rassismustheorien verschiedene Antworten, die sich grob in drei Gruppen einteilen lassen: Die erste führt Rassismus auf Vorurteile zurück (vgl. Katz 1978), auf die Tendenz benachteiligter Individuen, andere für ihre Benachteiligung verantwortlich zu machen (Sündenbocksyndrom), auf die Projektion eigenen Unvermögens oder eigener Frustration auf andere. Diese Theorien sehen die Ursache von Rassismen im individuellen Fehlverhalten von Individuen oder Gruppen von Individuen, die es durch Aufklärung und/oder Bestrafung zu korrigieren gilt (vgl. Broek 1988). Zur zweiten Gruppe gehören diejenigen Theorien, die Rassismen als Bestandteil allgemeiner gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse erklären (Elias/Scotson 1990), als Mittel der Aufrechterhaltung von Klassenherrschaft (vgl. Allen 1994, Miles 1991), kultureller Dominanz (vgl. Rommelspacher 1995) oder/und der (Re-)Produktion des Nationalstaats (vgl. Balibar/Wallerstein 1998). In seiner Geschichte der „Erfindung der Weißen Rasse“ erklärt Theodore Allen Rassismus als eine Vergemeinschaftungsform, mit der die Bourgeoisie die Kontrolle in einer Klassengesellschaft aufrecht erhält: Ein Teil der untergeordneten Klasse wird als Mitglied einer imaginären klassenlosen Gemeinschaft (der Weißen Rasse in Anglo-Amerika, der protestantischen Religion in Irland) konstituiert und, indem sie gegenüber anderen Gruppen (nicht-weißen, nicht protestantischen) in der gleichen Klasse privilegiert wird, mit der herrschenden Bourgeoisie ideologisch verknüpft. Das Projekt Ideologietheorie (1980) hat eine vergleichbare Analyse des deutschen Faschismus als Herstellung von klassenübergreifendem Konsens geleistet. Ähnlich, wenn auch ohne die politisch-ökonomische Analyse, sieht Rommelspacher (1995) in der Teilhabe an und Identifikation mit einer Dominanzkultur die Ursache für rassistisches Verhalten. Balibar (1998) analysiert Rassismus als eine Praxis, mit der Nationalstaaten (die alle ethnisch heterogen sind) sich eine imaginäre homogene ethnische Basis verschaffen. Durch den Bezug auf ein Anderes, welches dem nationalen Selbst als negativer Spiegel dient, wird die Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Nation hergestellt. So kann Konsens bei Beibehaltung gesellschaftlicher Gegensätze organisiert werden (für die Bundesrepublik siehe Räthzel 1997). Für Bauman (1992) sind Rassismen mit dem Ziel der Moderne verknüpft, eine perfekte Gesellschaft zu schaffen. Diejenigen, die als fremd definiert werden, stehen diesem Ziel entgegen und müssen entfernt werden wie der Gärtner das Unkraut entfernt. Staatliche Bürokratien und andere gesellschaftliche Institutionen definieren die Fremden als absolut anders und schaffen dadurch die Voraussetzung, sie ohne moralische Skrupel zu eliminieren. Die Trennung zwischen individuell und strukturell argumentierenden Theorien ist nicht absolut. Es gibt eine dritte Gruppe von Theorien, die den Zusammenhang zwischen Herrschaftsstrukturen und individuellen Alltagsrassismen explizit analysiert (vgl. Osterkamp 1996, Cohen 1994, Leiprecht 2001, Hall 1989, 1994, 2000; Räthzel 2000, Räthzel et al. 2007). Dazu gehören die meisten feministischen Untersuchungen zum Zusammenhang von Rassismus und Sexismus, z.B. Rommelspacher 2002, Uremovic/Oerter 1994, Lutz 1992, Hügel 1993, Collins/Anderson 1995, Attia/Marburger 2000. Rassismen sind für sie Handlungsformen und Institutionen, durch die und in denen sich die Individuen den herrschenden Verhältnissen unterordnen. Auf einer quer zu dieser Gruppeneinteilung stehenden Ebene, argumentieren psychoanalytisch (vgl. Kristeva 2001), psychoanalytisch-marxistisch (vgl. Žižek 1997) und philosophisch (vgl. Todorov 1989) orien-
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tierte Theorien der Konstruktion von Alterität. Sie analysieren individuelle Gewordenheit als historisch spezifische Vergesellschaftungsformen. Magiros (2004) befragt Adorno und Foucault auf ihren Nutzen für die gesellschaftstheoretische Analyse von Rassismus.
Geschlechterverhältnisse und Rassismus Rassismus und Feminismus Die eingangs erwähnte Kritik schwarzer Frauen am weißen Feminismus wurde in den 1990er Jahren auch in Deutschland virulent. Feministinnen (meist selbst mit Migrationserfahrungen) kritisierten nicht nur ihre Unsichtbarkeit in feministischen Diskursen (vgl. Arbeitsgruppe Frauenkongreß 1984), sondern auch die Beibehaltung eines theoretischen Paradigmas, das auf dem Dualismus des Geschlechtergegensatzes basierte und somit ethnische Differenzen nur als „Nebenwiderspruch“ zur Kenntnis nehmen konnte (vgl. Gümen 1998). Bahnbrechend für eine Analyse der Geschichte und Alltagserfahrungen von „anderen“ Frauen in Deutschland war 1986 das Buch von Oguntoye, Opitz und Schultz, „Farbe bekennen“. Einen Ausweg aus der theoretischen und politischen Sackgasse scheint der Begriff der Differenz zu bieten. Er bricht mit dem Konzept von Frauen als einer homogenen Gruppe, vereint – oder zu vereinen – aufgrund gleicher (Unterdrückungs-)Erfahrungen. Es wurde die Aufgabe formuliert, die Unterschiede zwischen Frauen ins Zentrum der Analyse und der politischen Befreiungsstrategien zu stellen. Das geschah im Kontext feministischer Rassismusforschung auf verschiedenen Ebenen: als Frage nach den Unterschieden und Gemeinsamkeiten von Sexismus und Rassismus, als Untersuchung der unterschiedlichen Art und Weise, in der Männer und Frauen von Rassismen betroffen sind, der verschiedenen Machtpositionen von Frauen, des Zusammenhangs der verschiedenen Unterdrückungsformen.
Rassismus und Sexismus – Gemeinsamkeiten und Unterschiede Der Begriff Sexismus tauchte zum ersten Mal in den 1960er Jahren in der englischsprachigen Diskussion auf und ist der Wirkungsweise des Rassismus nachgebildet (vgl. Garcia 1997: 45ff.). Wie Rassismus basiert Sexismus auf einem Prozess der Naturalisierung gesellschaftlicher Prozesse, und einige AutorInnen haben deshalb vorgeschlagen, alle Formen diskriminierender Naturalisierung, Sexismus, Homophobie, Diskriminierung von Behinderten, im Konzept des Rassismus zusammenzufassen (vgl. Guillaumin 1995). Andere heben die Verschiedenheit hervor, die trotz der Gemeinsamkeiten zwischen Rassismus und Sexismus (vgl. Zack 1997) existieren. So gelten Frauen der dominanten Bevölkerungsgruppe als notwendig für die biologische und kulturelle Reproduktion, während den als nicht zugehörig definierten Frauen kein legitimer Ort in der Gesellschaft zugestanden wird. Dies äußert sich z.B. in einer diskriminierenden staatlichen Bevölkerungspolitik: Während Frauen der dominanten Gruppe Abtreibungen verboten oder erschwert sind, werden sie bei Frauen der Minderheiten forciert, bis hin zu Zwangssterilisierungen (Bock 1986).
Geschlechtsspezifische Rassenkonstruktionen Aufgrund der Verknüpfung von Rassismus und Sexismus sind Männer und Frauen unterschiedlich von Rassismen betroffen. Schwarze Frauen werden in einigen Kulturen als Matriarchinnen, in anderen als Verführerinnen dargestellt, schwarze Männer werden feminisiert (vgl. Oguntoye
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u.a. 1986), Asiatinnen gelten als unterwürfig und als sexuell verfügbar für weiße Männer (vgl. Uchida 1998), Muslima als unterwürfig (vgl. Lutz 1991). In den Phantasien über die Gefahren der „Rassenmischung“ zeigt sich ebenfalls die Verknüpfung von Rassismus und Sexismus: So werden Verbindungen zwischen Männern der herrschenden Gruppe und Frauen der beherrschten Gruppe eher toleriert als die zwischen Frauen der herrschenden und Männern der beherrschten Gruppe, weil der als dominant gedachte männliche Einfluss jeweils als „purifizierend“ bzw. „verunreinigend“ gilt. Zum Zusammenhang von Rassismus und Maskulinität siehe Spindler 2006. Im Kolonialismus und im US-amerikanischen Sklavensystem war die Aneignung der dominierten Frauen durch dominante Männer ein zentrales Mittel zur Aufrechterhaltung des Systems (vgl. McClintock 1995).
Zusammenwirken von Sexismus, Klassenverhältnissen und Rassismus In den 1980er Jahren wurde der Zusammenhang zwischen Rassismus, Sexismus und Klassenherrschaft meist als Addition begriffen. Es wurde von der doppelten oder dreifachen Unterdrückung von Frauen gesprochen. Später wurde diese Sichtweise als zu simpel kritisiert (vgl. King 1988): Durch ihr Zusammenwirken verändern die jeweiligen Unterdrückungsformen ihren Charakter. So sind schwarze Frauen in den USA und Britannien häufiger als schwarze Männer in höheren Positionen zu finden, befinden sich jedoch insgesamt am untersten Ende der Verdienstskala (vgl. King 2001). Rassistische Ausgrenzungen können mit frauenemanzipatorischen Argumenten vorgetragen werden (vgl. M. Jäger 1996). Frauen können zugleich untergeordnet (als Frauen) und übergeordnet (als Mitglieder der ethnischen Mehrheit) positioniert sein. Frauen der Mehrheit spielten und spielen daher vielfach eine aktive Rolle bei der Praktizierung von Rassismus, Kolonialismus und Faschismus (vgl. Ware 1992, Mamozai 1989, Koonz 1991). Darüber hinaus formt die Zugehörigkeit zur dominanten Gruppe das Leben, die Selbst- und Fremdbilder von Frauen der Mehrheit und führt damit zu einer – oft nicht bewussten – Reproduktion rassistischer Ausgrenzung (vgl. Pratt 1988, Frankenberg 1993, Rommelspacher 2002, Wollrad 2005). Wenn es Individuen aus subordinierten Gruppen gelingt, sozial aufzusteigen, nehmen sie oft Teil an der klassenspezifischen Unterdrückung, wie z.B. hooks (2000) herausarbeitet.
Intersectionality und Differenz: offene Fragen Solche kontextspezifischen Untersuchungen der Überschneidungen und des Zusammenwirkens verschiedener gesellschaftlicher Herrschaftsstrukturen und -praktiken werden im angelsächsischen Raum seit den 1990er Jahren unter dem Stichwort Intersectionality erarbeitet. Eingeführt wurde der Begriff von Kimberle Crenshaw 1989 (siehe auch Collins u.a. 1995, Collins 1999, Chow u.a. 1996, und, noch ohne den Begriff: Anthias/Yuval-Davis 1992). Crenshaw benutzte die Metapher einer Verkehrskreuzung, an der sich Machtwege (Geschlecht, Rasse, Ethnizität, Klasse), die in unterschiedlicher Weise die Marginalisierung bestimmter Gruppen determinieren, kreuzen, überlagern und überschneiden. Sie entwickelte den Begriff zuerst in einem Papier für den United Nations Development Fond for Women (UNIFEM). In feministischer Forschung steht der Begriff für eine Perspektive, die es einerseits vermeidet, gesellschaftliche Positionen auf subjektive Identitäten zu reduzieren, andererseits gesellschaftliche Strukturen ohne die sie aktiv re-produzierenden oder ihnen widerstehenden Individuen zu denken. Untersuchungen der sich überlagernden Machtverhältnisse haben auch zu einer Kritik des Differenzbegriffs geführt: Er habe zur Vorstellung eines beliebigen Nebeneinander aller möglichen Unterschiede geführt und so die Machtverhältnisse unsichtbar gemacht (vgl. Zinn 1996, Alexander/Mohanty 1997). Donna Haraway unterscheidet: „Some differences are playful and
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some are poles of world historical systems of domination. Epistemology is about knowing the difference.“ (Haraway 1991: 161) Es fehlen in Deutschland empirische Untersuchungen, die das Ineinandergreifen von Rassismus, Sexismus und Klassenunterdrückung als Bestandteil der Reproduktion gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse analysieren. Es reicht meines Erachtens weder aus (und dieser Mangel gilt auch für die anglophone Literatur), die jeweilige Überkreuzung sozialer Unterdrückungsformen an den sozialen Positionierungen bestimmter sozialer Gruppen zu zeigen, noch sich Gedanken über ihre jeweiligen Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu machen. Was fehlt, ist eine grundsätzlichere Auseinandersetzung mit der Frage, welche Bedeutung diese Überkreuzungen für die gesamtgesellschaftliche Reproduktion und, auf einer kulturell-politischen Ebene, für die Herstellung des gesellschaftlichen Konsens haben. Verweise: Geschlechterstereotype Intersektionalität Migrantinnenorganisationen Migrationsforschung Nation, Kultur und Gender Postkolonialismus
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Mona Singer
Feministische Wissenschaftskritik und Epistemologie: Voraussetzungen, Positionen, Perspektiven
Seit den 1980er Jahren haben feministische Wissenschaftskritikerinnen systematisch das dominante wissenschaftliche Wissen – von den Sozial- und Geisteswissenschaften bis hin zu den Naturwissenschaften – auf seine Geschlechtsblindheit hin überprüft und seine Mängel zu korrigieren versucht. Die Fokussierung auf Geschlecht war dabei der Universalschlüssel, um in die verschiedenen wissenschaftlichen Diskurse einzubrechen, männliche Selbstvergessenheit im Allgemeinen (Androzentrismus), die Verzerrungen und Abwertungen weiblicher Denk- und Lebenserfahrungen im Besonderen (Sexismus) aufzudecken und die männerbündlerische Dominanz in den akademischen Institutionen zu stören. Viele feministische Theoretikerinnen waren lange – und manche sind es immer noch – davon überzeugt, dass im Rahmen der vorherrschenden wissenschaftlichen Prinzipien diese Schattenseiten herrschender wissenschaftlicher Rationalität durch „bessere“ Wissenschaft aufgeklärt werden könnten – so durch ein Mehr an empirischer Forschung, die das Wissen, die Interessen und die Lebenszusammenhänge von Frauen sichtbar macht. Im Zuge der Kritik und der umfangreichen Befunde von „schlechter“ Wissenschaft wurde jedoch immer deutlicher, dass das Problem tiefer liegen muss, nämlich in den leitenden Prinzipien des herrschenden Wissenschaftsverständnisses selbst. Damit rückten erkenntnistheoretische und epistemologische Fragen in den Vordergrund. Klassische erkenntnistheoretische Fragen lauten wie folgt: Was heißt Erkenntnis und unter welchen Bedingungen ist Erkenntnis möglich? Was kann als Gegenstand der Erkenntnis gelten? Was ist unter „Wahrheit“ zu verstehen? Wie können Wissensansprüche begründet werden und was unterscheidet Wissen von bloßem Meinen und Dafürhalten? Wie ist das Subjekt der Erkenntnis zu bestimmen? In der herkömmlichen Erkenntnistheorie wurde das Subjekt der Erkenntnis stets in einem nicht-empirischen Begriff gefasst (z.B. bei Descartes als denkende Substanz, bei Locke als Bewusstsein/mind, bei Kant als Einheit des „Ich denke“). Dem empirischen Subjekt der Erkenntnis – also der Frage, wer die konkreten ErkenntnisproduzentInnen sind – kommt dabei kein relevanter Stellenwert zu. Feministische Theoretikerinnen gehen hingegen davon aus, dass die Frage, über wessen Erkenntnis wir sprechen, wenn wir über Wissen und Wissenschaft sprechen, in eine zentrale analytische Position zu rücken sei. Damit stellen sie sich gegen all jene erkenntnistheoretischen Positionen, die von der sozialen und kulturellen Situiertheit der Wissenssubjekte abstrahieren und Erkenntnis und Wissen jenseits von Körperlichkeit und Geschichtlichkeit, von Macht- und Herrschaftsverhältnissen thematisieren. Anknüpfen können sie mit dieser Forderung an andere erkenntnis- und wissenschaftskritische Diskurse, die vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Einsicht befördert haben, dass jede wissenschaftliche Erkenntnis als prinzipiell sprach-, handlungs- und interpretationsabhängig zu begreifen ist. Dazu gehören Ansätze der anti-positivistischen Wissenschaftstheorie, der Kritischen Theorie, der Wissenschaftsgeschichte, Wissens- und Wissenschaftsso-
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ziologie. Wissenschaftliche Theorien und Praktiken ebenso wie deren epistemologische Legitimationszusammenhänge werden in ihrer historischen, sozialen und kulturellen Verortung zum Thema und rücken damit in den Horizont von Geschichtlichkeit und gesellschaftlichen Verhältnissen. Den Ausgangspunkt für feministische Auseinandersetzungen mit Erkenntnistheorie markiert die Frage, wie Lorraine Code sie am Beginn der 1980er Jahre stellte: „Is the sex of the knower epistemologically significant?“ (Code 1981). Die klassische erkenntniskritische Frage Kants „Was können wir wissen?“ wurde dahin gewendet zu fragen, wer de facto dieses wir ist und wieweit die Ordnung der Geschlechter die Ordnung des Wissens bestimmt. Wie wird wissenschaftliches Wissen vergeschlechtlicht und wie kann es von Androzentrismus und Sexismus befreit werden? Inwiefern sind nicht nur die Regeln und Normen des Wissenschaftsbetriebs als „männlich“ konnotiert zu verstehen, sondern darüber hinaus auch die grundlegenden Auffassungen von wissenschaftlicher Rationalität, Objektivität und Universalität? Welche Verbindungen können in feministischer Absicht zwischen Wissen, Macht und Ermächtigung hergestellt werden? Mit diesen Fragen bewegen sich feministische Theoretikerinnen aus der klassischen Erkenntnistheorie hinaus und in ein Feld, das mit dem Terminus Epistemologie bezeichnet werden kann. Unter diesem Titel sind transdisziplinäre Einsichten in die vielfältigen Aspekte und Dimensionen von Erkenntnis und wissenschaftlichem Wissen und damit sowohl philosophische, historische und soziologische Fragen der Erkenntnis und des Wissens subsumierbar.
Situiertes Wissen Paradigmatisch für feministische Epistemologien ist die These der Situiertheit des Wissens. Sandra Harding und Donna Haraway haben dafür den Begriff „situated knowledges“ in die feministische Diskussion eingeführt (vgl. Harding 1991: 138-163, Haraway 1995: 73-97). Darunter ist Folgendes zu verstehen: Wissenschaften werden von konkreten, empirischen Subjekten produziert, deren Wahrnehmung keine unvermittelte sein kann. Die Wissenssubjekte sind – historisch, sozial, kulturell, ökonomisch – als situiert bzw. standortverbunden zu verstehen. Wir sprechen von bestimmten gesellschaftlichen Positionen, aus einer bestimmten Geschichte heraus, im Horizont spezifischer Erfahrungen, kultureller Werte und Normen. Wir nehmen ,wahr‘ aus einer bestimmten Denksozialisation heraus, mit bestimmten Interessen und Weltbildern im Hintergrund, mit einer bestimmten körperlichen Verfasstheit, mit wahrnehmungsverlängernden und -verändernden technologischen Mitteln, beschränkt und geprägt durch materielle Bedingungen, soziale und natürliche Umwelten. Dementsprechend ist auch das produzierte wissenschaftliche Wissen als situiert und kontextabhängig zu verstehen. Unterschiedliche Denk- und Gesellschaftsverhältnisse, kulturelle Traditionen, soziale Umwelten und natürliche Bedingtheiten haben unterschiedliche wissenschaftliche Interessen und Wissensformationen zur Folge. Verortet ist wissenschaftliches Wissen auch im Hinblick auf disziplinäre Unterschiede und die faktische Pluralität der Wissenschaft. Disziplinäre Denksozialisationen prägen unterschiedliche Sichtweisen, die sich nicht einfach zu einem Bild vom Ganzen zusammenfügen lassen, wie Teile eines Puzzles, sondern auch inkompatibel sein können. Wissenschaften sind schließlich gemäß dem feministischen Paradigma des „situierten Wissens“ als geprägt durch die Machtverhältnisse ihrer ProduzentInnen zu verstehen. Das betrifft die Bedingungen der Möglichkeit, überhaupt WissenschaftlerIn werden zu können, bis hin zur Frage, warum was als wissenschaftlich anerkannt wird oder nicht. Das betrifft die Auswahl dessen, was als erklärungsbedürftig angesehen wird, das heißt die Wahl der Forschungsfragen im so genannten Entdeckungszusammenhang, die Wahl der Methoden und Techniken im Rahmen des Begründungszusammenhangs sowie jene Prozesse, die einer wissenschaftlichen Erkenntnis zu
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ihrer Durchsetzung verhelfen, also den Verwertungs- und Überzeugungskontext. Wissenschaft, gesellschaftliche Verhältnisse und kulturelle Praktiken sind demnach als unlösbar verstrickt bzw. als Koproduktion vorzustellen.
Was sind die Aufgaben feministischer Epistemologie? Vorauszusetzen ist, dass es keine feministische Epistemologie im Singular gibt, sondern vielmehr eine Reihe von unterschiedlichen Ansätzen und Positionen. Einig ist man sich darüber, dass die Wissenssubjekte zu situieren und Wissenschaften zu kontextualisieren sind. Doch über die Konsequenzen des Paradigmas des „situierten Wissens“ herrscht Uneinigkeit. Was folgt aus den Einsichten in die Situiertheit und Kontextabhängigkeit des Wissens? Folgt daraus notwendigerweise Relativismus und sind Ansprüche auf Objektivität und Wahrheit demnach aufzugeben? Bedeutet die Einsicht, dass Wissen kontextgebunden und perspektivisch ist, dass es keine darüber hinausgehende Kriterien geben kann, um zwischen konkurrierenden Wissensansprüchen zu entscheiden? Oder kann nachgerade die spezifische gesellschaftliche Positioniertheit der WissensproduzentInnen zum Ausgangspunkt genommen und daraus abgeleitet werden, dass es gesellschaftliche Standorte gibt, von denen aus eine adäquatere und objektivere Sicht auf die Verhältnisse möglich ist? Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, was überhaupt die Aufgaben einer feministischen Epistemologie sein sollen. Soll Epistemologie ein Unternehmen sein, das feministische Wissensansprüche begründen will und auf Objektivitäts- und Wahrheitsansprüchen beharrt, oder soll sie sich auf Untersuchungen „what historically and materially ‚situated‘ knowers actually do“ (Code 1992: 138) beschränken? Soll Epistemologie auch normativen Charakter haben oder ist ihr Geschäft das der Deskription und der – historischen, soziologischen, psychologischen – Analyse kognitiver Praktiken? In der Beantwortung dieser Fragen haben sich unterschiedliche Richtungen und Ansätze herausgebildet. Im Folgenden sollen entlang des Diskursverlaufs der feministischen Diskussion in den letzten zwei Jahrzehnten zentrale Richtungen skizziert werden (vgl. Knapp/Klinger/Gehring/Singer 2003).
Feministische Standpunkttheorie Der älteste – nach wie vor meist diskutierte ebenso wie kritisierte – feministisch epistemologische Ansatz ist die feministische Standpunkttheorie. Die Antwort der feministischen Standpunkttheoretikerinnen auf die Ausgangsfrage – „Is the sex of the knower epistemologically significant?“ – war nicht nur ein klares Ja, sondern erhoben wurde auch der Anspruch, dass die geschlechtsspezifisch gesellschaftliche Positioniertheit der Wissensproduzentinnen Ausgangspunkt für eine adäquatere und objektivere Sicht auf die Verhältnisse sein kann. Die maßgeblichste Theoretikerin, Nancy Hartsock, knüpfte an die marxistische Theorie an, um die epistemologische Basis für einen feministischen Standpunkt, auf dem sich ein spezifischer feministischer historischer Materialismus gründen lasse, zu entwickeln (vgl. Hartsock 1983). Die Privilegierung eines solchen Standpunkts begründete sie damit, dass – in Anlehnung an die proletarische Standpunkttheorie, wie sie Georg Lukács formuliert hat (vgl. Lukács 1968) – die gesellschaftliche Position derer, die auf den Stufenleitern der Macht unten stehen, aber durch ihre Arbeit das System am Laufen halten, es diesen Subjekten ermöglicht, einen weiteren und angemesseneren Blick auf das Ganze haben zu können und zu wollen. Nur der Standpunkt der Unterdrückten könne die realen gesellschaftlichen Verhältnisse zum Vorschein bringen und so dazu führen, sie
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zu verändern. Die, die oben stehen, würden in einem hierarchischen gesellschaftlichen System tendenziell weder in der Lage sein, noch das Interesse haben, ihre eigene Privilegiertheit in Frage zu stellen. Frauen können demnach potenziell eine bessere, das heißt komplexere Sicht auf die Welt gewinnen als Männer. Während für die marxistische Gesellschaftstheorie die Klassenverhältnisse als Hauptwiderspruch im Zentrum stehen, setzt die feministische Standpunkttheorie bei den asymmetrischen Geschlechterverhältnissen und bei der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung unter kapitalistischen Vorzeichen an. Mit dem biologischen und sozialen Frau-Sein seien unterschiedliche Erfahrungen verbunden, die die Sicht auf die Welt strukturieren: Frauen produzieren Gebrauchswerte und Nachkommen, sie erledigen – immer noch – hauptsächlich die Hausarbeit, gebären und erziehen Kinder und leisten permanent Beziehungsarbeit (vgl Hartsock 1983). Die reproduktive Arbeit, die Frauen erledigen, setzt sich fort in der Institutionalisierung von „typischen“ Frauenberufen, wie in Sozialarbeit, Unterrichten, Krankenpflege etc. (vgl. Rose 1983). Frauen sind immer noch weitgehend für den Reproduktionsbereich zuständig und insofern der Motor für eine heterosexuell orientierte Gesellschaftsordnung. Würde diese Asymmetrie beseitigt werden, dann würde sich – gemäß der These, dass es hier um die Gesellschaft als Ganzes geht – nicht nur die Lage der Frauen, sondern die Gesellschaft als ganze verändern. Um einen objektiveren Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse zu bekommen, sei die beste Methode daher die, bei den Erfahrungen und bei den Lebensbedingungen der Frauen anzusetzen: „Starting off research from women’s lives“, wie es Sandra Harding ausdrückt (vgl. Harding 1990). Mit dem feministischen Standpunkt ist eine engagierte Position gemeint, die nicht einfach zu haben ist, sondern erkämpft werden muss. Ein Standpunkt ist nicht als unmittelbarer Ausdruck der Erfahrungen von Frauen zu verstehen, nichts, das wir uns qua Sozialisation gleichsam automatisch erwerben, sondern setzt engaged vision und kritische Reflexion voraus. Die gegenwärtige Wissenschaft spiegle in der Ausblendung der Erfahrungen und Kompetenzen von Frauen die männliche Dominanz wider. Diese äußere sich epistemologisch in bestimmten Merkmalen moderner Wissenschaften: in einer rigiden Subjekt-Objekt-Trennung, in aperspektivischen Objektivitätsidealen, in der Ausblendung von Subjektivität und Körperlichkeit sowie im Naturbeherrschungsgeist, und resultiert in der Ausbeutung und Zerstörung der Natur, der Militarisierung der Technowissenschaften und Ausgrenzung der als Andere Definierten. Feministische Wissenschaft wäre demgegenüber potenziell als weniger abstrakt denkbar, als verantwortungsvoller, körperbezogener, weniger auf Kontrolle und Beherrschung ausgerichtet und als emphatischer gegenüber den Untersuchungsobjekten vorstellbar. Vom feministischen Standpunkt aus könnten die zerstörerischen Implikationen männlich dominierter Wissenschaft und Technologie aufgezeigt und überwunden werden.
Feministischer Empirismus Von den unterschiedlichen feministischen epistemologischen Positionen und Strategien, wie sie in den letzten Jahrzehnten entwickelt wurden, sind die empiristischen Positionen diejenigen, die dem mainstream in Epistemologie und Wissenschaftstheorie am nächsten stehen. Empirismus im klassischen Sinn bezeichnet die erkenntnistheoretischen Lehren, die die methodisch in Beobachtung, Messung und Experiment gegründete Erfahrung als Grundlage der Erkenntnis verstehen. Erkenntnis hebt demnach an mit Erfahrung und findet ihr Kriterium in der Erfahrung. Erfahrung ist damit der Ursprung und der Rechtfertigungsgrund unserer Erkenntnis. Den unterschiedlichen empiristisch-positivistischen Erkenntnistheorien, wie sie im 20. Jahrhundert – z.B. im Kontext des Wiener Kreises und im Rahmen der analytischen Philosophie – diskutiert wurden, ist gemeinsam, dass der Begründungs- bzw. Rechtfertigungszusammenhang von wis-
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senschaftlichem Wissen ausschlaggebend ist, während hingegen der Entstehungszusammenhang als wissenschaftsextern begriffen wird. Damit verbunden ist die Trennung von wissenschaftlichen Fakten und Werturteilen und die Forderung nach einer Wertfreiheit der Wissenschaften. Feministische Vertreterinnen des Empirismus haben die nachhaltige Kritik an diesem Programm aufgenommen. So wurde das empiristisch-positivistische Programm im Zuge der „antipositivistischen Wende“ in der Wissenschaftstheorie unter anderem empfindlich durch die These der empirischen Unterdeterminiertheit von Theorien (Theorien sind durch Beobachtungsdaten nicht eindeutig bestimmt; es kann daher mehrere, sich auch widersprechende Theorien zu den selben Beobachtungsdaten geben) und die These der Theoriegeladenheit der Beobachtung (es gibt keine voraussetzungslose, theoriefreie Beobachtung und daher auch keine ,nackten‘ Tatsachen) relativiert. Gegenwärtig gibt es in dieser Richtung unter anderen zwei Ansätze, die vor allem im USamerikanischen Kontext der analytischen Philosophie Anklang finden: der kontextuelle Empirismus, wie er von Helen Longino, und die Richtung einer naturalisierten Epistemologie, wie sie von Lynn Hankinson Nelson vertreten wird (vgl. Longino 1990, Nelson 1990). Beide Theoretikerinnen gehen von dem empiristischen Paradigma aus, dass empirische Evidenz die entscheidende Grundlage für Erkenntnis ist: Theorien und Hypothesen müssen empirisch adäquat sein, die Gültigkeit von Theorien bemisst sich am Grad ihrer Übereinstimmung mit der Empirie. Beide sind sich jedoch auch darüber einig, dass zentrale Grundannahmen des Empirismus zu revidieren sind, um diesen für feministische Erkenntnisinteressen tauglich zu machen: Erstens gehen sie davon aus, dass Wissenschaft ein soziales Unternehmen ist, das nicht von einzelnen Individuen veranstaltet wird, sondern von Kollektiven bzw. wissenschaftlichen Gemeinschaften. Wissenschaft ist nicht das Produkt von einzelnen WissenschaftlerInnen, sondern ist emergentes Resultat sozialer Interaktionen. Zweitens halten sie fest, dass, weil Wissenschaft eine soziale Aktivität ist, auch soziale Faktoren in Rechnung zu stellen sind, die für traditionelle empiristische Denkweisen in den wissenschaftsexternen Bereich fallen. Forschung finde in sozialen Zusammenhängen statt, die für die Erkenntnis konstitutiv sind. Drittens versuchen beide, die empiristische Trennung zwischen Fakten und Werten zu unterminieren und räumen ein, dass eine Wertfreiheit der Wissenschaft nicht behauptet werden kann.
Postmoderne Epistemologie Für postmoderne Theoretikerinnen sind die „großen Erzählungen“ des Fortschritts, der Vernunft und der Wahrheit obsolet geworden. Radikal in Frage gestellt wird, dass Wissenschaft, Fortschritt und Emanzipation gleichsam selbstverständliche Verbündete sind. Dagegen wird gesetzt, dass die eigentlichen Verbündeten nicht Erkenntnis und Wahrheit, sondern Wissen und Macht sind. Grob zusammengefasst wird von folgenden Voraussetzungen ausgegangen: Alles, was wir haben können, sind Konstruktionen; jedes wissenschaftliche Wissen ist eine Konstruktion; Fakten sind ideologisch geladene Tatsachen (im buchstäblichen Sinn); wissenschaftliche Erkenntnis ist prinzipiell mit Macht verbunden und nicht mit Wahrheit. Das feministische Paradigma des „situierten Wissens“ wird vorausgesetzt und radikalisiert: Wir sprechen immer von einem bestimmten Standort aus, Wissensansprüche sind verwoben in kulturelle, soziale, ökonomische und politische Verhältnisse. Favorisiert wird eine epistemologische Orientierung, die die lokale und perspektivische Beschränktheit, Kontingenz und Instabilität, Ambiguität und prinzipielle Bestreitbarkeit aller Wissensansprüche in den Vordergrund stellt. Mit dieser Kritik einher geht die Vorstellung, dass das Subjekt des Wissens in einem Netz von Sprache und Bedeutungen, von Unbewusstem und Macht gefangen ist. Kritisiert wird die moderne Subjektkonzeption, die mit der Vorstellung eines rationalen, autonomen, psychisch
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untergrundlosen, physisch von Kontingenzproblemen entfesselten Subjekts verbunden wird. Dagegen wird argumentiert, dass das Subjekt vielmehr als dezentriert zu verstehen ist. Die Subjekte des Wissens seien durch Kräfte – Sprache, Macht, Unbewusstes – konstituiert, die sie nicht kontrollieren können. Eine schwache Version dieser These liegt allen feministischen Epistemologien als die Behauptung der grundsätzlichen Situiertheit des Subjekts zu Grunde. Eine starke postmoderne Version dieser These liegt in der Behauptung vor, dass das Subjekt nur „eine weitere Position in der Sprache“ darstellt, also selbst als Diskurseffekt zu sehen ist (Flax 1993). Für postmoderne Theoretikerinnen ist auch die feministische Standpunkttheorie nur ein weiterer schlechter Versuch, ein Subjekt zu behaupten, mit dem wiederum Ausschlüsse produziert werden. Standpunktepistemologisch von einem Subjekt Frau auszugehen, würde unvermeidlich essentialistische und universalistische Bestimmungen einschließen und Differenzen ausblenden.
Revisionen: Feministische Objektivitätsansprüche und „starting from marginal lives“ Die postmoderne Kritik an einem feministischen Subjekt „Frau“ hat ebenso wie die postkoloniale Kritik – das dominante Subjekt feministischer Theorie sei kein universales, sondern vielmehr ein US-eurozentrisch verortbares: weiß, im und durch den Westen sprechend – in der feministischen Epistemologiedebatte nachhaltige Resonanz gefunden. Infolge dieser Kritik wurde die klassisch feministische Standpunkttheorie („starting from women’s lives“) revidiert und ins Verhältnis zu Standpunkten von Marginalisierten („starting from marginal lives“) gesetzt. Vorausgesetzt wird, dass es kein herausragendes Kollektiv gibt, das epistemisch eine Sonderstellung – als „revolutionäres Subjekt“ – einnehmen könnte. In Frage gestellt wird, dass es eine zentrale soziale Strukturkategorie (wie Klasse oder Geschlecht) gibt, anhand derer Gesellschaft als Ganzes von unten aufgerollt werden könnte. Ausgegangen wird vielmehr davon, dass Ungleichheit und Unterdrückung im Zusammenspiel und in Überschneidung mehrerer machtvoller sozialer Strukturkategorien (Klasse, Geschlecht, sexuelle Orientierung, „Rasse“, Ethnizität) zu begreifen sind und es damit eine Mehrzahl unterworfener Positionierungen und nicht aufeinander reduzierbare Standpunkte oder einen feministischen Standpunkt gibt.
Black feminist standpoint und dialogische Standpunkttheorie Patricia Hill Collins hat in postkolonialer Absicht das Konzept eines black feminist standpoint entwickelt (vgl. Collins 1990). Collins Subjekt sind afro-amerikanische Frauen, und ihr epistemologisches Interesse richtet sich auf deren Ermächtigung. Um diese voranzutreiben sei es notwendig, die spezifischen Erfahrungen von afro-amerikanischen Frauen in die akademischen Diskurse einzubringen und damit eurozentrische, kolonialistische, rassistische und sexistische Macht- und Denkverhältnisse zu reflektieren und zu brechen. Für Collins gibt es kontextabhängige, partielle Wahrheiten, aber keine große Wahrheit. Ihr epistemologisches Modell plädiert für einen herrschaftskritischen Dialog unter marginalisierten Standpunkten, von denen keiner beanspruchen kann, die Fackel voran zu tragen. Diese Position einer dialogischen Standpunkttheorie impliziert, dass es keinen Standpunkt gibt, der eine umfassende kritische Sicht (auf die jeweilige Gesellschaft oder gar auf die globalen postkolonialen Verhältnisse) beanspruchen kann, sondern nur unterschiedliche Perspektiven und Standpunkte, zwischen denen durch kritische Dialoge Gemeinsamkeiten hergestellt werden können. Sie plädiert für die Politik einer Solidarität zwischen marginalisierten Standpunkten und für die Dezentrierung dominanter Diskurse und Wissensansprüche.
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Mit dem black feminist standpoint ebenso wie in standpunktepistemologischen Positionen des Chicana feminism (vgl. Moya 1997) wird jedoch eine Privilegierung bestimmter Standorte nicht ganz aufgegeben: Obschon alle Wissensansprüche einseitig und partiell seien, so sind sie doch nicht gleichwertig. Die Standpunkte von outsider-within sind zu bevorzugen – das heißt Positionen, die an den Rändern angesiedelt sind und in keinem der mächtigen Diskurse die volle Mitgliedschaft haben, obschon sie – symbolisch und real – mitten drinnen sind. Sei es, wie es Collins für schwarze Frauen hervorhebt, dass sie im mainstream-Wissenschaftsdiskurs als Subjekte negiert werden, im westlichen feministischen Diskurs eine Außenseiterinnenposition einnehmen oder im malestream-Kontext von schwarzer anti-rassistischer und postkolonialer Kritik kaum vorkommen. Die postkoloniale Kritik wurde in Reflexion auf die eigene privilegierte westliche Verortetheit insbesondere von den Wissenschaftstheoretikerinnen Sandra Harding und Donna Haraway aufgenommen (vgl. Haraway 1997, Harding 2006). Beide stellen ebenso die postmoderne Kritik an der Standpunktepistemologie in Rechnung, verwehren sich aber vehement gegen ein Verständnis von Differenzen, das epistemologisch in Relativismus und politisch in Indifferenz mündet.
Starting from all women’s lives und strong objectivity Für Sandra Harding ist die Ungleichheit unter Frauen mit einer Standpunkttheorie nicht nur vereinbar, vielmehr sei eine reformierte Standpunkttheorie am besten dazu geeignet, diese adäquat zur Sprache zu bringen. Harding hat in ihren neueren Texten ihre ursprüngliche Forderung „starting off research from women’s lives“ dahingehend modifiziert, dass vom Leben der Marginalisierten auszugehen sei – „to start thought from marginal lives“ – und damit sei letztlich gewährleistet, vom Leben aller Frauen auszugehen. Die Analysen müssen bei den realen Leben von Frauen ansetzen, und diese seien immer Frauen bestimmter „Rassen“, Klassen, Kulturen und sexueller Orientierungen. Das bedeute nicht nur das Einbeziehen des Lebens Anderer, sondern „das Ausgehen von deren Leben bei der Entwicklung von Forschungsfragen, theoretischen Konzepten, Forschungsdesigns, dem Sammeln von Daten und der Interpretation der Ergebnisse“ (Harding 1994: 284). Der Forschung müsste eine matrix of oppression unterlegt werden, die die Verschränkungen von machtvollen Differenzen zum Vorschein bringen kann. Mit dieser Forderung beruft sich Harding nicht auf kohärente Identitäten, vielmehr versteht sie unter „marginal lives“ objektive Verortungen und nicht subjektive Erfahrungen. Sie geht davon aus, dass Erfahrungen wie Identitäten selbst widersprüchlich sind. Harding plädiert daher dafür, dass z.B. weiße Frauen nicht nach dem Drehbuch ihrer eigenen Privilegiertheit handeln. Privilegierte sollen ihre Privilegiertheit kritisch reflektieren und vom Wissen und den Erfahrungen von outsiders within lernen (vgl. Narayan/Harding 2000). Hardings Konzept einer strong objectivity zielt darauf, das Vor- und Umfeld wissenschaftlicher Forschung (den Entdeckungszusammenhang) aufzuklären und radikal zu demokratisieren. Eine am wenigsten verzerrte Sichtweise wäre demnach diejenige, die ihren Ausgangspunkt bei möglichst vielen verschiedenen Perspektiven und gesellschaftlichen Verortungen nimmt, die im herrschenden Diskurs marginalisiert werden. Die Schlussfolgerung aus ihren Überlegungen ist die: Je heterogener diesbezüglich wissenschaftliche Gemeinschaften sind, desto größer sei die Chance, objektiveres Wissen zu produzieren. Epistemologie setze Soziologie und Gesellschaftstheorie voraus und der Anspruch an Epistemologie ist der, dass sie erklären können muss, „warum welche Überzeugungen die besten sind“ (Harding 1994: 187). Eine dialogische Standpunktepistemologie verhindere also nicht die Sicht auf Differenzen und Ungleichheiten des Frau-Seins, sondern ermögliche, bis dato ignorierte Wissens- und Erfahrungsweisen ins Licht dominanter wissenschaftlicher Diskurse zu rücken und diese in ein dialogisches Verhältnis zu zwingen.
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Feministischer Standpunkt und Cyborg-Identitäten Für Donna Haraway sind unterschiedliche Perspektiven nicht verschiedenen sozial verortbaren Kollektivsubjekten zuordenbar. Mit den Einsichten in die soziale und historische Konstitution von Klasse, „Rasse“ und Geschlecht gebe es keine Rückkehr mehr zu Vorstellungen von einheitlichen Identitäten und stabilen Zugehörigkeiten. Das betreffe auch die „imperialisierenden, totalisierenden, revolutionären Subjekte vorausgegangener Marxismen und Feminismen“ (Haraway 1995: 42). Es gebe prinzipiell keine unschuldigen Positionen, auch nicht die von Unterdrückten. Dennoch sind deren Sichtweisen zu bevorzugen, denn sie versprechen „angemessenere, nachhaltigere, objektivere, transformierendere Darstellungen der Welt“ (Haraway 1995: 84). Haraway fokussiert auf die Veränderung von Körpern, Wahrnehmungsmöglichkeiten und Handlungsfähigkeit im Kontext technowissenschaftlicher Entwicklungen und deren Effekte für Gesellschafts- und Denkverhältnisse. Technowissenschaften produzieren Verunreinigungen, Vermischungen und Hybride. Die Metapher für diese technologisch verstrickte Situiertheit und für das fragmentierte Subjekt in einer postmodernen Welt ist die/der Cyborg. Cyborgs stehen für die radikale Infragestelltung traditioneller Grenzziehungen zwischen Subjekt und Objekt, Mensch und Maschine, Kultur und Natur. Sie sind die Metapher für eine partiale, fluide, situierte, fragmentierte, verunreinigte Subjektposition. Mit der Figur der Cyborg wird die Vorstellung von einer Ganzheit des Körpers ebenso wie von einheitlichen Identitäten grundlegend erschüttert. Cyborg-Identitäten können sich auf keine Unschuld, keine Ursprungsgeschichten berufen. Sie sind unwiderruflich in vielschichtige Geschichten verstrickt, die im Kontext technowissenschaftlicher Grenzüberschreitungen neu zu interpretieren und auf den Begriff zu bringen sind. Haraway hat den politischen Charakter von Epistemologie radikal dahingehend definiert, dass die Aufgabe der Epistemologie darin bestehe, zwischen Differenzen differenzieren zu können: „Some differences are playful; some are poles of world historical systems of domination. Epistemology is about knowing the difference“ (Haraway 1991: 161). Es gibt für sie jedoch keine Berufung auf spezifische gesellschaftliche Standorte oder kollektive Identitäten, an denen eine feministische Epistemologie ansetzen könnte, sondern sie verweist vielmehr auf die Notwendigkeit von Allianzen und Vernetzungen und plädiert für historisch kontingente, kritische Positionierungen und Standpunkte. Für Haraway bedeutet feministische Objektivität „ganz einfach situiertes Wissen“ (Haraway 1995: 80). Nur eine partiale Perspektive verspreche einen objektiven Blick. Das bedeute, die verkörperte Dimension jeder Wahrnehmung in Rechnung zu stellen – im Gegensatz zu Wissensansprüchen, die einen unmarkierten Blick als „göttlichen Trick“ in Szene setzen: alles von nirgendwo aus sehen zu können. Mit „verkörpert“ meint Haraway nicht nur, dass das, was wir sagen, in einem historischen und sozialen Kontext steht. Damit wird vor allem auch der prothetische, intervenierende und interaktive Charakter unserer technischen Wahrnehmungsmöglichkeiten (von Mikroskopen über Ultraschallgeräte bis hin zu Satelliten) angesprochen. Verkörperung heutzutage bedeute, als Subjekt technologisch-biologisch-kulturell situiert zu sein.
Ausblicke Epistemologische Ansätze, wie der von Donna Haraway oder Karen Barads Konzept des „agential realism (Barad 2007), gehen über traditionelle Konzeptionen von (Natur)Wissenschaft in Termini der Repräsentation als Darstellung und Beschreibung hinaus und stellen wissenschaftliche Praktiken als Eingreifen und Verändern in den Vordergrund. Wissenschaften – seien es Sozial- oder Naturwissenschaften – liefern nicht einfach Beschreibungen, sondern sind als produktive kulturelle Praktiken, das heißt als Agenturen der Produktion von Bedeutung und Sinn zu verstehen. Wissenschaftliche ,Fakten‘ sind daher im Kontext von spezifischen Geschichten, ge-
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sellschaftlichen Verhältnissen und disziplinär unterschiedlichen Erzählpraktiken, die ihnen Bedeutung verleihen, zu begreifen. Für diese Verwicklungen im Blick auf Naturwissenschaften steht der Terminus Technowissenschaften: als Bezeichnung für die zunehmende Verwischung der Grenzen zwischen Wissenschaft, Technologie, Ökonomie und Politik. Die gegenwärtig vielversprechendsten feministischen epistemologischen Ansätze zielen darauf, wissenschaftliche Forschung mit Interaktion und Verantwortlichkeit sowie Wahrheits- und Objektivitätsansprüche mit Positionierung und Parteilichkeit zusammen zu denken. Wenn Wissenschaftsproduktion Interaktion, Eingreifen und Verändern ist, dann heißt das auch, dass die Welt, wie wir sie haben, anders aussehen könnte und dass die Verantwortung dafür zu übernehmen ist, wie sie aussieht. Damit stehen Handlungsfähigkeit und Verantwortung im Vordergrund, verbunden mit der Kritik an Vorstellungen von einer entkörperten, freischwebenden Objektivität und entsprechenden Wahrheitsansprüchen. So verweist die postkoloniale feministische Kritik darauf, feministische Ansprüche auf gerechtere globale Verhältnisse zu beziehen und „weltumspannende Perspektiven“ (Duran 2001) in den Blick zu nehmen. Dementsprechend geht es epistemologisch nicht nur um Antworten auf Fragen nach den Verbindungen des Paradigmas des „situierten Wissens“ mit Strategien der wissenschaftlichen Begründung von Wissensansprüchen, sondern vor allem auch um die Verbindung epistemologischer Fragen mit global orientierten politisch-ethischen Strategien der Gerechtigkeit. Wissen und Macht sind als Wirklichkeitssinn und Ermächtigung und Gerechtigkeit als Möglichkeitssinn zu befördern. Verweise: Postkolonialismus Wissenschafts- und Technikforschung
Literatur Barad, Karen 2007: Meeting the Universe Halfway. Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning. Durham: Duke University Press Code, Lorraine 1981: Is the Sex of the Knower Epistemologically Significant? In: Metaphilosophy 12, S. 267276 Code, Lorraine 1992: Feminist Epistemology. In: Dancy, Jonathan/Ernest Sosa (Hrsg.): A Companion to Epistemology. Oxford, UK/Malden, Mass: Blackwell, S. 138-142 Collins, Patricia Hill 1990: Black Feminist Thought: Knowledge, Consciousness, and the Politics of Empowerment. Boston: Unwin Hyman Duran, Jane 2001: Worlds of Knowing: Global Feminist Epistemologies. New York, London: Routledge Flax, Jane 1993: Disputed Subjects: Essays on Psychoanalysis, Politics and Philosophy. New York, London: Routledge Haraway, Donna 1991: Simians, Cyborgs, and Women: The Reinvention of Nature. London, New York: Routledge, deutsch: 1995: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Hrsg. von Carmen Hammer/Immanuel Stieß. Frankfurt/M., New York: Campus Haraway, Donna 1997: Modest Witness@Second_Millenium. FemaleMan©_MeetsOncoMouse™: Feminism and Technoscience. New York/London: Routledge Harding, Sandra 1990: Feministische Wissenschaftstheorie. Zum Verhältnis von Wissenschaft und sozialem Geschlecht Hamburg: Argument Verlag Harding, Sandra 1991: Whose Science? Whose Knowledge? Thinking from Women’s Lives. Ithaca, NY: Cornell University Press, deutsch: Das Geschlecht des Wissens. Frauen denken die Wissenschaft neu. Frankfurt/M., New York: Campus Harding, Sandra 2006: Science and Social Inequality: Feminist and Postcolonial Issues. Urbana/Chicago: University of Illinois Press Hartsock, Nancy 1983: The Feminist Standpoint: Developing the Ground for a Specifically Feminist Historical Materialism. In: Harding, Sandra/Merrill Hintikka (Hrsg.): Discovering Reality: Feminist Perspectives on Epistemology, Metaphysics, Methodology, and Philosophy of Science. Dordrecht, Boston, London: Reidel, S. 283-310
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Knapp, Axeli/Cornelia Klinger/Petra Gehring/Mona Singer: 2003: Denkverhältnisse. Ansätze und Strategien feministischer Erkenntniskritik, CD-Rom, hrsg. von VINGS, Hannover Longino, Helen 1990: Science as Social Knowledge. Princeton, NJ: Princeton University Press Lukács, Georg 1968: Geschichte und Klassenbewußtsein. Neuwied, Berlin: Suhrkamp Moya, Paula 1997: Postmodernism, ‚Realism‘, and the Politics of Identity. In: Jacqui, Alexander/Chandra Talpade Mohanty (Hrsg.): Feminist Genealogies, Colonial Legacies, Democratic Futures. New York, London: Routledge, S. 125-150 Narayan, Uma/Harding, Sandra 2000 (Hrsg.): Decentering the Center: Philosophy for a Multicultural, Postcolonial, and Feminist World, Bloomington, Indianapolis: Indiana University Press Nelson, Lynn Hankinson 1990: Who Knows: From Quine to a Feminist Empiricism. Philadelphia: Temple University Press Rose, Hilary 1983: Hand, Brain and Heart: A Feminist Epistemology for the Natural Sciences. In: Signs: Journal of Women in Culture and Society, 9/1, S. 73-96 Singer, Mona 2005: Geteilte Wahrheit. Feministische Epistemologie, Wissenssoziologie und Cultural Studies. Wien: Löcker Verlag Tanesini, Alessandra 1999: An Introduction to Feminist Epistemologies. Oxford/Malden: Oxford University Press
Herta Nagl-Docekal
Feministische Philosophie: Wie Philosophie zur Etablierung geschlechtergerechter Bedingungen beitragen kann
Zur Begriffsklärung Anknüpfend an den allgemeinen Sprachgebrauch – der den Ausdruck ‚Feminismus‘ auf das Bestreben bezieht, die Diskriminierung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts zu überwinden – bezeichnet der Begriff ‚Feministische Philosophie‘ eine philosophische Forschung, deren Fragestellungen durch das Interesse an Geschlechtergerechtigkeit geprägt sind. Es handelt sich dabei nicht um ein spezifisches Teilgebiet, das dem tradierten Kanon philosophischer Subdisziplinen hinzuzufügen wäre; vielmehr wird das gesamte Fach – von der philosophischen Anthropologie über die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, die Ästhetik und Ethik bis zur Rechts- und Sozialphilosophie – mit dem Befund konfrontiert, dass Frauen in allen Lebensbereichen benachteiligt werden (vgl. Nagl-Docekal 2001). Feministische Philosophie ist auch keine einheitliche Theorie; vor dem Hintergrund des geteilten emanzipatorischen Anliegens entfaltete sich ein Diskurs, der durch vielfältige Ansätze, die oft auch Kontroversen auslösten, bestimmt wird. Diese Diversität wird häufig von denjenigen ausgeblendet, die Feministische Philosophie rundweg ablehnen: Einzelne zugespitzte Theoreme werden dabei zum Anlass genommen, das gesamte Projekt zu diffamieren. Während die Prägung des Begriffs ‚feminist philosophy‘ in den frühen 1970er Jahren in den USA – im Kontext der ‚Neuen Frauenbewegung‘ – erfolgte, hat die Thematik als solche weiter zurückliegende Ursprünge. In der französischen Frühaufklärung wurden zahlreiche egalitäre Konzeptionen entwickelt, wie u.a. die im 17. Jahrhundert veröffentlichten Schriften von Marie de Jars de Gournay und François Poulain de la Barre zeigen. In diesen Studien manifestiert sich eine Denktradition, die schließlich in Olympe de Gouges’ Schrift ‚Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin‘ (1791) ihren nachdrücklichsten Ausdruck fand (vgl. Schröder 1994). Auch die zwischen 1790 und 1870 publizierten Schriften von Mary Wollstonecraft, Theodor G. von Hippel, John Stuart Mill und Harriet Taylor-Mill sind Beispiele für eine Feministische Philosophie avant la lettre; ebenso Simone de Beauvoirs 1949 publiziertes Buch ‚Das andere Geschlecht‘. Zu einem akademischen Forschungsschwerpunkt wurde diese Thematik freilich erst im Anschluss an die Studentenbewegung der 1960er Jahre; damit setzte auch eine zunehmende internationale Vernetzung ein (vgl. Jaggar/Young 1998, Doyé/Heinz/Nordmeyer 1996-2002).
Philosophiehistorische Re-Lektüren Im Gesamten betrachtet, umfasst Feministische Philosophie sowohl philosophiehistorische als auch systematische Problemstellungen. Im Blick auf die historische Forschung sind drei Themenschwerpunkte zu unterscheiden. Untersucht wird erstens, wie weit Autoren, die dem sogenannten Kanon der philosophischen Tradition zugeordnet werden, zur Herausbildung geschlechterhierarchischer Denk- und Handlungsmuster beigetragen haben. Dabei stehen zum einen explizit misogyne Theorien zur Debatte, wie sie im Werk Schopenhauers und Nietzsches anzutreffen
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sind; zum anderen wird thematisiert, dass in Schriften aus unterschiedlichen Epochen asymmetrische Geschlechterverhältnisse als naturgegeben oder als wünschenswert dargestellt werden (vgl. Klinger 1994, Doyé/Heinz/Kuster 2002, Landau 2006). Einen Forschungsschwerpunkt bildet das rechtsphilosophische Denken der Aufklärung: Die für den modernen Staat grundlegenden Begriffe ‚Freiheit‘ und ‚Gleichheit‘ wurden nur auf männliche Bürger bezogen, und die den Gesellschaftsvertrag abschließenden Parteien sind als männliche Haushaltsvorstände bestimmt. Damit wurde eine Konstellation von ‚öffentlicher‘ und ‚privater‘ Sphäre legitimiert, die für Frauen prekäre, bis heute nachwirkende Folgen hatte (vgl. Pateman 1988). Im Blick auf die marxistische Denktradition wird moniert, dass asymmetrische Geschlechterverhältnisse nur als ‚Nebenwiderspruch‘ eingestuft wurden. Ein zweiter Forschungszweig widmet sich der Rekonstruktion des philosophischen Denkens von Frauen, das im Zuge des ‚main-(male-)streams‘ der Philosophiegeschichtsschreibung weitgehend vernachlässigt wurde. Es liegen bereits umfangreiche Dokumentationen zu allen Epochen ab der Philosophie der Antike vor (vgl. Waithe 1989ff., Gössmann 1984ff., Rullmann 1994). Auch der Titel der bedeutendsten Zeitschrift für Feministische Philosophie (Hypatia) nimmt auf dieses Anliegen Bezug: Hypatia (370-415) war eine ägyptische Philosophin und Mathematikerin, die der neuplatonischen Schule in Alexandria angehörte. Drittens wird erörtert, welche Elemente vorliegender philosophischer Positionen sich als anschlussfähig für eine feministisch motivierte Theoriebildung erweisen. Es konnte an viele Richtungen der Gegenwartsphilosophie angeknüpft werden, z.B. an die Kritische Theorie, die Phänomenologie, die Dekonstruktion – in Verbindung mit ihrem psychoanalytischen Hintergrund –, die Analytische Philosophie und den (Neo-) Pragmatismus. Weitere relevante Differenzierungen erbrachten Rückgriffe u.a. auf Augustinus, Hume, Rousseau, Kant und Hegel sowie auf die Marxsche Theorie. Die Buchreihe „Re-Reading the Canon“ (Tuana 1994ff.), die Autoren von der Antike bis zum 20.Jh. untersucht, zeigt jeweils auch Möglichkeiten für eine re-interpretierende Aneignung auf.
Philosophische Anthropologie Die philosophisch-systematische Forschung entwickelt Kategorien für die Analyse bestehender Geschlechterasymmetrien und sucht Perspektiven für eine volle Anerkennung und Inklusion von Frauen zu eröffnen (vgl. Klinger 1998). Priorität hat die Untersuchung des Schlüsselbegriffs ‚Geschlecht‘. Erörtert wird die Zweideutigkeit der alltagssprachlichen Ausdrücke: Während die Worte ‚männlich/weiblich‘ zum einen auf die leiblichen Differenzen Bezug nehmen, bezeichnen sie zum anderen symbolische bzw. soziale Konstruktionen, wie z.B. differente Rollenbilder. Das Begriffspaar ‚sex/gender‘ wird herangezogen, um die Unterscheidung zwischen dem ‚biologischen Geschlecht‘ und dem ‚sozialen Geschlecht‘ terminologisch zu fassen. Der Begriff ‚gender‘ bringt zudem die Historizität von Differenzvorstellungen in Sicht: In den verschiedenen Epochen der Geschichte bzw. im Kontext der unterschiedlichen Kulturen wurden der leiblichen Geschlechterdifferenz jeweils andere idealtypische Konstruktionen zugeordnet. Die Klischeevorstellungen, von denen die Alltagswelt in den westlichen Industrieländern weithin geprägt ist, gehen auf den ‚sentimentalen Weiblichkeitsentwurf‘ des ausgehenden 18. Jahrhunderts – und den dazu komplementären Männlichkeitsentwurf – zurück. Einen Fokus anthropologischer Studien bildet die normative Funktion von Geschlechterbildern: Kinder werden von klein auf dazu angehalten, sich wie ein ‚richtiger Bub‘ bzw. ein ‚richtiges Mädchen‘ zu verhalten. So werden die sozialen Konstruktionen buchstäblich einverleibt – unser geschlechtstypisches Körpergebaren in Haltung, Mimik und Gestik ist auf diesen normativen Hintergrund zu beziehen. Das heißt, der menschliche Körper ist von der frühkindlichen Sozialisation an kulturell gedeutete und gestaltete Leiblichkeit (vgl. Young 1990). Analoges gilt für die Differenz der sogenannten ‚Geschlechts-
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charaktere‘: Sie hat Normen für eine ‚emotionelle Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern‘ (vgl. Heller 1994) zur Voraussetzung. Feministische Kritik zeigt die Unhaltbarkeit der Auffassung, die tradierten Geschlechterrollen seien in der biologischen Differenz von Mann und Frau verankert und daher unveränderbar. Es wird geltend gemacht, dass Normen grundsätzlich nicht unter Verweis auf natürliche Gegebenheiten begründet werden können. Thesen wie die, dass kurative Pflichten der ‚Natur der Frau‘ entsprechen, beruhen demnach auf einem naturalistischen Fehlschluss. Folgende Alternative ist zu bedenken: Entweder es handelt sich in der Tat um ein von Natur aus festgelegtes weibliches Verhaltensschema, dann ist eine Formulierung von Normen überflüssig; instinktgeleitete Vorgänge bedürfen keiner normativen Regelung. Oder es geht um die Frage, wie die gesellschaftlich notwendige Betreuungsarbeit organisiert werden soll, dann stehen Normen zur Debatte, deren Rechtfertigung einen Rückgriff auf Prinzipien der Moral bzw. der Gerechtigkeit erfordert. Der Begriff ‚Geschlechteressentialismus‘ dient der Problematisierung von Theoremen, die Rollenbilder nach dem Modell eines ontologischen Wesensbegriffs verstehen. Dieses Problem tangiert beide Geschlechter: Da die menschlichen Kompetenzen aufgeteilt werden, entsteht ein jeweils ‚halbierter Mensch‘, so dass Individuen, die Fähigkeiten und Interessen zeigen, die mit dem jeweils anderen Geschlecht korreliert sind, gesellschaftliche Sanktionen oder zumindest einen Mangel an Förderung zu gewärtigen haben. Von konstruktivistischen Prämissen her erscheint die Unterscheidung ‚sex/gender‘ – und generell die von Natur und Kultur – als obsolet. Dass unser Körpergebaren einen normativen Hintergrund hat, wird dahingehend gedeutet, dass das biologische Geschlecht insgesamt ein ‚Effekt‘ kultureller Konstruktion ist – dass es eine ‚Materialisierung‘ gesellschaftlicher Normen darstellt (vgl. Butler 1991, 1993). Diese Auffassung löste eine heftige Kontroverse innerhalb des feministischen Diskurses aus. Es wurde geltend gemacht, dass die These, wonach selbst unsere organischen Differenzen gesellschaftlich generiert seien, die menschliche Generativität nicht adäquat zu erfassen erlaubt, und dass ein argumentativer Zirkel vorliegt: Die dichotomen Verhaltensnormen, die als Ursprung der ‚Materialisierung‘ dargestellt werden, setzen immer schon eine geschlechtlich differenzierte Leiblichkeit voraus (vgl. Landweer 1994, Nagl-Docekal 2001). Für die Beurteilung der konstruktivistischen Position ist freilich auch deren Motivation relevant: Ausschlaggebend ist die Auseinandersetzung mit Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung (vgl. Winnubst 2006). Die Annahme von biologischen Geschlechtsunterschieden zieht unvermeidlich, so wird argumentiert, eine durch ‚Zwangsheterosexualität‘ geprägte (Erziehungs-) Praxis nach sich. Doch indem hier das Voraussetzen leiblicher Differenzen als notwendig junktimiert mit Verhaltensnormen betrachtet wird, verfängt sich diese emanzipatorische Argumentation ihrerseits im Problem des naturalistischen Fehlschlusses. Um der Diskriminierung von nichtheterosexueller Orientierung entgegenzutreten, ist vielmehr darauf zu insistieren, dass Normen sich nicht aus biologischen Gegebenheiten rechtfertigen lassen.
Vernunftkritik, Ästhetik und Epistemologie Einen Fokus kritischer Analyse bildet der Begriff ‚Vernunft‘. Autorinnen, deren Denken unter dem Titel ‚French Feminism‘ zusammengefasst wird (vgl. Fraser/Bartky 1992) – Hélène Cixous, Luce Irigaray, Julia Kristeva u.a. – formulierten die an Lacan orientierte Diagnose, dass die europäisch-westliche Kultur seit der griechischen Antike von einem Logozentrismus geprägt ist, der – da der Logos dem ‚Gesetz des Vaters‘ entspringt – zugleich einen Phallozentrismus darstellt. Demgegenüber müsse mittels einer Archäologie der verschütteten weiblichen Libido die Sprache der Mutter neu zur Geltung gebracht werden. Als paradigmatisch für diese weibliche Ausdrucksform wird die vor-sprachliche Interaktion der Mutter mit dem Säugling betrachtet. Doch liegt die Pointe nicht darin, eine klar umrissene feminine Identität an die Seite der masku-
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linen zu stellen; vielmehr soll die Orientierung am Logos insgesamt überwunden werden. Das Charakteristikum dieser weiblichen Alternative bildet Ambivalenz, d.h. ein Unterlaufen der logischen Regeln der Identität und des Satzes vom Widerspruch, wie es etwa in der Poesie vollzogen wird. Dieser Denkrichtung wurde entgegengehalten, dass sie ein legitimes kritisches Anliegen inadäquat umsetzt: Während es in der Tat gilt, die verbreitete maskuline Konnotierung von Vernunft zu problematisieren, eröffnet die Konzeption einer ambivalenten ‚weiblichen‘ Sprache keinen Ausweg, da sie ihrerseits am bürgerlichen Geschlechterklischee festhält. Demgegenüber ist Vernunft als eine menschliche Kernkompetenz auszuweisen, die allen Einzelnen zukommt und die daher Frauen nicht abgesprochen werden darf. Andernfalls gerät feministische Theorie in einen Selbstwiderspruch: Wird Vernunft pauschal als eine patriarchale Herrschaftstechnik verdächtigt, muss auch eine argumentative Darlegung feministischer Anliegen – z.B. im politischen Diskurs – als eine Übernahme maskulinen Verhaltens zurückgewiesen werden (vgl. Nussbaum 1994). Die Kontroverse um Theorien, die spezifisch ‚weibliche‘ Fähigkeiten forcieren, prägt den Diskurs zu einer Reihe philosophischer Disziplinen. In der Ästhetik wurde dem Projekt eines ‚weiblichen Schreibens‘ die Konzeption einer ‚feministischen Ästhetik‘ gegenübergestellt, die Künstlerinnen nicht auf einen ästhetischen Sonderweg verpflichtet. Hier wird zunächst die herkömmliche Marginalisierung von Frauen analysiert bzw. deren Leitthese – die im Kontext des traditionellen ‚Genie‘-Begriffs ebenso anzutreffen ist wie bei Freud –, wonach nur Männer zu einer genuinen künstlerischen Tätigkeit befähigt sind (vgl. Nagl-Docekal 2001). Auf dieser Kritik gründet sich die Forderung nach einer gleich ernsthaften Rezeption des Schaffens von Künstlerinnen – auch dann, wenn sie ihr Geschlecht nicht explizit zum Thema ihrer Arbeiten machen. Ein weiteres Kernthema betrifft die Möglichkeit einer ‚feministischen Kunst‘, die im Rahmen der Debatte um ‚Kunst und Politik‘ erörtert wird, u.a. in Anknüpfung an Adorno (vgl. Felski 1989). ‚Feministische Epistemologie‘ konfrontiert die Wissenschaftstheorie mit dem androzentrischen Zuschnitt vieler Forschungsergebnisse, wobei die Begriffe ‚Objektivität‘ und ‚Wertfreiheit‘ neu bedacht werden. Problematisiert wird die strikte Trennung von ‚context of discovery‘ und ‚logic of explanation‘, da sie den Blick darauf verstellt, wie – über die Formulierung von Fragestellungen, die Deutung von Daten etc. – Vorstellungen aus der Alltagswelt der Forschenden, und damit auch maskuline Sichtweisen, zu prägenden Hintergrundannahmen des wissenschaftlichen Diskurses werden (vgl. Code 1991, Harding 1997). Diese Problematik wird im Kontext der allgemeineren Debatte zu ‚Wissen und Macht‘ – u.a. im Rückgriff auf Marx, Nietzsche und Foucault – erörtert. Gefordert wird, auf die unausweichliche ‚Situiertheit des Wissens‘ Bedacht zu nehmen (vgl. Singer 2005) und die Konzeption der ‚community of investigators‘ so zu modifizieren, dass Perspektiven, die der dominanten Sichtweise nicht entsprechen, gezielt einbezogen werden. Diese Forderung bestimmt die Konzeption einer ‚democratic science‘. Als überzogen erwies sich indes die – an die Objektbeziehungstheorie anknüpfende – These, dass Naturwissenschaft und Technik generell auf einem maskulinen Herrschaftsgestus beruhen (vgl. Keller 1986).
Feministische Ethik Im Vordergrund stand zuerst die These, es gebe eine spezifisch ‚weibliche Moral‘. In kritischer Auseinandersetzung mit Kohlbergs Theorie der Stufen der moralischen Entwicklung wurden zwei Typen von Moral unterschieden (vgl. Gilligan 1984); demnach ist die moralische Wahrnehmung von Frauen, verglichen mit derjenigen von Männern, erstens kontextsensitiv und narrativ, nicht auf Allgemeingültigkeit bedacht und abstrakt; zweitens an Beziehungen und Verbundenheit orientiert, nicht an Abgrenzung gegenüber anderen bzw. am Prinzip der Nichteinmi-
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schung; und drittens von Gefühlen wie Wohlwollen und Empathie geleitet, nicht vom Verstand. Ausgehend von diesem Befund wurden Konzeptionen einer ‚Care Ethics‘, d.h. einer Ethik der Fürsorglichkeit, ausgearbeitet. Zugleich entfaltete sich eine breit gefächerte internationale Kontroverse, die ergab, dass es unterschiedliche Frage-Ebenen auseinander zu halten gilt (vgl. NaglDocekal/Pauer-Studer 1993). Die These von den ‚zwei Moralen‘ wurde zunächst hinsichtlich ihrer empirischen Gesichertheit in Zweifel gezogen, doch gab zugleich ihre hohe alltagsweltliche Plausibilität zu denken (vgl. Nunner-Winkler 1991). Als klärend erwies sich der Blick auf die tradierten Klischees: Die beiden beschriebenen Formen moralischer Wahrnehmung entsprechen den Tugenden, die den Idealtypen von Mann und Frau herkömmlicherweise zugeordnet werden (vgl. Kittay/Meyers 1987). Aus moralphilosophischer Perspektive ist hier freilich zwischen ‚Sitte‘ und ‚Moral‘ zu unterscheiden: Wer sein Handeln an überlieferten Tugendauffassungen orientiert, ist nicht eo ipso moralisch gerechtfertigt. Genauer gesagt, kann es moralisch geboten sein, gegen die ‚guten Sitten‘ zu verstoßen, z.B. wenn diese eine hierarchische Geschlechterordnung befördern. Ferner ist die Differenz zwischen ‚Recht‘ und ‚Moral‘ zu beachten: Eine Orientierung an abstrakten Prinzipien und der Grundsatz der Nichteinmischung charakterisieren nicht jene Haltung, die wir auch alltagssprachlich als eine ‚moralische‘ bezeichnen, sondern die Ausrichtung an einer liberalen Rechtskonzeption. Die in diesem Kontext geführte Debatte um Kant (vgl. Schott 1997) ließ deutlich werden, dass die Weise, wie Kant die Moral im Unterschied zum Recht bestimmt, Kernelemente von ‚Fürsorglichkeit‘ enthält. In seinen Erläuterungen zum kategorischen Imperativ arbeitet Kant z.B. die Unverzichtbarkeit von Kontextsensitivität und Wohlwollen heraus. Vor diesem Hintergrund stellt sich die These von den ‚zwei Moralen‘ so dar, dass sie den Frauen die Moral und den Männern das Recht zuordnet, was jedoch für jede der beiden Seiten eine unplausible Einschränkung darstellt. Dagegen hat eine allgemeine Konzeption von Fürsorglichkeit ihre Relevanz darin, dass sie eine Haltung zur Darstellung bringt, zu deren Kultivierung alle Einzelnen aufgerufen sind, da dies für die volle Umsetzung eines moralischen Anspruchs unverzichtbar ist. Im Blick auf Theorien, die Fürsorglichkeit als ‚weiblich‘ apostrophieren, wurde indes moniert, dass die herkömmliche asymmetrische ‚moralische Arbeitsteilung‘ fortgeschrieben wird, zu deren Realität es gehört, dass Frauen Leistungen der Versorgung, Hilfe und Pflege unter Bedingungen der Unterdrückung erbringen (vgl. Hoagland 1991). Aus feministischer Perspektive wurde daher eine ‚Ent-Moralisierung der Geschlechter‘ gefordert (vgl. Friedman 1993). Der Begriff ‚Feministische Ethik‘ bezeichnet ein von Theorien einer spezifisch ‚weiblichen Moral‘ klar unterschiedenes Projekt. Zentrales Anliegen ist hier nachzuweisen, dass Diskriminierung aufgrund des Geschlechts mit Prinzipien der Moral unvereinbar ist. Angeknüpft wird dabei an die moralphilosophische Kernthese, dass die Pointe moralischer Verpflichtung in der Achtung der Menschenwürde liegt – darin also, dass alle Einzelnen in gleicher Weise als Personen, d.h. als Individuen mit der Kompetenz der Selbstbestimmung, zu behandeln sind. Diese Bestimmungen bieten ein Instrument, um aufzudecken, dass Frauen in vielfältigen Kontexten nicht als Personen erstgenommen werden. Das Prüfkriterium bildet Freiwilligkeit; es bringt z.B. hinsichtlich unfairer Arbeitsbedingungen oder erniedrigender sexueller Beziehungen in Sicht, dass Frauen oft keine andere Wahl hatten, als sich darauf einzulassen, d.h. dass sie instrumentalisiert werden. Auf diese Weise können traditionelle, vielfach unhinterfragte Geschlechterarrangements als moralisch untragbar exponiert werden (vgl. O’Neill 1993). Auf moralphilosophischen Grundlagen beruhen auch die Studien zu jener reifizierenden Sicht der Frau, die alltägliche Umgangsformen und Bilder – etwa in der Werbung oder in pornographischen Darstellungen (vgl. Carse 1995, Spector 2006) – prägt. Die dabei analysierte Sexualisierung von Gewalt kommt auch in der Debatte zu ‚war rape‘, d.h. zur gezielt als Kriegsmittel eingesetzten Vergewaltigung, zur Sprache (vgl. Schott 2003). Forschungen dieser Art zeigen die Fragwürdigkeit der gängigen Meinung, wonach feministische Kritik nach dem Muster von Interessenskonflikten – d.h. im Sinne eines ‚Kampfes der Geschlechter‘ um Macht und Privilegien – zu beschreiben sei. Diese Meinung unterschlägt den
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unmoralischen Charakter von Diskriminierung. Feministische Ethik erläutert dagegen die moralische Begründung für eine Politik der gleichen Achtung, i.e. für eine durch feministische Kritik dimensionierte politische Aufgabe, die nicht nur Frauen, sondern allen demokratisch Gesinnten gestellt ist. Einen Fokus der Debatte bildet die Frage, wie der – häufig maskulin konnotierte – Begriff ‚Autonomie‘ eine inklusive Re-Formulierung erfahren kann (vgl. Mackenzie/Stoljar 2000, Friedman 2003). Ferner lässt Feministische Ethik deutlich werden, dass eine NeuBestimmung von ‚Liebe‘, die mit der moralischen Anforderung reziproker Achtung kompatibel ist, ein Desiderat darstellt. Die künftige Forschung könnte hier auch noch eine weitere Dimension anschließen: Indem gerade unter der ethischen Perspektive die Endlichkeit der menschlichen Verhältnisse hervortritt, mit der wir in unumgehbaren Erfahrungen von Leid und Tod konfrontiert sind, könnte gefragt werden, ob bzw. wie eine feministische Religionsphilosophie möglich ist (die sich nicht auf eine kritische Analyse des geschlechterhierarchischen Zuschnitts der tradierten religiösen Vorstellungen beschränkt).
Politische Philosophie, Rechts- und Sozialphilosophie Welche normativen Grundlagen lassen sich philosophisch entfalten, die eine geschlechtergerechte Ausübung politischer Herrschaft und eine entsprechende Gestaltung der institutionellen und ökonomischen Ordnung in Sicht bringen? Einen Schlüsselbegriff bildet ‚Gleichheit‘, wobei freilich die unterschiedlichen Bedeutungen zu beachten sind, die im Englischen durch zwei spezifische Termini ausgedrückt werden: ‚equality‘ und ‚sameness‘. Die Tatsache, dass eine formalrechtliche Gleichstellung (equal rights) nicht ausreicht, um alle bestehenden Geschlechterasymmetrien zu eliminieren, wurde daraus erklärt, dass nur diejenigen Frauen von den de jure gegebenen Möglichkeiten auch de facto Gebrauch machen können, deren Lebensumstände denen der Männer weitgehend angeglichen (im Sinne von sameness) sind (vgl. MacKinnon 1996). Damit erhebt sich die Frage, wie weit eine an der Idee der Geschlechtergerechtigkeit orientierte Politik auf die spezifische gesellschaftliche Situierung von Frauen, d.h. auf ihre ‚Differenz‘, Bedacht zu nehmen hat (vgl. Rössler 1995). Aus diesem Blickwinkel wurde die zeitgenössische Theorie des Gesellschaftsvertrags vehement kritisiert. Insbesondere der Rawls’schen Konzeption, der zufolge sich die vertragsschließenden Parteien unter einem ‚Schleier des Nichtwissens‘ befinden, wurde Geschlechtsblindheit vorgeworfen. Bei genauerer Betrachtung erwies sich dieser Einwand jedoch als unberechtigt: Dass die Vertragsparteien nicht wissen, in welcher gesellschaftlichen Position sie selbst sich vorfinden werden, soll gerade gewährleisten, dass sie für symmetrische – auch geschlechtergerechte – Bedingungen sorgen (vgl. Putnam 2000). Die Debatte ergab auch, dass eine befristete Ungleichbehandlung mit dem formalen Gleichheitsgrundsatz durchaus vereinbar ist, wenn sie dem Beheben von Benachteiligung dient (vgl. Dworkin 1993). In diesem Sinne wurden diverse Konzeptionen für staatliche Maßnahmen zur gezielten Förderung von Frauen – etwa mittels sozialer Rechte und arbeitsrechtlicher Richtlinien, z.B. für ‚umgekehrte Diskriminierung‘ – entwickelt. Wie herausgearbeitet wurde, gilt es dabei auch, die Unterschiede zwischen Frauen zu beachten, insbesondere die Überlagerung von Benachteiligung aufgrund von ‚race, culture, class, and gender‘ (vgl. Alcoff 2005). Was die Zielsetzung anbelangt, kommt dem Begriff ‚Chancengleichheit‘ zentrale Relevanz zu. Eine Fortentwicklung dieser Konzeption stellt heute das Programm des ‚gender-mainstreaming‘ dar: In der gesamten Berufswelt soll das Prinzip der Geschlechtersymmetrie selbstverständlich – d.h. nicht mehr aufgrund von Anstrengungen seitens der Frauen – als Richtlinie fungieren. Freilich darf die Berufswelt nicht in einer abgetrennten Weise betrachtet werden, da sie mit der Privatsphäre verzahnt ist. Dieser Zusammenhang wird im Kontext einer umfassenden Auseinandersetzung mit dem Thema ‚Familie‘ erörtert, wobei neben der traditionellen Konstellation – die durch die Rollen ‚männlicher Alleinverdiener‘ und ‚Hausfrau und Mutter‘ definiert ist –
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auch partnerschaftliche Modelle untersucht werden. Es kam u.a. folgende Problematik ans Licht: Werden die sozialen Beziehungen in der Privatsphäre undifferenziert durch den Begriff ‚Liebe‘ charakterisiert, so wird verschleiert, dass es sich um multiple Verteilungsstrukturen handelt – neben der Vielfältigkeit emotioneller Bindungen ist die Familie ein Ort der Distribution von Geld und anderen Gütern, von Entscheidungskompetenz, Freizeit und Arbeit (vgl. Fraser 1996). Aus diesen Forschungen resultiert die Forderung, dass das Prinzip ‚Gerechtigkeit‘ nicht auf die öffentliche Sphäre eingeschränkt werden darf (vgl. Rawls 1997). Auch zeigte sich, dass eine Neubestimmung des Begriffs ‚Arbeit‘ ansteht. Die Analyse vorliegender Arbeitsbegriffe ergab, dass selbst die Marx’sche Theorie – ungeachtet ihres bourgeoisiekritischen Anspruchs – mit der Unterscheidung von produktiver und reproduktiver Arbeit der traditionellen Familienkonzeption verhaftet blieb. Desiderat ist daher ein Ansatz, der eine adäquate Thematisierung der in der häuslichen Sphäre geleisteten Arbeit erlaubt, wobei zwischen der Hausarbeit im engeren Sinne und den (gesellschaftlich notwendigen) kurativen Tätigkeiten zu differenzieren ist (vgl. Krebs 2002). Die nähere Betrachtung innerfamiliärer Asymmetrien hat ferner zur Erhellung der Ursachen häuslicher Gewalt, auch sexueller Gewalt, gegen Frauen beigetragen. Einen weiteren Themenschwerpunkt bildet die aktive ‚Staatsbürgerschaft‘ von Frauen. Eingemahnt wird partizipatorische Parität (vgl. Pauer-Studer 2002), wobei nicht nur an ein Vorrücken von Frauen in Männerdomänen gedacht ist, sondern auch an eine Revision gegebener Strukturen. Ein Thema bilden die der Entscheidungsfindung in gewählten Gremien vorgelagerten Beratungsprozesse. Dabei wird ein Begriff von ‚Öffentlichkeit‘ erörtert, der es erlaubt, Probleme, mit denen Frauen (im Kontext ihrer traditionellen Rollen) konfrontiert sind, so zu artikulieren, dass sie als politische Themen mit Regelungsbedarf ernst genommen werden. Hier erwies sich die – u.a. von Habermas entwickelte – Konzeption der deliberativen Demokratie als anschlussfähig (vgl. Benhabib 1992). Zugleich werden Theorien zurückgewiesen, die feministische Politik als eine Form von ‚Identitätspolitik‘ betrachten: Die Zielsetzung der Geschlechtergerechtigkeit ist – ungeachtet mancher Parallelen im Einzelnen – deutlich anders gelagert als Forderungen, wie sie z.B. seitens benachteiligter ethnischer oder religiöser Gruppen erhoben werden. Ausschlaggebend für feministische Politik ist die geteilte Konfrontation mit Benachteiligung, nicht eine gemeinsame ‚weibliche‘ Identität. Im Falle der Frauen bedeutet daher ein Ende von Diskriminierung gerade die Auflösung ihres (aufoktroyierten) Gruppenstatus. Zentral ist der Gedanke, dass ‚Geschlecht‘ als eine Kategorie der sozialen Ordnung gänzlich zu verabschieden ist. Eine Erweiterung des Problemspektrums erwies sich im Blick darauf als unverzichtbar, dass die Benachteiligung von Frauen auch eine internationale Dimension aufweist. Mehrere Themenschwerpunkte haben sich herausgebildet: Zum einen werden Geschlechterhierarchien in nichtwestlichen Kulturen untersucht, wobei die Gefahr eurozentristischer Interventionen zu einer Kontroverse um kulturrelativistische und universalistische Positionen geführt hat (vgl. Nussbaum 2000, Benhabib 2002). Zweitens werden die Folgen der neoliberalen Globalisierung erörtert: Wirtschaftliche und politische Entscheidungen in den Industrieländern führen weltweit zu einer Verschärfung bestehender Asymmetrien und zur Genese spezifischer Formen von Diskriminierung. Signifikant sind die Feminisierung von Armut und das massive Anwachsen des internationalen Frauenhandels. Als Gegenstrategie wird eine Präzisierung und verbesserte Umsetzung der Menschenrechte erörtert sowie die Konzeption des ‚empowerment‘ (vgl. Jaggar/Baer/ Sauer 2003, Lockwood 2006). Ein drittes Thema bilden die Folgen, die der Bedeutungsverlust des Nationalstaates unter dem Genderaspekt hat. Untersucht werden u.a. Phänomene der ‚ReRegulierung‘, i.e. transnationale Regelungen, wie sie von demokratisch nicht legitimierten Akteuren für multinationale Konzerne als ‚soft law‘ festgelegt werden. Dabei wird deutlich, dass die in Einzelstaaten implementierten Gleichstellungsgesetze häufig umgangen werden. Eine analoge Re-Maskulinisierung zeigen die neuen Formen der politischen Willensbildung, die unter dem Begriff ‚Governance‘ zusammengefasst werden (vgl. Sauer 2001). Einen Schwerpunkt der künftigen Forschung wird daher die Suche nach einer Konzeption von ‚globaler Demokratie‘ bilden, zu deren Elementen eine volle Inklusion von Frauen gehört. An diesem Punkt könnte
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auch die im feministischen Kontext bislang kaum rezipierte Fragestellung der Geschichtsphilosophie Relevanz gewinnen. Verweise: Feminismus Feministische Wissenschaftskritik und Epistemologie Französischer Feminismus Künstlerin/Kunstgeschichte Sozialistischer Feminismus Weibliche Moral
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Feministische Philosophie
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Sandra Harding
Wissenschafts- und Technikforschung: Multikulturelle und postkoloniale Geschlechteraspekte
Der Methode moderner westlicher (Natur)Wissenschaft wurde unterstellt, dass sie wertneutrale, objektive, unvoreingenommen Fakten über die natürliche Ordnung hervorbringe. Feministische Analysen konnten jedoch zeigen, wie diese Methoden und Fakten von vergeschlechtlichten Werten und Interessen durchdrungen sind. Natürlich gilt dies für die unterschiedlichen Wissenschaften (ich beziehe mich hier im Wesentlichen auf die Naturwissenschaften) in unterschiedlichem Maße und auf unterschiedliche Weise. Dennoch scheint es, dass die üblichen Verfahren der Konzeptualisierung und Anwendung wissenschaftlicher Methode die Forschung unfähig machen, kulturelle Neutralität zustande zu bringen, und zwar grundsätzlich und nicht nur in der Praxis. Außerdem konnten Gender-Analysen aufzeigen, dass kulturelle Neutralität zumindest in einigen Forschungskontexten gar nicht wünschenswert ist. Kultur ist nicht nur ein Hindernis für die Produktion von Wissen, sie bringt auch Wissen hervor. Wer wissenschaftlich arbeitet, übt Einfluss aus auf das, was wir von der Welt wissen werden. Die folgenden Abschnitte benennen zentrale Themen der Forschung in Europa und Nordamerika sowie von Arbeiten, die das Leben von Frauen in den so genannten Entwicklungsländern zum Ausgangspunkt nehmen (Arbeiten aus der Perspektive des „Nordens“ bzw. „Südens“). Der letzte Abschnitt gibt Hinweise für verschiedene Richtungen, die zukünftige Forschungen wohl einschlagen werden. Zunächst jedoch eine Anmerkung: Es gibt nicht den einen, monolithischen Feminismus und deshalb auch nicht den einen bestmöglichen Weg für die Durchführung von GenderAnalysen. So kann der Begriff „Gender“ den Gegenstand einer empirischen Untersuchung bezeichnen, der bereits „da ist“, ehe die ForscherIn ihn wahrnimmt, also Männer und Frauen sowie vergeschlechtlichte strukturelle und symbolische soziale Beziehungen, oder aber den analytischen Bezugsrahmen der ForscherInnen bezeichnen, der sie zu ihrer Fragestellung führt – zur Untersuchung, wie vergeschlechtlichte Individuen, Sozialstrukturen und Bedeutungssysteme gesellschaftlich hergestellt werden. Beide Bedeutungen haben ihre Relevanz in der feministischen Wissenschafts- und Technikforschung. Allerdings sollte der Begriff Gender in beiden Fällen so verstanden werden, dass er stets in einer Beziehung wechselseitiger Bestimmung steht zu Klasse, ‚Race‘, Ethnizität, Sexualität und anderen strukturellen und symbolischen sozialen Systemen.
Feministische Wissenschafts- und Technikforschung des „Nordens“ Im Folgenden sollen einige wenige Hauptthemen in fünf Bereichen benannt werden, die sich als besonders ergiebig, wenn auch gleichzeitig entmutigend für die feministische Wissenschaftsund Technikforschung herausgestellt haben: sexistische und androzentrische Diskriminierung
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durch Prozesse und Ergebnisse der Forschung, soziale Strukturen der Wissenschaft, wissenschaftliche Ausbildung, Technologiegestaltung sowie Epistemologie und Wissenschaftstheorie.
Sexismus in der Wissenschaft „Our Bodies, Ourselves“: Der Boston Women’s Health Guide kam im Jahre 1971 heraus und wurde 1980 im deutschsprachigen Raum unter dem Titel „Unser Körper, unser Leben“ veröffentlicht (vgl. Boston Women’s Health Book Collektive 1971 und 1980). Dieser bahnbrechende Beginn der Frauengesundheitsbewegung offenbarte die Ignoranz, die der Interaktion der Ärzte mit Patientinnen sowie die Politik der medizinischen Industrie zu Grunde lagen. Entgegen den üblichen Warnungen vor den negativen Auswirkungen von Politik auf die Produktion von Wissen war es eine Koalition aus feministischen WissenschaftlerInnen und politischen AktivistInnen, die diesen neuen Forschungsschwerpunkt auf den Weg brachte. Offenbar gibt es Formen der Politik, die die Produktion von Wissen fördern können. Gleichzeitig begannen feministische BiologInnen, Kritik an den Behauptungen der Soziobiologie zu üben, derzufolge die Unterordnung der Frauen unter die männliche Dominanz naturgegeben sei. Eine Gruppe veranstaltete auf den Jahresversammlungen der „American Association for the Advancement of Science“ Seminare zum Thema „Gene und Gender“ und brachte einige der ersten Reader zu Gender und Wissenschaft heraus (vgl. Tobach/Rosoff 1978, 1979, 1981, 1984). Feministische BiologInnen und die Frauengesundheitsbewegung bilden in der feministischen Wissenschaftsforschung nach wie vor eine starke Kraft (vgl. Fausto-Sterling 1994). Dann erschienen erste Kritiken an sexistischen und androzentrischen Methoden und Ergebnissen von Forschung in den Geschichts- und Sozialwissenschaften (vgl. Harding 1987), die Grundlagen für politische Kämpfe bereitstellten. So wurde zum Beispiel das US-Rechtssystem allmählich gezwungen einzusehen, dass es notwendig war, bezogen auf Vergewaltigung, häusliche Gewalt, sexuelle Belästigung, die Gleichstellung von Frauen am Arbeitsplatz und die Durchsetzung des Maßstabs einer „vernünftig denkenden Frau“ (rational woman’s standard) eine feministische Position zu übernehmen. (In Gerichtsprozessen zur „Sexuellen Belästigung“ spielte in den USA zunächst eine wichtige Rolle, ob das in Frage stehende Verhalten des Beschuldigten dem „gesunden Menschenverstand“ als Belästigung erschienen wäre oder nicht. Die Formel hierfür war „rational man’s standard“. Dieser wurde nach und nach unter dem Einfluss feministischer Kritik umformuliert in den „rational woman’s standard“, Anm. Hrsg. UM). Sozialwissenschaftliche Forschung spielte eine Rolle bei Auseinandersetzungen über lesbische Mütter, zahlungsunwillige Väter und Lohn für Hausarbeit. Ebenso bedeutsam war, wie diese Arbeiten die empirischen und theoretischen Unzulänglichkeiten sozialer Theorien in jeder Wissenschaftsdisziplin nachwiesen. Da auch die Naturwissenschaften ihre soziale Geschichte haben, konnte diese Kritik auch geschlechtsbezogene Untersuchungen der Wissenschafts- und Technikgeschichte, -soziologie und -philosophie beeinflussen. Sie hat sogar Untersuchungen von Wissenschaften geformt, von denen man annehmen könnte, dass sie vollkommen immun gegen kulturelle Einflüsse seien, wie z.B. Physik und Astronomie in den Anfängen der modernen Wissenschaft (vgl. Merchant 1980, Schiebinger 1989, 1993), die Boylesche Chemie, die Physik und Biologie des frühen 20. Jahrhunderts (vgl. Keller 1984), die heutige Hochenergiephysik (vgl. Traweek 1988) und die Molekularbiologie (vgl. Spanier 1995).
Diskriminierende soziale Strukturen Bereits im 19. Jahrhundert begann die Kritik an der Diskriminierung von Mädchen und Frauen in den sozialen Strukturen der Naturwissenschaften, Mathematik, Medizin und Technik (vgl.
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Rossiter 1982, 1995, Schiebinger 1989, 1993). Auch wenn formale Barrieren, mit denen Frauen der Zugang zu Bildung, Hochschulabschlüssen, Veröffentlichungen, Laborplätzen und der Mitgliedschaft in Gremien auf den Gebieten Wissenschaft und Technik verwehrt wird, in Europa, den USA und vielen anderen Teilen der Welt endlich für ungesetzlich erklärt worden sind, ist es immer noch eine Herausforderung, nach wie vor bestehende, mächtige Quellen der Diskriminierung aufzuspüren und letztlich auszuräumen. Der MIT Women and Science Report (Massachusetts Institute of Technology 1999) sorgte für eine Woge der Aufregung in vielen Elitefakultäten der Natur- und Ingenieurwissenschaften, da darin die unterschiedlichen Prozesse aufgezeigt werden, in den gesellschaftliche Geschlechternormen, wie z.B. die Erwartungen an die Frauen hinsichtlich ihrer Verpflichtungen gegenüber der Familie, zur Diskriminierung der Wissenschaftlerinnen am MIT führen, und zwar auf allen Hierarchiestufen. In den Entwicklungsländern führt der Mangel an finanziellen Mitteln und sozialen Einrichtungen für Familien dazu, dass Mädchen die Schule aufgrund ihrer häuslichen Pflichten verlassen, lange bevor sie irgendeine wissenschaftliche Bildung erhalten oder, in vielen Fällen, auch nur rudimentäre Kenntnisse im Lesen und Schreiben erlangt haben. Andererseits gibt es in den wissenschaftlichen Fakultäten und den für Wissenschaftspolitik zuständigen staatlichen Einrichtungen vieler Länder, die nicht zum Norden gehören, einen weitaus höheren Frauenanteil als in den USA bzw. Westeuropa. Dies ist allerdings nicht immer das Ergebnis von feministischem Aktivismus (vgl. Harding/McGregor 1996, Koblitz 1996).
Wissenschaftliche Ausbildung Bei den ersten Gleichstellungsansätzen zur Stärkung der bis dahin mangelnden Präsenz von Mädchen und Frauen in Wissenschaft und Technik wurde noch davon ausgegangen, dass es Mädchen und Frauen an den Fähigkeiten mangelt, die erforderlich sind, um in diesen Bereichen beruflich zu bestehen. Frauen hatten angeblich „Angst vor Mathematik“, wollten keine Frösche sezieren und verfügten nur über mangelhafte analytische Fähigkeiten. In der jüngeren Forschung hat sich der Schwerpunkt auf Mängel der Pädagogik, des Curriculums sowie der Ziele sowohl der Wissenschaft wie der wissenschaftlichen Bildung verlagert (vgl. Brickhouse 1994, Kelly 1981, 1987; Rosser 1986, 1993). Besonders erhellend war vermutlich das Aufkommen einer kritischen Fokussierung auf die maskuline Kultur von Wissenschaft und wissenschaftlicher Bildung sowie auf die Tatsache, dass „wissenschaftlich Arbeiten“ (doing science) eine Möglichkeit ist, bestimmte Arten von sozialer Identität zu schaffen. Waren die durch wissenschaftliche Tätigkeit geformten Identitäten traditionell meist männlich, so haben doch auch Mädchen ihren Spaß an wissenschaftlicher Arbeit dazu genutzt, unverwechselbare weibliche Identitäten zu schaffen, und zwar bei Mädchen verschiedener ethnischer Herkunft in unterschiedlicher Weise (vgl. Brickhouse 2001). Auf diese Bildungsforschung können WissenschaftshistorikerInnen und -soziologInnen auf breiter Ebene zurückgreifen. Inzwischen besteht durchaus Grund zur Freude darüber, dass die Bemühungen um Gleichstellung sich ausgezahlt haben, zumindest in vielen wissenschaftlichen Schul- und Studienfächern (Brickhouse 2001: 282), wenn auch in den meisten Bereichen der wissenschaftlichen Ausbildung wenig von diesem Erfolg zu sehen ist. Darüber hinaus ist die zahlenmäßige Gleichstellung lediglich eines der Ziele der feministischen Arbeit in der wissenschaftlichen Bildung (vgl. Brickhouse 1998). Beispielsweise haben Feministinnen auf das „wissenschaftliche Analphabetentum“ der Eliten hinsichtlich der Gender-Aspekte in der wissenschaftlichen Forschung und ihren verschiedenen Einrichtungen aufmerksam gemacht, das sich u.a. in Wissenschafts- und Technikmuseen, in der Zeitschrift „National Geographic“, bis hin zu den Fernsehsendungen des „Discovery Channel“ niederschlägt.
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Geschlecht und Technologie Seit den Anfängen der Frauenbewegung in den 1970er Jahren gab es Projekte, deren Ziel es war, Frauen Zugang zu technischen Fähigkeiten und Tätigkeiten zu verschaffen, von denen sie ausgeschlossen waren. Die Frauen wurden ermutigt, sich auf männlich dominierte Territorien im Baugewerbe und dem aufstrebenden Informatikbereich vorzuwagen oder Schulen für Landwirtschaft und Technik zu besuchen. Doch erst mit der Einführung sozialkonstruktivistischer Analysen in der Technikforschung eröffneten sich Möglichkeiten für tiefere Einsichten in das vergeschlechtlichte Wesen der Technologien. Erstens verlagerte sich der Fokus von der Untersuchung der „Hardware“ (der herkömmlichen Bedeutung von Technik) hin zu den Prozessen des technologischen Wandels, Prozesse, in denen in der Regel Klassen-, ‚Race‘-, Macht-, Kultur- und – eben auch – Geschlechterkämpfe miteinander verknüpft sind und die so zur Entwicklung neuer sozialer Formationen beitragen. Zweitens wurde angenommen, dass solche Veränderungen aus drei Komponenten bestehen: Veränderungen bei der „Hardware“, bei den Fähigkeiten, die für die Konstruktion, Nutzung und Reparatur der Hardware erforderlich sind, und bei der Organisation der Arbeitskräfte, die über solche Fähigkeiten verfügen. Wem war es möglich, Autos, Waschmaschinen und Computer zu konstruieren, zu nutzen und zu reparieren – und wem nicht? Daher musste, drittens, bei der Erklärung technologischer Veränderungen darauf geachtet werden, inwieweit Klassen-, ‚Race‘-, Kultur- und Gender-Aspekte der größeren sozialen Formationen technologische Veränderungen auslösen (vgl. Cockburn 1985, Noble 1995, Wajcman 1991). Im Übrigen sind wissenschaftliche Methoden selbst Technologien der Produktion von Wissen. Auf diese Weise durchdringen die sozialen Aspekte technologischer Veränderungen den kognitiven, technischen Kern der Wissenschaften (vgl. Hacking 1983, Rouse 1987).
Epistemologischer Androzentrismus Epistemologien des wissenschaftlichen Wissens gelten gemeinhin als ebenso kulturneutral wie die Leistungen auf dem Gebiet der Physik und Chemie, die sie zu erklären versuchen. Doch gerade durch solche normalen wissenschaftlichen Prämissen und Praktiken wurden sexistische und androzentrische Darstellungen als objektiv – als „gute“ Biologie, Soziologie oder Psychologie – legitimiert. Anscheinend sind nun aber eben genau die Standards der Wissenschaften sexistisch und androzentrisch. Sicherlich ist es ärgerlich, wenn man mit offenem und verstecktem Sexismus im Verhalten einzelner Wissenschaftler konfrontiert wird. Allerdings liegt der Grund für die vorstehend beschriebenen sexistischen und androzentrischen Vorstellungen und Praktiken nicht in diesem individuellen und beabsichtigten Verhalten. Nein, es sind institutionalisierte Annahmen, Praktiken und Kulturen, soziale Prämissen im größeren Rahmen und „kulturelle“ oder philosophische Theorien, die die Legitimität sexistischer und androzentrischer wissenschaftlicher Arbeit schaffen und aufrechterhalten (vgl. zur Männlichkeit der modernen Wissenschaften und Technik Noble 1992, 1995). Feministinnen mussten diese Standards auf ihre Objektivität, Rationalität und auf angemessene wissenschaftliche Methoden überprüfen und stärken. Ich möchte hier noch zwei Projekte erwähnen, die sich mit Objektivität und solchen Methodenfragen beschäftigen. Wie kann Wissenschaft ein Maximum an Objektivität erreichen, wenn die Gültigkeit ihrer Prämissen und Praktiken daran gemessen wird, wie weit diese von „dem Weiblichen“, d.h. von Merkmalen, die mit Frauen bzw. Weiblichkeit assoziiert werden, entfernt sind? Die altbekannte exemplarische Logik wissenschaftlicher Forschung schreibt bei vergeschlechtlichten Dualismen durchgehend die männliche Seite (d.h. die jeweils ersten Begriffe in der nachstehenden Aufzählung) vor: Objektivität vs. Subjektivität, Rationalität vs. Irrationalität und Emotionalität, Geist
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vs. Materie oder Körper, „harte“ Naturwissenschaften vs. „weiche“ Sozialwissenschaften. Mittlerweile haben feministische WissenschaftlerInnen kritische Arbeiten über solche Wissenschaftsstandards geschrieben und Vorschläge für eindeutig weibliche sowie effektivere geschlechtsneutrale Maßstäbe gemacht (zur Objektivität vgl. Harding 1991, 1998; Keller 1984, E. Lloyd 1996; zu konstitutiven vs. kontextuellen wissenschaftlichen Werten vgl. Longino 1990; zu Rationalität vgl. G. Lloyd 1984, Rooney 1994). Ein weiterer Schwerpunkt wird auf die Verbesserung der exemplarischen Methoden, im Sinne von Epistemologien, von Forschung gelegt. Dabei sind feministische Standpunkt-Epistemologien vielleicht die einflussreichsten, da sie unabhängig von Wissenssoziologen, Gesellschaftstheoretikern und Wissenschaftsphilosophen entstanden sind und einen umfassenden politischen/epistemologischen Bezugsrahmen für die Reflexion über die Frage bieten, wie Wissen produziert und legitimiert wird (vgl. Collins 1991, Haraway 1986, 1991/1995, 1998; Hartsock 1983, Rose 1984, Smith 1987, 1990a, 1990b; Rouse 1996). Als eine „rationale Rekonstruktion“ wird in diesen StandpunktEpistemologien davon ausgegangen, dass die feministische Forschung solche empirisch fundierten und theoretisch umfassenderen Untersuchungen auf den Gebieten der Natur- und Sozialwissenschaften deshalb hervorbringen konnte, weil sie „das Leben von Frauen“ als Ausgangspunkt wählten und nicht die dominanten konzeptuellen Bezugsrahmen der Disziplinen, die sich selbst auf das Leben der Männer gründen, welche die sozialen Institutionen und deren Praktiken konzipieren und leiten. Die feministische Forschung besteht darauf, dass, nach Donna Haraway, alles Wissen „situiertes Wissen“ ist (1991). Die Disziplinen sind, wie es die Soziologin Dorothy Smith (1987) ausdrückt, Teil des „Herrschafts-“ Apparates in den modernen, westlichen Gesellschaften. Sie arbeiten die komplexen und verwirrenden Erscheinungen des täglichen Lebens in Kategorien und Kausalkarten um, auf deren Grundlage die Verwaltungsbeamten in der Lage sind, Justiz-, Wirtschafts-, Wohlfahrts-, Bildungs- und medizinische Einrichtungen sowie andere Behörden und Institutionen zu führen. Frauen, und auch Männer aus ausgebeuteten Gruppen, sind in solchen Institutionen und den diesen zuarbeitenden Projekten der Einzeldisziplinen von der Konzeption und Leitung ausgeschlossen. So liefert das Leben von Frauen und anderen ausgebeuteten Gruppen wahrscheinlich noch immer einen wichtigen Ausgangspunkt bzw. eine Subjektposition, von der aus die Forschung entwickelt werden kann, um, nach Smith (1990a), „die konzeptuellen Praktiken der Macht“ offenzulegen. Hierbei ist zu beachten, dass Standpunkt-Ansätze zwar konzeptionell vom Leben von Frauen bzw. anderen ausgebeuteten Gruppen ausgehen, sich aber nicht dadurch unterscheiden, dass sie Frauen untersuchen, sondern dass sie „institutionelle Ethnographien“ liefern, beispielsweise über den juristischen Geist („legal mind“, MacKinnon 1982), oder disziplinarische Bezugsrahmen für die Soziologie (vgl. Collins 1991, Smith 1987, 1990a, 1990b), Gesellschaftstheorie (vgl. Hartsock 1983) bzw. Medizin-/Gesundheitsforschung (vgl. Martin 1987). In Laufe von 30 Jahren sind kritische feministische Sichtweisen zur modernen westlichen Wissenschaft und Technik zu Ansätzen entwickelt, die in allgemeineren Projekten einer neuen Konzeption von Modernität, Demokratie und sozialem Fortschritt eine wichtige Rolle spielen. Allerdings bleiben sie für die Mehrzahl der Menschen in der Welt eurozentrisch und „Teil des Problems“, soweit sie keine Beziehung zu den kritischen Perspektiven aufnehmen, welche die multikulturelle und postkoloniale Wissenschafts- und Technikforschung bietet. Auf diese gehe ich im Folgenden ein.
Feministische Wissenschafts- und Technikforschung des „Südens“ Die Frauen im Süden erwarten von der Wissenschaft viel von dem, was auch die Frauen im Norden schätzen: von einem besseren Zugang zu angemessenen Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten im Bereich Wissenschaft und Technik über einen besseren Zugang zu effektiven Tech-
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nologien in der Gesundheitsversorgung und am Arbeitsplatz bis hin zu einer sicheren und gesunden natürlichen Umwelt (vgl. Gender Working Group 1995, Kettel 1995, Braidotti u.a. 1994, Harding/McGregor 1996, Shiva 1989, L. Smith 1999). Darüber hinaus ist die moderne westliche Wissenschaft und Technik auch im Süden eng verknüpft mit den Idealen von Modernität, Demokratie und sozialem Fortschritt. Für viele Menschen im Süden ist (ebenso wie im Norden) der Schritt zum Denken in Begriffen der modernen, internationalen Wissenschaften und Technik gleichbedeutend mit dem Eintritt in globale Dialoge auf hohem sozialen Niveau, mit dem Erlangen des Ranges eines Weltbürgers. Die Methoden der modernen westlichen Wissenschaft und Technik und die von ihr herausgearbeiteten Fakten werden in den Entwicklungsländern häufig als willkommene Alternative zu den traditionellen diskriminierenden und manchmal schlicht ineffektiven Vorstellungen und Praktiken erlebt. Ein Großteil der Wissenschafts- und Technikforschung im Süden (einschließlich der feministischen Forschung) steht im Zusammenhang mit drei Wissenschafts- und Technikbewegungen, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden sind. Diese Bewegungen erweitern den Horizont hinsichtlich des Wissenschaftsverständnisses von Menschen auf der ganzen Welt und öffnen den Blick für die ideologischen und materiellen Bedingungen, die zu den Erfolgen der modernen westlichen Wissenschaft und Technik beigetragen haben. Hierbei handelt es sich um vergleichende kulturanthropologische Studien (die „Ethnoscience“-Bewegung), die „Science and Empires“-Bewegung und die postkoloniale Kritik an Entwicklungspolitik, -praktiken und -theorien des Nordens (vgl. Harding 1998). Die vergleichende Kulturanthropologie hat zwei Ziele. Zum einen will sie die lokalen, kulturellen Eigenschaften der europäischen Wissenschaften und Technologien zeigen, indem sie diese mit den Methoden analysiert, die von Anthropologen zur Untersuchung der Produktion von Wissen in nicht-westlichen Gesellschaften entwickelt wurden. Dieser Ansatz ebnete nach und nach das Spielfeld für die Untersuchung der Leistungen des Südens im Bereich Wissenschaft und Technik, denn diese konnten nicht länger nur aus dem Grunde herabgesetzt werden, dass nur sie allein kulturelle Elemente enthielten (vgl. Selin 1997). Durch diese Arbeiten wurde die Einrichtung von nationalen Ministerien, Konferenzen und Journalen für indigenes Wissen angeregt. Sie heben zu einer weltweiten Aufmerksamkeit auf Urheberrechte für indigenes Wissen geführt und die Notwendigkeit deutlich gemacht, dass der Begriff „wirkliche Wissenschaft“ (real science) viel weiter gefasst werden muss, als die Wissenschaftsforschung des Nordens bisher anzuerkennen bereit war. Der Forschungsansatz hat darüber hinaus auch darauf aufmerksam gemacht, dass Frauen, wo immer Frauen und Männer verschiedenen Interaktionen mit ihrem Körper und der Welt um sie herum ausgesetzt werden, einen eigenständigen Standpunkt hinsichtlich der Natur haben. Frauen werden, ebenso wie Männer, zu Hüterinnen von systematischem, wirksamem Wissen über die Natur, das sich durch derartige Interaktionen entwickelt. Dieses Wissen muss ständig überprüft werden, da die natürliche und soziale Umgebung der Frauen sich verändert: Wüsten dehnen sich aus, Ackerland erodiert, Giftstoffe dringen in Wasser- und Lebensmittelvorräte, neue Krankheiten breiten sich aus, neue Ideen kommen über das Fernsehen oder von neuen Nachbarn aus anderen Kulturen oder internationalen Institutionen. Ein zweiter Kontext für feministische Forschung im Süden ist die „Science and Empires“Bewegung von HistorikerInnen. Einen wesentlichen Schwerpunkt bildet hier die Frage nach den kausalen Beziehungen zwischen den beiden großen Marksteinen der Moderne – den „Entdeckungsreisen“ und dem Entstehen der modernen Wissenschaften in Europa. Die ForscherInnen haben gezeigt, dass jeder Bereich für seinen eigenen Erfolg den Erfolg des anderen benötigte. Die Expansion Europas (die „Reisen“) machte die Entwicklung von Wissenschaften erforderlich, die wir heute als Ozeanographie, Klimatologie und Astronomie der südlichen Hemisphäre bezeichnen würden, damit die Schiffe nach Amerika fahren und nach Europa zurückkehren konnten. Die Europäer brauchten außerdem eine bessere Kartographie und Kenntnisse über die unbekannte Flora, Fauna und Geologie der Länder, in denen sie siedeln und Gewinn bringende Unternehmen gründen wollten. Sie benötigten Kenntnisse über die vorhandenen Bedrohungen
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von Leben und Gesundheit sowie Mittel gegen die Krankheiten, denen sie in den neuen Ländern ausgesetzt waren. Auf der anderen Seite brauchten die modernen Wissenschaften finanzielle und anderweitige Unterstützung sowie Transportmöglichkeiten, die wiederum die expansionistischen Projekte bieten konnten. Das systematische Wissen, das sie entwickelten, entsprach den Bedürfnissen des immer weiter vordringenden europäischen Herrschaftsbereichs. Das systematische Unwissen, das sie gleichzeitig produzierten, war gekennzeichnet von Desinteresse gegenüber den Bedürfnissen der indigenen Bevölkerungsgruppen, denen sie begegneten, und gegenüber allem anderen außer der wirtschaftlichen „Entwicklung“. Dies führt uns zu der dritten Bewegung und den Folgen der beiden Bewegungen für die Frauen. In den 1990er Jahren wurde allmählich deutlich, dass 40 Jahre Entwicklungspolitik des Nordens nichts gebracht hatten als systematische Fehl- und Rückentwicklungen für eben diejenigen Völker, deren Lebensstandard durch die Entwicklungshilfe eigentlich gehoben werden sollte – die ca. 70% der ökonomisch und politisch verwundbarsten Völker der Welt, die im Süden leben. Nutznießer dieser Politik waren die „investierenden Klassen“ im Norden und ihre wirtschaftlich privilegierten Alliierten im Süden. Das Konzept der Entwicklungspolitik war von Anfang an der Transfer von Wissenschaft und Technik des Nordens und deren Rationalität in den Süden. So wurden durch die Fehlschläge der Entwicklungspolitik nach und nach unmittelbar die Grenzen der Wissenschaft und Technik des Nordens aufgezeigt, die für den Norden zuvor praktisch unsichtbar gewesen waren (vgl. Sachs 1992). Koalitionen aus Feministinnen des Südens und Nordens arbeiteten in Regierungs- und Nicht-Regierungs-Organisationen zusammen, um darauf aufmerksam zu machen, dass die Entwicklungspolitik die Verwundbarkeit des größten Teils der Frauen auf der Welt verstärkt hat, da Frauen und ihre Kinder in den politisch und ökonomisch schwächsten Gruppen überproportional vertreten sind (vgl. Braidotti u.a. 1994). Die Expansion Europas war von allen Gesellschaften, denen die Europäer in Amerika, Asien, Australien, auf den Pazifischen Inseln und in Afrika begegneten, als brutale Eroberung erlebt worden. Schließlich haben feministische Erklärungen der Auswirkungen der „Entwicklungs“-Politik im ausgehenden 20. Jahrhundert bisher unvorhergesehene Folgen aufgedeckt, welche die „Entdeckungsreisen“ auf Frauen hatten. Heute werden diese Folgen sogar vom Internationalen Währungsfonds und der Weltbank anerkannt. Führt in einer Welt der politischen und wirtschaftlichen Ungleichheit ein mehr an westlicher moderner Wissenschaft und Technik notwendigerweise zu einer Vergrößerung der Kluft zwischen „Besitzenden“ und „Habenichtsen“? Feministische Ansätze der Wissenschafts- und Technikforschung aus dem Süden haben das Ihre dazu beigetragen, dass für die BewohnerInnen des Nordens und deren feministisches Forschungsinteresse eine neue Karte gezeichnet werden konnte. Allerdings müssen wir alle noch daran arbeiten, auf nationaler und internationaler Ebene pro-demokratische Reaktionen auf dieses Erkenntnisinteresse zu erhalten. Welche weiteren möglichen Richtungen zeichnen sich für feministische Forschung in der Zukunft ab?
Zukünftige Entwicklungen der Forschung Eine schwierige Aufgabe, mit der bereits begonnen worden ist, liegt darin, mehr fruchtbare Bezüge herzustellen in der geschilderten Vielfalt feministischer Forschungsstränge und der Arbeit von Wissenschaftlerinnen. Viele ForscherInnen, WissenschaftlerInnen und AktivistInnen haben ihre wissenschaftlichen Fachkenntnisse und Anliegen in die feministische Arbeit eingebracht, als sie die feministische Wissenschafts- und Technikprojekte ins Leben gerufen haben. Trotzdem scheint es, dass die meisten WissenschaftlerInnen, Frauen wie Männer, den Gebrauch von ungewohnter und (deshalb) suspekter Terminologien, Wissenschaftssprachen und theoretische Rahmungen in Philosophie, Sozialwissenschaft und Geisteswissenschaften sowie die geistigen und politischen Prämissen, auf denen Projekte von Feministinnen im Süden beruhen, als entmu-
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tigend und entfremdend empfunden haben. Allerdings unterstützen die US-Wissenschaftsstiftung NSF und andere nationale, regionale und mittlerweile sogar internationale Sponsoren Projekte, in denen WissenschaftlerInnen Hilfestellungen zum Verständnis und zur Nutzung der Ressourcen der feministischen Wissenschafts- und Technologieforschungsliteratur für die Lehre und die Entwicklung von Forschungsprojekten gegeben werden. Als ausgesprochen nützlich für solche Projekte sind zwei Sammlungen hervorzuheben (vgl. Mayberry/Subramaniam/Weasel 2001, Wyer u.a. 2000). Besonders interessant ist hier die Untersuchung von Lisa Weasel (2001), inwieweit WissenschaftlerInnen das europäische Modell der „Wissenschaftswerkstatt“, eine Art „ehrenamtliches“ Engagement, nutzen können, um wissenschaftliche Forschung zu organisieren, die sich an den Bedürfnissen von Frauen in lokalen Gemeinschaften orientiert. Ein weiteres vielversprechendes Projekt könnte die Arbeiten von Brickhouse fortsetzen, d.h. die Erforschung wissenschaftlicher Ausbildung über Zugangsfragen hinaus weiter zu entwickeln. Wie lernen Menschen Wissenschaft? Was kann im Rahmen des Bildungsprojekts K-16 in den USA als Wissenschaft gelten? Wie könnte das Erlernen von Wissenschaft dazu beitragen, mündige BürgerInnen zu schaffen, die sich sowohl mit demokratischer Wissenschaft als auch mit demokratischen Gesellschaften auskennen (Brickhouse 2001)? Schließlich ist noch das Aufkommen der Informationstechnologien (IT) im Rahmen der Globalisierung zu erwähnen; die Beschäftigung der feministische Wissenschafts- und Technikforschung mit diesem Thema hat gerade erst begonnen. Das dringendste Anliegen ist hier, wie verhindert werden kann, dass die Stellung der Frauen am Arbeitsmarkt durch den Einsatz von IT noch weiter geschwächt wird (vgl. Mitter 1996, Balka/Smith 2000). Ein weiteres Thema wäre die Untersuchung problematischer Aspekte von Männlichkeit, die durch Aktivitäten in der virtuellen Realität entwickelt werden. Ein drittes, erst vage konzipiertes Arbeitsfeld wäre die Frage, welche Rolle die aufkommende Informationsgesellschaft spielt im Zusammenhang mit dem „Ende des Patriarchats“, der Entwicklung von Frauenbewegungen sowie neuen Formen von Familie, Reproduktion und Sexualität (vgl. Castells 1997). Abschließend ist festzuhalten, dass die feministische Wissenschafts- und Technikforschung im Laufe ihrer mehr als 30 Jahre andauernden Aktivitäten weltweit immer mehr an Kraft gewonnen hat. Wie immer, wenn feministische Bezugsrahmen herangezogen werden, um angeblich wertneutrale konzeptuelle Bezugsrahmen und Programme der vorhandenen Disziplinen, Institutionen und politischen Entscheidungsgremien um Frauen- und Geschlechterthemen zu ergänzen, treten deren vergeschlechtlichte Dimensionen und Grenzen zu Tage. Feministische Wissenschaftsund Technikprojekte werden, trotz all ihrer Vielfältigkeit, Unsicherheiten und Konflikte, auch in Zukunft wertvolle Ressourcen für pro-demokratische soziale Veränderungen bieten. Herausgeberinnen und Verlag danken Sandra Harding und Blackwell Publishing für die Erlaubnis, diesen Text aus dem Buch: Philomena Essed, David Goldberg, Andrey Kobayashi (2004): The Companion to Gender Studies, hier in gekürzter Fassung verwenden zu dürfen. Ins Deutsche wurde er von Beate Staib übertragen.
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Christine Bauhardt
Ökologiekritik: Das Mensch-Natur-Verhältnis aus der Geschlechterperspektive
Begriffsbestimmung und theoretische Einbettung Der Begriff Ökologie beschreibt das Verhältnis zwischen Natur und Gesellschaft. Die feministische Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlichen Naturverhältnis speist sich aus der Kritik technisch-industrieller Modernisierung. Die Kritik nimmt die Gleichursprünglichkeit der Herrschaft über Natur und der Herrschaft über Menschen in den Blick. Das Mensch-Natur-Verhältnis wird bestimmt durch Über- und Unterordnungsbeziehungen: Die Unterwerfung und Aneignung der Natur gilt als Voraussetzung kapitalistisch-patriarchaler Herrschaft weltweit (vgl. Mies/Shiva 1993). Ziel der feministischen Ökologiebewegungen ist die Beendigung der Ausbeutung der Natur und von Menschen. Die feministische Ökologiedebatte ist in den größeren Zusammenhang feministischer Wissenschaftstheorie und -kritik einzuordnen. Zentrales Erkenntnisinteresse ist dabei das MenschNatur-Verhältnis in seiner Vermittlung mit dem Geschlechterverhältnis. Historisch erklärt sich diese Vermittlung über die Natur-Kultur-Dichotomie und über die Prämisse patriarchaler Denktraditionen, die behaupten, dass Frauen der Natur näher stünden, während Männer kulturelle Transzendenz repräsentierten (vgl. Ortner 1974). Gleichzeitig wird die Konzeption der Natur in Wissenschaft und Gesellschaft mit Weiblichkeitsbildern symbolisiert: Die Natur als lebensspendende, großherzige Mutter; als wildes, unbeherrschtes Weib, das, so nicht gezähmt, dem Mann zum Verhängnis wird; als scheue Magd, deren Schleier gelüftet werden müssen, um ihre Geheimnisse zu enthüllen (vgl. Merchant 1980). Zur Erklärung und Legitimierung der Ungleichheit im Geschlechterverhältnis wird in patriarchalen Ansätzen eine als natürlich definierte Differenz zwischen Männern und Frauen herangezogen. Frauen wird dabei aufgrund ihrer potenziellen Gebärfähigkeit eine größere Naturnähe unterstellt, ihnen werden aus der potenziellen Mutterschaft abgeleitete soziale Kompetenzen – Empathie, Fürsorglichkeit, Friedfertigkeit – zugeschrieben. Die symbolisch und materiell vermittelte Geschlechterhierarchie entspricht danach einer der Gesellschaft vorgängigen natürlichen Ordnung. Diese Sicht auf das Geschlechterverhältnis als eine von der Natur vorgegebene Ordnung findet sich in modernen Theorieansätzen nicht mehr so offensichtlich wie in den Texten der Naturrechtsphilosophie des 17. und 18. Jahrhunderts (Hobbes, Locke, Rousseau u.a.), sondern eher implizit. Die soziologische Einordnung der Geschlechterhierarchie in den Kontext der funktionalen Differenzierung im Modernisierungsprozess („jedeR macht das, was er/sie am besten kann“) zählt ebenso dazu wie die klassische politikwissenschaftliche Trennung der politischen und der privaten Sphäre. Danach bestimmt sich politische Öffentlichkeit durch die frei gewählten sozialen Beziehungen autonomer männlicher Subjekte, während Frauen in der Sphäre des Vorpolitischen, des durch quasi-natürliche Bindungen charakterisierten Privaten verortet sind.
Ökologiekritik
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Feministische Kritik an einem patriarchalen Mensch-Natur-Verhältnis Zwei Kritikpunkte sind für die feministische Auseinandersetzung mit dem Mensch-NaturVerhältnis zentral, die Subjekt-Objekt-Spaltung in der Naturerkenntnis (Wissenschaftskritik) und die Ausbeutung von Natur als Ressource kapitalistischer und patriarchaler Aneignung (Herrschaftskritik). –
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Wissenschaftskritik: Feministische Ökologinnen kritisieren die naturwissenschaftliche Erkenntnisproduktion als androzentrisches Projekt. Das Erkennen von Natur und natürlichen Prozessen ist durch spezifische methodische Anforderungen begleitet. Naturwissenschaftliche Erkenntnis basiert auf dem Objektivitätspostulat, das auf der klaren Trennung von Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt beruht. Methodische Grundlagen objektiver Naturerkenntnis sind u.a. Distanzierung, Zerlegung in kleinste Einheiten, Messbarkeit. Objektivitätsanspruch und Methodenrepertoire der Naturerforschung werden von feministischen Wissenschaftskritikerinnen als androzentrisch bezeichnet, erstens weil sie aufgrund des Ausschlusses von Frauen aus den wissenschaftlichen Institutionen allein von Männern entwickelt wurden, zweitens weil das Objektivitätspostulat in den Forschungsprozess einfließende soziale Vorannahmen, zum Beispiel die Geschlechterhierarchie, und gesellschaftliche Werturteile, zum Beispiel die Minderbewertung von Frauen und sozialer Weiblichkeit, nicht berücksichtigt und drittens weil die objektivierende Distanzierung von der Natur die Einbettung des Menschen in natürliche Prozesse verkennt. Herrschaftskritik: Die zentrale Kritik am Mainstream lautet, dass naturwissenschaftliche Erkenntnisproduktion und Durchsetzung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsformation einander bedingten: Das Erforschen der Naturgesetze war die Grundlage für die Ausbeutung der Natur als Ressource kapitalistischer Akkumulation. Ausgangspunkt dafür, dass Natur zur Ressource des Industriekapitalismus werden konnte, ist die dichotome Gegenüberstellung von Natur und Kultur. Anhand dieser Dichotomie wurden auch Menschen und Gesellschaftsordnungen klassifiziert. Als Repräsentanten der Kultur galten weiße männliche Europäer, Frauen und BewohnerInnen der Kolonien wurden der Natur zugeordnet. Ihnen wurden Charaktereigenschaften zugeschrieben – Emotionalität, Irrationalität, Naivität –, die im kolonialen Diskurs als kulturfern und deshalb der Natur näherstehend gelten. Mit der KulturNatur-Dichotomie werden Dominanzverhältnisse legitimiert: die Höherbewertung von Kultur gegenüber Natur, die Herrschaft von weißen Männern über Frauen und kolonisierte Völker, die Ausbeutung von Natur und Menschen im Industriekapitalismus.
Feministische Gegenentwürfe Mit diesen Ansatzpunkten der Kritik geht die Suche nach Alternativen, nach dem utopischen Potenzial eines feministischen Ökologieverständnisses, einher. Diese Suche ist motiviert durch die Vorstellung eines anderen Mensch-Natur-Verhältnisses auf der Basis gleichberechtigter Beziehungen zwischen Menschen und Natur sowie zwischen den Geschlechtern. Kern der feministischen Naturphilosophie ist die Frage nach der Möglichkeit eines positiven feministischen Rückbezugs auf die Natur. Die feministische Auseinandersetzung mit der patriarchalen Analogie von Frauen und Natur zielt zum einen auf den inneren Zusammenhang zwischen technisch-ökonomischer Modernisierung und der Idealisierung von Frauen/Natur (vgl. Klinger 1990). Zum anderen ist zu fragen, ob das Mensch-Natur-Verhältnis tatsächlich notwendigerweise mit der Geschlechterhierarchie verknüpft gedacht werden muss (vgl. Holland-Cunz 1994).
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Nach Cornelia Klinger (1990) wirkt sich der Modernisierungsprozess nicht einseitig negativ auf Natur und Frauen aus, sondern er ist ambivalent, denn das Streben nach Naturbeherrschung und die Abwertung von Frauen und sozialer Weiblichkeit gehen einher mit der Idealisierung und Ästhetisierung von Natur und Frauen. Es handelt sich dabei um eine Gegenbewegung zur technisch-ökonomischen Rationalisierung, weshalb sich beide Sphären – Rationalisierung und Ästhetisierung – als miteinander vermittelt erweisen. Entsprechend ist „ein offensives Bekenntnis zu einer ästhetischen Auffassung von Welt und Natur und auch zu einer Utopie des Weiblichen immer noch und immer wieder möglich (...): es ist dies weniger ein Weg zur Überwindung des bestehenden Denk- und Wertgefüges (wofür es sich oft selbst missversteht), aber es ist durchaus ein gangbarer Weg, um sich innerhalb dieses Gefüges Raum zu schaffen – und das wiederum mag sich auf lange Sicht sogar als ein Weg zur substantiellen Veränderung dieses Gefüges erweisen“ (Klinger 1990: 93f.). Einen anderen Zugang vertritt Barbara Holland-Cunz (1994), die dem „Subjekt Natur“ Eigenlogik zuspricht und das gesellschaftliche Naturverhältnis als von anderen Herrschaftsverhältnissen, damit auch der Geschlechterhierarchie, unterschieden versteht: „Die ‚Essenz‘ eines informierten, notwendigen und angemessenen naturtheoretischen Essentialismus ist deshalb nicht ein diffus bestimmtes (gar weibliches) Wesen der Natur (oder auf der anderen Seite etwa ein natürliches Wesen der Frau), sondern die ‚Essenz‘ eines solchen bewusst konzipierten Essentialismus ist die Körperlichkeit des sozialen Geistes menschlicher und nichtmenschlicher Natur“ (Holland-Cunz 1994: 210). Trotz ihrer unterschiedlichen Theoriebezüge ist beiden Ansätzen gemeinsam, dass sie die Möglichkeit einer positiven Beziehung von Frauen und Natur eröffnen, ohne in reduktionistische patriarchale Frau-Natur-Analogien zu verfallen. Politische Ansätze zur Veränderung des patriarchalen Mensch-Natur-Verhältnisses finden sich in den weltweiten feministischen Ökologiebewegungen. Häufig sind es Frauen, die sich zu Umweltgruppen zusammenschließen, oder es sind Frauen, die in gemischten Basisgruppen dominieren. Feministische UmweltaktivistInnen schöpfen ihre Motivation häufig aus den negativen Konsequenzen der Umweltkrise auf das Leben von Frauen. Dazu zählen beispielsweise die Zerstörung lebensnotwendiger Grundlagen der Subsistenz – Umweltgifte in der Nahrung durch industrielle Landwirtschaft, unkalkulierbare Risiken durch die Genmanipulation von Saaten und in der Tierzucht, Rodung von Wäldern und Zerstörung landwirtschaftlich nutzbarer Flächen, Zugang zu sauberem Wasser –, die eine zusätzliche Belastung für die Alltagsbewältigung von Frauen darstellen. Da mehrheitlich Frauen sowohl in Industrieländern wie auch in Transformations- und Schwellenländern für die Subsistenz und die Gesundheitsversorgung des familialen Zusammenhanges zuständig sind, sind sie es, die die Folgen der Umweltzerstörung durch Mehrarbeit kompensieren (vgl. Dankelman/Davidson 1988). In der internationalen Umweltpolitik sowie in der Entwicklungsdebatte wird diese meist aus der Not geborene Umweltkompetenz der Frauen strategisch eingesetzt. Sie war auf Seiten der feministischen Umweltbewegungen eine starke Antriebskraft für die Debatten um „sustainable livelihood“, also die Forderung nach nachhaltiger Sicherung der Lebensgrundlagen und nach Verbesserung der Lebensverhältnisse von Frauen. Dieser Begriff unterscheidet sich grundlegend vom Konzept der nachhaltigen Entwicklung, wie er von den UN-Weltkonferenzen definiert wurde. Er beinhaltet eine Abkehr vom dominanten westlichen Konzept der „Entwicklung“, einem Modell, das als Grundlage der globalen Umweltzerstörung abgelehnt wird (vgl. Braidotti u.a. 1994). Auf Seiten der politischen EntscheidungsträgerInnen in der Umwelt- und Entwicklungspolitik wird den Frauen eine besondere Rolle beim schonenden Umgang mit der Natur und ihrer zukunftsorientierten Reparatur zugewiesen. Diese Verlagerung der Umweltverantwortung auf Frauen, ohne dass gleichzeitig ihre Verfügungs- und Entscheidungsrechte gestärkt werden, meint der Begriff der Feminisierung der Umweltverantwortung (vgl. Wichterich 1992). Ansätze feministisch-ökologischer Praxis finden sich vor allem in Projekten, die sich auf ökonomische Perspektiven jenseits der kapitalistischen Wachstums- und Verwertungslogik beziehen. Zu unterscheiden sind Konzepte, die sich in ihrer Subsistenzorientierung als antagonis-
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tisch zur kapitalistischen Produktionsweise verstehen (vgl. Bennholdt-Thomsen/Mies 1997, Bennholdt-Thomsen/Holzer/Müller 1999), und solche, die eine Erweiterung der Marktökonomie um Sorge- und Verantwortungsprinzipien im Ansatz des Vorsorgenden Wirtschaftens anstreben (vgl. Busch-Lüty u.a. 1994, Biesecker u.a. 2000). Feministische Umweltforschung ist ein interdisziplinäres Forschungsfeld, in dem Sozialwissenschaftlerinnen, Naturwissenschaftlerinnen, Ingenieurinnen/Planerinnen, Ökonominnen und Agrarwissenschaftlerinnen arbeiten. Die feministische Umweltforschung geht davon aus, dass Ökologie und Emanzipation einander nicht ausschließen. Im Zentrum der theoretischen Überlegungen zum Mensch-Natur-Verhältnis steht die Parallelsetzung von Natur und weiblicher Arbeitskraft und ihre Nutzung als prinzipiell unendlich und unentgeltlich zur Verfügung stehende Ressourcen. Zielsetzung der feministischen Ansätze in den Umweltwissenschaften ist, die Vernutzung nicht-monetär bewerteter natürlicher Ressourcen einzuschränken, dies jedoch nicht um den Preis der Feminisierung der Umweltverantwortung. Daraus ergibt sich als Forschungsauftrag die Suche nach umweltverträglichen Konzepten, die nicht zur Mehrarbeit von Frauen, sondern möglichst zu ihrer Entlastung beitragen. Damit einher geht die Forderung nach globaler Gerechtigkeit im Zugang zu und der schonende Umgang mit natürlichen Ressourcen weltweit. Konkrete Handlungsansätze beziehen sich auf die Industriestaaten des Nordens, da hier im globalen Vergleich der größte Umweltverbrauch und die gravierendsten Ursachen für die weltweite Naturzerstörung konstatiert werden. Aktuelle Forschungsfragestellungen feministischer Umweltforschung setzen sich – positiv oder in Abgrenzung – mit dem Konzept der Nachhaltigkeit auseinander (vgl. Weller/Hoffmann/ Hofmeister 1999). Nachhaltigkeit als normatives Konzept beinhaltet die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit und Sicherung der materiellen Lebensgrundlagen. Die materiellen Lebensgrundlagen bestehen in den natürlichen und gesellschaftlichen Ressourcen für gegenwärtige und zukünftige Generationen. Die Operationalisierung des Konzeptes Nachhaltigkeit strebt das gleichgewichtige Verhältnis von Ökonomie, Ökologie und Sozialem an. Aus feministischer Perspektive gilt das asymmetrische Geschlechterverhältnis als zentrale Analysekategorie für das Verständnis nicht-nachhaltiger Entwicklungen. Wirtschaftliches Handeln, soziale Verhältnisse und die Endlichkeit natürlicher Ressourcen sind aufeinander bezogen. In der feministischen Analyse hat das Geschlechterverhältnis eine zentrale Bedeutung für die Vermittlung der drei Dimensionen. Hier kommt die Utopie zum Ausdruck, dass gerechte Verteilung von und Verfügung über ökonomische und natürliche Ressourcen zu einem gerechteren Verhältnis der Geschlechter führt, genauso wie soziale und ökonomische Gerechtigkeit im Geschlechterverhältnis die Basis für ein adäquateres Mensch-Natur-Verhältnis darstellt. Schließlich ist die Enthierarchisierung des Mensch-Natur-Verhältnisses sowie der sozialen Verhältnisse die Voraussetzung für eine menschen- und naturgerechte Wirtschaftsweise. Der Abbau der Geschlechterhierarchie ist deshalb eine notwendige Voraussetzung für die Umsetzung der Nachhaltigkeit. Das Bundesforschungsministerium richtete 1999 einen Förderschwerpunkt „Sozial-ökologische Forschung“ ein, der maßgeblich auf dem Konzept des Frankfurter Instituts für SozialÖkologische Forschung (ISOE) beruht, an dem auch die ersten Überlegungen zum Themenfeld „Gender and Environment“ (Schultz/Weller 1995) entwickelt wurden. In diesem Förderschwerpunkt wird als dritte Problemdimension neben den Querschnittsthemen Methodenentwicklung und Praxisbezug die Gender-Perspektive erarbeitet. Um das Forschungsfeld feministische Umweltwissenschaft empirisch zu erschließen, wurden in Sondierungsprojekten zur Problemdimension „Gender und Nachhaltigkeit“ Forschungslücken und -desiderate formuliert (Balzer/Wächter 2002: 431-494, 539-549). Dazu zählen geschlechtsspezifisch unterschiedliches Umweltbewusstsein und Konsumverhalten, geschlechtlich differenzierte Bedürfnisfelder bzw. Nutzungsmuster (z.B. Ernährung, Bauen und Wohnen, Verkehr und Mobilität, Stoffströme und Ökobilanzen von Produkten), Vermittlung von Expertendiskursen und Alltagsbewusstsein, Integration feministischer ökonomischer Konzepte in die allgemeine Nachhaltigkeitsdebatte. Als besonders schwierig wird das Verhältnis zwischen naturwissenschaftlicher Umweltforschung und sozial-ökologischer Umweltforschung gesehen. Dabei wird insbesondere auf die
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mangelnde Kommunikation zwischen der Sprache der „harten Daten“ der Naturwissenschaften und der Sprache der „weichen“ Sozialwissenschaften hingewiesen, denen auch die GenderForschung zugerechnet wird (vgl. Nebelung/Poferl/Schultz 2001). Zusätzliche Probleme bei der Implementation des Forschungsfeldes ergeben sich aus der interdisziplinär angelegten feministischen Umweltwissenschaft und ihrer mangelnden Verortung innerhalb der fachdisziplinär organisierten und institutionalisierten Umweltforschung. „Sciences’ problematics are shaped by their funders and sponsors and, more generally, by what is of interest to those groups that are in an economic and political position to have their concerns conceptualized as ones for empirical research“, so Sandra Harding (1997). Mit dem sozial-ökologischen Forschungsprogramm gingen erstmals feministische Fragestellungen – in einer überschaubaren Größenordnung, aber immerhin – nach dem Zusammenhang von Naturzerstörung und Geschlechterverhältnis in die umweltwissenschaftliche Forschungsförderung in Deutschland ein. Forschungspolitisch wurden damit erste Schritte unternommen, die Forderung nach größerer Repräsentanz von feministischen Wissenschaftlerinnen in der naturwissenschaftlichen und umweltbezogenen Forschung einzulösen – nicht weil Frauen der Natur näher stünden, sondern weil sie andere Fragen an das gesellschaftliche Naturverhältnis stellen. Verweise: Postkolonialismus Subsistenzansatz Umwelt
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Sabine Hering
„Frühe“ Frauenforschung: Die Anfänge der Untersuchungen von Frauen über Frauen
Der Begriff „Frauenforschung“ umfasst in diesem Beitrag Arbeiten, die – im weitesten Sinne – als empirisch sozialwissenschaftliche Studien in der Zeit zwischen etwa 1890 und 1930 entstanden sind und sich mehrheitlich der Lebenssituation von Frauen mit der Absicht der Anklage gegen deren vielfältige Benachteiligungen gewidmet haben.
Einordnung der Frauenforschung in die allgemeine Entwicklung empirischer Arbeiten zwischen 1900 und 1933 Folgen wir den Untersuchungen von Oberschall (1965) und Schad (1972) über die Entwicklung der Forschungsarbeiten im Bereich der Sozialwissenschaft und den angrenzenden Disziplinen, so zeigt sich, dass empirische Studien von Frauen durchaus keine marginalen Erscheinungen waren, auch wenn sie aufgrund des nichtakademischen Status der Autorinnen am Rande der Wissenschaftsszene entstanden. Dies beruht in erster Linie auf dem Umstand, dass es auch im akademischen Bereich keine groß angelegten institutionalisierten Forschungszusammenhänge von Sozialwissenschaftlern gab. „In absence of an institutionalized tradition the part played by single individuals and their pecularities should not be underestimated“ (Oberschall 1965: 9). Die Frauen standen also mit ihren Arbeiten keiner wohlformierten Männergruppe gegenüber, sondern mussten, ebenso wie diese, ihre Vorhaben im Rahmen der ihnen jeweils zur Verfügung stehenden Kontexte durchführen. Auch in der Anbindung ihrer Arbeiten an soziale und politische Reformbestrebungen unterschieden sie sich in keiner Weise von ihren männlichen Kollegen: „Most of them deal substantively with working class problems and are primarely motivated by reform rather than scientific knowledge for its own sake“ (ebd). Auch die sozial engagierten Vereine verfolgten damals in erster Linie die Absicht, durch ihre Untersuchungen und Enqueten zur Verbesserung der sozialen Verhältnisse beizutragen. Die in diesen Vereinen tätigen Professoren, wie Ferdinand Tönnies, Werner Sombart und Max Weber, bildeten jedoch die Ausnahmen ihrer Zunft, welche bis in die Mitte dieses Jahrhunderts hinein in Deutschland fast ausschließlich theoretisch orientiert war (vgl. Schad 1972). Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum die Wissenschaftler, die an empirischer Arbeit im Bereich der Sozialpolitik und Wohlfahrtspflege interessiert waren, den Frauen, die entsprechendes Engagement zeigten, nicht nur Verständnis, sondern teilweise auch weitgehende Unterstützung entgegengebracht haben. Vor allem Max Weber, der zeitlebens vergeblich um die Institutionalisierung empirischer Sozialforschung gekämpft hat, war durch seine Ehefrau Marianne Weber nicht nur mit den Zielen der Frauenbewegung vertraut, sondern wusste auch deren Beitrag zur Analyse der sozialen Verhältnisse zu schätzen. Dies gilt aber auch für Koryphäen ihrer Zeit wie Sombart und Schmoller.
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Zum biografischen Kontext der „Forschungsarbeiten“ Die Frau, die ihre Kolleginnen schon ganz früh auf die Bedeutung der Statistik für die Erfassung der Wirklichkeit aufmerksam gemacht hat, hieß Elisabeth Gnauck-Kühne (1850-1917). Ihr Zitat „Die Statistik sagt uns, was ist“, entstammt ihrer Schrift „Einführung in die Arbeiterinnenfrage“ aus dem Jahre 1905 (S. 13). Gnauck-Kühne hat niemals studiert. Von ihrem 14. bis zum 17. Lebensjahr besuchte sie ein Lehrerinnenseminar; danach arbeitete sie für kurze Zeit im Schuldienst, später aber vor allem in konfessionellen Frauenorganisationen. Sie gilt als eine der führenden Persönlichkeiten zunächst der evangelischen, später, als Konvertitin, der katholischen Frauenbewegung. Ihre Qualifikation zur wissenschaftlichen bzw. empirischen Arbeit hat sie sich mit Unterstützung von Gustav Schmoller, dem renommierten Professor für Nationalökonomie an der Universität Berlin, autodidaktisch erworben. Ihre Untersuchungen, die ausnahmslos der Lebenssituation bzw. den sozialen Problemen von Frauen gewidmet waren, haben eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für die sozialpolitischen Forderungen ihrer Zeit gehabt. Elisabeth Gnauck-Kühne ist eine typische Vertreterin der Gruppe von Frauen, um die es im Folgenden gehen soll. Typisch ist ihr Einstieg in ihre spätere berufliche Karriere über die Ausbildung zur Lehrerin. Typisch ist auch ihre Unzufriedenheit mit der unzureichenden Qualifizierung und der noch anspruchsloseren Praxis im Bereich des Mädchenschulwesens im ausgehenden 19. Jahrhundert. Die herausgehobene Position, die sie später innerhalb der Frauenbewegung inne hatte, war zwar nur wenigen Frauen vorbehalten – typisch ist hier aber wiederum die Verbindung mit einer regen Publikationstätigkeit, aus der eine Vielzahl von wegweisenden sozialpolitischen Schriften hervorgegangen sind. Anders als die ebenfalls überaus produktiven Autorinnen der Frauenbewegung wie Gertrud Bäumer (1873-1954), Helene Lange (1848-1930) oder Klara Zetkin (1857-1933) hat sich Gnauck-Kühne aber vor allem der „Empirie für die Interessen der Frau“ verschrieben, der Argumentation auf der Basis von Zahlen, der Überzeugungskraft der Statistik. Sie gehörte damit zwar als empirische Forscherin zu einer der kleinsten Gruppen innerhalb der weit gespannten Aktivitäten der damaligen Frauenbewegung, trotzdem aber war diese Gruppe eine der qualifiziertesten und wirkungsvollsten. Im Kreis dieser „Expertinnen“ ist Elisabeth Gnauck-Kühne nicht nur wegen ihres Alters eine Pionierin, sondern wegen ihres bereits kurz skizzierten Werdegangs auch ein „Prototyp“ gewesen.
Frauenbewegung und Wohlfahrtspflege als Forschungskontext Die Arbeit dieser kleinen Gruppe von Forscherinnen fand abseits der Universitäten und institutionalisierten Wissenschaft, jedoch nicht im luftleeren Raum statt, sondern eng verknüpft mit den Zielen der Frauenbewegung sowie der damals im Entstehen befindlichen Wohlfahrtspflege. Die Professionalisierungsbestrebungen der Sozialen Frauenschulen, die Etablierung definierter Berufsbilder für Frauen und die Gründung weiblicher Berufsverbände – all diese Aktivitäten waren eng verbunden mit den Untersuchungen etwa zur Lage der Arbeiterinnen (Lily Braun 1901 und Elisabeth Gnauck-Kühne 1905), der Not der Prostituierten (Anna Pappritz 1903), der ungleichen Entlohnung von Mann und Frau (Alice Salomon 1906) oder dem Schicksal der Kriegswitwen und -waisen (Henriette Fürth 1917). Die gemeinsame Grundlage für die Forschungsaktivitäten einerseits und die Entwicklung von Wohlfahrtspflege andererseits war die Idee, die negativen Folgen von Industrialisierung und Kapitalismus sichtbar zu machen, um dadurch Wege zur Beseitigung von Unrecht und Elend zu eröffnen. Die Ziele, welche die Protagonistinnen dieser Idee verfolgten, wurden damals durchaus auch von einer Reihe von Männern geteilt, die im Rahmen des „Vereins für Socialpolitik“, des „Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit“ oder der „Zentralstelle für Volks-
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wohlfahrt“ tätig waren. Partiell kam es auch zur Zusammenarbeit mit diesen, weil die „Kathedersozialisten“, wie sie damals genannt wurden, ebenfalls auf der Basis von Enqueten und Statistiken die Forderung nach differenzierten sozialen Strukturen und mehr fachlichen Qualifikationen erhoben, um die Folgen von Industrialisierung, Verstädterung und Pauperisierung einzudämmen. „Die Frauen“ haben die männlichen Vertreter dieser Richtung zwar in den Blick genommen, allerdings nur als Opfer der Verhältnisse oder als „Helferin in der Not“. Sie waren weit davon entfernt, die Gleichberechtigung und Emanzipation der Frau als Leitkategorie sozialpolitischen Handelns oder wissenschaftlicher Forschung zu betrachten. Die Forscherinnen, welche die Untersuchungen zu unterschiedlichen weiblichen Problemlagen oder Handlungsmöglichkeiten vorlegten, gehörten weitgehend zur bürgerlichen Frauenbewegung und waren von daher in der Frage der Reichweite weiblicher Gleichberechtigung und Emanzipation durchaus geteilter Meinung. Durch ihre eigenen Untersuchungen sind sie jedoch immer wieder auf die Tatbestände weiblicher Benachteiligung, systematischer Diskriminierung und sozialen Unrechts gestoßen. Diese Tatbestände aufzuzeigen, ihren Ursachen nachzugehen und die Folgen für die weibliche Bevölkerung sichtbar zu machen, hat – der bürgerlichen Provenienz der Forscherinnen zum Trotz – unweigerlich zu einer radikalen Patriarchatskritik geführt. Unbestechlich haben sie „die Statistiken sagen lassen, was ist.“
Probleme der Akzeptanz und Rezeption Eine angemessene Würdigung der damals entstandenen Untersuchungen von Frauen liegt bisher nicht vor. Diese Lücke, die im Hinblick auf die Aufarbeitung der frühen Frauenforschung konstatiert werden muss, ist durch unterschiedliche Ursachen erzeugt: Ein zentrales Problem ihrer Anerkennung resultiert daraus, dass Frauen bis ins 20. Jahrhundert hinein der Zugang zu wissenschaftlicher Bildung versperrt war. Wenige Privilegierte konnten im Ausland, vor allem in der Schweiz, studieren. Fast alle Frauen jedoch, über deren Arbeiten im Folgenden berichtet wird, ist eine akademische Ausbildung im klassischen Sinne versperrt gewesen. Und auch die promovierten Protagonistinnen (z.B. Alice Salomon, Marie Baum und Li Fischer-Eckert) haben wesentliche Teile ihres Wissens, so wie die nichtakademischen Forscherinnen auch, außerhalb der Universitäten erworben: Durch individuelle Lektüre, durch private Förderung von Wissenschaftlern oder durch mehr oder weniger geduldete Teilnahme an akademischen Veranstaltungen. Ihre Forschungen haben deshalb in die wissenschaftlichen Diskurse ihrer Zeit nur teilweise Eingang gefunden und werden auch in der Wissenschaftshistoriografie aufgrund ihres autodidaktischen Ursprungs mehrheitlich für nicht erwähnenswert gehalten. Ein weiteres Problem resultiert aus der interdisziplinären Sicht des Gegenstandsbereichs, welche den Untersuchungen der Forscherinnen zu Grunde gelegen hat. Wir finden in ihren Studien nur in Ausnahmefällen den Blick einer jener Fachdisziplinen, welche damals anerkannt waren und deren Traditionen gepflegt und gewürdigt wurden. Die meisten Arbeiten, die damals von Frauen zu den Auswirkungen sozialer Probleme verfasst wurden, sind an die Nachbardisziplinen wie Nationalökonomie (Volkswirtschaft), Sozialpsychologie oder Soziologie angelehnt, in ihrem Zuschnitt aber interdisziplinär und in ihrer Aussage und ihrem Anliegen anwendungsbezogen. Bei der Beschreibung der frühen Frauenforschung in diesem Bereich stehen wir also vor einem doppelten Problem: Zum einen steckte, wie später noch zu zeigen sein wird, die Empirie in Deutschland noch in den Anfängen und konnte sich nicht als wissenschaftliche Disziplin behaupten. Die empirische Bearbeitung interdisziplinärer Fragstellungen – dazu noch im Bereich von Frauenforschung – fand deshalb trotz der teilweise bemerkenswerten Studien, die daraus hervorgegangen sind, nicht die entsprechende Anerkennung. Zum anderen waren die Frauen, die in diesem Bereich geforscht haben, nur in Ausnahmefällen und auf Ausnahmewegen akademisch ausgebildet und galten deshalb auch nicht als ebenbürtige Mitglieder der „scientific community“.
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Die Suche nach Studien, die entsprechend heutigen Kriterien zur Frauenforschung zu zählen wären, hat eine Reihe ganz unterschiedlicher Arbeiten zutage gefördert, die ich im Folgenden – auf den Zeitraum 1900 bis 1933 beschränkt – vorstellen werde. Die Auswahlkriterien, die ich zu Grunde gelegt habe, sind zum einen ein gewisser Standard an eigenen empirischen Arbeiten (z.T. auch qualitativen Forschungsmethoden) bzw. der wissenschaftlichen Aufarbeitung bereits vorliegenden statistischen Materials. Zum anderen habe ich Studien berücksichtigt, die nach heutigem Verständnis in die Kategorie institutionsanalytischer bzw. organisationssoziologischer Arbeiten gehören. Studien, welche diesen Kriterien entsprochen haben, sind u.a. von Jenny Apolant (18741925), Marie Baum (1874-1964) und Alix Westerkamp (1876-1944), Lily Braun (1865-1916), Li Fischer-Eckert (1882-1942), Henriette Fürth (1861-1938), Elisabeth Gnauck-Kühne (18501917), Anna Pappritz (1861-1939) und Alice Salomon (1872-1948) durchgeführt worden. Dass es sich hierbei nur um eine vermutlich eher zufällige Auswahl handelt, braucht angesichts des höchst defizitären Forschungsstandes in diesem Bereich nicht betont zu werden. Diese Studien bilden aber trotzdem in sinnfälliger Weise Tendenzen ab, welche für die gesamte Entwicklung im Feld sozialer Probleme und sozialer Forschung typisch sind: Die Linie führt von der Bearbeitung der Armutsproblematik unter anfänglich eher soziologischen und volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten und deutlich politischen Akzentuierungen über die Betrachtung unterschiedlicher Problem- und Risikogruppen (Prostituierte, Gefährdete etc.) zu einer mehr an sozialen Problemen und methodischen Interventionsmöglichkeiten orientierten Herangehensweise. Diese Linie bekommt in den ausgewählten Studien einen „frauenspezifischen“ Akzent, indem sie zwar die allgemeinen Trends der damaligen Sozialforschung abbilden, aber die weibliche Betroffenheit von sozialen Problemen in den Mittelpunkt der Fragestellungen rückt. Die Frage nach den weiblichen Spezifika wird noch relevanter, wenn wir uns ansehen, unter welchen Bedingungen Frauen die aktuellen Probleme ihrer Zeit aufgriffen und in welcher Weise sie die Ergebnisse ihrer Arbeiten in den Kontext der geschlechtsspezifisch segregierten gesellschaftlichen Verhältnisse einordneten. Es ist am Anfang dieses Beitrags bereits betont worden, dass die Autorinnen der Studien eine Reihe von Gemeinsamkeiten aufweisen, welche sich auf ihre Verankerung in der Frauenbewegung, ihre weitgehend autodidaktisch erworbenen Qualifikationen und ihren marginalen Status im Wissenschaftssystem beziehen: Keine von ihnen hat es zu den „akademischen Würden“ einer Professur gebracht, es sei denn als Dozentin an einer der Frauenschulen. Ihre Arbeiten sind z.T. von männlichen Wissenschaftlern angeregt und unterstützt worden, aber sie sind dennoch durchgehend am Rande, wenn nicht gar gegen den damals vorherrschenden „Wissenschaftsbetrieb“ entstanden.
Themen und Ergebnisse Mit schlichten Worten erläutert die bereits vorgestellte Pionierin Elisabeth Gnauck-Kühne ihren Arbeitsansatz zur Erforschung der Arbeiterinnenfrage: „Wenn wir uns über die Lebensverhältnisse der Arbeiterinnen ernstlich unterrichten wollen, so tun wir gut, uns an eine Wissenschaft zu wenden, die sie zahlenmäßig zu erfassen sich bemüht, an die Statistik. Diese Wissenschaft, ein junger Sproß am alten Baum gelehrter Forschung, ist eine bedeutsame Hilfe beim Studium der Volkswirtschaft, sie gibt uns Tatsachen, sie sagt uns, was ist.“ (Gnauck-Kühne 1905: 13)
Aus ihren, wie auch aus den Aussagen ihrer Kolleginnen, geht klar hervor, dass sie sich nicht nur mit den Ämtern für Statistik auf der Reichsebene wie auf kommunaler Ebene bestens auskennen und souverän mit deren Ergebnissen zu arbeiten verstehen, sondern dass diese Ämter auch die Materialien der Frauenforschung benutzt und in ihre Übersichten integriert haben. Die Danksagungen und Widmungen auf den ersten Seiten der Veröffentlichungen von Henriette
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Fürth etwa zeugen von einem persönlichen und kollegialen Umgang mit dem „Geh. Medizinrat Prof. Dr. Neisser, Herrn Regierungsrat Dr. Burgsdörfer vom Reichsstatistischen Amt und dem Leiter des Statistischen Amtes der Stadt Frankfurt, Herrn Dir. Dr. Busch“ (Fürth 1925: VII) – keine Selbstverständlichkeit für eine Mutter von sieben Kindern, die ihre formale Ausbildung mit dem 8. Schuljahr abgeschlossen hat. Für ihre Arbeiten nutzen die Autorinnen also die offiziellen Statistiken und fügen selbst Datenmaterial hinzu, wo es fehlt. Elisabeth Gnauck-Kühne stellt z.B. bei ihrer Analyse der Berufszählungen von 1882 und 1885 fest, „daß die Arbeit der fleißigen Hausfrau keine Stelle darin gefunden hat“ (1905: 14). Sie erläutert ihren Leserinnen, warum die Herren Statistiker produktive und reproduktive Arbeit unterscheiden und nur die erstere bei ihrer Zählung gelten lassen. Sie selbst aber bezieht die Hausarbeit bei ihren statistischen Darstellungen sehr wohl mit ein, anders als ihre beiden sozialdemokratischen Kolleginnen, Lily Braun und Henriette Fürth, die aus ihrem politischen Verständnis heraus die Hausarbeit nur als Relikt überkommener Verhältnisse sehen und deshalb auch statistisch ausblenden. Das Hauptaugenmerk der Arbeiten von Braun und Fürth richtet sich auf die Arbeitsbedingungen und die Entlohnung von Frauen im Erwerbsleben: „Alle Industriezweige fast, in denen Frauen beschäftigt sind, bringen besondere Gefahren für Leben und Gesundheit mit sich. Werfen wir zunächst einen Blick auf die Textilindustrie und treten wir in eine Spinnerei: (...) Mit Händen und Vorderarmen arbeitet die Spinnerin in der unreinen, klebrigen Flüssigkeit; eiternde Geschwüre an Händen und Armen und schwere Augenentzündungen stellen sich infolgedessen ein. Mit bloßen Füßen steht sie auf dauernd nassem Boden, ungenügend bekleidet vertauscht sie dann den Aufenthalt im glühenden Arbeitsraum womöglich mit der Winterkälte draußen.“ (Braun 1901: 312)
Sie arbeitet jedoch keineswegs nur mit mitleidserregenden Schilderungen dieser Art, die allerdings, wie wir aus der Rezeptionsgeschichte ihres Buches wissen, ihre Wirkung nicht verfehlten, sondern sie legt gleichzeitig, ebenso wie Henriette Fürth in ihrer Untersuchung über „Die deutschen Frauen im Kriege“ (1917) eine Unmenge von Datenmaterial vor, das ihre Anklage, die sie bezüglich der Missachtung der „Frauenfrage“ erhebt, untermauert. Die Armut und Unterdrückung der Frau ist – wie schon anfänglich erwähnt – das durchgehende Thema dieser Studien. Dabei gibt es nicht nur Unterschiede in der Bewertung der Hausund der Erwerbsarbeit, sondern auch Differenzen in der Radikalität der daraus abgeleiteten Forderungen. Die gemeinsame Anklage aufgrund der weiblichen Mitbetroffenheit wirkt sich aber im Ganzen wesentlich stärker aus als die „Klassenschranken“. So beklagt die Katholikin Gnauck-Kühne, die als Vertreterin des konservativen Flügels der Frauenbewegung gilt, nicht nur die Ausbeutungsverhältnisse im Kapitalismus, sondern auch die patriarchalen Ungleichheiten in den Auswirkungen dieser Verhältnisse: „Das Angebot der Hände ist größer als die Nachfrage. So kann der Unternehmer den Preis drücken. Eine Frau unterbietet die andere, eine wird die Schmutzkonkurrentin der anderen. Und alle sind sie die Schmutzkonkurrentinnen der Männer, indem sie sie unterbieten.“ (Gnauck-Kühne 1905: 29)
Und sie fährt an anderer Stelle fort: „Wählen darf die Frau nicht. Vom Gewerbegericht hört sie ganz zufällig ... Von Politik, auch von Sozialpolitik, die sie direkt angeht, darf sie nichts verstehen. So schickt es sich. Verlangt sie nach mehr, ist’s ‚Ungebühr‘, ‚Unweiblichkeit‘, ‚Emanzipation‘. Sie hat sich abzurackern und zu schweigen. Sie soll nur Hand sein. Alles andere ist Nebensache.“ (ebd.: 39)
Gleichermaßen eindringlich bettet Anna Pappritz ihr Datenmaterial über die Ursachen der Prostitution in die Schilderungen des Elends ein. „Aus Danzig wird beispielsweise angegeben, daß Näherinnen bei voller Beschäftigung 1 Mk. pro Tag verdienen. Für Wohnung und Essen brauchen sie aber 26 Mk. monatlich (...) Wenn man bedenkt, daß der preußische Militärfiskus für die Ernährung eines Mannes täglich 1 Mk. veranschlagt (...), so kann man wohl berechnen, daß eine Arbeiterin bei so niedrigem Jahreseinkommen sich nur von Brot, Kaffee
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und Kartoffeln ernährt. Neben der gesundheitlichen Schädigung liegen die sittlichen Gefahren dieses Notzustandes auf der Hand. Wie sollen diese Mädchen leben, wenn sie nicht ihre Zuflucht zu dem schmachvollen und traurigen Nebenerwerb der Prostitution nehmen?“ (Pappritz 1903: 9f.)
Um Missverständnissen vorzubeugen, sei hervorgehoben, dass es sich bei dem emotionalen, betont moralisch wirkenden Ton der Darstellungen nicht um ein Geschlechtsspezifikum handelt, sondern um ein Phänomen der Zeit. Die Darstellungen etwa von Othmar Spann (vgl. 1905) oder Christian Jasper Klumker (vgl. 1926) zur Frage der Nichtehelichenfürsorge oder Gefährdetenfürsorge klingen in keiner Weise anders. Sie sind allesamt der Versuch, einer saturierten Bürgerschicht in krassen Worten und eindeutigen Zahlen das Elend nahe zu bringen. Die 1882 geborene „Staatswissenschaftlerin“ Li Fischer-Eckert promovierte bei Robert Wilbrandt in Tübingen mit einer empirischen Arbeit „Über die wirtschaftliche und soziale Lage der Frauen in dem modernen Industriestandort Hamborn im Rheinland“. Ihre Feldforschung, der fast 500 persönlich durchgeführte Befragungen mit einem 32 Fragen umfassenden Bogen zu Grunde lagen, liefert ein überaus differenziertes und anschauliches Bild der unterschiedlichen Problemlagen der weiblichen Bevölkerung zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einem Industriegebiet. „Zieht man das geringe Verständnis in Frage, das heute noch in weiten Kreisen statistischen Aufnahmen entgegengebracht wird, bedenkt man ferner, dass meine Fragen sich ziemlich tief in das persönliche Leben der einzelnen Familien hineinwagten, so wird man an dem Resultat der Fragebogen wohl am besten das Entgegenkommen der Bevölkerung ermessen können. Es ist ja begreiflich, dass manche Tür sich nur widerwillig dem Eindringling öffnete, aber Vertrauen erweckt Vertrauen, und so gelang es mir oft, einen Stuhl herbeizuziehen und mich zu einem Plauderstündchen häuslich niederzulassen.“ (Fischer-Eckert 1986: 4f.)
Gleichermaßen engagiert stellen sich die Studien dar, die – wie wir heute sagen würden – institutionsanalytisch die Strukturen und Maßnahmen untersuchen, die zum Abbau von Elend und Unterdrückung der Frauen entstanden. Hierbei beziehe ich mich exemplarisch auf die Arbeiten von Jenny Apolant (1913) und Anna Pappritz (1924). In ihrem Vorwort betont Apolant, wie erfolgreich die Mitwirkung der Frauen auf den verschiedensten Gebieten der kommunalen Wohlfahrtspflege und in den Gemeinden seit dem Jahre 1895 angewachsen sei, und nimmt diesen Umstand zum Anlass, im Jahre 1913 einen Überblick über diese Entwicklung zu geben: „Um ein möglichst lückenloses Bild der kommunalen Frauenarbeit zu erhalten, wurden eingehende Fragebögen an sämtliche Stadt- und Landgemeinden Deutschlands mit über 6000 Einwohnern versandt. Von den ca. 1050 ausgesandten Bogen waren bei der Drucklegung dieser Schrift 814 beantwortet eingelaufen (...). Möge es dieser kleinen Schrift gelingen, der kommunalen Frauenarbeit immer neue Freunde zu gewinnen – vor allem in den gesetzgebenden Körperschaften, in den Verwaltungen der Stadt- und Landgemeinden.“ (Apolant 1913: 1)
Im Jahre 1913 kämpft die deutsche Frauenbewegung bereits im zweiten Jahrzehnt vergeblich um das Stimmrecht und die kommunale Mitarbeit der Frau ist der Fuß in der Tür, die zur politischen Gleichstellung der Bürgerinnen aufgestoßen werden soll. In der sehr unfangreichen „kleinen Schrift“ von Apolant werden minuziös die Fort- und Rückschritte in den verschiedenen Ämtern und Kommissionen beschrieben und durchgehend im regionalen Vergleich bewertet. So wird z.B. der badischen Regierung volles Lob zuteil, weil sie im Jahre 1910 die obligatorische Zuziehung von Frauen zu einer Reihe städtischer Kommissionen beschlossen hat, während andere Entscheidungsträger aufgrund ihres Zauderns „leider“ getadelt werden müssen (vgl. ebd.: 2). Ähnlich verfährt Anna Pappritz (1924) in ihrem Handbuch der amtlichen Gefährdetenfürsorge. Sie beginnt ihre Ausführungen mit der Feststellung: „Die amtliche Gefährdetenfürsorge, die in 61 deutschen Städten ausgeübt wird, hat sich in den letzten 20 Jahren aus kleinen Anfängen heraus entwickelt, bis sie zu einem maßgebenden Faktor der Wohlfahrtspflege geworden ist. An den betreffenden Stellen hat sich ein reichhaltiges Material gesammelt, das aber niemals gesichtet, bearbeitet und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde.“ (Pappritz 1924: 1)
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Diese Arbeit hat sich Anna Pappritz aufgebürdet und schafft es, aus dem trockenen Datenmaterial ein Feuerwerk von Argumenten und Forderungen hervorzuzaubern, weil sie die Daten zu deuten versteht und mit der durch die Statistiken repräsentierten Wirklichkeit vertraut ist. Wissenschaft, Praxis und Politik sind bei ihr, ebenso wie bei der Mehrzahl ihrer Kolleginnen, keine getrennten Welten, sondern eine der Leitkategorie „soziale Verantwortung“ untergeordnete Einheit. Es lohnt sich, einen abschließenden Blick auf eine Studie zu werfen, die 1931 erschien und einem ganz anderen Duktus in der Sprache und in dem Verständnis des Gegenstands folgt, nämlich auf die Arbeit von Marie Baum und Alix Westerkamp über den „Rhythmus des Familienlebens“. Diese Studie ist unserem Verständnis nach eine „moderne“ Arbeit: Anstatt an die Gesetzgeber richtet sie sich an ein weibliches Fachpublikum und greift mehr individuelle Probleme als strukturelle auf, ohne jedoch den gesellschaftlichen Hintergrund der Fragestellungen zu vernachlässigen. Marie Baum und Alix Westerkamp untersuchten das täglich von einer Familie zu leistende Arbeitspensum. Ihre Studie gehört zu der von Alice Salomon initiierten Forschungsreihe über „Bestand und Erschütterung der Familie in der Gegenwart“, die in Reaktion auf die gravierenden familiären Probleme der Nachkriegszeit durchgeführt wurde. Für ihre Bestandsaufnahme haben Baum und Westerkamp mit einem hoch elaborierten Erhebungsbogen den Tagesablauf von 38 Familien untersucht und dabei die Mütter aktiv in das Verfahren einbezogen. Ihre Ergebnisse verweisen nicht nur auf den existentiellen Stellenwert der Familie für die Sozialisation der Kinder und die Stabilisierung des Ehemanns, sondern auch – und vor allem – auf die komplexen Anforderungen, die sich an die Familienmütter richten. Nicht nur die in den 1970er Jahren entwickelte These der Doppelbelastung der Frau, sondern auch die aktivierende Methode der Handlungsforschung ist damit von ihnen in differenzierter Weise vorweggenommen worden.
Folgerungen und Forschungsdesiderate Auch wenn es angesichts der Bemühungen und Verdienste der frühen Frauenforscherinnen so aussieht, als seien sie von der Gruppe eher randständiger engagierter Sozialwissenschaftler ihrer Zeit anerkannt und gefördert worden, so darf doch nicht aus dem Blick geraten, dass die dadurch zustande gekommene Kooperation keineswegs eine egalitäre war. Die Frauenforscherinnen wurden nur so lange akzeptiert und gefördert, wie sie ihre männlichen Kollegen als Lehrer und Mentoren betrachteten, sich selbst aber bestenfalls als dankbare und gelehrige Schülerinnen. Niemals wäre es den Herren Professoren in den Sinn gekommen, ihre eigenen Arbeiten mit denen der Frauen zu vergleichen oder sie gar ihren eigenen Vorhaben gleichzustellen, obwohl schon der kleine Ausschnitt der hier vorgestellten Studien dies durchaus nahe gelegt hätte. Nicht nur der Umstand, dass wir heute noch Mühe haben, die Autorinnen und ihre Arbeiten aus den Jahren 1900 bis 1933 ausfindig zu machen (während die Arbeiten von Weber, Tönnies und Sombart in jeder Bibliothek stehen) zeigt, dass der „kleine Unterschied“ auch in der Geschichte der Sozialforschung große Folgen gezeitigt hat. Denn auch die „neueren“ Untersuchungen – z.B. die Arbeiten von Oberschall und Schad, welche die Forscherinnen mit keinem Wort erwähnen – verweisen durch ihre entsprechenden Lücken auf die Unterdrückungsgeschichte weiblicher Wissenschaft. Selbst die feministische Forschung, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, den „Schwestern von gestern“ nachzuspüren und diese in angemessener Weise zu würdigen, hat deren wissenschaftliche Arbeiten bisher weitgehend ausgespart. Verweis: Geschichte
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Literatur Apolant, Jenny 1913: Stellung und Mitarbeit der Frau in der Gemeinde. Nach dem Material der Zentralstelle für Gemeindeämter der Frau in Frankfurt a.M. bearbeitet. Berlin: BG Teubner Baron, Rüdiger/Rolf Landwehr (Hrsg.) 1983: Alice Salomon – Charakter ist Schicksal. Lebenserinnerungen. Weinheim: Beltz Baum, Marie 1929: Über das wissenschaftliche Fundament der Wohlfahrtspflege. In: Soziales Institut des Vereins Jugendheim e.V. Nr. 1. Berlin-Charlottenburg Baum, Marie/Alix Westerkamp 1931: Rhythmus des Familienlebens. Das von einer Familie täglich zu leistende Arbeitspensum. Berlin: Herbig Braun, Lily 1901: Die Frauenfrage. Ihre geschichtliche Entwicklung und ihre wirtschaftliche Seite. Leipzig: S. Hirzel Verlag Eggemann Maike/Sabine Hering 1999: Wegbereiterinnen der modernen Sozialarbeit. Texte und Biographien zur Entwicklung der Wohlfahrtspflege. Weinheim, München: Juventa Fischer-Eckert, Li 1986: Die wirtschaftliche und soziale Lage der Frauen im modernen Industrieort Hamborn im Rheinland (neu herausgegeben und eingeleitet von Elisabeth und Ludger Heid). Duisburg: Walter Braun Verlag (Das Original erschien in Hagen 1913) 75 Jahre Deutscher Verein 1955. Beiträge zur Entwicklung der Fürsorge. Schriften des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge. Köln/Berlin Fürth, Henriette 1917: Die deutschen Frauen im Kriege. Tübingen: Mohr Gnauck-Kühne, Elisabeth 1907: Die deutsche Frau um die Jahrhundertwende. Statistische Studie zur Frauenfrage. Berlin: Liebmann Gnauck-Kühne, Elisabeth 1905: Einführung in die Arbeiterinnenfrage. Mönchengladbach: Volksvereins Verlag Gnauck-Kühne Elisabeth 1921: Das soziale Gemeinschaftsleben im Deutschen Reich. Leitfaden der Wirtschafts- und Bürgerkunde für höhere Schulen, Kurse und zum Selbstunterricht. Mönchengladbach: Volksvereins Verlag Hering, Sabine 1999: Die Anfänge der Frauenforschung in der Sozialpädagogik. In: Friebertshäuser, Barbara/Gisela Jacobs/Renate Klees-Möller (Hrsg.): Die Sozialpädagogik im Blick der Frauenforschung. Weinheim: Beltz Deutscher Studien Verlag, S. 31-43 Hering, Sabine 2003: Die Zentralstelle für Volkswohlfahrt. Zur staatliche Organisation der Sozialen Arbeit in Preußen, in: Soziale Arbeit Hering, Sabine/Richard Münchmeier 2001: Die Geschichte der Sozialen Arbeit. Eine Einführung. Weinheim, München: Juventa Hering, Sabine/Berteke Waaldijk (Hrsg.) 2002: Die Geschichte der sozialen Arbeit in Europa 1900-1960. Wichtige Pionierinnen und ihr Einfluss auf die Entwicklung internationaler Organisationen. Opladen: Leske + Budrich Hering, Sabine/Cornelia Wenzel 2002: Frauenbewegung und soziale Praxis. Eine Zeitschriftenbibliographie 1892-1944. Kommentierung und Biographien. Kassel: Schriftenreihe des Archivs der deutschen Frauenbewegung Band 13 (CD) Klumker, Christian Jasper 1926: Der Unehelichenschutz im Deutschen Reich. Ein Beitrag zur Geschichte der Berufsvormundschaft und zur Neuregelung des Unehelichenrechts. Tübingen: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik Band 55 Klumker, Christian Jasper/Othmar Spann 1905: Die Bedeutung der Berufsvormundschaft für den Schutz der unehelichen Kinder. Dresden: Duncker & Humblot Kuhlmann, Carola 2000: Alice Salomon. Ihr Beitrag zur Entwicklung der Theorie und Praxis Sozialer Arbeit. Weinheim u.a. Beltz, Deutscher Studien Verlag Michels, Robert 1911: Die Grenzen der Geschlechtsmoral. Prolegomena, Gedanken und Untersuchungen. München: Frauenverlag Muthesius, Hans (Hrsg.) 1958: Alice Salomon, die Begründerin des sozialen Frauenberufs in Deutschland. Köln: Eigenverlag Oberschall, Anthony 1965: Empirical Social Research in Germany 1848-1914. Paris: The Hague Pappritz, Anna 1903: Die wirtschaftlichen Ursachen der Prostitution. Berlin: Walter Pappritz, Anna 1924: Handbuch der amtlichen Gefährdetenfürsorge. Auf Grund amtlichen Materials zusammengestellt und bearbeitet. München: Bergmann
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Sachße, Christoph 1994: Mütterlichkeit als Beruf. Sozialarbeit, Sozialreform und Frauenbewegung 18711929. Opladen: Westdeutscher Verlag Sachße, Christoph/Florian Tennstedt 1988: Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland. Stuttgart: Kohlhammer Salomon, Alice 1906: Die Ursachen der ungleichen Entlohnung von Männer- und Frauenarbeit. Leipzig: Duncker & Humblot (Heft 122 der von Gustav Schmoller und Max Sering herausgegebenen „Staatsund sozialwissenschaftlichen Forschungen“) Salomon, Alice 1927: Die Ausbildung zum sozialen Beruf. Berlin: Heymanns Salomon, Alice 1929: Die deutsche Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit im Gesamtaufbau des deutschen Bildungswesens. Berlin: Heymanns Salomon, Alice 1937: Education for Social Work. A Sociological Interpretation based on an International Survey. Zürich/Leipzig: Verlag für Recht und Gesellschaft Schad, Susanne Petra 1972: Empirical Social Research in Weimar-Germany. Paris: The Hague Spann, Othmar 1905: Untersuchungen über die uneheliche Bevölkerung in Frankfurt am Main. Dresden: Böhmert Sombart, Werner 1906: Das Proletariat. Frankfurt/M.: Rütten & Loening Tönnies, Ferdinand, 1930: Uneheliche und verwaiste Verbrecher. Studie über Verbrechertum in SchleswigHolstein. Leipzig: Wiegandt Weber, Max 1894: Die Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland. Tübingen: Mohr Wilbrandt, Robert 1906: Die Frauenarbeit. Ein Problem des Kapitalismus. Leipzig: Teubner Wilbrandt, Robert 1924: Die moderne Industriegesellschaft. Eine Einführung in die Grundfragen der Sozialreform. Stuttgart: E.H. Moritz-Verlag
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Parteilichkeit und Betroffenheit: Frauenforschung als politische Praxis
1978, in einer Zeit des Aufbegehrens gegen asymmetrische Verhältnisse auf allen gesellschaftlichen Ebenen; gegen den Kolonialismus, gegen die Unterdrückung und beständige Abwertung von Frauen – und gegen das Webersche Postulat der Wertfreiheit der Wissenschaft, formulierte Maria Mies, eine inzwischen emeritierte Professorin für Soziologie der Kölner Fachhochschule, methodische Postulate zur Frauenforschung. Sie gelten, wie Andrea Baier (1996: 142) schreibt, als unbestrittener Ausgangspunkt für die bundesdeutsche Auseinandersetzung um Methoden und Methodologie in der Frauenforschung und lauten wie folgt: 1. Das Postulat der Wertfreiheit, der Neutralität und Indifferenz gegenüber den Forschungsobjekten ist durch bewusste Parteilichkeit zu ersetzen. 2. Die vertikale Beziehung zwischen Forschern und Erforschten ist durch die gemeinsame „Sicht von unten“ auszutauschen. 3. Die kontemplative, uninvolvierte „Zuschauerforschung“ ist in die Forschungsmethode der aktiven Teilnahme an emanzipatorischen Aktionen zu transformieren. 4. Die Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse wird zum Ausgangspunkt wissenschaftlicher Erkenntnis. 5. Die Wahl des Forschungsgegenstands wird abhängig gemacht von den allgemeinen Zielen sowie den strategischen und taktischen Erfordernissen der Frauenbewegung. 6. Der Forschungsprozess wird zu einem Bewusstwerdungsprozess für die bisherigen „Subjekte“ wie auch „Objekte“ der Forschung. 7. Orte der Entwicklung einer feministischen Gesellschaftstheorie sind nicht die Forschungsinstitute, sondern die Aktionen und Kämpfe der Bewegung sowie die theoretische Auseinandersetzung über deren Ziele und Strategien. (vgl. Mies 1978) Ausgangspunkt der Postulate von Maria Mies waren ihre Erfahrungen mit der quantitativ orientierten empirischen Sozialforschung während ihrer Forschungstätigkeit in Indien, in der sich „die durch Kolonialismus und Neokolonialismus auf der einen und Ethnozentrismus auf der anderen Seite gekennzeichnete Forschungssituation als eindeutige Herrschaftssituation“ erwies (Mies 1984a: 7). Als ebenfalls erkenntnisgerierend sieht Maria Mies ihre eigene Beteiligung an sozialen Bewegungen, die Herrschaftsverhältnisse in den Blick nehmen und zu transformieren suchen. Die Soziologin folgt hier dem Maoschen erkenntnistheoretischen Paradigma, dass man das Wesen eines Phänomens nur erkennt, wenn und indem man es verändert. „Während meiner Teilnahme an der Aktion zur Erkämpfung eines Hauses für mißhandelte Frauen in Köln gingen mir eine Reihe methodologischer Lichter auf. Ich begriff vor allem, daß ,Kulturen des Schweigens‘ (Paolo Freire), zu denen neben ,unterentwickelten‘ Bauern auch die Frauen der ganzen Welt gehören, nicht zunächst durch Diskurse aufgebrochen werden können, sondern daß erste elementare Veränderungen der Situation geschaffen werden müssen, um überhaupt ein Sprechen über die Situation und Dialoge zu ermöglichen.“ (Mies 1984a: 9)
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Teilnahme an den diversen Kämpfen um Befreiung, das bedeutet für Maria Mies, das theoretische Potenzial der Bewegungsakteure entwickeln zu helfen und die Borniertheit des WissenschaftlerInnenstatus aufzugeben; kurz: „sister sociologists“ zu sein (Mies 1984a: 13). Der Anspruch besteht darin, eine verobjektivierte und verobjektivierende, asymmetrische Forschungsrelation in eine Subjekt-Subjekt-Beziehung zu transformieren, also zugleich Forschende und Betroffene zu sein. Aus dem, was Mies als „doppelte Bewusstseins- und Seinslage“ bezeichnet, leitet sie spezifische Konsequenzen ab: Die eigene Betroffenheit – aus positivistischer Sicht ein Hindernis für Erkenntnis – wird bewusst in den Forschungsprozess einbezogen. Und nicht nur das: Sie soll die Methode selbst revolutionieren und zum Ausgangspunkt für die Suche nach neuen Einsichten machen. Die „innere Sicht der Unterdrückten“, wie June Nash sie nannte, ermöglicht, so auch die These von Claudia von Werlhof (1984: 27ff.), die „eigentliche Wahrheit“ über die Gesellschaft zu erkennen. Dabei ging es zunächst darum, tabuisierte gesellschaftliche Probleme überhaupt sichtbar zu machen. Im Gegensatz zu heute, wo z.B. das Themenfeld „Gewalt gegen Frauen“ durch jahrzehntelange Aktivitäten der Frauenbewegung eine gewisse diskursive Macht erlangt hat, unterlag es in den siebziger Jahren einer kompletten Tabuisierung. Der Versuch, gegen Frauen gerichtete „Alltagsgewalt“ im Kontext kommunaler Aufgabengebiete zu positionieren, stieß auf völliges Unverständnis. Ziel der feministischen Aktivitäten war also zunächst, das Problem sichtbar zu machen, es zu kommunizieren und damit in der öffentlichen Wahrnehmung erst zu „schaffen“. In diesem Sinne sind die Postulate zur Frauenforschung eindeutig politische Positionierungen. Maria Mies ging es sowohl darum, soziale Realitäten von Frauen und Geschlechterverhältnissen sichtbar und damit veränderbar zu machen als auch darum, sie in einem nicht nur gesamtgesellschaftlichen, sondern auch weltgesellschaftlichen Kontext zu reflektieren (Werlhof/ Mies/Bennholdt-Thomsen 1983). Erkenntnisse über koloniale Herrschaftsverhältnisse für die feministische Forschung und Praxis fruchtbar gemacht zu haben und umgekehrt antikoloniale und linke Bewegungen mit den Erkenntnissen feministischer Forschung zu konfrontieren, darin liegt das womöglich größte Verdienst von Maria Mies, die gemeinsam mit Claudia von Werlhof und Veronika Bennholdt-Thomsen den makrotheoretisch ansetzenden Subsistenzansatz entwickelte. Dieser Ansatz öffnete mit seinem spezifischen methodologischen Bezug das Feld für eine internationale Perspektive der feministischen Forschung, die die Bewohnerin des Kölner Frauenhauses ebenso in den Blick nimmt wie die venezolanische Bäuerin oder die indische Heimarbeiterin. Ziemlich schnell zeigte sich, dass die inhaltlichen und forschungspolitischen Implikationen der Postulate, die eine Fülle von Forschungen inspirierten, gleichwohl nicht von allen Feministinnen geteilt wurden. Repräsentativ für seine breite und kritische Rezeption soll hier auf die Anmerkungen von Christina Thürmer-Rohr verwiesen sein. Die Berliner Professorin stellt in ihrem 1984 veröffentlichten Aufsatz „Der Chor der Opfer ist verstummt“ die grundsätzliche Frage, ob der geschichtsoptimistische Ansatz, Betroffenheit zwischen Frauen aus unterschiedlichen Kulturen und sozialen Klassen herzustellen, generalisierbar sei. Dabei geht es Thürmer-Rohr insbesondere um eine Kritik an den Kategorien „Gemeinsamkeit“, „Betroffenheit“ oder „Frauenleben“ für eine systematische Frauenforschung: „Daß alle Frauen unterdrückt und ausgebeutet sind, ist ... eine so allgemeine Erkenntnis, daß sie sich nicht als tauglich erweist, um als Klammer, als Brücke in der Interaktion von Frauen, auch nicht der wissenschaftlichen Interaktion, zu dienen. ... je individueller und konkreter diese Interaktion wird ..., desto deutlicher wird, daß eine allgemeine politisch-moralische Position sich nicht einfach in die persönliche wissenschaftliche Interaktion zwischen spezifischen untersuchenden und spezifischen untersuchten Frauen hineinverlagern läßt.“ (Thürmer-Rohr 1984: 73)
Ihre Erfahrungen mit der Anwendung der Postulate in der empirischen Frauenforschung haben Thürmer-Rohr vielmehr zu der Erkenntnis gebracht, dass sich die von Gewalt betroffenen Frauen häufig nur „... schwerfällig und nur höflich für die eigene und kollektive Frauengeschichte (interessieren). Ihre bedrängende Gegenwart und ihre unsichere Zukunft, die Regelung der Sozi-
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alhilfe, die Wohnungssuche, die Krankheit, der neue Freund oder das neue Alleinleben sind mit viel intensiveren Interessen besetzt“ (Thürmer-Rohr 1984: 74). Christina Thürmer-Rohr nahm einen Teil der Kritik, der spätestens Anfang der neunziger Jahre einen radikalen Wandel in den Postulaten feministischer Wissenschaft einleitete, früh vorweg. Zum einen ermöglichte die Rezeption von Foucault (1983) die entscheidende Erkenntnis, dass Macht sich nicht als eindimensionales Herrschaftsverhältnis entfaltet, sondern als Matrix, als allgegenwärtige Verflechtung, die die Akteure als zugleich Herrschende und Beherrschte formt. Das bedeutet, Frauen erleiden nicht nur Frauenunterdrückung und Frauenverachtung samt ihrer symbolischen Repräsentationen, sie produzieren sie auch mit. Zum anderen eröffnete das Theorem des Dekonstruktivismus, das die feministischen Diskurse zunehmend eroberte, in der Folge neue Denkansätze. Die ehemals durch Eindeutigkeiten charakterisierte Semantik der Frauenbewegung und -forschung differenzierte sich aus. Unter der diskursiven Ägide der sozialen Konstruktion von Geschlecht war jedoch plötzlich nicht mehr klar, ob es überhaupt noch möglich ist, Frauen als soziale Gruppe in den Blick zu nehmen und eine Politik in ihrem Namen zu formulieren. Partei ergreifen – für wen? Befreiung – wovon? Der im Spannungsverhältnis von Differenz und Gleichheit entwickelte Begriff von Geschlecht, der der Neuen Frauenbewegung und -forschung jahrzehntelang zugrunde lag, galt nun als historisch überholt.
Ausblick Der Dekonstruktivismus dominierte die Diskurse der 1990er Jahre. Heute steht er selbst in der Kritik. Die Rede ist von einer „aktuellen Erschöpfung hinsichtlich der expliziten Rhetorik der postmodernen Debatten“ (Marcus, zit. in Knoblauch 2000: 631), die in eine „... zuweilen paralysierende Form des Relativismus und zu einer geradezu wissenschaftsfeindlichen Furcht vor analytischen Unterscheidungen und logischen Argumenten führe“ (ebd.). Hinzu kommt, dass der akademische Diskurs um die Dekonstruktion der Kategorie Geschlecht für Frauen und Frauenbewegungen im globalen Kontext faktisch ohne Relevanz blieb. Maria Mies hingegen ist bis heute ein „activist scholar“. Der Kampf gegen die Privatisierung öffentlicher Güter hat sie zu einer weltweit vernetzten Aktivistin gegen die ökonomische Globalisierung gemacht, deren Auswirkungen insbesondere auf den Großteil der Armen weltweit – die Frauen – zeigen, wie dringlich eine Indienstnahme der Wissenschaft für die Veränderung sozialökonomischer und ökologischer Realitäten nach wie vor ist (vgl. z.B. Bourdieu/Wacquant 1996: 230ff.). Erforderlich ist heute, die identitätskritischen Ansätze, wie sie beispielsweise in postkolonialen Diskursen (z.B. Hall 1994) entwickelt wurden, also die auf Differenz und auf Vielfalt beruhenden Stränge emanzipativen Denkens, weiterhin für neue Perspektiven einer politisch engagierten Frauenforschung fruchtbar zu machen. Verweise: Arbeit Globalisierung Postkolonialismus Praxisforschung, wissenschafliche Begleitung, Evaluation Subsistenzansatz
Literatur Baier, Andrea (Hrsg.) (1996): Lesebuch Frauenstudien. Grundlagentexte der Frauenforschung. Oberstufenkolleg der Universität Bielefeld Bourdieu, Pierre/Loic J.D. Wacquant 1996: Reflexive Anthropologie. Frankfurt/M.: Suhrkamp Flick, Uwe/Ernst von Kardoff/Ines Steinke (Hrsg.) 2000: Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Reinbek: Rowohlt Foucault, Michel 1983: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. Frankfurt/M.: Suhrkamp
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Maria Bitzan
Praxisforschung, wissenschaftliche Begleitung, Evaluation: Erkenntnis als Koproduktion
Der vorliegende Beitrag nimmt einen Bereich der sozialwissenschaftlichen Forschung in den Blick, der wohl die älteste Praxis feministischer Forschung betrifft, der aber in der Forschungs(methoden)literatur ein eher nebensächliches Dasein fristet – weder wird in den wenigen Veröffentlichungen zur Praxisforschung diese unter Geschlechterperspektive reflektiert, noch findet diese sich in der Methodenliteratur zur Frauenforschung (von wenigen Ausnahmen abgesehen, bspw. Tübinger Institut für frauenpolitische Sozialforschung 1998). Die hier eher thesenartig skizzierten Überlegungen zu einer Herangehensweise, die eine interaktive, anerkennende und aufdeckende Forschung als adäquate Praxisforschung im Geschlechterverhältnis favorisiert, werden eingeleitet mit Ausführungen zu den Entwicklungen, die eine doppelte Randständigkeit geschlechterbezogener Praxisforschung verzeichnen. Aktuelle Praxisforschung als Gratwanderung zwischen Erkenntnis und Legitimation wird sodann skizziert, um im dritten Punkt das Verhältnis von Praxis und Forschung und im vierten beider Verhältnis zur Theorie zu beleuchten. Abschließend soll unter dem Stichwort der Konfliktorientierung der politische Gehalt belebt werden als „Weg zu Genauigkeit“.
Entwicklungsstränge Wissenschaftliche Begleitforschungen beziehen sich in der Regel auf eine professionelle Praxis, beispielsweise auf Förderprogramme von Regierungen, auf Modellversuche und -projekte, auf innovative Praxisansätze oder Fragen der Übertragung in Regelangebote. Dabei soll die Begleitforschung Informationen hervorbringen, die dazu geeignet sind, Hilfestellungen für Übertragungen, Entscheidungen hinsichtlich der Fortsetzung von Programmen oder Ansatzpunkte für Verbesserungen in der Praxis zu befördern. Evaluationsforschung, die häufig „eher unter Begriffen wie Begleitforschung, Praxisforschung (...) oder auch Qualitätsentwicklung (...) (firmiert)“ (Kraus 1995: 412), zielt in der neueren qualitativen Variante ebenfalls auf Erkenntnisse zur Optimierung der Praxis (vgl. die Standards der Deutschen Gesellschaft für Evaluation). Eines der häufigsten Anwendungsfelder ist die Praxis in der Sozialen Arbeit (zur sozialpädagogischen Praxisforschung vgl. Heiner 1988, Moser 1995, Schone 1995, Munsch 2002, Projekt eXe 2006). Heiner weist darauf hin, dass „evaluieren ganz allgemein auswerten, bewerten und damit zugleich auch empfehlen, beraten und bei der Entscheidungsfindung unterstützen (heißt)“ (Heiner 1996: 20) und somit der Bewertungscharakter bei der Evaluationsforschung stärker im Mittelpunkt steht als in der Begleitforschung. Jenseits dieser Unterscheidung geht es hier jedoch darum, Evaluation und Begleitforschungen in dem weiteren Kontext von Praxisforschung methodologisch zu betrachten. Thema ist der zunehmend engere Zusammenhang von Praxis und Forschung, der die klassischen Tendenzen quantitativer (und positivistischer) Evaluationen überwunden hat und somit nicht mehr Außenbewertungen favorisiert, sondern Interaktion, den Nutzen für die Beteiligten/Betroffenen sowie Aushandlungen,
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also diskursive Forschungsmethoden, in den Vordergrund stellt – in aller vorhandenen Breite. Abgesehen von einigen gut belegten Vorläufern liegen die Wurzeln dieser Art von Praxisforschung in der Handlungs- oder Aktionsforschung, die zusammen mit der subjektorientierten Wende in den Sozialwissenschaften seit den Aufbruchzeiten der 1970er Jahre die Forschungsdebatte heftig umtrieb. Ausgehend von Kritik an klassischer Sozialforschung, die ihre „Beforschten“ als Objekte behandelte, mit denen sie möglichst wenig in Beziehung zu treten hatte und über die bestimmte Daten in Erfahrung gebracht werden sollten, bezog sich die Handlungsforschung auf politische Ziele der Veränderung der Gesellschaft im Großen und mögliche Veränderungen der Praxis im Konkreten. Dieser Forschungsansatz wollte in das Feld, in dem geforscht wurde, eingreifen, wollte mit den Forschungsbeteiligten zusammen die Praxis verändern bzw. verbessern (vgl. Gstetter 1995). Dieser Impetus hat sein Erbe einer Praxisforschung hinterlassen, die in ihrer engagierten Variante mit ihren Forschungsaktivitäten einen Veränderungsprozess der Praxis selbst nicht nur als Nebeneffekt hinnimmt, sondern dezidiert intendiert. Allerdings, dies soll hier nicht unterschlagen werden, gibt es Praxisforschung auch in einer hierarchischen Variante, die eingesetzt wird entweder zur Legitimation vorhandener Förderpraxis oder zur Kontrolle und Reglementierung. In dieser Variante gehören die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht zu den Erkenntnis generierenden Subjekten, sondern müssen als Auszuführende festgelegte Vorgaben abarbeiten. Die feministische Forschung oder Frauenforschung begann ihre Karriere als Praxisforschung – ja, anfangs wurde überhaupt nur eine Forschung mit Bezug auf Praxis als legitim akzeptiert. Allerdings war der Praxisbegriff hier wesentlich weiter als heute und damit politischer gefasst: nicht nur professionelle Praxis, sondern vor allem die feministische Praxis in Alltagszusammenhängen, in der politischen Arbeit und in den Frauenprojekten war im Blick (z.B. die richtungweisenden wissenschaftlichen Begleitungen der ersten Frauenhäuser oder die Konzeption der Selbsterfahrungsgruppen, die aber nicht als Forschung rezipiert wurden). Die inzwischen als klassisch zu beschreibende Debatte um die methodischen Postulate zur Frauenforschung von Maria Mies (vgl. Mies 1994) bearbeitete die Kernpunkte einer Forschung, die sich im Dienste der angestrebten gesellschaftlichen Veränderungen (Abschaffung des Patriarchats) parteilich und engagiert nicht außerhalb dieser Praxis stellen wollte und durfte. Geblieben ist von diesem Streit eine Auseinandersetzung über den politischen Bezug von Geschlechterforschung. Hier sind teilweise konträre Positionen bis heute aktuell und bestimmen nicht selten unterschwellig die aktuellen Debatten über Praxisforschung noch mit. Darf Praxisforschung politische Ziele verfolgen, soll sie im Dienste der Praxis stehen oder muss sie „neutral“ sein (vgl. zum Inhalt dieser Auseinandersetzungen Tübinger Institut für frauenpolitische Sozialforschung 1998, Bitzan 1998a)?
Praxisforschung unter Modernisierungsbedingungen Heute lässt sich bilanzieren, dass Praxisforschung einerseits anerkannter geworden ist in der sozialwissenschaftlichen Forschung, nicht zuletzt weil praxisbezogene Disziplinen wie etwa die Sozialpädagogik ihre Forschung besser reflektieren und ihren Wissenschaftlichkeitsstatus aufgebessert haben. Andererseits steht sie wieder neu unter dem Stigma der Unseriosität in Zeiten, in denen die Mittelknappheit insbesondere der öffentlichen Hand Begleitforschungen auf den Plan ruft, die zu kurz, zu knapp bemessen und zu streng in politische Vorgaben (der Auftraggeberseite) eingebunden sind. Praxisforschung als Begleitforschung bleibt also nach wie vor eine Gratwanderung zwischen der Mittelbereitstellung und der Freiheit der Forschung, der Öffnungs- und Veränderungsbereitschaft der zu beforschenden Praxis und der Anerkennung durch die scientific community, welche z.B. ganze Bereiche der Mädchenarbeitsforschung bis heute nicht als Jugendhilfe- oder Sozialarbeitsforschung zur Kenntnis genommen hat. Heute wird unter Praxisforschung in der Regel Forschung verstanden, die auf Praxis bezogen ist, mit ihr kooperiert und sie forschend beteiligt oder durch sie selbst durchgeführt wird. Im Ge-
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gensatz zu dieser allgemeinen Auffassung bezeichnet Prengel (1997) ausschließlich die von der Praxis selbst durchgeführten Aktivitäten als Praxisforschung und grenzt diese m.E. zu scharf von Begleitforschungen ab, wodurch ihr gerade der kooperative gemeinsame Erkenntnisprozess aus dem Blick gerät. Gleichwohl sind ihre „perspektivitätstheoretischen“ Überlegungen, mit denen sie die unterschiedlichen Perspektiven der jeweiligen AkteurInnen als Bezugsgröße thematisiert und für multiperspektivische Ansätze plädiert, äußerst fruchtbar für Überlegungen zur Charakterisierung und Qualifizierung von Praxisforschung.
Zum Verhältnis zwischen Praxis und Forschung Praxisforschung befasst sich heute eigentlich mit Fragen, die „uralt“ sind, aber wieder neue Relevanz in Zeiten des Umbaus des Sozialstaats und der teilweisen Modernisierung des Geschlechterverhältnisses erlangen, also in Zeiten, in denen einerseits das soziale Klima insgesamt weniger Interesse für den inneren Ablauf sozialer Angebote oder für adäquate Konzeptionierungen von Hilfen bspw. für Jugendliche in Konfliktlagen aufbringt, sondern mehr bspw. an dem output befriedeter schwieriger Jugendlicher oder eines weniger konfliktreichen Stadtteils interessiert sind – Zeiten, in denen andererseits soziale Konflikte insgesamt verfremdet und dadurch verdeckt als Fragen individuellen Gelingens oder Scheiterns in Erscheinung treten und so auf die Betroffenen zurückfallen. Wie kann sich eine Praxisforschung auf Praxisabläufe und Konflikte der Betroffenen sowie deren Bewältigungsmöglichkeiten konzentrieren, wenn die Konflikte und Wirkungsweisen nicht (mehr) offen kommuniziert werden können? Wie können insbesondere Einrichtungen, Projekte und Konzepte in der Arbeit mit Frauen/Mädchen adäquat evaluiert werden, wenn allenthalben das Lied von der vollzogenen Geschlechtergleichheit angestimmt wird, das Erfahrungen der Ungleichheit, der Benachteiligung und der Missachtung ihnen selbst als Unvermögen zuschreibt? Diese Fragen machen deutlich, dass wieder stärker Ausgangspunkte und methodologische Grundlagen für eine solche Praxisforschung in den Blick genommen werden müssen, die dazu geeignet ist, eine soziale (professionelle) Praxis für Frauen und Mädchen, aber auch geschlechterdifferenzierte und -reflektierte Berufspraxis zu stärken. Im Folgenden soll nun nicht der gesellschaftspolitische Kontext weiter reflektiert werden, sondern es werden einige methodologische Gewichtungen zusammengefasst. Zentraler Schwerpunkt jeder Praxisforschung ist das Verhältnis der Praxis zur Forschung. Entstanden als Kritik an hierarchischer Forschung, die der Praxis ihre „Verbesserungs“wege vorschreiben wollte, hat sich in der Geschlechterforschung ein Verständnis durchgesetzt, das die Gleichberechtigung zwischen Praxis und Forschung in den Vordergrund rückt. Moser (1995) spricht von einer doppelten Transferleistung, die auf die Erweiterung und Präzisierung sowohl des praktischen Handlungswissens wie des disziplinären Theoriebestands zielt. In der Frauenforschung hat sich das Verständnis durchgesetzt, dass Erkenntnis in der Interaktion und durch den Wechselprozess zwischen Forschung und Praxis entsteht. Nicht die Forschung belehrt einseitig die Praxis, nicht die Praxis beliefert die Forschenden einseitig mit ihren Wissensbeständen, sondern gemeinsame Datenerhebungen und Reflexionen, also Interpretationen, emotionale Verarbeitungsweisen sowie Bearbeitungen im Prozess erbringen die Ergebnisse (vgl. zusammenfassend Tübinger Institut für frauenpolitische Sozialforschung e.V. 1998). Gemeint ist die Kooperation in Bezug auf Fragestellungen, Verständigung über die Verfahren, die Deutung von Daten; dies bedeutet natürlich nicht, dass alle gemeinsam die Arbeitsschritte ausführen. Eine solche Kooperation darf auch nicht idealistisch abgehoben werden von den realen Interessenskonstellationen und Kooperationsbedingungen, denn keine Forschung steht neutral im Raum. Da fließen die Interessen der Geldgeber (z.B. Ministerien oder Stiftungen) ein, die Interessen der Träger (z.B. macht es einen Unterschied, ob es sich um einen großen Träger handelt, der mehrere soziale Einrichtungen betreibt wie z.B. ein Wohlfahrtsverband oder um einen kleinen Verein wie
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z.B. ein Frauenprojekt), die Interessen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die u.U. so vielfältig sind wie ihre Anzahl und selbstredend die Interessen der Forschenden. Forschung muss sich also schützen vor Vereinnahmung, darf sich weder blind auf die Seite der Praxis stellen noch sich über die zunächst so erscheinende Blindheit der Praxis erheben. Alle Beteiligten müssen veranlasst werden, ihre Interessen und ihre Befürchtungen offenzulegen, um dann eine Basis zu finden, die eine Vereinbarung über Forschungsziele, -fragen und -mittel ermöglicht. Eine solche Haltung ist mit Zumutungen an alle Seiten verbunden, will sie wirklich den „Wechsel im Blick“ (Tübinger Institut für frauenpolitische Forschung 1998) realisieren.
Das Verhältnis zur Theorie: Mehrperspektivität und theoretische Interpretationsfolie Auch in der feministischen Forschung (die heute meistens in dem neutralen Begriff der Geschlechterforschung aufzugehen droht) ist die Frage nach dem Verhältnis zur Theorie nicht unumstritten. Als Grundlage der Forschung fungieren Theorien moderner Geschlechterverhältnisse, die besagen, dass wesentliche Seiten der geschlechtshierarchischen Zumutungen verdeckt sind, dass die Subjekte sich in ambivalenten Modernisierungen finden, die sie einerseits aus traditionellen Umklammerungen (der engen Geschlechterzuschreibungen) befreien, sie andererseits noch vorhandene geschlechtsbezogene Zumutungen gerade nicht als solche und damit als strukturelle Mechanismen erkennen lassen, sondern als individuelle Probleme erfahren lässt. Unter diesen Annahmen können aus den Interaktionen der AdressatInnen oder auch aus den konkreten Vollzügen in der Praxis allein noch keine Begründungszusammenhänge für die Sinnhaftigkeit der konkreten Angebotspraxis hergeleitet werden. Vielmehr bedarf es reflektierter Übersetzungsprozesse. Wenn z.B. in der Praxis der Mädchenarbeit immer wieder zu hören ist, dass Mädchen sich solche Angebote heutzutage doch gar nicht mehr wünschten, so wäre es sehr kurzschlüssig, hieraus direkt einen anderen Praxisbedarf abzuleiten. Zunächst gilt es zu verstehen und zu „wissen“, dass Mädchen heute in einem Kontext aufwachsen, der geschlechtsbezogene Benachteiligungen als unmodern, als inkompetent, als nicht voll emanzipiert erscheinen lässt. Dann ist zu fragen, welche Strategien Mädchen mit ihren Äußerungen einschlagen und welchen Gewinn sie daraus ziehen. Eine solche Perspektive forciert eine weitere Erkenntnissuche, die im Wissen um subjektive Bewältigungsstrategien andere Anhaltspunkte für forschungsrelevante Deutungen herausfinden kann. Die Erforschung subjektiver Erklärungsmuster ist als ein – wichtiges – Puzzleteil in einem größeren Erkenntniszusammenhang zu verstehen. Ein noch relativ junger Diskurs gerade in der sozialpädagogischen Forschung über die sog. AdressatInnenforschung reflektiert genau diese Problemstellung wesentlich genauer und theoriebezogener als früher (vgl. beispw. den Sammelband Bitzan/Bolay/Thiersch 2006) Helga Krüger warnte davor, Interaktionen zu verabsolutieren: „Es entsteht die Gefahr, die strukturelle Gestaltung des Geschlechterverhältnisses, die quasi hinter unserem Rücken wirkt, auf ein aktuelles Interaktionsgeschehen zu reduzieren, sie damit gesellschaftsanalytisch verkürzt zu interpretieren und dem, was Mary Douglas (1987) als sozialstrukturiertes Vergessen bezeichnet, in die Hände zu arbeiten“ (Krüger 2001: 64). Sie schlägt ein mehrperspektivisches Vorgehen vor, das die unterschiedlichen Wirkdimensionen des Geschlechterverhältnisses jeweils beleuchten und würdigen kann: die institutionellen Ebenen (in welchem Auftrag handeln die Professionellen, was gilt in dieser Einrichtung als „gute“ Arbeit, wer verteilt Anerkennung für Arbeit und zwar für welche?), die subjektiven (wie kommen die Professionellen selbst mit den Geschlechterunterschieden zurecht, gibt es offene oder verdeckte Geschlechterkonflikte im Team, wie ist die Professionelle verstrickt mit den Konflikten „ihrer“ Mädchen? etc.) sowie die interaktiven Ebenen der Betroffenen (für was erhalten die Mädchen Anerkennung, welche Perspektiven haben sie, welche Chancen haben sie, ihre Bedürfnisse öffentlich auszubreiten?) (vgl. zu diesen Fragen Bitzan 2004). Die theoretischen Po-
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sitionen der Forschenden bestimmen also den Horizont der Forschung ebenso wie die erfahrungsbezogenen Einstellungen der Beforschten. Eine solche Herangehensweise hat ebenfalls wie Prengels Perspektivitätstheorie den Vorzug, „dass sie auf polarisierende Spekulationen über Realität oder Konstruiertheit von Welt sowie über Objektivität oder parteiliches Erkenntnisinteresse in der Forschung verzichten kann“ (Prengel 1997: 603). Die Frage nach objektiven Tatbeständen bzw. danach, was denn nun die Realität sei, stellt sich in dieser Forschung so nicht, sondern unterschiedliche Perspektiven und ein theoretisches Verständnis über deren Hintergründe und die gesellschaftlichen Erfahrungshorizonte der Subjekte in ihren jeweiligen Strukturen ergeben zusammen eine Annäherung an das Geschehen, ergeben Erkenntnisse. „Jenseits perspektivischer Begrenztheit und ohne das Bemühen um freilich immer vorläufig bleibende Entgrenzung ist keine Erkenntnis möglich“ (ebd.: 611). Eine solche Sichtweise legt nahe, Deutungsmuster und Strategien aller (!) Beteiligten aufzufinden und herauszufinden, wie die Subjekte mit den jeweils erlebten Verdeckungen und zur Verfügung stehenden Chancen umgehen, sich darin behaupten oder Widersprüchliches ausblenden. Hierfür eignen sich Verfahren aus der qualitativen Forschung, insbesondere hermeneutische Verfahren. Auch die Forschungssituation selbst ist als Raum zu begreifen, in dem sich die Subjekte vorstellen, hinterfragen und bestätigen möchten. Zu prüfen ist also immer, ob der gegebene Raum den Forschungsbeteiligten Möglichkeiten bietet, Selbststrategien „anzusehen“, und Sicherheiten bereitstellt, Widersprüche zuzulassen.
Konfliktorientierung als Suche nach dem gemeinsamen Dritten Methodisch ergeben sich daraus vor allem drei Vorgaben: Prozessorientierung als Zeit für diskursive Prozesse und Offenheit der Fragen, Anerkennung als Setting der Gleichberechtigung und Relevanz von Erfahrung und Konfliktorientierung als Erkenntnismethode. Da Praxisforschung höchst unterschiedliche Größenordnungen und damit Settings haben kann, macht es keinen Sinn, bestimmte Umsetzungsformen als Standard vorzuschlagen. Wesentliches Element qualitativer Forschung ist das Einlassen auf Deutungsgehalte im Feld. Eine diskursive Praxisforschung kann darauf nicht verzichten. Die Feldumstände legen nahe, dass sie als dynamischer, methodenoffener, erfinderischer Prozess angegangen wird (vgl. Prinzipien der Praxisforschung bei Lamnek 1995), bei dem nach jedem Schritt die gemachten Erfahrungen wieder mit in die Planung des nächsten hineingenommen werden können. Anerkennung und Konfliktorientierung sind zwei methodologische Seiten derselben Medaille (vgl. genauer Bitzan 1998b). Abgesehen von der in Forschungssettings grundsätzlich angelegten Hierarchie, mit der es bewusst umzugehen gilt, finden wir gerade im Feld Sozialer Arbeit bei den Professionellen wie auch bei den AdressatInnen gravierende Erfahrungen von Mangel an Anerkennung vor. Wenn das (oder die) Gegenüber Möglichkeiten sieht, sich von verschiedenen Seiten zeigen zu dürfen – also als kompetent und unsicher, erfolgreich und scheiternd, stark und suchend – dann scheinen auch verschiedene konflikthafte Dimensionen des Kontextes auf. Das bedeutet für die Forschenden, den Erfahrungen des Gegenüber Relevanz zu geben und sich für ihre Deutungen offen zu zeigen, einen Weg der Verständigung zu suchen, der nicht vorschnelles Verständnis über die Kommunikation legt. Wenn beispielsweise eine Alleinerziehende Selbstständigkeit als Ziel ihrer Lebensführung ablehnt, so dürfen wir nicht vorschnell ein klassisches traditionelles Frauenbild bestätigt sehen. Vielmehr gilt es aufzumerken, an der Irritation, die die Forscherin befällt, innezuhalten und dem dahinter liegenden Gehalt auf die Spur zu kommen. In dem Beispiel (vgl. Tübinger Institut für frauenpolitische Sozialforschung 1998) wurde bei näherem Eingehen deutlich, wie sehr sich die Befragte gegen die sozialpolitische Zumutung wehrt, die Alleinerziehenden sämtliche sozialen Härten und Managementleistungen ihrer Situation allein aufbürdet. Das heißt, „selbstständig“ wurde hier mit „allein gelassen“, „allein verantwortlich“ mit „sozialpolitisch im Stich gelassen“ verbunden – eine Deutung, mit der Be-
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fragte und Forscherin sich über alltäglichen wie sozialpolitischen Veränderungsbedarf dann – als gemeinsames Drittes – verständigen konnten. Hier fühlte sich die Befragte „gesehen“, bekam Raum, die Widersprüchlichkeit zwischen dem Allein-Gelassen-Werden und eigener Kompetenz zu zeigen. Konfliktorientierung sucht systematisch nach Brüchen, Reibungen, Widersprüchlichem, die als Risse im beschriebenen Verdeckungszusammenhang weitere Gehalte des Kontextes aufdecken können. Konfliktorientierung geht grundsätzlich vom Vorhandensein von Konflikten aus, weil sie auf theoretischer Basis gesellschaftliche Konflikte (z.B. aufgrund des hierarchischen Geschlechterverhältnisses) als konstituierend und Lebens- und Berufswelten prägend annimmt. Konfliktorientierung sucht nicht den Streit, findet aber gerade in Nichtübereinstimmungen Wege zu Erkenntnis. Forscherin und Befragte suchen zusammen nach Hintergründen und Bedeutungsgehalten (jede in ihrer „Sprache“) und produzieren so Erkenntnis. Die für Praxisforschung vorgeschlagene Validierungsmethode der Perspektiven-Triangulation (vgl. Prengel 1997) kann auf diese Weise nicht nur im Team der Forschenden, sondern auch in der Forschungssituation selbst angewendet werden. In diesem Sinn von Koproduktion der Erkenntnis zu sprechen bedeutet nicht, dass die gleichen Interessen verfolgt werden; es bedeutet aber, dass es Sinn macht, nach einem gemeinsamen Dritten zu suchen. Differentes herauszuarbeiten ist dabei auch wesentlicher Bestandteil. Im Verhältnis zwischen Praxis und Gender-Forschung sind heute die Entfernungen erheblich größer geworden als zu den Aufbruchzeiten. Gleichzeitig kann (und muss) das je Eigene deutlicher herausgearbeitet und von da aus das gemeinsame Interesse jeweils neu bestimmt werden. Dazu gehört die gegenseitige Achtung, aber auch die Verantwortung beider Seiten für das Gelingen: die Praxis muss ihre Fragen an die Forschung herantragen und die Forschung sich zugänglich für die Praxis machen – was eben am ehesten gelingen kann bei der Suche nach einem gemeinsamen Dritten (vgl. dazu die Dokumentation der Tagung Genderforschung im Praxisbezug, Forschungsinstitut tifs 2006). Generell gilt also, dass eine frauen- bzw. geschlechterbewusst engagierte Praxisforschung bestimmter Inszenierungen bedarf, damit Wissen über widersprüchliche Erfahrungen gehoben werden kann. Dann hat die Forschungsveranstaltung selbst Wirkungen: Erkenntnisse werden nicht nur „für später“ produziert, sondern Anerkennung wird sofort möglich und die Chancen, Konflikte zu erkennen und zu bearbeiten, steigen. Verweise: Parteilichkeit und Betroffenheit Gewalt- und Interventionsforschung
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Forschungsinstitut tifs e.V. (Hrsg.) 2006: Gender-Forschung im Praxisbezug: Kontinuitäten und Veränderungen. Dokumentation der tifs-Tagung 2005 (online-Publikation 12-06) (Bearbeitung Maria Bitzan und Gerrit Kaschuba) Gstetter, Peter 1995: Handlungsforschung. In: Flick, Uwe u.a. (Hrsg.): Handbuch qualitativer Sozialforschung, 2. Auflage. Weinheim: Beltz, S. 266-268 Heiner, Maja (Hrsg.) 1988: Experimentierende Evaluation. Weinheim: Juventa Heiner, Maja 1996: Evaluation zwischen Qualifizierung, Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung. In: Dies. (Hrsg.): Qualitätsentwicklung durch Evaluation. Freiburg/Br.: Lambertus, S. 20-47 Kraus, Wolfgang 1995: Qualitative Evaluationsforschung. In: Flick, Uwe u.a. (Hrsg.): Handbuch qualitativer Sozialforschung, 2. Auflage. Weinheim: Beltz, S. 412-415 Krüger, Helga 2001: Gesellschaftsanalyse; der Institutionenansatz in der Geschlechterforschung. In: Knapp, Gudrun-Axeli/Angelika Wetterer (Hrsg.): Soziale Verortung der Geschlechter. Gesellschaftstheorie und feministische Kritik. Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 63-90 Lamnek, Siegfried 1995: Qualitative Sozialforschung Bd. I Methodologie, 3. korr. Aufl., Weinheim: BeltzVerlag Mies, Maria 1994: Frauenbewegung und 15 Jahre „Methodische Postulate zur Frauenforschung“. In: Diezinger, Angelika u.a. (Hrsg.): Erfahrung mit Methode. Freiburg/Br.: Kore, S. 105-128 Moser, Heinz 1995: Grundlagen der Praxisforschung. Freiburg/Br.: Lambertus Munsch, Chantal 2002: Praxisforschung in der Sozialen Arbeit. In: Thole, Werner (Hrsg.): Grundriss Soziale Arbeit. Ein einführendes Handbuch. Opladen: Leske + Budrich, S. 911-921 Prengel, Annedore 1997: Perspektivität anerkennen – Zur Bedeutung von Praxisforschung in Erziehung und Erziehungswissenschaft. In: Friebertshäuser, Barbara/Annedore Prengel (Hrsg.): Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft. Weinheim, München: Juventa, S. 599-627 Projekt eXe (Hrsg.) 2006: Wirkungsevaluation in der Kinder- und Jugendhilfe. Einblicke in die Evaluationspraxis. München: DJI Schone, Reinhold 1995: Theorie-Praxis-Transfer in der Jugendhilfe. Sozialpädagogische Praxisforschung zwischen Analyse und Veränderung. Münster: Votum Tübinger Institut für frauenpolitische Sozialforschung e.V. (Bitzan, M./Funk, H./Stauber, B.) 1998: Den Wechsel im Blick – Methodologische Ansichten feministischer Sozialforschung. Pfaffenweiler: Centaurus
Verena Mayr-Kleffel
Netzwerkforschung: Analyse von Beziehungskonstellationen
Soziale Beziehungen sind Untersuchungsgegenstand in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen u.a. in der Soziologie, Ethnologie, Sozialpsychologie, Ökonomie; die Forschungsthemen sind entsprechend vielfältig. Netzwerkanalysen sind aufgrund der universell anwendbaren Methodik kompatibel mit Theorieperspektiven der jeweiligen Disziplin. Als soziales Netzwerk lässt sich das Gesamt der Beziehungen zwischen Personen bezeichnen, z.B. StudienanfängerInnen, oder die Verbindungen zwischen Institutionen, z.B. Unternehmen oder Frauenverbänden. Die Vielfalt der Netzwerkforschung zu überblicken kann folgende grobe Klassifizierung erleichtern.
Egozentrierte Netzwerkanalyse Netzwerkforschung kann soziale Beziehungen aus dem Blickwinkel einer zentralen Person untersuchen. Qualitative egozentierte Netzwerkanalysen betrachten soziale Beziehungen als sinnhafte Konstrukte von Subjekten und untersuchen „Deutungen der Akteure, subjektive Wahrnehmungen, individuelle Relevanzsetzungen und handlungsleitende Orientierungen ...“ (Hollstein 2006: 21). Gegebenenfalls werden die Ergebnisse mit anderen Daten trianguliert. Quantitative egozentrierte Netzwerkanalysen konzipieren soziale Beziehungen gleichfalls als Akteurskonstrukte, untersuchen dann jedoch quantitative und formale Aspekte wie z.B. die Größe des Netzwerkes und den Verknüpfungsgrad, aber auch Anzahl und Inhalte von Unterstützungsleistungen, die Befragte von den Mitgliedern ihres Netzwerkes erhalten. Netzwerkbeziehungen werden dann im Rahmen von repräsentativen Befragungen als abhängige, aber auch als unabhängige Variable z.B. im Rahmen von Ereignisanalysen in Längsschnittstudien und in rekursiven Pfadanalysen untersucht (vgl. Andreß/Krüger 2006, Diewald/Lüdicke 2007). Die Ergebnisse von qualitativen und quantitativen egozentrierten Netzwerkanalysen beleuchten u.a. die soziale Integration verschiedener Populationen. Die Migrationsforschung verwendet einzelne Netzwerkpartner als Indikator sowie als erklärende Variable für die unterschiedliche soziale Integration der verschiedenen Zuwanderergruppen (vgl. Janßen/Polat 2006, Haug 2007). Sozialpsychologische Netzwerkuntersuchungen, die auch valide Messskalen als Instrumente heranziehen, belegen einen Zusammenhang zwischen der Unterstützungsqualitität persönlicher Netzwerke, dem Bewältigungshandeln und dem physischen und psychischen Wohlbefinden von Menschen (im Überblick: Niepel 1994, Straus 2002).
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Strukturelle Netzwerkanalyse Netzwerkforschung als strukturelle Analyse dagegen betrachtet ein Netzwerk als ganzes System und zielt darauf, regelmäßige andauernde Beziehungsmuster als sein elementares, emergentes Verhalten zu erfassen. Daher müssen ungefilterte Informationen über alle Mitglieder eines Netzwerkes vorliegen, das insitutionenübergreifend sein kann und dessen Begrenzung theoretisch und empirisch sinnvoll definiert sein muss. Das Verhältnis von Individuum und Netzwerk ist in diesen Studien anders konzipiert: Das Verhalten der Netzwerkmitglieder wird in Abhängigkeit von den existierenden verschiedenen Beziehungskonfigurationen erklärt. Die Beziehungsmuster werden mit Hilfe der mathematischen Graphentheorie analysiert, die Ergebnisse in Matrizen eingetragen, die dann verschiedene Rechenoperationen gestatten. Mit Hilfe spezieller EDV-Software lassen sich auch große Datenmengen bewältigen. Ergebnisse dieser quantitativen Analysen beleuchten u.a. interne Strukturen von Elitenetzwerken und gegebenenfalls deren Einfluss, Innovationsprozesse, Kooperationen zwischen Unternehmen, deren Möglichkeiten und Grenzen. Virtuelle Netzwerke stellen ein neues Untersuchungsfeld für egozentrierte und strukturelle Netzwerkanalyse dar (im Überblick: v. Kardorff 2006). Hier gilt es, die sehr vielfältigen, sich gegebenenfalls schnell verflüchtigenden virtuellen Beziehungskonstellationen in den verschiedenen Kontexten des Internet (Weblogs, Wikis, Foren, Mailinglisten, Chatrooms) und auch im Kontext von Spielhandlungen zu untersuchen. Das Erkenntnisinteresse gilt hier einer möglicherweise neuen Qualität von sozialen Beziehungen im virtuellen Raum sowie deren Auswirkungen auf die Netzwerkbeziehungen in der realen Welt (vgl. v. Kardorff 2006: 69). Die Netzwerkforschung beschreitet Neuland, weil sie klassische sozialwissenschaftliche Begriffe, z.B. Macht, Hierarchie, in Beziehungstermini überträgt und als ausgeklügelte analytische Indizes operationalisiert. Besondere Affinität besteht natürlich zum Begriff „soziales Kapital“ von Bourdieu im Rahmen der Ungleichheitsforschung. Mit Hilfe von analytischen Parametern lässt sich soziales Kapital unterschiedlich operationalisieren, beispielsweise entweder als „starke Bindung“, d.h. eine vertrauensvolle, intime Beziehung zwischen sozial homogenen Netzwerkmitgliedern, aber auch als „schwache Bindung“, d.h. eine funktional spezifische distanzierte Beziehung, die Informationen schnell und weiträumig transportiert (vgl. Granovetter 1973). Soziales Kapital lässt sich auch als „strukturelle Autonomie“ (Burt 1992) verstehen, die ein „Makler“ besitzt, der eine Brücke zwischen unverbundenen Teilen des Netzwerkes „besetzt“. Denn damit verfügt er über einen privilegierten Zugang zu Informationen und übt soziale Kontrolle aus. Gerade diesem Begriff widmen sich verschiedene theoretische und empirische Arbeiten auch neueren Datums (Lüdicke/Diewald 2007). Im Zusammenhang mit dem Wohlbefinden von Menschen erweist sich das folgendermaßen operationalisierte soziale Kapital als besonders erklärungskräftig, nämlich die subjektiv empfundene Integration in ein persönliches Netzwerk, auf dessen Hilfe man vertraut und der Zugang zu außerfamilialen, reziprozitätsorientierten, eher heterogenen sozialen Beziehungen. Dieses soziale Kapital hängt von der Höhe des Bildungsniveaus ab und kann nur begrenzt das kulturelle und ökonomische Kapital kompensieren (Diewald/Lüdicke 2007: 49). Da sich ihre Ergebnisse nicht auf Merkmale atomisierter Befragter stützt, sondern auf Beziehungskonstellationen, wird der Netzwerkforschung ein Potenzial zugeschrieben, „... der Lösung des zentralen Problems der Soziologie – der Integration von Strukturen und Handeln – näherzukommen“ (Jansen 2003: 17). Die historische Entwicklung der Netzwerkforschung ist nicht gradlinig verlaufen; Vorläufer sind Georg Simmel, Jacob Moreno mit seiner Soziometrie, auch die frühen industriesoziologischen Studien; die britische Sozialanthropologie beschritt in der Auseinandersetzung mit dem Strukturfunktionalismus von Parsons einen eigenständigen Weg. Heute ist die Netzwerkanalyse zu einem allgemeinen Methodenparadigma geworden.
Netzwerkforschung
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Geschlechterhierarchie als Netzwerkmuster Ergebnisse der Netzwerkforschung erscheinen mir besonders geeignet, die Geschlechterverhältnisse im Zusammenhang mit Strukturzusammenhängen zu beleuchten. Der folgende Überblick stellt empirische Befunde überwiegend von quantitativen egozentrierten Netzwerkstudien unter der Fragestellung dar, wie sich die Geschlechterhierarchie in Gestalt von Beziehungskonstellationen darstellt, die sich als jeweils unterschiedlich operationalisiertes soziales Kapital verstehen lassen. Familiensoziologische oder Lebenslaufstudien sprechen dabei von Kontakten und Hilfeleistungen.
Familien- und Lebenslaufstudien Die qualitative Pionierstudie der britischen Sozialanthropologin Elizabeth Bott (1957) war eine der ersten, die sich für den Einfluss von Netzwerken auf die Familie, speziell auf die Aufteilung der Hausarbeit zwischen Ehepartnern in London, interessierte. Sie verfolgte damit eine strukturelle Perspektive. Eng geknüpfte Netzwerke, so ihre prominente These, in denen sich viele Mitglieder untereinander kennen, gestatten einen ständigen Informationsfluss und damit Hilfeleistungen; gleichfalls üben sie soziale Kontrolle aus, traditionelle Normen zu befolgen. Paare mit einem solchen Netzwerk greifen auf diese haushaltsexterne Ressource zurück und praktizieren die traditionale Arbeitsteilung. In locker geknüpften Netzwerken, die in Folge von regionaler Mobilität und Modernisierungsschüben entstehen, sind Informationen und Hilfeleistungen eher fragmentiert, die soziale Kontrolle ist niedriger und die Normenpluralität daher größer. Paare mit einem locker geknüpften Netzwerk finden daher zu einer modernen, eher partnerschaflichen Aufteilung der Arbeit im Haushalt. In vielen Nachfolgestudien ist diese Annahme geprüft und überwiegend verworfen worden. Heute lässt sich berechtigterweise davon ausgehen, dass es andere Frauen sind, aus dem verwandtschaftlichen Netzwerk, aber auch häufig Migrantinnen in bezahlter Arbeit, die den Part übernehmen, den Elizabeth Bott dem Ehemann bescheinigt hatte (vgl. Rerrich 2002). Die analytische Aufmerksamkeit dieser qualitativen Studie für Kontakt- und Hilfeleistungen in der Außenwelt der modernen Kernfamilie ist in späteren Studien weiter verfolgt worden. Für Frauen sind mehr personenenbezogene Hilfeleistungen, beispielsweise Hilfe bei persönlichen Problemen, für Männer dagegen mehr güterbezogene Hilfeleistungen belegt, etwa Wohnungsrenovierung (vgl. Diewald 1991: 226). Speziell die verwandtschaftlichen Netzwerkmitglieder leben häufig in räumlicher Nähe (vgl. Marbach 2001: 148). Frauen haben in der Regel milieuübergreifend mehr verwandtschaftliche Beziehungen und engere Kontakte zu Verwandten als Männer. Dabei verlaufen die Hilfeleistungen matrilinear. Zwar sind Töchter häufiger emotional enger mit ihren Eltern als Söhne verbunden und erfahren auch mehr Hilfeleistungen, auch nach einer Scheidung, sie sind ihrerseits auch hilfsbedürftiger in den Familienphasen mit Klein- und Schulkindern. Männer, die nach einer Scheidung noch keine neue Partnerin gefunden haben, nähern sich dem Bindungsmuster von Töchtern an (vgl. Mächler 2002). Langjährige Erwerbserfahrungen, vollzeitliche Erwerbstätigkeit und ein hohes Bildungsniveau und Einkommen lassen verheiratete Frauen zwischen 40 und 65 Jahren zögern, in den Status Hausfrau zu wechseln; bei einem hohen Haushaltseinkommen tun sie es dennoch (Drobnic/Blossfeld 2001). So sind es Frauen, die den alt gewordenen Eltern häufiger personenbezogen helfen als Männer, und sie sind es auch, die im Pflegefall vor der Entscheidung stehen, ihre Erwerbstätigkeit zeitlich zu reduzieren, zu unterbrechen oder gänzlich zu beenden. Diese Ergebnisse bescheinigen gerade Frauen einerseits ein spezifisches Unterstützungspotenzial des verwandtschaftlichen, häufig weiblichen Netzwerkes: Defizite in der öffentlichen Kinderbetreuung wer-
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den von Großmüttern kompensiert, so dass Mütter erwerbstätig sein können; im Fall von schweren Erkrankungen und Pflegebedürftigkeit in der Verwandtschaft erwachsen jedoch andererseits eher Frauen belastende Verpflichtungen, die ihnen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie erschweren oder unmöglich machen. Durch die intensiveren und häufigeren Verwandtenkontakte, aber auch durch die häufigere teilzeitliche Erwerbstätigkeit scheinen Frauen gleichzeitig eher als Männer davor gefeit, in Phasen der Arbeitslosigkeit in die Isolation zu geraten (vgl. Diewald/ Eberle 2003).
Freundschaftsstudien Freundschaftsstudien belegen durchgängig eine homosoziale Freundschaftswahl und das Prinzip der Reziprozität von Unterstützung. In dem frei gewählten Teil ihres persönlichen Netzwerkes entscheiden sich Menschen also für Freunde des ähnlichen Alters, des gleichen Geschlechts und des gleichen Bildungsniveaus. Menschen in höheren und in niedrigen Sozialschichten neigen dazu, einen besonders ähnlichen Freundeskreis zu wählen (vgl. Wolf 1996). In der Regel nennen Frauen mehr Freundschaften als Männer, scheinen aber damit unzufriedener zu sein und empfinden sich als einsamer. Die beste Freundin ist die erste Ansprechpartnerin bei Partnerschaftsproblemen und, nach dem Partner, die zweite bei Gefühlen der Niedergeschlagenheit; Männer wenden sich diesbezüglich häufiger an ihre Partnerin (vgl. Diewald 1991). Für junge Frauen kann im Vergleich zur Adoleszenz der Stellenwert von Freundinnen sinken, weil sie sich auf die Partnersuche bzw. auf den männlichen Partner konzentrieren (vgl. Keller 2001). Bei der Einschätzung des sozialen Kapitals von Freundschaften ist die Wirkung ihrer Homosozialität zu bedenken: In ihren Freundschaften segregieren sich die Geschlechter voneinander; daher können Privilegien, aber auch Benachteiligungen kumulieren. Im Fall einer Beziehungsdyade sind Frauenfreundschaften sozialstrukturell gesehen eine Insel; der dort erfahrene Trost mag häufig hilfreich sein. Die soziale Ähnlichkeit in Freundschaften, möglicherweise gepaart mit Konformitätszwang, kann allerdings den Aufbruch in neue Interessensgebiete oder in Männerdomänen lähmen. Freundschaften als „starke Bindungen“ können somit tatsächlich mehr bei Frauen vermutet werden, allerdings erscheinen eher Frauen der privilegierten Schichten als Besitzerin dieses spezifischen sozialen Kapitals.
Die Bedeutung von Netzwerkbeziehungen auf dem Arbeitsmarkt Nach Studien zur beruflichen Mobilität lassen sich „schwache Bindungen“, also funktional spezifische, distanzierte Beziehungen, als wichtige Brücken charakterisieren. Mark Granovetter hat ihre Bedeutung für den Erhalt eines neuen Arbeitsplatzes gerade in fortgeschrittenen Karrierephasen von qualifizierten Männern in den USA belegt: Bekannte informieren nebenbei über vakante Stellen und bieten damit die Voraussetzung für eine chancenreiche Bewerbung (Granovetter 1974). Gerade schichthöhere Menschen verfügen über eine höhere Anzahl an Bekanntschaften (vgl. Marbach/Mayr-Kleffel 1988), und aufgrund der größeren Teilnahme am öffentlichen (Vereins)-Leben verfügen mehr Männer als Frauen über Bekanntschaften. Nur die erwerbstätigen und hochqualifizierten Frauen sind den Männern in diesem Teil ihres sozialen Netzwerkes vergleichbar (vgl. Mayr-Kleffel 1991, 2002). Nach einer Studie über den Zugang zu Arbeitsplätzen im akademischen Mittelbau in Deutschland hatten etwas mehr Frauen ihre Stellen über funktional spezifische Kontakte erhalten als Männer (vgl. Preisendörfer/Voss 1988). Ergebnisse neuerer Studien kontrastieren diesen Befund in folgender Weise: Unzureichende institutionsinterne Kontakte erklären, dass Frauen der Aufstieg in Wissenschaftsinstitutionen mehrheitlich misslingt (vgl. Allmendinger/Podsiadlowski 2001).
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Auch dann, wenn Frauen über ein günstiges betriebsinternes Netzwerk in einem großen Unternehmen verfügen, das ihnen „strukturelle Autonomie“ gestattet, profitieren sie davon als Minderheit für einen Aufstieg nicht in derselben Weise wie die Mehrheit der männlichen Beschäftigten; das ist das Fazit einer US-amerikanischen Studie von Roland Burt. Nur diejenigen Frauen stiegen überdurchschnittlich schnell in die obere Managementetage auf, die von der „strukturellen Autonomie“ eines hierarchisch höher positionierten „Sponsoren“ profitierten; das verlieh ihrem Status Legitimität. Kleine, eng geknüpfte, rein weibliche Netzwerke wirkten eher aufstiegshemmend. Die unterschiedliche strategische Bedeutung ihrer sozialen Einbettung war den Befragten dieser Studie allerdings nicht bewusst, alle wähnten sich im Besitz unterstützender Netzwerke (vgl. Mayr-Kleffel 2002: 76). Nach einer internationalen Vergleichsstudie verfügen Frauen, wenn sie einmal in Führungspositionen aufgestiegen sind, in den männlich dominierten Netzwerken über Beziehungen mit einer ähnlich großen Reichweite (Anzahl der Personen aus anderen Eliten) und Intensität wie Männer (vgl. Moore/White 2001). Frauen mit niedrigem Einkommen und höherem Bildungsabschluss – so lautet eines der Ergebnisse des Niedrigeinkommenspanels über die Jahre 1998 bis 2002 – können zwar häufiger als Männer mit Hilfe sozialer Beziehungen, operationalisiert als Netzwerkgröße, den Übergang aus der Erwerbslosigkeit in Erwerbstätigkeit bewältigen. Hier erweisen sich größere Netzwerke eher als funktionales Äquivalent zur Beratung durch das Arbeitsamt und der aktiven Arbeitsplatzsuche, nicht jedoch als spezifische Ressource von Frauen, um langfristig (hoch)qualifizierte und vollzeitliche Arbeitsplätze zu erhalten (Andreß/Krüger 2006: 47ff.).
Frauenpolitische Strategien Anhand dieser Ergebnisse lässt sich resümieren, dass Frauen und gerade niedrig qualifizierte Frauen häufig in geringerem Ausmaß über das spezifische soziale Kapital „schwache Bindungen“ verfügen als Männer bzw. dass ihnen als Außenseiterinnen in einem Unternehmen dieses soziale Kapital weniger nützt. Damit lässt sich die ungleiche Platzierung der Geschlechter im Erwerbssystem netzwerkanalytisch abbilden und auch eine kumulative Wirkung dieser geringen Ausstattung mit sozialem Kapital nachzeichnen. Verschiedene frauenpolitische Programme und Vernetzungsaktivitäten versuchen dieses Defizit zu kompensieren. Mentoring-Programme bauen in Deutschland seit einigen Jahren bilaterale unterstützende Beziehungen – ggf. in Verbindung mit Vernetzungsaktivitäten – zwischen beruflich erfolgreichen älteren Mentorinnen und jungen Frauen auf, um die berufliche Aufstiegsmobilität von jungen Frauen unter anderem im Wissenschaftsbetrieb und in technischen Berufen zu fördern. Besonders bedeutsam scheint die Qualität der bilateralen Beziehung zu sein. Da die Evaluationsstudien von einigen Mentoring-Programmen bisher nur kurze Zeiträume verfolgen konnten, lässt sich noch kein durchgängig objektiv belegbarer Erfolg in Gestalt der besseren Platzierung von jungen „Mentees“ belegen, allerdings durchaus Auswirkungen auf die berufliche Zufriedenheit, das Selbstbewusstsein und auf die Karriereorientierung (im Überblick: Löther 2003). Niedrig qualifizierte Frauen erscheinen als Zaungäste der Vernetzungsaktivitäten von Frauengruppen, Verbänden u.a. Der Studie von Petra Frerichs und Heike Wiemert über Frauennetzwerke zu Folge sind es fast ausschließlich hochqualifizierte Frauen, die mit utilitaristischem Kalkül in Beziehungen investieren und von ihnen profitieren. Dabei interagieren sie mehrheitlich mit sozial ähnlichen Frauennetzwerken, mit denen sich leichter Vertrauen aufbauen lässt. Hier erscheint ein Muster, wie es für Kooperationsnetzwerke zwischen Unternehmen belegt ist (vgl. Jansen 2003). Anhand der Kontaktstruktur aller Frauennetzwerke in der Stadt Köln zeigen sich einige abgeschottete „Inseln“: Der „Verband deutscher Unternehmerinnen“ hat primär Beziehungen zu den männlich dominierten Wirtschaftsverbänden, aber kaum Beziehungen zur
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Frauenszene, deren Projekte, einschließlich der Migrantinnennetzwerke, gleichfalls stark unter sich bleiben. Die kommunale Frauenpolitik in Gestalt des Frauenbüros der Stadt zeichnet sich als „zentrales Scharnier“ in dieser von Frauennetzwerken gebildeten Sozialstruktur ab. Sie ist ein begehrter Kooperationspartner für die verschiedenen Netzwerke (Frerichs/Wiemert 2002: 124ff.). Damit erwächst der institutionalisierten Frauenpolitik eine strategische Schlüsselstellung, die für weibliche Aktionsbündnisse quer zu der funktionalen Differenzierung auch der Frauennetzwerke genutzt werden kann. Die virtuelle Vernetzung erweist sich zur Zeit noch als frauenpolitische Option jüngerer und mittlerer Jahrgänge mit einem überdurchschnittlichen Bildungsniveau. Mit Hilfe verschiedener empirischer Methoden lassen sich u.a. folgende Motive und Kommunikationsstrukturen von Netzwerkakteurinnen erkennen: Foren und Mailinglisten dienen dem Wissens- und Kompetenzerwerb, um in gesellschaftliche Verhältnisse einzugreifen. Sie dienen aber auch der beruflichen Karriere sowie der wechselnd intensiven Kontaktpflege, die Gemeinschaftsgefühle entstehen lassen können. Als Kommunikationsfiguration zeigt sich häufig die Zentralität einer oder zweier Personen (vgl. Schachtner 2005). Die auch ursprünglich außerhalb des Internet entstandenen zahlreichen politischen Frauennetzwerke, die im Internet über Websites präsent sind, schöpfen bislang die politischen Partizipationspotenziale dieses Mediums nicht voll aus (vgl. Drüeke/ Winker 2005, Sude 2005).
Anwendungsbeispiel: Soziale Netzwerkarbeit Ergebnisse der Netzwerkforschung sind in verschiedenen Bereichen zu verwerten: Politik, Unternehmensberatungen, Gemeindepsychologie, Sozialarbeit u.a. Gerade in den psychosozialen Berufsfeldern sind Ergebnisse der Netzwerkforschung in konkrete Hilfestrategien umgesetzt worden; die Einbeziehung des persönlichen Netzwerkes von Klienten, soweit es noch als Ressource vorhanden ist, soll professionelle Hilfe effektivieren und gleichzeitig Chancen der Verselbständigung von Menschen eröffnen. Zu diesem Zweck werden unterschiedliche Erhebungsmethoden eingesetzt, z.B. die Netzwerkkarte „Egonet“ (vgl. Straus 2002, Bauer/Otto 2005). Netzwerkinterventionen unterschiedlicher Couleur sind jedoch auch kritisiert worden, weil mit ihrem Einsatz sozialstaatliche Rückzüge legitimiert werden könnten. Da sich materielle Benachteiligung von Menschen meist auch in Gestalt von unzureichenden Netzwerkressourcen zeigt, ist das der falsche Weg und mobilisiert gerade noch die häufig letzte Ressource, die weibliche Arbeitskraft in der Privatsphäre. Erste Evaluationsstudien von Netzwerkintervention belegen, dass sie im Vergleich zu anderen Behandlungsformen nur geringe eigene Wirkung ausüben (vgl. Röhrle/Sommer 1998).
Resümee Speziell das soziologische und sozialanthropologische netzwerkanalytische Programm intendiert, gesellschaftliche Integration über reale Beziehungsstrukturen sicht- und erklärbar zu machen, nicht wie seinerseits Parsons über Normenkonsens der Gesellschaftsmitglieder. Ergebnisse der vielen Studien weisen darauf hin, wie vielfältig Menschen über Kontakte und spezielle Hilfeleistungen familien- und institutionenübergreifend miteinander verbunden sind, allerdings auch, welche Bevölkerungsgruppen tendenziell desintegriert erscheinen. Die Netzwerkforschung zeigt gleichfalls, wie sich soziale Ungleichheit auch zwischen den Geschlechtern über verschiedenartige Beziehungskanäle reproduziert, und liefert daher auch Hinweise für Veränderungsstrategien.
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Die einzelnen Zweige der Netzwerkforschung haben sich leider sehr auseinander entwickelt. Die strukturelle Netzwerkanalyse geht meiner Ansicht nach zu weit. Menschliches Handeln allein aus formal definierten Beziehungskonstellationen zu erklären, ohne bisher genau genug nach Kontexten, inhaltlichen Beziehungstypen zu differenzieren sowie nach kulturellen Traditionen mit jeweils spezifischen Normen und subjektiven Interpretationen, läuft Gefahr mit einem hohen methodischem Aufwand künstliche Welten zu produzieren. Überdies sind in diesem Bereich der Netzwerkforschung die Geschlechterverhältnisse unterbelichtet. Mir erscheint Erfolg versprechender, Entstehungsbedingungen der verschiedenen Netzwerkbeziehungen in einem Kontinuum wachsender struktureller Zwänge zu verorten und damit auch die Handlungsspielräume der Netzwerkmitglieder zu präzisieren. Zwar ist auch die Wahl von Freundschaften und Bekanntschaften milieu- sowie geschlechtsspezifischen Einfluss- und objektiven Gelegenheitsfaktoren ausgesetzt, aber hier zeigen sich individuelle Interessen und Bewertungen, die sich über den Lebenslauf zu biografischen Orientierungen verdichten können, die ein Eigenleben entfalten (vgl. Hollstein 2002). Strukturelle Zwänge werden größer bei den Netzwerkbeziehungen, die in der öffentlichen Sphäre entstehen, sei es im Berufs-, Vereins-, politischen Leben. Hier ist die Interdependenz von Beziehungen und damit der strukturelle Einfluss auf das Handeln von Netzwerkmitgliedern beträchtlich größer. Allerdings sollten spezifische Rahmenbedingungen, die die Netzwerkbildung und die Mechanismen innerhalb der sozialen Netzwerke beeinflussen, genauer als bisher theoretisch und empirisch geklärt werden. Verweise: Familie Frauennetzwerke Migrationsforschung
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Annette Kuhn
Oral history und Erinnerungsarbeit: Zur mündlichen Geschichtsschreibung und historischen Erinnerungskultur
Oral history, wörtlich übersetzt die mündliche Geschichtserzählung, stellt die älteste Form der historischen Überlieferung dar. Zur Hochzeit des Verständnisses der Geschichte als einer exakten, den Naturwissenschaften ebenbürtigen Wissenschaft im 19. und 20. Jahrhundert, wurde allerdings der mündlichen Überlieferung kein ernst zu nehmender historischer Stellenwert beigemessen. Wie bei den „Brüdern Grimm“ wurde das aus der Erinnerung Wieder- und Weitererzählte als Märchenerzählung betrachtet. Erst in der historischen Frauenforschung der 1970er Jahre wurde diese vor allem von Frauen gepflegte mündliche Erzählform als ein wichtiges Medium und historisches Zeugnis insbesondere für eine Frauenkultur und für vergessene, historisch wirksame Frauenwerte und -normen betrachtet. Insgesamt wurde die mündliche Geschichtserzählung allmählich als Quelle für die Erforschung der verschütteten Geschichte von zur Sprachlosigkeit verurteilten sozialen Gruppen und Individuen betrachtet. Als eine wissenschaftliche Methode der Erinnerungsarbeit entwickelte sich für die zeitgeschichtliche Forschung in den 1980er und 1990er Jahren die oral history zu einer Ergänzung der Archivarbeit. Heute wird sie als unverzichtbares Medium zur Überwindung der Krise der kulturellen und kollektiven Erinnerungskultur in einer postmodernen Medienwelt anerkannt. Die Oral-history-Forschung versteht sich als eine innovative Methode. Sie generiert im Kontext der Erinnerungsarbeit und der interdisziplinären, internationalen und feministischen Bemühungen in der Forschung um eine geschlechtergerechte, nicht totalisierende Wahrnehmung von Geschichte eigene neue, wissenschaftliche Diskurse. Die Anfänge der oral history in Deutschland liegen in den von der Frauenbewegung der 68er-Zeit initiierten Diskurse um die Geschichte der eigenen Mütter und um die historische Genese und die Bedingungsfelder der eigenen und der gesamtgesellschaftlichen Geschlechterungleichheit. Entschlossen, die blinden Flecken in der bisherigen Forschung und die Geschichtslosigkeit im feministischen Bewusstsein zu überwinden, entdeckten Wissenschaftlerinnen ihre eigene Stimme (vgl. die Arbeiten der Philosophin Hélène Cixous 1980). Die feministische Forschung der 1970er Jahre leitete mit ihrer Bereitschaft zu einem unverhohlenen Eklektizismus und mit ihrer theoretischen Vertiefung der Frage der Geschlechterdifferenz einen Perspektivwechsel in der bisherigen, scheinbar allgemeinen historischen Erinnerungsarbeit ein. Somit hat die oral history in einer mehrfachen Weise einen „Enttypisierungsschock“ zur Folge. Konventionelle Annahmen und strukturierende Begriffe „zerbröselten“ (vgl. Niethammer 1983: 11). Indem die Methode der mündlichen Geschichtsbefragung eine neuartige Quellengattung produzierte, stellte sie bisherige geschlechterblinde Theorien der Erinnerungsarbeit in Frage. Vor allem verschärfte sich dabei die Frage nach der Ermöglichung einer Erinnerungskultur nach der Shoah (vgl. Hartman 2000: 51). In den 1980er und 1990er Jahren erfolgte eine Neuorientierung der Erinnerungsforschung von einer soziologisch-kulturhistorisch orientierten Methode in der Tradition von Emil Durkheim und Maurice Halbwachs zu einer an den Ergebnissen anderer Wissenschaften, unter anderem der schnell voranschreitenden, neurowissenschaftlichen Hirnforschung, beachtenden Disziplin.
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Bei dieser interdisziplinären Erweiterung der Erinnerungsforschung treten enge Verbindungen zur Forschung zum sozialen Gedächtnis und zur Geschlechterdifferenz in der Gender-Forschung auf. Eine disziplinübergreifende Brücke bilden neuere Erkenntnisse zur kommunikativen, emotionalen und erfahrungsgeschichtlichen Bedingung des Gedächtnisses, zur narrativen Struktur der Erinnerungsarbeit und zur Kontextualisierung von Erinnerung (vgl. Welzer 2002). Dabei ist wiederum eine Konzentration der Forschung auf die NS-Vergangenheit zu beobachten. Während sich hierbei die bisherigen Methoden der oral history weiterhin bewähren (vgl. Hering/Schilde 2000), setzen sich auf der wissenschaftlichen Diskursebene neue Fragen nach der zu beachtenden Grenze zwischen Reden und Schweigen, zwischen Erinnern und Vergessen, zwischen erinnern müssen und vergessen dürfen. Bei der NS-Erinnerungsarbeit spielt die Gender-Forschung eine zentrale Rolle. „Die Frage nach der Bedeutung der Geschlechterdifferenz für das Erinnern und Gedenken ist keineswegs unwesentlich, noch nebensächlich (...) Bei genauerem Hinsehen wird erkennbar, dass gerade diese – häufig und zumeist unausgesprochen – die Wahrnehmung, Beschreibung und Bewertung des historischen Genozids bestimmen“ (Wenk/Eschenbach 2002: 13ff.). Im Kontext der „Aneignung der NS-Erbschaft“ spielt die Frage nach der feministischen Ethik in der historischen Erinnerungsarbeit eine zentrale Rolle (Gravenhorst 1997). Vor diesem Hintergrund versteht sich heute oral history und historische Erinnerungsarbeit als ein unabgeschlossenes Projekt. Als Methode „der Exploration der mit dem Inhalt der Erinnerung verbundenen Sachverhalte“ trifft die oral history weiterhin innerhalb der Historikerschaft auf Misstrauen, während die Ergebnisse der oral history als Quelle „für individuelle Verarbeitungsmuster oder gesellschaftlich honorierte Deutungsmuster gemeinhin ernst genommen werden“ (Niethammer 1983: 11). Dabei deutet sich in der gegenwärtigen Forschung zur medialen Vermittlung von Erinnerungsspuren und zur Wiederentdeckung des Körpers als Erinnerungsmedium eine Entwicklung mit noch unabsehbaren Folgen an. Die Konzentration auf den Körper als Medium der kulturellen Erinnerung und auf die mediale Vermittlung von Erinnerung hat der gegenwärtigen Forschung eine Dynamik verliehen, wobei unterschiedliche Tendenzen zur Zeit scheinbar unverbunden nebeneinander existieren. Die vor allem von Aleida und Jan Assmann initiierte kultur- und zeitgeschichtlich orientierte Forschungsrichtung zu „Erinnerungsräumen“, die dem Gender-Aspekt wenig Beachtung schenkt (Assmann 1999), und die an historisch vermittelten Körperbildern orientierten Studien zur „leibhaftigen Vergangenheit“ (Lorenz 2000) gehen eigene methodische Wege, geraten aber an vergleichbare erkenntnistheoretische Grenzfragen. Somit stellt sich in der gegenwärtigen Forschung zur Erinnerungsarbeit allgemein die Frage, ob wir ohne Metaphern erinnern und von Erinnerung sprechen können (vgl. Angerer 1997: 277-292; Assmann 1991: 13-35). Alle gegenwärtigen Forschungsansätze sind implizit oder explizit von der noch offenen Frage nach der Ermöglichung einer verbindlichen, auf überprüfbare historische Erkenntnisse aufbauenden kollektiven und geschlechtergerechteren Erinnerungsarbeit beherrscht. Diese Forschungsrichtung „vom Kopf zum Körper“ (Schmuckli 1996) generiert Diskurse, die immer wieder auf die, von Judith Butler aufgeworfenen Fragen zu einem geschlechtsbestimmten, diskursiven Körper verweisen. Zur Weiterentwicklung der Erinnerungsarbeit gehört auch die besondere Beachtung der historischen Ursprünge unserer Geschichte, die matriarchale und patriarchal durchmischte Traditionen aufweist und die bis in unsere Gegenwart hinein von der schöpferischen Wort, Bild und Symbol herstellenden Kraft von Frauen geprägt ist. Somit gehören ältere feministische Theorieansätze zum historischen „Frauenraub“ (Irigaray 2002: 842-846) und zur Überwindung der männlichen Logoszentrierung durch die Dekonstruktion männlicher Sprechweisen (u.a. Cixous 1980) erneut zur gegenwärtigen Diskurslage. Entscheidend für nachhaltige Fortschritte ist daher eine kritisch differenzierende Weiterführung der feministischen Ansätze zur Geschlechterdifferenz aus den 1970er und 1980er Jahren und die Beachtung der neueren Arbeiten zur Körpergeschichte und zur medialen Vermittlung der Körpererinnerung. In dieser interdisziplinären Anstrengung liegt die Chance, verengte Theorievorgaben der an Michel Foucault orientierten Körperkonzepte zu überwinden, einen frauen- und geschlechtergerechteren Zugang zur Entzifferung
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des Frauenkörpers als Erinnerungsmedium und zur Erschließung der Potenziale, die im „Traum von einer Erinnerungskultur“ liegen (Kuhn 2002: 7-12), zu gewinnen. In Verbindung mit einer neuen Flut von Erinnerungsbüchern haben Schriftstellerinnen und Wissenschaftlerinnen seit etwa 2000 in ihren eigenen familialen und in allgemeinen Kontexten reflektiert. Auf dem Hintergrund eines kritischen Umgangs mir den Erfahrungen der Geschlechtergeschichte (Daniel 2004: 67) und der Politik des gender mainstreaming ist somit ein neues Verständnis von weiblicher Erinnerungskultur und Erinnerungsgeschichte im Entstehen, das die historische Erzählweise, d.h. den Körper der Historie im Sinne der großen Geschichtserzählung zu prägen beansprucht (vgl. Zinken 2007). Verweise: Biografieforschung Geschichte
Literatur Angerer, Marie-Luise 1997: Medienkörper – Körper – Medien: Erinnerungsspuren im Zeitalter der „digitalen Evolution“. In: Öhlschläger, Claudia/Birgit Wiens (Hrsg.): Körper – Gedächtnis – Schrift. Der Körper als Medium kultureller Erinnerung. Berlin: Erich Schmidt Verlag, S. 277-292 Assmann, Aleida 1991: Zur Metaphorik der Erinnerung. In: Assmann, Aleida/Dietrich Hart (Hrsg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Frankfurt/M.: Fischer, S. 13-35 Assmann, Aleida 1999: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: Beck Cixous, Hélène 1980: Weiblichkeit in der Schrift. Berlin: Merve-Verlag Daniel, Ute 2004: Die Erfahrungen der Geschlechtergeschichte. In: Marguérite Bos/Bettina Vincenz/Tanja Wirz (Hrsg.): Erfahrungen: alles nur Diskurs? Zur Verwendung des Erfahrungsbegriffs in der Geschlechtergeschichte. Zürich: Chronos, S. 59-69 Gravenhorst, Lerke 1997: Moral und Geschlecht. Die Aneignung der NS-Erbschaft. Freiburg/Br.: Kore Hartman, Geoffrey 2000: Intellektuelle Zeugenschaft und die Shoah. In: Baer, Ulrich (Hrsg.): „Niemand zeugt für den Zeugen“. Erinnerungskultur nach der Shoah. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 35-52 Hering, Sabine/Kurt Schilde 2000: Das BDM-Werk „Glaube und Schönheit“. Die Organisation junger Frauen im Nationalsozialismus. Berlin: Metropol Irigaray, Luce 2002: Am Anfang war der Frauenraub. In: Wulf, Christoph/Dietmar Kamper (Hrsg.): Logik und Leidenschaft. Erträge historischer Anthropologie. Berlin: Reimer, S. 842-846 Kuhn, Annette 2002: Der Traum von einer Erinnerungskultur. In: Schmidt, Ilse: Die Mitläuferin. Erinnerungen einer Wehrmachtsangehörigen. Berlin: Aufbau, S. 7-15 Lorenz, Maren 2000: Leibhaftige Vergangenheit. Einführung in die Körpergeschichte. Tübingen: Edition diskord Niethammer, Lutz (Hrsg.): „Die Jahre weiß man nicht, wo man die heute hinsetzen soll.“ FaschismusErfahrungen im Ruhrgebiet, Berlin-Bonn 1983. (Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet Band 1), S. 7-30 Schmuckli, Lisa 1996: Differenzen und Dissonanzen. Zugänge zu feministischen Erkenntnistheorien in der Postmoderne. Königstein/Ts.: Helmer Welzer, Harald 2002: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München: Beck Wenk, Silke/Insa Eschebach 2002: Soziales Gedächtnis und Geschlechterdifferenz. In: Eschenbach, Insa/ Sigrid Jakobeit/Silke Wenk (Hrsg.): Gedächtnis und Geschlecht. Deutungsmuster in Darstellungen des nationalsozialistischen Genozids. Frankfurt/M.: Campus, S. 13-40 Zinken, Marlene 2007: Der unverstellte Blick. Unsere Mütter (aus)gezeichnet durch die Zeit 1938 bis 1958. Töchter erinnern sich. Opladen: Budrich
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Biografieforschung: Theoretische Perspektiven und methodologische Konzepte für eine re-konstruktive Geschlechterforschung
Biografieforschung bezeichnet einen komplexen, keineswegs einheitlichen oder eindeutigen Forschungsansatz, der auf eine lange Geschichte des wissenschaftlichen Interesses an „persönlichen Dokumenten“ (Paul 1979) verweisen kann. Das hier zu Grunde liegende Verständnis begreift Biografieforschung als eine voraussetzungsvolle Forschungsperspektive, die sich in zentralen Aspekten ihres Vorgehens auf Biografie(n) als theoretisches Konzept, als historischempirischen Gegenstand und als komplexe method(olog)ische Strategie bezieht. Andere Begriffe, die gelegentlich synonym gebraucht, in der Biografieforschung aber systematisch unterschieden werden, sind „Lebensgeschichte“ und „Lebenslauf“. Biografieforschung ist inter- und transdisziplinär (vgl. Völter u.a. 2005), sie ist als solche in den Disziplinen in unterschiedlichem Ausmaß anerkannt und etabliert. Ihre fachliche Verankerung und Institutionalisierung hat sie in der (deutschsprachigen) Wissenschaftslandschaft vor allem in der Soziologie (stellvertretend Apitzsch 2003) und der Erziehungswissenschaft (stellvertretend Krüger/Marotzki 2006), aber auch in der Geschichts- und Kulturwissenschaft und bestimmten Richtungen der Psychologie (stellvertretend Straub 1998). In der Frauen- und Geschlechterforschung hat die Arbeit mit Biografien, biografischen Materialien, Methoden und Perspektiven ebenfalls eine Tradition (vgl. beiträge zur feministischen theorie und praxis 7/1982; Dausien 1994, 2000, 2001a; Kraul 1999).
Biografie, Lebenslauf, Lebensgeschichte – Begriffe und Forschungsperspektiven Biografie ist ein Konzept, das auch in der Alltagssprache vorkommt und deshalb besondere methodologische Überlegungen erforderlich macht. Der Begriff selbst geht auf „bios“ (griechisch: das Leben) und „graphein“ (griechisch: (be)schreiben) zurück und bedeutet im Wortsinn „Lebensbeschreibung“. Er verweist zugleich auf eine kulturelle Praxis des „Leben (Be-) Schreibens“ und auf das beschriebene, gelebte Leben konkreter Individuen in spezifischen historisch-sozialen Kontexten. Die Reflexion dieser mehrdeutigen Referenz kennzeichnet den wissenschaftlichen Begriff. Die Biografieforschung bezieht sich auf Biografie als „soziale Tatsache“ (Fischer/Kohli 1987). Damit sind so unterschiedliche Aspekte gemeint wie institutionalisierte Regeln, kulturelle Muster und „Sprachspiele“, Alltagsverständnisse, soziale und diskursive Praktiken oder subjektive Reflexionsweisen und kognitive Konstruktionen, die – auf je eigene Weise – individuelles Lebens konstruieren und (re-)präsentieren. Biografieforschung bezieht sich ebenso auf die Texte und Textformate, die in diesen Institutionen, Diskursen und Praktiken hervorgebracht werden. „Biografie“ kann unter einer Produktperspektive und einer Prozessperspektive untersucht werden, als Resultat kollektiver und individueller Aktivität (erzählte Geschichten, kulturelle Muster, Institutionen usw.) und als Modus und
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Prozess der Konstruktion sozialer Realität (Erzählen und andere Praktiken des „doing biography“; vgl. Dausien 2000: 101f.) Der Begriff Lebenslauf ist enger gefasst als der Biografiebegriff und wird häufig mit der „äußeren“ oder „objektiven“ Abfolge der innerhalb der Lebensspanne eines Individuums auftretenden Ereignisse assoziiert, während Lebensgeschichte als Erzählung über diese Ereignisse, als „innere“ oder „subjektive“ Seite betrachtet wird. Der hier anklingende Dualismus von „Innen“ und „Außen“ wird seit den Anfängen in der Biografieforschung als erkenntnistheoretisches Problem diskutiert und mit dem Biografiekonzept gerade zu überwinden versucht. Begriffliche Unterscheidungen betonen deshalb in der Regel, dass „Lebenslauf“ und „Lebensgeschichte“ zwei Betrachtungsperspektiven sozialer Wirklichkeit bezeichnen, die wiederum mit unterschiedlichen wissenschaftlichen Forschungstraditionen verknüpft sind. Vor dem Hintergrund einer phänomenologisch-erziehungswissenschaftlichen Tradition unterscheidet z.B. Schulze Lebenslauf und Lebensgeschichte als „zwei verschiedenartige Formen alltagsweltlicher sprachlicher Äußerungen, die sich mit Ereignissen und Zusammenhängen in einem individuellen menschlichen Leben befassen“ (Schulze 1993: 186). Die Doppelperspektive von Repräsentation und Konstruktion macht auch Somers (1994) in ihren Überlegungen zur narrativen Konstruktion von (Geschlechts-)Identität geltend (vgl. auch Dausien 2006). Etwas anders differenziert Hahn aus kultursoziologischer Sicht zwischen Lebenslauf und Biografie. „Lebenslauf“ bezeichnet für ihn zunächst das „Insgesamt von Ereignissen, Erfahrungen, Empfindungen usw. mit unendlicher Zahl von Elementen“ (Hahn 2000: 101), die in der Lebenszeit eines Individuums vorkommen, nie „ganz“ erfasst werden können, aber virtuell eine Gesamtheit bilden. Darüber hinaus stellt der Lebenslauf in modernen Gesellschaften eine soziale Ordnung dar, die einen geregelten Ablauf von individuellen Statuspassagen mehr oder weniger verbindlich „vorschreibt“ und damit zugleich Normierungen und Bewertungen schafft für das, was in der jeweiligen Gesellschaft als „gelungenes“, „erstrebenswertes“ oder „missratenes“, „verfehltes“ Leben gilt. Biografie dagegen „macht für ein Individuum den Lebenslauf zum Thema“ (Hahn 2000: 101). Diese Thematisierung ist jedoch keine „Spiegelung“ (ebd.), sondern eine „selektive Vergegenwärtigung“ (ebd.). „Biografie“ wird somit nicht als Abbild oder Ausdruck einer individuellen „Identität“, sondern als kulturelles Muster der Selbstthematisierung und Identitätskonstruktion begriffen (vgl. Hahn 1987, Fischer-Rosenthal 1999). Die begrifflichen Unterscheidungen finden eine gewisse Entsprechung in der Abgrenzung akademischer Forschungsmilieus. In der Soziologie hat sich eine Arbeitsteilung zwischen der empirischen Lebens(ver)lauf(s)forschung und der Biografieforschung etabliert. Lebensverläufe von Individuen oder sozialen Gruppen werden in der überwiegend mit quantitativen Methoden arbeitenden Lebenslaufforschung als objektive Daten erfasst und als Indikatoren für die Sozialstruktur einer Gesellschaft behandelt. In dieser Logik kann auch die strukturelle Geschlechterdifferenz einer Gesellschaft erschlossen werden. Statistische Analysen haben einerseits geschlechtsbezogene Differenzen in Lebensverlaufsmustern aufgezeigt, andererseits aber deutlich gemacht, dass die Dichotomie von „weiblicher“ und „männlicher“ Normalbiografie eine zu einfache Unterscheidung darstellt. Die binäre Typisierung ist zwar ein (noch immer) wirksames normatives Modell, ihr entspricht aber keine Normalität im empirisch-statistischen Sinn (vgl. Krüger 1991). Welche Bedeutung geschlechtsbezogene Typisierungen von Lebensläufen für die handelnden Subjekte haben und auf Basis welcher Sinnkonstruktionen biografisches Handeln zu „messbaren“ Entscheidungen im Lebensverlauf führt, kann mit quantifizierenden Methoden nicht untersucht werden, sondern erfordert qualitative Forschungsdesigns. In der Biografieforschung werden Lebensläufe nicht als empirische Ereignissequenzen, sondern als voraussetzungsvolle und methodisch hergestellte Produkte einer bestimmten historisch-gesellschaftlichen Situation betrachtet. „Lebensläufe“ verweisen auf historische Modi der Vergesellschaftung, mit denen Gesellschaften das Problem lösen, ihre Mitglieder funktional einzubinden. Der Lebenslauf wird als Institution moderner Gesellschaften betrachtet, der auf Seiten der Individuen die Leistung einer Biografisierung der Lebensführung korrespondiert (vgl. Kohli 1985). Dass die kon-
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kreten Formen der Institutionalisierung des Lebenslaufs systematisch nach Geschlecht differenziert sind und ihrerseits zur (Re-)Produktion der Geschlechterdifferenz beitragen, ist ein Ergebnis feministischer Kritik an und innerhalb der Lebenslaufforschung (vgl. Krüger 1995, Dausien 1996: 13ff.). Für qualitativ-empirische Biografieanalysen ist die Perspektive „Lebenslauf“ insofern bedeutsam, als sie Aspekte der gesellschaftlichen Vorstrukturierung und kulturellen Präskription individueller Biografien betrifft. So kann z.B. das Wissen über Lebenslaufmuster von Frauen und Männern einer bestimmten Generation in einem bestimmten gesellschaftlichen Kontext genutzt werden, um die sozialen Möglichkeitsräume für individuelle Lebensentwürfe und deren Realisierung in den Blick zu nehmen. „Lebenslauf“ kann unter dieser Hinsicht als Rahmen von „Lebensgeschichte“ betrachtet werden oder, mit Bourdieu (1990), als „Laufbahn“ im sozialen Raum, gewissermaßen als raum-zeitlicher Korridor, der strukturell die Grenzen absteckt für konkrete biografische „Realisationen“, ohne diese jedoch zu determinieren. Biografisches Handeln und Erleben wird – relativ unabhängig von dieser „äußeren“ Strukturierung – ebenso von der „inneren“ Logik biografischer Erfahrungsaufschichtung strukturiert. Dass die biografische Sinnkonstruktion einer Lebensgeschichte soziale Wirklichkeit nicht bloß reaktiv verarbeitet, sondern ein eigenständiges generatives Potenzial für die Herstellung von Wirklichkeit darstellt, wird mit dem Begriff der Biografizität ausgedrückt (vgl. Alheit 1996). „Lebensgeschichte“ bezeichnet jene sinnhafte Perspektive des Handelns, Erlebens und Reflektierens konkreter Subjekte, die in je konkreten sozialen Handlungsumwelten ihre Biografien leben und diese – Welt und Biografie – re-konstruieren. Dabei werden Grenzen, etwa solche, die auf Geschlecht bezogen sind, variiert, verschoben, überschritten und neu aufgerichtet. Mit dem Blick auf Lebensgeschichte sind narrationstheoretische Konzepte und Forschungstraditionen verbunden. Wichtige Aspekte in diesem Kontext sind: die Frage nach Funktion und Struktur von Erzählungen im Rahmen einer Soziologie der Lebens- bzw. Alltagswelt (z.B. Ehlich 1980, Schütze 1982, 1984; Rosenthal 1995), Fragen nach literarischen Formen und kulturellen Traditionen der Narration (z.B. Ricœur 1988, 1989, 1991; Bruner 1987, 1991) oder die These der narrativen Konstruktion von Identität, die im Kontext psychologischer, philosophischer und geschichtswissenschaftlicher Ansätze diskutiert wird (vgl. Straub 1998, Meuter 1995, Thomä 1998). Diese begrifflichen Bestimmungen implizieren zweierlei: Zum einen wird deutlich, dass sich der wissenschaftliche Biografiebegriff nicht auf den Nachvollzug subjektiver Sinnkonstruktionen oder Einzelfälle beschränkt, sondern als theoretisches „Konzept strukturell auf der Schnittstelle von Subjektivität und gesellschaftlicher Objektivität, von Mikro- und Makroebene angesiedelt“ ist (Krüger/Marotzki 2006: 8). Zum anderen machen sie auf eine erste methodologische Regel biografischer Forschung aufmerksam: auf die Notwendigkeit, den jeweils verwendeten Biografiebegriff zu explizieren und, eine empirische Gegenstandsbestimmung vorzunehmen – sollen z.B. biografische Verläufe, Erfahrungen und Deutungen, symbolische und/oder interaktive Präsentationsmodi untersucht werden, referieren Fragestellungen auf das „gelebte Leben“, auf subjektive Sinnkonstruktionen und/oder auf „Texte“ und kulturelle Muster der Textproduktion?
Vom „Königinnenweg“ einer feministischen Gegenwissenschaft zur Perspektive einer rekonstruktiven Geschlechterforschung? Derartige theoretische und methodologische Differenzierungen spielen in den Anfängen der Frauenforschung in den 1970er Jahren noch keine Rolle. Im Gegenentwurf zur herkömmlichen, androzentrischen Wissenschaft werden Forschungswege gesucht, die an den Lebenslagen und Lebenswelten von Frauen ansetzen und jenen vermeintlich „objektiven“ Methoden oder „allgemeingültigen“ Aussagen herrschender Wissenschaft die Sichtweisen und Interessen der Subjekte entgegensetzen. Der Slogan der Frauenforschung, dass das Private politisch sei, scheint in bio-
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grafischen Methoden eine wissenschaftliche Entsprechung zu finden. „Weibliche Biografien“ (vgl. beiträge zur feministischen theorie und praxis 1982) sollen gesellschaftliche Verhältnisse und Diskriminierungen öffentlich machen und eine parteiliche Forschung ermöglichen (vgl. Mies 1978), biografische Texte, Interviews oder Protokolle von Selbsterfahrungsgruppen sollen die „weibliche Subjektperspektive“ zur Geltung zu bringen. Lebensgeschichten werden in dieser Anfangszeit häufig als „Quellen“ verwendet, ohne nach den Bedingungen ihrer Produktion, insbesondere im Forschungsprozess selbst, zu fragen. Andererseits findet die Beziehung zwischen Forschenden und ihren InformatInnen in der Frauenforschung von Beginn an besondere Aufmerksamkeit. Sie wird jedoch zunächst programmatisch gedacht und mit dem Postulat der Solidarität eher unterstellt als empirisch untersucht und methodologisch reflektiert. Praktische Erfahrungen mit biografischer Forschung sowie die in den Sozialwissenschaften intensiv geführte Diskussion um qualitative Methoden und ihre zunehmende Differenzierung und Etablierung (vgl. z.B. Hopf/Weingarten 1979, Flick u.a. 1991) bewirken relativ bald eine Pragmatisierung und Professionalisierung biografischer Forschung (nicht nur) in der Frauenund Geschlechterforschung. Feministische Forschung kann dabei auf einen aktiven Anteil am Diskurs über methodische und methodologische Ansprüche qualitativer Forschung verweisen (vgl. Becker-Schmidt/Bilden 1991). Biografieforschung wird in diesem Diskurs nicht als „Königinnenweg“ feministischer Forschung gesehen, sondern als ein wichtiger Ansatz neben und in Kombination mit anderen (Dausien 1994, Dausien/Kelle 2003, 2005). Zwei Aspekte der Relevanz biografischer Forschung in der Frauen- und Geschlechterforschung sollen hier festgehalten werden: die Breite von Forschungsthemen, die mit den Mitteln der Biografieforschung bearbeitet werden, und die Verschiebung der Bedeutung biografischer Forschung im Kontext der jüngeren feministischen Debatte um die (De-)Konstruktion der Kategorie Geschlecht.
Differenzierungen empirischer Forschung Ohne Systematisierungsanspruch seien exemplarisch einige Forschungsfragen benannt, die im Kontext der deutschsprachigen Frauen- und Geschlechterforschung mit biografischen Ansätzen empirisch untersucht werden. Ein erster Fokus betrifft Arbeit, ein Thema, an dem das Geschlechterverhältnis moderner Gesellschaften nicht nur paradigmatisch aufgezeigt, sondern strukturell verankert werden kann. Mit biografischen Studien rücken Erfahrungen und Subjektstrukturen in den Mittelpunkt, die im doppelten Bezug auf Erwerbsarbeit und Familienarbeit gebildet werden. Einflussreich war hier die Studie zur Lebenssituation von Fabrikarbeiterinnen von Becker-Schmidt u.a. (1982, 1983, 1984), die zugleich ein Beispiel für die theoriegenerierende Zielsetzung qualitativer Forschung ist. Das Konzept der doppelten Vergesellschaftung (BeckerSchmidt 1987) ist wesentlich im Kontext dieser Studie entwickelt worden. Weitere Beispiele sind die Analyse zur Situation von Zeitarbeiterinnen und den spezifischen Umgehensweisen mit „biografischer Unsicherheit“ (Wohlrab-Sahr 1993) oder die Studie zu Paar-Biografien aus unterschiedlichen Arbeitermilieus (Dausien 1996) – beide ebenfalls Beispiele für eine theoretisierende Nutzung biografischer Forschung. „Berufsbiografien“, z.B. von Lehrerinnen (vgl. Fabel 2003, unter Bezug auf Bildungsprozesse vgl. Treptow 2006), „Erziehungsurlaub“ (Rothe 2002) oder „Karrieren in der Wissenschaft“ (vgl. Hasenjürgen 1996, Engler 2001) sind weitere Gegenstände biografischer Forschung in diesem Themenfeld. Ein zweites Großthema sind Bildungsprozesse und -erfahrungen in unterschiedlichen sozialen und institutionellen Kontexten (zu dieser Perspektive Dausien 2001b), etwa Bildungsbiografien von „Arbeitertöchtern“ (Bublitz 1980, Schlüter 1993, Brendel 1998), Frauen auf dem Land (Kaschuba 1998) oder von Frauen, die im Kontext universitärer Frauenstudien Bildungsprozesse „nachholen“ (Schlüter 1999, von Felden 2003). Bildungsbiografien werden in der jüngeren Geschlechterforschung vielfach auch im Kontext von Migrationsprozessen untersucht (vgl. Gutiérrez Rodriguez 1999, Hummrich 2002, Payandeh 2002, Gültekin 2003 u.a., Farrokhzad 2007).
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Migration ist ein drittes bedeutsames Feld der Geschlechterforschung, in dem zunehmend mit biografischen Ansätzen gearbeitet wird (vgl. Agha 1997, Apitzsch 1999, Apitzsch/Jansen 2003, Dausien/Calloni/Friese 2000, Herzberg 1999, Jimènez Laux 2001, Lutz 1991, 2000, 2007; Menz 2008, Ricker 2000 u.v.a.). Im Themenfeld Politik und gesellschaftlicher Wandel sind exemplarisch Miethes (1999) Studie zu Frauen in der DDR-Opposition, Schiebels (2003) Arbeit zu Berufskarrieren ostdeutscher Frauen in der Zeit nach der Wende oder Köttigs (2004) Untersuchung zu jungen Frauen und Rechtsextremismus zu nennen. Die politische Dimension von Geschlecht wird auch in Studien thematisiert, die den Wandel von Geschlechterverhältnissen im Generationenvergleich untersuchen und hierbei insbesondere den Kontext der Frauenbewegung in den Blick nehmen (vgl. Thon 2000, 2008). Das Generationenthema wird ebenfalls in einer eher der Lebenslaufforschung verpflichteten Studie von Born, Krüger und Lorenz-Meyer (1996) behandelt und in weitergehenden Diskussionen verfolgt (vgl. Born/Krüger 2001, Dausien 2001c). Auch das Thema Körper und Leiblichkeit wird mit biografischen Methoden untersucht (z.B. Sobiech 1994, Freitag 2003, Brunner 2005). Schließlich stellt die historische Frauenforschung ein eigenes Feld dar, in dem biografische Dokumente und Rekonstruktionen zur Aufarbeitung der Frauen- und Geschlechtergeschichte genutzt werden. Das Spektrum der Arbeiten, die von verdienstvollen Dokumentationen (z.B. Heinritz 2000) zu theoretisch ambitionierten Fallrekonstruktionen (z.B. Habermas 2000) reichen, ist zu umfangreich, um hier angemessen kommentiert werden zu können. Das skizzierte Forschungsfeld ist heterogen hinsichtlich der theoretischen und methodischen Ansätze, auch die Bezugnahme auf „Geschlecht“ variiert. Noch immer überwiegen Forschungen, die sich auf Frauenbiografien beziehen, geschlechtervergleichende Studien und Arbeiten, die sich in biografischer Perspektive mit Männlichkeitskonstruktionen oder unter einer GenderPerspektive mit Männerbiografien befassen, gewinnen jedoch an Bedeutung (vgl. Scholz 2004, Huxel 2006, Spindler 2006). Insgesamt wird deutlich, dass die Untergliederung in bestimmte Forschungsfelder vornehmlich eine pragmatisch-sortierende Funktion hat. Ihr entsprechen keine abgrenzbaren empirischen Wirklichkeiten. Was die neuere Debatte um Intersektionalität (stellvertretend Brah/Phoenix 2004, Knapp 2005) theoretisch reflektiert, findet sich in der empirischen Analyse von Biografien nahezu „naturwüchsig“: nämlich die Beobachtung, dass soziale Wirklichkeit weder nach der Reinheit kategorialer Unterscheidung („Mann/Frau“) noch eindimensional („nur Frau“) organisiert ist, sondern sich als gelebtes unklares, mehrdeutigens, kontextrelatives Gewebe aus unterschiedlichen Relevanzverhältnissen immer wieder neu figuriert (s.u.). Schließlich bleibt anzumerken, dass neuere Arbeiten zunehmend theoretisch interessiert sind und die Option der Verbindung zwischen Biografieanalyse und Gesellschaftsanalyse, etwa im Sinne der Bourdieu’schen Theorie des sozialen Raums (Engler), der Kritischen Theorie und Psychoanalyse (Becker-Schmidt u.a.), sozialkonstruktivistischer (Dausien), bildungstheoretischer, (von Felden) oder postkolonialer Ansätze (Gutiérrez Rodriguez), empirisch einzulösen versuchen.
Verschiebung der Perspektive auf „Biografie“ Die empirische Kenntnisnahme der Vielfalt und Differenzierung biografischer Konstruktionen konvergiert in gewisser Weise mit der jüngeren feministischen Theoriedebatte. Die Kritik an Konzepten einer „weiblichen Identität“, eines „Subjekts Frau“, die auch durch die Geschlechterforschung selbst befördert und reifiziert werden (Gildemeister/Wetterer 1992), hat in den 1990er Jahren zur Formulierung dekonstruktivistischer Perspektiven und zur Suche nach Konzepten geführt, die der Vielfalt von Differenzen und Identitäten angemessen sind, die sich in komplexen Verschränkungen unterschiedlicher „Achsen der Differenz“ (Knapp/Wetterer 2003, Klinger/Knapp/Sauer 2007) konstituieren. Diese Kritik betrifft auch die Biografieforschung. Der Vorwurf, dass Biografieforschung zur „Glättung“ und Linearisierung widersprüchlicher Erfahrungen und Verhältnisse beitrage und
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letztlich nur ein kulturelles Artefakt reproduziere, ist verschiedentlich formuliert worden (Bourdieu 1990). Er verfehlt allerdings die methodologischen Reflexionen, die gerade in der Biografieforschung hinsichtlich der vielschichtigen Konstruktion von Biografien vorgelegt worden sind (vgl. dazu Dausien 2003: 120ff.). Er ignoriert auch die empirischen Leistungen der Biografieforschung, denn gerade die empirische Beschäftigung mit Biografien hat dazu beigetragen, jene problematischen Unterstellungen von Identität und eindeutiger Zweigeschlechtlichkeit zu demontieren und Differenzen zwischen Frauen zu thematisieren (vgl. Kraul 1999). Eine qualitativ-rekonstruktiv verfahrende Biografieforschung, die nicht von vornherein ihre Kategorien festlegt, sondern diese abduktiv aus der Auseinandersetzung mit der Empirie entwickelt, ist mit ihrem empirischen Material („Lebensgeschichten“) auf eine Weise konfrontiert, die Komplexität nicht ohne weiteres reduzierbar macht. Einfach gesagt: Das biografische „Material“ ist mehrdeutig, widersprüchlich, komplex, und es verhält sich gegenüber Typisierungsversuchen außerordentlich sperrig. Es fördert zuallererst „individuelle Geschichten“ zu Tage, die sich der binären Zuordnung nach dem Muster „männlich – weiblich“ entziehen. Schon in kleinen Samples, auch wenn sie hinsichtlich struktureller Daten wie Geschlecht, Alter, Schichtzugehörigkeit, Nationalität oder kultureller Zugehörigkeit homogen gehalten sind, wird deutlich: ‚Jede Biografie ist anders‘, eine einzigartige Konfiguration aus Erlebnissen, Erfahrungen, Reflexionen und konkreten Kontextbedingungen. Aber ebenso: In jeder Lebensgeschichte gibt es Ähnlichkeiten zu anderen Geschichten, ähnliche Probleme, sozial und kulturell geteilte Erfahrungshorizonte. Besonderes und Allgemeines sind in der Biografieforschung schon auf der Ebene des empirischen Materials auf eine Weise ineinander verschränkt, die keine „saubere“ Sortierung und Subsumtion der Fälle unter allgemeine Kategorien (männlich – weiblich) erlaubt. Dennoch kann im biografischen Material eine geschlechtsbezogene Typik – in jedem Einzelfall auf je besondere Weise – rekonstruiert werden. Die angesprochene methodologische Figur der „individuellen Allgemeinheit des Falles“ (Bude 1985) ist nicht nur Grundlage der Biografieforschung, sondern verschiedener Spielarten rekonstruktiv-qualitativer Forschung. Das Ergebnis rekonstruktiver Biografieanalyse (exemplarisch Dausien 1996) ist ein Doppeltes: Zum einen zeigt sich, dass und wie Biografien – Lebenslauf und Lebensgeschichte – auf vielfältige Weise durch gesellschaftliche Geschlechterverhältnisse „eingefärbt“ sind; zweitens wird erkennbar, dass Biografie selbst ein Format und Modus der Geschlechterkonstruktion ist. Die allgemeine These lautet, dass Biografie als eine Geschlechterdifferenzen generierende soziale Struktur betrachtet werden kann, mit anderen Worten, dass Geschlecht (auch) biografisch konstruiert wird (vgl. Dausien 1998). Damit wird ein Perspektivenwechsel vorgenommen von einer empirischen Verwendung biografischer Methoden und Quellen, die Gefahr läuft, eine naturalistische Vorstellung von „männlichen“ und „weiblichen Biografien“ zu reproduzieren, zu einer reflexiv-konstruktivistischen Perspektive, die nach Prozessen der Konstruktion von Geschlecht im Medium der Biografie (und ihrer wissenschaftlichen Re-Konstruktion) fragt. Biografische Forschung liefert somit eine theoretisch und methodisch differenzierte Perspektive der Analyse von Geschlechterkonstruktionen. Sie kann als ein spezifischer Weg im Rahmen einer empirisch orientierten rekonstruktiven Geschlechterforschung begriffen werden. „Biografie“ eröffnet schließlich einen multiperspektivischen Forschungsansatz, der Geschlecht im Kontext anderer Differenzkonstruktionen untersucht. In der Beschäftigung mit Biografien kommt „Geschlecht“ (wie „Ethnizität“, „Klasse“ oder andere Kategorien) nicht „rein“ vor, sondern immer im je konkreten Zusammenspiel unterschiedlicher sozialer Ordnungen, in konkreten Kontexten und Konnexen historisch-sozialer Welten. Biografieforschung liefert also ein methodisches Instrument, um geschlechterbezogene oder anders definierte Dualismen und Identitätskonstruktionen zu irritieren und kritisch in Frage zu stellen. Umgekehrt fordern theoretische Konzepte der Intersektionalität und empirische Analysen von biografischen Konstruktionen in „multikulturellen Kontexten“ dazu heraus, das Konzept der Biografie kritisch zu hinterfragen und im Hinblick auf eingebaute Normalitätskonstruktionen zu überprüfen (z.B. Dausien/Mecheril 2006).
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Methodologische Prinzipien Biografieforschung als Weg einer rekonstruktiven Geschlechterforschung zu beschreiben, impliziert keine festgelegten methodischen Schritte, sondern eine methodologische Perspektive, die je konkrete Forschungsvorhaben anleiten kann. Grundlegend ist ein Verständnis von qualitativer Forschung als Prozess der Theoriebildung in der methodisch-systematischen Auseinandersetzung mit empirischem Material. Modelle für einen solchen Prozess sind verschiedentlich formuliert worden, etwa mit der Grounded Theory im Anschluss an Glaser und Strauss (1967), dem Konzept der Abduktion im Anschluss an Peirce und die Tradition des Pragmatismus (vgl. Reichertz 1993), im feministischen Verständnis von Forschung als Suchprozess, in dem die Geschlechterforschung ihren Gegenstand in wechselseitigem Bezug von Theorie und Empirie entwirft und „erfindet“ (vgl. Becker-Schmidt 1987: 14) oder in anderen Spielarten konstruktivistischer Sozialforschung (z.B. Knorr-Cetina 1989, Sutter 1997). Allen gemeinsam ist die Idee, dass wissenschaftliche Analysen, Begriffe und Theorien als „Konstruktionen zweiten Grades“ zu behandeln sind, die an Konstruktionen anknüpfen, welche bereits auf der Ebene der Alltagswelt stattfinden (vgl. Schütz 1971). „Wirklichkeit“ ist immer schon interpretierte Wirklichkeit (vgl. Blumer 1973). Biografische Forschung basiert auf diesen Prämissen (vgl. Rosenthal 2005). Sie re-konstruiert Konstruktionen von „Biografie“, die alltagsweltliche Subjekte in Relation zu je konkreten Kontexten vornehmen, z.B. wenn sie einem Freund eine Geschichte aus ihrem Leben erzählen, wenn sie sich mit einer Schilderung ihres beruflichen Werdeganges um eine Stelle bewerben oder wenn sie einer Sozialwissenschaftlerin in einem Interview Auskunft über ihr Leben geben. Alltagsweltliche Konstruktionen von Biografie können in unterschiedlichen Perspektiven analysiert werden (vgl. Dausien 2003: 196ff.): –
als gesellschaftliche Institution und normative Erwartung (z.B. mit der Frage, wie bestimmte Statuspassagen im Lebenslauf nach Geschlecht differenziert sind und differenzieren); – als kulturelle Deutungsmuster und kollektive Praktiken der Biografisierung (z.B. mit der Frage, wie sich Vorstellungen eines („guten“, „normalen“, „verantwortlichen“ usw.) Lebens historisch wandeln und wie diese Vorstellungen mit Geschlecht (sozialer Schicht, Religion, kulturellem Milieu usw.) variieren; – als biografische Kommunikation oder allgemeiner: als interaktive Praxis des „doing biography“ in sozialen Situationen (z.B. mit der Frage, wie und in welchen Kontexten Individuen ihre Biografie präsentieren und dabei geschlechtsbezogene Zuschreibungen vornehmen); – als individuelle Leistung („biografische Arbeit“) der Selbst- und Weltkonstruktion, insbesondere in der Form der narrativen Konstruktion einer Lebensgeschichte (z.B. mit der Frage, auf welche Ereignisse Erzählende referieren, was sie wie (de-)thematisieren, wie sie argumentative Zusammenhänge herstellen usw. – und welche geschlechtsbezogenen Konstruktionen dabei ggf. identifiziert werden können). Von den unterschiedenen Forschungsperspektiven, die jeweils differenzierte Methoden und Materialien erforderlich machen und mit unterschiedlichen Geltungsansprüchen verbunden sind, steht die zuletzt genannte zweifellos im Zentrum biografischer Forschung und wird am häufigsten empirisch umgesetzt. Auf sie beziehen sich die folgenden Ausführungen.
Datenerhebung und Datenanalyse Um die Eigenlogik biografischer Konstruktionsprozesse aus der Perspektive der KonstrukteurInnen möglichst angemessen erfassen und das Problem der Reifikation wissenschaftlicher Interessen an dieser Stelle möglichst minimieren zu können, werden in der Biografieforschung Erhebungsverfahren bevorzugt, die die Strukturierung der Datenproduktion möglichst weitgehend den befragten
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Subjekten überlassen. Neben der Verwendung autobiografischer Texte (etwa Tagebuchaufzeichnungen, Autobiografien, Briefe; vgl. Schulze 1997) oder anderer Dokumente (Bilder, Filmaufnahmen, künstlerische Werke), die ohne Einfluss einer Forscherin entstanden sind, sind biografische Interviews die am nächsten liegende und häufigste Methode der Datenproduktion. Während Leitfadeninterviews ihre thematische Strukturierung durch die Forschenden erhalten und eine „explorative“ Interviewinteraktion erzeugen (vgl. Hopf 1978), wird das narrative Interview (Schütze 1977, 1987) in der Biografieforschung deshalb bevorzugt verwendet, weil es die Prinzipien der Offenheit und Kommunikativität qualitativer Datenerhebung (vgl. Hoffmann-Riem 1980) methodologisch reflektiert und methodisch konsequent einlöst. Es kann mit anderen Methoden kombiniert und situationsspezifisch modifiziert werden, etwa durch Ergänzung bestimmter Fragen oder Erzählanreize (z.B. Fotos) im Nachfrageteil oder durch Settings mit mehreren Erzählenden. Eine Reflexion des narrativen Interviews in der Geschlechterforschung findet sich bei Dausien (1994). Biografische Interviews werden vielfach mit ethnografischen Methoden, insbesondere mit teilnehmender Beobachtung kombiniert, aber auch mit diskursanalytischen Ansätzen (vgl. Dausien/Kelle 2005, Rosenthal 2005, Völter u.a. 2005). Biografische Dokumente und Interviews können auf unterschiedliche Weise ausgewertet werden. Die am häufigsten verwendeten Verfahren im Spektrum rekonstruktiver Sozialforschung sind die Narrationsanalyse (vgl. Schütze 1984, 1987), die mit Prinzipien der thematischen Feldanalyse und der Objektiven Hermeneutik arbeitende Biografieanalyse nach FischerRosenthal und Rosenthal (1997 sowie Rosenthal 1995) sowie verschiedene Mischformen und weitere hermeneutische Vorgehensweisen. Die Lektüre empirischer Forschungsberichte vermittelt einen Einblick in praktische Wege der Biografieforschung und verdeutlicht, dass das methodische Design nicht schematisch angewandt, sondern für die jeweilige Fragestellung entwickelt werden muss. Abschließend sollen Grundprinzipien eines reflexiv-rekonstruktiven Umgehens mit biografischen Texten festgehalten werden, die als übergeordnete Orientierung in der Auswertung genutzt werden können (vgl. Dausien 2003: 162-186). Die methodologische Idee der doppelten Konstruktionslogik des Biografiebegriffs verlangt eine systematische Reflexion des Zusammenhangs zwischen Alltagskonzepten und wissenschaftlichen Konzepten. Die Re-Konstruktion biografischer Konstruktionsprozesse in der Analyse von Texten ist mithin keine abbildhafte Reproduktion, sondern eine „Ko-Konstruktion“, die sich unter bestimmten Hinsichten und angeleitet durch bestimmte Fragestellungen und sensibilisierende Konzepte auf die im Text dokumentierten Konstruktionsprozesse bezieht. Es geht nicht darum, wie das Leben, von dem ein Text erzählt, „wirklich“ (gewesen) ist, sondern um die Entwicklung einer dichten, am Material plausibilisierten und differenzierten Theorie über biografische Konstruktionsmodi und die Kontexte, die sie hervorgebracht haben, die – je nach theoretischem Interesse und Fragestellung – auf spezifische Deutungshorizonte bezogen werden (z.B. auf die Frage nach Erfahrungen und Lernprozessen im Kontext einer geschlechts(un)typischen Berufskarriere). Der Forschungsprozess (und die Forschenden) selbst, die eingebrachten Fragestellungen und Interessen, die Theorien und methodischen Verfahren sind Teil des Re-Konstruktionprozesses und deshalb systematisch in die Analyse einzubeziehen. Das Problem der Reifikation wird damit nicht gelöst, kann aber expliziert und reflexiv bearbeitet werden. Unabhängig von projektspezifischen Interessen und Arbeitsprozessen sind bei der Interpretation eines biografischen Textes, der z.B. in einem narrativen Interview entstanden ist, mindestens drei Kontexte systematisch zu reflektieren, auf die dieser Text relational bezogen ist: 1. Biografie: Ein erster Interpretationskontext ergibt sich aus der methodologischen Prämisse, dass der Text einer Lebensgeschichte auf den Kontext der konkreten Biografie jenes Individuums verweist, das den Text in der Doppelperspektive als „erzählendes und erzähltes Ich“ verantwortet und dem der Text als „eigene“ Lebensgeschichte zugeschrieben wird. Diese Rahmung macht dann Sinn, wenn – wie von den meisten BiografieforscherInnen angenommen – Bio-
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grafieforschung nicht primär ein textwissenschaftliches, sondern ein sozialwissenschaftliches Interesse verfolgt und Aussagen über Lebensgeschichten im Kontext einer – wie auch immer theoretisch gefassten – „außertextlichen“ sozialen Wirklichkeit machen will. Diese kann als „gelebtes Leben“, als „Erfahrungsaufschichtung“ oder „Prozessstruktur“ der Erfahrungsgeschichte eines Subjekts in einer sozialen Welt, als „Laufbahn im sozialen Raum“ oder mit anderen theoretischen Konzepten gedacht werden. Für die Geschlechterforschung unterscheidet diese Annahme Zugänge, die an der inneren Funktionsweise symbolischer Strukturen (z.B. Modi biografischen Sprechens) interessiert sind, von solchen, die Geschlecht als historische und gesellschaftliche Struktur betrachten, die sozial produktiv wird und an der Konstruktion und Konstitution von Biografien und ihren symbolischen Repräsentationen beteiligt ist. 2. Interaktion und ihre symbolischen Repräsentationen: Der zweite methodologisch relevante Kontext ist der interaktive Prozess, in dem eine lebensgeschichtliche Erzählung hervorgebracht wird. Anders gesagt: Das Interview bzw. die Geschichten, die im Interview erzählt werden, werden in der konkreten Situation von den beteiligten InteraktionspartnerInnen gemeinsam „hergestellt“. Man könnte hier von „doing biography“ sprechen, einer konkret situierten Praxis, die bei der Interpretation des Produkts (z.B. des Interviewtranskripts) systematisch reflektiert werden muss. Damit geraten alle Aspekte der Interaktion zwischen InterviewerIn und ErzählerIn in den Blick (Machtverhältnisse, Interessen, Differenz- und Identifikationsaspekte, Interaktionsdynamiken usw.). Auch Aspekte der Kommunikation in sozialen Situationen und Interaktionsordnungen, die relativ unabhängig von den konkreten Interaktionspartnern bestimmte „Regeln“ vorgeben, sind hier zu reflektieren. Dies gilt auch für Prozesse des doing gender in der Interviewsituation. 3. Kulturelle Muster und soziale Regeln: Das dritte Konstruktionsfeld, auf das ein konkreter biografischer Text bezogen ist, wird bestimmt durch narrative Muster, Gattungen und Genres, durch kulturelle Modelle der Thematisierung von Biografien, konkrete Vorbilder, Erzähltraditionen und kollektive Deutungsmuster, aber auch durch soziale Vorgaben, formale und informelle Regeln institutionalisierter Praxis der Biografisierung. Biografische Erzählungen, auch wenn sie spontan hervorgebracht werden, sind nicht „frei“, sondern orientieren sich an kulturellen Wissensvorräten über Biografie(n) und ihre Präsentationsmöglichkeiten. Unter einer geschlechterinteressierten Perspektive wäre hier z.B. nach Deutungsmustern für ein (un)mögliches Frauenleben zu fragen, nach normativen Regeln, nach Möglichkeitsräumen für Variationen und „Abweichungen“, die u.U. in einer historischen Situation, einem konkreten (sub)kulturellen Kontext oder einer Familientradition gegeben sind. Mit Hilfe dieser drei, hier nur kurz angedeuteten Text-Kontext-Relationen eröffnen sich Möglichkeiten einer kontextreflexiven Rekonstruktion biografischer Texte, die für je konkrete Forschungsprojekte und -materialien methodisch und inhaltlich konkretisiert werden müssen. Sie schaffen zugleich theoretische Verknüpfungsmöglichkeiten zu anderen Analyseperspektiven konstruktivistischer Geschlechterforschung, z.B. zu interaktions-, institutionstheoretischen oder historisch-diskursanalytischen Perspektiven auf die Re- und De-Konstruktion von Geschlecht. Das skizzierte Konzept von Biografieforschung als Perspektive einer rekonstruktiven Geschlechterforschung ist ein offenes Programm, das vielfältige Anknüpfungspunkte zu aktuellen theoretischen Diskussionen in der Geschlechterforschung aufweist. Während die methodischen und methodologischen Möglichkeiten der Biografieforschung in der Geschlechterforschung zunehmend genutzt und weiterentwickelt werden, sind die theoretischen Potenziale des Biografiekonzepts erst in Ansätzen für diesen Zusammenhang erschlossen. Verweise: Doing gender Oral history und Erinnerungsarbeit Sozialisationstheorien
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Michael Meuser, Ulrike Nagel
ExpertInneninterview: Zur Rekonstruktion spezialisierten Sonderwissens
Das ExpertInneninterview ist ein in der empirischen Sozialforschung häufig eingesetztes Verfahren. Gleichwohl wurde es in der Methodenliteratur hinsichtlich seiner Besonderheit im Vergleich mit anderen Interviewtechniken lange Zeit eher randständig behandelt (vgl. Meuser/Nagel 1991); inzwischen sind erste Ansätze einer methodischen und methodologischen Diskussion zu verzeichnen (vgl. Brinkmann/Deeke/Völkel 1995, Bogner/Littig/Menz 2002, Mieg/Näf 2006). Oft wird das ExpertInneninterview im Rahmen eines Methodenmix bzw. einer Triangulation eingesetzt, z.B. in Kombination mit einer Dokumentenanalyse oder mit anderen (quantitativen und qualitativen) Interviewverfahren; es fungiert aber auch als eigenständiges Erhebungsinstrument. Wichtige Anwendungsbereiche sind die Policy- und Implementationsforschung, die Industriesoziologie, die Eliten- und die Verwendungsforschung sowie viele Felder angewandter Sozialforschung, z.B. die Sozialberichterstattung (vgl. Meuser/Nagel 2002). In der Frauen- und Geschlechterforschung werden ExpertInneninterviews vor allem in Studien zur Entwicklung und Implementierung geschlechterpolitischer Maßnahmen und Programme eingesetzt (z.B. BednarzBraun/Bruhns 1995, 1997; Meuser 1989, Schön 1999) sowie in (mikropolitischen) Forschungen zum Verhältnis von Organisation und Geschlecht (z.B. Riegraf 1996, Wimbauer 1999). Der weitgehende Mangel an methodischer und methodologischer Reflexion hat zur Folge, dass die Auswahl der Personen, die in der Forschungspraxis als ExpertInnen interviewt werden, oft keinen klaren und definierten Kriterien folgt. Der dem Verfahren zu Grunde liegende ExpertInnenbegriff ist bislang wenig systematisch diskutiert worden. Die Bestimmung des ExpertInnenbegriffs knüpft an die wissenssoziologische Unterscheidung von ExpertInnen und Laien und die entsprechende Unterscheidung von Allgemeinwissen und spezialisiertem Sonderwissen an (vgl. Schütz 1972, Sprondel 1979). ExpertInnenwissen ist in einer arbeitsteiligen Gesellschaft ein „als notwendig erachtetes Sonderwissen“ und lässt sich als „sozial institutionalisierte Expertise“ (Sprondel 1979: 141, 148) begreifen. Dieses Begriffsverständnis lässt die auch in mancher wissenschaftlicher Diskussion populär gewordene Rede, jede bzw. jeder sei Expertin bzw. Experte für das eigene Leben als eine inflationäre Ausdehnung des ExpertInnenbegriffs erscheinen. Als Experte oder Expertin wird mithin nicht jedermann oder jedefrau interviewt, sondern nur solche Akteure, die sich durch eine „institutionalisierte Kompetenz zur Konstruktion von Wirklichkeit“ (Hitzler/Honer/Maeder 1994) auszeichnen; „der Experte besitzt die Möglichkeit zur (mindestens partiellen) Durchsetzung seiner Orientierungen“ (Bogner/Menz 2002: 46). In einer geschlechtshierarchisch strukturierten Gesellschaft ist diese Kompetenz geschlechtlich ungleich verteilt. ExpertInnen sind trotz aller Umbrüche in den Geschlechterverhältnissen in den meisten Untersuchungsfeldern männlichen Geschlechts. Das gilt insbesondere, wenn die Interviewpartner Angehörige gesellschaftlicher Funktionseliten sind (vgl. Littig 2002). Die historische Entwicklung der Berufe und Professionen haben Expertise zu einer überwiegend ‚männlichen Angelegenheit‘ werden lassen (vgl. Wetterer 1992). Freilich zeichnen sich in manchen Professionen deutliche Tendenzen in Richtung einer Auflösung dieser Geschlechtsexklusivität ab.
ExpertInneninterview
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Wie Littig (2002: 191) zu Recht anmerkt, wird die Frage nach möglichen methodischen und methodologischen Konsequenzen, die sich aus der immer noch weitgehend gegebenen ‚Männlichkeit‘ des Expertenstatus ergeben, nur selten gestellt. Abels und Behrens (1998) haben einige interessante Vorschläge formuliert, wie junge Wissenschaftlerinnen im Interview mit älteren männlichen Experten – eine gerade in der Geschlechterforschung übliche Konstellation – die in dieser Konstellation angelegten, an der Geschlechtszugehörigkeit festgemachten Zuschreibungen von Merkmalen und Eigenschaften methodisch-strategisch im Sinne der Forschungsziele nutzen können. Sie haben, so berichten sie, „gerade deshalb wichtige Informationen erhalten (...), weil mann glaubt, uns Dinge von Grund auf erklären zu müssen oder Fakten auszusprechen, die mann uns als Frauen mit einem zugewiesenen niedrigerem Status nicht zutraut, richtig einschätzen zu können“ (Abels/Behrens 1998: 86). Inwieweit derartige Zuschreibungen vorgenommen werden und ob sie, wenn die Forscherinnen das wollen, in dem beschriebenen Sinne strategisch genutzt werden können, hängt allerdings nicht nur von der Geschlechtszugehörigkeit ab. Das Geschlecht der Forschenden wird nicht dekontextuiert, sondern immer im Zusammenhang mit anderen Merkmalen der Personen und der Situation wahrgenommen. Das Alter, der professionelle Status, das Thema des Interviews sind beispielhaft zu nennen (vgl. Behnke/Meuser 1999: 78ff.). Historisch ist die Entwicklung von ExpertInnentum eng an die Ausdifferenzierung von Berufsrollen geknüpft. In spätmodernen Gesellschaften wird ExpertInnenwissen in zunehmendem Maße auch in außerberuflichen Kontexten generiert. Das hat zu tun mit der Organisation von Gegenmacht und der Ausweitung von Partizipationsstrukturen. AktivistInnen in Bürgerinitiativen, Hilfeorganisationen und Selbsthilfegruppen, ehrenamtlich Tätige in Fürsorge und Sozialarbeit erwerben durch ihre Tätigkeit ein spezialisiertes Sonderwissen und verfügen damit über einen privilegierten Zugang zu Informationen. Auch ihre Expertise ist sozial institutionalisiert, wenn auch in anderer Weise als die beruflich gebundene (vgl. Meuser/Nagel 2002). Im ExpertInneninterview tritt die Person des Experten/der Expertin in ihrer biografischen Motiviertheit in den Hintergrund, stattdessen interessiert der in einen Funktionskontext eingebundene Akteur. Das ExpertInneninterview zielt auf den Wissensvorsprung, der aus der privilegierten Position der ExpertInnen in diesem Kontext resultiert. Als Expertin bzw. Experte wird angesprochen, –
wer in irgendeiner Weise Verantwortung trägt für den Entwurf, die Implementierung oder die Kontrolle einer Problemlösung oder – wer über einen privilegierten Zugang zu Informationen über relevante Personengruppen, Soziallagen und Entscheidungsprozesse verfügt. Obwohl es sich beim ExpertInnenwissen um ein spezialisiertes Sonderwissen handelt, ist es den ExpertInnen nicht notwendigerweise im Modus des „diskursiven Bewusstseins“ (Giddens 1988) verfügbar (vgl. Köhler 1992, Meuser/Nagel 1994, Schröer 1994). Diskursiv verfügbar bzw. klar und deutlich präsent sind erinnerte Entscheidungsverläufe und offizielle Entscheidungskriterien, nicht aber die fundierende Logik des Entscheidens und der Routinen des ExpertInnenhandelns. Dessen institutioneller Erfolg beruht gerade auf einem „selbstverständlichen, aber lediglich diffusen Wissen“ (Schröer 1994: 231). Diese Dimension des ExpertInnenwissens ist ein zentraler Untersuchungsgegenstand in Studien zum Verhältnis von Organisation und Geschlecht. Da sich die ExpertInnen der Relevanzen ihres Handelns keineswegs durchweg bewusst sind, kann ExpertInnenwissen nicht einfach abgefragt werden; es muss aus den Äußerungen der ExpertInnen rekonstruiert werden. Als angemessenes Erhebungsinstrument hat sich ein leitfadengestütztes offenes Interview bewährt. Auf jegliche thematische Vorstrukturierung zu verzichten, wie dies für biografisch-narrative Interviews kennzeichnend ist, brächte einerseits die Gefahr mit sich, sich den ExpertInnen als inkompetenter Gesprächspartner darzustellen und würde andererseits dem auf funktionsbezogenes Sonderwissen gerichteten, mithin thematisch begrenzten Erkenntnisinteresse nicht gerecht. Der Leitfaden wird flexibel und nicht im Sinne eines standardi-
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sierten Ablaufschemas gehandhabt, um unerwartete Themendimensionierungen durch die ExpertInnen nicht zu unterbinden. Diesen wird Gegelegenheit gegeben zu berichten, wie sie Entscheidungen treffen, anhand von Beispielen zu erläutern, wie sie in bestimmten Situationen vorgehen, zu extemporieren usw. Die Auswertung zielt darauf, im Vergleich der Interviews überindividuell-gemeinsame Wissensbestände herauszuarbeiten. Anders als beim einzelfallanalytischen Vorgehen orientiert sich die Interpretation an thematischen Einheiten, an inhaltlich zusammengehörigen, über die Texte verstreuten Passagen – nicht an der Sequenzialität von Äußerungen je Interview. Demgegenüber gewinnt der Funktionskontext der ExpertInnen an Gewicht. Ihre Äußerungen werden von Anfang an im Rahmen der institutionell-organisatorischen Handlungsbedingungen verortet, sie erhalten von hierher ihre Bedeutung und nicht von daher, an welcher Stelle des Interviews sie fallen. Es ist dieser Kontext, der die Vergleichbarkeit der Interviewtexte weitgehend sichert. Die Auswertung erfolgt in sechs Schritten (dazu ausführlich Meuser/Nagel 1991: 451ff.): 1. Themenorientierte Transkription, 2. Paraphrasierung, 3. thematische Übersicht (bis hier verbleibt die Auswertung auf der Ebene der einzelnen Interviews und nah an der Sprache der Texte), 4. thematischer Vergleich zwischen den Interviews, 5. Konzeptualisierung und Begriffsbildung und 6. Einbindung in theoretische Diskurse. Verweis: Eliten
Literatur Abels, Gabriele/Maria Behrens 1998: ExpertInnen-Interviews in der Politikwissenschaft. Das Beispiel Biotechnologie. In: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 27, Heft 1, S. 79-92 Bednarz-Braun, Ilse/Kirsten Bruhns 1995: Kommunale Frauenpolitik. Frauenbeauftragte, Gewerkschaften, Personalvertretungen. München: DJI Bednarz-Braun, Ilse/Kirsten Bruhns 1997: Personalpolitik und Frauenförderung im öffentlichen Dienst. Gleichberechtigungsgesetze zwischen Anspruch und Alltag. München: DJI Behnke, Cornelia/Michael Meuser 1999: Geschlechterforschung und qualitative Methoden. Opladen: Leske + Budrich Bogner, Alexander/Beate Littig/Wolfgang Menz (Hrsg.) 2002: Das Experteninterview. Theorie, Methode, Anwendung. Opladen: Leske + Budrich Bogner, Alexander/Wolfgang Menz 2002: Das theoriegenerierende Experteninterview. Erkenntnisinteresse, Wissensformen, Interaktion. In: Bogner, Alexander/Beate Littig/Wolfgang Menz (Hrsg.): Das Experteninterview. Theorie, Methode, Anwendung. Opladen: Leske + Budrich, S. 33-70 Brinkmann, Christian/Axel Deeke/Brigitte Völkel (Hrsg.) 1995: Experteninterviews in der Arbeitsmarktforschung. Diskussionsbeiträge zu methodischen Fragen und praktischen Erfahrungen. Beiträge zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 191. Nürnberg: IAB Giddens, Anthony 1988: Die Konstitution der Gesellschaft. Frankfurt/M., New York: Campus Hitzler, Ronald/Anne Honer/Christoph Maeder (Hrsg.) 1994: Expertenwissen. Die institutionalisierte Kompetenz zur Konstruktion von Wirklichkeit. Opladen: Westdeutscher Verlag Köhler, Gabriele 1992: Methodik und Problematik einer mehrstufigen Expertenbefragung. In: HoffmeyerZlotnik, Jürgen H.P. (Hrsg.): Analyse verbaler Daten. Über den Umgang mit qualitativen Daten. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 318-332 Littig, Beate 2002: Interviews mit Experten und Expertinnen. Überlegungen aus geschlechtertheoretischer Sicht. In: Bogner, Alexander/Beate Littig/Wolfgang Menz (Hrsg.): Das Experteninterview. Theorie, Methode, Anwendung. Opladen: Leske + Budrich, S. 173-190 Meuser, Michael 1989: Gleichstellung auf dem Prüfstand. Frauenförderung in der Verwaltungspraxis. Pfaffenweiler: Centaurus Meuser, Michael/Ulrike Nagel 1991: ExpertInneninterviews – vielfach erprobt, wenig bedacht. Ein Beitrag zur qualitativen Methodendiskussion. In: Garz, Delef/Klaus Kraimer (Hrsg.): Qualitativempirische Sozialforschung. Konzepte, Methoden, Analysen. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 441-471
ExpertInneninterview
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Meuser, Michael/Ulrike Nagel 1994: ExpertInnenwissen und ExpertInneninterview. In: Hitzler, Ronald/Anne Honer/Christoph Maeder (Hrsg.): ExpertInnenwissen. Die institutionalisierte Kompetenz zur Konstruktion von Wirklichkeit. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 180-192 Meuser, Michael/Ulrike Nagel 2002: Vom Nutzen der Expertise. ExpertInneninterviews in der Sozialberichterstattung. In: Bogner, Alexander/Beate Littig/Wolfgang Menz (Hrsg.): Das Experteninterview. Theorie, Methode, Anwendung. Opladen: Leske + Budrich, S. 257-272 Mieg, Harald A./Matthieas Näf 2006: Experteninterviews in den Umwelt und Planungswissenschaften. Lengerich: Papst Riegraf, Birgit 1996: Geschlecht und Mikropolitik. Das Beispiel betrieblicher Gleichstellung. Opladen: Leske + Budrich Schön, Christine 1999: Szenarien betrieblicher Gleichstellungspolitik. Chancengleichheit als Unternehmensleitbild versus Gleichberechtigungsgesetz – eine exemplarische Studie in Banken und Sparkassen. Königstein/Ts.: Helmer Schröer, Norbert 1994: Routiniertes ExpertInnenwissen. Zur Rekonstruktion des strukturalen Regelwissens von Vernehmungsbeamten. In: Hitzler, Ronald/Anne Honer/Christoph Maeder (Hrsg.): ExpertInnenwissen. Die institutionalisierte Kompetenz zur Konstruktion von Wirklichkeit. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 214-231 Schütz, Alfred 1972: Der gut informierte Bürger. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze, Bd. 2. The Hague: Nijhoff, S. 85-101 Sprondel, Walter M. 1979: ‚Experte‘ und ‚Laie‘: Zur Entwicklung von Typenbegriffen in der Wissenssoziologie. In: Sprondel Walter M./Richard Grathoff (Hrsg.): Alfred Schütz und die Idee des Alltags in den Sozialwissenschaften. Stuttgart: Enke, S. 140-154 Wetterer, Angelika 1992: Profession und Geschlecht. Über die Marginalität von Frauen in hochqualifizierten Berufen. Frankfurt/M., New York: Campus Wimbauer, Christine 1999: Organisation, Geschlecht, Karriere. Fallstudien aus einem Forschungsinstitut. Opladen: Leske + Budrich
Agnes Senganata Münst
Teilnehmende Beobachtung: Erforschung der sozialen Praxis
Die methodologische Begründung der Teilnehmenden Beobachtung als ethnologische Methode erfolgte im Jahr 1922 durch Bronislaw Kaspar Malinowski. Noch in den 1920er Jahren trug die breite Akzeptanz der methodologischen Begründung dieser Methode zu einem Paradigmenwechsel in der Ethnologie bei. Die Kurzversion dieses Paradigmenwechsels von der ‚arm-chairanthropology' zur ‚open-air-anthropology' fasst den Tätigkeits- und Ortswechsel der Ethnologen und die veränderte Zugangsweise zum ethnologischen Forschungsgegenstand anekdotenhaft zusammen. Er beinhaltete die Abkehr von der fragmentarischen Beschreibung fremder Völker/Kulturen, die auf zufällig und beliebig gesammelten (Reise-) Berichten, Tagebüchern und Erzählungen basierte, und die Hinwendung zu einer detaillierten und ganzheitlichen Beschreibung der Kulturen/Ethnien durch eine Ethnologin/einen Ethnologen, die ein Jahr oder länger mit der untersuchten Ethnie gelebt hat. Denn nur wenn eine forschende Person über einen längeren Zeitraum im untersuchten Feld präsent ist – so ein Argument – können das Leben und die sozialen Prozesse im Felde adäquat erforscht und re-präsentiert werden (vgl. Emerson u.a. 2001: 352). Drei Qualitäten der Teilnehmenden Beobachtung werden deutlich, die seither die zentrale und konstitutive Methode der ethnologischen Feldforschung ist und zunehmend auch in den Sozialwissenschaften an Bedeutung gewann (vgl. Apel u.a. 1995, Friebertshäuser 2003): die (1) Gleichörtlichkeit und die (2) Gleichzeitigkeit der sozialen (alltäglichen) Ereignisse, die Gegenstand der Datenerhebung sind, mit dem Prozess der Datengenerierung sowie die (3) Fokussierung der Teilnehmenden Beobachtung und der daraus resultierenden Beschreibung auf das Sichtbare, Hörbare und Spürbare, also auf das durch alle Sinne Wahrnehmbare. Florence Kluckhohn bezeichnete dieses methodische Vorgehen erstmals im Jahr 1940 als ,Teilnehmende Beobachtung‘ (Kluckhohn 1940). Sie nutzte zwei im untersuchten Feld von der Forscherin/dem Forscher wahrnehmbare Rollen, um diese Methode begrifflich zu fassen: In der Rolle der Teilnehmenden erwirbt die forschende Person eine Innensicht. Sie nimmt an den sozialen Prozessen des Feldes aktiv teil und erwirbt damit Einblick in die im Feld relevanten Handlungsstrukturen und -konzeptionen, ein Prozess, der mit dem Begriff der ‚zweiten Sozialisation‘ umschrieben wird. In der Rolle des/der Beobachtenden ist die forschende Person bei sozialen Prozessen des Feldes anwesend; sie nimmt an ihnen jedoch nicht als Akteurin/Akteur unmittelbar teil, sondern hält das Beobachtete und Erlebte schriftlich, fotografisch und evtl. einzelne Sequenzen auch audiovisuell fest. „Als ein zielgerichtetes ‚Hinsehen‘ erfordert gerade die wissenschaftliche Beobachtungstätigkeit ein Vorwissen um das, was man sehen kann und will. Über dieses Vorwissen verfügt der Feldforscher durch eine theoretische Ausbildung. (...) Und es ist genau diese theoriegeleitete Form der Beobachtung, die ihn – nach Malinowski – vom ethnologischen Laien unterscheidet.“ (Kohl 2000: 111)
In welchem Ausmaß diese zwei unterschiedlichen Rollen in einer Feldforschung wahrgenommen werden kann stark variieren. Mit erkenntnistheoretischen Argumenten werden unterschiedliche Praxisformen begründet. Diese reichen von der
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Fokussierung auf die Rolle des/der Teilnehmenden, die idealtypisch zur Mitgliedschaft in der untersuchten Gruppe führt, dem kontextbezogenen Wechsel zwischen den beiden Rollen, bis zur exklusiven Wahrnehmung der Rolle der Beobachterin/des Beobachters.
Diese variationsreiche Praxis verdeutlicht das nur gering ausgeprägte Regelsystem der Methode der Teilnehmenden Beobachtung.
Ursachen für das gering ausgeprägte Regelsystem der Methode Die große Vielfalt der Kulturformen – und die zugleich bestehende biologische Einheit der Menschen – ist Gegenstand der Ethnologie. Jede Kultur und auch jede Lebenswelt unterscheidet sich von der anderen, in jedem untersuchten Kontext gelten jeweils andere Regeln und Gesetzmäßigkeiten. Zum Zeitpunkt des Beginns einer Forschung sind die Regeln und Gesetzmäßigkeiten oft nicht bekannt, das Vorgehen des Forschers/der Forscherin kann unter diesen Voraussetzungen nicht im Voraus festgelegt werden. Daher werden Entscheidungen über die Relevanz von Themen, den Einsatz weiterer Forschungsmethoden und die Wahl der theoretischen Konzepte häufig erst während des Forschungsprozesses getroffen. Die ‚idealtypische Handlungslogik einer Forschungskonzeption‘, wie von Gabriele Sturm in diesem Band vorgestellt, greift für den ethnografischen Feldzugang mit der Teilnehmenden Beobachtung als zentrale Methode, deshalb nur beschränkt, auch wenn sie in der eigenen Kultur durchgeführt wird (vgl. Münst 1998). Die im untersuchten Feld gültigen Normen und Werte konstituieren jeweils kontextbezogene Bedingungen, die sowohl die Beteiligungs- als auch die Handlungsmöglichkeiten der forschenden Person definieren. Je nach Forschungskontext können unterschiedliche Aspekte des sozialen Profils der forschenden Person – das Geschlecht, die ethnische und nationale Herkunft, das Alter, der Familienstand und der Bildungshintergrund – Faktoren sein, die sowohl den Zugang zu und die Teilnahme an sozialen Prozessen begünstigen als auch beschränken (vgl. Warren/Hackney 2000, Watson-Franke 1988). Die untersuchte Gruppe entscheidet entsprechend ihren Regeln, an welchen Aktivitäten die forschende Person teilnehmen, welche sie beobachten kann und von welchen sie/er ausgeschlossen ist. Sie definiert damit den Handlungsrahmen des Forschers/der Forscherin, der von einer uneingeschränkten bis zu einer stark eingeschränkten Teilnahme und Beobachtung variieren kann.
Relevanz der Teilnehmenden Beobachtung im Forschungsdesign „Das Ziel der Ethnographie besteht darin, die Stimme und das Handeln, das diskursiv verfügbare und das stumme Wissen, soziale Praktiken und ihre Implikationen sowie die Bedeutungen dieses Handelns und Sprechens zu Papier zu bringen und in der schriftlichen Re-Präsentation der anderen Kultur die Position des Beobachters zweiter (oder gar dritter) Ordnung einzunehmen.“ (Kalthoff 2003: 86)
Je stärker eine Feldforschung auf das diskursiv nicht verfügbare Wissen (das stumme Wissen), „auf soziale Praktiken und ihre Implikationen sowie die Bedeutungen“ des „Handelns und Sprechens“ ausgerichtet ist, desto zentraler ist die Methode ‚Teilnehmende Beobachtung‘ für die Datengenerierung. Zielgerichtete Interviews mit Akteurinnen und Akteuren dienen dann als Ergänzung und Überprüfung der Informationen, die durch die Teilnahme am Alltagsleben der Kultur oder der Lebenswelt erworben wurden. Je ausgeprägter eine Feldforschung auf das diskursiv verfügbare Wissen der untersuchten Gruppe oder einzelner Repräsentanten/Repräsentantinnen ausgerichtet ist, desto mehr wird die
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‚Teilnehmende Beobachtung‘ genutzt, um Expertinnen/Experten für Interviews zu identifizieren, Gesprächsthemen zu generieren und Daten, die mit diskursiven Methoden gewonnen wurden, zu ergänzen.
Datengenerierung: Feldnotizen Die soziale Praxis der Akteurinnen und Akteure eines untersuchten Feldes niederzuschreiben impliziert in der Regel eine Reduktion der sozialen Komplexität der beobachteten Ereignisse, Erfahrungen, Interaktionen, Personen und Orte. Das schriftliche Wiederherstellen sozialer Prozesse und Ereignisse ist deskriptiv und selektiv. Dieser Schreibprozess kann in vier Arbeitsschritte unterteilt werden: das Niederschreiben (Notizen), die Abschrift (Beobachtungsprotokolle), das Erstellen des Textes (Zusammenstellung der Daten) und die Übersetzung (Beschreibung und Deutung). Zwei dieser Arbeitsschritte, die Niederschrift und die Abschrift, sind substanzieller Teil der Datengenerierung. Das Erstellen des Textes und die Übersetzung sind dagegen Teil des Analyseprozesses, der an dieser Stelle nicht berücksichtigt wird. – Die Niederschrift: Stichpunkte können bereits während der Ereignisse niedergeschrieben werden. In sozialen Kontexten, in denen Schreiben eine übliche Praxis ist, können ausführliche Notizen, Skizzen über die räumlichen Gegebenheiten, die Positionen der Akteurinnen und Akteure zeitgleich mit den jeweiligen Ereignissen festgehalten werden. In Kontexten, in denen Schreiben eine fremde Praxis ist, die sozialen Prozesse stören oder die Teilnahme an sozialen Prozessen verhindern würde, erfolgt die Niederschrift im unmittelbaren Anschluss. – Die Abschrift: Relativ zeitnah zum Ereignis, spätestens jedoch am Ende des Tages, erfolgt die Abschrift, die dazu dient, die Stichpunkte auszuführen, zu ergänzen und so detailliert wie möglich das Beobachtete und Erlebte zu beschreiben. Die Datenqualität ist in hohem Maße davon abhängig, dass das Niederschreiben der sozialen Interaktionen und der Handlungsabläufe getrennt vom persönlichen Erleben und den vorläufigen Interpretationen erfolgt. Manche AutorInnen schlagen vor, das persönliche Erleben und vorläufige Interpretationen als solche gekennzeichnet in die Feldnotizen zu integrieren, andere raten, diese Informationen in einem Forschungstagebuch festzuhalten (vgl. Emerson u.a. 2001: 354). Durch die kontinuierliche (unsystematische oder systematische) Teilnahme am Alltag der untersuchten Gruppe entsteht durch diesen wiederkehrenden Schreibprozess ein größerer Korpus, der keine inhaltliche Logik oder Kohärenz aufweist. Der gesamte Korpus bildet die Grundlage für die Datenanalyse und das Erstellen des Textes. Wenn bereits Ergebnisse über das zu erforschende Feld vorliegen und deshalb eine definierbare übergeordnete Forschungsfrage beantwortet werden soll, kann die Teilnehmende Beobachtung nach prozessorientierten, deskriptiven und geschlossenen (quantitativen) Kriterien erfolgen. Die auf die Beobachtungsrolle reduzierte kriteriengeleitete Praxis der Teilnehmenden Beobachtung bietet gerade bei der Erforschung von Lebenswelten, die der forschenden Person vertraut sind oder über deren Gestaltung ein vermeintliches Wissen existiert, die Möglichkeit, soziale Prozesse und Handlungen kriteriengeleitet zu beobachten und die jeweils zu Grunde liegende Handlungsmuster zu analysieren (vgl. Münst 2002). Der damit erzielte Verfremdungseffekt eröffnet einen neuen Blick auf das ‚Eigene‘ (vgl. Hauser-Schäublin 1997).
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Kritik an der Methode Die Kritik an der Methode Teilnehmende Beobachtung bezieht sich auf die Reliabilität und Repräsentativität der Forschungsergebnisse und damit auf grundlegende Forderungen, die an eine wissenschaftliche Forschung gestellt werden. Mit unterschiedlichen Argumenten wird die Reliabilität und Repräsentativität der Daten bezweifelt: Erstens sei die unsystematische Teilnehmende Beobachtung nicht wiederholbar und damit nicht überprüfbar. Als Alternative werden kurze, theorieorientierte Feldaufenthalte vorgeschlagen, bei denen exklusiv die beobachtende Rolle eingenommen wird. Um die Wiederholbarkeit der Datenerhebung zu garantieren, sollen demnach zwei zentrale Qualitäten der Teilnehmenden Beobachtung, ihre Realitätsnähe und Alltagsorientierung, aufgegeben werden. Zweitens seien Feldnotizen, wie alle Beschreibungen, selektiv, subjektiv und berücksichtigen nur die Perspektive einer Person. Exaktere Beobachtungs- und Messverfahren, so der Vorschlag einzelner Autoren, sollen die Teilnehmende Methode ersetzen. Als Entgegnung auf diese Kritik wird angeführt, dass die Selbstreflexivität der forschenden Person, die Ergänzung durch andere Datentypen, wie z.B. Interviews, Zählungen und Dokumente, die Selektivität und Subjektivität der Beobachtungsprotokolle relativieren. Als weiteres Gegenargument wird angeführt, dass die Beobachteten an der Produktion ethnographischen Wissens beteiligt sind. „Sie haben ihm (dem Forscher, Anm. A.S.M.) durch ihre Äußerungen und Handlungen etwas in seine Beobachtungsprotokolle diktiert“ (Kalthoff 2003: 77). Sie überprüfen heute – im Gegensatz zu früher – die Gültigkeit des Geschriebenen. Die LeserInnen sind eine weitere Kontrollinstanz, die die Plausibilität der Interpretationen überprüfen können, wenn die Bedingungen der Forschung transparent gemacht, die Kontexte ausführlich beschrieben und umfangreiches Material dargestellt wird, das Leserinnen/Leser zu abweichenden Erklärungen anregt. Als dritter Kritikpunkt wird angeführt, die forschende Person beschreibe und analysiere, was sie auch durch ihre Präsenz erzeuge, denn durch ihre Präsenz im Feld würden sowohl die Bedingungen als auch die Verhaltensweisen im Feld verändert. Als Gegenargumente werden angeführt, dass das von der forschenden Person Erlebte und Beobachtete zwar nicht frei von den Effekten ist, die ihre Präsenz erzeugt, damit jedoch keine aktive Intervention erfolgt. Die kontinuierliche und über einen längeren Zeitraum andauernde Teilnehmende Beobachtung hat – im Gegensatz zu Kurzzeitforschungen – gerade den Vorteil, dass sich die durch die Anwesenheit einer fremden Person entstehenden Irritationen und Reaktionen wieder relativieren. Des Weiteren wird wie bei anderen qualitativen Methoden auch die Repräsentativität der Daten als nicht gesichert kritisiert, da eine Untersuchung auf eine kleine, überschaubare soziale Einheit beschränkt sei. Neben der auf die Reliabilität und Repräsentativität der Forschungsergebnisse zielenden Kritik an der Methode der Teilnehmenden Beobachtung wird darüber hinaus deren Ineffizienz konstatiert, denn die einen längeren Zeitraum umfassende Präsenz im Forschungsfeld ist mit einem entsprechenden Zeit- und Ressourcenaufwand verbunden, ohne dass die Garantie besteht, dass während dieser Zeit immer etwas Wesentliches geschieht. Um den Ressourcenaufwand zu reduzieren, werden die Rationalisierung der Teilnehmenden Beobachtung und ein entsprechender Technikeinsatz vorgeschlagen.
Epistemologische Stärken der Methode Die Kritik an der Methode Teilnehmende Beobachtung belebte einerseits die methodologische Reflexion und trug andererseits dazu bei, dass die epistemologischen Stärken, die diese Methode auszeichnen, formuliert wurden (vgl. u.a. Emerson et al. 2001, Kalthoff 2003, Kohl 2000, Spittler 2001).
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Die Teilnehmende Beobachtung ermöglicht – und dies ist eine zentrale Stärke dieser Methode – die Grenzen zu überschreiten, die einem exklusiv sprachlichen Zugang zum Forschungsfeld inhärent sind, und Wissen sowie kulturelle Praktiken zu erfassen, die diskursiv nicht verfügbar sind. Eine detaillierte und ganzheitliche Beschreibung einer Kultur/Ethnie, einer Lebenswelt oder eines Handlungsfeldes, kann durch einen methodischen Zugang, der exklusiv auf sprachlich zugängliche Wissensbestände zielt, nicht erfolgen: Zentrale kulturelle Konzepte, Normen, Werte und kognitive Orientierungen können von den jeweiligen Akteurinnen und Akteuren sprachlich häufig nur undifferenziert oder gar nicht formuliert werden. Erhebungsmethoden, die exklusiv auf der sprachlichen Ebene ansetzen, führen daher oft nur zu sehr begrenzten Ergebnissen, wenn sie nicht durch Beobachtungen ergänzt werden (vgl. Spittler 2001: 5ff.). Habitualisierte Handlungen und die zu Grunde liegenden Handlungslogiken sind zudem nicht zwangsläufig diskursiv vermittelbar. Die kontinuierliche Beobachtung ermöglicht es, Handlungsstrukturen sowie situative Abweichungen zu identifizieren. Der Einsatz diskursiver Methoden (z.B. Interview) in Kombination mit der Teilnehmenden Beobachtung ermöglicht es, Differenzen zwischen den diskursiv vermittelten Konzepten und den beobachtbaren Handlungsstrukturen zu erfassen und damit die Beziehung zwischen kultureller Selbstkonstruktion und der beobachtbaren sozialen Praxis zu analysieren. Kulturspezifische Kommunikationsnormen können ein weiterer Faktor sein, der dem sprachlichen Forschungszugang Grenzen setzt: Wie gefragt werden darf, wie Fragen beantwortet werden und wer wen fragen darf, unterliegt kulturspezifischen Regeln. Der sprachliche Zugang setzt voraus, dass kultur-, schicht- und geschlechtsspezifische Kommunikationsnormen bekannt sind und berücksichtigt werden können. Die Präsenz der Forscherin im Forschungsfeld generiert Beziehungen und Bedingungen, die mit anderen qualitativen und quantitativen Methoden nicht hergestellt werden. Die forschende Person orientiert sich an den Bedingungen des untersuchten Feldes, während bei anderen Formen der Datenerhebung die Forschenden die Forschungsbedingungen gestalten. Die durch die ständige Präsenz entstehende Vertrautheit zwischen der forschenden Person und den Erforschten birgt jedoch auch die Gefahr, dass die Erforschten Informationen preisgeben, die sie in einer Interviewsituation zensieren würden. Für die forschende Person kann ein ethisches Dilemma dann entstehen, wenn Erforschte bestimmte Informationen nicht veröffentlicht haben wollen, diese Informationen jedoch von erkenntnistheoretischer Bedeutung sind (vgl. Stacey 1988). Im Kontext der Teilnehmenden Beobachtung entwickeln sich Gespräche mit den Erforschten situations- und kontextbezogen. Die Relevanz der Inhalte wird von den im Feld agierenden Personen definiert, die Datengewinnung ist für die Informantin/den Informanten insofern situationsund kontextbezogen.
Einsatzfelder in der Frauen- und Geschlechterforschung Für die Frauen- und Geschlechterforschung ist diese Methode insbesondere von Bedeutung, weil mit ihr Handlungsstrukturen, die Systematik des alltäglichen Handelns sowie die Abweichungen von Handlungsroutinen in ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern und sozialen Kontexten erfasst und analysiert werden können. Die epistemologischen Stärken der Methode können für alle Themenfelder und Fragestellungen der Frauen- und Geschlechterforschung genutzt werden, die sich nicht exklusiv auf das diskursiv verfügbare Wissen beziehen. Wenn die konkrete soziale Praxis Gegenstand einer Forschung ist, bietet sich die Teilnehmende Beobachtung immer als zentrale oder ergänzend genutzte Methode an, damit die Beziehung zwischen den sprachlich vermittelten Konzepten und den beobachtbaren Handlungsstrategien und -strukturen bei der Datenanalyse berücksichtigt werden kann (vgl. z.B. Hauser-Schäublin/Kalitzkus/Petersen/Schröder 2001).
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Verweise: Forschungsmethodologie Parteilichkeit und Betroffenheit
Literatur Apel, Helmut/Steffani Engler/Barbara Friebertshäuser/Burkhard Fuhs/Jürgen Zinnecker 1995: Kulturanalyse und Ethnographie. Vergleichende Feldforschung im studentischen Raum. In: König, Eckard/Peter Zedler (Hrsg.): Bilanz qualitativer Forschung. Weinheim: Deutscher Studien Verlag, S. 343-378 Emerson, Robert M./Rachel I. Fretz/Linda L. Shaw 2001: Participant Observation and Fieldnotes. In: Atkinson, Paul U./Amanda Coffey u.a. (Hrsg.): Handbook of Ethnography. London, Thousand Oaks, New Delhi: Sage Publications, S. 352-368 Friebertshäuser, Barbara 2003: Feldforschung und teilnehmende Beobachtung: In: Friebertshäuser, Barbara/Annedore Prengel (Hrsg.): Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft. Weinheim: Juventa, S. 503-534 Hauser-Schäublin, Brigitta 1997: Blick zurück im Zorn. Ethnologie als Kulturkritik. In: Zeitschrift für Ethnologie. Deutsche Gesellschaft für Völkerkunde, Berlin, Band 122, S. 3-17 Hauser-Schäublin, Brigitte/Vera Kalitzkus/Imme Petersen/Iris Schräder 2001: Der geteilte Leib. Die kulturelle Dimension von Organtransplantation und Reproduktionsmedizin in Deutschland. Frankfurt/M.: Campckhohn, Fus Kalthoff, Herbert 2003: Beobachtende Differenz. Instrumente der ethnografisch-soziologischen Forschung. In: Zeitschrift für Soziologie, Heft 1/2003, S. 70-90 Kluckhohn, Florence 1940: The Participant-Observer Technique in Small Communities. In: Anerucab Journal of Sociology, Nr. 46, S. 331-343 Kohl, Karl-Heinz 2000: Ethnologie – die Wissenschaft vom kulturell Fremden: eine Einführung. München: Beck Malinowski, Bronislaw Kaspar 1922: Argonauts of the Western Pacific. London: George Routledge Sons Münst, Agnes Senganata 1998: Der Beitrag lesbischer Frauen zur Öffentlichkeit der Autonomen Frauenbewegung am Beispiel einer Großstadt. Pfaffenweiler: Centaurus Münst, Agnes Senganata 2002: Wissensvermittlung und Geschlechterkonstruktionen in der Hochschule. Ein ethnographischer Blick auf natur- und ingenieurwissenschaftliche Studienfächer. Weinheim: Deutscher Studien Verlag Spittler, Gerd 2001: Teilnehmende Beobachtung als Dichte Teilnahme. In: Zeitschrift für Ethnologie, Heft 1/2001. Berlin: Dietrich Reimer Verlag, S. 1-25 Stacey, Judith 1988: Can there be a Feminist Ethnography? In: Women’s Studies International Forum, No. 1/1988, S. 21-27 Warren, Carol A. B./Jennifer Kay Hackney 2000: Gender Issues in Ethnography (2nd Ed.). Qualitative Research Methods. Series 9. Thousand Oaks, London, New Delhi: Sage Publications Watson-Franke, Maria-Barbara 1988: Die Bedeutung der Geschlechtsidentität in der ethnologischen Forschung. In: Schaeffer-Hegel, Barbara/Barbara Watson-Franke (Hrsg.): Männermythos Wissenschaft: Grundlagentexte zur feministischen Wissenschaftskritik. Praffenweiler: Centaurus, S. 67-82
Margarete Jäger
Diskursanalyse: Ein Verfahren zur kritischen Rekonstruktion von Machtbeziehungen
Zum Diskursbegriff Diskurse sollen im Folgenden als gesellschaftliche Redeweisen verstanden werden, die institutionalisiert sind, also gewissen – veränderbaren – Regeln unterliegen und die deshalb Machtwirkungen besitzen, weil und sofern sie Handeln von Menschen bestimmen (vgl. Link 1982, 1983). Eine solche Fassung von Diskurs schließt an den Diskurs- und Machtbegriff von Michel Foucault an, der den Diskurs auch als die sprachliche Seite einer „diskursiven Praxis“ auffasst (Link/Link-Heer 1990: 90). Sprache fungiert dabei als ein Mittel, mit dem Gegenständen, Ereignissen, Personen etc. Bedeutungen durch das im sozialen Zusammenhang tätige Subjekt zugewiesen werden. Diese Bedeutungen werden im Diskurs dadurch konventionalisiert, dass sie mit bestimmten Zeichen und Lauten verkoppelt werden. Diskurse lassen sich auch mit einem Bild aus der Natur vorstellen, wenn man sie mit „einem Fluss von ‚Wissen‘ bzw. sozialen Wissensvorräten durch die Zeit“ (Jäger 2001: 132) vergleicht. Dieses Bild hat den Vorteil, die historische Dimension von Diskursen herauszustellen, insofern Diskurse von der Vergangenheit durch die Gegenwart in die Zukunft „fließen“ und sich dabei immer wieder neu reproduzieren. Diskurs, so verstanden, meint somit Form und Inhalt von Äußerungen; seine Analyse beantwortet, grob gesagt, die Frage danach, was zu einem bestimmten Zeitpunkt von wem wie sagbar war bzw. sagbar ist. Das bedeutet, bei der Analyse wird immer auch die Frage danach gestellt, was nicht sagbar war bzw. ist. Das Bezugsfeld dieses Ansatzes von Diskursanalyse speist sich dabei vor allem (doch nicht ausschließlich) aus Jäger 2001, Link 1999, aber auch aus M. Jäger 1996, sowie Jäger/Jäger 2002. (Daneben existieren weitere diskurstheoretische Ansätze, die von einem abbildtheoretischen Diskursverständnis ausgehen (vgl. etwa van Dijk 1987, Luutz 1994, Fairclough 1992, Wodak/Meyer 2001). Mit den Worten von Foucault ausgedrückt lässt sich sagen: „Der Diskurs wird konstituiert durch die Differenz zwischen dem, was man korrekt in einer Epoche sagen könnte (nach den Regeln der Grammatik und denen der Logik) und dem, was tatsächlich gesagt wird. Das diskursive Feld ist, zu einem bestimmten Zeitpunkt, das Gesetz dieser Differenz. Es definiert so eine gewisse Zahl von Operationen, die nicht der Ordnung der linguistischen Konstruktion oder der formalen Logik angehören.“ (Foucault 1978: 316) Hans Herbert Kögler fasst die Zielsetzung einer Diskursanalyse nach Foucault wie folgt zusammen: „Immer geht es um den Nachweis, wie zu einem bestimmten Zeitpunkt von bestimmten Subjekten aufgrund welcher Prämissen ‚die Wahrheit‘ (jedoch immer in einer bestimmten Form) gesagt werden kann.“ (Kögler 1994: 44) Es ist bereits diese Fragerichtung, die den diskursanalytischen Ansatz für die Analyse von Diskursen qualifiziert, in denen sich vielfältige Machtdimensionen zur Geltung bringen – wie dies etwa innerhalb der Geschlechterforschung der Fall ist. Dies gilt vor allem für Gesellschaften, in denen Gleichheit und Freiheit normative Werte sind. Die teilweise negativen Bewertungen von Personengruppen und ihr Ausschluss aus bestimmten Sektoren müssen hier besonders legitimiert werden, damit sie gesellschaftlich akzeptiert werden können. Es handelt sich gewissermaßen bei all solchen Diskursen um Tabudiskurse. Dies bedeutet, dass diejenigen, die Vor-
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behalte gegenüber solchen Personen und Gruppen bis hin zu Staatengemeinschaften zum Ausdruck bringen wollen, bestrebt sind bzw. sein müssen, das Sagbarkeitsfeld auszudehnen. Die Grenze zwischen Sagbarem und Nicht-Sagbarem ist hier also von großer Bedeutung. Diese Bestimmung von Diskurs bedarf einiger Erläuterungen, denn in sie gehen einige inhaltliche Prämissen ein, die für die Gewichtung diskursiver Phänomene entscheidend sind.
Diskurs, Macht, Wirklichkeit, Subjekt Wenn Diskurse als ‚Fluss von Wissen durch die Zeit‘ oder als der Ort angesehen werden, an dem Bedeutungen ausgehandelt werden, dann sind diese insofern mit Macht ausgestattet, als die transportierten Inhalte bzw. das Wissen als jeweils gültige „Wahrheiten“, und damit als Applikationsvorgaben für individuelles und gesellschaftliches Handeln, soziale Praktiken und damit für gesellschaftliche Entwicklungen insgesamt fungieren. Anders gesagt: Die so genannten „Wahrheiten“, die durch Diskurse produziert und vermittelt werden, drängen machtvoll zu ihrer Umsetzung in gesellschaftliches Handeln. Ein weiterer Machteffekt geht von dem bereits angesprochenen Sachverhalt aus, dass mit der Bestimmung des Sagbaren in einem Diskurs immer auch das Nicht-Sagbare thematisiert wird. Das bedeutet, dass bestimmte Perspektiven, Fragestellungen und Blickrichtungen auch deshalb aus dem Diskurs hinausgedrängt werden, weil institutionelle Regelungen und Verfahrensweisen dies festlegen. Dabei sind solche Machtwirkungen der Diskurse zu unterscheiden von der Macht Einzelner oder Gruppen über Diskurse. Auf solche Differenzierungen ist bei Diskursanalysen jeweils einzugehen. Die Betrachtung der Machtwirkungen von Diskursen wirft die Frage danach auf, wie das Verhältnis von Diskurs und Wirklichkeit zu fassen ist. Vielfach wird angenommen, dass die Art und Weise, wie Menschen in einer Gesellschaft miteinander kommunizieren, was sie denken und sprechen, die gesellschaftliche Wirklichkeit mehr oder weniger genau bisweilen auch verzerrt widerspiegele. Der Diskurs wird aus dieser Sicht als Ausdruck gesellschaftlicher Praxis verstanden. Das hier zu Grunde gelegte Diskursverständnis setzt sich von einer solchen abbildtheoretischen Fassung des Verhältnisses von Diskurs und Wirklichkeit jedoch ab. Es geht davon aus, dass Diskurse nicht einfach Wirklichkeit widerspiegeln, sondern dass sie gegenüber der Wirklichkeit ein „Eigenleben“ führen. Diskurse werden nicht als passive Medien einer „In-Formation“ durch Realität gefasst (Link 1992: 40), die weniger materiell sind als die so genannte „echte“ Realität. Vielmehr sind Diskurse „vollgültige Materialitäten ersten Grades unter den anderen“ (Link 1992: 40). Eine solche Fassung von Diskurs als Teil von Realität leugnet natürlich nicht andere Realitäten und auch nicht, dass die Bedeutungen, die diesen Realitäten zugewiesen werden, in Diskurse einfließen. Sie sind Elemente von Diskursen. Doch das ist nicht das, was den Diskurs wesentlich ausmacht. Als Diskurs funktioniert er, insofern er Vorbilder produziert, und deshalb ist er eng mit Machtwirkungen verbunden. Die Charakterisierung von Diskursen als materiell bedeutet zugleich, dass Diskurstheorie eine materialistische Theorie darstellt. Diskurse können auch als gesellschaftliche ‚Produktionsmittel‘ aufgefasst werden. Sie sind nicht nur „bloße Ideologie“, sie produzieren Subjekte und – vermittelt über diese – gesellschaftliche Wirklichkeiten. Für die Diskursanalyse ist die Bestimmung des Diskurses als Materialität ersten Grades – unter anderen Materialitäten – von großer Bedeutung. Denn das bedeutet, dass nicht analysiert wird, ob Aussagen das, was in der Realität geschieht, richtig wiedergeben. Diskursanalyse fragt nicht danach, ob das, was Personen sagen, ‚stimmt‘. Diskursanalyse fragt danach, was die diskursiven Äußerungen bewirken. Ob die Äußerung ‚wahr‘ ist, kann ohnehin nur auf das in den Diskursen vorhandene Wissen bezogen werden. Dies gilt natürlich nicht nur für die untersuchten
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Diskurse, sondern auch für den Diskurs, aus dem heraus untersucht wird, also den wissenschaftlichen Diskurs. Insofern lässt sich durch Diskursanalyse die Produktion von Wirklichkeit rekonstruieren, die durch die Diskurse – vermittelt über die tätigen Menschen – geleistet wird. Dies wirft die Frage nach dem Stellenwert auf, der dabei dem Subjekt zukommt. Schließlich sind es letztendlich Subjekte, die Diskursverläufe beeinflussen bzw. Diskurse herstellen. Michel Foucault und denjenigen, die sich auf ihn berufen, wird häufig der Vorwurf gemacht, sie würden das Subjekt zum Verschwinden bringen. Das ist aber nur bedingt richtig. Foucault leugnet das Subjekt keineswegs. Er hat allerdings die Souveränität eines autonomen Subjekts im Diskurs bestritten. Der Diskurs lässt sich als ein soziales Gebilde begreifen, das einerseits historisch von den Subjekten konstituiert und tradiert wird und andererseits zugleich die Subjekte konstituiert. Kurz gesagt: Ohne Subjekte gibt es keinen Diskurs, und ohne den Diskurs gäbe es keine Subjekte. Diskurse sind zwar Ergebnisse menschlicher Handlungen, ohne dass die Subjekte, jeweils als Einzelne, diese Ergebnisse willentlich und wissentlich so hergestellt hätten. Natürlich fließen dabei auch existente – oder auch vergangene – Macht- und Herrschaftsbeziehungen ein.
Strukturmerkmale von Diskursen Diskurse stellen sich den Betrachterinnen zunächst als ein Gewimmel von Aussagen und Aussagefeldern dar, das mit Hilfe einer Analyse entflochten werden soll. Um dies zu gewährleisten, ist es notwendig, analytische Kategorien zu entwickeln, mit denen sich die jeweiligen Untersuchungsgegenstände, in denen sich Machtbeziehungen entfalten, im Gesamtdiskurs verorten lassen. Dies ist auch deshalb sinnvoll, weil man auf diese Weise Diskurse voneinander abgrenzen kann. Der Gesamtdiskurs einer Gesellschaft lässt sich analytisch in verschiedene Diskursstränge auffächern, die wiederum auf verschiedenen Diskursebenen produziert und reproduziert werden (vgl. hierzu ausführlich S. Jäger 2001: 158ff.). Ein Diskursstrang bezeichnet einen thematischen Ausschnitt aus den (historischen) Gesamtdiskursen. So gibt es in der Bundesrepublik Deutschland beispielsweise einen ökologischen Diskurs, einen medizinischen Diskurs, einen juristischen Diskurs und den Frauen- oder Geschlechterdiskurs. Die Diskursstränge verändern sich im historischen Verlauf, wobei sie (in der Regel) an vorangegangene Verläufe anknüpfen. Die inhaltliche Bestimmung von Diskurssträngen hängt auch vom Untersuchungsziel einer Analyse ab. Jedoch nimmt keine Diskursanalytikerin isoliert von ihren Kolleginnen Untersuchungen vor, so dass an der Bestimmung von Diskurssträngen viele mitarbeiten. Die Bestimmung von Diskurssträngen ermöglicht es, sich möglichst „neutral“ dem Gegenstand zu nähern. Das heißt, Diskursanalyse untersucht ein Themenfeld in seiner gesamten Aussagenbreite. Es kann und darf bei Diskursanalysen nicht darum gehen, nur bestimmte, z.B. sexistische, Ideologiefragmente zu erfassen. Analysiert wird ein Aussagenfeld und alle, also z.B. auch nicht-sexistische, Elemente. Wenn die Analyse zeigt, dass z.B. sexistische Momente vorherrschend oder dominant sind, dann lässt sich ein solcher Diskurs deshalb als sexistisch strukturiert bezeichnen, weil wesentliche Teile von dieser Perspektive durchdrungen sind. Ein Diskursstrang wiederum lässt sich auffächern in verschiedene Diskursfragmente. Darunter sind einzelne Aussagen zu verstehen, die zusammengenommen den Diskursstrang ausmachen. So kann zum Beispiel ein Textelement, in dem Frauen als geschwätzig bezeichnet werden, als Diskursfragment des Frauendiskurses verstanden werden. Diskursstränge prozessieren auf verschiedenen Diskursebenen. Darunter sind die soziale Orte zu verstehen, von denen aus Diskurse Wirkung entfalten: etwa Wissenschaft, Politik, Medien, Erziehung, Alltag. Die verschiedenen Diskursebenen wirken dabei aufeinander ein und sie beziehen sich aufeinander. Die analytische Abgrenzung sollte sich deshalb auf das Schwergewicht des sozialen Orts beziehen, von dem aus der Diskurs wirksam wird.
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Mit Hilfe dieser Strukturmerkmale lässt sich der Untersuchungsbereich der jeweiligen Analyse bezeichnen und von anderen abgrenzen. Daneben kann mit der Berücksichtigung der Diskursposition vor allem die Vieldimensionalität und Relativität von Machtbeziehungen in die Analyse einbezogen werden, weshalb sie eine unverzichtbare analytische Kategorie jeder Diskursanalyse sein sollte. Unter einer Diskursposition soll der Ort verstanden werden, von dem aus Einzelne oder Gruppen und Institutionen Diskurse produzieren und bewerten. Mit ihr kann gekennzeichnet werden, wie die diskursiv vermittelten jeweiligen Lebenslagen die inhaltliche Stellung zum Diskurs, d.h. seine Kenntnis und Bewertung bestimmen. Auf diese Weise können subjektive und kollektive Verstrickungen in dem jeweiligen Diskurs und die Mehrdimensionalität von Machtbeziehungen deutlich werden (vgl. M. Jäger 1996: 47ff.).
Methode von Diskursanalysen Das methodische Vorgehen von Diskursanalysen hängt natürlich letztlich immer vom konkreten Untersuchungsgegenstand ab. Einige Grundprinzipien lassen sich jedoch festhalten: –
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Erschließung des diskursiven Kontextes: Nachdem die zu untersuchenden Diskursebenen und Diskursstränge festgelegt wurden, wird der historische Verlauf des Diskurses charakterisiert. In der Regel geschieht dies mittels vorliegender wissenschaftlicher Untersuchungen, die unter diskurstheoretischer Perspektive aufgenommen werden. Resultat dieses Analyseschritts ist die Kenntnis über die wichtigsten Verläufe und Schwerpunkte des Diskurses, auf deren Grundlage weitere Schwerpunkte gesetzt werden können. Auch wird die Diskursebene der Untersuchung skizziert und ihre Bedeutung und Funktion herausgestellt. Archivierung und Aufbereitung der zu analysierenden Materialbasis: Es folgt die Erfassung des Analysematerials, das mit Hilfe eines für die Untersuchung spezifizierten Analyseleitfadens bearbeitet wird. Eine Strukturanalyse des Materials kann eine Partitur der inhaltlichen Aspekte des Materials erstellen: Es wird ein Überblick über die angesprochenen/aufgegriffenen Themen gegeben; es können Häufungen aber auch das Fehlen bestimmter Thematiken, die andernorts angesprochen wurden, aufgezeigt werden; ebenso zeitliche Präsentationen bestimmter Thematiken im Hinblick auf diskursive Ereignisse etc. Insgesamt kann eine Strukturanalyse die Rekurrenz der Aussagen herausarbeiten. Im Ergebnis können einer oder mehrere Texte bestimmt werden, die für den Sektor bzw. etwa auch die Diskursposition typisch sind. Der Strukturanalyse folgen eine oder mehrere Feinanalysen, in denen die Tiefenstruktur der Aussagen ermittelt wird. Dies geschieht, indem die Textoberfläche ebenso wie die sprachlich-rhetorischen Mittel (Kollektivsymbolik, Anspielungen, Präsuppositionen, Aktantenstruktur, Perspektiveinnahmen) und die inhaltlich-ideologischen Aussagen systematisch analysiert werden. Die Auswahl solcher Texte ergibt sich zwingend aus der Strukturanalyse. Erstellung einer Gesamtanalyse: Alle bisher erzielten wesentlichen Ergebnisse (der Strukturund Feinanalyse) werden reflektiert und einer Gesamtaussage zugeführt.
Diskurstheorie und -analysen und ihre Bedeutung für die Geschlechterforschung Gerade die Möglichkeit, mit Hilfe von Diskursanalysen den Machtfaktor gesellschaftlicher Beziehungen im Blick zu halten, hat – zunächst in den USA, aber zunehmend auch in Europa und Deutschland – dazu geführt, dass feministische Sozialwissenschaftlerinnen und Philosophinnen sich insbesondere mit der Machtanalytik von Michel Foucault auseinander gesetzt haben. Die
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dabei herausgearbeiteten produktiven Gesichtspunkte können nicht nur für den Feminismus genutzt, sondern auch auf den gesamten Komplex der Geschlechterforschung appliziert werde. In Deutschland ist dies im Bereich der historischen Geschlechterforschung z.B. von Hannelore Bublitz (1998, 1999), Andrea Bührmann (1995, 2001), Sabine Mehlmann (1996) sowie Claudia Bruns (2002) vorgenommen worden. Folgende Gesichtspunkte sind dabei für die Geschlechterforschung von besonderer Bedeutung: Auf die Konstruktion einer „Identität der Frau“ oder „des“ Mannes kann bei solchen Analysen verzichtet werden. Die spezifischen Erlebnis-, Denk- und Verhaltensformen von Frauen und Männern werden in diskurstheoretischer Perspektive auf ihren realen Ursprung zurückverfolgt. Dabei treten die Formungsprozesse zu Tage, die das herausbilden, was auf der Erfahrungsebene dann als spezifisch „weibliche“ oder „männliche“ Erfahrungen und Kategorien erscheinen. Auf diese Weise kann sich Kritik an Unterdrückung und Ausschließung auf konkrete Praktiken berufen, mit denen diese Einschränkungen hervorgebracht werden und nicht auf eine irgendwie geartete generelle „Identität der Geschlechter“. Ebenso existiert in dieser Perspektive kein Kollektivsubjekt „Frau“ oder „Mann“. Die Kritik an Unterdrückung kann aus den vielfältigen Positionen von Personen (Klassen, Kulturen, Professionen) heraus artikuliert werden. Birgit Rommelspacher (1995) hat für diesen Sachverhalt den Begriff der „Dominanzkultur“ angeboten. Folglich wird auch nicht von einer Dichotomie von Unterdrückten und Unterdrückenden ausgegangen. Frauen sind nicht per se die „Unterdrückten“ und Männer nicht „Unterdrückende“: „Vielmehr handelt es sich in den geschlechtsspezifischen Machtbeziehungen um echte Relationen, in denen Frauen durchaus bestimmte Machtmöglichkeiten und Beeinflussungschancen haben, auch wenn diese sozialstrukturell sehr ungleiche Voraussetzungen beinhalten“ (Kögler 1994: 198). „Auch Frauen haben Macht. Selbst wenn ihnen der Zugang zu Machtressourcen wie Geld, soziales Ansehen, beruflicher Status gänzlich verweigert würde, blieben den Frauen noch andere Quellen von Macht, zum Beispiel die Beziehungsmacht, das heißt die Macht, die sie daraus schöpfen können, dass sie als Person mit ihrer Zuwendung, Fürsorge oder in ihrer sexualen Attraktivität gebraucht werden“ (Rommelspacher 1995: 26f.). Es versteht sich, dass diese Perspektive Abschied von der Vorstellung einer allgemeinen Theorie des Patriarchats nimmt und patriarchale Herrschaft immer im Geflecht verschiedener Machtdimensionen positioniert. Auch die Berufung auf universelle Rechte ist z.B. in Verbindung mit Frauenbefreiung nicht notwendig. Es geht zwar um gleiche Chancen für Frauen, doch entscheidend ist, dass bisher versperrte Zugänge zu Erfahrungen im jeweils historischen und sozialen Zusammenhang ermöglicht werden. Eine Geschlechterforschung, die sich mit Hilfe von Diskurstheorie und -analyse ihren Gegenständen nähert, bedarf deshalb keiner totalisierenden Sicht, um Macht- und Herrschaftsstrukturen zu erfassen. Sie kann vielmehr die Einsicht in die Produktivität von Machtbeziehungen nutzen, um Kritik (und Widerstand) zu formulieren. Verweise: (De)Konstruktion und Diskurs Genealgoie Wissenschafts- und Technikforschung
Literatur Bruns, Claudia 2002: „Erfahrungen“ des Männlichen zwischen Sexualität und Politik (1880-1920): Annäherungen an eine Historiographie des Politischen mit Michel Foucault. In: Martschukat, Jürgen (Hrsg.): Geschichte schreiben mit Foucault. Frankfurt/M.: Campus, S. 219-240 Bührmann, Andrea D. 1995: Das authentische Geschlecht. Die Sexualitätsdebatte der westdeutschen Frauenbewegung und die Foucault’sche Machtanalyse. Münster: Westfälisches Dampfboot Bührmann, Andrea D. 2001: Geschlecht und Subjektivierung. In: Kleiner, Marcus S. (Hrsg.): Michel Foucault. Eine Einführung in sein Denken. Frankfurt/M.: Campus, S. 123-136
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Bublitz, Hannelore 1998: Das Geschlecht der Moderne. Zur Genealogie der Geschlechterdifferenz. In: Bublitz, Hannelore (Hrsg.) 1998: Das Geschlecht der Moderne. Frankfurt/M.: Campus, S. 26-48 Bublitz, Hannelore 1999: Diskursanalyse als Gesellschafts-‚Theorie‘. „Diagnostik“ historischer Praktiken am Beispiel der ‚Kulturkrisen‘-Semantik und der Geschlechterordnung um die Jahrhundertwende. In: Bublitz, Hannelore/Andrea Bührmann/Christine Hanke/Andrea Seier (Hrsg.): Das Wuchern der Diskurse. Perspektiven der Diskursanalyse Foucaults. Frankfurt/M., New York: Campus Dijk, Teun A. van 1987: Communicating Racism. Newbury Park: Sage Fairclough, Norman 1992: Discourse and Social Change. Cambridge: Policy Press Foucault, Michel 1978: Dispositive der Macht. Berlin: Merve Jäger, Margret 1996: Fatale Effekte. Die Kritik des Patriarchats im Einwanderungsdiskurs. Duisburg: DISS Jäger, Siegfried 2001: Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung, Duisburg: DISS, 3., gegenüber der 2. überarbeiteten und erweiterten unveränderte Aufl. Jäger Siegfried/Margarete Jäger 2002: Das Dispositiv des Institutionellen Rassismus. Eine diskurstheoretische Annäherung. In: Demirovic, Alex/Manuela Bojadzijev (Hrsg.): Konjunkturen des Rassismus. Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 212-224 Kögler, Hans Herbert 1994: Michel Foucault. Stuttgart, Weimar: Metzler Link, Jürgen 1982: Kollektivsymbolik und Mediendiskurse. In: kultuRRevolution 1, S. 6-21 Link, Jürgen 1983: Was ist und was bringt Diskurstaktik. In: kultuRRevolution 2, S. 60-66 Link, Jürgen 1992: Die Analyse der symbolischen Komponenten realer Ereignisse. Ein Beitrag der Diskurstheorie zur Analyse neorassistischer Äußerungen. In: Jäger, Siegfried/Franz Januschek (Hrsg.): Der Diskurs des Rassismus. Oldenburg: OBST 46, S. 73-92 Link, Jürgen 1999: Versuch über den Normalismus. Opladen: Westdeutscher Verlag, 2. Aufl. Link, Jürgen/Ursula Link-Heer 1990: Diskurs/Interdiskurs und Literaturanalyse. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik (LiLi) 77, S. 88-99 Luutz, Wolfgang (Hrsg.) 1994: „Das soziale Band ist zerrissen“. Sprachpraktiken sozialer Desintegration. Leipzig: Unversitätsverlag Mehlmann, Sabine 1996: Das vergeschlechtlichte Individuum – Thesen zur historischen Genese des Konzeptes männlicher Geschlechtsidentität. Lukàcs Institut für Sozialwissenschaften. Paderborn: Universitätsschriften Rommelspacher, Birgit 1995: Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit und Macht. Berlin: Orlanda Wodak, Ruth/Michael Meyer (Hrsg.) 2001: Methods of Critical Discourse Analysis. London: Sage
Caroline Kramer, Anina Mischau
Sozialberichterstattung: Frauenberichte oder ein „gegenderter“ Datenreport?
Nicht nur in den Diskursen der Frauen- und Geschlechterforschung seit den 1990er Jahren, sondern auch im Mainstream der sozialwissenschaftlichen Ungleichheits- und Lebensstilforschung hat zunehmend die Erkenntnis Eingang gefunden, dass nicht allein vertikale Ungleichheitsfaktoren (z.B. Bildungsstand, beruflicher Status, Einkommen) zur Erklärung von Unterschieden in der Lebensführung oder zur Beschreibung gesellschaftlicher Ungleichheiten herangezogen werden können, sondern dass auch horizontale Faktoren (z.B. Geschlecht, Alter, ethnische Zugehörigkeit) in die Analyse mit einbezogen werden müssen (vgl. z.B. Beck 1994, Geißler 1996). Um mögliche Wechselwirkungen zwischen horizontalen und vertikalen Ungleichheitsfaktoren und deren Auswirkungen auf die individuelle Lebensführung einerseits und die Reproduktion oder Auflösung gesellschaftlicher Ungleichheit andererseits beschreiben und analysieren zu können, ist es jedoch unabdingbar, diese auch sichtbar machen zu können. Ein Instrument hierfür ist die Sozialberichterstattung. Die Sozialberichterstattung kann sicher nicht als eine der „Domänen“ der Frauen- und Geschlechterforschung angesehen werden. Da jedoch die Frauen- und Geschlechterforschung beim Aufdecken geschlechtsspezifischer Ungleichheiten innerhalb einer Gesellschaft auf Daten der Sozialberichterstattung zurückgreift bzw. zurückgreifen muss, ist die Frage zu stellen, inwieweit diese zentrale Instanz der Berichterstattung über eine Gesellschaft auch geschlechtsspezifische Unterschiede darstellt oder Geschlecht als Strukturkategorie berücksichtigt.
Sozialberichterstattung und ihre Ziele Die regelmäßige Berichterstattung über wichtige gesellschaftliche Entwicklungen und den „Gesamtzustand“ der Gesellschaft hat sich die Sozialberichterstattung zur Aufgabe gemacht. Aufbauend auf den Ansätzen des US-amerikanischen Sozialwissenschaftlers Mancur Olson, der 1969 mit seinem ersten Entwurf eines nationalen Sozialberichts („Toward a Social Report“) den Grundstein für eine moderne Sozialberichterstattung gelegt hatte, wurde in Deutschland seit den 1970er Jahren von unterschiedlichen Akteuren und auf unterschiedlichen Maßstabsebenen begonnen, eine systematische Sozialberichterstattung zu etablieren. Nach Zapf (1977: 11) hat Sozialberichterstattung zum Ziel, „über gesellschaftliche Strukturen und Prozesse sowie über die Voraussetzungen und Konsequenzen gesellschaftspolitischer Maßnahmen regelmäßig, rechtzeitig, systematisch und autonom zu informieren.“ Auf der Grundlage dieser Definition, die in der „Hochphase der Sozialberichterstattung“, nämlich in den 1970er Jahren, entstand, in denen unter der sozialliberalen Koalition zahlreiche wichtige gesellschaftliche Prozesse ihren Ausgang nahmen (Änderungen im Ehe- und Familienrecht, §218 usw.), wurden die ersten Berichte erstellt. Parallel dazu wurden so genannte Sozialindikatoren zur Messung nicht nur der o.g. Strukturen und Prozesse entwickelt, sondern auch dahingehend,
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inwieweit wichtige gesellschaftliche Ziele erreicht werden, wie z.B. die Gleichberechtigung von Männern und Frauen oder die Integration von Migranten und Migrantinnen. In einer späteren Definition werden Sozialberichte von Zapf (1999: 23) folgendermaßen beschrieben. „Sozialberichte sind gesellschaftspolitische Analysen mit der klaren Fragestellung, ob sich die objektiven Lebensbedingungen und das subjektive Wohlbefinden, und über individuelle Dimensionen hinaus, ob sich die Qualität der Gesellschaft verbessert haben.“ Dabei werden die beiden zentralen Analysedimensionen betont, nämlich zum einen die objektiven Lebensbedingungen (messbar mit Indikatoren, wie z.B. Lebenserwartung, Bildungsbeteiligung, Haushaltseinkommen) und zum anderen die subjektive Bewertung der eigenen Lage (gemessen z.B. mit spezifischen Zufriedenheiten). Diese beiden Dimensionen sollten in einem Bericht, der als Sozialbericht verstanden werden möchte, abgedeckt sein, was jedoch nicht immer der Fall ist.
Der Datenreport als zentrales Instrument der Sozialberichterstattung Um verschiedene Typen von Sozialberichten zu unterscheiden, bieten sich nach Noll (1998: 635f.) mehrere Dimensionen an: 1. die Maßstabsebene (von supranational bis kommunal), 2. die Art der Sozialberichterstattung (umfassend oder speziell) und 3. welche Akteure den Sozialbericht erstellt haben (amtliche oder nicht amtliche Akteure), da damit auch immer unterschiedliche Voraussetzungen und verschiedene politische Zielsetzungen der Berichte verbunden sind. Der „Datenreport“ ist seit 1983 der zentrale allgemeine Sozialbericht der Bundesrepublik Deutschland, der unter der Federführung amtlicher Akteure erstellt wird. Seit 1985 wird der Datenreport vom Statistischen Bundesamt gemeinsam mit Vertretern und Vertreterinnen der wissenschaftlichen Sozialberichterstattung (seit 1992 vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialwissenschaften (WZB) und von der Abteilung Soziale Indikatoren des Zentrums für Umfragen, Methoden und Analysen (ZUMA)) herausgegeben. In seiner mittlerweile elften Auflage aus dem Jahr 2006 stellt er sich als ein zweigeteilter Bericht dar, dessen erster Teil verschiedene Themenfelder, wie Bevölkerung, Bildung, Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit usw., behandelt, aus denen mit Hilfe der amtlichen Statistik aktuelle Ergebnisse und Trends dargestellt werden können. Der zweite Teil, der den Titel „Objektive Lebensbedingungen und subjektives Wohlbefinden im vereinten Deutschland“ trägt, versteht sich als „kontinuierliche Wohlfahrtsmessung und Dauerbeobachtung des sozialen Wandels“ (Noll/Habich 2006: 435) und behandelt zwar auch einzelne Lebensbereiche, stützt sich aber in stärkerem Maße auf Ergebnisse sozialwissenschaftlicher Umfragen, mit Hilfe derer subjektive Bewertungen und Erwartungen analysiert werden können und somit die Darstellung um das Meinungsbild der Bürgerinnen und Bürger ergänzt werden kann. In einzelnen Kapiteln des Datenreports wurde zwar bis 1992 noch von Lehrern (statt Lehrkräften) und Studenten (statt Studierenden) gesprochen, jedoch wurde schon frühzeitig versucht, die in der amtlichen Statistik verfügbaren geschlechtsspezifischen Differenzierungen in die Darstellungen einzuarbeiten. Auch die seit 1985 etablierte wissenschaftliche Beteiligung in den Kapiteln der subjektiven Bewertung war grundsätzlich bemüht, in ihren Analysen nach Geschlecht zu differenzieren. In unregelmäßigen Abständen werden im sozialwissenschaftlichen Teil II in einem Kapitel „Einstellungen zur Rolle der Frau“ Ergebnisse aus dem ALLBUS (der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften) vorgestellt, in denen die Haltung zur Rollenverteilung zwischen Mann und Frau und vor allem zu den Konsequenzen der Frauenerwerbstätigkeit thematisiert wird (vgl. Statistisches Bundesamt 2006b: 516ff.). Dennoch blieben
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und bleiben wichtige Aspekte, die die Lebenssituationen von Frauen ausmachen, wie der ungleiche Zugang zu Führungspositionen, die ungleiche Verfügbarkeit über finanzielle Mittel uvm. unberücksichtigt. Hinzu kommt, dass bereits in der Art der Datenerhebung, die diesen Berichten zugrunde liegt, eine systematische Untererfassung von „frauenspezifischen“ Aspekten zu beobachten ist, wie am Ende dieses Beitrags am Beispiel der Haushaltsdefinitionen und am Beispiel des Lebensbereichs Verkehr aufgezeigt wird. Neben dem Datenreport als Berichterstattung über die „Gesamtgesellschaft“ hat sich (etwa zeitgleich) eine spezielle „Frauenberichterstattung“ etabliert mit dem Ziel, die Lebenssituation von Frauen umfassender abzubilden.
Berichterstattung zur Situation von Frauen in Deutschland „Frauenberichte“ sind ein Beispiel für eine „spezielle“ Sozialberichterstattung, die sowohl von amtlichen wie nicht amtlichen Akteuren erstellt werden. Um sie mit dem „Datenreport“ vergleichen zu können, werden an dieser Stelle nur jene „Frauenberichte“ betrachtet, die in den letzten ca. 25 Jahren veröffentlicht wurden, sich ebenfalls auf die nationale Maßstabsebene beziehen, eine annähernd kontinuierliche Berichterstattung gewährleisten, ein breites Themenspektrum repräsentieren und damit (zumindest annähernd) als Sozialberichte angesehen werden können. Einige Berichte zur Situation von Frauen in Deutschland stammen vom Statistischen Bundesamt im Wiesbaden, das in erster Linie für die Erstellung, Aufbereitung und Publikation bundesdeutscher Statistiken zuständig ist. Bereits 1983 – also zeitgleich mit dem ersten Datenreport – veröffentlichte das Statistische Bundesamt den Einzelbericht „Die Frau in Familie, Beruf und Gesellschaft“, der 1987 als aktualisierte Neuauflage erschien (Statistisches Bundesamt 1987). Seit Ende der 1990er Jahre publiziert das Statistische Bundesamt in unregelmäßigen Abständen in seiner Reihe „Im Blickpunkt“ Themenhefte zu „Frauen in Deutschland“ (vgl. Statistisches Bundesamt 1998, 2004b, 2006a), deren umfassendes, rein deskriptives Datenmaterial einen konzentrierten Ausschnitt aus der Bundesstatistik darstellt und an vielen Stellen Auszügen aus dem Statistischen Jahrbuch entspricht: Die Daten sind in Tabellen oder Schaubildern aufbereitet, umfassen unterschiedliche Betrachtungsjahre und Zeitvergleiche sowie zum Teil auch Entwicklungen oder Aufschlüsselungen nach verschiedenen Altersgruppen und Kohorten. Die Darstellungen sind jeweils mit kurzen Kommentaren versehen. Analog zum Aufbau des „Datenreports“ beschäftigen sich die einzelnen Kapitel mit der Situation der weiblichen Bevölkerung aus demographischer Sicht, mit dem Bereich Bildung und Ausbildung, mit dem Bereich Erwerbstätigkeit, mit privaten Lebensformen, mit der finanzielle Situation von Frauen, mit ihrer gesundheitlichen Situation und mit der Beteiligung von Frauen am öffentlichen Leben. Alle Hefte bieten einen Überblick und jeweils knappe Erläuterungen über den Wandel der objektiven Lebenssituationen von Frauen in den entsprechenden Zeiträumen. Sie nehmen allerdings – wie nahezu alle Berichte der amtlichen Statistik – keinen Bezug auf subjektive Bewertungen dieser Lebenssituationen und stellen das Datenmaterial auch in keinen gesellschaftspolitischen Kontext. Bewertungen oder Analysen, inwieweit sich z.B. geschlechtsspezifische Ungleichheiten verändern oder nivellieren (und worauf dies möglicherweise zurück geführt werden könnte) oder wo (weiterhin) gesellschaftlicher wie gesetzlicher Handlungsbedarf besteht, werden nicht angeboten, sondern den Lesern und Leserinnen selbst überlassen. Eine Berichterstattung zur Situation von Frauen in Deutschland seitens der Bundesregierung oder entsprechender Ministerien ist keineswegs eine „Erfindung“ der 1980er Jahre, wenngleich eine solche Berichterstattung erst seit dieser Zeit systematisiert und verstetigt wurde. Seit 1980 werden von den jeweils zuständigen Bundesministerien in unterschiedlichen zeitlichen Abständen die Berichte „Frauen in der Bundesrepublik Deutschland“ bzw. „Frauen in Deutschland“ veröffentlicht (vgl. z.B. BMJFG 1980, 1984; BMJFFG 1989; BMFJ 1992; BMFSFJ 1998, 2002, 2005a). Auch wenn sich im Laufe der Berichtsjahre die Zuschnitte der einzelnen Kapitel verän-
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dert haben, beschäftigen sie sich dennoch weitgehend übereinstimmend mit Themenbereichen, die in erster Linie die unmittelbar durch Gesetze und staatliche Maßnahmen beeinflussbaren Lebensbereiche und somit auch einen wesentlichen Teil der gesellschaftspolitisch relevanten Themen umfassen: z.B. Bildung und Ausbildung, Erwerbstätigkeit, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, gesellschaftliche Partizipation, Frauen mit Behinderung, Migrantinnen, Gewalt gegen Frauen usw. Die Berichte stellen, vor allem durch ihre kontinuierliche Fortschreibung, ein gründliches und umfangreiches Berichtswesen zur objektiven Lage von Frauen in Deutschland dar, das einen guten, deskriptiven Überblick über den Wandel der objektiven Lebenssituationen von Frauen in den vergangenen Jahrzehnten bietet. Wie die Berichte des Statistischen Bundesamtes beziehen sie sich weitgehend auf Daten der Bundesstatistik und nehmen keinen Bezug auf subjektive Bewertungen der Lebenssituationen. Dies ist auch nicht intendiert. Die Berichte sind vor allem als Informationsgrundlage für die öffentliche Diskussion über die tatsächliche Gleichberechtigung der Frauen und Männer in Deutschland gedacht und sollen zudem über wichtige Maßnahmen und Absichten der Bundesregierung unterrichten. Anders als die Berichte des Statistischen Bundesamtes beleuchten sie daher auch die einzelne Themen betreffenden rechtlichen Regelungen und deren Auswirkungen, thematisieren zahlreiche Problemfelder und (gesetzliche wie gesellschaftspolitische) Handlungsbedarfe hinsichtlich der aufgeführten Aspekte und des präsentierten Datenmaterials und diskutieren bisherige Maßnahmen, in den letzten Jahren ergänzt durch detaillierte Erläuterungen zu (staatlichen) gleichstellungspolitischen Maßnahmen oder Konzepten und deren rechtliche wie institutionelle Rahmenbedingungen sowie zur Frauen- und Geschlechterforschung. Damit werden diese Berichte ausdrücklich in einen Kontext mit (z.T. europäischer) Gesellschaftspolitik gestellt, deren Ziel die Gleichstellung beider Geschlechter in der Gesellschaft ist. Natürlich darf dabei nicht übersehen werden, dass diese Berichte allesamt Regierungsberichte und somit nicht gänzlich frei von politischen Interessen der jeweiligen regierungsbildenden Parteien sind. Der 2005 im Auftrag des Bundesministeriums für Familien, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) erstellte „1. Datenreport zur Gleichstellung von Frauen und Männern in der Bundesrepublik Deutschland“ (BMFSFJ 2005b) betritt in mehrfacher Hinsicht Neuland. Hier wird zum ersten Mal systematisch und umfassend vorhandenes Datenmaterial zur sozialen Lage und Lebensführung von Frauen und Männern in Deutschland zusammengetragen, miteinander verglichen, ausgewertet und interpretiert. Berücksichtigt werden dabei zentrale Lebensbereiche, z.B. Bildung, Ausbildung und Weiterbildung, Erwerbstätigkeit und Erwerbseinkommen sowie Arbeitsmarktintegration, Familien- und Lebensformen, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Politische Partizipation und bürgerschaftliches Engagement, Soziale Sicherung, Gesundheitsstatus und Gesundheitsrisiken, Behinderung, Gewalthandlungen und Gewaltbetroffenheit. Anders als in früheren „Frauenberichten“ fokussiert die Darstellung nicht mehr auf die „besondere“ Situation von Frauen. Im Mittelpunkt stehen nun die Betrachtung aktueller Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern und die Frage nach möglichen Annäherungstendenzen in den Lebenssituationen und Teilhabechancen beider Geschlechter. Darüber hinaus werden aber auch andere Ungleichheitsstrukturen beleuchtet und z.B. ein Augenmerk auf (anhaltende) Disparitäten oder Angleichungstendenzen zwischen Frauen und Männern in den west- und ostdeutschen Bundesländern oder zwischen Migrantinnen und Migranten einerseits und der bundesdeutschen Bevölkerung andererseits gerichtet. Neu ist, dass in den meisten Kapiteln die Daten für Deutschland auch in einen europäischen Kontext und Vergleich gestellt werden und dass zumindest punktuell auch Unterschiede innerhalb einer Geschlechtergruppe sichtbar gemacht werden. Neu ist auch, dass für die Themenbearbeitung nicht nur auf Daten des Statistischen Bundesamtes zurückgegriffen wird, sondern auch andere repräsentative Untersuchungen genutzt werden, um den Blick erweitern und vertiefen zu können. Punktuell wird bei einigen Themen der Blick auch auf die subjektive Lebenssituation gewendet bzw. auf subjektive Bewertungen oder Einschätzungen derselben, was für einen „amtlichen“ Bericht ein Novum darstellt. Alles in allem entspricht dieser Bericht in großem Umfang den o.g. Anforderungen an einen Sozialbericht.
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Neben den aufgeführten „amtlichen“ Berichten soll noch auf zwei Publikationen hingewiesen werden, denen es annähernd gelungen ist, den Kriterien einer „Frauen-Sozialberichterstattung“ zu entsprechen: die beiden von der Hans-Böckler-Stiftung herausgegebenen WSIFrauenDatenReporte aus den Jahren 2000 und 2005 (vgl. Klammer u.a. 2000, Bothfeld u.a. 2005). Beide Bände geben einerseits einen Überblick über jeweils aktuelle Daten zu einzelnen Themen (z.B. Demographie, Erwerbstätigkeit, Soziale Sicherung), die im ersten Bericht teilweise, im zweiten dann sehr umfassend im EU-Kontext verglichen werden, um so eine bessere Einordnung und Bewertung der Situation in Deutschland vornehmen zu können. Beide WSIFrauenDatenReporte geben darüber hinaus sehr übersichtlich Entwicklungen und Veränderungsprozesse im Strukturwandel und damit der objektiven Lebenssituation von Frauen (und z.T. Männern) in Deutschland wieder. Für den ersten Bericht wurden überwiegend Daten des Statistischen Bundesamtes und der Bundesanstalt für Arbeit zusammengestellt und aufbereitet. Im zweiten WSI-FrauenDatenReport wurde die Datenbasis um weitere Datensätze und Repräsentativbefragungen erweitert. Blieb der erste Bericht noch weitgehend einer deskriptiven Darstellung verhaftet, hat der zweite Datenreport einen deutlich stärkeren analytischen Impetus und gesellschaftspolitischen Bezug. Immer wieder nimmt er z.B. kritisch dazu Stellung, inwieweit Standardindikatoren der amtlichen Datenerhebung geschlechtsspezifische Strukturen auch wirklich hinreichend erfassen können, arbeitet er in der Dateninterpretation geschlechterpolitische Probleme und gesellschaftspolitische Handlungsfelder heraus und verknüpft diese auch mit einer kritischen Perspektive auf Möglichkeiten und Grenzen (bisheriger) gesetzlicher Regulierungen. In den zweiten WSI-FrauenDatenReport haben zudem (z.B. beim Thema Arbeitszeiten – Wunscharbeitszeiten) auch erste subjektive Aspekte der objektiv beschriebenen Lebenssituation Eingang gefunden.
Geschlechtsspezifische Ungleichheiten in den Grundlagen der Sozialberichterstattung Im Folgenden werden exemplarisch zwei Bereiche betrachtet, in denen sich besonders klar frühere, aber auch aktuelle Ungleichheiten in der Darstellung der Lebenssituationen beider Geschlechter niederschlagen. Diese beiden Bereiche bzw. Themenfelder sind: 1) Haushalte und ihre Darstellung in der amtlichen Statistik bzw. in den Datenreports und 2) Verkehr. 1) Da der jährlich seit 1957 durchgeführte Mikrozensus mit einer 1%-Stichprobe (ca. 820.000 Personen in 370.000 Haushalten) seit der letzten Volkszählung 1987 die einzige laufende amtliche Statistik über Haushalte und ihre BewohnerInnen darstellt, ist er zum wichtigsten Erhebungsinstrument für Fragen zur Bevölkerung, Familienstruktur, Bildung und die Erwerbsarbeit geworden. Wie nun ein Haushalt, eine Familie oder eine Lebensgemeinschaft definiert werden, hat Folgen auf die Sichtbarkeit einzelner Mitglieder dieser Einheiten. Bis zum Jahr 1984 wurde im Mikrozensus analog zum heute noch gültigen Sozialgesetzbuch eine Person zum „Haushaltsvorstand“ bestimmt, nämlich diejenige Person, die den größten finanziellen Beitrag zum Haushaltseinkommen leistet, was sehr häufig der Mann war/ist. Alle anderen Personen wurden in ihrem Verhältnis zu dieser Bezugsperson definiert. Seit 1985 wurde dies im Mikrozensus dahingehend geändert, dass diese Person nun „Haushaltsbezugsperson“ heißt, nicht mehr über ihren finanziellen Beitrag zum Haushaltseinkommen definiert wird, sondern nur noch über 15 Jahre alt sein muss und bei Ehepaaren einer der beiden Ehegatten sein sollte (vgl. Lengerer/Bohr/Janssen 2005). Obwohl also als Erhebungseinheit der Haushalt dienen soll, wird über die Festlegung einer „Haushaltsbezugsperson“ eine gleichberechtigte Behandlung der Erwachsenen im Haushalt verhindert. Dass im Sozialhilfegesetz und im Rahmen von anderen Gesetzen für staatliche Sozial- und Transferleistungen der immer noch männlich bestimmte Haushaltsvorstand als Konzept
Sozialberichterstattung
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eingesetzt wird, zeigt, dass auch nach formalen Korrekturen in der amtlichen Statistik in anderen Bereichen der öffentlichen Verwaltung immer noch ein traditionelles Familien- und Haushaltsbild mit einem männlichen Hauptverdiener und einer in zweiter Reihe stehenden Gattin verankert ist. Im Jahr 1996 wurden schließlich nach lang anhaltender Kritik (z.B. schon in der Einführung zum ersten Datenreport 1983 geäußert) mit dem Konzept der Lebensformen auch nicht eheliche Lebensgemeinschaften (verschieden- und gleichgeschlechtlich) in den Mikrozensus und damit in die amtliche Statistik aufgenommen (freiwillige Angabe). Um jedoch die langjährigen Zeitreihen nicht zu „verderben“, hat erst seit 2005 auch die amtliche Familienberichterstattung diese Umstellung vollzogen, so dass es noch bis vor Kurzem zu kuriosen „Fehlinterpretationen“ in der Öffentlichkeit kommen konnte. So wurde im Jahr 1999 als „Zahl der Woche“ ein sprunghafter Anstieg der alleinerziehenden Väter seit 1991 gemeldet. Dieser Anstieg kam jedoch u.a. dadurch zustande, dass die nach 1996 erhobenen nicht ehelichen Lebensgemeinschaften mit Kind aus Gründen der Vergleichbarkeit als Alleinerziehende mit einem weiteren Erwachsenen kategorisiert wurden. War zudem als „Haushaltsbezugsperson“ ein Mann eingetragen (was auch nach der Änderung vom „Haushaltsvorstand“ zur „Haushaltsbezugsperson“ immer noch häufig geschieht), so war dies ein „alleinerziehender Vater“, auch wenn er mit einer Frau (z.B. der Mutter des Kindes) in einer nicht ehelichen Gemeinschaft lebte (vgl. Scheffler 1999). Dieses Beispiel zeigt, dass das traditionelle Familienkonzept, nach dem eine Familie entweder durch die Ehe oder durch eine Eltern-Kind-Gemeinschaft definiert wurde, noch bis Mitte der 1990er Jahre in der amtlichen Statistik und damit auch in allen auf amtlicher Statistik basierenden Sozialberichten das dominante Familienkonzept darstellte. Durch die Kapitel zu Lebenslagen bzw. Haushalt und Familie, die im zweiten Teil des Datenreports mit Hilfe der sozialwissenschaftlichen Umfragen erstellt wurden, konnte dieses Defizit dahingehend verringert werden, dass Aussagen über die anderen, nicht entlang von Ehe und Elternschaft definierten, Lebensformen gemacht werden konnten. Dennoch erscheint bemerkenswert, dass erst seit 2005 in der amtlichen Familienstatistik die Familie an der Präsenz von Kindern und nicht am Familienstand der Erwachsenen festgemacht wird. 2) Obwohl Mobilität eine wichtige Voraussetzung für die Teilnahme am gesamten Alltagsgeschehen ist und sowohl die Verfügbarkeit von Verkehrsmitteln als auch die Art der Verkehrsteilnahme zwischen Altersgruppen, den beiden Geschlechtern, den Regionen, in denen die Menschen leben, usw. stark differiert, wird der Bereich Verkehr im Datenreport nur marginal behandelt, was z.B. zur Folge hat, dass dort keine sozialwissenschaftlichen Analysen nach Alter, Geschlecht oder anderen soziodemographischen Merkmalen erfolgen. Es werden dort zum einen infrastrukturelle Aspekte (Länge der Verkehrswege, Fahrzeugbestände usw.) und zum anderen Verkehrsleistung und Verkehrsunfälle vorgestellt, die allerdings nur wenig bzw. unvollständig über geschlechtsspezifische Aspekte berichten. So wird z.B. darauf hingewiesen, dass es Unterschiede zwischen Männern und Frauen gibt, was die Unfallursachen angeht, aber nicht, dass Frauen deutlich seltener schwere Unfälle mit Personenschaden verursachen. Auch in den einschlägigen Publikationen zum Verkehrswesen („Verkehr in Zahlen“, seit mehr als 30 Jahren vom Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen herausgegeben) stehen entweder technische Aspekte des Verkehrs im Vordergrund oder es wird auf Sonderauswertungen, wie „Mobilität in Deutschland“ (früher bekannt als KONTIV, Kontinuierliche Erhebung zum Verkehrsverhalten) zurückgegriffen. Allerdings schlägt sich in diesem Erhebungsinstrument recht subtil erneut die Ungleichbehandlung der Geschlechter nieder. So werden im Design dieser KONTIV-Studie einzelne Wege erhoben, denen nur ein einziger Zweck zugeordnet werden darf. Auf diese Art und Weise werden vor allem so genannte Wegeketten und multifunktionale Wege systematisch untererfasst, die ganz besonders im Alltag von den Personen, die große Teile der Haus- und Familienarbeit erledigen, anfallen.
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Wohin soll der Weg gehen? Es wird immer wieder die grundsätzliche Frage gestellt, inwieweit es sinnvoll ist, „Sonder-Sozialberichte“ für die Bevölkerungsgruppe der Frauen zu erstellen, die mehr als die Hälfte der Grundgesamtheit der bundesdeutschen Bevölkerung ausmacht. Sollten nicht vielmehr im Sinne eines Gender-Mainstreaming die bestehenden Sozialberichte „besser“ auf die Darstellung möglicher Unterschiede (und ggf. Gemeinsamkeiten) zwischen den Geschlechtern hin ausgerichtet werden, das Ziel also eine „gegenderte“ Sozialberichterstattung sein? Würde man z.B. die bundesdeutschen Zeitbudget-Studien des Statistischen Bundesamtes stärker in die Berichterstattung einbeziehen, so könnten wesentlich mehr geschlechtsspezifische Aspekte in die Berichterstattung integriert werden, wie z.B. der Umfang der reproduktiven Arbeit (als Ergänzung zur bisher ausschließlich berücksichtigten „produktiven“ Arbeit). Es stellt sich die Frage, inwieweit es möglich sein kann, die „allgemeine“ Sozialberichterstattung so auszubauen, dass daraus eine „Frauen-und-Männer-Sozialberichterstattung“ wird und auf die geschlechtsspezifisch unterschiedlichen Lebenssituationen angemessen eingegangen wird. Der offizielle Datenreport, der derzeit den zentralen deutschen Sozialbericht darstellt, hat dahingehend schon deutliche Fortschritte gemacht. Vor allem im zweiten Teil des Datenreports kann durchaus von einer geschlechtsspezifischen Perspektive in fast allen Lebensbereichen gesprochen werden. Dagegen werden einzelne Kapitel des ersten Teils, die ausschließlich auf der amtlichen Statistik basieren, noch in einigen Bereichen ohne die angemessene Differenzierung nach Geschlecht bearbeitet, nicht zuletzt, weil die Datengrundlagen diese Dimension vernachlässigen. Allerdings kann von einem Bericht mit einem begrenzten Umfang die Tiefe, die spezielle Sozialberichte erreichen können, auch nicht erwartet werden. Solange geschlechtsspezifische Divergenzen in so vielen Lebensbereichen in der deutschen Gesellschaft wahrnehmbar sind, wird kaum ein allgemeiner Sozialbericht diese Unterschiede angemessen berücksichtigen können. Aus diesem Grund scheint es derzeit noch sinnvoll und auch notwendig, weiterhin eine spezifische „Frauen-Sozialberichterstattung“ zu führen, die deren Lebensverhältnisse adäquat darstellt. Für die Zukunft wegweisend allerdings sollte die Fortschreibung und Weiterentwicklung (z.B. im Sinne eines stärkeren Einbezugs der subjektiven Bewertung der Lebenssituationen) des „1. Datenreports zur Gleichstellung von Frauen und Männern in der Bundesrepublik Deutschland“ sein. Damit hätte (nicht nur) die Frauen- und Geschlechterforschung eine wünschenswerte Datenbasis für eine kontinuierliche Beobachtung und Analyse der Veränderungsprozesse oder des Fortbestands gesellschaftlicher Ungleichheiten (nicht nur) zwischen den Geschlechtern. Eine solche Fortschreibung und Weiterentwicklung könnte auch perspektivisch eine gesonderte „Frauen-Sozialberichterstattung“ wie bisher in den „Frauenberichten“, überflüssig machen und entspräche am ehesten der Vision eines „gegenderten“ Datenreports. Verweise: Forschungsmethodologie
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Gabriele Sturm
Forschungsmethodologie: Vorüberlegungen für eine Evaluation feministischer (Sozial-)Forschung
Grundlegende Überlegungen, Entscheidungen und deren Begründungen zu Beginn jeder wissenschaftlichen Forschung werden unter dem Begriff der Methodologie gefasst. Methodologie heißt wörtlich ‚Nachdenken über den Weg‘ bzw. ‚Methodentheorie‘. Dazu gehören neben der Klärung bzw. Absprache der verwendeten zentralen Begriffe eine Reihe von Denk- und Arbeitsschritten, die Ziel, Zweck und Mittel des Vorgehens festlegen und damit die Fragen nach dem Warum, dem Was und dem Wie der Forschung ausbuchstabieren. Methodologische Fragen waren in der Frauen- und Geschlechterforschung stets von zentraler Bedeutung. Dennoch wurde der Diskurs über Methodentheorie bislang kaum systematisch entwickelt, sondern folgte i.d.R. den mit den neuen Forschungsfeldern entstehenden Fragen und Problemen. Um die bisherigen Arbeiten deutlicher aufeinander beziehen zu können, wird hier auf eine Systematik mit sechs methodologischen Denk- und Arbeitsschritten zurückgegriffen, die von Ingrid Breckner und Gabriele Sturm (i.E.) für ein Methodenlehrbuch entwickelt worden ist. Diese Systematik soll sowohl für jedes einzelne Forschungsvorhaben als auch hinsichtlich der bisherigen Methodendebatte in der Frauen- und Geschlechterforschung ermöglichen, die methodologischen Teilentscheidungen bzw. die verschiedenen Diskussionsstränge aufeinander zu beziehen. Um die diversen wissenschaftshistorisch getrennten Begriffe und Konzepte vergleichbar zu machen und zugleich die Notwendigkeit der Trennungen in Frage zu stellen, wird bewusst auf in Methodenlehrbüchern gebräuchliche Bezeichnungen zurückgegriffen, ohne ihre in unterschiedlichen Wissenschaftspraxen erworbenen Färbungen zu berücksichtigen.
Eine methodologische Entscheidungsstruktur für empirische Forschung Jede methodologische Entscheidung ist in einem Aushandlungsfeld zwischen der Objektwelt des wissenschaftlichen Gegenstands und der Position der forschenden Subjekte zu treffen, von der aus Ziele, Zwecke und Mittel der wissenschaftlichen Praxis bestimmt werden. In Zusammenhängen feministischer Forschung ist es selbstverständlich, dass in einem solchen Interaktionsprozess die Objektseite nur ‚durch die Brille‘ der wissenschaftlich Handelnden sichtbar werden kann (vgl. Schlücker 2003). Die Objektperspektive wird gefiltert durch die Interessen, Kenntnisse und situativen Möglichkeiten der Forschungssubjekte und ist nur durch diese erfahrbar – zur Subjektperspektive gehören neben der Reflexion der objektiv erfahrenen Vorgaben die begründet zu treffenden Entscheidungen. Für die hier benutzte Systematik methodologischer Forschungsschritte ergibt sich aus den beiden unterschiedlich möglichen Perspektiven auf ein methodologisches Ziel eine Doppelung der Entscheidungsstruktur.
Forschungsmethodologie
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Tabelle: Idealtypische Handlungslogik einer Forschungskonzeption Methodologische Entscheidung Zugang Wissenschaftliches Objekt Handlungsfeld Abklärung des Ent- Zielbestimmung Subjekt deckungszusammenhangs
Ziel S E M A N T I K
Feldordnung S Y N T A X P R A G M A T I K
Objekt
Konzeption des Begründungszusam- Zweckbestimmung Subjekt menhangs
Formulierung des Begründungs- und Absicherung des Verwertungszusammenhangs
Wissenschaftlicher Handlungsbedarf Mittelbestimmung
Objekt Subjekt
Zweck Erkundung des Themenfelds Formulierung der Themenstellung
Handlungsweg Klärung des Erkenntnisinteresses Begründung des wissenschaftlichen Handlungsziels
Untersuchung der Ordnungsstruktur des Themenfelds Formulierung der forschungsleitenden Frage
Qualifizierung von Art und Güte der inhaltlichen Zusammenhänge Eingrenzung der Themenstellung auf den zu bearbeitenden Ausschnitt
Begründung des wissenschaftlichen Vorgehens Operationalisierung der Fragestellung
Festlegung der Forschungsbzw. Gestaltungsidee Entwicklung des Forschungsplans
(Quelle: Breckner/ Sturm i.E.)
Idealtypisch sollten sich methodologische Entscheidungen auf drei Ebenen beziehen, nämlich auf die Semantik, die Syntax und die Pragmatik des zu bearbeitenden Gegenstands (vgl. Kriz u.a. 1990: 47ff. oder Ritsert 1996: 150ff.): Die Semantik des Themenfelds wird durch die Erkundungen des wissenschaftlichen Handlungsfelds, das von der Objektwelt geprägt ist, und über die Zielbestimmung durch das wissenschaftlich handelnde Subjekt erschlossen. Diese beiden Arbeitsschritte zielen auf die Klärung des Entdeckungszusammenhangs. In den beiden folgenden methodologischen Schritten steht die Syntax des Themenfelds im Vordergrund. Sie wird entschlüsselt durch die Erkundung der Ordnung der Objektwelt und durch die subjektive Zweckbestimmung des wissenschaftlichen Handelns. Sie dient der Konzeption des Begründungszusammenhangs des wissenschaftlichen Vorgehens. Abschließend gilt die Aufmerksamkeit der Pragmatik des wissenschaftlichen Vorgehens. Sie entsteht durch eine Präzisierung des von der Objektwelt nahe gelegten wissenschaftlichen Handlungsbedarfs und die subjektive Auswahl von Handlungsmitteln im Rahmen der Operationalisierung der wissenschaftlichen Fragestellung. Mit der Fokussierung der Pragmatik in der methodologischen Vorbereitung wissenschaftlichen Handelns wird der Begründungszusammenhang abschließend formuliert und der angestrebte Verwertungs- und Wirkungszusammenhang konzeptionell abgesichert. Die Bestimmung der Semantik eines Themenfelds richtet sich auf die inhaltliche Struktur. Wächst z.B. aufgrund einer zunehmenden Zahl von Einpersonenhaushalten das Interesse für genusgruppentypische Wohn- und Lebensformen und werden daraufhin zunehmend systematisch Informationen gesammelt, entsteht eine mehr oder weniger umfangreiche Sammlung von theoretischen, methodischen und praktischen Notizen, Berichten oder Abhandlungen, die den Stand der Wissenschaft hinsichtlich des Themenfelds beinhaltet. Damit ist das wissenschaftliche Handlungsfeld abgesteckt. Aus einer Zuspitzung des Erkenntnisinteresses auf den Bedeutungswandel von ‚Eine eigene Wohnung haben‘ ergibt sich z.B. eine Themenstellung, die den Zusammenhang von Wohnform und Geschlechtsidentität in der Gruppe junger Erwachsener im Alter zwi-
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Gabriele Sturm
schen 18 und 25 Jahren anvisiert. Damit ist die Zielbestimmung für einen möglichen weiteren Forschungsprozess erfolgt. Die Bestimmung der Syntax richtet sich auf Setzungen und Regeln, die die gewählte Themenstellung beeinflussen und strukturieren. Benötigt wird ihre Kenntnis zur Konzeption des Begründungszusammenhangs. Die ‚Grammatik des Themenfelds‘ setzt sich zusammen aus der formallogischen Ordnung der Objektwelt und aus der Argumentationslogik der Forschungssubjekte: Mit der syntaktischen Struktur werden der für die Datenanalyse relevante Reduktionsgrad (quantitativ – qualitativ) sowie Logiken des Schlussfolgerns (abduktiv, deduktiv, induktiv) nahegelegt und daraus abgeleitet Systematisierungs- und Argumentationsmöglichkeiten (z.B. hermeneutisch oder dialektisch oder kritisch-rationalistisch, vgl. z.B. Kriz u.a. 1990: 122-151) erschließ- und begründbar. Die gedoppelte Entscheidungsstruktur präsentiert sich in dieser Phase methodologischen Handelns durch die Ermittlung der Feldordnung und die Zweckbestimmung, mit der die Fragestellung des wissenschaftlichen Vorgehens eingegrenzt und präzisiert wird. Um die Feldordnung zu bestimmen, sind Art und Güte der inhaltlichen Zusammenhänge im durch die Themenstellung ausgewählten Gegenstandsbereich zu qualifizieren. Als Zugang zu den Ordnungsmustern eines Gegenstands steht wissenschaftliches und alltägliches Erfahrungswissen zur Verfügung. Erkenntnistheoretisch wird zwischen vollständigen und unvollständigen Ordnungen unterschieden. Eine Ordnung gilt dann als vollständig, wenn alle relevanten Themenaspekte (Dinge, Personen, Orte, Zeiten, Ereignisse, Situationsverläufe, Eigenschaften etc.) bekannt sind und hinsichtlich bestimmter Kriterien zueinander in Beziehung gesetzt werden können. Dieser Idealzustand einer vollständigen Ordnung ist in der Regel nur in mathematisch eindeutig definierten Denksystemen gegeben – in gesellschaftswissenschaftlich bedeutsamen Themenfeldern sind relativ vollständige Ordnungen für überschaubare Themenstellungen in bereits gut erforschten Feldern anzunehmen. In dem Beispiel einer Untersuchung des Zusammenhangs von Wohnform und Geschlechtsidentität junger Erwachsener kann nur dann von einer eher vollständigen Ordnung ausgegangen werden, wenn nur eine Hand voll Wohnformen sinnvoll zu unterscheiden sind, wenn Geschlechtsidentität ausreichend z.B. mit einem in der Sozialpsychologie erprobten Persönlichkeitsinventar erhoben werden kann und wenn zudem bekannt ist, welche Sozialstrukturmerkmale einerseits für Wohnentscheidungen und andererseits für Ausprägungen unterschiedlicher Weiblichkeits- und Männlichkeitsvorstellungen von Bedeutung sind. Mit unvollständigen Ordnungen sind Beziehungsgeflechte gemeint, in denen konstitutive Aspekte unklar oder nicht bekannt sind und/oder nicht zueinander in Beziehung zu setzen sind. Je geringer das eigene Vorwissen oder zugängliches Wissen zur gewählten Themenstellung ist, je weniger die als relevant angesehenen Aspekte zähl- oder messbar sind oder je mehr vorhandene Erklärungen zu den formulierten offenen Fragen angezweifelt werden, desto weniger sollte entsprechend einer vollständigen Ordnungsstruktur geforscht werden. In dem hier herangezogenen Beispiel könnte dies der Fall sein, wenn eher unklar ist, welche Faktoren derzeit Geschlechtsidentität bestimmen bzw. ob Geschlechtsidentität für individuelles Handeln überhaupt noch bedeutsam ist, oder wenn Wohnformen für Außenstehende zwar gleich aussehen, für die darin Wohnenden aber mit höchst unterschiedlichen Bedeutungen versehen sind, oder wenn durch den gesellschaftlichen Strukturwandel die bisher trennscharfen Variablen für die Herausbildung unterschiedlicher Wohnmilieus keine Erklärungskraft mehr besitzen. Die Subjektperspektive auf der Syntax-Ebene der Forschungskonzeption ist durch die erforderliche Zweckbestimmung des Forschungsvorhabens gekennzeichnet. Das heißt, die zuvor festgelegte Zielsetzung ist so zu operationalisieren, dass mit der Formulierung einer forschungsleitenden Frage die Themenstellung auf den letztlich zu bearbeitenden Gegenstandsausschnitt eingegrenzt wird. Entsprechend verschiedener wissenschaftlicher Erklärungsmodelle sind mögliche Fragestellungen unterschiedlich ausgerichtet. Für deren Systematisierung wird hier auf ein methodologisches Trivium verwiesen (Sturm 2000: 44ff.). Dessen Beziehungsgefüge weist drei Schlussweisen (Abduktion, Deduktion, Induktion) sowie drei Aussagefelder (empirische Aussa-
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gen, theoretische Aussagen, Strukturaussagen) auf. Jede der drei Schlussweisen geht von zwei als gesichert angenommenen Aussagefeldern aus und erschließt daraus das fehlende Dritte. Abbildung: Methodologisches Trivium der drei Erklärungsmodelle der Abduktion, Deduktion, Induktion
(Quelle: Sturm 2000: 44).
Bei der Abduktion wird das empirische Material eines Falls mit Hilfe aller zugänglichen, interpretierenden (theoretischen) Aussagen – gleichgültig, ob diese aus der Alltagserfahrung oder aus wissenschaftlichen Theorien stammen – in unterschiedliche, möglichst kontrastierende Lesarten hinsichtlich der den Fall begründenden Zusammenhangsstruktur aufgefächert. Die so formulierten wahrscheinlichen VorAussagen, auch ‚erklärende Hypothesen‘ genannt, müssen sich im kommunikativen Prozess der Wissenschaft Treibenden über das bekannte Material bewähren, weshalb diese Schlussweise auch als ‚Sherlock-Holmes-Logik‘ gekennzeichnet werden kann. Die typische Erhebungsform für abduktives Vorgehen ist die Einzelfallstudie. Der Erkenntniszweck ist auf eine Entschlüsselung der den Erscheinungsformen zu Grunde liegenden Struktur gerichtet. In der Frauen- und Geschlechterforschung sind es insbesondere Biografieforschung, Diskursanalyse oder die dokumentarische Methode, die abduktiv vorgehen. Obwohl diese Ansätze i.d.R. mit qualitativ-rekonstruierender Datenanalyse arbeiten, folgt die Wahl qualitativer Verfahren ausschließlich aus der Ordnungsstruktur der Themenstellungen feministischer Wissenschaft und nicht aus der Abduktionslogik. Wenn im oben entwickelten Beispiel z.B. nicht sicher ist, wie sich Geschlechtsidentität zeitgenössisch ausprägt, ist unstandardisiert und offen zu arbeiten. Wenn sich die Fragestellung zudem auf die Erkundung möglicher neuer Faktoren für die Ausgestaltung der Wohnsituation junger Erwachsener richtet, sind diese strukturprägenden Zusammenhänge z.B. anhand von Wohnbiografien 20-Jähriger abduktiv zu ermitteln.
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Bei der Deduktion wird eine besondere Aussage (These) aus allgemeinen anderen Aussagen (Hypothesen, bestehend aus theoretischen Sätzen, die in einer Struktur zusammenwirken) gemäß logischer Regeln abgeleitet. Sind die Hypothesen im Sinne von Axiomen oder Gesetzen wahr, so ist die These deduktiv beweisbar bzw. der empirische Einzelfall vorhersehbar. Die Ausgangsebene einer solchen deduktiven Erklärung liegt dann in der Form „Wenn ..., dann ...“ vor, besteht also aus Gesetz und empirisch belegter Ursache bzw. Randbedingung; das zu erklärende Phänomen besteht aus dem empirischen Ereignis. Die typische Erhebungsform für deduktives Vorgehen ist das Experiment, und der Erkenntniszweck ist auf eine Überprüfung und Sicherung von vorgenommenen Setzungen, z.B. von logischen Gesetzen, gerichtet. Beispielsweise könnte eine Hypothese, dass die Wohnform des Alleinwohnens eher vom Grad der Verstädterung als von der Geschlechtsidentität geprägt wird, durch einen Vergleich von bestimmten Großstadtpopulationen und entsprechenden in ländlich geprägten Regionen untersucht werden. Diese Schlussweise war bislang in der Frauen- und Geschlechterforschung nicht sehr verbreitet (außer in der Form des Gedankenexperiments), da es zunächst eher um die Entdeckung unbekannter Zusammenhänge und die Entwicklung neuer Theorien ging als um die Überprüfung bereits etablierter Konzepte. Der Induktionsschluss geht von einer Anzahl empirischer Einzelaussagen über Gegenstände aus, für die bestimmte Strukturaussagen in Form operationalisierter Merkmale als wirkungsrelevant angenommen werden – indem z.B. Geschlecht ausschließlich als dichotome Variable verwendet wird. Häufen sich Zusammenhänge zwischen den so konstruierten Variablen, kann auf die allgemeine Gültigkeit dieser Merkmalskoppelungen für alle vergleichbaren Gegenstände geschlossen werden. Wie die Abduktion kann auch die Induktion niemals schlüssige Beweise, sondern nur Wahrscheinlichkeitsaussagen liefern. Die traditionelle Erhebungsform für induktives Vorgehen ist ein Survey. Gemeint ist damit i.d.R. eine Erhebung von Massendaten, z.B. über die Wohnformen von Frauen und Männern einer bestimmten Jahrgangsstufe oder über Männlichkeits- und Weiblichkeitskonzepte in einem speziellen sozialen Milieu. Der Erkenntniszweck ist auf eine Entwicklung verallgemeinerbarer Aussagen gerichtet, z.B. bezüglich der Lebensstile einer Generation oder milieugeprägter Geschlechtsidentitäten. Aktuell arbeiten in der Frauenund Geschlechterforschung vor allem die Konzeptionen, die der Grounded Theory folgen, mit dem Induktionsschluss. Aber auch die in der Anfangszeit weit verbreiteten Studien der Oral History oder aus Sozialstatistiken abgeleitete Analysen gehen induktiv vor. Allerdings treten diese subjektgebundenen Entscheidungen für ein zweckangemessenes Erklärungsmodell selten pur bzw. isoliert auf: In Forschungsprozessen schichten sich neue Erkenntnisse i.d.R. einer Spiralform folgend auf, wobei Schlusslogiken einander in der Aufeinanderfolge ergänzen. Letzteres geht in der Praxis mit der Kombination unterschiedlicher Techniken einher, was unter den Begriffen des Methodenmix oder der Triangulation (vgl. Flick 1991) fungiert. Die Bestimmung der Pragmatik muss all diesen zuvor getroffenen Entscheidungen folgen. Die Objektperspektive kommt in dieser Phase insofern zum Tragen, als disziplinenabhängig der wissenschaftliche Handlungsbedarf eher Forschung oder eher Gestaltung im Sinne von Umsetzung und Anwendung von Forschungsergebnissen nahe legt. Zugleich werden die zeitlichen, räumlichen, personellen, finanziellen etc. Handlungsspielräume deutlich, die Auswirkungen auf den praktizierbaren Forschungsprozess und seine erzielbaren Erträge haben. Aus der Subjektperspektive führt die Operationalisierung der forschungsleitenden Frage im Rahmen der verbleibenden Möglichkeiten nun endgültig zur Mittelbestimmung. Abhängig von Semantik und Syntax sind mehr oder weniger standardisierte Erhebungsinstrumente und mehr oder weniger offene Erhebungsstrategien mit eher ‚qualitativen‘/sprachlich rekonstruierenden oder ‚quantitativen‘/ statistisch modellierenden Datenanalyseverfahren zu kombinieren. Eine Interpretation der Ergebnisse im Hinblick auf die ursprüngliche Themenstellung kann nur im Rahmen der angenommenen Feldordnung und im Duktus der mit der Zweckbestimmung verknüpften Argumentationslogik erfolgen.
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Traditionslinien des feministischen Methodologiediskurses in Deutschland Mit der ersten Berliner Sommeruniversität für Frauen im Jahr 1976 zum Thema „Frauen und Wissenschaft“ manifestierte sich die Unzufriedenheit von Studentinnen und Dozentinnen mit dem Programm der 1968er Bewegung, das frauenpolitische Perspektiven weitgehend vernachlässigte. Nach der Gründung autonomer Frauenzentren ging es den wissenschaftlich tätigen Frauen darum, zum einen die Verknüpfung der unterschiedlichen Praxisfelder von Frauen herzustellen und zum anderen die Erfahrungen eines weiblich geprägten Alltags und die Reflexionen der Frauenbewegung auch in ihr wissenschaftliches Arbeiten einfließen zu lassen. Daraus folgerte eine Kritik sowohl am männlichkeitszentrierten und von Männern dominierten Wissenschaftsbetrieb als auch am Frauen unterdrückenden Geschlechterverhältnis. Das Ziel, bisherige Spaltungen aufzuheben, führte zu den ersten grundlegenden Positionierungen feministischer Wissenschaftlerinnen. Eine Wissenschaft von und für Frauen sollte – – – – –
die eigenen Erfahrungen fruchtbar machen, anknüpfen an den gemeinsamen Kämpfen der Frauenbewegung, alle Bereiche von Frauenleben thematisieren und untersuchen, interdisziplinär sein, um die sich damit ergebenden neuen Fragen beantworten zu können, und für die gesamte Gesellschaft die Frage der Macht neu stellen.
Insgesamt wurde Feminismus als Projekt umfassenden gesellschaftlichen Wandels proklamiert, und feministische Wissenschaft wurde als fortwährender kritischer Erkenntnisprozess konzipiert, getragen von gemeinsamer Reflexion des forschenden wie gestaltenden Handelns (vgl. Althoff/Bereswill/Riegraf 2001: 19ff.). Die zu jenem Zeitpunkt formulierten Kriterien sind weitgehend als Prämissen methodologischen Handelns einzustufen, die den Entdeckungszusammenhang der entstehenden Frauenforschung spezifizieren und von der traditionellen akademischen Wissenschaft abgrenzen. Dass diese Fokussierung vor allem auf die Semantik eines Themenfelds ‚Frauen in patriarchalen Gesellschaften‘ zielte, verdeutlicht sich in den Folgejahren, in denen es um die Neuformulierung insbesondere der Themen Sexualität, Sozialisation und Arbeit ging (vgl. Bührmann/Diezinger/Metz-Göckel 2000). Bis Mitte der 1980er Jahre führte die methodologische Diskussion weitgehend zu der Übereinkunft (vgl. Zentraleinrichtung 1984), dass es zwar keine spezielle Methode der Frauenforschung gebe, sich allerdings insbesondere offene prozessorientierte Verfahren zur Erhebung qualitativer Daten eigneten, die bislang verschwiegenen oder verzerrt dargestellten Lebensrealitäten von Frauen zu erfassen. Für die Analyse bedeutet dies, sowohl den Entstehungsprozess von Daten und Ergebnissen als auch das Verhältnis zwischen den am Forschungsprozess Beteiligten mit ihren unterschiedlichen Erfahrungen, Vorstellungen und Ressourcen zu reflektieren und zu veröffentlichen, da nur so das entstehende Forschungsprodukt beurteilbar ist. Die durch Maria Mies‘ methodologische Postulate (1978) sich pointierende Diskussion nahm mit der Betonung des Ziels emanzipatorischer Veränderung verstärkt den Verwertungs- und Wirkungszusammenhang von Forschung in den konzeptionierenden Blick. Mies‘ Prinzipien der Parteilichkeit und Betroffenheit wurden im Kolleginnenkreis zwar vielfach relativiert oder abgelehnt, führten aber in der Folge in der Auseinandersetzung um den Autonomieanspruch von Wissenschaft gegenüber politischen Zielsetzungen zu deutlichen Positionierungen hinsichtlich des Entdeckungszusammenhangs feministischer Forschung (z.B. Becker-Schmidt 1985, Thürmer-Rohr 1987). Schließlich verlangten die komplexen Themenfelder der sich in den 1980er Jahren etablierenden Frauenforschung auch, den Begründungszusammenhang ihrer Erforschung neu zu gestalten. Insbesondere am Thema ‚Gewalt gegen Frauen‘, das in politischen wie in wissenschaftlichen Öffentlichkeiten weitgehend verschwiegen und damit ein NichtThema war, verdeutlichte sich, dass neue Themenstellungen neue Zugänge zum Gegenstand
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verlangten und deshalb vorhandene methodische Werkzeuge zu verändern oder zumindest neu zu kombinieren waren. Parallel zu den methodologischen Überlegungen, die direkt aus der Erfahrung mit Frauenund beginnender Geschlechterforschung resultierten, lieferte die feministische Wissenschaftskritik eine unerschöpfliche Quelle methodologischer Debatten. Vor allem Philosophinnen und Naturwissenschaftlerinnen verwiesen den universellen Gültigkeits- wie den Objektivitätsanspruch der traditionellen Wissenschaft ins Reich des Androzentrismus. Trotz recht unterschiedlicher Argumentationen sind sich die Kritikerinnen einig hinsichtlich eines durch die eigene Genusgruppenzugehörigkeit bedingten Standorts als Basis wissenschaftlicher Untersuchungen (z.B. Harding 1990 und Klinger 1990) – und betonen damit wiederum den Entdeckungszusammenhang wissenschaftlicher Erkenntnis. Die infolge wissenschaftskritischer Überlegungen unvermeidbare, wenngleich wesentlich themenfeldgebundene Reflexion über die Methoden der Erkenntnisgewinnung führte im Zusammenhang mit unterschiedlichen theoretischen Präferenzen und nicht zuletzt abhängig von disziplinären Denkstilen zu einem breiten Spektrum von Verfahren, die heute in der Frauen- und Geschlechterforschung eingesetzt werden.
Variationen des Gegenstands der Frauen- und Geschlechterforschung In den 1990er Jahren veränderten sich mit den theoretischen Fokussierungen auch die methodologischen Zugriffe im Feld feministischer Wissenschaft: Nachdem vor allem Forscherinnen angetreten waren, die traditionellen Wissensbestände hinsichtlich der Situation von Frauen zu ergänzen und Fragen nach dem Geschlechterverhältnis und seiner strukturierenden Wirkung in gesellschaftlichen Prozessen (einschließlich der Wissenschaft) zu stellen, wurde zunehmend die Kategorie ‚Geschlecht‘ selbst in Frage gestellt (vgl. u.a. Feministische Studien 2/1993). Das sich durchsetzende Bewusstsein, dass Frauen keine homogene Gruppe sind, dass Geschlecht zwar eine tragende, aber nicht die einzig relevante Dimension sozialer Ungleichheit ist, sowie der Anspruch, das Themenfeld der unterschiedlichen Geschlechterrelationen nur interdisziplinär ausloten zu können, trugen dazu bei, dass sich neben den Zielsetzungen auch die Zwecksetzungen feministischer Forschung ausdifferenzierten. Wenn Geschlecht als erklärungsbedürftiges, am ehesten relationales Phänomen zu behandeln ist, müssen in der Empirie kontextsensible, ergebnisoffene und antiessentialistische Verfahren Verwendung finden. So finden derzeit neben den vor allem in Deutschland etablierten Studien einer feministisch gewendeten Kritischen Theorie, Studien mit ethnomethodologischem oder diskursanalytischem Ansatz weite Verbreitung (vgl. Althoff u.a. 2001: 187ff.). Die in solchen Studien eingesetzten Verfahren der dokumentarischen Interpretation, des Krisenexperiments oder der Dekonstruktion kultureller Phänomene zielen alle auf eine Spezifizierung des Begründungszusammenhangs feministischer Forschung.
Reflexion feministischer Methodendiskussionen Dieses Kurzresümee des Diskussionsstands zu Methodologie und Methoden der Frauen- und Geschlechterforschung lässt in der Vergangenheit umfangreiche Klärungen sowohl des Entdeckungs- als auch des Wirkungszusammenhangs erkennen. Die zahlreichen neuen bzw. neu gefassten Gegenstände der feministischen Forschung sowie die auf Grundlage feministischer (Erkenntnis-)Theorie reformulierten Zielbestimmungen haben auf der Ebene der Semantik ein differenziertes Spektrum von Entdeckungszusammenhängen im Themenfeld ‚Geschlechterrelationen‘ bzw. ‚Konstruktion von Geschlecht‘ aufgespannt. Obwohl es auf der Ebene der Pragmatik
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differierende Haltungen hinsichtlich des anzustrebenden politischen Einflusses feministischer Forschung gibt, wird als Ausgangspunkt des wissenschaftlichen Handelns der grundsätzliche Herrschaftscharakter des gesellschaftlichen Geschlechterverhältnisses nicht in Frage gestellt. Wenig reflektiert wurde bislang, wie die auf den Ebenen der Semantik und der Syntax getroffenen Entscheidungen die Verwertung der Ergebnisse feministischer Forschung lenken. Wenn z.B. eine konstruktivistisch orientierte Geschlechterforschung mit der Geschlechterdifferenz die Naturhaftigkeit hierarchischer Ordnung hinterfragt, wird auf der Syntaxebene eine unvollständige Ordnung angenommen und es werden abduktive oder induktive Schlusslogiken gewählt. Die Pragmatik dieser Ansätze ist ‚objektiv‘ in erster Linie auf Forschung ausgerichtet, wenngleich deren Ergebnisse auch im gesellschaftlichen Alltag andere Begründungen für traditionelle Strukturen notwendig werden lassen und damit Veränderung ermöglichen. Die Pragmatik ist ‚subjektiv‘ auf eine Mittelwahl angelegt, die aufgrund des Erkenntnisinteresses und der begriffenen Ordnungsstruktur einen ergebnisoffenen Forschungsprozess gewährleisten muss. Somit liegt es außerhalb des wissenschaftlichen Einflussbereichs, welche möglichen Erkenntnisse wem wie nutzen werden. Und schließlich ist hinsichtlich des Begründungszusammenhangs festzustellen, dass er bislang zwar am wenigsten reflektiert worden ist, nichtsdestotrotz aber die feministische Forschungspraxis im Allgemeinen den hier thematisierten Bedingtheiten folgt: Sowohl in der Anfangsphase der Frauen- und Geschlechterforschung im Feld ‚Frauen in patriarchalen Gesellschaften‘ als auch in den aktuellen Themenfeldern finden häufiger qualitative Verfahren Verwendung. Dies entspricht dem durch die Berücksichtigung von Geschlecht veränderten Blick auf nahezu alle Themenfelder und der damit einhergehenden unklaren Feldordnung, die die Mittelbestimmung prägt. Insgesamt nutzen feministische ForscherInnen derzeit alle Methoden, die das zur Verfügung stehende Spektrum bietet. Allerdings erfolgen die Begründungen für die Wahl der Mittel i.d.R. in einem eher engen, häufig disziplinenspezifischen Rahmen. Die erreichte Vielfalt der entwickelten Forschungswege ist so eher durch ein zufälliges Nebeneinander geprägt als durch eine bewusst differenzierte wie differenzierende Komplementarität. Verweise: Biografieforschung Diskursanalyse Feministische Wissenschaftskritik und Epistemologie Oral history und Erinnerungsarbeit Parteilichkeit und Betroffenheit
Literatur Althoff, Martina/Mechthild Bereswill/Birgit Riegraf (Hrsg.) 2001: Feministische Methodologien und Methoden. Traditionen, Konzepte, Erörterungen. Band 2. Opladen: Leske + Budrich Becker-Schmidt, Regina 1985: Probleme einer feministischen Theorie und Empirie in den Sozialwissenschaften. In: Feministische Studien, 4 (2), S. 93-104 Breckner, Ingrid/Gabriele Sturm im Erscheinen: Raumerkundung – gesellschaftliche Räume im Blickfeld von Wissenschaft und Praxis. Ein transdisziplinäres Methodenlehrbuch. München: Oldenbourg Bührmann, Andrea/Angelika Diezinger/Sigrid Metz-Göckel (Hrsg.) 2000: Arbeit, Sozialisation, Sexualität. Zentrale Felder der Frauen- und Geschlechterforschung. Opladen: Leske + Budrich Feministische Studien Nr. 2 1993: Kritik der Kategorie ‚Geschlecht‘. Weinheim: Deutscher Studien Verlag Flick, Uwe 1991: Triangulation. In: Flick, Uwe/Ernst v. Kardorff/Heiner Keupp/Lutz v. Rosenstiel/Stephan Wolff (Hrsg.): Handbuch Qualitative Sozialforschung. München: PVU, S. 432-434 Harding, Sandra 1990: Feministische Wissenschaftstheorie. Zum Verhältnis von Wissenschaft und sozialem Geschlecht. Hamburg: Argument Klinger, Cornelia 1990: Bis hierher und wie weiter? Überlegungen zur feministischen Wissenschafts- und Rationalitätskritik. In: Krüll, Marianne (Hrsg.): Wege aus der männlichen Wissenschaft. Pfaffenweiler: Centaurus, S. 21-56 Kriz, Jürgen/Helmut E. Lück/Horst Heidbrink 19902: Wissenschafts- und Erkenntnistheorie. Eine Einführung für Psychologen und Humanwissenschaftler. Opladen: Leske + Budrich
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Mies, Maria 1978: Methodische Postulate zur Frauenforschung – dargestellt am Beispiel der Gewalt gegen Frauen. In: beiträge zur feministischen theorie und praxis, Heft 1, S. 41-63 Ritsert, Jürgen 1996: Einführung in die Logik der Sozialwissenschaften. Münster: Westfälisches Dampfboot Schlücker, Karin 2003: Zählen oder interpretieren, beobachten oder interagieren? Die Debatte um qualitative und/oder quantitative Methoden und das Verhältnis zwischen Forschenden und ihren „Objekten“. In: Niekant, Renate/Uta Schuchmann (Hrsg.): Feministische ErkenntnisProzesse. Opladen: Leske + Budrich, S. 105-120 Sommeruniversität e.V. (Hrsg.) 1977: Frauen und Wissenschaft. Beiträge zur Berliner Sommeruniversität für Frauen – Juli 1976. Berlin: Selbstverlag Sturm, Gabriele 2000: Wege zum Raum. Methodologische Annäherungen an ein Basiskonzept raumbezogener Wissenschaften. Opladen: Leske + Budrich Thürmer-Rohr, Christina 1987: Der Chor der Opfer ist verstummt. In: beiträge zur feministischen theorie und praxis, Heft 11, S. 71-84 Zentraleinrichtung zur Förderung von Frauenstudien und Frauenforschung an der FU Berlin (Hrsg.) 1984: Methoden in der Frauenforschung. Frankfurt/M.: R. G. Fischer
A Lebensphasen und -lagen Reinhard Winter
Jungen: Reduzierte Problemperspektive und unterschlagene Potenziale
Unter „Jungen“ verstehen wir alle Menschen männlichen Geschlechts, welche sich in den Lebensphasen zwischen einer geschlechterbezogenen Definition bis zum Erreichen des Erwachsenenstatus befinden. Allgemeiner gesprochen bezeichnet der Begriff „Jungen“ alle Kinder und Jugendlichen männlichen Geschlechts. Neben einer universellen (menschlich) und einer geschlechtlichen (männlich) beinhaltet der Begriff eine lebensphasenbezogene Dimension (Kind, Jugendlicher). Explizite Jungenforschung wäre dem entsprechend sowohl in der Jugendforschung wie auch in der Geschlechterforschung anzusiedeln. Der Geschlechterbezug auf das Männliche wird mit körperlichen, habituellen oder verhaltensbezogenen Attributen versehen bzw. assoziiert (im Spektrum von sex, sex category und gender; vgl. West/Zimmermann 1987). Dabei ist das jeweilige Verständnis von „Geschlecht“ bedeutsam. Wird das männliche Geschlecht – wie oft in der Geschlechterforschung – primär über Hierarchie und Dominanz definiert (z.B. Connell 1999: 91, Hollstein 1991: 200), können Jungen nicht als das gesehen werden, was sie mit den entsprechenden Potenzialen, Optionen und Verhaltensbandbreiten sind, sondern werden in ihrer Geschlechtlichkeit und durch sie reduziert (vgl. Metz-Göckel 1993, Gravenhorst 1988 a und b). Solche sozialen Zuschreibungen und Etikettierungen können mit dafür verantwortlich gemacht werden, dass traditionelle Vorstellungen stabil bleiben und in der Forschung wie im Alltag permanent rekonstruiert werden. Das Nachzeichnen von Strukturen des Männlichen, die lediglich aus auffälligen oder kritischen Spitzen abgeleitet werden (vgl. z.B. Böhnisch/Winter 1993), erweist sich als fatal, weil die ständige Suche danach als selbsterfüllende Vorhersage und letztlich rekonstruierend wirkt. Ebenfalls kritisch ist es, wenn der Begriff „Jungen“ nicht unabhängig, sondern relational, also in Bezug auf ein Gegenmodell oder etwas Gegensätzliches definiert wird: Auch nach langjährigen Genderdebatten werden Jungen in Praxis, Forschung und Statistiken unterschwellig zur Abgrenzung von Mädchen herangezogen (und umgekehrt). Immer dann, wenn Mädchen und Jungen undifferenziert verglichen werden, droht sich diese relationale Definition einzuschleichen: Präferieren etwa 37% der Mädchen, aber nur 20% der Jungen ihre Mütter als sexualitätsbezogene Informantinnen (Bode 1999: 77) und wird diese Information darüber hinaus noch grafisch illustriert, sticht zuerst die Differenz ins Auge. Der selbstverständlich signifikante Unterschied setzt sich fest. Damit werden „Jungen“ und „Mädchen“ als different oder sogar als Negation (mit) konstruiert: Junge = „anders“ als Mädchen bzw. Nicht-Mädchen und umgekehrt – obwohl empirische Befunde diese schlichte Polarisierung durchgängig widerlegen. Auch Geschlechterreflexion schützt nicht unbedingt vor dieser Wirkung. Werden etwa „männliche“ und „weibliche“ Lernkulturen verglichen und dabei (männliches) „Imponierverhalten“ und (weibliche) „Diskussionsbereitschaft“ gegenübergestellt (Derichs-Kunstmann 1999:
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184), zementiert dies eher enggeführte Geschlechterbilder, als dass es zu deren Überwindung beiträgt. Eine universelle, individuelle oder allgemein menschliche Dimension wird dabei tendenziell unterschlagen. Hervorgehoben und betont wird nicht das Gemeinsame, sondern der Unterschied. Gerade in der Geschlechterforschung ist dieser Aspekt wichtig, weil er unreflektiert mit dazu beiträgt, Geschlechterdichotomien stets neu herzustellen, aber in wissenschaftlichen Diskursen allenfalls als Spurenelement auftaucht. So verwies z.B. Magnus Hirschfeld darauf, dass das Geschlechtliche zwar einen wesentlichen „Pol“ des Menschseins ausmacht, dass es aber auch noch etwas Anderes – Individuelles – gibt (Hirschfeld/Götz 1929: 9), über das Frauen und Männer als Menschen quasi gleich verfügen. Lerke Gravenhorst (1988a, b) fahndet sensibel nach der Möglichkeit weiblicher Solidarität mit Jungen und Männern, auch indem sie nach Verbindendem, Gemeinsamem sucht. Oder es wird von Helga Bilden (1991: 281) festgestellt, dass Geschlechtsunterschiede „verschwinden“ (vgl. dazu auch Deutsche Shell 2000: 345), auch wenn sich geschlechterbezogene Praxen selbstverständlich unterscheiden, dass es also – weiter gedacht – viel Kongruentes geben muss. Durch beides – den vereinfachenden Jungen-Mädchen-Vergleich, wie die Reduktion auf Geschlechterdifferenz – geraten Differenzierungen unter Jungen leicht aus dem Blick, „Jungen“ werden „homogenisiert“. Aber gerade weil der Begriff relativ unpräzise ist, sind Differenzierungen wichtig und unumgänglich: insbesondere altersspezifische, aber auch bezogen auf den kulturellen, religiösen oder Schichthintergrund, regionale genauso wie lebenslagen- oder bewältigungsbezogene Differenzierungen. Wir sprechen dann z.B. besser nicht mehr von „Jungen“ sondern differenziert von „sechsjährigen Jungen im Kindergarten“ oder von „männlichen Jugendlichen über 16 Jahren mit Migrationshintergrund, die in ländlichen Regionen aufwachsen“. Mit dem Aspekt des „Nicht-Erwachsenen“ ist eine Entwicklungsperspektive im Begriff „Junge“ verknüpft. Er beinhaltet die grundsätzliche Möglichkeit sozialisatorischen Gelingens im Prozess des Mannwerdens und ein Zugestehen des noch Werdenden: Jungen sind nicht „fertige“ männliche Menschen. Sie sind aber auch nicht nur unreif, sondern jeweils altersbezogen in Entwicklung begriffen. Dieser Aspekt wird sowohl von Erwachsenen, die mit Jungen arbeiten (vgl. Bundeszentrale 1998), als auch in den Fachdiskussionen weitgehend ausgeblendet: Wenn das Jungesein oder Jungen „als Jungen“ zum Thema werden, dann überwiegend negativ konnotiert oder problematisierend (vgl. z.B. Böhnisch/Winter 1993, Ottemeier-Glücks 1994). Die Fixierung auf Bereiche, in denen das Jungesein kritisch wird (Schwierigkeiten, Mann zu werden) oder wo es zu Schwierigkeiten führt (Hierarchie, Dominanz, Gewalt, Sexualität), stabilisiert eine eingeschränkte Sichtweise, verkoppelt den Begriff „Junge“ eng mit dem Problematischen und unterschlägt Optionen und Potenziale.
Themen und Ergebnisse Grundsätzlich sollten Gegenstand einer Jungenforschung alle Jungen sein; sie orientiert sich jedoch oft an den auffälligen, schwierigen (vgl. Metz-Göckel 1993, Engelfried 1997) und verliert normale, unauffällige Jungen tendenziell aus dem Blick. Verhaltensweisen schwierigerer Jungen werden dann leicht auf das durchschnittliche Jungesein „an sich“ übertragen und daraus falsche Schlüsse gezogen: So sind z.B. Bewältigungsformen marginalisierter Jungen nicht deshalb kritisch bzw. auffällig, weil diese männlich bzw. weil sie Jungen sind, sondern umgekehrt: Marginalisierung schlägt sich in der Bewältigung bei Jungen u.a. auch als problematisches männliches Verhalten nieder. Um Differenzierungen zwischen Jungen identifizieren zu können ist es notwendig, Jungen als eigenständigen Forschungsgegenstand zu begreifen: mit der Notwendigkeit autonomer Interessen und Zugänge, aber auch verknüpft mit jugend-, allgemeinen geschlechter- und mit mädchen- und frauenbezogenen Themenstellungen. Grundlagen dafür wurden von der psychoanalytisch orientierten, von der ethnologischen und der soziologischen Geschlechterforschung gelie-
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fert. Als psychodynamisch wirksame Konstellation wird z.B. von der psychoanalytischen Forschung (vgl. z.B. Schmauch 1988, 1995; May 1991, Bosse 2000), auf Probleme der Jungen bei der Ablösung von der Mutter (vgl. auch Böhnisch/Funk 2002: 78 ff., Amendt 1993 und 1999) und der Identifikation mit dem Vater hingewiesen (vgl. auch Kindler 2002, Sturzenhecker/ Winter 2002b: 65f.). „Trennung vom Weiblichen“ und „Identifikation mit dem Männlichen“ seien wichtige Bewältigungsthemen vieler Jungen. Die ethnologische Studie von David Gilmore (1991) belegt die „Künstlichkeit“ von Männlichkeitsbildern als ein kulturelles Produkt. Gleichzeitig wird die soziale Notwendigkeit von „Männlichkeit“ für das Überleben von Gesellschaften (bzw. den Erhalt des Wohlstandsniveaus) nachgezeichnet und in ihrer Abhängigkeit von Umweltfaktoren reflektiert. In den meisten Gesellschaften wird der Mythos vertreten, dass das Mannsein – im Gegensatz zur sozial eher zugestandenen Weiblichkeit – kein quasi angeborener Zustand sei, sondern dass Männlichkeit immer wieder neu bewiesen und hergestellt werden müsse. Mit der in der Tendenz offen oder subtil vertretenen Hypothese, das Junge- und Mannsein sei elementar „falsch“, klinkt sich auch Geschlechterforschung in diesen Mythos ein. Seit den 1990er Jahren wurde zunehmend ein dezidierter Blick auf Jungen entfaltetet (vgl. zur Geschichte Winter 2005a, b). Die Autoren Schnack und Neutzling (1990) präsentierten in ihrem auch wegen der Datensammlung oft rezipierten Sachbuch „Kleine Helden in Not“ unterschiedliche Einblicke in Lebenswelten von Jungen – nicht Jungenforschung im engeren Sinne, aber ein sehr wichtiger Impuls, pauschale Zuschreibungen zu hinterfragen und Geschlechterthemen auch von der Jungenseite her aufzurollen. Mit dem soziologischen Blick auf „männliche Sozialisation“ wurde der Prozess des Mannwerdens und -seins als lebenslanger Bewältigungsprozess entfaltet (vgl. Böhnisch/Winter 1993), ohne dabei Perspektiven eines erwünschten oder optimalen Verlaufs nachzuzeichnen – im Gegenteil: Männlich-Sein wurde (z.B. über die unbelegte Aufzählung von „Prinzipien“ der Lebensbewältigung) durchweg dramatisiert (ebd.: 126 ff., vgl. auch Böhnisch/Funk 2002: 84ff.). Ähnlich wird durch die Arbeiten des Soziologen Robert W. Connell (1999) zu männlichen Geschlechterkonstruktionen und „hegemonialen Männlichkeiten“ nachvollziehbar, wie sich Geschlechterstrukturen und -ideologien in Jungen „einschreiben“. Weil dabei aber das „Männliche“ tendenziell auf Hierarchiekonstruktionen reduziert ist (ebd.: 91), werden Handlungsalternativen und -optionen für Jungen, Potenziale und Differenzierungen, wie auch geschlechterbezogene Selbstdefinitionen jenseits von Dominanz/Submission oft nicht erkennbar: Wird das Junge- oder Mannsein über Männlichkeit auf eine bzw. die dominante Position im Geschlechterverhältnis reduziert, bleibt in egalitären (gleichen, partnerschaftlichen, demokratischen usw.) Geschlechterverhältnissen quasi vom Männlichen nichts übrig. Der Nachweis breiter Differenzierungen zwischen Jungen zählt zu den wichtigsten Forschungsergebnissen, welche die Jungenforschung in Deutschland in expliziten Jungenstudien liefern konnte. In der quantiativen Jungenbefragung von Peter Zimmermann (1998) zu Jungen in der Schule wurde z.B. deutlich, dass viele Jungen unter Druck stehen, sich stets als „gut drauf“, witzig oder cool darzustellen. In einer empathischen Interpretation werden dabei – neben aktiven und geschlechterkonstruktiven Aspekten – auch bedürftige Segmente des Jungeseins in der Moderne erkennbar, für die ihnen die Gesellschaft zumindest in der Schule kaum Unterstützung anbieten kann. Gleichzeitig zeigten sich hier schichtbezogene Unterschiede bei den 1.760 befragten Jungen: Jungen in der Hauptschule haben z.B. ein eher rigides und traditionelles Verständnis von Männlichkeit, während bei Gymnasiasten „Aufweichungstendenzen bezüglich starrer Rollenbilder festzuhalten sind“ (ebd.: 114). Inwieweit sich solche Optionen, z.B. durch Lebensperspektiven, Strukturen, Berufswahl oder Einmünden in einen Beruf halten oder verändern, ist allerdings nicht hinreichend geklärt. Vermutlich bewirkt die „zweite Schwelle“, der Übergang in die Berufsarbeit und damit in spezifisch ausgeprägte Strukturgefüge, deutliche Veränderungen in eine offenere oder auch in eine andere, eine restaurative Richtung der Geschlechterkonstruktion (vgl. Meuser 1998). Dass ein Teil der Jungen in Bezug auf ihre Geschlechtlichkeit als Modernisierungsverlierer gesehen werden kann, legen die Ergebnisse einer qualitativen Studie zu Lebenslagen von Jungen
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nahe (Bundeszentrale 1998). Diese Untersuchung konzentriert sich zwar auf die Aspekte Körper, Gesundheit und Sexualaufklärung, liefert aber auch wichtige Ergebnisse im Hinblick auf Geschlechterkonstruktionen der Jungen und das Jungesein allgemein. Hier führen Enttraditionalisierung und Demontage herkömmlicher Männlichkeitsbilder einerseits zu einer Erweiterung enger Verhaltensspielräume für Jungen. Empirisch nachweisbar ist das in einer „Vielfalt des Jungeseins“. Auf der anderen Seite sehen sich viele Jungen mit dem sozialkulturellen Auftrag konfrontiert, männlich zu sein und sich als männlich zu präsentieren – ohne entsprechend unterstützt oder mit tragfähigen Geschlechterkonzepten versorgt zu werden. Damit werden sie mit widersprüchlichen gesellschaftlichen Botschaften konfrontiert: „Sei männlich, aber sei nicht männlich“. Eine Lösung zeichnet sich für Jungen in der Trennung von Geschlechterideologie (Männlichkeit) und gelebtem männlichem Verhalten (Jungesein) ab. In unterschiedlichen Themenfeldern wurden in dieser Studie große Bandbreiten zwischen hochproblematischem und gelingendem Jungesein offensichtlich. Neben den Schwierigkeiten treten dabei auch kreative Bewältigungsleistungen, die Potenziale des Jungeseins hervor. Zwischen den Extremen Problem und Gelingen liegt ein diffuser „Filz der Normalität“, in dem gewissermaßen alles Mögliche vorkommt. Die Verhaltensbandbreiten und Spielräume sind hierin jedoch für viele Jungen verengt, was vor allem in der pädagogischen Arbeit mit Jungen zum Vorschein kommt, denen notwendige Ressourcen vorenthalten blieben (vgl. dazu z.B. Drogand-Strud/Ottemeyer-Glücks 2003). Neben allgemeineren bzw. breiter angelegten Untersuchungen liegen Studien in spezifischen Bereichen oder Themenfeldern vor, etwa zur Frage der „Jungensozialisation in der Schule“ (Enders-Dragässer/ Fuchs 1988), zur jungenbezogenen Sexualpädagogik (Munding 1995), zu Männlichkeitskonstruktionen junger Arbeitsloser (vgl. Connell 1991), zu Lebensbewältigung und kulturellen Produktionen von Jungen auf dem Land (vgl. Winter 1994), zum Zivildienst (vgl. Bartjes 1996), zum sexuellen Missbrauch von Jungen (vgl. Bange 1993), zur Bedeutung von Daily Soaps für Jungen (vgl. Winter/Neubauer 2002) oder zur Jungengesundheit (vgl. Winter/Neubauer 2003). Darüber hinaus finden sich zahlreiche mehr oder weniger umsetzungsorientierte Veröffentlichungen zur geschlechtsbezogenen (pädagogischen) Arbeit mit Jungen. Weil die pädagogische Praxis als konkrete Arbeit mit real existierenden Jungen lange Zeit von der „eigentlich zuständigen“ etablierten Wissenschaft nicht mit dem fachlich Notwendigen und Anwendbaren versorgt wurde, stammen viele Erkenntnisse über Jungen ursprünglich aus dem pädagogischen Feld, insbesondere aus der spezialisierten Jungen- und Männerarbeit (vgl. z.B. Jantz/ Grote 2003, Sturzenhecker/Winter 2002a, Neubauer/Winter 2001). Viele Jungen transportieren in pädagogischen Feldern über ihr Verhalten oder das Platzieren „ihrer“ Themen die geschlechterbezogenen Fragen. Hierbei übernehmen nicht zufällig klassische Zuschreibungen des Männlichen zentrale Funktionen: insbesondere Gewalt und Sexualität. Beides korrespondiert mit der (oft eingeschränkten) Wahrnehmung derjenigen, die professionell mit Jungen arbeiten. Dabei wird der Bereich „Sexualität“ nicht selten ausgeklammert oder institutionell wegdelegiert (vgl. Winter/Neubauer 1999). Gewalt wird dann zum Verhandlungsort für Männliches (vgl. Kabs 2002). Ohne Frage ist das Thema Gewalt für viele Jungen interessant, reizvoll oder – aus der Perspektive des Ausübenden, wie auch des Opfers – zu bewältigen. Weil traditionelle, strukturell nach wie vor in unsere Kulturen eingeschriebene Formen von Männlichkeitsideologien zum Teil mit Gewalt zusammenhängen (insbesondere im Militär, aber auch z.B. in Medienbildern); weil die Zurichtung von Jungen auf traditionell Männliches (etwa im Sport) kaum ohne zumindest gewaltnahes Handeln denkbar ist; weil die „Lebenslage Jungesein“ durch Gewaltereignisse mit bestimmt wird (Gewaltausübung oder -bedrohung durch Väter, Mütter, Gleichaltrige, selbst ausgeübte Gewalt durch Jungen); aus all diesen Gründen darf bei der Thematisierung des Jungeseins der Aspekt der Gewalt nicht fehlen. Dennoch korrespondiert die beliebte Engführung, das Jungesein quasi zwangsläufig immer mit Gewalt in Verbindung zu bringen, überwiegend nicht mit den bestimmenden Themen, Interessen und Anliegen der meisten Jungen und auch nicht mit der Realität des durchschnittlichen Jungeseins. Je nach Lebensalter und -lage, biografischen Ereignissen, aktuell vorhandenen Ressourcen und sozialen Anregungen usw. variieren die Themen
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von Jungen (ähnlich wie die von Mädchen), steht anderes deutlich im Vordergrund: z.B. Beruf und Arbeit, Körper und Sexualität, Größenphantasien, Regeln, Grenzen, Normalität usw. Entgegen der unbedingten Koppelung von Gewalt und Jungesein ist es viel wichtiger zu erkennen und zu betonen, dass (und wie) Jungesein ohne Gewalt denkbar und real ist oder dass es sogar in den meisten Fällen und Situationen tatsächlich gewaltfrei gelebt wird.
Perspektiven Erfahrungen und „Produkte“ expliziter Thematisierung von Jungen belegen die Notwendigkeit eigenständiger Jungenforschung innerhalb der „zuständigen“ Disziplinen Jugend- und Geschlechterforschung. Solange – wie derzeit – in allen relevanten Feldern der Wissenschaft das Thema „Jungen“ in Forschung und Lehre noch weitgehend ausgeblendet bleibt, muss darauf hingewiesen und insistiert werden. Allerdings ist auch die umgekehrte Richtung absehbar. Lebenslagen differenzieren sich so aus, dass Unterschiede unter Jungen oft größer sind als zwischen Mädchen und Jungen (z.B. Deutsche Shell 2000: 345), viele Strukturen halten sich dennoch stabil. So sind derzeit Gleichzeitigkeiten von permanenten Geschlechter(re)konstruktionen und stetiger Öffnung von Optionen des Jungeseins erkennbar. Je stärker Individualisierungsprozesse durchschlagen, je mehr die Vielfalt des Jungeseins in den Vordergrund tritt und je genauer Jungen erforscht werden, desto mehr schrumpft die Gewissheit über sie. Dann stellt sich die Frage, inwieweit geschlechtsbezogene Forschung daran interessiert ist, ihren Gegenstand immer wieder neu herzustellen und aus diesem Grund Geschlechterstereotypen als kulturelle Konserven zu reproduzieren oder zu transportieren, die in der Wirklichkeit überholt sind. Dieses Dilemma der Jungenforschung wurde in ähnlicher Form bei Erwachsenen gefunden, die mit Jungen arbeiten (vgl. Bundeszentrale 1998): Sobald das Jungesein geschlechtlich aus dem Allgemeinen herausgehoben wird, setzen Wahrnehmungsfilter sowie reduzierende Deutungen ein. Die Reflexion des „Männlichen“ im Jungen hebt dann traditionell Männliches heraus und gibt ihm Resonanz. Moderne, innovative Aspekte des Jungeseins (wie z.B. Selbstbezüge, Reflexion, homosoziale Bezüge; vgl. Winter/Neubauer 2001) werden dann nicht als „männlich“ identifiziert, sondern verdeckt oder individualisiert bzw. individuell scheinbar geschlechtsneutral (als menschlich) interpretiert. Durch solche Wahrnehmungsfilter trägt vor allem die Rekonstruktion von Geschlecht(ern) als schlichte Täter-Polarisierung und -zuschreibung dazu bei, das Universelle, gleichsam das Menschliche in Jungen genauso wie das Lebensphasenspezifische zu negieren. Nicht zuletzt die aktuelle Thematisierung von Geschlecht in populärwissenschaftlichen Büchern (z.B. Pease/Pease 2001) verweist auf andauernde Verunsicherung darüber, was überhaupt „männlich“ ist. Das ständige Abgleichen- und Vergewissern-Müssen deutet auf Irritationen und Bestimmungszwänge hin. Hier wäre die seriöse Geschlechterforschung besonders gefragt. Es erweist sich aber als problematisch, wenn diese die Paradigmen unreflektiert übernimmt, die mit zur Verunsicherung führen. Dazu gehört die grundsätzliche Problematisierung des Mannwerdens und -seins mit der fatalen Folge, dass Männlichkeit – bereits traditionell und nun erneut auch durch Geschlechterforschung – erst hergestellt, „bewiesen“ werden müsse (vgl. auch Schmauch 1995). Dazu gehört aber auch die Reduktion der Jungen auf ein „falsches“ Mannsein, auf Macht- und Dominanzthemen, die undifferenzierte Zuschreibung des Aktiven und Privilegierten verbunden mit einem verantwortlichen „Täterstatus“ an die Jungen, ohne die Ambivalenzspannung in ihrem selbst Ausgesetzt- und Abgewertetsein – als Kinder bzw. Jugendliche – und ihren Opferstatus (vgl. Lenz 1999) zu registrieren, auch ohne die wirklichen Gestaltungsleistungen ihrer Lebensbewältigung jenseits von traditionellen Männlichkeitsmustern anzuerkennen und ohne das Problematische mit den Potenzialen des Männlichen in der späten Moderne abzugleichen. Verweise: Junge Männer Sozialisationstheorien Männlichkeitsforschung
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Reinhard Winter
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Mädchen: Zur Entwicklung der Mädchenforschung
Wichtige Konzepte, Studien und Debatten Die Frauen- und Geschlechterforschung beschäftigt sich seit ihren Anfängen mit Mädchen. International war im anglo-amerikanischen Raum in den 1960er und 1970er Jahren die eigenschaftspsychologische Frage nach Geschlechtstypik und Unterschieden zwischen Mädchen und Jungen im Hinblick auf Sozialverhalten und kognitive Fähigkeiten populär. Mit dieser Perspektive rechnet Hagemann-White (1984) ab: Auf der Basis einer Zusammenschau vorliegender Studien (u.a. durch Maccoby und Jacklin, die 1974 1.600 Untersuchungen sichteten) kommt Hagemann-White zu dem Schluss, dass signifikante Unterschiede kaum feststellbar oder als methodische Artefakte anzusehen sind. Selbst die größten Unterschiede, die zwischen den Geschlechtern berichtet würden, seien weit geringer als die Variation innerhalb eines Geschlechts. Sie folgert, dass damit „Geschlecht per se eine ungeeignete unabhängige Variable ist“ (1984: 43). Sprich: Es ist sozialwissenschaftlich wenig sinnvoll, nach unterschiedlichen fixen Eigenschaften von Mädchen und Jungen (jeweils als Gesamtgruppe) zu fragen. Die wissenschaftliche Kritik wird alltagsweltlich zudem durch politische Erfahrungen mit der Koedukation flankiert: Die Zuschreibung von geschlechtsspezifischen Eigenschaften und der ständige Vergleich zwischen Mädchen und Jungen lassen stets eine der beiden Geschlechtsgruppen als defizitär erscheinen – und führen in ein pädagogisches Dilemma. Ab Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre bildete sich deshalb eine eigenständige außerschulische Mädchenpädagogik oder „Mädchenarbeit“ (zur Mädchenarbeitsforschung vgl. Rauw 2001, Brückner/Rose 2002, Graff 2004) heraus. Zu dieser Zeit differenzierten sich auch die Forschungsinteressen in Bezug auf Mädchen aus: Mädchen wurden aus dem permanenten Vergleich mit den Jungen entlassen, als eigenständige Gruppe ernst genommen und – später dann – mit vielfältigen sozialwissenschaftlichen Methoden untersucht. Ein erster Meilenstein auf diesem Weg ist der sechste Jugendbericht im Auftrag der Bundesregierung, der ganz der „Verbesserung der Chancengleichheit von Mädchen“ gewidmet war. Von 1984 bis 88 wurden insgesamt 16 Bände veröffentlicht – das Buch von Hagemann-White (1984) zur Sozialisation ist der erste davon –, die sich mit „Alltag und Biografie von Mädchen“ (Sachverständigenkommission 6. Jugendbericht 1984-88) beschäftigen. Die Schwerpunkte dieser Expertisen beziehen sich auf Mädchen in Jugendhilfe, Koedukation, Erziehungseinrichtungen und Familie; ausländische Mädchen werden ebenso wie Mädchen in der Provinz thematisiert; es geht um Sexualität und Sozialisation, um Behinderung, Erwerbslosigkeit und Lohnarbeit sowie Fragen der rechtlichen und politischen Diskriminierung von Mädchen, des Weiteren um das Mädchenbild in den Medien und um Mädchenbücher. Damit sind einige Schwerpunkte der Mädchenforschung bis heute aufgefächert. Anfang der 1990er Jahre fand in Amsterdam die erste internationale Konferenz zu „girls and girlhood“ („Alice in Wonderland“) statt, die als Initiation eines neuen akademischen Feldes – den „girls’ studies“ – gedacht war (de Ras/Lunenberg 1993). Die Mädchenforschung steht bis heute in der Spannung, einerseits die Geschlechtstypik von Mädchenentwicklungen, -alltagen, -lebenswelten und -kulturen ernst zu nehmen und detailliert zu untersuchen und dabei andererseits Geschlechterdifferenzen nicht selbst qua Methode hervor-
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zubringen. Wenn ich im Folgenden Gegenstandsbereiche zusammenfasse und mich mit denjenigen Forschungsfeldern beschäftige, in denen die meisten Arbeiten entstanden sind, so wird diese Spannung über die Bereiche hinweg deutlich.
Geschlechtsspezifische Sozialisation und psycho-sexuelle Identitätsentwicklung von Mädchen Am Anfang der deutschen Mädchenforschung stand die Frage, wie Mädchen im Prozess der Sozialisation zu Mädchen „gemacht“ werden (Scheu 1977). Scheu interessierte sich zunächst in theoretischer Perspektive im Anschluss an die Psychoanalyse für die frühe Geschlechtersozialisation – bereits Freud hatte ein zweigeschlechtliches Modell der Identitätsentwicklung entworfen. Die Kernthese feministisch-psychoanalytischer Ansätze (z.B. Chodorow 1994) in Bezug auf eine differente Entwicklung der Geschlechter ist folgende: Kleine Kinder erleben die erste Objektbeziehung unter den Bedingungen geschlechtlicher Arbeitsteilung in der Regel zur Mutter, mit dieser Beziehung sind für Jungen und Mädchen unterschiedliche Folgen für die weitere Sozialisation verbunden, handelt es sich doch im einen Fall um eine gleich-, im anderen Fall um eine gegengeschlechtliche Identifikation. Es wird angenommen, dass Jungen sich leichter aus der Symbiose mit der Mutter lösen und sich früher als unabhängig erfahren können als Mädchen, diese bleiben länger in einer ambivalenten Beziehung verstrickt. Sofern sie die Identitätsbildung von Mädchen überwiegend in engem Zusammenhang mit der Familie, genauer den differenten Beziehungen zu Mutter und Vater, thematisieren, stellen psychoanalytische Ansätze in der sozialwissenschaftlichen Landschaft eine theoretisch ausformulierte Position dar, die jedoch wegen ihrer Fokussierung auf die frühe Kindheit und die Familie auch kritisiert wird. Neben der frühen Kindheit liegt der zweite Schwerpunkt psychoanalytischer Betrachtungen der geschlechtlichen Identitätsentwicklung auf der Adoleszenz, in der, so die Annahme, frühkindliche Konflikte wieder aufleben (vgl. Flaake/King 1992). Andere Sozialisationsansätze schlossen mit dem Konzept geschlechtsspezifischer Rollen an den Strukturfunktionalismus an. Am Beispiel des Themas „Mädchen- und Jungenspiele“ lässt sich in schnellen Strichen Entwicklung und Kritik dieses Konzepts nachzeichnen: Bis heute viel zitiert ist z.B. die Studie von Lever (1976), die eine Funktionalität geschlechtsspezifischer Spiele für erwachsene Geschlechterrollen behauptet, insbesondere hebt sie die Kompetitivität und das Raumgreifende der Jungenspiele und das kooperative Element und die bescheidenen Raumansprüche von Mädchenspielen hervor. Dagegen untersucht Goodwin (1985) jenseits von Vergleich und Funktionalitätsannahmen die „ernste Seite des Seilspringens“, nimmt dieses typische Mädchenspiel also als Praxis in eigenem Recht wahr und konzentriert sich auf deren situierte Durchführung und Eigenlogik. Gebauer (1997) stellt weitere zehn Jahre später fest, dass geschlechtsspezifische Spiele nicht in direkter Linie auf spätere soziale Rollen verweisen, sondern soziale Personen spielerisch „aufführen“. Wichtig ist ihm die These, dass Kinder im Spiel einen praktischen Sinn für das gesellschaftliche Spiel der Zweigeschlechtlichkeit entwickeln und Geschmack daran finden, sich in dieses Spiel einzuordnen – oder auch nicht. Das Rollenkonzept gerät spätestens Anfang der 1990er Jahre in die konstruktivistische Kritik, weil es einen weiblichen Sozialcharakter und den „schematisierenden Dualismus von männlich-weiblich“ reproduziert (Bilden 1991: 279).
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Peer cultures Ein Schwerpunkt der Mädchenforschung sind auch die gleich- und gemischtgeschlechtlichen Gleichaltrigengruppen, an denen Mädchen partizipieren. Die ethnografische Jugend(subkultur)forschung hat eine lange Tradition (Willis 1977). Hier steht nicht so sehr das Individuum und seine Entwicklung, als vielmehr das Interesse an der Exploration von kulturellen Feldern und kollektiven Praktiken im Vordergrund. Dieses Gebiet war jedoch zunächst durch eine gewisse Blindheit gegenüber der Kategorie Geschlecht gekennzeichnet. Seit etwa 25 Jahren hat sich dieses Bild verändert: So stellten Eisenhart und Holland (1990) fest, dass sich die „Gegenkultur“ (Willis) an dem von ihnen beobachteten College weniger über Klassenzugehörigkeit als vielmehr über Geschlechtszugehörigkeit konstituierte (zu Ethnizität und Geschlecht vgl. auch Schofield 1982). Auf der Basis solcher Untersuchungen setzte sich die These durch, dass geschlechtshomogenen Gleichaltrigenformationen besondere Bedeutung für die Geschlechtersozialisation zukommt. Die „Entdeckung der Mädchen“ (Ostner 1986) durch die Sozialwissenschaften allgemein schließt also die Entdeckung spezifischer Mädchenkulturen ein: So forderten McRobbie und Garber (1976) die Relektüre der klassischen Jugendstudien unter Geschlechterperspektive und die Erforschung von „girls’ subcultures“, und im deutschen Kontext wandten sich z.B. Engler und Friebertshäuser (1988) den „Chicago-Mädchen“ als einer bis dahin „vergessenen Hälfte“ einer gemischtgeschlechtlichen städtischen Jugendsubkultur zu. Mit der Frage nach geschlechtsspezifischen kulturellen Praktiken entwickelte sich auch die Aufmerksamkeit für die „getrennten Welten“ (Maltz/Borker 1982) der Geschlechter, die in manchen Altersgruppen besonders ausgeprägt sind. Thorne und Luria (1986) verglichen auf der Basis einer häufigen Geschlechtertrennung im Grundschulalter die Interaktionsformen in Jungengruppen mit denen von Mädchengruppen. Adler, Kless und Adler (1992) untersuchten geschlechtsspezifische Statusnormen: körperliche Kraft und coolness bei den Jungen, familiärer Hintergrund und äußeres Erscheinungsbild bei den Mädchen. Besondere Popularität erlangten die Thesen aus dem Kontext der Soziolinguistik zu unterschiedlichen Kommunikationsstilen der Geschlechter, die u.a. mit der Verbreitung der Bücher von Tannen (z.B. 1990) zu tun hat. In diesem Kontext wurde auch Mädchen ein eher kooperativer und Jungen ein eher kompetitiver Gesprächsstil zugeschrieben. Diese zu einfach gestrickten Thesen wurden – man könnte sagen: noch im Zuge ihrer Popularisierung – von einigen Forscherinnen differenziert: Sheldon (1993) untersucht Konfliktsituationen zwischen drei- bis vierjährigen Mädchen und stellt fest, dass die Mädchen noch im Konflikt einen gemeinsamen Bezugsrahmen herstellen und aufrecht erhalten. Eckert (1993) untersucht „kooperative“ Wettstreits zwischen jugendlichen Mädchen, und auch Goodwin (1990: 284) hält einer simplen Unterschiedsthese – auf der Basis der komplexen „he-said-she-said“ Konfrontationen, die sie in ihrem Buch zentral untersucht hat –, entgegen: „cooperation and competition are not mutually exclusive agendas and often coexist within the same speech activities“. Die Zuschreibung geschlechtsspezifischen Gesprächsverhaltens und „geschlechtstypischen Sprechens“ (Cook-Gumperz 1991) erweist sich so als ein empirisches Problem, auf das Hagemann-Whites eingangs zitierte methodologische Kritik ebenfalls angewendet werden kann: Nicht das Geschlecht entscheidet über kooperativen oder kompetitiven Gesprächsstil, sondern der Kontext. In der Gender Forschung wird Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre eine noch grundsätzlichere methodologische Kritik an der Unterschiedsperspektive artikuliert. Problematisiert wird die „Reifizierung“ (Gildemeister/Wetterer 1992) der Geschlechterdifferenzierung durch die Forschung. Wer nach Unterschieden zwischen den Geschlechtern sucht, wird auch welche finden, so die Kritik an der zirkulären Konstruktion der Differenzforschungsansätze. Auch in der Kindheits- und Jugendforschung machte sich Skepsis breit, ob nicht der immer wieder durch die Forschung reproduzierte Vergleich eine forschungsstrategische Sackgasse für die Geschlechterforschung ist (Kelle 1999).
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Thorne (1993: 108) ergänzt die allgemeine Kritik an der Fortschreibung von Mädchentypik und Jungentypik speziell für das Gebiet der kulturanalytischen Forschung: Der Kultur- und Subkulturbegriff reifiziere in besonderer Weise kontrastive Bilder von den Geschlechtern und homogenisiere, was sich in der kulturellen Praxis doch häufig als mehrdeutig darstelle. Die vergleichende Unterschiedsforschung tendiert also dazu, die Kohärenz innerhalb der Geschlechtsgruppen zu über- und die Gemeinsamkeiten von Jungen und Mädchen zu untertreiben. Man könnte sagen: Die Unterschiedsperspektive ist angesichts der Vielfalt der kulturellen Praktiken unterkomplex.
Aktuelle Studien, Entwicklungen und Fragestellungen Neuere peer culture Forschung Aus dieser Kritik hat die neuere Geschlechterforschung forschungsstrategische Konsequenzen gezogen, die auch den Blick auf Mädchen neu kontextuieren und sie in anderen Aspekten ihrer Alltagswelten beleuchten als bisher. Krappmann und Oswald (1995) kontern die besonders für die mittlere Kindheit populäre Perspektive der getrennten Welten und beobachten Interaktionen zwischen Mädchen und Jungen; Thorne (1993) untersucht das „borderwork“ bei Schulkindern, die interaktive Herstellung, aber auch Demontage der Grenze zwischen den Geschlechtern; Breidenstein und Kelle (1998) erforschen statt der Unterschiede die „Praktiken der Geschlechterunterscheidung“ in vierten bis sechsten Schulklassen und analysieren diese Unterscheidungen im Kontext anderer feldspezifischer Differenzierungen nach Beliebtheit, Freundschaften und Entwicklungsstand. Diese neuen Perspektiven auf die vielfältige kulturelle Praxis der Geschlechterunterscheidung bedeuten nun nicht, dass der Blick auf die Spezifik von Mädchenkulturen hinfällig wäre. Orenstein (1996) hat in „School Girls“ eindrucksvoll beschrieben, welche Hürden Mädchen in Schule und Gleichaltrigenkultur daran hindern können, Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen auszubilden. Eder (1995) und ihre Mitarbeiterinnen demonstrieren, wie die Präferenz für geschlechtshomogene Gesellungsformen unter den jugendlichen Schülern und Schülerinnen einer middle school Mädchen- und Jungenkulturen mit eigenen Themen und interaktiven Praktiken hervortreibt. Als bevorzugte Mädchenpraktiken erscheinen hier Lästern und die Verhandlung von Normen für das äußere Erscheinungsbild. Auch neue deutschsprachige ethnografische oder fallrekonstruktive Studien nehmen weiterhin Mädchenkulturen in den Blick, weil sie im Alltag der Beforschten nach wie vor eine große Rolle spielen. Gemeinsam ist den neueren Studien ein reflektierter Umgang mit der Gegenstandskonstruktion qua Methode während des ganzen Forschungsprozesses. Breitenbach (2000) beschreibt Mädchenfreundschaften in der Adoleszenz auf der Basis von Gruppendiskussionen als „zentrale weibliche Beziehungspraxis“, als „Kommunikationskultur und Instrument der Geschlechtsdarstellung“, als „Unterstützung, Beratung und soziale Kontrolle“ und als „Supervision“, v.a. im Hinblick auf heterosexuelle Beziehungen. Fritzsche (2003) hat narrative Einzelinterviews und Gruppendiskussionen mit elf- bis 17-jährigen weiblichen Boy- und Girl-Group-Fans durchgeführt, um an diesem Material mit der wissenssoziologischen „dokumentarischen Methode“ kollektive Normen, Interpretationsrahmen und Relevanzsysteme einer spezifischen Mädchenkultur, aber auch Praktiken wie z.B. die „Tanzmimesis“ zu rekonstruieren. Diese Praktiken interpretiert die Autorin als Auseinandersetzungen mit den normativen Anforderungen der Jugendphase und als „iterative Herstellung von Geschlecht“. Branners Studie (2003) steht für eine Gesprächsforschung in Mädchenkulturen, die ethnografische und konversationsanalytische Methoden kombiniert. Als vermutlich spezifisch für 14bis 16-jährige Mädchen stellt Branner (2003) einen Konversationsstil heraus, den sie „nachträg-
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liches Sicherungsverfahren“ nennt, bei dem der Rahmen von Äußerungen noch einmal expliziert wird (z.B. „war nur ’n Scherz“). Für adoleszente Mädchen untereinander sind ernsthafte Beleidigungen offenbar ein besonderes Tabu, vergleichbare Praktiken der Absicherung einer gemeinschaftlichen Situationsinterpretation finden sich in Untersuchungen von Jungengruppen nicht. In ihrer Studie, in der sie Berliner Kinder in der „ausgehenden Kindheit“ erforscht, fokussiert Tervooren (2006) v.a. die Performativität der alltäglichen Praktiken und Körperstile von Mädchen (und Jungen) und versteht diese als „Einüben“ von Geschlecht und Begehren. Sie betreibt ethnografische Mädchen- und Geschlechterforschung mit dem Ziele der Entwicklung einer „performativen Sozialisationstheorie“. Ihre Studie ist damit ein Beispiel für das Bemühen in der neueren Forschung, Butlers Theorie der Performativität der Geschlechtsidentität empirischethnografisch fruchtbar zu machen und mit dem doing gender Ansatz zu verknüpfen. – Ein ganz anderes Beispiel ist demgegenüber die Erforschung von Mädchen in gewaltbereiten Gruppierungen (Bruhns/Wittmann 2002).
Empirische psychoanalytische Forschung und sozialwissenschaftliche Studien zu Mädchenkörpern, -sexualität, -gesundheit und -sport Hagemann-White (1998) verweist bis heute darauf, dass es theoretisch sinnvoll ist, in einer Prozessperspektive nach der unterschiedlichen psycho-sexuellen Entwicklung von Mädchen und Jungen zu fragen. Sie hebt hervor, dass neuere psychoanalytische Theorien nicht mehr essentialistisch mit differenten Körpern argumentieren, sondern ein relationales Modell der Geschlechtsidentitätsentwicklung anbieten. Meines Erachtens ebenso wichtig für die Weiterentwicklung der psychoanalytischen Mädchenforschung ist die Beobachtung, dass Arbeiten wie die von Hoeltje (1996), die eine Beobachtungsstudie im Kindergarten durchführte, die psychoanalytische Theorie auch empirisch-sozialwissenschaftlich fundieren und deren Blick auf andere Sozialisationsinstanzen als die Familie erweitern. Brown und Gilligan (1994) schließen mit ihrer qualitativen Längsschnitt-Interviewstudie bei sieben- bis 18-jährigen Mädchen ebenfalls an psychoanalytische Entwicklungsthesen an und wenden diese empirisch, indem sie die Mädchen selbst zu Wort kommen lassen und ihren „Stimmen“ aufmerksam zuhören. Die Autorinnen interpretieren die Adoleszenz als „Wegegabelung“ (crossroads), an der sich v.a. die Beziehungen zwischen Mädchen und Müttern – durch Themen wie Ablösung von und Bestehen neben der Mutter – ändern. In dieser Zeit verlieren Mädchen häufig an Selbstsicherheit (vgl. auch Horstkemper 1987, Orenstein 1996) und machen einen Anpassungsprozess an traditionelle Weiblichkeitskonzepte durch. Indem die Stimmen von Mädchen ins Zentrum gestellt werden, markiert das Buch von Brown und Gilligan zugleich beispielhaft einen Wendepunkt für die mädchenbezogene Sozialisationsforschung: weg von (idealtypischen) Mädchen als Objekten von Sozialisationstheorie hin zu Mädchen als (empirischen) Subjekten und Akteurinnen (vgl. auch Lees 1986). Eine empirische Wende vollzieht auch Flaake (2001), die eine Interviewstudie zur Adoleszenz 13- bis 19-jähriger Mädchen durchgeführt hat, bei der insbesondere körperliche Veränderungen, Menstruation und jugendliche Sexualität sowie die Mutter- und Vaterbeziehungen der Mädchen im Zentrum stehen. Demselben Themenkomplex widmet sich Hackmann (2002), die in ihrer Schülerinnenstudie aber stärker nach der Auseinandersetzung von Mädchen mit „Zweigeschlechtlichkeit und der Norm der Heterosexualität“ fragt. Der Körper bildet auch in anderen Ansätzen einen der Schwerpunkte der aktuellen sozialwissenschaftlichen Mädchenforschung: Sexualität (Prendergast 2000), Gesundheit und Sport (Rose 1991, Kugelmann 1996, Horter 2000) stehen im Fokus einer Reihe von Untersuchungen. Seit einigen Jahren werden Fragen nach der „Konstruktion von Geschlechtlichkeit über somatische Kulturen“ (Kolip 1997, vgl. auch Helfferich 1994) und, anstatt sexuelle Triebe vorauszusetzen, nach dem sozialen „sexuell werden“ (Stein-Hilbers 2000) gestellt. Kennzeichnend für
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diese neueren Arbeiten ist, dass psychoanalytische Thesen mit konstruktivistischen und ethnomethodologischen Perspektiven – „doing gender“ (West/Zimmerman 1987) und der kulturelle Zwang zur Geschlechtsdarstellung – verknüpft werden. Es geht hier um Mädchensozialisation stets im Rahmen des Systems der Zweigeschlechtlichkeit. In diesem Kontext sind schließlich auch die Arbeiten zu sexueller Gewalt gegen Mädchen zu nennen (Heiliger 2000, Lange 2001) sowie Ansätze zur Gewaltprävention (Wortberg 1997) und zu einer bewegungs- und raumbezogenen Mädchenforschung und -arbeit (Flade/Kustor 1996, Nissen 1998).
Historische Mädchen- und Mädchenbildungsforschung Für den Bereich der historischen Forschung zur Mädchen- und Frauenbildung vom Mittelalter bis heute haben Kleinau und Opitz (1996) ein zweibändiges Handbuch vorgelegt. Eine hoch interessante, historisch-linguistische Arbeit hat Lauggas (2000) verfasst, die als grundlegend für jegliche Mädchenforschung angesehen werden kann: Sie zeichnet nach, wie im Zuge der Diskurse zur Mädchenbildung im 18. Jahrhundert der Begriff des „Mädchens“ erst gebildet wurde und ab da variantenreich zum Einsatz kommt. Die historische Mädchenforschung bezieht sich allerdings nicht nur auf Bildung. Im Zusammenhang einer differenzierten Sozialgeschichte der Jugend stellt sich die Frage nach der „historischen Konstitution und besonderen Gestalt weiblicher Jugend“ (Bilden/Diezinger 1993): De Ras (1988) untersucht die „weibliche Kultur“ von Mädchen im Wandervogel und der bündischen Jugend; Andresen (1997) beschreibt die „soziale Konstruktion von Mädchenjugend“ in der bürgerlichen Jugendbewegung; Benninghaus (1999) stellt Arbeitermädchen in der Weimarer Republik als die „anderen Jugendlichen“ vor. Brumbergs (1997) Buch ist ein Beitrag zur Körpergeschichte, sie hat eine „intimate history of American girls“ seit 1830 geschrieben.
Mädchenliteratur- und -medienforschung In diesem Bereich stand am Anfang die Erforschung von (stereotypen) Mädchenbildern, die z.B. in der Werbung (Schmerl 1984) oder in Mädchenbüchern (Mayr-Kleffel 1984) transportiert werden. Wenn diese medialen Bilder und „Mädchenmuster“ (Czurda 1996) auch bis heute einen Schwerpunkt der Forschung darstellen und auf die Identitätsbildung von Mädchen bezogen werden (Luca 1998), so kommen doch auch immer stärker Mädchen als Rezipientinnen und Akteurinnen in der Medienlandschaft (GMK 1998, Götz 1999) in den Blick. Die „kulturelle Konstruktion weiblicher Jugend“ wird z.B. für die Rockmusik (Wald 1998), in Bezug auf mediale „Symbolwelten“ (Zötsch 1999) oder „Inszenierungen“ von kindlicher und jugendlicher Weiblichkeit in der Literatur (Lehnert 1996) erforscht. Eine Pionierin auf diesem Gebiet ist Walkerdine (1997): Sie untersucht die (Re-)Präsentation von Mädchen in der ganzen Breite der Populärkultur (Literatur, Werbung, Film, TV, Mini-Playback-Shows, Mädchenzeitschriften u.a.) und beschreibt die gesellschaftliche Fetischisierung von „girlhood“. Doch, wie gesagt, es geht der neueren Medienforschung/den cultural studies auch stark um Mädchen als Akteurinnen: Je aktueller die Studien sind und je subkultureller das Feld, desto reflexiver und gebrochener der Umgang von Mädchen mit (klassischen) Mädchenbildern, den die Studien nachzeichnen (vgl. etwa die Beiträge zu Mädchen-Punkbands in Baldauf/Weingartner 1998, Spreckels 2006).
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Helga Kelle
Ausblick Die Mädchenforschung hat sich zunehmend professionalisiert und institutionalisiert, ebenso wie die Mädchenarbeit (z.B. über Landesarbeitsgemeinschaften). Institutionen wie das DJI, das zuletzt 2001 eine große Mädchentagung veranstaltete, und die Zeitschrift „Betrifft Mädchen“ tragen zu einem regen Austausch zwischen Forschung und Praxis bei. Die ‚Entwicklungsförderung auf Zeit‘ in Modellprojekten (z.B. SPI 1999) verweist aber auf eine prekäre Etablierung der Mädchenarbeit: Nicht zuletzt deshalb nennt die Sachverständigenkommission 11. Kinder- und Jugendbericht (2002) „Mädchen- und Jungenarbeit“ eine „uneingelöste fachliche Herausforderung“. Die Frage ist auch, ob neue Konzepte wie „gender mainstreaming“ Mädchenarbeit fördern oder gefährden. In der Mädchenforschung geht es um die wissenschaftlichen Ansprüche, sowohl Mädchen in eigenem Recht zu erforschen als auch „Mädchen“ als kulturelle, diskursive und wissenschaftliche Konstrukte im Rahmen des Systems der Zweigeschlechtlichkeit zu analysieren. Die Geschichte der Mädchenforschung zeigt, dass man sie unter zwei grundsätzlich unterschiedlichen Optionen betreiben kann, derer sich Forscherinnen bewusst sein sollten, wenn sie ihre Forschung beginnen: Wollen sie spezifische Mädchenkulturen oder die Kultur der Geschlechterunterscheidung – oder beides – untersuchen (Kelle 1999)? Ich plädiere diesbezüglich für die zukünftige Forschung für ein entschiedenes Sowohl-als-auch: Die Betrachtung von Mädchenkulturen in ihren Besonderheiten erfährt erst durch Kontextuierung – welche Unterscheidungspraktiken sind es, die „besondern“? – einen Anschluss an die Soziologie der Geschlechterdifferenz. Die Einflüsse der Psychoanalyse wirken insofern nach, dass bestimmte Altersgruppen (bes. die Adoleszenz) besser erforscht sind als andere. Für die Zukunft wäre es wünschenswert, dass Mädchen aller Altersgruppen mit ihren Selbstäußerungen in den Blick rücken. Auch die Frage besonderer Lebenslagen von Mädchen verdient eine differenziertere Betrachtung als bisher: Für Mädchen mit Migrationshintergrund liegt z.B. die umfängliche Fragebogen-Studie von Boos-Nünning und Karakaolu (2005) zu Lebenssituation und -welten von italienischen, griechischen, türkischen u.a. Migrantinnen sowie Aussiedlerinnen aus der GUS inzwischen vor, qualitative Forschungen in diesem Bereich müssten folgen. Weniger eine Zielperspektive und die Annahme der Funktionalität für das erwachsene Frauenleben als vielmehr die relative Eigenständigkeit von Mädchenkulturen und die vielfältig situierte Praxis von Mädchen sollten den Blick von Mädchenforscherinnen lenken – und die Mädchen vor erwachsenen Projektionen schützen. Verweise: Doing gender Geschlechterstereotype Schule Sozialisationstheorien
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Michael Meuser
Junge Männer: Aneignung und Reproduktion von Männlichkeit
Als Träger sozialer Veränderungen und gesellschaftlicher Innovation gilt sowohl im common sense als auch in der sozialwissenschaftlichen Beobachtung und Analyse sozialen Wandels insbesondere die jeweils nachwachsende Generation. Karl Mannheim (1970: 531) unterscheidet „zwei wesentlich verschiedene Typen des ‚neuartigen Zugangs‘ zum sozialen Raum und zu dessen Gehalten“. Der eine gründet auf „sozialen Verschiebungen“, der andere auf einem Generationswechsel. Gegenwärtig junge Männer haben ihre primäre und sekundäre Sozialisation zu einer Zeit erfahren, die durch gravierende „soziale Verschiebungen“ des gesellschaftlichen Ordnungsgefüges charakterisiert ist. Die heute 20- bis 30-Jährigen sind in einer Epoche der Transformation der Geschlechterordnung aufgewachsen, gleichsam zeitgleich mit der Etablierung der zweiten Frauenbewegung. Anders als für die Generation ihrer Väter sind für sie berufstätige Mütter nicht die Ausnahme sondern die Regel, und ihre Schwestern durchlaufen typischerweise die gleichen Institutionen der formalen Bildung wie sie selbst und können inzwischen auf mindestens gleiche, wenn nicht größere Bildungserfolge verweisen. Als eine neue Generation haben die jungen Männer „einen neuen Zugang zum akkumulierten Kulturgut“ (Mannheim 1970: 530), das selbst wiederum in Folge einer Verschiebung im Ordnungsgefüge der Geschlechter deutlich in Bewegung geraten ist. Wenn auch die soziale Ungleichheit der Geschlechter auf der Ebene habitualisierter Alltagspraxis weiterhin in hohem Maße reproduziert wird, so ist doch unverkennbar, dass die kulturellen Codierungen von weiblich und männlich ihre vormaligen polaren Eindeutigkeiten verloren haben und brüchig geworden sind (vgl. Gildemeister 2000: 222f.). Und wenn auch die gesellschaftliche Dominanz des Mannes nach wie vor die Strukturen des Geschlechterverhältnisses bestimmt, so ist doch Pierre Bourdieus (1997b: 226) These nicht von der Hand zu weisen, „daß sich die männliche Herrschaft nicht mehr mit der Evidenz des Selbstverständlichen durchsetzt“. Sie hat in vielen sozialen Feldern Bestand, muss aber in wachsendem Maße verteidigt und gerechtfertigt werden.
Junge Erwachsene: Orientierungen und Einstellungen Vor dem Hintergrund der Transformation der Geschlechterordnung ist es eine sinnfällige Erwartung, dass sich veränderte, nontraditionale Männlichkeitsmuster eher bei jungen als bei älteren Männern beobachten lassen. Untersuchungen, die nach Einstellungen und deren Wandel fragen, bestätigen diese Erwartungen. So erreicht laut Zulehner und Volz (1998: 53), die eine breit angelegte Umfrage unter deutschen Männern und Frauen durchgeführt haben, der Anteil der von ihnen als „neue Männer“ bezeichneten Befragten, der insgesamt bei 20 Prozent liegt, in der Kohorte der 20bis 30-Jährigen den Höchstwert von 29 Prozent. „Neue Männer“ zeichnen sich durch Einstellungen aus, die eine Abkehr vom die tradierte Geschlechterordnung prägenden Orientierungsmuster der „hegemonialen Männlichkeit“ (vgl. Connell 1987, 2000) erkennen lassen. Andere Studien kommen
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zu ähnlichen Befunden. Geissler (1998: 118) zufolge sind in dieser Lebensphase die Gemeinsamkeiten zwischen den Geschlechtern stärker ausgeprägt als die Unterschiede, so dass man diese Zeit „als Moratorium im Prozeß der Herstellung von Geschlechterhierarchie“ betrachten könne. Winter und Neubauer (1998) haben bei Jungen und männlichen Jugendlichen traditionelle Einstellungen in nur geringem Maße gefunden; „hierarchische Abgrenzungen und Unterscheidungen gegenüber Mädchen und Frauen fallen kaum ins Gewicht“ (ebd.: 154). Der Beitrag behandelt den Stellenwert, der dem Muster der hegemonialen Männlichkeit bei Aneignung und Reproduktion von Männlichkeit unter jungen Männern gegenwärtig, d.h. in der skizzierten Umbruchsituation, zukommt. Die Kategorie der jungen Männer ist hier nicht so sehr durch exakte Altersangaben definiert, sondern bezieht sich auf eine Lebensphase, die sich – nicht nur bei Männern – in den letzten Jahrzehnten in wachsendem Maße gleichsam zwischen Jugend- und Erwachsenenstatus geschoben hat. Eine Erkenntnis der Lebenslaufforschung ist, dass „das junge Erwachsenenalter als eine neue Lebensphase“ entstanden ist. Ausschlag gebend hierfür sind „die Ausdifferenzierung der Bildungs- und Ausbildungsangebote, [...] Umwege beim Übergang in den Arbeitsmarkt und [...] steigende Ansprüche an das Niveau des Berufs“ (Geissler 1998: 117f.). Die zeitliche Ausdehnung dieser Phase variiert in Abhängigkeit von insbesondere milieuspezifischen Lebenslagen. Die anstehenden biografischen Aufgaben sind Berufseinmündung, Partnerschaftsbildung und Familiengründung. Gegenüber klassischen Identitätstheorien (vgl. Erikson 1973), die den Prozess der Identitätsentwicklung mit dem Ende der Adoleszenz für im Wesentlichen abgeschlossen betrachten, betonen Keupp u.a. (1999: 82ff.) im Anschluss an die jugendsoziologische Forschung, dass Identitätsbildung auch im Erwachsenenalter stattfindet und im Grunde ein endloser Prozess ist. In die Phase des jungen Erwachsenenalters fällt für den Mann die Aufgabe der Aneignung einer erwachsenen Männlichkeit. Interviews mit männlichen Jugendlichen zeigen, dass sich dies nicht nur der sozialwissenschaftlichen Analyse dergestalt darstellt. In der biografischen Vorausschau bringen diese den „Begriff Mann und das Mannsein stark mit dem Erwachsensein und dem Erwachsenenalter in Verbindung“ und knüpfen den Erwachsenenstatus klar an Berufsarbeit (Winter/Neubauer 1998: 153). Das junge Erwachsenenalter ist üblicherweise die Lebensphase, in der erste feste Partnerschaften aufgebaut werden. Junge Männer müssen sich, so sie denn heterosexuelle Partnerschaften suchen – und das tun die weitaus meisten – mit Frauen ins Vernehmen setzen, die sich von einem „Dasein für andere“ (Beck-Gernsheim 1983) verabschiedet haben und männlichen Hegemonieansprüchen kritisch begegnen. Zieht man Ergebnisse aus neueren Erhebungen zu Einstellungen von jungen Männern heran, so scheinen die Voraussetzungen hierfür eher günstig zu sein. Die Studie von Zulehner und Volz (1998: 53) weist für die Kohorte der 20- bis 30Jährigen neben dem bereits erwähnten Anteil von 29 Prozent so genannter „neuer Männer“ einen Anteil von lediglich elf Prozent traditionell orientierter Männer aus (des Weiteren 27 Prozent „pragmatisch“ orientierte und 33 Prozent „unsichere“ Männer). Lässt sich aus der Tatsache, dass in Einstellungsuntersuchungen Hegemonieansprüche unter jungen Männern kaum noch vorzufinden sind, folgern, diese Männer hätten in ihrem Alltag das Orientierungsmuster der hegemonialen Männlichkeit gründlich verabschiedet? Mit dieser Frage soll weder die Gültigkeit der Ergebnisse der Einstellungsstudien in Frage gestellt noch den interviewten Männer unterstellt werden, sie hätten sich im Interview verstellt und gleichsam im Sinne einer (angenommenen) sozialen Erwünschtheit geantwortet. Vielmehr ist zum einen zu beachten, dass Einstellungen und alltägliche Handlungspraxis stark auseinander klaffen können. Und das scheint, wie u.a. die Studien von Hochschild (1993) und Koppetsch und Burkart (1999) zur Organisation der Arbeitsteilung im Haushalt eindrucksvoll zeigen, im Arrangement der Geschlechter in hohem Maße der Fall zu sein. Zum anderen zeitigen Untersuchungen, die Männer nicht individuell nach ihren Einstellungen fragen, sondern jene im homosozialen Gruppenkontext betrachten, deutlich andere Ergebnisse (vgl. Winter/Neubauer 1998: 62).
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Homosozialität, Geschlechtsidentität und hegemoniale Männlichkeit Dem Gruppenkontext eine besondere Aufmerksamkeit zu schenken ist angezeigt, da die Aneignung von Männlichkeit in hohem Maße innerhalb von homosozialen Kontexten stattfindet (vgl. Meuser 2007a). Homosozialität meint die wechselseitige Orientierung der Angehörigen eines Geschlechts aneinander, „the seeking, enjoyment, and/or preference for the company of the same sex“ (Lipman-Blumen 1976: 16). Kimmel (1996: 7) begreift männlich-homosoziale Handlungsfelder als diejenigen sozialen Räume, in denen die männliche Geschlechtsidentität ausgebildet und verfestigt wird. „Masculinity is largely a homosocial enactment.“ Bourdieu (1997a: 203) zufolge wird der männliche Habitus „konstruiert und verändert [...] nur in Verbindung mit dem den Männern vorbehaltenen Raum, in dem sich, unter Männern, die ernsten Spiele des Wettbewerbs abspielen“. Bei diesen Spielen handelt es sich um „Machtspiele“; die geschlechtliche Sozialisation ziele darauf, die Männer darauf zu orientieren, „die Machtspiele zu lieben“ (ebd.: 201). Zwei miteinander verbundene Eigenschaften homosozialer Handlungsfelder sind für die männliche Identitätsbildung und die Konstitution des männlichen Geschlechtshabitus von strategischer Bedeutung: die Distinktion gegenüber der Welt der Frauen und auch gegenüber (bestimmten) anderen Männern sowie die Konjunktion unter Männern. Diese doppelte Distinktions- und Dominanzstruktur von Männlichkeit ist auch mit dem von Carrigan, Connell und Lee (1985, vgl. auch Connell 1987, 2000) entwickelten Konzept der „hegemonialen Männlichkeit“ angesprochen. Von zentraler Bedeutung für die Einübung der Distinktion ist die peer group der männlichen Jugendlichen, die lebensgeschichtlich gewöhnlich der erste homosozial geprägte soziale Raum ist. Hier wird die Strukturlogik des männlichen Habitus gleichsam spielerisch angeeignet, wird die hegemoniale Männlichkeit in ihrer doppelten Gestalt als die Norm bekräftigt, auf die Männer verpflichtet werden – unabhängig von einem möglicherweise abweichenden individuellen Selbstverständnis (vgl. Bird 1996). In Gruppendiskussionen mit Männern finden sich Beispiele aus ganz unterschiedlichen Lebenszusammenhängen, die zeigen, wie einzelne Männer von der homosozialen Gemeinschaft an die Gültigkeit der Norm der hegemonialen Männlichkeit erinnert werden (vgl. Meuser 1998a). Das kann z.B. dadurch geschehen, dass Arbeitskollegen einen jungen Mann, der regelmäßig ohne Verpflegung zur Arbeit kommt, fragen, ob seine Frau ihm denn keine Pausenbrote zubereiten würde, oder dergestalt erfolgen, dass ein Student, der während einer Gruppendiskussion mehrfach versucht, seine Freundin telefonisch zu erreichen, von seinen Freunden die Frage gestellt bekommt, wer denn eigentlich in der Partnerschaft „die Hosen anhabe“, er oder seine Freundin (zu letzterem vgl. ausführlich Meuser 2001a). Homosoziale Männergemeinschaften fungieren als Verstärker hegemonialer Männlichkeit. Davon sind gerade auch solche Männer betroffen, die non-traditionale, an Egalitätsnormen orientierte Einstellungen vertreten. Diese werden beständig, auf mehr oder minder subtile Weise, auf die Gültigkeit des hegemonialen Ideals hingewiesen. Die homosoziale Männergemeinschaft agiert gleichsam als ein kollektiver Akteur der Konstruktion von Differenz und der Bekräftigung von Distinktion.
Konfliktkonstellationen Den in der homosozialen Männergemeinschaft perpetuierten männlichen Hegemonieansprüchen stehen die oben skizzierten Gleichheitserwartungen junger Frauen entgegen. Dessen sind sich die jungen Männer durchaus bewusst (vgl. Meuser 1998b). Es entsteht eine Konfliktkonstellation in Gestalt einer mehr oder minder starken Diskrepanz von Erwartungen. Der Wandel der Geschlechterverhältnisse sorgt dafür, dass die Erwartungen in zunehmendem Maße auseinander klaffen, während in der Generation der Väter dieser jungen Männer die Erwartungssysteme noch stärker kongruent waren bzw. immer noch sind (vgl. Meuser 1998a: 183ff., 277ff.).
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Eine einseitige Auflösung des Konfliktes im Sinne einer Orientierung an nur einem der konkurrierenden Erwartungskomplexe ist keine probate Strategie. Insoweit sie daran interessiert sind, heterosexuelle Partnerschaften einzugehen und aufrecht zu erhalten, können die jungen Männer die Erwartungen der Frauen nicht ignorieren. Angesichts der skizzierten Bedeutung homosozialer Welten für die Ausbildung der männlichen Geschlechtsidentität und die Konstitution des männlichen Habitus können aber auch die dort gültigen Erwartungen nicht unberücksichtigt bleiben. Eine Konsequenz dieser Diskrepanz sind oftmals recht unterschiedliche Handlungsweisen in hetero- und homosozialer Interaktion und eben auch unterschiedliche Äußerungen, je nachdem, ob man die jungen Männer individuell interviewt oder im homosozialen Gruppenkontext über Männlichkeit reden lässt. Partnerschaftliche, der Tendenz nach egalitäre Arrangements in der heterosexuellen Beziehung können durchaus einhergehen mit Frauen abwertenden Äußerungen in der Männergemeinschaft, z.B. in Gestalt von „sexual talk“. Die skizzierten Diskrepanzen damit zu erklären, dass der gewiss vorhandene Gruppendruck die jungen Männer im homosozialen Kontext nötige, sich zu verstellen, also ein Selbstbild zu präsentieren und eine Männlichkeit zu inszenieren, die nicht ihrem ‚wirklichen‘, ‚wahren‘ oder ‚authentischen‘ Selbstverständnis entsprechen, wäre nur dann möglich, wenn man erstens von dem Vorhandensein oder doch zumindest der Möglichkeit einer kohärenten, widerspruchsfreien Identität ausgeht und zweitens den privaten Lebensbereich als das strukturgebende Zentrum der personalen Identität annimmt. Zu der Frage, welcher Lebensbereich das strukturgebende Zentrum männlicher Identitätsbildung ist, so es denn ein solches überhaupt gibt, halten die vorliegenden Studien zu männlichen Orientierungen unterschiedliche Auskünfte bereit. Wenn es ein Zentrum des männlichen Selbst gibt, dann sind es – und dies nahezu ungebrochen – der Beruf und die Erwerbsarbeit. Zwar hat sich die Berufswelt insoweit gravierend verändert, als dort eine Vielzahl traditionell männlich geprägter Berufsfelder ihren homosozialen Charakter verloren hat, doch bedingt die Inklusion von Frauen keineswegs zwangsläufig eine Auflösung der männlichen Dominanzkultur (vgl. Fine 1987, Kanter 1987). In Gruppendiskussionen mit Männern kommt immer wieder zum Ausdruck, dass die Männer die Männergemeinschaft als einen Ort der Authentizität wahrnehmen. Das gilt für ältere wie für jüngere Männer gleichermaßen. In der Abgrenzung gegenüber dem anderen Geschlecht erscheint die homosoziale Gemeinschaft als das Handlungsfeld, in dem der Mann gewissermaßen bei sich ist. Hier müsse er sich nicht verstellen (vgl. auch Winter/Neubauer 1998: 285f.). In Einzelinterviews bezeichnen Männer die Familie allerdings als den für sie wichtigsten Lebensbereich, wichtiger noch als der Beruf und das Zusammensein mit Freunden, und die in einer Ehe oder partnerschaftlichen Gemeinschaft lebenden Männer äußern ein hohes Maß an Zufriedenheit mit der Partnerschaft (vgl. Zulehner/Volz 1998: 84, 117f.). Partnerschaft und Familie werden als Ort der Geborgenheit wahrgenommen. Identität kann unter den Bedingungen spätmoderner Lebensformen nicht mehr schlüssig als widerspruchsfreie Einheit konzipiert, sondern muss als spannungsreicher Prozess verstanden werden. ‚Identitätsarbeit‘ besteht v.a. in der Bewältigung von Ambivalenzen (vgl. Keupp u.a. 1999). Mannsein ist für junge Männer eine ambivalente Angelegenheit geworden, die ein hohes Maß an Balance zwischen diskrepanten Erwartungen erfordert.
‚Neujustierungen‘ von Männlichkeit? Will man beurteilen, welche Möglichkeiten junge Männer haben, die spannungsreichen Ambivalenzen aufzulösen, so muss man zunächst das schon erwähnte Wegbrechen von immer mehr homosozialen Räumen in Rechnung stellen. King (2000: 98) weist auf die Konsequenzen dieser Entwicklung für die männliche Identitätsbildung hin: „Sie implizieren eine Aushöhlung tradierter Männlichkeitskonstruktionen etwa als ‚Mann unter Männern‘ in der Sphäre des Beruflichen,
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der Politik oder der Öffentlichkeit im Allgemeinen. Sie bedeuten für männliche Adoleszente [und auch für junge Männer, M.M.], nun auch im öffentlichen Raum mit der Notwendigkeit und Möglichkeit der Kooperation wie auch der Konkurrenz mit jungen Frauen konfrontiert zu werden.“ Das mag, wie King annimmt, junge Männer veranlassen, ihre Männlichkeitsentwürfe über tradierte Muster hinaus zu erweitern, es mag aber auch Spannungen verstärken und zu Verunsicherungen führen. Wo letzteres sich ereignet, erweisen sich die v.a. im außerberuflichen Bereich immer noch zahlreich vorhandenen homosozialen Männergemeinschaften insbesondere für junge Männer als ein Refugium, in dem Verunsicherungen aufgefangen und Maßstäbe ‚zurechtgerückt‘ werden können (vgl. Meuser 2003). Es ist eine empirisch offene Frage, ob als Folge der Transformation der Geschlechterordnung, die nicht zuletzt in einer mehr oder minder weit gehenden Auflösung tradierter Männerdomänen besteht – nachdem Frauen den Zutritt zu den kämpfenden Einheiten der Bundeswehr erstritten haben, bleibt als eine der letzten großen ‚Männerbastionen‘ nur noch der katholische Klerus –, die alltägliche Erfahrungsbasis von Geschlechterbeziehungen und -verhältnissen sich à la longue derart verändert, dass der Stellenwert, der homosozialen Erfahrungsräumen für die Ausbildung geschlechtsbezogener Orientierungen zukommt, geringer wird. Winter und Neubauer (1998: 279f.) konstatieren als ein Ergebnis der von ihnen mit männlichen Jugendlichen geführten Interviews eine „abnehmende oder zumindest veränderte Bedeutung der Clique als Gesellungsform von Gleichaltrigen“. An deren Stelle träten individualisiertere Beziehungs- und Gesellungsformen. Ob deren Charakter weniger homosozial geprägt ist als der einer Clique, lässt sich auf der Basis der von Winter und Neubauer vorgelegten Studie freilich nicht sagen. Wenn man mit Böhnisch und Winter (1993: 93f.) die Phase des jungen Erwachsenenalters als eine „‚offene‘ Lebensphase“ betrachtet, in der Neujustierungen der Geschlechtsidentität möglich sind, dann dürfte von entscheidender Bedeutung dafür sein, in welche Richtung die Neujustierungen erfolgen, wie die jungen Männer die skizzierten Diskrepanzen, Spannungen und Ambivalenzen bewältigen. Gegenwärtig lassen sich sowohl Ansätze einer ‚Modernisierung‘ von Männlichkeit beobachten als auch Beharrungstendenzen im Sinne einer Verteidigung tradierter, aber gefährdeter Privilegien – und das mitunter in ein- und demselben Kontext. Eine Parallelität von Kontinuität und Wandel lässt sich v.a. bei massenmedial erzeugten und verbreiteten Männlichkeitsbildern beobachten (vgl. Gauntlett 2002: 152ff., Meuser 2001b, Zurstiege 2001). Veränderungen gegenüber tradierten Männlichkeitsmustern, die hauptsächlich von jungen Männern getragen werden, sind v.a. in zwei Dimensionen festzustellen: in einem gewandelten Verständnis von Vaterschaft und in einer (ästhetisierenden) Bedeutungsaufwertung des männlichen Körpers (vgl. Meuser 2007b). Neuere Untersuchungen über Vaterschaft zeigen übereinstimmend, dass (junge) Väter sich nicht mehr mit der – von der traditionellen Männerrolle vorgesehenen – Funktion des Ernährers der Familie begnügen wollen. Sie wollen sich im Sinne einer „aktiven Vaterschaft“ an der Erziehung ihrer Kinder beteiligen, die Erziehungsfunktion erscheint ihnen wichtiger als die des Brotverdieners (vgl. Fthenakis 1999, Fthenakis/Minsel 2001, Walter 2002). Die Untersuchungen zeigen aber auch, dass mit diesen veränderten Einstellungen mehrheitlich keine entsprechend veränderte Alltagspraxis korrespondiert, wie u.a. das nur geringe Maß der Inanspruchnahme von Erziehungsurlaub bzw. Elternzeit durch Männer dokumentiert (vgl. Schneider/Rost 1998). Ein wichtiger Grund sind die Grenzen, die von den Strukturen des Arbeitsmarktes und der Beschäftigungsverhältnisse gesetzt werden (vgl. Born/Krüger 2002). Mit Blick auf einen in den 1980er Jahren einsetzenden „Körperboom“ spricht die kulturwissenschaftliche Forschung von der Entwicklung einer „somatischen Kultur“, in der über den Körper kulturelles Kapital akkumuliert werden kann (vgl. Featherstone 1991, Rittner 1999, Turner 1996). An dieser Entwicklung partizipieren vermehrt auch Männer. Einen ‚perfekten‘ Körper zu haben und diesen ‚richtig‘ zu präsentieren wird zu einem anerkannten Attribut von Männlichkeit. Männer sind in wachsendem Maße den Anforderungen – oder, wenn man so will, den Zumutungen – der Körperästhetik unterworfen. Die herkömmliche exklusive Gleichsetzung von Weiblichkeit mit Körperlichkeit beginnt sich aufzulösen.
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Ausblick Die sozialwissenschaftliche Forschung zu männlichen Lebenslagen ist (in Deutschland) noch zu wenig entwickelt, um empirisch fundiert einschätzen zu können, ob und in welcher Hinsicht die benannten Veränderungen tradierter Männlichkeitsmuster einen Bedeutungsverlust hegemonialer Männlichkeit implizieren oder ob sich darin lediglich ein Gestaltwandel im Sinne einer modernisierten hegemonialen Männlichkeit andeutet. Auch wissen wir nur wenig darüber, wie sich Männlichkeitsmuster in Abhängigkeit vom Lebenslauf verändern (vgl. Brandes/Menz 2002: 145ff.). So lässt sich nicht prognostizieren, ob die sich andeutenden ‚Neujustierungen‘ von Männlichkeit bei jungen Männern, wie sie insbesondere in Einstellungsuntersuchungen festzustellen sind, in späteren Lebensphasen Bestand haben werden oder ob, wenn die heute jungen Männer die Schritte von Berufsfindung und Familiengründung vollzogen haben werden, eine Retraditionalisierung der Einstellungen und Orientierungen erfolgen wird, im Zuge derer z.B. das Verständnis des Mannes als Ernährer und Oberhaupt der Familie, das bei den jungen Männern keine starke Verbreitung hat, an Bedeutung gewinnen wird. Um hier fundierte Aussagen machen zu können, müsste genauer untersucht werden, inwieweit die Orientierungen der jungen Männer generationstypisch und damit auch für die Zukunft prägend sind oder ob es sich mehr um entwicklungs- oder lebensphasentypische, gleichsam episodale Erscheinungen handelt, die mit dem Übergang in eine andere Lebensphase ihre Bedeutung verlieren. Verweise: Familie Jungen Männlichkeitsforschung
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Barbara Keddi
Junge Frauen: Vom doppelten Lebensentwurf zum biografischen Projekt
Die Lebenszusammenhänge und Lebensentwürfe junger Frauen werden in der Frauen- und Geschlechterforschung seit Ende der 1970er Jahre systematisch untersucht. Vor dem Hintergrund der doppelten weiblichen Vergesellschaftung und frauenspezifischer Individualisierungsprozesse wird auf die Vielfalt und Verschiedenheit von weiblichem Leben und den erweiterten Möglichkeitsraum weiblicher Lebensführung hingewiesen. Als junge Frauen gelten Frauen zwischen 18 und 35 Jahren, für die in dieser Lebensphase grundlegende Weichenstellungen für ihr Leben anstehen. Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die Lebenszusammenhänge junger Frauen in Deutschland ohne Migrationshintergrund.
Eindeutigkeiten und Uneindeutigkeiten im Leben junger Frauen – widersprüchliche Modernisierung In den letzten Jahrzehnten hat sich die Lebensphase „junge Frau“ verlängert, umstrukturiert und individualisiert. Sie reicht als Statuspassage zunehmend bis in das vierte Lebensjahrzehnt und markiert für junge Frauen nicht mehr den Beginn eines planbaren Erwachsenenlebens. Die Familiengründungsphase wird zunehmend zeitlich nach hinten verlagert; junge Frauen bleiben länger im Bildungs- und Ausbildungssystem und konzentrieren sich zunächst auf einen erfolgreichen Berufseinstieg und den Aufbau einer unabhängigen Existenz. Die Optionen haben vor allem an den Weggabelungen im Lebenslauf zugenommen. Die Freisetzung aus vorhandenen Strukturen wie der lebenslangen Versorgerehe schaffte Freiräume für individuelle Entscheidungen, führte jedoch auch zu neuen Entscheidungszwängen. Auf der strukturellen und kulturellen Ebene zeigt sich eine Angleichung in den Lebenschancen junger Frauen und Männer (Bildungs- und Erwerbsbeteiligung, Gleichheitsnormen und Leitbilder von Partnerschaftlichkeit in Geschlechterbeziehungen, Gleichstellungspolitik). Junge Frauen sehen sich als emanzipiert und Männern gleichgestellt. Sie sind ehrgeizig und selbstbewusst. „Karriere machen“, „sich selbstständig machen“ und „Verantwortung übernehmen“ ist für sie ebenso wichtig wie für junge Männer (Jugendwerk der Deutschen Shell 2000). Gleichzeitig bestehen tradierte Hierarchien und Disparitäten im Geschlechterverhältnis fort. Ein „überdeutliches“ Ergebnis der aktuellen Geschlechterforschung ist, „dass sich die soziale Ungleichheit der Geschlechter trotz Diskursivierung immer wieder vor Ort reproduziert“ (Gildemeister 2000: 223). Dies führt zu einem Nebeneinander von Gleichheits- und Ungleichheitserfahrungen der jungen Frauengeneration, insbesondere in Berufsfindungs- und Berufsplatzierungsprozessen (Nissen u.a. 2003) und in Paarbeziehungen und Familiengründungsprozessen (Diezinger/Rerrich 1998, Geissler/Oechsle 1996, Hopf/Hartwig 2001, Koppetsch/Burkart 1999), die jedoch von den jungen Frauen häufig individualisiert werden. Kaum ein Bereich wurde so oft und detailliert untersucht wie die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern in Beziehungen und Familien (Blossfeld/Drobnic 2001, Koppetsch/Burkart 1999, zusammenfassend Künzler 1994). Die Bilanz einer „Illusion der
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Emanzipation“ ist immer ähnlich: Die Hausarbeitsbeteiligung von Männern bleibt bescheiden – unabhängig vom Alter, von „neuen“ Konstellationen im privaten Lebensbereich, von familialen und nichtfamilialen Lebensformen, von vergleichbaren beruflichen Positionen oder Bildungsabschlüssen beider Partner oder sogar vom höheren sozioökonomischen Status der Frau. Paradoxerweise sind es häufig die jungen Frauen, die in Beziehungen an den traditionellen Rollen – entgegen ihren Vorstellungen von der Gleichberechtigung der Frau – festhalten. „Liebe und Stabilität der Beziehung (werden) nicht so leicht für die Idee der Gleichheit geopfert“ (Koppetsch/Burkart 1999: 320, vgl. Hopf/Hartwig 2001). Auch die Leitbilder für junge Frauen geben widersprüchliche Signale: Traditionelle Bilder der „Hausfrau, Ehefrau und Mutter“ oder „guten Mutter“ sind in modernisierter Form genauso existent wie moderne Leitbilder der „gleichberechtigten Partnerin“, der modernen, individualisierten oder „autonomen“ Frau, der „berufstätigen Mutter“ oder der „Karrierefrau“. Gleichzeitig priorisieren dominante Leitbilder das „homogene Kollektiv Frau“, die weibliche Familien- und Partnerschaftsbezogenheit und den „doppelten weiblichen Lebensentwurf“ (Keddi 2006).
Beruf und Familie als Strukturmarker weiblicher Lebensentwürfe Seit der Studie von Seidenspinner/Burger (1982) zu 15- bis 19-jährigen Mädchen zieht sich die zentrale Bedeutung von Beruf und Familie durch fast alle einschlägigen Untersuchungen. Born u.a. (1996) zeigen übrigens eindrucksvoll, dass bereits junge Frauen, die kurz nach Kriegsende ihre Berufsausbildung begonnen hatten, Familie und Beruf gleichzeitig lebten. Diesen „doppelten Lebensentwurf“ zu leben, ist für Frauen – anders als für Männer – auf Basis der bestehenden Strukturen ein unlösbares Dilemma. Die individuelle weibliche Lebensplanung findet ihre Grenzen immer noch in der Zuständigkeit für die Versorgung von Kindern (vgl. Becker-Schmidt 1987, Cornelißen u.a. 2002, Dietzen 1993, Krüger 1995, Leccardi 1998, Oechsle/Geissler 1998). Im Konzept der „doppelten widersprüchlichen Vergesellschaftung und Sozialisation von Frauen“ (Becker-Schmidt 1987, Knapp 1990) wird der Zusammenhang zwischen Geschlecht und gesellschaftlicher Zweiteilung von Produktion und Reproduktion aufgegriffen und auf Ambivalenzen und Widersprüche im biografischen Handeln von Frauen bezogen, die durch Individualisierungsprozesse abgeschwächt, aber nicht prinzipiell aufgelöst wurden. Junge Frauen würden deshalb schon bei der Berufsplanung vorbelastete Entscheidungen treffen.
Lebensentwürfe junger Frauen als mehrdimensionale und widersprüchliche Konstruktionen – Die Vielfalt weiblicher Projekte Die Folie der doppelten Vergesellschaftung verdeutlicht als analytisches Konstrukt und soziales Skript ein Dilemma junger Frauen, vereinfacht jedoch die Vielfalt und Konflikthaftigkeit weiblicher Selbstentwürfe, denn junge Frauen beziehen sich, wie neuere Studien zeigen, nicht nur auf das Leitbild des doppelten Lebensentwurfs. So können „private Projekte“ den Raum von Familie und Partnerschaft einnehmen, in Konkurrenz zum beruflichen Bereich stehen oder jenseits der jungen Frauen in Leitbildern zugeschriebenen Strukturmarkern liegen. Diese Vielfalt ist nicht mit biografischer Beliebigkeit zu verwechseln, sondern Ausdruck unterschiedlicher biografischer Schwerpunktsetzungen. Hagemann-White (1998: 33) geht davon aus, dass „die jüngere Generation immer die eigenen Probleme in Angriff nimmt und nicht die der vorherigen Generation“ und die Vereinbarkeitsproblematik womöglich nicht ihr Hauptproblem ist. Und Diezinger/ Rerrich (1998) bezweifeln, „ob eine nur dichotome Betrachtungsweise des Lebens junger Frauen
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in den Bereich Beruf einerseits und den komplementären Bereich Ehe und Familie angebracht ist“ (ebd.: 165). Die Ausdifferenzierung von Lebensentwürfen oder Projekten gilt übrigens für junge Frauen in Ost- und Westdeutschland gleichermaßen (Keddi u.a. 1999). Geissler/Oechsle (1996) fanden in ihrer Studie zum biografischen Handeln junger Frauen beim Übergang in Berufstätigkeit und Familiengründung junge Frauen mit „individualisierter“ Lebensplanung ohne den traditionellen Bezug zu Familie und Beruf. Eine Längsschnittstudie zu jungen Frauen zwischen 18 und 35 Jahren in Bayern und Sachsen (Keddi 2006) erbrachte, dass sich viele unabhängig von Alter, Region und Bildungsabschluss in ihrer Lebensgestaltung und ihren Entscheidungen an Themen wie Selbstentwicklung, Partnerschaft, Traditionen oder biografischen Krisen orientieren. Familie und Beruf, ein Leben als Hausfrau und Mutter oder ein Leben als „Karrierefrau“ sind in dieser Lebensphase nur für einen Teil der befragten Frauen zentral handlungsleitend. Der Optionshorizont, den die jungen Frauen für sich wahrnehmen, variiert entlang der Lebensthemen. Diese strukturieren als roter Faden ihre Lebensgestaltung und bestätigen damit eine der Grundannahmen der Biografieforschung, dass Lebensentscheidungen nicht ad hoc getroffen werden, sondern als Lebenskonstruktionen in „biografische Horizonte“ und individuelle Sinnstrukturen eingebunden sind; sie sind nicht immer intentional, bewusst und gewollt im Sinn von Plänen, sondern stehen als „versteckter Sinn“ hinter den abwechselnden Prozessstrukturen des Lebenslaufs (Alheit 1992). Ein Lebensthema zieht sich durch das Denken, Fühlen, Planen der jungen Frauen und strukturiert ihre Handlungen und Entscheidungen konstant über einen längeren Zeitraum. Es bleibt unverändert, auch wenn sich die Situation der jungen Frauen verändert, etwa durch eine neue Partnerschaft, Familiengründung, Arbeitslosigkeit oder andere gravierende Veränderungen.
Biografien als Verflechtung und Abfolge von unterschiedlichen Projekten Die Vorstellung, dass am Ende der Adoleszenz als Endprodukt ein Lebensentwurf vorliegt, an dem sich junge Frauen orientieren, trifft so nicht (mehr) zu. Vielmehr verfolgen junge Frauen in unterschiedlichen Zusammenhängen und Lebensphasen unterschiedliche, auch widersprüchliche Projekte wie Liebe, Beruf, Kinder, Selbstentwicklung und politische Partizipation. Diese sind häufig ohne Kenntnis der biografischen Sinnkonstruktionen der jungen Frauen in ihren scheinbaren Inkonsistenzen nicht zu rekonstruieren. Individualisierung bedeutet so nicht weniger Strukturzwang und mehr Autonomie, sondern einen Rückgriff auf individuelle Sinnkonstruktionen und biografische Handlungsfähigkeit. Im Folgenden werden einige Projekte junger Frauen skizziert: – Projekt Liebe: Trotz aller Individualisierungstrends hat eine Paarbeziehung für junge Frauen wie für alle anderen Bevölkerungsgruppen nicht an Bedeutung verloren. Das langfristige Zusammenleben mit einem männlichen Partner steht neben dem Aufbau eines eigenständigen Lebens und einer beruflichen Existenz hoch im Kurs (Fuchs-Heinritz 2000, Gille 2000, Hopf/Hartwig 2001). „Problematisch wird die Konkurrenzlosigkeit von Partnerschaft insbesondere dann, wenn sie zum Kristallisationspunkt von Fantasien über ein glückliches Leben wird, in dem Eigenständigkeit und Unabhängigkeit Wünschen nach Gemeinsamkeit und Harmonie nachgeordnet sind“ (Flaake 1998: 45). Das bestehende Liebesideal, das „die Bedingungslosigkeit und die Nicht-Rechenhaftigkeit einer Liebesbeziehung betont“ und „weibliche Liebe mit Hingabe und Fürsorge, mit Selbstzurücknahme und Selbstlosigkeit verbindet“ (Oechsle 1998: 196), trägt dazu bei, dass es Frauen schwer fällt, darauf zu beharren, Aufgaben gerecht zu verteilen und Konflikte auszutragen, weil dies das Ende der Liebe bedeuten könnte. Dennoch bedeutet Liebe individuell Unterschiedliches und die Anforderungen variieren je nach Sinnhorizont der jungen Frauen (Keddi 2006).
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Projekt Beruf: Auch im beruflichen Bereich spiegelt sich die Ausdifferenzierung weiblicher Lebensführung. Die Bedeutung des Berufs ist für alle jungen Frauen als Basis für ihr künftiges Leben hoch (Küllchen 1997), variiert jedoch – wie auch für junge Männer – in Abhängigkeit von biografischen Vorhaben und Konstruktionen (Geissler/Oechsle 1996, Keddi u.a. 1999, Pritzl 1996). Die in weiblichen Berufsbiografien sichtbaren „Bremsklötze“ verzögern häufig die Umsetzung anderer Projekte. Zu oft werden junge Frauen in Berufen ausgebildet, die eine eigenständige ökonomische Existenz kaum erlauben. Insgesamt zeigt sich, dass viele Frauen bis zum Ende des 30. Lebensjahres oder darüber hinaus damit beschäftigt sind, ihre berufliche Situation zu stabilisieren. – Projekt Familie: Irgendwann einmal eine eigene Familie zu haben, erscheint vielen jungen Frauen auf der Wunschebene fast ebenso selbstverständlich wie die Vorstellung, einen Beruf zu erlernen. 90 Prozent wünschen sich ein oder mehrere Kinder (Jugendwerk der Deutschen Shell 2000), ein sehr viel kleinerer Teil verwirklicht diesen Wunsch. Das durchschnittliche Alter der Erstgebärenden von 28,5 Jahren hat sich ähnlich wie das Heiratsalter in den vergangenen Jahren deutlich erhöht (Statistisches Bundesamt 2000). Das familienbezogene Handeln junger Frauen ist nicht nur eingebettet in strukturelle Bedingungen oder auch, wie viele Studien betonen, Kosten-Nutzen-Abwägungen, sondern auch in gesamtbiografische Zusammenhänge und Konstruktionen (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 2000). In vielen Untersuchungen werden lediglich allgemeine Leitbilder abgefragt. – Projekt Selbstentwicklung: Junge Frauen stellen sich selbst ins Zentrum ihres Lebens und versuchen, ihren Weg zu finden (Keddi 2003). Es dominieren Elemente wie Unabhängigkeit, bloß nicht unterordnen, kein langweiliges Leben führen und vorgegebene Wege in Frage zu stellen. Einzelne Lebensbereiche besitzen für die jungen Frauen keine eindeutige Priorität, denn die Verwirklichung des Projekts ist in jedem Lebensbereich möglich. Entsprechend kann zunächst der berufliche Bereich im Vordergrund stehen, dann die Familiengründung, eine Paarbeziehung oder eine Reise. Die Schwierigkeit besteht für die Frauen darin, den eigenen Weg zu identifizieren und sich von bestehenden Leitbildern abzugrenzen. – Projekt Politik/Gleichstellung: Politisch engagieren sich junge Frauen themenbezogen und zeitlich befristet dort, wo sie glauben, etwas beeinflussen zu können. In weniger institutionalisierten Politikbereichen wie Selbsthilfegruppen, Initiativen und Projekten sind sie mindestens so aktiv wie ihre männlichen Altersgenossen (Gille/Queisser 2002). Dagegen ist ihr Interesse an der Mitarbeit in etablierten Parteien und institutionalisierten Politikbereichen geringer als bei jungen Männern (Gille/Queisser 2002), ebenso wie ihre Wahlbeteiligung und ihr politisches Interesse, obwohl dieses in den letzten Jahrzehnten vor allem in der Innen- und Kommunalpolitik kontinuierlich zunahm (Köcher 1999). Auch wenn junge Frauen den Stand der Gleichstellung zwischen den Geschlechtern überwiegend für nicht ausreichend halten (Institut für Demoskopie Allensbach 2000), interessieren sie sich nicht für Gleichstellung und Feminismus, denn diese kollidieren mit ihrem Selbstverständnis als emanzipierte und gleichgestellte Frauengeneration. Geschlechtsspezifische Ungleichheiten in ihrer eigenen Situation nehmen sie häufig nur selektiv wahr und individualisieren sie, denn in Elternhaus und Bildungssystem sind sie selten mit direkter Ungleichbehandlung konfrontiert. Diese Dethematisierung wird häufig kritisiert. Doch individualistische Deutungsmuster können auch subjektive Spielräume eröffnen.
Ausblick Insgesamt zeigt sich ein komplexes und widersprüchliches Bild der Lebenszusammenhänge und des biografischen Handelns junger Frauen. Die Mainstream-Auffassung des „doppelten weiblichen Lebensentwurfs“ als generellem und typischem Strukturprinzip der Lebensgestaltung jun-
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ger Frauen vereinfacht ebenso wie die Vorstellung ausschließlich geschlechtercodierter Lebenszusammenhänge die Mehrdimensionalität und Unterschiedlichkeit von weiblichem Leben. Junge Frauen sind in Strukturen eingebunden, die sie als Akteurinnen täglich neu gestalten, reproduzieren und auch verändern. Bei der Analyse ihres Handelns ist sensibel auf Strukturmomente, gesellschaftliche Leitbilder und Diskurse einzugehen, welche die Lebenssituationen aller jungen Frauen prägen, sowie das zum Thema zu machen, was junge Frauen unterscheidet, also die Vielfalt ihrer subjektiven Lebenskonstruktionen und ihres Handelns. So sind junge Frauen mit dem Lebensthema „Beruf“ jungen Männern mit dem gleichen Lebensthema in Vorstellungen, Plänen und Umsetzungsschritten sogar ähnlicher, als sie es Frauen mit einem anderen Lebensthema sind (Keddi 2006). Auch generationsspezifische Differenzen und Wertungen sind einzubeziehen. Geschlecht, aber auch andere Strukturmerkmale wie Bildung, Milieu oder Region verlieren nicht an Verbindlichkeit, doch die Zusammenhänge sind komplexer; sie lösen sich nicht vollständig auf, sondern werden unterschiedlich relevant. Metz-Göckel (2000) sieht darin eine zentrale Herausforderung für die aktuelle Frauen- und Geschlechterforschung. Noch anspruchsvoller sind interkulturelle Analysen, die aus dem Diskurszusammenhang westlich geprägter Wahrnehmungs- und Deutungsmuster der Genderforschung heraustreten und die Lebenszusammenhänge und biografischen Konstruktionen junger Frauen mit Migrationshintergrund bzw. in unterschiedlichen Kulturen und Gesellschaften einbeziehen. In der Genderforschung wird die kulturelle Heterogenität weiblichen Lebens erst in jüngeren Arbeiten einbezogen (Nestvogel 2002). Verweise: Doppelte Vergesellschaftung Familie Modernisierungstheorien
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Beate Kortendiek
Familie: Mutterschaft und Vaterschaft zwischen Traditionalisierung und Modernisierung
Was ist aktuell Familie? Einhergehend mit einer stetig fallenden Geburtenziffer und einem Anstieg dauerhaft kinderlos bleibender Frauen und Männer sinkt in der Mehrheit der europäischen Länder der Anteil an Familien kontinuierlich. Das Recht auf Familienplanung (1968 von der UN als Menschenrecht deklariert) zeichnet sich durch den Paradigmenwechsel von der Familienplanung hin zu dem ganzheitlicheren Konzept der reproduktiven Gesundheit und Rechte – einschließlich bewusster Kinderlosigkeit – aus. Auf der Basis zunehmender Kinderlosigkeit wird von der Krise der Familie, von der Familie als Auslaufmodell oder der Aufkündigung des Generationenvertrages gesprochen. Dennoch ist die quantitative Bedeutung familialer Lebensweisen nach wie vor hoch: So lebten im Jahr 2005 in Deutschland, obwohl es unter den EU-Staaten einen besonders geringen Kinderanteil in Haushalten aufweist, mehr als die Hälfte der Bevölkerung in einem Familienhaushalt mit Kindern und 75% aller Kinder unter 18 Jahren wuchsen bei verheirateten Eltern auf (vgl. sozialpolitik-aktuell.de). Das Eltern-Kind-System erweist sich auch unter qualitativen Aspekten als „stabile Achse“, welche in der Regel ein Leben lang bestehen bleibt (Vaskovics 2002: 146), wobei aufgrund steigender Lebenserwartung zunehmend Familien mit weniger Mitgliedern aber mehreren Generationen, so genannte „Bohnenstangenfamilien“, entstehen (Rosenmayr 1996). Aktuell lassen sich drei Hauptformen von Familie (mit vielfältigen Unterformen) bestimmen: erstens die Familie eines Ehepaars mit Kind(ern), zweitens die Familie einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft mit Kind(ern) und drittens die Familie einer/s alleinerziehenden Mutter/Vaters mit Kind(ern) ohne Lebenspartner im Wohnhaushalt. Während noch im Duden des Jahres 1994 Familie als „Gemeinschaft der in einem gesetzlichen Eheverhältnis lebenden Eltern u. ihrer Kinder“ (Duden 1994: 454) beschrieben wird, erfordern soziale, politische, juristische Veränderungen und biologische, leibliche, genetische sowie reproduktionstechnische Varianten von Elternschaft (wie das „Ausleihen“ eines weiblichen Körpers zum Austragen eines Kindes oder der „Spende“ männlichen Samens zur Befruchtung einer Eizelle) eine Neudefinition von Familie. Die aktuelle – sich durch wandelnde familiale Lebensrealitäten durchsetzende – Begriffsbestimmung basiert auf einem Minimalkonsens: Familie wird bestimmt als gemeinsame Lebensund Wohnform von Erwachsenen und Kind(ern), wobei Elisabeth Beck-Gernsheim diese neu entstehenden Lebensformen als Konturen einer „postfamilialen Familie“ (1994: 14) bezeichnet.
Ambivalenz von Elternschaft und Familie Unter Elternschaft ist sowohl ein sozial definierter Status als auch das Beziehungsverhältnis zwischen Eltern und ihren Kindern zu verstehen (vgl. Schneider 2002: 10). Allerdings verdeckt der Begriff Elternschaft grundlegende Unterschiede von Mutterschaft und Vaterschaft. Eine geschlechtssensible soziologische Analyse von Familie zeigt eine hohe Mütterzentrierung von Fa-
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milie; so besteht der überwiegende Anteil der Alleinerziehenden-Familien aus Mutter-Kind-Familien. Im Jahr 2005 waren in Deutschland unter den Ein-Eltern-Familien mit minderjährigen Kindern 90% Mütter und 10% Väter (vgl. sozialpolitik-aktuell.de). In modernen Märchen, wenn sie denn geschrieben würden, kämen (böse) Stiefmütter vermutlich nicht mehr vor. Und doch hängt der Familie etwas Märchenhaftes an: Die Familie ist ein Ort, der, vielleicht wie kein anderer, als Synonym für Geborgenheit und Glück steht. In der Jugendstudie 2002 geben 70% der befragten Jugendlichen (Mädchen 75%, Jungen 66%) an, „dass man eine Familie zum Glücklichsein braucht“ und von den 16- bis 25-jährigen verneinen nur 5% explizit den Wunsch nach eigenen Kindern, während zwei Drittel der Befragten angeben, später eigene Kinder haben zu wollen (Deutsche Shell 2002: 58). Hohe persönliche, gesellschaftliche sowie ideologisch gefärbte Erwartungen ans „Familienglück“ können jedoch trügen und Überforderungen bedingen; dies zeigt ein Blick auf die Alltagsrealität von Familie. So steigt mit zunehmender Kinderzahl das Armutsrisiko, von dem zunehmend junge Familien und Ein-Eltern-Familien betroffen sind. Die Armutsquote der Alleinerziehenden betrug im Jahr 2000 in Deutschland mit 30% mehr als das Dreifache des Bundesdurchschnittes (vgl. BMFSFJ 2003: 153). Weiter zeigen Vernachlässigung und Misshandlung von Kindern und nicht zuletzt sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Frauen in Familie, dass nicht v.a. von Fremden sondern eher von Ehemännern, Verwandten oder Vertrauten Gefahren ausgehen. Ein Blick auf die Opferstatistik von Gewaltdelikten zeigt, dass der gefährlichste Ort für Frauen der familiäre Nahbereich – die Familienwohnung – ist (vgl. Becker 2000, Lamnek/Luedtke/Ottermann 2006).
Zum familialen Leitbild der „guten“ Mutter Sozialhistorische Ansätze in der Frauen- und Geschlechterforschung eröffnen eine kritische Perspektive auf scheinbar naturhafte Gefühle und Verhaltensweisen von Frauen als Müttern. Elisabeth Badinter (1992) arbeitete in der Studie „Die Mutterliebe“ die Geschichte dieses Gefühls in Frankreich ab dem 17. Jahrhundert auf und lieferte damit wichtige Impulse zur Infragestellung eines natürlichen Mutterinstinktes. Für Deutschland beschrieb Yvonne Schütze (1991) die Geschichte des normativen Musters „Mutterliebe“ seit dem 18. Jahrhundert. Barbara Vinken (2002) hebt den besondern Mythos der deutschen Mütterlichkeitsideologie – der seinen Höhepunkt in der faschistischen Ideologie fand – hervor. Nancy Chodorow analysierte die Funktion des „Mutterns“ und kommt zu dem Ergebnis, dass „Frauen zwar durch Schwangerschaft und Stillen an die Rolle des primären Elternteils gebunden sind, nicht aber durch eine weitergehende, instinktiv festgelegte Fürsorglichkeit“ (Chodorow 1985: 42). Der Mythos von der ‚guten Mutter‘ förderte nach Herrad Schenk (1996) die „Eins-zu-Eins-Betreuung eines einzigen Kindes durch seine Mutter, rund um die Uhr“ (ebd.: 175) erheblich. Zwar ermöglichen Individualisierungsprozesse und vielfältige Lebensformen Frauen heute ein optionsreiches Leben jenseits von Familie, auch hat Mutterschaft durch die erweiterten Möglichkeiten einer Lebens- und Familienplanung – nicht zuletzt aufgrund der Möglichkeiten zur Geburtenkontrolle – weitestgehend ihren schicksalhaften Charakter verloren, doch erhöhen sich hierdurch die Anforderungen für Frauen, die Mütter werden, eine ‚gute Mutter‘ sein zu müssen (vgl. ebd.: 192). Ursula Müller formuliert dies zugespitzt so: „Einmal Mutter, immer Mutter – und: entweder ganz Mutter, dann auch richtige Mutter, oder eben keine Mutter“ (Müller 1989: 59). Das Leitbild der ‚guten Mutter‘, welches für die ersten Lebensjahre jede dauerhafte Fremdbetreuung ausschließt, impliziert eine mehrjährige Berufsunterbrechung und lässt sich gleichzeitig nur schwer mit dem Leitbild der „selbständigen Frau“ vereinbaren (Geisler/Oechsle 1996: 121, Oechsle 1998: 190ff.). Die hohen Ansprüche des Ideals der ‚guten Mutter‘ nehmen Einfluss auf die Realisierung eines Kinderwunsches (vgl. Nave-Herz 1988): Indem kinderlose Frauen ih-
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re Freiheit und Unabhängigkeit als Privileg betrachten, beziehen sie sich in umgekehrter Weise auf den Muttermythos und entscheiden sich in Abgrenzung hierzu gegen Kinder, da sie den hohen zeitlichen und personellen Anforderungen einer ‚guten Mutter‘ nicht entsprechen wollen bzw. es sich nicht zutrauen (vgl. Ziebell/Schmerl/Queisser 1992: 186). Die Formulierung „dann hat man besser keine Kinder“ drückt nach Karin Schwiter (2007) diese Haltung adäquat aus. Dies trifft nach der Studie von Beate Szypkowski (1997) auch auf die „abgebenden“ Mütter zu, die in der Adoptivmutter die idealisierte ‚gute Mutter‘ sehen. Die Definition einer ‚guten Mutter‘ war bis in die 1970er Jahre fast synonym mit dem Leitbild einer ‚guten Hausfrau‘. Das Versorgen eines Kindes mit Nahrung und Kleidung und die Führung des Familienhaushaltes haben nicht zuletzt durch die Mütter selbst eine Bewertungswandel erfahren. Junge Frauen mit Kindern beziehen sich in ihrer Entwicklung von Identität und Selbstverständnis nicht mehr auf das traditionelle Leitbild der Hausfrau, sondern auf das einer „modernen“ Mutter, die sich inzwischen eher über Kinder als über den Haushalt definiert, weshalb sich Mütter selbst als „Familienfrauen“ bezeichnen (vgl. Kortendiek 1999: 259f.). An Bedeutung verloren hat auch die Trennung zwischen Hausfrau und berufstätiger Frau, da junge Mütter heute eine hohe Doppelorientierung auf Beruf und Familie aufweisen (vgl. Born 1989). Die Frauenforschung hat durch die Mütterforschung sowohl dazu beigetragen, die Alltagsrealität von Frauen mit Kindern zu untersuchen als auch durch einen ideologiekritischen Blick auf die Familienforschung den Einfluss normativer Mutterbilder auf Forschungsprozesse und -ergebnisse aufzudecken (vgl. Sommerkorn 1988, Müller 1989). Eine Reihe von Untersuchungen zeigen, dass Mütter- und Familienbilder historisch gewachsen sind und unterschiedlich sozial und kulturell konnotiert werden. So beschreiben Jutta Gysi und Dagmar Meyer das offizielle sozialistische Frauenleitbild der DDR als Pendant zum Familienleitbild, wonach „die Frau über alle Phasen des Familienzyklus hinweg vollerwerbstätig sein und sich das häusliche Arbeitspensum mit dem Partner teilen sollte“ (Gysi/Meyer 1993: 140). In der DDR war diejenige Frau eine ‚gute Mutter‘ – und gehörte zur anerkannten Gruppe „unsere Muttis“ –, die erwerbstätig und somit keine Hausfrau war und ihr Kind in einer öffentlichen Ganztageseinrichtung betreuen ließ. Jedoch ist hier festzuhalten, dass auch in der DDR die Sozialpolitik stärker auf Mutterschaft und Beruf und nicht etwa auf die Vereinbarkeit von Elternschaft und Beruf ausgerichtet war. Ebenso können insbesondere durch Zuwanderung und Migration unterschiedliche Selbstkonzepte von Mutterschaft zeitgleich in einer Gesellschaft wirksam sein, wie Leonie HerwartzEmden in der interkulturell angelegten Studie über Einwanderinnen aus der Türkei und deutsche Aussiedlerinnen aus der ehemaligen Sowjetunion zeigt (vgl. Herwatz-Emden 1995) oder im sechsten Familienbericht zu „Familien ausländischer Herkunft in Deutschland“ (BMFSFJ 2000) sichtbar wird. Zudem eröffnet ein Vergleich familienpolitischer Maßnahmen auf europäischer Ebene den Blick auf Einflüsse von Kinderwunsch, Geburtenzahlen, Müttererwerbsquote und auf kulturelle Leitbilder: So stellen beispielweise junge Mütter in Frankreich oder Schweden die Unvereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Mutterschaft nicht in dem Maße in Frage wie ihre deutschen Nachbarinnen.
Das Familienbild des „guten“ Vaters Leitbild und Wandel von Vaterschaft sind zentrale Bestandteile der sich zunehmend ausdifferenzierenden Väterforschung (vgl. z.B. Bereswill/Scheiwe/Wolde 2006, Drinck 2005, Matzner 2004, Wolde 2007, Mühling/Rost 2007). Zu Beginn der Vaterforschung stand der „abwesende Vater“ im Zentrum. „Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft“ sah Alexander Mitscherlich (1963) die Nachkriegsgesellschaften und stellte die Frage nach der sozialen Bedeutung von Vaterabwesenheit und Autoritätsverlust. Die
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Generation der 68er als Söhne einer Vätergeneration, die an Krieg und Faschismus beteiligt war, entwickelte eine politisch motivierte Abgrenzung als Vaterhass oder Vaterverachtung (vgl. Dudek 1983). Der Vorbildverlust begünstigte auch eine Ablehnung von Vaterschaft durch Männer. Der „neue“ Vater war noch nicht geboren. Vaterabwesenheit wurde in den darauf folgenden Jahrzehnten nicht mehr kriegsbedingt, sondern im Zusammenhang mit der starken Zunahme geschiedener oder lediger alleinerziehender Mütter diskutiert. In der zweiten Phase der Vaterforschung betonte diese vor dem Hindergrund von Frauenbewegung und Feminismus die Gleichheit von Müttern und Vätern in der Erziehung von Kindern. Einher ging diese Entwicklung mit der zunehmend verbreiteten Einbeziehung von Vätern in Geburtsvorbereitungskurse und Geburt sowie der Entstehung des Modells vom „Hausmann“ und der Idee vom „Rollentausch“. In der derzeitigen dritten Phase wird insbesondere die spezifische Bedeutung des Vaters für die Entwicklung des Kindes hervorgehoben, wonach „Kinder von ihren ersten Lebenstagen an mit ihren Vätern andere Beziehungserfahrungen sammeln als mit Müttern“ (Steinhardt/Datler/ Gstach 2002: 8). Die Forschungen von Grossmann/Grossmann u.a. (2002) zur „anderen“ Bindung von Vater und Kind entwickeln eine Bindungstheorie, nach der sich „optimalerweise Eltern in ihren Rollen und Aufgaben hinsichtlich der Entwicklung des Kindes ergänzen“ (ebd.: 47). Wen wundert es da, wenn unter der Annahme von mütterlich gewährender vs. väterlich herausfordernder Feinfühligkeit sich folgendes Ergebnis einstellt: „Die Rollen als Spielpartner, Herausforderer und Lehrer scheinen den meisten Vätern näher zu liegen als die mütterlichen Rollen“ (ebd.). Der Differenzansatz in der Väterforschung kann zum einen zur Abgrenzung von Frauen als Müttern führen (hier sei exemplarisch die Veröffentlichung „Söhne wollen Väter. Wider die weibliche Umklammerung“, Wieck 1997, genannt), und zum anderen die Reproduktion stereotyper Leitbilder von „passiven Müttern“ und „aktiven Vätern“ (vgl. Kortendiek 2003) ebenso wie stereotype Bilder von Kindern als Töchtern bzw. Söhnen fördern. Rolf Pohl spricht in diesem Zusammenhang von der „Wiedergeburt eines Helden“ und problematisiert, dass die Diskussion um die Besonderheit von Vätern, „unreflektiert mit einem Ausspielen des als überlegen und einzigartig aufgefassten Vaters gegen die Beschränktheit einer ungenügenden Mutter einhergeht“ (Pohl 2006: 171). Das Leitbild eines „guten“ Vaters zentriert sich (noch) auf die Ernährerrolle (vgl. Fthenakis u.a. 1999). Dass dies für heutige junge Väter zutrifft, zeigen insbesondere Ergebnisse aus Studien über Männer und Erziehungsurlaub. So fanden Schneider und Rost heraus, dass Väter noch stärker als Mütter „auf die traditionelle Geschlechtsrolle fixiert“ sind und die Nichtinanspruchnahme des Erziehungsurlaubes auf dem „Vorhandensein eines sehr stabilen, an der traditionellen Männerrolle ausgerichteten Einstellungsmusters“ beruht (Schneider/Rost 1998: 225). Mit der Einführung der „Elternzeit“ (ab 2007 als Nachfolge des Bundeserziehungsurlaubsgesetzes) wurde durch zwei zusätzliche „Partnermonate“ dieser Entwicklung familienpolitisch gegengesteuert, da diese „Vätermonate“ bei Nichtinanspruchnahme verfallen. Durch die neue gesetzliche Regelung, nach der 67% des Erwerbseinkommens (bis maximal 1.800 Euro) gezahlt werden, zeigt sich, dass durch eine bessere finanzielle Ausstattung der Anteil von Vätern an der Erziehungsarbeit kleiner Kinder deutlich erhöht werden kann. So stieg der Väteranteil an allen bewilligten Anträgen innerhalb des Jahres 2007 von 3% auf fast 11 % an (Ehlert 2008: 35). Hier bestätigt sich der Ansatz, dass Familienpolitik „immer auch eine Politik der Berücksichtigung sich wandelnder Geschlechterrollen“ (Krüger 2006: 191) sein muss und sogar zum Wandeln von Geschlechtsrollen beitragen kann. Die „neuen Väter“ befinden sich im Vergleich zur Generation ihrer Väter nach Norbert F. Schneider in einer paradoxen Situation, da sie „zugleich mehr und weniger ins Familienleben involviert sind“. Einerseits sind sie stärker in Kindererziehung und Familienarbeit eingebunden, andererseits verbringen sie durch stärkeres berufliches Engagement und gestiegene Scheidungshäufigkeit weniger Zeit mit ihren Kindern (Schneider 2002: 12). Diese Paradoxie erklärt auch, warum in der geschlechterbezogenen Familienforschung entweder die „vaterlose Gesellschaft“
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beklagt oder der „neue Vater“ proklamiert wird, und eröffnet eine Forschungsperspektive, die über die dualistisch geführte Debatte produktiv hinausgeht (vgl. Walter/Künzler 2002: 115) und „Männer als Väter“ (Walter 2002) in den Blick nimmt. Eine familienbezogene empirisch orientierte und theoriegeleitete Väterforschung, die auf Widersprüchen und Ambivalenzen im Geschlechterverhältnis aufbaut und auf die (Re-)Konstruktion von Dualismen (‚abwesender‘ Vater vs. ‚neuer‘ Vater – ‚passive‘ Mutter vs. ‚aktiver‘ Vater) verzichtet, ermöglicht sowohl neue wissenschaftliche Erkenntnisse als auch familienpolitische Handlungskonzepte.
Traditionalisierungseffekte durch Elternschaft Junge Frauen und Männer entwickeln vor Beginn der Elternschaft mehrheitlich eine relativ egalitäre Einstellung zur familialen Arbeitsteilung bezogen sowohl auf Haus- als auch auf Erziehungsarbeit (vgl. Geisler/Oechsle 1996). Diese Einstellung setzt sich nach der Geburt des Kindes jedoch nicht als egalitäres elterliches Handeln fort. Im Gegenteil: Nie sind Geschlechterverhältnisse traditioneller ausgeprägt als zu Beginn von Elternschaft. Gisela Notz bestätigte in einer Längsschnittstudie „Du bist als Frau um einiges mehr gebunden als der Mann“, dass sich die Hoffnung auf Beibehalten einer partnerschaftlichen Beziehung „in der Realität allzu oft als Illusion“ erweist (Notz 1991: 74). „Paare werden Eltern“ mit der Konsequenz, dass Frauen ihre Erwerbsarbeit unterbrechen oder reduzieren und die überwiegende Zuständigkeit für Kind und Haushalt übernehmen, während sich junge Väter mehrheitlich verstärkt auf den Beruf konzentrieren und in der Familie eher eine randständige, allenfalls unterstützende Funktion übernehmen (vgl. Fthenakis/Kalicki/Peitz 2002: 97). Familiale Geschlechterkonstellationen beinhalten unterschiedliche Bedeutungen von Familie für Männer und Frauen, wie dies Maria Rerrich mit den Worten ausdrückt: „Nach der Geburt eines Kindes gilt meist immer noch: Männer haben Familie, Frauen leben Familie“ (Rerrich 1990: 167). Jedoch ist hier zu berücksichtigen, dass Geschlechternormen in familialen Paarbeziehungen milieuabhängig sind (vgl. Koppetsch/Burkart 1999). Nach Sigrid Metz-Göckel wird der Angleichungsprozess zwischen den Geschlechtern mit Beginn der Elternschaft unterbrochen. Stattdessen spitzen sich Konflikte, die in der Struktur der Arbeitsteilung und im Geschlechterverhältnis angelegt sind, in dieser Phase zu und begünstigen eine „radikale Auseinanderentwicklung“ (Metz-Göckel 1990: 153). Unter strukturtheoretischen Gesichtspunkten lässt sich nach Ursula Beer die Traditionalität von Familie als „spezifisches soziales Organisationsprinzip“ erklären, wonach die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung das Element darstellt, „mit dem die familiale und unentgeltlich-wohlfahrtsstaatliche Versorgungsökonomie an die Marktwirtschaft rückgebunden wird“ (Beer 1991: 268). Barbara Reichle (1996) führt die Traditionalisierungseffekte durch Elternschaft auf personenspezifische Einflussfaktoren wie traditionelle Geschlechtsrollenvorstellungen und strukturelle Faktoren wie mangelnde materielle Ressourcen oder unzureichende Kinderbetreuungsmöglichkeiten zurück. In der alltäglichen Lebensführung werden die Belastungen durch Familienarbeit selten durch eine egalitäre Arbeitsteilung zwischen Mutter und Vater bewältigt, vielmehr findet verstärkt eine „Delegation unter Frauen“ statt, zum einen als bezahlte Familienhelferinnen (Tagesmütter, Haushalts- und Putzhilfen) und zum anderen auf der Basis von Verwandtschafts- und Freundschaftsdiensten (Groß- und Schwiegermütter, Freundinnen- bzw. Mütternetzwerke) (vgl. Jurczyk/Rerrich 1993, Dietzinger/Rerrich 1998). Elisabeth Reichert (2007) zeigt auf, dass das westdeutsche Ernährermodell mit einem vollerwerbstätigen Vater und einer nicht- bzw. teilzeitbeschäftigen Mutter die Vollzeiterwerbstätigkeit beider Eltern in Ostdeutschlang weitgehend abgelöst hat. Und dennoch gibt es individuelle Möglichkeiten durch Aushandlungsprozesse der „Traditionalisierungsfalle Elternschaft“ durch „situative Egalität“ zu begegnen, wie dies Anneli Rüling (2007) anhand einer qualitativen Studie mit 25 jungen (Eltern-)Paaren zeigt.
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Die Familie ist somit der Kristallisationspunkt, an dem ambivalente Beziehungen zwischen Traditionalisierungseffekten und Modernisierungsprozessen von Geschlecht deutlich werden. Dass die Familienpolitik ein entscheidendes Steuerungsinstrument ist, welches hohen Einfluss auf das familiale Geschlechterverhältnis hat, zeigt ein länderübergreifender Blick, der deutlich macht, dass zum einen die Geburtenrate innerhalb Europas sinkt, es aber dennoch nationale Unterschiede gibt: So betrug die Geburtsrate im Jahr 2006 in Frankreich 2, in Schweden 1,85 und in Deutschland 1,32 Kinder (Eurostat 2008). Am Beispiel Frankreichs wird deutlich, dass eine höhere Geburtenziffer durchaus mit einer hohen Frauenerwerbsquote einhergehen kann (vgl. BMFSFJ 2003). Steuer- und familienpolitische Maßnahmen begünstigen in Deutschland – beispielsweise durch das Ehegattensplitting (vgl. Schratzenstaller 2003) oder durch den Rechtsanspruch auf außerhäusliche Kinderbetreuung nur für die Altersstufe der 3-bis 6-Jährigen – die Retraditionalisierung von Ehe und Familie bzw. die Kinderlosigkeit. So verfestigt das (westdeutsche) Modell des ‚Kindergartens‘ die traditionelle Mütterzentrierung auf doppelte Weise: Es erschwert eine Vollerwerbstätigkeit und begünstigt privat organisierte Betreuungen durch (bezahlte) Tagesmütter oder (unbezahlte) Großmütter. Der Anteil der Mütter, die nach der Geburt ihres Kindes den Beruf unterbrechen und die sogenannte „Elternzeit“ in Anspruch nehmen, ist seit der Einrichtung dieser Maßnahme im Jahr 1986 – trotz des Anstiegs von Vätern seit dem Jahr 2007 – sehr hoch. Die Elternzeit ist eine familienpolitische Maßnahme, die überwiegend Mütter erreicht und dazu führt, dass Mütter mit neugeborenen und kleinen Kindern nicht oder eingeschränkt erwerbstätig sind. Nach der Zeitbudgeterhebung der Jahre 2001/2002 erhöht sich für die nichterwerbstätige Mutter die Arbeitszeit im Haushalt um vier Stunden auf 7¼ Stunden, hingegen bei den erwerbstätigen Vätern lediglich um eine halbe Stunde. Die Zeit, die Eltern ausschließlich ihrem Kind/ihren Kindern widmen, beträgt bei Vätern täglich 1¼ Stunde und bei Müttern 2¾ Stunden (vgl. BMFSJ/Statisches Bundesamt 2003). Um erst gar nicht in die „Mutterschaftsfalle“ zu tappen, leben Frauen zunehmend ein Leben ohne Kinder, sei es durch bewusste Entscheidung für die Kinderlosigkeit oder durch ein Verschieben der Realisierung des Kinderwunsches. So besagt eine Schätzung für Westdeutschland, dass die Gruppe der 1960 geborenen Frauen zu einem Viertel und die Gruppe der im Jahr 1965 geborenen Frauen bereits zu einem Drittel dauerhaft kinderlos bleiben wird (vgl. Bien 1996, BMFSFJ 2003, Konietzka/Kreyenfeld 2007). Da viele rationale Gründe gegen Kinder sprechen, findet aktuell eine Verkehrung statt: Nicht mehr die Kinderlosigkeit sondern die Realisierung eines Kinderwunsches bedarf der Legitimation.
Modernisierungsprozesse von Familie Und dennoch: Die Ambivalenz mütterlicher und väterlicher Lebensverhältnisse birgt auch die Möglichkeit der Veränderung in sich. Mütter, Väter und auch Kinder agieren längst als ProduzentInnen neuer Familienformen und lösen hierdurch Modernisierungsprozesse von Familie aus. Eine Modernisierungsstrategie von Elternschaft besteht in dem biografischen Hinausschieben der Realisierung des Kinderwunsches, wenn beruflich und privat angestrebte Ziele erreicht wurden. Die Zunahme so genannter „später Mütter“ (als auch „später Väter“) und die Verschiebung des durchschnittlichen Erstgeburtsalters bei Frauen deuten hierauf hin. Dies Familiengründungsmuster gilt insbesondere für berufsorientierte Frauen, die, wie die Studie von Ingrid Herlyn und Dorothea Krüger (2003) zeigt, in der Regel erst nach dem Abschluss der Qualifikation und beruflichen Etablierungsphase ein Leben mit Kindern anstreben. „Späte Mutterschaft“ ist für Frauen, die eine Doppelorientierung auf Familie und Beruf aufweisen, eine Frage des optimalen Zeitpunktes, und nach Erreichen der beruflichen Ziele kann „die Realisierung des Kin-
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derwunsches selbstverständlicher Bestandteil des Lebensentwurfes“ sein (Herlyn/Krüger 2003: 170f.). Jedoch greift eine Erklärung auf strukturelle Gründe (lange Ausbildungszeiten, fehlende Kinderbetreuung etc.) zur Erklärung von Kinderlosigkeit und später Elternschaft zu kurz. Nach einer repräsentativen Studie benennen 84% der 18 bis 44-Jährigen als eine entscheidende Voraussetzung für ein Kind die Stabilität der Beziehung (Institut für Demoskopie Allensbach 2004: 78), d.h. der/die „Richtige“ ist häufig nicht gefunden und von daher wird keine Entscheidung für ein Kind getroffen. Nach Eingehen einer festen Beziehung dominiert die „kindzentrierte Eheschließung“ (Heirat bei der Geburt des ersten Kindes) (Bien 1996), auch die Zusammenlegung von kirchlicher Trauung und Taufe ist keine Seltenheit mehr. Das Erstgeburtsalter von Frauen geht auf das 30. Lebensjahr zu und Kinder verbleiben länger in der Familie (wobei dies im besonderen Maße für Söhne zutrifft). Das „Hotel Mama“ ist jedoch nicht nur eine Folge verlängerter Ausbildungszeiten, finanzieller Engpässe oder Bequemlichkeiten, sondern auch Ausdruck einer neuen Qualität in der Eltern-Kind-Beziehung und der Liberalität von Familie, die sich u.a. in der Möglichkeit von jugendlichen und erwachsenen Kindern zeigt, die Familienwohnräume als eigene Räume (z.B. Übernachtung von Freund/Freundin) zu nutzen (vgl. Härtl 1996). Eine andere Strategie ist die bewusste Entscheidung über die Zahl der gewollten Kinder. Mit dieser Entwicklung kann auch die Reduktion der Kinderzahl pro Familie auf ein einziges Kind einhergehen, um hierdurch widerstreitende Ansprüche aus Berufswelt und Familienwelt abzumildern. Jedoch ist diese Entwicklung nicht eindeutig, da aktuell diejenigen, die sich für Kinder entscheiden, dies im leicht zunehmenden Maße für mehr als ein Kind tun (vgl. BMFSFJ 2003: 73). Johannes Huinink beschreibt diese Entwicklung als bimodal, da Frauen entweder kinderlos bleiben oder sich für zwei Kinder entscheiden (vgl. Huinink 2002). Das „Drei-Phasen-Modell“ (Erwerbsarbeit – Unterbrechung – Wiedereinstieg) verliert für Frauen zugunsten einer Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch Teilzeitbeschäftigung an Bedeutung. Frauen deuten die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsarbeit nicht ausschließlich als Doppelbelastung sondern auch als Ressource. Die persönliche Fähigkeit zur Vereinbarung von zwei gesellschaftlichen Bereichen in der alltäglichen Lebensführung als erwerbstätige Mutter kann eine Entwicklung von „Eines ist zuwenig – beides ist zuviel“ (Becker-Schmidt/Knapp/ Schmidt 1984) hin zu „Eines ist zu wenig – beides macht zufrieden“ (Paetzold 1996) begünstigen. Darüber hinaus ist für junge Frauen heute die Frage der Vereinbarkeit nicht mehr ausschließlich eine zwischen Familie und Beruf, sondern auch aufgrund stark verlängerter Ausbildungszeiten zwischen Aus- und Weiterbildung oder weiteren Lebensplänen wie Hobbys oder Reisen (vgl. Seidenspinner u.a. 1996). Zugleich lässt sich auch eine Gegenentwicklung ablesen, dass nicht mehr der Beruf sondern auch die Familie als Doppelbelastung empfunden werden kann (vgl. Hochschild 2002). Die Wandlungsprozesse von Vaterschaft, auf die auch eine eigenständige Väterforschung hinweist, verdeutlichen, dass die ausschließliche Konzentration auf die Ernährerfunktion und zeitliche An- bzw. Abwesenheit bei der Beschreibung und Analyse von Vaterschaft zu kurz greifen (vgl. Fthenakis u.a. 1999, Walter 2002). Auch wenn die „sanfte Revolution in der Familie“ durch „engagierte Vaterschaft“, wie Fthenakis (1999) sie betitelt, bestritten werden mag, gewinnt das Bild des „neuen“ Vaters an Profil. Dieser Prozess geht einher mit einem Anstieg von Vater-Kind-Familien (vgl. Stiehler 2000) und der Gründung eigenständiger Vätergruppen und -initiativen (vgl. Wolde 2007). Auch die hohe Zahl der Scheidungen, die mehrheitlich von Frauen eingereicht werden, lassen sich als Versuch, ein eigenständiges Leben zu führen, und als Aufkündigung einer unbefriedigenden Geschlechter- bzw. Familienbeziehung interpretieren. Und dennoch: Die hohe Zahl von Ein-Eltern-Familien, Scheidungen, Wiederverheiratungen, Gründungen von Stieffamilien spiegelt nicht nur Unzufriedenheit wider, sondern lässt sich auch als Chance auf neue angestrebte (Familien-)Beziehungen lesen, in denen Liebe, Intimität, Geborgenheit und Glück gelebt werden können. Die Möglichkeiten zur Trennung und Beziehungsneugründung sind ein enormer Fortschritt – nicht nur im Leben von Frauen. „Während konservative PolitikerInnen bereits den
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Staat am Zusammenbruch der traditionellen Familie untergehen sehen, erfreuen sich Feministinnen an der neuen, nachhaltigen, wenigsten ‚kleinen‘ Freiheit einer Vervielfältigung weiblicher Lebensmuster“ (Holland-Cunz 2003: 218). Insbesondere lassen sich die Pluralisierungsformen von Familie als Modernisierungsprozesse analysieren. Im Zuge dieser Pluralisierung ist die Entstehung der „Regenbogenfamilie“ (gleichgeschlechtliche Elternschaften) – in jeder achten gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft leben Kinder (vgl. BMFSFJ 2003: 48) – zu verorten. Auch wenn die „Initiative lesbischer und schwuler Eltern im Lesben und Schwulenverband (ILSE)“ darauf aufmerksam macht, dass gleichgeschlechtliche Elternschaften als Regenbogenfamilien nach dem Lebenspartnerschaftsgesetz noch nicht als „vollwertige“ Familie anerkannt werden, und Nachbesserung des Lebenspartnergesetzes einfordert, sind Modernisierungsprozesse von Familie insbesondere an den neuen Formen von Elternschaften lesbischer Mütter und schwuler Väter abzulesen (vgl. LSVD 2002, Fthenaktis u.a. 1999: 306ff.) Eine rechtlich und ethisch umstrittene Modernisierungsform von Familie wird durch die Reproduktionsmedizin gefördert – nach der beispielsweise die Leihmutter zugleich die Großmutter eines Kindes sein kann. Die biologische Elternschaft – insbesondere die des Vaters – verliert zugunsten sozialer Mutter- bzw. Vaterschaften an Bedeutung und zugleich differenziert sie sich auf der Basis neuer Reproduktionstechnologien weiter aus (vgl. Eichler 1997, Mense 2004). Margit Eichler kommt durch die Kombination genetischer, körperlicher, sozialer und rechtlicher Formen von Mutterschaft und Vaterschaft zu dem Ergebnis, dass sich 1997 insgesamt 25 Typen von Mutterschaft (wie Adoptivmutter, Leihmutter, Co-Mutter in einer lesbischen Beziehung) und neun Typen von Vaterschaft (wie Stiefvater, „samenspendender“ biologischer Vater, allein erziehender Vater) bestimmen ließen. Zur Neudefinition von Familien tragen auch neue Beziehungsformen jenseits verwandtschaftlicher Beziehungen als „Wahlverwandtschaften“ bei. In der alltäglichen Lebensführung gewinnen Netzwerke oder Selbsthilfeprojekte – wie die Mütterzentren (vgl. Kortendiek 1999) – an Bedeutung. Ein wichtiges Ergebnis der Studien über alleinerziehende Mütter ist die Widerlegung der Randgruppenthese, nach der Alleinerziehende per se sozial isoliert seien (vgl. Niepel 1994, Schneider u.a. 2001).
Familie und Geschlecht: Resümee und Ausblick Die Dynamik familialer Lebensformen geht aus der Dynamik der Verhältnisse der Geschlechter hervor. Aktuell werden unverheiratete heterosexuelle Paare ebenso wie Ein-Eltern-Familien oder die auf dem Standesamt eingetragenen gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften als Ort von Familie angesehen. All diese Entwicklungen werden als Krise oder sogar als Ende von Familie diskutiert, und folgerichtig wird gefragt: „Was kommt nach der Familie?“ (Beck-Gernsheim 2000). Ambivalenzerfahrungen mit familialen Verhältnissen bzw. Arbeitsteilungen begünstigen auch neue Formen von Mutterschaft, Vaterschaft, Kindheit und somit von Familie – das Reiben an den Familienverhältnissen schafft nicht die Familie ab, sondern erschafft sie auf eine andere Weise neu. Notwendig ist eine feministische Familienforschung, die Ambivalenzen im Geschlechterverhältnis reflektiert, nicht zur Retraditionalisierung familialer Leitbilder beiträgt und sich hierdurch als Bestandteil einer kritischen Geschlechterforschung versteht. Verweise: Alltägliche Lebensführung Armut Doppelte Vergesellschaftung Gewalt Junge Frauen Junge Männer Lebens- und Wohnformen Sekundärpatriarchalismus
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Beate Kortendiek
Literatur Badinter, Elisabeth 1992: Die Mutterliebe. Geschichte eines Gefühls vom 17. Jahrhundert bis heute. 5. Aufl., München: Piper Becker-Schmidt, Regina/Gudrun-Axeli Knapp/Beate Schmidt 1984: Eines ist zuwenig – beides ist zuviel. Erfahrungen von Arbeiterfrauen zwischen Familie und Fabrik. Bonn: Verlag Neue Gesellschaft Beck-Gernsheim, Elisabeth 1994: Auf dem Weg in die postfamiliale Familie. Von der Notgemeinschaft zur Wahlverwandtschaft. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 29-30/94, S. 3-14 Beck-Gernsheim, Elisabeth 2000: Was kommt nach der Familie? Einblicke in neue Lebensformen. 2. Aufl., München: Beck Beer, Ursula 1991: Geschlecht, Struktur, Geschichte. Soziale Konstituierung des Geschlechterverhältnisses. 2. Aufl., Frankfurt/M.: Campus Bereswill, Mechthild/Kirsten Scheiwe/Anja Wolde 2006: Vaterschaft im Wandel. Multidisziplinäre Analysen und Perspektiven aus geschlechtertheoretischer Sicht. Juventa: Weinheim Bien, Walter (Hrsg.) 1996: Familie an der Schwelle zum neuen Jahrtausend. Wandel und Entwicklung familialer Lebensformen. Opladen: Leske + Budrich BMFSFJ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend) (Hrsg.) 2003: Die Familie im Spiegel der amtlichen Statistik. Lebensformen, Familienstrukturen, wirtschaftliche Situation der Familien und familiendemographische Entwicklung in Deutschland. Erw. Neuaufl., Berlin: BMFSF BMFSFJ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend)/Statistisches Bundesamt (Hrsg.) 2003: Wo bleibt die Zeit? Die Zeitverwendung der Bevölkerung in Deutschland 2001/02. Wiesbaden: Selbstverlag BMFSFJ 2000: Familien ausländischer Herkunft in Deutschland. Leistungen, Belastungen, Herausforderungen. Sechster Familienbericht: Berlin Born, Claudia 1989: Hausfrau oder Berufsfrau – eine auch für Mütter mit kleinen Kindern inadäquate Perspektive? In: Müller, Ursula/Hiltraud Schmidt-Waldherr (Hrsg.): FrauenSozialKunde. Wandel und Differenzierung von Lebensformen und Bewusstsein. Bielefeld: AJZ, S. 103-112 Chodorow, Nancy 1985: Das Erbe der Mütter. Psychoanalyse und Soziologie der Geschlechter. München: Frauenoffensive Deutsche Shell (Hrsg.) 2002: 14. Shell Jugendstudie. Frankfurt/M.: Fischer Diezinger, Angelika/Maria S. Rerrich 1998: Die Modernisierung der Fürsorglichkeit in der alltäglichen Lebensführung junger Frauen: Neuerfindung des Altbekannten? In: Oechsle, Mechtild/Birgit Geissler (Hrsg.): Die ungleiche Gleichheit. Junge Frauen und der Wandel im Geschlechterverhältnis. Opladen: Leske + Budrich, S. 165-183 Drinck, Barbara 2005: Vatertheorien: Geschichte und Perspektiven. Opladen: Barbara Budrich Dudek, Peter 1983: Linke Väter und vätergeschädigte Linke. In: Gerspach, Manfred/Benno Hageneger (Hrsg.): Das Väterbuch. 2. Aufl., Frankfurt/M.: Verlag Jugend & Politik, S. 148-160 Ehlert, Nancy 2008: Dossier: Elterngeld als Teil nachhaltiger Familienpolitik. BMFSFJ: Berlin Eichler, Margrit 1997: Family Shifts. Families, Policies, and Gender Equality. Toronto; New York; Oxford: Oxford University Press Eurostat 2008: Datenbank Bevölkerung Gesamtfruchtbarkeitsrate, Auszug vom 21.05.2008 Fthenakis, Wassilios E. u.a. 1999: Engagierte Vaterschaft. Die sanfte Revolution in der Familie. Opladen: Leske + Budrich Fthenakis, Wassilios E./Bernhard Kalicki/Gabriele Peitz 2002: Paare werden Eltern. Die Ergebnisse der LBS-Familien-Studie. Opladen: Leske + Budrich Geissler, Birgit/Mechtild Oechsle 1996: Lebensplanung junger Frauen. Zur widersprüchlichen Modernisierung weiblicher Lebensläufe. Weinheim: Deutscher Studien Verlag Grossmann, Karin/Klaus E. Grossmann/Elisabeth Fremmer-Bombik/Heinz Kindler/Hermann ScheuererEnglisch/Monika Winter/Peter Zimmerman 2002: Väter und ihre Kinder – Die „andere“ Bindung und ihr längsschnittliche Bedeutung für die Bindungsentwicklung, das Selbstvertrauen und die soziale Entwicklung des Kindes. In: Steinhardt, Kornelia/Wilfried Datler/Johannes Gstach (Hrsg.) Die Bedeutung des Vaters in der frühen Kindheit. Gießen: Psychosozial-Verlag, S. 43-77 Gysi, Jutta/Dagmar Meyer 1993: Leitbild: berufstätige Mutter – DDR-Frauen in Familie, Partnerschaft und Beruf. In: Helwig, Gisela/Hildegard Maria Nickel (Hrsg.): Frauen in Deutschland 1945-1992. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, S. 139-165
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Härtl, Michaela 1996: Auszug aus dem Elternhaus – ‚Nesthocker‘ und ‚Nestflüchter‘. In: Bien, Walter (Hrsg.): Familie an der Schwelle zum neuen Jahrtausend. Wandel und Entwicklung familialer Lebensformen. Opladen: Leske + Budrich, S. 82-88 Herlyn, Ingrid/Dorothea Krüger (Hrsg.) 2003: Späte Mütter. Eine empirisch-biographische Untersuchung in West- und Ostdeutschland. Opladen: Leske + Budrich Herwartz-Emden, Leonie 1995: Mutterschaft und weibliches Selbstkonzept. Eine interkulturell vergleichende Untersuchung. Weinheim, München: Juventa Hochschild, Arlie Russell 2002: Work-Life-Balance. Keine Zeit. Wenn die Firma zum Zuhause wird und zu Hause nur Arbeit wartet. Opladen: Leske + Budrich Holland-Cunz, Barbara 2003: Die alte neue Frauenfrage. Frankfurt/M.: Suhrkamp Huinink, Johannes 2002: Polarisierung der Familienentwicklung im europäischen Vergleich. In: Schneider, Norbert F./Heike Matthias-Bleck (Hrsg.): Elternschaft heute. Gesellschaftliche Rahmenbedingungen und individuelle Gestaltungsaufgaben. Zeitschrift f. Familienforschung (ZfF). Sonderheft 2., S. 49-73 Institut für Demoskopie Allensbach 2004: Einflußfaktoren auf die Geburtenrate. Ergebnisse einer Repräsentativbefragung der 18- bis 44jährigen Bevölkerung. Allensbach Jurczyk, Karin/Maria S. Rerrich (Hrsg.) 1993: Die Arbeit des Alltags. Beiträge zu einer Soziologie des alltäglichen Lebensführung. Freiburg/Br.: Lambertus Konietzka, Dirk/Michaela Kreyenfeld (Hrsg.) 2007: Ein Leben ohne Kinder. Kinderlosigkeit in Deutschland. Wiesbaden: VS Verlag Koppetsch, Cornelia/Günter Burkart 1999: Die Illusion der Emanzipation. Zur Wirksamkeit latenter Geschlechtsnormen im Milieuvergleich. Konstanz: UVK Kortendiek, Beate 1999: Mütterzentren – Selbsthilfeprojekte und Frauenöffentlichkeit. Studie über ambivalente Mutterschaft und alltägliche Lebensführung. Bielefeld: Kleine Kortendiek, Beate 2003: Rezension zu: „Die Bedeutung des Vaters in der frühen Kindheit“ von Kornelia Steinhardt, Wilfried Datler, Johannes Gstach (Hrsg.) 2003, Gießen. In: Querelles-Net. Rezensionszeitschrift für Frauen- und Geschlechterforschung. Nr. 10/Juni 2003: Jugend und Kindheit, Krüger, Helga 2006: Geschlechterrollen im Wandel – Modernisierung der Familienpolitik. In: Bertram, Hans/Helga Krüger/C. Katharina Spieß (Hrsg.): Wem gehört die Familie. Expertisen zum 7. Familienbericht der Bundesregierung. Opladen: Verlag Barbara Budrich, S. 191-206 Lamnek, Siegfried/Jens Luedtke/Ralf Ottermann 2006: Tatort Familie. Häusliche Gewalt im gesellschaftlichen Kontext, 2. erweiterte Aufl., Wiesbaden: VS Verlag LSVD – Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (Hrsg.) 2002: Familienbuch. Berlin: Selbstverlag Matzner, Michael 2004: Vaterschaft aus der Sicht von Vätern. Wiesbaden: VS Verlag Mense, Lisa 2004: Neue Formen von Mutterschaft. Verwandtschaft im Kontext der Neuen Reproduktionstechnologien. In: Lenz, Ilse/Lisa Mense/Charlotte Ullrich (Hrsg.): Reflexive Körper. Zur Modernisierung von Sexualität und Reproduktion. Opladen: Leske + Budrich, S. 149-177 Metz-Göckel, Sigrid 1990: Mutter sein und andere Lebensformen von Frauen: In: Metz-Göckel, Sigrid/Elke Nyssen: Frauen leben Widersprüche: Zwischenbilanz der Frauenforschung. Weinheim, Basel: Beltz, S. 153-184 Mitscherlich, Alexander 1963: Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Ideen zur Sozialpsychologie. München: R. Piper & Co Verlag Mühling, Tanja/Harald Rost (Hrsg.) 2007: Väter im Blickpunkt der Familienforschung. Opladen: Barbara Budrich Müller, Ursula 1989: Warum gibt es keine emanzipatorische Utopie des Mutterseins? In: Schön, Bärbel (Hrsg.): Emanzipation und Mutterschaft. Erfahrungen und Untersuchungen über Lebensentwürfe und mütterliche Praxis. Weinheim, München: Juventa, S. 55-79 Nave-Herz, Rosemarie 1988: Kinderlose Ehen – Eine empirische Studie über kinderlose Ehepaare und die Gründe für ihre Kinderlosigkeit. Weinheim: Juventa Niepel, Gabriele 1994: Soziale Netze und soziale Unterstützung alleinerziehender Frauen. Eine empirische Studie. Opladen: Leske + Budrich Notz, Gisela 1991: Du bist als Frau um einiges mehr gebunden als der Mann. Die Auswirkungen der Geburt des ersten Kindes auf die Lebens- und Arbeitsplanung von Müttern und Vätern. Bonn: Dietz Oechsle, Mechtild 1998: Ungelöste Widersprüche: Leitbilder für die Lebensführung von Frauen. In: Oechsle, Mechtild/Birgit Geissler (Hrsg.): Die ungleiche Gleichheit. Junge Frauen und der Wandel im Geschlechterverhältnis. Opladen: Leske + Budrich, S. 185-200
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Alter(n): Ein kaum entdecktes Arbeitsfeld der Frauen- und Geschlechterforschung
Zur wissenschaftlichen Bearbeitung von „Geschlecht und Alter(n)“ Im englischsprachigen Bereich der Alter(n)ssoziologie wie auch der Genderforschung ist „Gender and Ageing“ – auch als Dimension der Sozialstruktur und der von Alter und Altern geprägten Gesellschaft – seit Jahren Thema (vgl. z.B. Arber/Ginn 1991, Peace 1986, Szinovacz 1982). Im deutschsprachigen Bereich ging die Betrachtung des Alter(n)s lange Zeit mit einer einseitigen Konzentration auf das (verallgemeinerte) männliche (häufig gleichgesetzt mit menschliche) Alter(n), das Ausscheiden aus dem Erwerbsleben und dessen Konsequenzen, einher; in der Frauen- und Geschlechterforschung wiederum war Alter(n) kaum Thema. Nach geschlechterspezifischen Unterschieden und dem jeweils anderen Alter(n) von Frauen und Männern fragte man selten. Man schloss gesellschaftlich relevante, untersuchenswerte Alter(n)sprobleme bei Frauen eher aus. Individuelle und soziale Alter(n)sprobleme waren primär über männliche Vergesellschaftung und deren Veränderung im Alter, insbesondere mit dem Eintritt in den sog. Ruhestand, definiert. Hier hatte sich – so die meist funktionalistisch begründeten Alter(n)stheorien (vgl. Backes/Clemens 2008: 114ff.) – ein neues Gleichgewicht zwischen individuellen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Anforderungen einzustellen (entweder durch Disengagement, durch weitere Aktivität oder durch Kontinuität). Bei Frauen war dies – so die häufig nicht explizierte Annahme – aufgrund ihrer fortbestehenden „weiblichen“ Vergesellschaftung über informelle Bereiche, wie Hausarbeit und Familie, kaum erforderlich. Die gesellschaftlichen und individuellen Auswirkungen und Dimensionen des Strukturmerkmals Geschlecht im Zusammenwirken mit Alter(n) – etwa des quantitativen Überwiegens von Frauen im Alter, insbesondere im hohen Lebensalter, und dessen gesellschaftlichen und individuellen Folgen – waren erst recht kein quantitativ hinreichend und angemessen bearbeitetes Thema deutschsprachiger Alter(n)swissenschaft oder gar der Frauen- und Geschlechterforschung. Ausnahmen entwickelten sich in der Gerontologie und Alter(n)ssoziologie (vgl. Fooken 1987, 1994; Backes 1993a, 1993b, 1999a, 1999b, 2002, 2005a, 2006; Höpflinger 1994), z.T. auch in der feministischen Kritik der Sozialsysteme. Erste weitergehende Ansätze finden sich z.B. in der Auseinandersetzung mit den „Auswirkungen weiblicher Langlebigkeit auf Lebensformen und Generationenbeziehungen“ (Höpflinger 2000, vgl. auch Höpflinger 2002a) und neuerdings auch in der Betrachtung des „anderen“ Alter(n)s von Männern (vgl. Fooken 1986, 1999; Höpflinger 2002b, Reimann/Backes 2006), dem Übergang von Frauen vom Erwerbsleben in den Ruhestand (vgl. Clemens 1993, 1997) und der Gesundheit von Frauen und Männern im Alter (Backes 2005b, Backes/Amrheim/Lasch/Reimann 2006, Backes/Lasch/Reimann 2006, Backes/ Lasch 2006, Wolfinger 2006). Mittlerweile ist Geschlecht, zumindest als durchgängig notwendiges Unterscheidungsmerkmal, auch im Alter anerkannt (vgl. exemplarisch Berichte der Enquête-Kommission Demografischer Wandel oder Altenberichte der Bundesregierung). Hinsichtlich der Notwendigkeit dieser Differenzierung wie auch einer weitergehenden Analyse sprechen Zahlen und Fakten eine klare Sprache (vgl. Backes 2001, 2003; Stiehr/Spindler 2006). Dennoch bleiben hinsichtlich des Themas „Geschlecht und Alter(n)“ weiterhin blinde Flecken und oberflächliche Perspektiven: So geschieht die geschlechterspezifische Differenzierung
Alter(n)
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entweder primär auf einer deskriptiven Ebene, etwa der Beschreibung ungleicher Lebensdauer (hier interessiert immer wieder die Frage, weshalb Frauen eine höhere Lebenserwartung haben als Männer) und ungleicher Betroffenheit von sozialen Problemen im Alter, insbesondere als Hochaltrige. Oder sie bedeutet Konzentration auf das „weibliche“ Alter(n) im Sinne des Alter(n)s von Frauen, was durch deren weitaus höheren Anteil und die stärkere Betroffenheit von sozialen Problemen im Alter gerechtfertigt erscheint. Man spricht vom „feminisierten Alter“ (Tews 1993, Kohli 1990), was nicht nur quantitativ durch den höheren Frauenanteil zuzutreffen scheint oder qualitativ, indem weibliche Vergesellschaftungsformen das Leben im Alter zu bestimmen scheinen. Männern wird sogar eine Angleichung an weibliche Vergesellschaftungsformen im Alter zugeschrieben, da ihre geschlechtstypische Vergesellschaftungsform über Erwerbsarbeit mit dem Eintritt ins Alter beendet sei. Eine tiefergehende Analyse des Geschlechterverhältnisses im Lebens(ver)lauf und seiner Auswirkungen auf die Lebenslagen beider Geschlechter bis ins Alter bleibt vernachlässigt. Darüber hinaus werden vielfach, mit sozialen Problemen alter und hochbetagter Frauen einhergehend, gesellschaftliche Belastungen und Kosten (etwa durch Pflege) betont. Der hohe Anteil von Frauen an der Gruppe, der durch starkes Ansteigen von Multimorbidität, Demenzerkrankungen und Pflegebedürftigkeit gekennzeichneten Hochaltrigen, wird in einer Kostenbilanz mit der kürzeren Lebensdauer von Männern verglichen und eine höhere Belastung des sozialen Umfelds und der Gesellschaft konstatiert. Dabei werden in aller Regel nur die öffentlich sichtbaren Lasten und Ressourcen betrachtet und privat erbrachte (z.B. betreuende, pflegende) Leistungen von Frauen, die öffentliche Leistungen ergänzen und z.T. ersetzen, vernachlässigt. Bei Männern dagegen werden die nachberuflichen Tätigkeitsressourcen in den Vordergrund der Überlegungen gestellt (vgl. Kohli/Künemund 2000). Diese Art der Zuschreibung lässt einseitig Frauen als Last und Männer als Ressource erscheinen. Insgesamt zeigt sich: Die Bedeutung, die der Dimension (weibliches und männliches) Geschlecht für das Alter(n) und der Dimension „Geschlecht und Alter(n)“ als Strukturmerkmal der Gesellschaft mit Konsequenzen für die Lebenslagen (nicht nur im Alter) zukommt, wird im deutschsprachigen Bereich bislang eher undifferenziert, unzureichend und kaum im Gesamtkontext seiner Entstehung und Bedeutung thematisiert.
Alter(n) bei Frauen: Zur Kumulation sozialer Alter(n)srisiken Als Frau alt zu werden und alt zu sein bedeutet bislang ein zweifaches Risiko für die Lebensqualität: Die mit dem Alter strukturell drohenden sozialen Probleme (hinsichtlich gesellschaftlichen Eingebundenseins, materieller Sicherung, Isolation/Einsamkeit, Gesundheit/Pflege und Angewiesenseins auf andere) erfahren durch die geschlechtsspezifische soziale Ungleichheit bei heute alten Frauen häufiger eine sozial problematische Ausprägung. Geschlechtliche Arbeitsteilung bedeutete für die Mehrzahl der heute alten Frauen, dass die Ehefrauen- und Familienrolle (trotz anderer Erfahrungen während des Krieges und unmittelbar danach) primär war/ist und Erwerbsarbeit zumindest normativ nicht der eigenständigen Existenzsicherung zu dienen hatte. Die ‚alten‘ bzw. ‚traditionalen‘ Risiken waren die der primären Familienbindung und entsprechenden Abhängigkeit der Existenzsicherung und Sinngebung. Damit ist die Lebenslage im Alter materiell wie auch sozial und psychisch gefährdet. So weisen Studien zu Frauen im Alter durchgängig darauf hin, dass diese dann zufriedener, gesünder und ausgeglichener leben, wenn sie außerhäusige Kontakte und Beschäftigungsbereiche hatten und haben, dass eine Konzentration auf die Familie nicht nur eher Armut im Alter sondern auch eher gesundheitliche und psychische Beeinträchtigungen mit sich bringt, dass – etwas verkürzt formuliert – qualifizierte und kontinuierliche Berufsarbeit die beste „Geroprophylaxe“ ist (vgl. Lehr 1977, 1982; Szinovacz 1982, Clemens 1992, 1993, 1997).
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„Feminisierung des Alters“? Nicht nur aufgrund kriegsbedingter Verluste auf Seiten der Männer, sondern vor allem aufgrund höherer Lebenserwartung von Frauen, leben heute bei uns weitaus mehr ältere und alte Frauen als Männer. Zwei Drittel der über 60-Jährigen und drei Viertel der über 75-Jährigen sind Frauen. Dabei ist das Verhältnis bei den 60- bis unter 65-Jährigen noch annähernd ausgeglichen, während bei den 85-Jährigen und älteren mit mehr als drei Viertel Frauen eine eklatante Geschlechterdifferenz auffällt (vgl. Statistisches Bundesamt, zur Begründung der Geschlechterdifferenz in der Lebenserwartung vgl. Höpflinger 2002a). Trotz einer gewissen vordergründigen Plausibilität der These von der Angleichung der Lebensweisen im Alter (vgl. Kohli 1990), leben Frauen und Männer auch im Alter verschieden (vgl. Backes 1994b, 1999b): Ihre Lebenslagen und Lebensstile unterscheiden sich in sozial ungleicher Weise (hierarchisch) nach Geschlecht (neben anderen sozialstrukturellen Differenzierungen, wie Klasse/Schicht, Kohorte, Region oder Nationalität). Die „weiblichen“ und „männlichen“ Lebensläufe und Vergesellschaftungsweisen finden offensichtlich im Alter ihre Fortsetzung, wenn auch auf anderem Niveau. Erkennbar wird dies etwa daran, dass Männer häufiger in nachberuflichen Tätigkeiten eine modifizierte Fortsetzung ihres Berufs anstreben, während Frauen sich eher auf Haus- und Familienarbeit konzentrieren, außerdem daran, dass Männer besser eigenständig sozial gesichert sind als die meisten Frauen. Vor allem folgende soziale Geschlechterunterschiede im Alter lassen sich beschreiben: Einerseits ist bei Frauen im Alter die Wahrscheinlichkeit, von sozial problematischer Lebenslage betroffen zu sein, höher als bei Männern. Wie bereits deutlich wurde, sind sie häufiger materiell eingeschränkt, alleinlebend bei eher prekärer materieller und immaterieller Ausstattung; sie müssen häufiger dazuverdienen oder familiale Leistungen erbringen, die ihrer gesundheitlichen Situation nicht (mehr) angemessen sind; sie sind häufiger chronisch krank, leben aber länger, so dass sie häufiger auf institutionelle Hilfe bis hin zum (Pflege-)Heimaufenthalt angewiesen sind (vgl. Backes 1994a, 2001). Während sie ihre Männer bis zum Tod betreuen und pflegen, stehen ihnen derartige Hilfen seltener zur Verfügung. Sie beschließen ihr Leben mehrheitlich als Witwe oder Alleinlebende. Bis dahin müssen sie sich häufiger grundlegend umorientieren, z.B. den Auszug der Kinder, das Ende der eigenen Berufsarbeit, das Ende der Arbeit des Mannes, dessen Krankheit und ggf. Pflegebedürftigkeit, seinen Tod und schließlich ihre eigene nachlassende Selbstständigkeit und zunehmende Hilfebedürftigkeit verarbeiten (vgl. Bakkes 1983, 1993a, 1993b, 2001; Fooken 1987, Lehr 1987, Naegele u.a. 1992, Niederfranke 1994, Höpflinger 1994, Clemens 1997). Männer hingegen sind im Alter vergleichsweise seltener und weniger stark von sozialen Problemen betroffen. Andererseits ist Alter bei Frauen auch geprägt durch Vorzüge und bei Männern durch Nachteile, die mit ihrem geschlechtsspezifischen Lebenslauf einhergehen und bis in die alterstypischen Umorientierungen hinein wirken. So sind Frauen – u.U. aufgrund der mit dem weiblichen Lebenslauf verbundenen Notwendigkeit der häufigen Umstellung und Vereinbarung von Widersprüchen – häufig besser in der Lage, Veränderungen und Verluste zu verarbeiten (vgl. Clemens 1997). Männer hingegen scheinen beim Wechsel in die bislang ungewohnte Lebensweise ohne die Strukturierung durch Erwerbsarbeit zumindest anfangs größere Probleme zu haben. Gleichzeitig verfügen sie über erwerbsarbeitsvermittelte Ressourcen (Geld, Qualifikation, Kompetenzen), die ihnen die Umgestaltung ihrer Lebensweise erleichtern. Und sie sind i.d.R. freier von familialen Verpflichtungen, die sie an der Entfaltung neuer Interessen hindern (vgl. Höpflinger 2002b). Auffallend ist die bei Frauen im Alter besonders ausgeprägte Pluralität, Heterogenität und Differenzierung von Lebenslagen, Lebensstilen und Umgangsformen mit dem Alter(n). Auch hier zeigt sich die Konsequenz der Heterogenität weiblicher Lebens- und Arbeitsverhältnisse im Lebensverlauf. Weitaus weniger als bei Männern kann hier von einer so genannten ‚Normalbiografie‘, nicht einmal einer ‚typisch Weiblichen‘, gesprochen werden (vgl. Backes 1993a, Ostner 2000).
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Auch wenn das Alter für Frauen im Prinzip eine doppelt sozial gefährdende Lebensphase darstellt, wenn für sie damit, eher als in anderen Lebensphasen und eher als für Männer, die Gefahr einer sozial problematischen Lebenslage einhergeht, so trifft dies konkret nicht bei allen gleichermaßen zu. Eine Kumulation von Benachteiligungen findet sich häufig bei Arbeiterwitwen ohne oder mit geringfügiger beruflicher Qualifikation und mit diskontinuierlichem Erwerbsverlauf in ungeschützten, schlecht bezahlten und gesundheitlich beeinträchtigenden Arbeitsverhältnissen, mit längeren Zeiten der Erwerbslosigkeit und der Mehrfachbelastung durch Familienund außerhäusige Arbeit. Eine Kumulation von Vorteilen findet sich eher bei Männern mit kontinuierlicher hoch qualifizierter Berufsarbeit, entsprechendem Einkommen, Prestige und Einfluss sowie sonstigen damit verbundenen Ressourcen (der Bildung, der sozialen Vernetzung), die sich i.d.R. bis ins Alter hinein positiv auf ihre Lebenslage auswirken. Das Ende der Berufsarbeit konfrontiert Männer mit einer für sie neuen, primär weiblich strukturierten, Vergesellschaftung (vgl. Kohli 1990: 401). Hieraus jedoch auf eine Angleichung der Lebenslagen und ein „Verweiblichen“ der Männer „in ihren psychischen (oder sozialen, G. B.) Merkmalen“ (Kohli ebd.) zu schließen, ist m.E. zu kurz gegriffen. Es verweist auf eine theoretische Vernachlässigung der hierarchisch komplementären Geschlechterverhältnisse bis ins Alter: Denn diese veränderte Vergesellschaftung für Männer ist in der biografischen Perspektive ihres ‚Normallebenslaufs‘ bereits enthalten. Entsprechend sind Kompensationsmechanismen ‚eingebaut‘: Auch für die Bewältigung dieser Umstellung stehen ihnen meist hinreichend (materielle und soziale) Ressourcen zur Verfügung (wobei die sozialen Ressourcen i.d.R. von den Frauen gestellt werden). Bei Männern stehen einem Neubeginn, mittels sog. nachberuflicher Tätigkeiten, im Unterschied zu vielen Frauen, familiale Verpflichtungen nur in den seltensten Fällen entgegen. Mit einem hohen Alter als Alleinstehende oder gar im (Pflege-)Heim müssen sich – dank weiblicher Ressourcen – die wenigsten Männer auseinandersetzen. Aufgrund ihrer bisherigen Vergesellschaftung sind sie in materieller und sozialer Hinsicht i.d.R. besser als Frauen vor sozialen Problemen im Alter geschützt. Auch hier existiert – wie bei Frauen – je nach konkreter Vergesellschaftung im Lebenslauf ein differenziertes Bild, das die o.g. Grundstruktur jedoch nicht in Frage stellt.
Zusammenfassung, Ausblick auf Forschungsfragen und Zukunftsvisionen Eine weitere Bearbeitung der Thematik sollte sich m.E. vor allem auf folgende Erkenntnisse und Thesen stützen: Im Lebenslauf angelegte Geschlechterverhältnisse setzen sich – entgegen der These von der Angleichung der Geschlechter und einer oberflächlichen Interpretation der These einer Feminisierung des Alters – bis ins Alter hinein fort. Geschlecht wird auch im Lebensverlauf „gemacht“. Und: Im hohen Alter erfahren die im Lebenslauf angelegten Geschlechterverhältnisse und die damit einhergehende Hierarchie der Lebenslagechancen eine Zuspitzung. Die hierarchische Komplementarität der geschlechtsspezifischen Vergesellschaftungsweisen zeigt sich hier verstärkt in widersprüchlicher Form. Diese drückt sich, z.B. in der Situation alter Frauen zwischen ‚Alterslast‘ und ‚Altersressource‘ aus. Geschlechterrollen erfahren Veränderungen. Dieser Prozess hat in modernen Gesellschaften auf Altern und Alter bereits jetzt einen nicht unerheblichen Einfluss und wird dies noch stärker haben: Wenn z.B. Frauen- und Männerrollen sich hinsichtlich familialer Aufgaben wandeln, bleibt dies – abgesehen von den Wirkungen innerhalb privater Netze und Biografien – nicht ohne Konsequenzen, etwa für Sozial- und Familienpolitik. Als Orientierung im Lebensverlauf erweisen sich die traditionellen Geschlechterrollen als brüchig, zumindest riskant, widersprüchlich und ambivalent (vgl. Allmendinger 2000). So ist für Frauen ein Verlass auf die ‚subventionierte Hausfrauenehe‘ und eine ihr entsprechende soziale Sicherung oder gar auf die sinnstiftenden
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Ressourcen der Frauen- und Mutterrolle bis ins hohe Alter hinein nicht mehr möglich (vgl. Schmähl/Michaelis 2000). Für Männer verändert sich mit zunehmender Diskontinuität des Erwerblebens, Infragestellung der Ernährerrolle und gewandelten Frauenrollen ebenfalls die vormals weitgehend verlässliche Perspektive der Lebensführung bis ins Alter. Gleichzeitig ist für das Gros der Frauen ein Verlass auf kontinuierliche qualifizierte Erwerbsintegration und entsprechende materielle und soziale Sicherung oder gar psychosoziale Alter(n)schancen ebenfalls (noch) nicht möglich. Für Männer ist diese Orientierung am sog. Normallebenslauf immer seltener realisierbar. Dies gilt v.a. bei sich verändernden Bedingungen am Arbeitsmarkt. Auch der steigende Anteil an Singles und Einpersonenhaushalten, gerade im mittleren und höheren Lebensalter, geht Hand in Hand mit einem Geschlechterrollenwandel, so dass insgesamt eine veränderte Lebensgestaltung ins Alter hinein notwendig und bereits praktiziert wird. Entsprechende Analysen wären zu richten auf sich verändernde Alter(n)srisiken und Alter(n)schancen von Frauen und Männern im Kontext geschlechtsspezifischer Lebens- und Arbeitsverhältnisse, sowie auf deren gesellschaftliche Auswirkungen. Dies würde bedeuten, die Situation heute alter Frauen und Männer mit ihren kohorten- und gesellschafts-, klassen- und geschlechterspezifischen Lebensrisiken und -chancen in einen systematischen Zusammenhang zu bringen. Diese wären den sich abzeichnenden Alter(n)srisiken und -chancen künftig alter Frauen und Männer gegenüberzustellen und auf ihre Folgen hin zu prüfen. Anhaltspunkte für eine Prognose künftigen Alter(n)s von Frauen und Männern fänden sich in der Betrachtung ihrer Integration in Arbeit, Beruf, Familie und sonstige Bereiche. Neben Art, Umfang und Form der Arbeit und sozialer Beziehungen wären dabei vor allem qualitative Aspekte, z.B. Unvereinbarkeiten und Widersprüche, Einflüsse auf körperliche, geistige und psychische wie soziale Entwicklungs- und Verschleißprozesse, von Bedeutung. Für die Frauen-, Geschlechter- und Alter(n)sforschung wirft das Feld der Geschlechterbeziehungen und -verhältnisse und des Bezugs von Geschlecht und Alter(n) zahlreiche Fragen auf. Die theoretische Fundierung hat zweifelsohne Anleihen zu nehmen bei den Ansätzen zur Geschlechterarbeitsteilung, der Geschlechterkonstruktion, der Komplementarität weiblicher und männlicher Lebensverläufe und Handlungsmuster. Hinsichtlich einer fundierten empirischen Analyse wäre neben gezielten Studien die Einrichtung eines Survey zu Geschlechterlebenslagen im Lebensverlauf sinnvoll. Verweise: Armut Lebenslauf Lebens- und Wohnformen
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Lebens- und Wohnformen: Dynamische Entwicklung mit Auswirkungen auf das Geschlechterverhältnis
Die Zunahme von Lebens- und Wohnformen außerhalb tradierter, ehelich-familiärer Lebensgemeinschaften ist eine weltweit zu beobachtende Entwicklung mit vielfältigen demografischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Ursachen und Folgen. In der entwicklungspolitischen Diskussion wird v.a. der Zuwachs von Haushalten mit einem weiblichen Haushaltsvorstand („woman-headed households“) diskutiert, da diese Haushalte in der vorherrschenden Meinung, unabhängig davon, ob es sich um allein lebende oder allein erziehende Frauen oder um Frauengemeinschaften (z.B. Mutter und Tochter) mit oder ohne Kinder handelt, als besonders armutsgefährdet gelten. Die feministische Forschung hat v.a. auf die besonderen ökonomischen und sozialen Lebensbedingungen, Potenziale und Beschränkungen dieser „Frauenhaushalte“ hingewiesen, die in entwicklungspolitischen Programmen und Maßnahmen zu berücksichtigen unumgänglich sind (vgl. Chant 1996, Becker 2003). In der Bundesrepublik wird dagegen die Zunahme solcher von Frauen geleiteten Haushalte unter dem Stichwort der Pluralisierung der Lebensformen aufgrund von Individualisierungsprozessen im Zuge gesellschaftlicher Modernisierung verhandelt. Die neu entstandenen Lebensund Wohnformen sind danach Ausdruck erweiterter Wahlmöglichkeiten der Individuen in einer Gesellschaft, in der Traditionen und verbindliche Normen, aber auch soziale Bindungen an Bedeutung eingebüßt haben (vgl. Beck/Beck-Gernsheim 1994). Diese theoretische Fassung der Entwicklung neuer Lebens- und Wohnformen ist aus Sicht der feministischen Forschung zu kurz gegriffen, vernachlässigt sie doch die zentrale Bedeutung eines problematischen, nicht mehr allseitig unhinterfragt akzeptierten gesellschaftlichen Geschlechterverhältnisses für das Entstehen nicht-tradierter Lebens- und Wohnformen. Im Folgenden werden diesbezügliche Forschungsergebnisse der feministischen Forschung in der BRD – insbesondere über die Lebens- und Wohnformen von Frauen – sowie ausgewählter internationaler Studien vorgestellt und ein Ausblick auf aktuelle Entwicklungen gegeben.
Zur Definition neuer Lebens- und Wohnformen: Unterschiedliche Abgrenzungskriterien Auch wenn die Pluralisierung der Lebens- und Wohnformen ein viel diskutiertes Thema ist, existiert bis heute keine allgemein anerkannte Begrifflichkeit für diese neuen Formen. Je nach Sichtweise wird auf unterschiedliche Abgrenzungskriterien zurückgegriffen: Familienstand, Partnerschaft und Elternschaft, die gemeinsame Wohnung oder das gemeinsame Wirtschaften. Die daraus entstehenden Begriffe sind nicht synonym, werden allerdings oft als Synonyme verwandt. Jedoch sind Alleinwohnende nicht notwendigerweise allein lebend, sondern können das „living apart together“, das partnerschaftliche Leben in getrennten Wohnungen praktizieren (vgl. Schneider/Limmer/Rueckdeschel 2003). Genauso müssen Alleinlebende nicht notwendigerweise
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allein wohnen, sondern können dies auch in einer (Zweck-)WG oder zur Untermiete tun. Darüber hinaus ist umstritten, ob Singles älter als 55 oder jünger als 25 sein können und ob auch vorübergehend Alleinwohnende ein Singleleben führen (vgl. Hradil 1995). In der amtlichen Statistik wiederum wird auf das gemeinsame Wirtschaften abgehoben, was Wohngemeinschaften leicht zu einer Ansammlung von Einpersonenhaushalten (mit Haupt- und UntermieterInnen) macht. Ähnliches gilt für den Begriff der Alleinerziehenden. Auch hier ist nicht notwendigerweise von einer fehlenden Partnerschaft auszugehen, zumal unterhalts- und sozialhilferechtliche Gründe das Verschweigen einer (neuen) Partnerschaft angeraten erscheinen lassen können.
Prävalenz unterschiedlicher Lebens- und Wohnformen Mit diesen Vorbehalten ergibt sich für die BRD folgende Struktur der Lebens- und Wohnformen: Lebensformen der Bevölkerung in Privathaushalten am Hauptwohnsitz im Mai 2006 Lebensform Ehepaare mit Kindern Lebensgemeinschaften mit Kindern1 Alleinerziehende Ehepaare ohne Kinder Lebensgemeinschaften ohne Kinder1 Alleinwohnende Sonstige (Wohngemeinschaften)
Anteil an der Bevölkerung (%) 41,0 3,2 7,8 23,7 3,9 18,3 1,9
Anteil an allen Haushalten (%) 22,9 1,9 6,7 24,6 4,3 38,0 1,6
1) Unter den Lebensgemeinschaften sind ca. 62.000 bis 177.000 gleichgeschlechtliche Paare, darunter mindestens 3.000 Frauenpaare mit Kindern Quelle: Statistisches Bundesamt 2008 (Mikrozensus 2006: Lebensformen der Bevölkerung), eigene Berechnungen
Die Tabelle zeigt: Die Bevölkerung in Deutschland lebt zwar immer noch mehrheitlich in Haushalten mit Kindern (52%), die häufigste Haushaltsform ist jedoch der Einpersonenhaushalt (38% der Haushalte), obwohl in diesem nur 18% der Bevölkerung leben. Unter den Haushalten mit Kindern dominieren eindeutig die Ehepaare mit Kind(ern), in diesen wachsen 76% aller Kinder auf. Von einer Auflösung der (traditionellen) Familie kann also (noch) keine Rede sein, allerdings sind die Veränderungen erheblich: Zwischen 1996 und 2006 ging die Zahl der Ehepaare mit Kindern um 16% zurück, was aber zum Teil eher dem Alterungsprozess der Bevölkerung als dem Wandel der Lebensformen geschuldet ist, da der Anteil der Ehepaare ohne Kinder im gleichen Zeitraum um 5% zunahm. Die nichtehelichen Lebensgemeinschaften sind zwar immer noch eine kleine Minderheit, weisen aber sehr hohe Wachstumsraten im Zeitraum zwischen 1996 und 2006 (25% Ost, 35% West) auf, wobei am stärksten die Lebensgemeinschaften mit Kindern im Westen zugenommen haben (plus 67%). Auch die Haushalte der Alleinerziehenden haben zwischen 1996 und 2006 zugenommen, wobei ihr Anteil an den Eltern-Kind-Gemeinschaften von 17% auf 21% stieg. Das Alleinerziehen ist also als familiäre Lebensform bedeutender geworden (alle Daten errechnet aus Statistisches Bundesamt 2008: Tabellen 2.1 und 5.3). Die Zahl der Alleinwohnenden ist von 1996 bis 2006 von 12,7 Mio. auf 14,9 Mio., also um 18%, gestiegen – darunter sind 54% Frauen (Rübenach/Weinmann 2008: 131).
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Das Alleinwohnen: Antwort auf ein nicht mehr akzeptiertes Geschlechterverhältnis? Die deutliche Überzahl von Frauen unter den Alleinwohnenden ist ein Ergebnis demografischer Entwicklung: Auf Grund einer um knapp 6 Jahre höheren durchschnittlichen Lebenserwartung (Statistisches Bundesamt 2006b: 37) und einem im Vergleich zum (Ehe-)Partner im Durchschnitt um ca. drei Jahre niedrigeren Lebensalter erwartet verheiratete Frauen am Ende ihres Lebens im Durchschnitt eine knapp 10-jährige Witwenschaft, die inzwischen so lange wie irgend möglich in der eigenen Wohnung (die zum Ärger vieler Wohnungspolitiker oft die überkommene Familienwohnung ist) verbracht wird. Darüber hinaus tragen die (überwiegend von Frauen beantragten) zunehmenden Ehescheidungen, verbunden mit einer bei Frauen geringeren Wiederverheiratungsrate sowie der frühere Auszug der Töchter aus der elterlichen Wohnung (Rübenach/Weinmann 2008: 133) zur Zunahme alleinwohnender Frauen bei. Bei den mittleren Altersklassen dagegen überwiegen die Männer, auch dies eine Folge der erhöhten Scheidungsraten, die Paare mit Kindern meist in eine alleinerziehende Mutter und einen (zumindest zunächst) alleinwohnenden Vater trennt. Dabei bewerten Frauen, so das Ergebnis einer Studie von Dorothea Krüger, das Alleinwohnen positiver als Männer (Krüger 1990: 208). Die Gründe hierfür sehen sowohl Dorothea Krüger als auch Martina Löw in einer höheren Autonomie und Selbständigkeit. Löw, die allein wohnende Frauen im Alter von 24-45 Jahren befragt hat, kommt zu dem Schluss, dass allein wohnende Frauen „versuchen, Widersprüche, die sich maßgeblich aus dem Geschlechterverhältnis und der Organisation der gesellschaftlichen Arbeit ergeben, individuell zu lösen“ (Löw 1994: 167). Krüger stellt fest, dass allein wohnende Frauen durch ihre Wohnform „Realitäten geschaffen (haben), die der traditionellen häuslichen Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern den Boden entzieht und die emotionale Versorgung des Partners zumindest zeitweilig ausschließt“ (Krüger 1990: 209). Zu ganz ähnlichen Ergebnissen kommt Sylvia Chant (1997) in ihrer Untersuchung über von Frauen geleitete Haushalte in Mexiko, Costa Rica und den Philippinen. Chant nennt drei Faktoren, die für das Entstehen von Frauenhaushalten von entscheidender Bedeutung sind: erstens die ökonomische Basis, um ohne Partner zu leben, zweitens die Fähigkeit „mit dem gesellschaftlichen Druck umzugehen, dem Frauen ausgesetzt sind, die ohne (Ehe-) Partner leben und drittens die Einschätzung, dass die finanziellen und/oder psychologischen Vorteile, die das Zusammenleben mit Männern bringt, nicht größer sind als die Vorteile des Alleinlebens oder des Zusammenlebens mit anderen Frauen und/oder Kindern“ (Chant 1997: 257). Frauen leben, so Silvia Chant, nicht schon deshalb ohne männlichen Partner, weil sie es sich leisten können. Die Gründung eines unabhängigen Haushalts ist vielmehr „oft eine Antwort auf oder ein Resultat der Verhaltensweisen von Männern“ (Chant 1997: 257). Auch in den von Chant untersuchten Ländern mit sehr unterschiedlichem kulturellem Hintergrund scheint das Wohnen ohne männlichen Partner häufig eine Antwort auf ein nicht mehr akzeptiertes Geschlechterverhältnis zu sein. Unter diesen Voraussetzungen ist es kein Wunder, dass das Alleinwohnen von Frauen sozial erkämpft werden musste und in vielen Ländern immer noch erkämpft werden muss. Noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts hatten in Deutschland alleinstehende Frauen (mit Ausnahme von Witwen) in der Regel nur die Wahl zwischen dem Verbleib in der Herkunftsfamilie, dem Leben als „spätes Mädchen“ im Familienhaushalt eines (männlichen) Verwandten oder dem Wohnen als Untermieterin in einem möblierten Zimmer – in letzterem weit weniger akzeptiert als der „möblierte Herr“ und immer Gefahr laufend, eines unmoralischen Lebenswandels bezichtigt zu werden. Dem setzte die erste deutsche Frauenbewegung die Gründung von Damenstiften und Ledigenheimen, Wohnheimen für Postbotinnen, Lehrerinnen, Kellnerinnen oder verwitweten Rentnerinnen entgegen, teilweise kombiniert mit einem professionellen Versorgungsbetrieb, den z.B. Hedwig Schwarz mit dem Hinweis forderte, es sei eine Zumutung für berufstätige Frauen, „nach der Berufstätigkeit noch zu kochen, waschen, scheuern und bügeln, statt wie der berufstä-
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tige Mann, die Freizeit ausschließlich der Erholung und der Weiterbildung zu widmen“ (Schwarz, zitiert nach Terlinden/Grieser/Ross 1999: 20, vgl. Terlinden/von Oertzen 2006). Auch von der ersten deutschen Frauenbewegung wurde also der Zusammenhang zwischen dem gesellschaftlichen Geschlechterverhältnis, insbesondere der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung und der Entwicklung alternativer Lebens- und Wohnformen außerhalb heterosexueller Partnerschaft gesehen (vgl. Becker 2007). Inzwischen ist das Alleinleben von Frauen eine gesellschaftlich anerkannte Lebensweise, die, selbst wenn sie nicht immer freiwillig gewählt werden mag, auch ökonomische Vorteile bringen kann: Nach einer Untersuchung der Arbeitsgemeinschaft Riedmüller/Infratest (2002) haben sich seit 1991 in den alten Bundesländern insbesondere die Einkommen der über 40jährigen ledigen erwerbstätigen Frauen mit hoher beruflicher Qualifikation deutlich verbessert, wobei, das sei als Hinweis gegen allzu große Euphorie angemerkt, angesichts der anhaltenden Arbeitsmarktkrise ein Rückschlag sicherlich nicht auszuschließen ist. Erwiesen ist jedoch, dass Ehe und Partnerschaft Männern berufliche Vorteile, Frauen dagegen Nachteile bringen. Nach einer Untersuchung von Angelika Tölke sind ledige, kinderlose Frauen, gemessen am beruflichen Aufstieg, nicht nur erfolgreicher als Frauen in allen anderen Lebensformen, sondern auch als ledige kinderlose Männer. In allen anderen Lebensformen sind dagegen Männer gegenüber Frauen deutlich im Vorteil (Tölke 1998: 140). Vergleichbares gilt, einer älteren US-amerikanischen Studie zufolge, im Übrigen auch für die psychische Gesundheit, die bei Männern in Ehe und Partnerschaft, bei Frauen außerhalb dieser Lebensform besser ist.
Das alleine Erziehen: bei Frauen weit häufiger als die gemeinsame Kindererziehung in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft Das alleine Erziehen wird immer mehr zur Sache der Frauen. Sie stellten 2006 87% aller Alleinerziehenden, unter den Alleinerziehenden mit minderjährigen Kindern dominieren sie zu 90%). Die größte Gruppe der Alleinerziehenden ist geschieden (43% der Mütter und 52% der Väter), ansonsten sind die Mütter eher ledig (35%), die Väter eher verheiratet getrennt lebend (22%) (alle Daten aus Rübenach/Weinmann 2008: 131f). Die Stigmatisierung der alleinerziehenden Frauen währte, zumindest so weit es sich um ledige oder geschiedene Mütter handelt, in der Bundesrepublik deutlich länger als die der alleinwohnenden Frauen und löste sich erst ab den 1970er Jahren allmählich auf, während die zahlreichen „Kriegerwitwen“ bereits in den 1950er und 1960er Jahren einer eher subtilen Form der Ausgrenzung ausgesetzt waren. Heute scheint die Lebensform des Alleinerziehens gesellschaftlich weitgehend akzeptiert, gilt aber als sozial problematisch. Denn das Alleinerziehen ist in der BRD die Lebensform mit dem höchsten Armutsrisiko. Nach dem Entwurf des 3. Armuts- und Reichtumsberichts liegt das Armutsrisiko von Alleinerziehenden bei 24%, nach Daten des SOEP sogar bei 36% (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2008: 87 und 294). Besonders hoch ist das Armutsrisiko bei Müttern mit mehreren Kindern (Napp-Peters 1995: 168f.). Einer Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (2002) zu Folge leben 49% der Kinder von Alleinerziehenden in Armut, im Vergleich zu 16% der Gesamtbevölkerung. Dabei ist nachgewiesen, dass alleinerziehende Väter deutlich höhere Einkommen haben als alleinerziehende Mütter (Neubauer 1989: 44; Niepel 1994: 61; Schneider u.a. 2000: 62). Zwar gehen die statistischen Angaben über die Armut in der Bundesrepublik auf Grund unterschiedlicher Konzepte und unterschiedlicher Datengrundlagen ziemlich auseinander, doch stimmen sie in der Feststellung eines besonders hohen Armutsrisikos von alleinerziehenden Frauen und ihren Kindern überein. Herausforderungen bestehen für alleinerziehende Frauen nicht nur in ökonomischer Hinsicht. Auch die soziale Anerkennung scheint, darauf deuten jüngste Entwicklungen hin, eher
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brüchig. So wird in Folge des Pisa-Schocks (der internationalen Studie über den Bildungstand von Kindern und Jugendlichen) zumindest in Medien und Politik verstärkt die Bedeutung der elterlichen Erziehung thematisiert. Dabei rückt die Abwesenheit von Vätern zunehmend in den Blick, zumal sich eindeutig die Jungen bzw. männlichen Jugendlichen als die problematischere Gruppe erweisen, was den Ruf nach mehr männlichen Anteilen in der elterlichen und schulischen Erziehung lauter werden lässt. Die Sinnhaftigkeit solcher Forderungen soll dahingestellt bleiben. Welche Veränderungen in der sozialen Positionierung von allein erziehenden Frauen dies auslösen könnte, macht ein Blick über die Landesgrenzen deutlich: In der angelsächsischen Welt, in Großbritannien und den USA, werden Simon Duncan und Rose Edwards (2001, 1996) zufolge Alleinerziehende nicht als soziales Problem, sondern als soziale Bedrohung angesehen: „Lone mothers are seen as a ‘social threat’“, as „formative members of an underclass that has willingly removed itself from legitimate economic rationality and mores, turning instead to state benefits, the unofficial economy, and even crime. (…) Lone mothers, especially those who are single (never married), young, and, in the United States, African American, are seen as active agents in the creation of the ‘urban underclass’ …. The male children in these families, without male authority or role models to follow, drift into delinquency and crime, while the female children learn to repeat the cycle of promiscuity and dependence.“ (ebd. 1996: 213)
Judy Nixon und Caroline Hunter berichten, dass die (von der New-Labour-Regierung mit Priorität betriebene) Politik zur Bekämpfung „anti-sozialen Verhaltens“ im Sozialen Wohnungsbau im Endeffekt dazu führt, dass Frauenhaushalte „Gefahr laufen, ihre Wohnung zu verlieren, weil es ihnen nicht gelingt, das Verhalten ihrer Partner oder ihrer jugendlichen Söhne zu kontrollieren“ (Nixon/Hunter 2001). Alleinerziehende Frauen werden also für ihre Machtlosigkeit gegenüber dominierenden Männern mit dem Verlust ihrer Wohnung bestraft. Dass auch in Deutschland alleinerziehende Frauen auf dem Wohnungsmarkt diskriminiert werden, zeigen einschlägige Studien (vgl. Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau 1991). Alleinerziehende gelten nicht nur wegen ihrer geringen Zahlungsfähigkeit, sondern auch wegen ihrer geringen Chancen auf dem nicht gebundenen Wohnungsmarkt als eine der am meisten auf Sozialwohnungen angewiesenen Gruppen. Trotz solcher Erfahrungen äußern sich nach Norbert F. Schneider u.a. (2001: 240) alleinerziehende Eltern überwiegend zufrieden mit ihrer Lebenssituation, wobei diese Zufriedenheit mit der Dauer des Alleinerziehens wächst (vgl. Niepel 1994: 171), weshalb Alleinerziehende zwar partnerschaftliches Zusammenleben grundsätzlich befürworten, dies jedoch überwiegend in getrennten Haushalten realisieren wollen (N. F. Schneider u.a. 2001: 68).
Leben in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften: Von Frauen weniger praktiziert oder häufiger verschwiegen? Seit 1996 wird im Mikrozensus allen mit der „Haushaltsbezugsperson“ nicht verwandten Haushaltsmitgliedern unabhängig vom Geschlecht die Frage gestellt, ob sie/er Lebenspartner(in) der Haushaltsbezugsperson sei. Da das Geschlecht aller Personen erhoben wird, kann daraus auf gleichgeschlechtliche Paare geschlossen werden. Allerdings ist die Beantwortung der Frage freiwillig, außerdem kann der Wahrheitsgehalt naturgemäß nicht überprüft werden. Immerhin haben im Jahr 2006 62.000 Paare eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft angegeben, davon sind 39.000 Männerund 23.000 Frauenpaare (Statistisches Bundesamt 2008: Tabelle 2.2). Bei rund 10% der Frauenpaare leben Kinder, bei den Schwulenpaaren liegt die Zahl der Paare mit Kindern unter der Nachweisgrenze (Statistisches Bundesamt 2008: Tabelle 2.2, eigene Berechnungen) Ob Lesben tatsächlich seltener mit einer Partnerin zusammenwohnen als schwule Männer, kann aus diesen Zahlen nicht zweifelsfrei geschlossen werden, da lesbische Lebensweise noch
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mehr als schwule in Teilen der Gesellschaften immer noch tabuisiert wird bzw. weil offenbar viele lesbisch lebende Frauen immer noch Angst haben, durch das Offenlegen ihrer Lebensweise Nachteile zu erfahren (Stein-Hilbers u.a. 1999: 165ff.). Dass die Daten nur grobe Schätzungen sind, das lässt auch die Tatsache vermuten, dass die Zahl der Lesbenpaare von 2003 auf 2006 um 3.000 ab- und die der Schwulenpaare um 7.000 zugenommen hat. Längerfristig ist jedoch sowohl die Zahl der Frauen- als auch die Männerpaare, die sich in der Mikrozensuserhebung als gleichgeschlechtlich lebend eingestuft haben, deutlich gestiegen, und zwar um 53% bei den Frauen und um 70% bei den Männern (Statistisches Bundesamt 2006a: 34). Aktuelle Studien über die Wohnformen lesbischer Frauen in der BRD liegen nicht vor. Susanne von Paczensky kam 1981 zu dem Ergebnis, dass 58% der von ihr befragten lesbisch lebenden Frauen eine feste Partnerin hatten, aber nur 17% mit dieser Partnerin zusammen wohnten. Antke Akkermann, Sigrid Betzelt und Gabriele Daniel (1989) ermittelten einige Jahre später 54% Lesben mit fester Partnerin und 24%, die mit dieser Partnerin zusammen wohnten. Auch wenn danach der Anteil der Lesben, die mit einer Partnerin wohnen, etwas gestiegen zu sein scheint, ist das „living apart together“ bei Lesben offensichtlich um ein Vielfaches häufiger verbreitet als bei heterosexuellen Paaren. Allerdings sind beide Studien aufgrund der kleinen Stichproben nicht repräsentativ. Immerhin zeigen erste Daten über die „Verpartnerung“ nach dem seit August 2001 geltenden Lebenspartnerschaftsgesetz, dass Lesben diese Möglichkeit weit seltener nutzen als Schwule. In Berlin liegt beispielsweise das Verhältnis bei etwa 1:3 (Statistisches Landesamt Berlin 2005). Bezüglich der Frage, ob der geringe Anteil zusammenwohnender Lesben eine bewusste Entscheidung oder das Ergebnis einer Diskriminierung am Wohnungsmarkt ist, sind mangels einschlägiger aktueller Untersuchungen nur Vermutungen möglich. Die allerdings knapp 20 Jahre alte Untersuchung von Rheinberg und Rossbach (1985) deutet zumindest darauf hin. Etwas aktuellere Studien liegen aus Großbritannien vor. Gill Valentine (1993) sowie Julia Smailes (1994) berichten von Diskriminierungen von Lesben am Wohnungsmarkt – und von deren Versuchen, ihre Lebensweise vor Vermietern, Nachbarn, Handwerkern usw. zu verbergen – deutliche Belege der Wirkmächtigkeit der in zweigeschlechtlich konstruierten Gesellschaften konstitutiven Heteronormativität, auf die (wenn auch ohne expliziten Bezug zum Wohnen) Ulrike Hänsch (2003) als Ergebnis ihrer Untersuchung über lesbische Frauen in deutlicher Abgrenzung zur Beck’schen These zunehmender „Wahlfreiheit“ hinweist.
Wohnungslosigkeit: Folge des Ausbruchs aus Gewaltbeziehungen? Das Leben ohne (eigene) Wohnung gilt in sozialwissenschaftlichen Studien nicht als Wohnoder Lebensform. Trotzdem gehört Wohnungslosigkeit insbesondere von Frauen in den Kontext gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse, die zur Entwicklung neuer Lebens- und Wohnformen führen. Denn Wohnungslosigkeit von Frauen ist zw,ar keine freiwillige Lebensform, vielfach jedoch ebenfalls Konsequenz der Nicht-Akzeptanz des bestehenden Geschlechterverhältnisses. Der Frauenanteil unter den Wohnungslosen (ohne AussiedlerInnen) wird für 2006 auf 25%, das sind ca. 64.000 Frauen (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2008: XLI), geschätzt. Nach Erhebungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe aus dem Jahr 1997 sind bei mehr als zwei Dritteln aller alleinstehenden wohnungslosen Frauen Gewalt oder eskalierende Konflikte in der Wohnung Ursachen für die Wohnungslosigkeit: Bei 37,5% gingen der Wohnungslosigkeit Trennung und Scheidung voraus, bei 21% der Auszug aus der elterlichen Wohnung und bei 10% die Gewalt des Partners und Ehemannes (BAG Wohnungslosenhilfe 1997). Wie bedrohlich die Situation für viele Frauen in der Wohnung ist, zeigt die Tatsache, dass 24%
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der alleinstehenden wohnungslosen Frauen ihre Wohnung ohne Kündigung verlassen und weitere 16% selbst gekündigt haben. Nach neueren Erhebungen ging die Bedeutung von Scheidungen auf 22% zurück, während der Anteil der Frauen, die wegen Gewalterfahrungen ihre Wohnungen verloren, auf 16% aller wohnungslosen Frauen stieg. 46% aller Frauen, die „vor Partnergewalt ins Frauenhaus fliehen, sind auf Leistungen des SGB II angewiesen“ (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2008: XLI). Allerdings treten wohnungslose Frauen im öffentlichen Raum weniger in Erscheinung (Geiger/Steinert 1991), mit ein Grund dafür, dass die Wohnungslosigkeit von Frauen erst in den letzten Jahren von Politik und Öffentlichkeit wahrgenommen und die Notwendigkeit spezifischer Einrichtungen und Unterstützungsleistungen erkannt und umgesetzt wurden (Enders-Dragässer/Sellach 2005, Enders-Dragässer u.a. 2000, Enders-Dragässer 1997, Rosenke 1996). Außerhalb des Hilfesystems wenig bekannt ist außerdem die Tatsache, dass ein erheblicher Teil der „alleinstehenden“ Wohnungslosen Kinder haben, mit denen sie jedoch wegen ihrer prekären Lebenslage nicht zusammenleben können (Enders-Dragässer/Sellach 2005, Riege 1993).
Wohngemeinschaften und Wohnprojekte von Frauen: Zwischen Aufbruch und Normalität Die Wohngemeinschaft, verstanden als das Zusammenwohnen von Personen, die weder verwandt sind noch in einer partnerschaftlichen Beziehung lebten, war bis in das 20. Jahrhundert hinein in Deutschland eher die Regel als die Ausnahme. In bäuerlichen Haushalten lebten Knechte und Mägde, in bürgerlichen Haushalten Dienstboten mit der „Herrschaft“ unter einem Dach; Handwerksbetriebe boten Gesellen Unterkunft. In den elenden Arbeiterquartieren waren SchlafgängerInnen und AftermieterInnen weit verbreitet. Insgesamt lebten in Preußen 1861 in mehr als der Hälfte aller „Familienhaushalte“ (Mehrpersonenhaushalte) „Familienfremde“. Ende des 19. Jahrhunderts ging der Anteil der Haushalte mit Familienfremden deutlich zurück: 1910 waren es nur noch 26% (vgl. Bretz/Niemeyer 1992: 78). Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden zur Behebung der eklatanten Wohnungsnot Zwangswohngemeinschaften (Belegung eine Wohnung durch mehrere Familien) aufgrund eines Kontrollratsgesetzes flächendeckend durchgesetzt. Erst die Wohnungsbauleistungen der Nachkriegszeit ließen die kleinfamiliale Wohnform allmählich zur Regel werden. Die ersten Wohngemeinschaften im heutigen Sinne – damals Kommunen genannt – entstanden 1968 im Zuge der Studentenbewegung als bewusste Abkehr von der als reaktionär angesehenen Wohnform der bürgerlichen Kleinfamilie. Der revolutionäre Impetus schwand, die WG als studentische Wohnform ohne kulturrevolutionären Anspruch etablierte sich in erster Linie als eine auf die Zeit der Postadoleszenz bzw. der Ausbildung beschränkte Wohnform. Im Jahr 2006 wohnten 26% der Studentinnen und 24% der Studenten in einer Wohngemeinschaft (vgl. Isserstedt u.a. 2007: 348). Zunehmend existieren jedoch auch Wohngemeinschaften von Erwachsenen jenseits der Postadoleszenz, denn nach Schneider/Rosenkranz/Limmer (1998) sind immerhin 44% der Mitglieder in Wohngemeinschaften älter als 35 Jahre. Als dauerhaft angelegte gemeinschaftliche Wohnform haben inzwischen auch Formen des Zusammenlebens an Bedeutung gewonnen, bei denen nicht mehr eine Wohnung sondern ein Gebäude oder ein Gebäudekomplex mit getrennten Wohnungen gemeinsam bewohnt wird. Vom normalen Geschosswohnungsbau unterscheiden sich diese „Wohnprojekte“ durch den Anspruch an eine mehr oder weniger ausgeprägte Gemeinschaftlichkeit, die häufig durch gemeinsame Einrichtungen (Gemeinschaftsräume u.Ä.) unterstützt wird (vgl. Brech 1999). Wohnprojekte werden überwiegend von Familien gegründet, wobei meist Frauen, die aus der Enge der Kleinfamilie und aus der Einbindung in die isolierte Reproduktionsarbeit ausbrechen wollen und sich vom Zusammenleben mit anderen Familien gegenseitige Unterstützung bei
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der Reproduktionsarbeit, insbesondere der Kindererziehung, erhoffen, die treibende Kraft sind (vgl. U. Schneider 1992). Nach Ulrike Schneider findet diese Unterstützung in aller Regel auch statt – und zwar weit häufiger als die ebenfalls angestrebte Umverteilung der Haus- und Reproduktionsarbeit zwischen den (Ehe-)Partnern. Eine radikalere Abkehr von tradierten Geschlechterkonstellationen praktizieren jene Wohnprojekte, die explizit auf das Zusammenleben von Frauen ausgerichtet sind. Die ersten dieser Frauenwohnprojekte entstanden im Kontext der autonomen Frauenbewegung vor 30 Jahren, einige dieser Projekte existieren noch heute (vgl. Becker 2009). Auch wenn sich die politischhistorische Kontextualisierung etwas gewandelt hat (viele der neuen Projekte knüpfen explizit an die mittelalterlichen Beginen an, wenn auch unter Ausblendung der religiösen Aspekte), sind die Zielsetzungen doch weitgehend gleich geblieben: Es geht um ein nicht-hierarchisches Zusammenleben von Frauen (mit und ohne Kinder) mit gegenseitiger Unterstützung und Respekt, eine Form der Gemeinschaft, die Kommunikation bietet, aber Rückzug erlaubt – als Antwort sowohl auf das kleinfamiliale wie das isolierte Alleinwohnen. Der Grad der angestrebten Gemeinschaftlichkeit variiert ebenso wie die Zahl der Beteiligten (das größte bisher realisierte Projekt, der Bremer Beginenhof, hat 85 Wohnungen). Gemeinsam sind den Projekten allerdings die Schwierigkeiten bei der Realisierung (vgl. Becker 2009).
Ausblick Die Entwicklung neuer Lebens- und Wohnformen jenseits der Kleinfamilie ist mehr als ein Zeichen gesellschaftlicher Pluralisierung und erweiterter Wahlmöglichkeiten. Sie ist Teil eines gesellschaftlichen Prozesses der Veränderung des Geschlechterverhältnisses, der, wie die Beispiele gezeigt haben, nicht ohne erhebliche Friktionen verläuft. Zukünftige Aufgabe der Frauen- und Geschlechterforschung ist es, diese Veränderungsprozesse genauer zu erforschen und insbesondere das Zusammenwirken sozioökonomischer Beschränkungen, politischer Regulierungen und gesellschaftlicher Bewertungen/Abwertungen zu beleuchten, aber auch die in der Entwicklung liegenden Potenziale herauszuarbeiten. Notwendig scheint dafür eine international vergleichende Forschung. Verweise: Armut Familie Raum
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Brigitte Sellach
Armut: Ist Armut weiblich?
Bereits seit Mitte der 1970er Jahre wird in der Frauenforschung die große Bedeutung von Armut für Frauen mit dem Begriff „Feminisierung der Armut“ (vgl. Pfaff 1992, Gerhard 1999) bzw. mit der These „die Armut ist weiblich“ (vgl. Köppen 1985, Reinl 1997) hervorgehoben. Die geschlechtsspezifischen Armutsrisiken für Frauen wurden in den Strukturen der geschlechtlichen Arbeitsteilung, der Diskriminierung von Frauen auf dem Erwerbsarbeitsmarkt und im System der sozialen Sicherung (vgl. Riedmüller 1984, 1985’ Ostner 1994) verortet. In neueren Studien wird darüber hinaus auf die Bedeutung des Gewaltpotenzials im häuslichen Bereich als spezifisch weiblichem Armutsrisiko hingewiesen (vgl. Enders-Dragässer u.a. 2000). Die Lebenssituation von armen Frauen „in besonderen Lebenslagen“, z.B. wohnungslosen Frauen, Frauen mit einer Behinderung, Migrantinnen, Frauen mit einer Sucht- oder Drogenabhängigkeit, wird außerdem noch einmal als deprivierter charakterisiert als die von Männern in vergleichbaren Situationen, wobei die Geschlechtszugehörigkeit als Ursache dafür gilt (vgl. Köppen 1994). Im Mainstream der deutschen sozialwissenschaftlichen Armutsforschung wurde bis in die 1990er Jahre auf phänomenologischer Ebene die These von der „Feminisierung“ der Armut zwar geteilt, weil sie von den statistischen Befunden, z.B. dem deutlich geringeren durchschnittlichen Einkommen allein lebender Frauen, ihrem überproportional hohen Anteil an den SozialhilfeempfängerInnen oder der hohen Armutsbelastung alleinerziehender Mütter, eindrücklich belegt wurde. Die theoretischen Begründungen für die spezifischen weiblichen Armutsrisiken haben dagegen noch kaum Eingang in die „Mainstream“-Forschung gefunden. Zum Beispiel wird als theoretisches Erklärungsmodell von Armut der Ansatz des dualen (primären und sekundären) Erwerbsarbeitsmarktes (vgl. Neumann 1999) genannt, ohne dass die geschlechtsspezifische Teilung gesellschaftlicher Arbeit, der Erklärungsansatz aus der Frauenforschung, darin einbezogen wird. Inzwischen wird aufgrund der statistischen Zunahme von Sozialhilfeempfängern bei Kindern und Männern auch die strukturell begründete höhere Sozialhilfeabhängigkeit von Frauen vernachlässigt und eine besondere Armutsbelastung von Frauen verneint (vgl. Hauser 1997). Die wachsende Zahl von Frauen mit eigenem Einkommen aufgrund ihrer zunehmenden Erwerbsbeteiligung und die große Zahl der Bezieherinnen von Doppelrenten (eigenen Renten und Hinterbliebenenrenten) werden in diese Richtung gedeutet. Stattdessen wird auf das höhere Armutsrisiko von Kindern und Jugendlichen verwiesen (vgl. Neumann 1999), ohne dass dieses Phänomen jedoch mit der Lebenssituation ihrer Eltern bzw. ihrer Mütter verknüpft wird (vgl. Riedmüller 1985). International wird davon ausgegangen, dass 70% der in Armut lebenden Menschen Frauen sind (vgl. http://www.aktionsprogramm/ 2015.de). Die Bekämpfung der Armut von Frauen war daher ein Schlüsselthema bei der vierten Weltfrauenkonferenz 1995 in Beijing (vgl. UN 1995). Die kontroverse Einschätzung zu Armutsrisiken und zum Umfang weiblicher Armut hat einen Ursprung im weitgehenden Fehlen geschlechtsdifferenzierender Daten. In der Regel werden wegen des Haushaltsansatzes in der Armutsforschung die Merkmale zur sozialen Kennzeichnung von Haushalten, wie Bildungsstand oder soziale Stellung, nur für die Haushaltsvorstände ausgewiesen – wobei diese Rolle weiterhin (soweit vorhanden) dem Mann zugeschrieben wird.
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Wenn neuerdings als Bezugsperson das Haushaltsmitglied gilt, das am meisten zum Haushaltseinkommen beiträgt, sind das in der Regel wieder Männer. Darüber hinaus wird das Haushaltseinkommen nicht nach dem tatsächlichen Beitrag dazu auf die Hauhaltsmitglieder verteilt, sondern nach dem OECD-Modell des Äquivalenzeinkommens gewichtet. Grundlage für die Gewichtung ist die Annahme, dass größere Haushalte durch die gemeinsame Haushaltsführung Einspareffekte haben. Das bedeutet, dass für die Ermittlung des Einkommens für jede Person das Haushaltseinkommen nicht durch die Zahl der Haushaltsangehörigen geteilt wird, sondern nach den in der neuen (alten) OECD-Skala definierten Werten gewichtet wird: für den Haushaltsvorstand werden 1,0 (1,0), jeder weiteren Person über 15 Jahre 0,5 (0,7) und jeder Person unter 15 Jahre 0,3 (0,5) anteilig zugerechnet (vgl. Hauser 2002). Als Ergebnis der unterschiedlichen Gewichtung ist das durchschnittliche Äquivalenzeinkommen für die Gesamtbevölkerung bei der alten OECD-Skala niedriger als bei der neuen (vgl. BMA 2001). Wenn nun das Äquivalenzeinkommen als Personeneinkommen genommen wird, werden Frauen, unabhängig davon, ob und was sie zum Haushaltseinkommen beitragen, z.B. mit einer höher qualifizierten Tätigkeit als der Partner oder mit einer geringfügigen Beschäftigung, immer mit einem ihrer realen Einkommenssituation nicht entsprechenden Einkommen aufgeführt. Frauenspezifische Armutsrisiken aufgrund von unzureichendem eigenem Einkommen können wegen dieser statistischen Darstellung der Haushaltseinkommen nicht erfasst werden. Um die unterschiedlichen Befunde der Armutsforschung des „Mainstream“ und die der Frauenforschung miteinander verknüpfen zu können, wurde im wissenschaftlichen Gutachten zu Ursachen und Umfang der Armut von Frauen (Sellach 2000) zum ersten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung zwischen sozialer Ungleichheit zwischen den Geschlechtern, den strukturell begründeten Armutsrisiken für Frauen und der tatsächlichen Armut von Frauen unterschieden. Denn es geht nicht darum nachzuweisen, dass Frauen ärmer sind als Männer, sondern die Ursachen und Erscheinungsformen weiblicher Armut zu ermitteln und zu untersuchen, inwieweit sie geschlechtsspezifisch begründet, also „weiblich“ sind.
Soziale Ungleichheit Unabhängig von jeder Definition einer Armutsschwelle ist die soziale Ungleichheit zwischen den Geschlechtern empirisch nachgewiesen. So ist beispielsweise das Berufsspektrum, das Frauen zur Verfügung steht und von ihnen selbst gewählt wird, immer noch sehr eng. Sie verdienen weiterhin erheblich weniger als Männer (vgl. BMFSFJ 2002). Sie arbeiten in hohem Ausmaß in Teilzeit oder unterbrechen ihre Erwerbsarbeit wegen „häuslicher Bindungen“. Sie beziehen ihre Existenzsicherung und ihre sozialen Rechte nicht wie Männer hauptsächlich aus formellen Arbeitsverhältnissen, sondern eher aus Transfereinkommen und häufig auch mit informeller Erwerbsarbeit. Die nachteiligen Konsequenzen, die Frauen aus ihrer gesellschaftlichen Verpflichtung für die Haus- und Familienarbeit erwachsen, sind allerdings nicht mit Armut gleichzusetzen, bergen jedoch ein Armutsrisiko, das dann manifest wird, wenn das soziale Arrangement des partnerschaftlichen Unterhalts zusammenbricht. Zur Messung von sozialer Ungleichheit zwischen den Geschlechtern können der Gender Development Index (GDI) und der Gender Empowerment Measure (GEM) der UN herangezogen werden. Mit den Dimensionen Lebenserwartung als Indikator für ein gesundes, langes Leben, Freiheit von Krankheiten und Quantität bzw. Qualität der Ernährung, Alphabetisierungsgrad als Indikator für die Bildung von Humankapital und reales Pro-Kopf-Einkommen als Indikator für den Zugang zu ökonomischen Ressourcen werden im GDI der Lebensstandard und die bestehende soziale Ungleichheit zwischen Frauen und Männern gemessen. Der GEM ist ein Maß für die relative Macht von Frauen und Männern im politischen und wirtschaftlichen Leben, mit den Teildimensionen Anteil von Männern und Frauen an allen Arbeitsplätzen in Verwal-
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tung und Managementpositionen, an qualifizierten und technischen Berufen und an Parlamentssitzen (vgl. Deutscher Bundestag 2002).
Armutsrisiken Frauen mit und ohne Kinder, die mit Männern zusammenleben, werden prinzipiell als nicht arm angesehen, wenn das Haushaltseinkommen insgesamt oberhalb der Einkommensgrenze der Grundsicherung für Arbeitssuchende (ALG II) liegt, auch wenn die Frauen kein eigenes oder nur ein nicht Existenz sicherndes Einkommen haben. Frauen tragen in dieser Lebenssituation jedoch ein Armutsrisiko. Denn beim Versagen dieser familialen Subsidiarität, z.B. bei Trennung oder Scheidung oder bei der Flucht aus von Gewalt geprägten Lebensverhältnissen, drohen sie zu verarmen, wenn sie keine eigenen Einkommensquellen haben bzw. wegen der Versorgung von Kindern oder pflegebedürftigen Angehörigen einer existenzsichernden Erwerbstätigkeit nicht nachgehen können.
Armut Armut wird verstanden als existenzielle Notlage durch den Mangel an materiellen Gütern – insbesondere Lebensmitteln –, aber auch an Arbeit, Geld, Wohnung, Kleidung. Dabei wird zwischen absoluter und relativer Armut unterschieden. Als absolut arm gilt, wer nicht über genügend Mittel für das physische Überleben verfügt. Obwohl dieses Armutsphänomen auch in der Bundesrepublik existiert, z.B. bei Obdachlosigkeit oder im Pflegefall, wird in Deutschland vom Konzept der relativen Armut ausgegangen, nach dem arm ist, wessen Ressourcen – gemessen an den durchschnittlich in der Gesellschaft zur Verfügung stehenden Ressourcen – unterhalb einer gesellschaftspolitisch definierten Armutsschwelle liegen. Mit der Festlegung dieser Armutsschwelle wird gesellschaftspolitisch entschieden, welchen „Grad an Ungleichheit von Lebenschancen und Lebensbedingungen wir in dieser reichen Gesellschaft als gegeben hinzunehmen bereit sind“ (Hanesch u.a. 1994: 23). Die Armutsmessung erfolgte in Deutschland bisher weitgehend auf der Grundlage des Ressourcen-Ansatzes, fast ausschließlich bezogen auf monetäre Größen, dem verfügbaren Individual- und Haushaltseinkommen (vgl. Meier/Preuße/Sunnus 2002). Die Armutsschwelle wurde zum einen bei 50 bzw. 60 Prozent des durchschnittlichen nach dem – alten oder neuen – OECD-Modell gewichteten Pro-Kopf-Einkommens der Haushalte festgesetzt (Einkommensarmut). Zum anderen wird sie nach Einführung von SGB II bei der Einkommensgrenze von ALG II angesetzt, zurzeit die gesellschaftlich normierte Vorgabe für ein Einkommensminimum, bei dessen Unterschreitung ein Rechtsanspruch auf staatliche Transferleistungen besteht. In der um immaterielle Faktoren erweiterten EU-Definition von 1984 gelten die Personen, Familien und Gruppen als arm, „die über so geringe (materielle, kulturelle und soziale) Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedstaat, in dem sie leben, als Minimum annehmbar ist“ (vgl. BMA 2001). Aus Sicht der Frauenforschung wirft dieses Konzept zwei Probleme auf: Zum einen sind die wissenschaftlichen Grundlagen für die Messung der quantitativen Dimensionen von Armut in einer geschlechterdifferenzierten Weise noch sehr unzureichend. Zum anderen vernachlässigt ein auf das Einkommen reduzierter Ansatz die qualitativen Dimensionen von Armut und ihre Ursachen, wie beispielsweise soziale Ausgrenzung, gesundheitliche Beeinträchtigung oder eingeschränkte Partizipation am gesellschaftlichen Leben. Die v.a. Frauen betreffenden gesellschaftlich strukturierten Lebensverhältnisse, die als Ursachen für ein spezifisch weibliches Armutsrisiko und für spezifisch weibliche Erscheinungsformen von Armut gelten, sind:
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– die Probleme, die Frauen haben, ein eigenständiges existenzsicherndes Einkommen zu erwirtschaften; – die geschlechtsspezifische vertikale und horizontale Segregation von Arbeits- und Berufsfeldern; – die Ausgrenzung von nicht erwerbstätigen verheirateten Frauen aus dem System der sozialen Sicherung; – die männliche Gewalt im häuslichen Umfeld. Der an gesellschaftlich definierten Standards gemessenen Armut von Frauen gehen daher frauentypische Armutsrisiken voraus, die auch auf der strukturell begründeten sozialen Ungleichheit der Geschlechter beruhen.
Theorieansätze in der Armutsforschung Die wissenschaftliche Armutsdiskussion hat durch die Armutsberichterstattung der Bundesregierung neue Impulse erhalten, insbesondere durch die systematische Einführung des „Lebenslagen-Ansatzes“ in die wissenschaftliche Diskussion, einem Theoriekonzept der Sozialpolitikforschung, und durch die international verbindlich vereinbarte Gleichstellungsstrategie Gender Mainstreaming. Im Begriff der „Lebenslage“ wird das Zusammenwirken unterschiedlicher Faktoren in den konkreten Lebensverhältnissen von Individuen und sozialen Gruppen theoretisch gefasst. Neben den objektiven – materiellen und immateriellen – Dimensionen einer Lebenslage werden auch die subjektiven Dimensionen ihrer Bewältigung berücksichtigt, z.B. Befindlichkeit, Gesundheit oder die je individuellen Bewältigungsstrategien. Der Begriff „Lebenslage“ wird als individueller Handlungsrahmen oder Spielraum definiert, der von einer Vielzahl von individuell nicht beeinflussbaren äußeren bzw. strukturellen Merkmalen der Existenz bestimmt ist. Diesen Rahmen bzw. Spielraum haben Einzelne bzw. Paare oder Familien für die Befriedigung der Gesamtheit von materiellen und immateriellen Bedürfnissen und Interessen zur Verfügung und füllen ihn jeweils individuell und in ihrem sozialen Kontext aus. Mit diesem theoretischen Modell können daher neben ökonomischen Faktoren, die in der Regel quantifiziert abgebildet werden, auch andere die „Lebenslage“ kennzeichnende qualitative Faktoren in die Analyse einbezogen werden. „Spielräume“ auf den unterschiedlichen Handlungs- bzw. Entscheidungsebenen sind: – Versorgungs- und Einkommensspielraum; – Kontakt- und Kooperationsspielraum; – Lern- und Erfahrungsspielraum; – Muße- und Regenerationsspielraum; – Dispositions- und Partizipationsspielraum. Allerdings sind die „Lebenslagen“ von Frauen in dem theoretischen Modell des „LebenslagenAnsatzes“ ohne die Berücksichtigung der Geschlechterdifferenz erst unvollständig beschrieben. Vor allem fehlt in dem durchgängig geschlechtsneutral und individualistisch formulierten Konzept der Blick auf die Struktur der geschlechtlichen Arbeitsteilung. Zu den Handlungs- bzw. Entscheidungsebenen und damit zu den „Spielräumen“ gehören daher weiter: 1. der Sozialbindungsspielraum als Spielraum, der von sozialen bzw. häuslichen Bindungen bestimmt wird: Gemeint sind Belastungen und Entlastungen, Versorgung und Verpflichtungen durch Mutterschaft/Vaterschaft, durch Familienzugehörigkeit, durch Ehe und Partnerschaft, Familienangehörige und soziale Hilfen für Dritte. Soziale Bindungen und Beziehungen entscheiden über den Zugang zu Ressourcen, den Zugang zu materiellen und sozialen Bedürfnis-
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sen und über Schutz. Umgekehrt können soziale Bindungen und Beziehungen die Verpflichtung zur Bedürfnisbefriedigung und Versorgung für Angehörige beinhalten und sind daher in der Regel mit materiellen Versorgungsverpflichtungen verbunden; 2. der Geschlechtsrollenspielraum: Gemeint sind offene und verdeckte Benachteiligungen von Frauen bzw. offene und verdeckte Privilegierung von Männern: z.B. die Eingrenzung von Handlungsspielräumen und materiellen Rechten aufgrund von Geschlechtsrollen-Festlegungen durch die geschlechtliche Arbeitsteilung, Benachteiligungen auf dem Arbeitsmarkt bzw. in der sozialen Absicherung. Darin enthalten sind strukturell begründete Benachteiligungen und versteckte Diskriminierungen; 3. der Schutz- und Selbstbestimmungsspielraum: Gemeint sind Gesundheit, körperliche, seelische und mentale Integrität, Sicherheit vor Gewalt und Nötigung, aktive und sexuelle Selbstbestimmung, als Handlungsspielraum für ein selbst bestimmtes Leben auch bei körperlichen, seelischen oder geistigen Beeinträchtigungen, als Recht auf eigenständiges Wohnen (vgl. Enders-Dragässer/Sellach 2002). Der Schutz- und Selbstbestimmungsspielraum wird bestimmt/begrenzt von Bedrohungen bzw. Erfahrungen mit männlicher Gewalt, durch von Gewalt geprägten Familien- und Beziehungssituationen, die häufig bereits in der Kindheit begonnen haben. Der „Lebenslagen-Ansatz“ galt bisher als ein weitgehend nur theoretisches Konzept, dessen empirische Bestimmung wegen der Komplexität der Datenmengen noch aussteht. An der Operationalisierung dieses Ansatzes mit empirischen Daten wurde nun im Rahmen der Armuts- und Reichtumsberichterstattung gearbeitet (vgl. Voges u.a. 2001). In dem Konzept von Voges (2003) werden beispielsweise theoretisch plausible Indikatoren in verschiedenen Dimensionen, wie Einkommen, Erwerbsbeteiligung oder Bildung gebildet, von deren Ausprägung her das Versorgungsniveau bzw. Schwellenwerte für eine Unterversorgung bestimmt werden. Die subjektive Ebene wird als subjektive Zufriedenheit mit der Ausstattung mit materiellen und immateriellen Gütern ermittelt. Im Konzept von Andreß (2003) wiederum fließt die subjektive Dimension bereits in die Bildung von Indikatoren ein, die durch eine Befragung gewonnen werden. Als Indikatoren werden in beiden Konzepten materielle und immaterielle Güter bestimmt, z.B. das Vorhandensein einer täglichen warmen Mahlzeit (Andreß 2003: 19) oder die Haushaltsausstattung mit den Ausstattungsgütern PKW, TV, Video oder Telefon (Voges 2003: 23). Hammer (2002) hat inzwischen mit quantifizierten empirischen Befunden zur Situation von alleinerziehenden Frauen in Thüringen den Geschlechtsrollenspielraum der Frauen abgebildet. Ein anderer Weg der Operationalisierung des Lebenslagen-Ansatzes wurde im Rahmen der Auswertung der repräsentativen Daten der Zeitbudgetstudie 2001/2002 beschritten mit Blick auf die Unterschiede der „Lebenslagen“ von Frauen und Männern (vgl. Sellach/Enders-Dragässer/Libuda-Köster 2004). Als Ergebnis lassen sich geschlechtsspezifische Muster der Zeitverwendung nachzeichnen. Gender Mainstreaming ist als Gleichstellungsstrategie von der Bundesregierung eingeführt worden und wird verbindlich in der Ressortforschung umgesetzt. Für die Ressortforschung bedeutet Gender Mainstreaming, in allen Phasen gleichstellungsorientiert zu handeln. Fragestellungen müssen geschlechtsdifferenziert formuliert und bearbeitet, Daten differenziert erhoben, die Ergebnisse geschlechterdifferenziert dargestellt werden. Dazu gehört auch die geschlechtergerechte Sprache. Gender Mainstreaming in der Ressortforschung bedeutet zudem, einen Gender-Bias zu vermeiden, der zu unbeabsichtigten systematischen Verzerrungseffekten und Auslassungen führt. Die systematische Beachtung der Kategorie Gender in der Forschung erzwingt ein Umdenken in den Methoden, Prämissen und Fragestellungen (vgl. http://www.gender-mainstreaming.net). Da im Rahmen der nationalen und internationalen Armuts- und Reichtumsberichterstattung Armutsforschung weitgehend Ressortforschung ist, wird die Anwendung von Gender Mainstreaming von den öffentlichen Auftraggebern langfristig auch zu einer Neuorientierung der „Mainstream“-Forschung führen.
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Aktuelle Befunde zur Armut von Frauen Aktuelle Befunde zur Armutssituation von Frauen sind im ersten und zweiten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung (BMA 2001, 2005) und in den verschiedenen wissenschaftlichen Gutachten dazu enthalten. In beiden Berichten wird die Bedeutung der Familienverpflichtung – der „häuslichen Bindung“ – als spezifische Ursache weiblicher Armut durchgängig ausdrücklich hervorgehoben. Die besonderen Armutsrisiken von Frauen werden beispielsweise mit den Defiziten eines bedarfsgerechten Kinderbetreuungssystems begründet. Der bestehende Familienleistungsausgleich wird als nicht ausreichend bezeichnet, um bei Erwerbslosigkeit oder Familienpflichten gegenüber Kindern die Armut von Kindern und damit auch die Armut von alleinerziehenden Müttern bzw. Eltern zu verhindern. Gewalt im sozialen Nahraum wird als ein Armutsrisiko insbesondere für Frauen und ihre Kinder ausdrücklich genannt. Die besondere Armutsgefährdung von Alleinerziehenden, die zu 84% Frauen sind, wird in fast allen Kapiteln des ersten Berichtes herausgearbeitet. Das kann als eine der zentralen Erkenntnisse zu frauenspezifischen Armutsrisiken und -belastungen des Berichtes gewertet werden. So bezogen beispielsweise 1998 28,1% aller allein erziehenden Frauen Hilfe zum Lebensunterhalt (Sozialhilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz), wobei die Quote in den alten Bundesländern mit 32% fast doppelt so hoch war wie die in den neuen Ländern (einschließlich OstBerlin – 17%). Die folgenden Befunde sind im ersten Bericht und den dazugehörenden wissenschaftlichen Gutachten enthalten. Auch Erwerbstätigkeit schützt alleinerziehende Frauen nicht sicher vor Armut: 14,5% der Haushalte von erwerbstätigen allein erziehenden Frauen waren 1998 in den alten Bundesländern arm (gemessen an einer 50%-Armmutschwelle nach der alten OECD-Skala). Die Armutsquote dieses Hauhaltstyps lag deutlich über dem Durchschnitt der Haushalte. Fehlende Unterstützungsleistungen für die Kinder wurden als ein wichtiger Grund für die Zugehörigkeit zum Niedrigeinkommensbereich ermittelt, insbesondere die nicht regelmäßigen Zahlungen von vereinbarten oder per Rechtsbescheid vorgegebenen Unterhaltsleistungen. Der Hilfebedarf wird mit jedem zusätzlichen Kind im Haushalt größer. Im früheren Bundesgebiet ist der Haushaltstyp der Alleinerziehenden in den vergangenen zwanzig Jahren zur zentralen Problemgruppe unter den Bedarfsgemeinschaften der EmpfängerInnen von ALG II geworden. Alleinerziehende Frauen tragen daher ein besonders hohes Armutsrisiko. Die These, dass die zunehmende „Infantilisierung“ der Armut zugleich eine Zunahme der „Feminisierung“ der Armut ist, wird mit diesen Daten bestätigt. Denn Kinder, die in relativer Einkommensarmut leben, gehörten mit einem Viertel überproportional häufig Haushalten von Alleinerziehenden an, von denen zwei Drittel nicht erwerbstätig waren. Auch in anderen Lebensbereichen, z.B. in der Versorgung mit Wohnraum, wurden Einschränkungen für Alleinerziehende ermittelt. Auch wenn die Daten im Bericht häufig noch geschlechtsneutral präsentiert werden, lassen sich die Ursachen von Armut auch in Familien insoweit erschließen, als sie auf den Problemen der Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Familienarbeit beruhen, durch die die Möglichkeiten von Frauen für eine eigene Existenz sichernde Erwerbstätigkeit begrenzt werden. So wurden 1998 im früheren Bundesgebiet die höchsten Armutsquoten insbesondere für Haushalte im Niedrigeinkommensbereich mit einem erwerbstätigen und einem nicht erwerbstätigen Haushaltsvorstand, v.a. bei Paarhaushalten mit minderjährigen Kindern (29,6%) ermittelt. Bei Erwerbslosigkeit hatten im früheren Bundesgebiet 1998 Paarhaushalte mit minderjährigen Kindern mit einem arbeitslosen und einem nicht erwerbstätigen Partner mit 49,3% die höchsten (Armuts-) Quoten, danach arbeitslose Einelternhaushalte mit 31,9% und Einpersonenhaushalte mit 29,9%. Wegen der fehlenden Differenzierung nach Geschlecht kann aus den Daten des Niedrigeinkommenspanels nicht eingeschätzt werden, inwieweit allein lebende Frauen und Männer in gleicher Weise betroffen sind. Allgemein ist jedoch der Anteil der allein lebenden Frauen im Niedrigeinkommensbereich (NiedrigeinkommensPanels) mit 29,8% deutlich höher, als es ihrem Anteil an der Bevölkerung mit 21,6% entspricht. Dabei fallen hier die Gruppen der geschiedenen und getrennt lebenden Frauen und die der ledigen Frauen stärker ins Gewicht als die Gruppe der allein lebenden Witwen.
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Beide Berichte der Bundesregierung sind verfasst worden, bevor die Neuregelungen der Agenda 2010, insbesondere die Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe im neuen Sozialgesetzbuch II (SGB II) in Kraft getreten sind. Im Rahmen einer umfangreichen Begleitforschung sind im Oktober 2007 erste Ergebnisse der Bewertung der Umsetzung von SGB II aus gleichstellungspolitischer Sicht veröffentlicht worden. Danach wurden deutliche geschlechtsspezifische Wirkungen zulasten von Frauen ermittelt. Zum Beispiel sind Frauen unter den erwerbslos gemeldeten Personen deutlich überrepräsentiert, stehen wegen ihrer Familienpflichten seltener als Männer dem Arbeitsmarkt zur Verfügung und wandern daher häufiger in die Nicht-Erwerbstätigkeit ab und scheiden damit aus dem Leistungsbezug aus. Als Gründe dafür werden „neben den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und dem geschlechtstypisch segregierten Arbeitsmarkt auch ein relativ geringer Institutionalisierungsgrad von Gleichstellung und Gender Mainstreaming und die geringe Verbreitung von gleichstellungsorientierter Steuerung und Controlling bei den Trägereinheiten der Grundsicherung“ (Gender Projekt 2007: 44) genannt.
Ausblick auf Forschungsfragen Die Armutsforschung hat durch die nationale Armutsberichterstattung neue Impulse bekommen. Dabei soll die Gleichstellungsorientierung mit dem Prinzip des Gender Mainstreaming systematisch umgesetzt werden. Gegenwärtig werden der Lebenslagen-Ansatz oder der LebensstandardAnsatz in der „Mainstream“-Forschung noch weitgehend geschlechtsneutral diskutiert. Darüber hinaus werden Forschungsfragen v.a. quantitativ formuliert, ohne dass in den Erhebungskonzepten die Geschlechterspezifik berücksichtigt oder die Daten durchgängig geschlechtsdifferenziert aufbereitet werden. Probleme von sozialer Verpflichtung, häuslicher Gewalt oder körperlichen oder gesundheitlichen Beeinträchtigungen als Armutsrisiken geraten daher kaum in den Blick. Die Bearbeitung des „Gender-Bias“ in der Armutsforschung ist daher als eine zentrale wissenschaftliche Herausforderung anzusehen. Erste Ansätze sollten in der Begleitforschung zum SGB II umgesetzt werden, allerdings wurde das „Gender Projekt“ eher additiv ergänzt. Verweise: Alter(n) Lebens- und Wohnformen Sozialberichterstattung
Literatur Andreß, Hans-Jürgen 2003: Lebenslagenkonzept – Lebensstandardansatz: Konkurrierende oder komplementäre Konzepte? In: Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung (Hrsg.): Dokumentation Lebenslagen, Indikatoren, Evaluation – Weiterentwicklung der Armuts- und Reichtumsberichterstattung. 1. Wissenschaftliches Kolloquium am 30./31. Oktober 2002 in Bonn. Bonn: BMGS, S. 8-20 BMA (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung) (Hrsg.) 2001: Lebenslagen in Deutschland. Der erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Bonn: Red DMA (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung) (Hrsg.) 2005: Lebenslagen in Deutschland. Der zweite Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung: Bonn Red BMFSFJ (Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend) (Hrsg.) 2002: Materialien zur Gleichstellungspolitik Nr. 85/2002: Bericht zur Berufs- und Einkommenssituation von Frauen und Männern. Bonn: BMSFSJ Deutscher Bundestag (Hrsg.) 2002: Globalisierung der Wirtschaft. Schlussbericht der Enquete-Kommission. Opladen: Leske + Budrich Enders-Dragässer, Uta/Brigitte Sellach u.a. 2000: Frauen ohne Wohnung. Handbuch für die ambulante Wohnungslosenhilfe für Frauen. Modellprojekt „Hilfen für alleinstehende wohnungslose Frauen“.
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Band 186, Schriftenreihe des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Stuttgart, Berlin, Köln: Kohlhammer Enders-Dragässer, Uta/Brigitte Sellach 2002: Weibliche „Lebenslagen“ und Armut am Beispiel von allein erziehenden Frauen. In: Hammer, Veronika/Ronald Lutz (Hrsg.): Weibliche Lebenslagen und soziale Benachteiligung. Theoretische Ansätze und empirische Beispiele. Frankfurt/M., New York: Campus, S. 18-44 Gerhard, Ute 1999: Die soziale Unsicherheit weiblicher Lebenslagen. Perspektiven einer feministischen Sozialpolitikanalyse. In: Glatzer, Wolfgang (Hrsg.): Ansichten der Gesellschaft. Frankfurter Beiträge aus Soziologie und Politikwissenschaft. Opladen: Leske + Budrich, S. 289-301 Gender Projekt 2007: Institut Arbeit und Qualifikation an der Universität Duisburg-Essen, FIA – Forschungsteam Internationaler Arbeitsmarkt, GendA – Forschungs- und Kooperationsstelle Arbeit, Demokratie, Geschlecht am Institut für Politikwissenschaft der Philipps-Universität Marburg: Evaluation der Wirkungen der Grundsicherung nach § 55 SGB II. Bewertung der SGB II-Umsetzung aus gleichstellungspolitischer Sicht „Gender-Projekt“ Hammer, Veronika 2002: Eingeschränkte Möglichkeitsräume allein erziehender Frauen – Inspirationen gegen eine Kultur der Ausgrenzung. In: Hammer, Veronika/Ronald Lutz (Hrsg.): Weibliche Lebenslagen und soziale Benachteiligung. Theoretische Ansätze und empirische Beispiele. Frankfurt/M., New York: Campus, S. 150-172 Hanesch, Walter u.a. 1994: Armut in Deutschland. Der Armutsbericht des DGB und des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Reinbek: Rowohlt Hauser, Richard 1997: Wächst die Armut in Deutschland? In: Müller, Siegfried/Ulrich Otto (Hrsg.): Armut im Sozialstaat. Gesellschaftliche Analysen und sozialpolitische Konsequenzen. Neuwied, Kriftel, Berlin: Luchterhand, S. 29-47 Hauser, Richard 2002: Soziale Indikatoren als Element der offenen Methode der Koordinierung zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung in der Europäischen Union. Vortrag im Rahmen der vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung durchgeführten Auftaktveranstaltung zum Aktionsprogramm zur Förderung der Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten bei der Bekämpfung der Sozialen Ausgrenzung 2002-2006. (Verfügbar unter: http://www.nationale-armutskonferenz.de) Köppen, Ruth 1985: Die Armut ist weiblich. Berlin: Elefanten Press Köppen, Ruth 1994: Armut und Sexismus. Berlin: Elefanten Press Meier, Uta/Heide Preuße/Eva Maria Sunnus 2002: Armutsprävention und Milderung defizitärer Lebenslagen durch Stärkung der Haushaltsführungskompetenzen: Haushaltsführung im Versorgungsverbund der Daseinsvorsorge; Stärkung von Haushaltsführungskompetenzen durch Aufzeigen von Handlungsalternativen, Projektbericht. Gießen: Manuskript Ostner, Ilona 1994: Soziologie der Sozialpolitik: Die sozialpolitische Regulierung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf – Sozialpolitik als Geschlechterpolitik. In: Deutsche Forschungsgemeinschaft (Hrsg.): Sozialwissenschaftliche Frauenforschung in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin: Akademischer-Verlag, S. 120-135 Pfaff, Anita 1992: Feminisierung der Armut durch den Sozialstaat. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 32/1992, S. 421-445 Neumann, Udo 1999: Struktur und Dynamik von Armut. Eine empirische Untersuchung für die Bundesrepublik Deutschland. Freiburg/Br.: Lambertus Reinl, Heidi 1997: Ist die Armut weiblich? Über die Ungleichheit der Geschlechter im Sozialstaat. In: Müller, Siegfried/Ulrich Otto (Hrsg.): Armut im Sozialstaat. Gesellschaftliche Analysen und sozialpolitische Konsequenzen. Neuwied, Kriftel, Berlin: Luchterhand, S. 113-134 Riedmüller, Barbara 1984: Frauen haben keine Rechte. Zur Stellung der Frau im System sozialer Sicherheit. In: Kickbusch, Ilona/Barbara Riedmüller (Hrsg.): Die armen Frauen, Frauen und Sozialpolitik. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 46-72 Riedmüller, Barbara 1985: Armutspolitik und Familienpolitik. Die Armut der Familie ist die Armut der Frauen. in: Leibfried, Stephan/Florian Tennstedt, Hrsg.): Politik der Armut und die Spaltung des Sozialstaats. Frankfurt/M.: Suhrkamp Sellach, Brigitte 2000: Ursachen und Umfang der Frauenarmut. Gutachten zum ersten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Bonn: BMFSFJ Sellach, Brigitte/Uta Enders-Dragässer/Astrid Libuda-Köster 2004: Geschlechtsspezifische Besonderheiten der Zeitverwendung/Zeitstrukturierung im theoretischen Konzept des Lebenslagen-Ansatzes. Veröffentlichung beim Statistischen Bundesamt
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B Arbeit, Politik und Ökonomie Gisela Notz
Arbeit: Hausarbeit, Ehrenamt, Erwerbsarbeit
Sowohl die Gesellschaftstheorien von Karl Marx oder Max Weber als auch aktuelle Industrie- und arbeitssoziologische Theorien zur Erklärung von menschlicher Arbeit beziehen sich primär auf die Arbeit, die der (männliche) Lohnarbeiter in Industrie und Verwaltung leistet. Die Arbeiten im Haus, bei der Erziehung der Kinder, der Pflege der Hilfsbedürftigen und in der ehrenamtlichen Arbeit werden in diesen Theorien und Ansätzen (außerhalb der Frauenforschung) nicht unter dem Begriff Arbeit subsumiert, obwohl sie gesellschaftlich ebenso notwendig sind wie die Erwerbsarbeit. Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist, dass sowohl im Produktionsbereich als auch im Reproduktionsbereich gesellschaftlich notwendige und nützliche Tätigkeiten verrichtet werden. Soll (zunächst) die Trennung zwischen Produktionsarbeit und Reproduktionsarbeit beibehalten werden, so wäre unter ‚Produktionsarbeit‘ die instrumentell gebundene, zielgerichtete, gesellschaftlich nützliche Tätigkeit in Produktion und Dienstleistung zu verstehen. Tätigkeiten jenseits der Lohnarbeit (oder einer anderen das Einkommen sicherstellenden Erwerbsarbeit), die zur Erhaltung der menschlichen Arbeitskraft und des menschlichen Lebens notwendig sind, wären dann „Reproduktionsarbeit“. Zu den Reproduktionsarbeiten gehören sowohl die Hausarbeitsverhältnisse (Hausarbeit, Erziehungsarbeit, Pflegearbeit für Alte, Kranke und Behinderte) als auch die ehrenamtlichen Arbeitsverhältnisse im Sinne bürgerschaftlichen Engagements und freiwilliger Arbeit (ehrenamtliche politische oder soziale Arbeit, unbezahlte Arbeit in Selbsthilfegruppen). Zu den Produktionsarbeiten gehören alle Erwerbsarbeitsverhältnisse, also sowohl ungeschützte Erwerbsarbeit als auch Teilzeitarbeit, tariflich abgesicherte Erwerbsarbeit und selbstständige Arbeit. Diese Typologisierung von Arbeit schließt auch jene Aktivitäten ein, die Hanna Arendt in „arbeiten“, „herstellen“ und „handeln“ unterteilt, also die Tätigkeiten zur Sicherung der Gattung und des Am-Leben-Bleibens, die Produktion einer künstlichen Welt von Dingen, „die unserem flüchtigen Dasein Bestand und Dauer entgegenhält“ (herstellen), und das Handeln, das „der Gründung und Erhaltung politischer Gemeinwesen dient“ (Arendt 1981: 15). Jede Aktivität greift gestaltend und kulturbildend in unsere Verhältnisse ein, zwar nicht jede mit gleichem Gewicht, aber keine ohne Bedeutung.
Hausarbeitsverhältnisse In den Hausarbeitsverhältnissen werden, privat und meist isoliert, unbezahlte Arbeiten verrichtet, die der eigenen Reproduktion, der des Ehepartners, der Erziehung und Sorge der Kinder sowie der Pflege und Betreuung kranker, behinderter und alter Familienangehöriger dienen. Die
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traditionelle geschlechtshierarchische Arbeitsteilung der kapitalistisch-patriarchalen Gesellschaft weist Männern immer noch in erster Linie die Erwerbsarbeit zu, während ihnen die Hausarbeit von Frauen (je nach Lebenssituation von Müttern, Töchtern, Schwiegertöchtern oder anderen weiblichen Familienangehörigen, Freundinnen, Ehefrauen) abgenommen wird. In Westdeutschland hat die Zustimmung zu dieser Form der Arbeitsteilung in den 1990er Jahren allerdings stark abgenommen. Dennoch waren im Jahr 2000 noch ca. 50% der in einer Erhebung des Statistischen Bundesamtes (Stat. Bundesamt 2002: 536f.) befragten westdeutschen Männer und Frauen der Meinung, dass es für alle Beteiligten viel besser sei, wenn der Mann voll im Berufsleben steht und die Frau zu Hause bleibt. Gravierende Geschlechterunterschiede ergaben sich dabei nicht; allerdings stimmen weitaus mehr ältere Menschen und weitaus mehr nicht berufstätige Frauen dieser Art von Arbeitsteilung zu. In Ostdeutschland liegt die Zustimmung zu dieser traditionellen Form der Arbeitsteilung deutlich niedriger (31% im Jahr 2000), doch scheint sie in den letzten Jahren gewachsen zu sein, denn 1996 lag sie nur bei 26%. Weitgehend unverändert zeigt sich die tatsächlich praktizierte Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen in der Familie und in anderen Zusammenlebensformen (vgl. Notz 1991, Geißler 2002: 385, Stat. Bundesamt/BMFSFJ 2003: 14f., Klenner 2005: 228). Zur Beteiligung an den Hausarbeiten sind Männer immer noch schwer zu bewegen, helfen bestenfalls mit. Nach wie vor existiert ein harter Kern von typisch weiblichen Aufgaben (Waschen, Bügeln, Kochen und Saubermachen) die in 75 bis 90% der Familien oder Lebensgemeinschaften überwiegend von Frauen erledigt werden (Notz 1991: 160ff., Familienbericht 2000: 93, vgl. auch Koppetsch/Burkart 1999). Der Beteiligungsgrad der Männer an der Wäschepflege betrug nach einer neueren Befragung nur 8% (Meier u.a. 2004: 121). Andere Hausarbeiten (Einkaufen, Geschirrspülen, Behördengänge) werden zunehmend gemeinsam oder im Wechsel zwischen den Partnern erledigt (Geißler 2002: 387); für Reparaturen in Wohnung oder Haus, Arbeiten im Garten und die Pflege und Wartung des Autos sind überwiegend Männer verantwortlich (Notz 1991: 157, Geißler 2002: 386, Stat. Bundesamt/BMFSJF 2002: 14). Wenn es um Bauen und handwerkliche Tätigkeiten geht, besteht eine deutliche Zurückhaltung von Frauen (Ehlay 2004: 16). Die geringe Beteiligung von Männern an der Hausarbeit ändert sich auch nicht wesentlich, wenn sie mit erwerbstätigen Frauen zusammenleben: Männer mit berufstätigen Frauen leisten in der Woche nur eine halbe Stunde, am Wochenende ganze sechs Minuten mehr Hausarbeit als andere (Geißler 1992: 256, Meyer/Schulze 1993: 183). Vor allem gerade Teilzeit arbeitende Frauen leisten das Gros der Hausarbeit (Klenner 2005: 232). Etwas stärker beteiligen sich Männer an der Erziehungsarbeit, doch immer noch wenden sie hierfür nur halb so viel Zeit auf wie Frauen. Nach der Zeitbudgeterhebung des Statistischen Bundesamtes (BMFSFJ 2003b, Stat. Bundesamt/BMFSFJ 2003: 22) widmen sich Männer rund 1¼ Stunden und Frauen 2¾ Stunden täglich ihren Kindern. Nach wie vor übernehmen Männer dabei am liebsten Sport und Spiel (ebd., vgl. auch Notz 1991). Haushalte von Alleinerziehenden erhalten in der Kinderbetreuung mehr private Hilfe als Paarhaushalte und geben auch an, eher Unterstützung durch FreundInnen bei Problemen zu bekommen (ebd.: 28). Frauen sind es auch, die 80% aller privaten Pflegearbeiten für alte, kranke und behinderte Menschen übernehmen (zwd Nr. 194/2003: 14). Die meisten waren 1997 zwischen 45 und 60 Jahre alt, fast ein Viertel jedoch schon zwischen 55 und 60 Jahren. Selbst werden sie bei Pflegebedürftigkeit viel seltener zu Hause gepflegt als Männer (Klammer u.a. 2000: 298). Die Ideologisierung der Hausversorgung stempelt die Tochter oder Schwiegertochter, die sich dieser Aufgabe, aus welchen Gründen auch immer, entzieht, zur ‚undankbaren Tochter‘. Die Organisationsform für die unbezahlte Hausarbeit ist die Kernfamilie, deren autoritäre Struktur durch die Vormachtstellung der Männer, die aus der wirtschaftlichen Abhängigkeit von Frauen und Kindern abgeleitet wird, reproduziert wird. Aus diesem Grunde wird seit Beginn der neuen Frauenbewegung die Frage nach ‚Lohn für Hausarbeit‘ diskutiert. Teile der Frauenbewegung erhofften sich durch eine Entlohnung der Hausarbeit, dass diese Arbeit gesellschaftlich sichtbar und wertvoll wird und Technologien eingesetzt werden, die sie reduzieren (vgl. Bock/Duden 1977:
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185). Wenn Frauen materiell unabhängig sind – so wurde gehofft –, sind sie auch imstande, die Hausarbeit und ihre Organisation in Frage zu stellen, also diese Arbeitsform zu verweigern und ihre Vergesellschaftung zu fordern. Konzepte zur Vergesellschaftung der Hausarbeit standen allerdings nicht zur Debatte und außer in einigen Wohngemeinschaften studentischer oder intellektueller Individuen wurde kaum von der Einbeziehung der Männer in diese Arbeitsform gesprochen. Gerade weil die Propagierung von häuslicher Kindererziehung und Altenpflegearbeit in der isolierten Kleinfamilie kritisch betrachtet werden muss, ist es fraglich, ob alle jetzt unbezahlt geleisteten Hausarbeiten vergesellschaftet und in bezahlte Arbeiten umgewandelt werden sollten. Das würde zur Folge haben, dass alle Arbeiten, die der Befriedigung immaterieller Bedürfnisse nach Kommunikation, Zuwendung, Zärtlichkeit etc. dienen, den Kriterien der Lohnarbeit unterworfen und damit kaufbar und zur Ware würden. An der geschlechtsspezifischen Zuweisung würde eine Bezahlung kaum etwas ändern. Das wird am Beispiel bezahlter Erziehungsarbeit und Altenpflege deutlich: Es sind nur vereinzelt Männer, die in diese Berufe eindringen. Argumente gegen ein „Hausfrauen-“ oder „Müttergehalt“ auch gegen das geschlechtsneutral angebotene „Erziehungsgehalt“ (Leipert/ Opielka 1998), sind die mangelnde Kollektivität dieser Arbeit, deren Bezahlung letztendlich dazu führen würde, dass einzelne Männer noch eher die Möglichkeit bekommen, von der gesamten Alltagsarbeit befreit zu werden.
Ehrenamtliche Arbeitsverhältnisse Auch wenn, aktuellen Studien zufolge, sich die Akzente bei Ehrenamt, Selbsthilfe, Freiwilligenarbeit, bürgerschaftlichem Engagement und Volunteering, leicht unterscheiden, geht es dabei letztlich immer darum, dass „Bürger – außerhalb ihrer beruflichen Tätigkeit und außerhalb des rein privaten, familiären Bereichs – Verantwortung im Rahmen von Gruppierungen, Initiativen Organisationen oder Institutionen“ übernehmen (BMFSFJ 2000a). Nach einer Repräsentativerhebung, die das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in Auftrag gegeben hat und die 2004 erneuert wurde (BMFSFJ 2000a, Bd. 1-3, 2004), engagieren sich in der BRD „freiwillig und ehrenamtlich“ 34% der erwachsenen Bevölkerung. Dabei sind – dieser wie auch einigen vorangegangenen Studien zufolge – mehr Männer als Frauen ehrenamtlich tätig: 39% der befragten Männer und nur 33% der Frauen engagierten sich 2004 für das Gemeinwohl (ebd. 2006). Insgesamt wird der größte Teil ehrenamtlicher, freiwilliger Tätigkeit von Männern ausgeübt (55%) (Gensicke/Picot/Geiss 2006). Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch: ehrenamtliches Engagement hat ein geschlechtsspezifisches Gesicht. Männer arbeiten in den ehrenamtlichen Bereichen, die mit gesellschaftlicher Macht und Anerkennung und z.T. mit hohen Aufwandsentschädigungen verbunden sind: Schöffen, ehrenamtliche Richter, Leitungsfunktionen in Vereinen und Verbänden, Positionen in den Aufsichtsräten (vgl. Notz 1989). In Feldern mit relativ hohen Anforderungen und Belastungen, wie im sozialen Bereich (67%), im Gesundheitsbereich (66%), im Bereich Schule/Kindergarten (65%) und im Bereich Kirche/Religion (65%) überwiegen die Frauen (BMFSFJ 2000: 77ff.). Insgesamt leisten Frauen 80% der ehrenamtlichen sozialen Dienstleistungen. Ohne diese ehrenamtliche Arbeit würde schon heute das System der sozialen Dienste zusammenbrechen. Damit blieben viele der Sorge und Hilfe bedürftigen Menschen unversorgt (vgl. Notz 1999a). „Männer leiten – Frauen tragen die Kirche“, so fasst eine Studie über die ehrenamtliche Arbeit der evangelischen Kirche in Bayern die Geschlechterdifferenzen in der ehrenamtlichen Arbeit zusammen. Das gilt für fast alle Organisationen, in denen Ehrenamtliche eine Rolle spielen (vgl. auch kfd 1998). Zur Selbsthilfe gehört sowohl die aktive Beteiligung in Selbsthilfegruppen als auch das zur Schaffung der dazu notwendigen Strukturen. Zu Beginn der 1970er Jahre war die Selbsthilfe oft ein Stachel im Fleisch der etablierten Wohlfahrtsverbände. Sie war damals eine Art Gegenbewegung von Jugendlichen, Erwachsenen, vor allem Frauengruppen für neue, eigene, den Menschen nahe
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Gestaltungs- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten, gegen überkommene, einschränkende, unterdrückende, unzulängliche öffentliche Angebotsstrukturen (Notz 2002: 145). Auch in der Selbsthilfe sind es Frauen, die 70% der unmittelbaren „Sorge- und Kümmerarbeit“ erbringen, in der Familienselbsthilfe sogar 90%. Männer sind auch in diesem Arbeitsbereich eher Funktionsträger (Erler/ Tschilschke 1998: 26, Notz 2007).
Erwerbsarbeitsverhältnisse Der Bedeutung der Erwerbsarbeit geht über den bloßen Lebensunterhalt hinaus. Erwerbsarbeit verschafft Mitbestimmungs- und Beteiligungsmöglichkeiten, wenn auch oft in beschränktem Umfang, gibt dem Leben einen Sinn und erweitert den menschlichen Horizont, schafft Gemeinsamkeiten und weist sozialen Status zu. Damit schafft sie zugleich eine Form von Identität und formt die Persönlichkeit (Jahoda 1983: 46ff.). Mit dem Ausschluss von Erwerbsarbeit sind entsprechend ökonomische, psychische und soziale Belastungen verbunden. Der Anteil der Erwerbspersonen an der Bevölkerung ist in den vergangenen Jahren in der Bundesrepublik von 71,42% in 1996 auf 73,7% in 2005 gestiegen. Hinter diesem moderaten Anstieg verbergen sich jedoch erhebliche Verschiebungen zwischen den Geschlechtern: Während die Erwerbsquote der Männer (durch längere Ausbildungszeiten, frühere Verrentung und demografische Effekte) zwischen 1991 und 2004 von 82,9% auf 80,3% sank, stieg die Quote bei den Frauen von 62,1% auf 66,1%. Besonders ausgeprägt ist die Steigerung bei den verheirateten Frauen. Deren Erwerbsquote verdoppelte sich in den letzten 50 Jahren (von 25% auf 50%) (alle Zahlen aus: Statistisches Bundesamt 2002: 89, BMFSJ 2005). Noch höher liegt die Frauenerwerbsquote in den neuen Bundesländern, allerdings hat diese seit dem Beitritt zumindest bei den verheirateten Frauen drastisch abgenommen (von 73% in 1991 auf 63,7% in 2001). Das Ansteigen der Frauenerwerbsquote in der BRD (West) führt immer wieder dazu, dass Frauen als die Gewinnerinnen der Arbeitsmarktpolitik bezeichnet werden. Sieht man sich die Arbeitsplätze und Arbeitstätigkeiten an, so sind sie jedoch bestenfalls quantitative Gewinnerinnen, jedoch qualitative Verliererinnen. Die qualitativen Verluste beziehen sich nicht nur auf die Verluste an Arbeitszeit (Erhöhung der Teilzeitquote und der geringfügigen Beschäftigung) und an zur Sicherung der Existenz notwendigem Geld, sondern auch auf verschlechterte Arbeitsbedingungen im Blick auf dequalifizierte Anforderungen und neue, schwerwiegende psychische und physische Belastungen, oftmals dort, wo neue Techniken, Arbeitsorganisationen oder Managementmethoden eingesetzt werden (Notz 1999b: 56). Verluste haben Frauen vor allem in den ungeschützten (prekären) Erwerbsarbeitsverhältnissen (vgl. Möller 1988) zu erleiden. Das sind Beschäftigungsverhältnisse, bei denen zumindest ein zentrales Element (z.B. Vertragsdauer, Arbeitszeit, Sicherheit des Arbeitsplatzes oder Sonderleistungen) vom „Normalarbeitsverhältnis“ abweicht. Je mehr Abweichungen vom „Normalarbeitsverhältnis“ vorhanden sind, desto prekärer ist das Beschäftigungsverhältnis. Die geringfügige Beschäftigung ist in den 1990er Jahren stark gestiegen. In vielen Bereichen mit „typischen Frauenarbeitsplätzen“ sind geringfügige Beschäftigungsverhältnisse zur „Normalarbeit“ geworden. Das gilt z.B. für 90% der Putzarbeiten und 90% der (elektronischen) Heimarbeiten sowie für zahlreiche (Frauen)arbeitsplätze im Einzelhandel, bei der Post und ähnlichen Einrichtungen. Der Anteil der ausschließlich geringfügig Beschäftigten an allen Erwerbstätigen lag 1997 in Deutschland bei über 10%. Ca. 2,4 Millionen (66%) der ausschließlich geringfügig Beschäftigten in den alten Bundsländern waren Frauen (Klammer u.a. 2000: 96f.). Arbeitgeber mit einem hohen Anteil geringfügig Beschäftigter konnten bislang enorme Sozialversicherungsbeiträge sparen. Durch das Gesetz vom 01.04.1999 wurde dies eingeschränkt, was den Sozialversicherungen neue Einnahmen, den Versicherten jedoch keine nennenswerten Vorteile brachte. Durch die Anhebung der Versicherungsfreigrenze auf 400 € wurde ab April 2003 mit der Einführung der Mini-Jobs eine weitere Erosion des „Normalarbeitsverhältnisses“
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gesetzlich abgesegnet. Betroffen sind vor allem Frauen, denn Mini-Jobs sollen vor allem im Bereich (steuerlich begünstigter) haushaltsnaher Dienstleistungen entstehen. Als haushaltsnahe Tätigkeiten gelten „die Betreuung von Kindern, kranken, alten und pflegebedürftigen Menschen ebenso wie Kochen, Putzen, Wäsche waschen, Bügeln und Gartenarbeit“ (BMFSFJ 2003b). Der Privathaushalt wird von Arbeitgeberverpflichtungen weitgehend freigehalten, zu bezahlen ist nur eine 10%ige Sozialversicherungspauschale. Gleichzeitig entfällt für Mini Jobs im Haushalt die bisher für ‚geringfügige Beschäftigung‘ übliche 15-Stunden-Grenze. Zusammen mit der steuerlichen Abzugsfähigkeit der Kosten für Beschäftigte in privaten Haushalten soll diese Regelung zu einer Verringerung der Schwarzarbeit führen. Tarifverträge werden auch durch „Midi-Jobs“, mit denen Beschäftigte zwischen 400 und 800 Euro verdienen, und nur einen ermäßigten Sozialversicherungsbeitrag zahlen, umgangen. Das IAB schätzt, dass fast eine ¾ Million neue Mini-Jobs und 1,12 Millionen Midi-Jobs entstehen. Allerdings wird es sich dabei nicht um neue Beschäftigungsverhältnisse handeln, sondern es werden vorwiegend bestehende Beschäftigungsverhältnisse in Mini- und Midi-Jobs umgewandelt. Gleichzeitig werden Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von 612 Millionen Euro ausfallen (IAB 2003). In ungeschützten Beschäftigungsverhältnissen beschäftigt sind keinesfalls nur Mütter mit kleinen Kindern oder ihre Eltern bzw. Schwiegereltern pflegende Töchter, vielmehr werden mangels besseren Arbeitsplatzangebots zunehmend auch Frauen ohne Familienpflichten in solche Arbeitsverhältnisse verwiesen, wie vorliegende Studien eindrucksvoll belegen (z.B. Ministerium zur Gleichstellung von Frau und Mann Rheinland-Pfalz 1994). Die Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt vollzog sich in den letzten Jahrzehnten vor allem über die Ausweitung der Teilzeitarbeitsverhältnisse. Die Teilzeitquote der abhängig beschäftigten westdeutschen Frauen lag 2004 bei 44,5%, die der Ostdeutschen bei 28% (Bothfeld 2005: 138). In der Altersgruppe der 35- bis 45-jährigen Frauen ist gar über die Hälfte aller abhängig beschäftigten Frauen teilzeitbeschäftigt (ebd.: 139). Die Teilzeitquote der Männer lag 2005 dagegen im Westdeutschland bei 13%, in Ostdeutschland bei 4%. Teilzeitarbeit ist nicht per se ein prekäres Arbeitsverhältnis. Doch dort, wo man (oder frau) vom Ertrag der teilzeitigen Arbeit einigermaßen leben könnte, wird nur ganz selten geteilt. Die meisten Teilzeit arbeitenden Frauen arbeiten im Dienstleistungssektor und dort vor allem in Bereichen mit hohem Leistungsdruck und einem nicht existenzsichernden Einkommen, was – spätestens dann, wenn, aus welchen Gründen auch immer, der „Haupternährer“ wegfällt – die Gefahr der Verarmung in sich birgt. Zudem sind Teilzeitarbeitende aus wichtigen betrieblichen Geschehen ausgeschlossen und haben im Betrieb schlechte Aufstiegsmöglichkeiten. Der Zugang zu tariflich abgesicherten Arbeitsverhältnissen verschlechtert sich für Frauen ständig (vgl. Gottschall 1988: 29, Bothfeld 2005). Vor allem die hohen Beschäftigungsverluste im Zuge der marktwirtschaftlichen Umstrukturierungen in den „neuen Ländern“ trafen Frauen überdurchschnittlich stark. Obwohl die meisten Mädchen heute gleich gute oder bessere Schulbildungen als Jungen haben, der Anteil an Frauen mit allgemeiner Hochschulreife bereits 1995 bei 54,8% lag und ihr Anteil an den Studienanfängerinnen im Wintersemester 1996 mit 52% erstmals den der Männer überstieg (Peters 1998: 404), schwindet der Qualifizierungsvorsprung gegenüber Männern, mit dem viele Frauen auf den Arbeitsmarkt gekommen sind, im Beschäftigungssystem (Gottschall 1995: 131). Die geschlechtshierarchische Segregation ordnet Männern eher die anspruchsvollen, markt- und entscheidungsbezogenen Tätigkeitsbereiche sowie Führungs- und Leitungspositionen zu, während Frauen auf zuarbeitende Positionen festgelegt werden, die am unteren Ende der Hierarchie angesiedelt sind. An den neuen wissenschaftlichtechnischen Dienstleistungsberufen (Wirtschaftswissenschaften, Informatik, Konstruktion) lässt sich aufzeigen, dass Frauen heute wesentlich häufiger als früher über die erforderlichen Eintrittsqualifikationen verfügen, diese sich jedoch nicht in demselben Maß wie bei Männern in Karrierewege umsetzen lassen (Gottschall 1995: 131). Frauen in den Top-Etagen sind noch immer die Seltenheit. Auf der anderen Seite gehören viele Vollzeit arbeitende Arbeiterinnen in der Textil-, Leder- und Nahrungsmittelindustrie sowie viele Friseurinnen, Verkäuferinnen und Floris-
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tinnen zu den „working poor“ (vgl. Ehrenreich 2001). Sie sind arm, obwohl sie bezahlte Erwerbsarbeit ausführen. Ein wesentlicher Aspekt der geschlechtlichen Segregation in betrieblichen und sozialen Organisationen ist die fortdauernde und in Westdeutschland im Vergleich zu anderen Ländern der Europäischen Union besonders stark ausgebildete Einkommensdifferenz zwischen den Geschlechtern. Tatsächlich verdienen Frauen europaweit immer noch ca. 20% weniger als Männer. In Westdeutschland erzielen voll beschäftigte Frauen nur 76% des Männereinkommens (BMFSFJ 1995). Auch hochqualifizierte Frauen verdienen weniger als ihre männlichen Kollegen und arbeiten überproportional in Bereichen mit schlechteren Arbeitsbedingungen und Aufstiegschancen (MengelBelabbes 1998: 31). Eine Studie über weibliche Führungskräfte kommt zu dem Ergebnis, dass Frauen selbst dann weniger verdienen, „wenn sie auf gleicher Hierarchieebene, in derselben Branche, mit derselben Funktion“ arbeiten und „wenn sie genau so alt sind und die gleichen Abschlüsse aufweisen“ (Bischoff 1990: 31). Das gilt auch für die wenigen Frauen, die in männerdominierte Professionen wie Jura oder Medizin eindringen konnten. Zahlreiche Studien (vgl. z.B. Krell/Carl/ Krehnke 2000, Holst 2002) belegen, dass die Lohnfindungssysteme in Deutschland Frauen benachteiligen. Dafür gibt es verschiedene Gründe: Anforderungen werden nicht bewertet, Zuschläge nicht oder in geringem Umfang bezahlt, ‚Frauenberufe‘ bei gleichen oder gleichwertigen Anforderungen niedriger eingestuft und der Aufstieg dauert länger. Im Jahr 2004 gab es laut Mikrozensus 3,8 Millionen selbstständig Arbeitende, 28,9% sind Frauen. Während bereits 14% der erwerbstätigen Männer in Ost und West ihr eigenes Unternehmen gegründet haben, waren es bei den Frauen nur 7,8% (ebd.). Die „Pleitenquote“ ist allerdings hoch, jedes zweite neu gegründete Unternehmen in Deutschland steht in den ersten fünf Jahren vor dem Bankrott, wobei Frauen laut Deutscher Ausgleichsbank seltener Konkurs machen als Männer. Eine Ursache für die niedrige Gründerinnenquote liegt nach einer Untersuchung des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsförderung (RWT) in den fehlenden Informationsangeboten speziell für Frauen. Zahlreiche Förderprogramme seien eher auf männliches Gründungsverhalten zugeschnitten. Häufig konzentrieren sich die Zuschüsse auf gewerbliche Gründungen mit hohen Investitionsvolumen (vgl. zwd 195/2003: 17), also in Bereichen, in denen nur 6% (Ost) bis 12% (West) der Gründerinnen aktiv sind. Die Schwerpunkte der Existenzgründung von Frauen liegen jedoch im Dienstleistungsbereich (89%). Im produzierenden Gewerbe betätigen sich nur 7% (ebd.). Frauenbetriebe arbeiten meist mit geringem Kapitaleinsatz und Jahresumsatz. Über 50% der Unternehmen bestehen nur aus der Gründerin selbst, weitere 23% haben nur eine bis zwei Angestellte. Besonders in den neuen Bundesländern ist der Anteil der über 40jährigen Existenzgründerinnen hoch. Sie verfügen über umfangreiche Erfahrungen und Kenntnisse, haben aber auf dem Arbeitsmarkt kaum Chancen und über die Hälfte gründet wegen drohender oder bestehender Erwerbslosigkeit. Gut eine halbe Million der 3,8 Millionen Selbstständigen übten 2004 ihre Tätigkeit teilzeitig aus (330.000 Frauen und 205.000 Männer). Als Begründung für die Selbstständigkeit gaben Frauen oft persönliche oder familiäre Verpflichtungen an (ebd.). Die Bundesregierung hat sich das Ziel gesetzt, durch verschiedene Maßnahmen den Anteil von Frauen an den Unternehmensgründungen zu erhöhen. Die Förderung der Ich-AGs und Familien-AGs beschränkt sich auf Personenkreise, die Entgeltersatzleistungen bezogen. Der steuerfreie Existenzgründungszuschuss soll einen abgesicherten Übergang von der Erwerbslosigkeit in die Selbstständigkeit ermöglichen und ist auf drei Jahre begrenzt. Er reduziert sich jeweils nach Ablauf eines Jahres und beträgt im ersten Jahr 600 Euro, im zweiten 360 Euro und im dritten Jahr 240 Euro monatlich. Die Obergrenze des Arbeitseinkommens von jährlich 25.000, bei Verheirateten 50.000 Euro, darf nicht überschritten werden. Die Bezieher des Existenzgründungszuschusses sind rentenversichert. Bei vielen Neugründungen von Frauen handelt es sich oft um Beschäftigungsbereiche, die Frauen bislang ohne Sozialversicherungsschutz inne hatten und zum Teil in Schwarzarbeit betrieben (z.B. Teleheimarbeit). Vieles, was an ‚normale‘ Arbeitsverhältnisse erinnert, fehlt bei den Soloselbstständigen: ein fester Arbeitsplatz, garantiertes Einkommen, soziale Kontakte mit KollegInnen und damit soziale Anerkennung und die
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Möglichkeit zu solidarischem Handeln. Letztlich zielt die Philosophie der Existenzgründung auf die Pflicht zur Nutzung der Marktchancen durch die Erwerbslosen und die moralische Pflicht zur Selbstverantwortlichkeit, das heißt auf das individuelle Risikomanagement. Der Bundeswirtschaftsminister rechnet damit, dass etwa zwei Drittel der gegründeten Unternehmen überleben und innerhalb der ersten drei Jahre ein bis zwei Arbeitsplätze pro Betrieb schaffen werden. ArbeitsmarktexpertInnen zweifeln, dass sich diese Hoffnung tatsächlich erfüllt.
Perspektiven für das Politikfeld Arbeit Für die Zukunft gilt es, die Aufhebung der Trennung zwischen Männer- und Frauenarbeiten und der damit verbundenen Diskriminierungen zu erreichen. Voraussetzung hierfür ist eine Umverteilung und Neubewertung der (jetzt) bezahlt geleisteten und der (jetzt) unbezahlt geleisteten sinnvollen und gesellschaftlich nützlichen Arbeiten und der damit verbundenen Verantwortung auf alle Menschen. Notwendig wird auch eine Neugestaltung von Produktionsformen, Arbeitszeiten und Arbeitsorganisationen und eine Humanisierung und Demokratisierung in allen Bereichen menschlicher Arbeit. Dass die Aufhebung des traditionellen Modells ‚Familienversorgerin‘ und ‚Familienernährer‘ der notwendigen Infrastruktur bedarf (z.B. Kinderbetreuung), ist selbstverständlich, auch werden, wenn eine weitere geschlechtsspezifische und schichtspezifische Spaltung vermieden werden soll, „neue Formen gesellschaftlicher Solidarität“ notwendig (Becker 1998: 255). Sie dürfen jedoch nicht zu einer erneuten Exklusion von Frauen aus der existenzsichernden Arbeit führen. Letztlich muss jeder Mensch die Möglichkeit haben, pflegerische, soziale, politische und kulturelle Arbeit zu leisten, ebenso wie sinnvolle, persönlichkeitsförderliche und existenzsichernde Erwerbsarbeit. Wunschvorstellung ist es, alle diese Arbeiten zeitlich, räumlich und inhaltlich in Einklang zu bringen und damit die Trennungen zwischen den Bereichen der verschiedenen Arbeitsformen und der ‚Nicht-Arbeit‘ aufzuheben. Ansätze für eine derart organisierte Arbeit finden sich in Betrieben und Projekten der Alternativ- und Genossenschaftswirtschaft. Verweise: Beruf Doppelte Vergesellschaftung Erwerbsarbeit Familie
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Kathrin Dressel, Susanne Wanger
Erwerbsarbeit: Zur Situation von Frauen auf dem Arbeitsmarkt
In der Ökonomik wird der Arbeitsmarkt als ein Teil des Wirtschaftssystems definiert, in dem Verfügungsrechte über die Arbeitskraft des Arbeitnehmers gegen „job rewards“ des Arbeitgebers getauscht werden (vgl. Abraham 1996). Nach einem soziologischen Verständnis geschieht auf dem Arbeitsmarkt indes mehr: Er gilt als die zentrale Instanz zur Zuteilung von sozialen Positionen, gesellschaftlichem Status und Lebenschancen (vgl. z.B. Bonß/Ludwig-Mayerhofer 2000). Der Arbeitmarkt ist damit im hohen Maße auch eine „Maschine der Ungleichheitsproduktion“ (Abraham/Hinz 2005: 18). Wie gestaltet sich die Situation von Frauen auf dem Arbeitsmarkt? Kann, was ihre Beteiligung am Arbeitsmarkt und die entsprechenden „rewards“ betrifft, von einer Produktion von Ungleichheiten gesprochen werden? Ein erster Blick auf die Frauenerwerbsbeteiligung im Zeitverlauf verweist auf eine positive Entwicklung ihrer Arbeitsmarktchancen (Abbildung 1): Zwischen 1972 und 2006 ist der Anteil der weiblichen Erwerbspersonen an der weiblichen Bevölkerung im erwerbsfähigem Alter (Frauenerwerbsquote) von knapp 48 Prozent auf rund 68 Prozent angestiegen (West: 67,1 Prozent, Ost: 73,4 Prozent). Dieser Aufholprozess wurde angekurbelt durch eine Verflechtung von erweiterten Möglichkeiten für Frauen auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen und der wachsenden Notwendigkeit einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. An erster Stelle ist in diesem Kontext sicher die gestiegene Bildungsbeteiligung von Mädchen und jungen Frauen zu nennen, die ihnen den Einstieg ins Erwerbsleben erleichtert hat. Auch der gesellschaftliche Wertewandel hat dazu beigetragen, dass es heute für die meisten Frauen zu ihrer Lebensplanung gehört, einen Beruf zu erlernen und auszuüben. Ihren rechtlichen Niederschlag fand diese Entwicklung im Eherechtsreformgesetz von 1976. Bis dahin durften verheiratete Frauen nur dann erwerbstätig sein, wenn dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar war. Schließlich kam auch der sektorale Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft einer Arbeitsmarktpartizipation von Frauen zugute, da Frauen viele Beschäftigungsmöglichkeiten eröffnet wurden. Ökonomische Zwänge, wie sie durch das erhöhte Scheidungsrisiko und die fast ausschließlich weibliche Familienform des Alleinerziehens, aber auch durch ein wachsendes Arbeitslosigkeitsrisiko entstehen, lassen darüber hinaus die Erwerbstätigkeit für Frauen immer notwendiger werden. Bedenkt man, dass Frauen, die mit 60 Jahren in den Ruhestand eintreten, heute durchschnittlich noch über ein Viertel ihres Lebens vor sich haben, spielt auch der Aspekt der eigenen existenzsichernden Altersvorsorge eine immer bedeutendere Rolle.
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Erwerbsquoten (15 - 64 Jahre) 1972 bis 2006 100,0
90,0
- in % -
80,0
70,0
Männer
Frauen
60,0
50,0
40,0 1972 1974 1976 1978 1980 1982 1984 1986 1988 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006*
Quelle: Statistisches Bundesamt (Mikrozensus) * bis 1990 alte Bundesländer einschließlich Westberlin, ab 1991 Deutschland gesamt; ab 2005 Jahresdurchschnittswerte
Angesichts der Entwicklung der Frauenerwerbsquote eine positive Bilanz zu ziehen, wäre freilich vorschnell, spiegeln doch Personenzahlen allein die tatsächliche Teilhabe von Frauen an der Erwerbsarbeit keineswegs vollständig wider. Sie verschleiern sowohl quantitative als auch qualitative Aspekte der Arbeitsmarktchancen und -erträge von Frauen.
Erwerbsunterbrechungen und Arbeitsvolumen Erwerbsquoten bilden die Teilhabe von Frauen und Männern an der Erwerbsarbeit nur unvollständig ab. Sie erlauben lediglich eine Zustandsbetrachtung und lassen weder Aussagen über die Entwicklung der Erwerbstätigkeit über den Lebensverlauf hinweg zu, noch geben sie Auskunft über die Arbeitszeiten. Erst wenn die Erwerbsquoten weiter ausdifferenziert und die unterschiedlichen Arbeitszeitrealitäten von Frauen und Männern berücksichtigt werden, ergibt sich ein umfassenderes Bild. Nach Auswertungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) treten vier Fünftel aller anspruchsberechtigten Frauen in Ost- und Westdeutschland nach der Geburt ihres Kindes einen Erziehungsurlaub (heute: Elternzeit) an. Drei Jahre später sind gut drei Viertel der ostdeutschen und knapp 60 Prozent der westdeutschen Mütter wieder in Beschäftigung (vgl. Engelbrech/Jungkunst 2001). Personen, die die rechtlichen Fristen der Elternzeit in Anspruch nehmen, werden in der gängigen Praxis der deutschen Statistik in die Erwerbstätigenquote mit eingeschlossen. Rechnet man diese Gruppe heraus, erhält man die Quote der aktiv Erwerbstätigen. 2005 lag die aktive Erwerbstätigenquote der 25- bis unter 45-jährigen Frauen ohne Kinder im Haushalt bei 82 Prozent; bei Frauen mit Kindern unter drei Jahren nur noch bei 33 Prozent. Bei Vätern hingegen hängt die Erwerbsbeteiligung nicht von der Anwesenheit von Kindern im Haushalt ab. Vorausgesetzt, sie sind nicht arbeitslos oder bereits verrentet, stehen sie aktiv im Berufsleben (vgl. Statistisches Bundesamt 2006). Ein ganz ähnliches Bild ergibt sich, wenn man neben dem Beteiligungsgrad das Arbeitsvolumen von Frauen im Vergleich zu dem von Männern betrachtet. Hier zeigt die IAB-Arbeitszeitrechnung, dass es sich bei der Steigerung der Frauenerwerbstätigkeit vorwiegend um eine Umverteilung zwischen den Frauen gehandelt hat, denn absolut ist das Arbeitsvolumen der
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Frauen seit 1991 leicht gesunken, während die Beschäftigtenzahl deutlich gestiegen ist (vgl. Wanger 2006). Nach aktuellen Ergebnissen lag zwar der Frauenanteil an allen Beschäftigten 2006 bei 49 Prozent, dennoch haben sie nur 42 Prozent zum gesamtwirtschaftlichen Arbeitsvolumen beigetragen. Die Beschäftigungsgewinne von Frauen sind also in erheblichem Maße der steigenden Teilzeitarbeit einschließlich geringfügiger Beschäftigung unter den Frauen geschuldet. 2006 betrug die Teilzeitquote der Frauen in Westdeutschland 52,5 Prozent. In Ostdeutschland spielt Teilzeitarbeit mit 41,7 Prozent (1991: 12 Prozent) eine weitaus geringere Rolle. Insgesamt hat dies zur Folge, dass der Frauenanteil am Arbeitsvolumen zwischen 1991 und 2006 nicht in gleich hohem Maße zugenommen hat, wie der Frauenanteil an den Beschäftigten (+ 3,4 Prozentpunkte vs. + 5,1 Prozentpunkte). Die Lücke zwischen Beschäftigten- und Arbeitsvolumenanteilen von Frauen – definiert als Arbeitszeitlücke der Frauen – klafft über alle Altersgruppen hinweg, öffnet sich aber besonders stark bei Frauen von Anfang bis Mitte 30 – also in der Phase der Familiengründung (vgl. Abbildung 2). In den alten Ländern sind 76 Prozent der aktiv erwerbstätigen Mütter Teilzeit beschäftigt, in den neuen Ländern sind es lediglich 43 Prozent. Auch hier hat die Familiensituation einen großen Einfluss auf die Arbeitszeitsituation: Je mehr Kinder im Haushalt von Frauen leben und je jünger diese sind, desto seltener sind die Mütter Vollzeit erwerbstätig. Auf die Arbeitszeiten von Männern indessen haben Alter und Anzahl von Kindern kaum Auswirkungen. Lediglich vier Prozent der Väter arbeiten Teilzeit (vgl. Statistisches Bundesamt 2006: 10).
Frauenanteile an Beschäftigung und Arbeitsvolumen nach Altersgruppen (1991 und 2006) 55 50
"Arbeitszeit-Lücke"
Frauenanteil
45 40 35 30 25 20 <20
20-24
25-29
30-34
35-39
40-44
45-49
50-54
Beschäftigung 2006
Arbeitsvolumen 2006
Beschäftigung 1991
Arbeitsvolumen 1991
55-59
60-64
Quelle: IAB-Arbeitszeitrechnung nach Altersgruppen und Geschlecht (Stand 01/08)
Diese Befunde spiegeln die traditionelle Aufteilung von Erwerbs- und Familienarbeit zwischen Männern und Frauen wider. Denn während sich der Lebensverlauf von Frauen durch ihre Integration ins Ausbildung- und Erwerbssystem in vielerlei Hinsicht an den der Männer angenähert hat, ist eine Angleichung in umgekehrter Richtung kaum zu beobachten. Familienarbeit liegt noch immer in der Verantwortung der Frauen (vgl. BMFSFJ 2005b: 182ff.). Die noch in den 1960er Jahren gängige „traditionelle Ernährerehe“, in welcher der Vollzeit erwerbstätige Ehemann für das materielle Auskommen der Familie sorgte und die Frau ausschließlich für die Reproduktionsarbeiten zuständig war, wurde damit lediglich modifiziert: Frauen übernehmen auch in der „modernisierten Versorgerehe“ allenfalls die Rolle als „Zuverdienerin“ (vgl. Pfau-Effinger 1998).
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Begründet ist dieser Geschlechterkontrakt im deutschen konservativen Wohlfahrtstaat (vgl. Esping-Andersen 1990), seinen normativen wie sozialstaatlich eingebetteten Maßgaben sowie seinen infrastrukturellen Bedingungen (vgl. dazu Dienel 2003). So setzt beispielsweise das Steuersystem über das so genannte „Ehegattensplitting“ negative Anreizeffekte für die (Vollzeit-) Erwerbsbeteiligung eines Ehepartners (vgl. Dingeldey 2001). Schließlich schwindet der Splittingvorteil in dem Moment, in dem der/die PartnerIn eine Tätigkeit aufnehmen oder seinen/ihre Arbeitseinsatz ausdehnen würde. Ferner wird das Modell des männlichen Familienernährers gestützt durch die Familienmitversicherung in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung oder die Hinterbliebenenversorgung. Kontinuierliche Vollzeiterwerbstätigkeit und damit auch die eigenständige Sicherung beider Partner wird hingegen kaum gefördert. Entsprechend geschnitten sind auch die infrastrukturellen Rahmenbedingungen: Kinderbetreuung und Erziehung wird in Deutschland traditionell als eine Aufgabe der Familie bzw. der Frau betrachtet und liegt nicht in den Händen des Staates (vgl. Gottschall/Hagemann 2002). So fehlen ausreichende Ganztagsbetreuungsmöglichkeiten für Kinder im Krippen-, Kindergartenund Schulalter (vgl. Statistisches Bundesamt 2008). Von einer echten Wahlfreiheit zwischen kontinuierlicher Beschäftigung und Unterbrechungen sowie zwischen Voll- und Teilzeitarbeit kann daher nicht die Rede sein – vielmehr von geschlechterdiskriminierenden Strukturen des Sozialstaats, die Frauen eingeschränkte Gelegenheitsräume, geringe Anreize und damit schlechtere Lohnerträge ermöglichen (vgl. Gronbach/Riedmüller 2004). In Anbetracht dieser Ergebnisse fällt ein erstes Fazit zu den Arbeitsmarktchancen von Frauen ambivalent aus: Einerseits stellt Teilzeitarbeit aufgrund der schwierigen Rahmenbedingungen eine der wenigen Brücken für Frauen mit Kindern in den Arbeitsmarkt dar. Damit bekommen Mütter, zumindest in eingeschränkter Form, die Chance erwerbstätig zu sein. Andererseits wird diese Möglichkeit teuer erkauft: Denn Teilzeitarbeit zieht – ebenso wie Erwerbsunterbrechungen – nicht nur Einkommensverluste nach sich, sondern verweist Frauen auf weniger prestigeträchtige Tätigkeiten und erschwert den Aufstieg in Spitzenpositionen. Frauen, nicht aber Männer, die sowohl Kinder haben als auch Karriere machen wollen, stehen damit oft vor einem „Entwederoder“. Insbesondere hochqualifizierte Frauen entscheiden sich aufgrund der hohen Opportunitätskosten im Sinne nicht genutzter Karrierechancen überdurchschnittlich häufig gegen Kinder (vgl. Schmitt/Wagner 2006, Kreyenfeld 2007).
Geschlechtersegregation auf dem Arbeitsmarkt Nach der Frage wie Frauen heute im Erwerbssystem integriert sind, setzt sich der folgende Abschnitt mit der Frage auseinander, welche Positionen Frauen in der Berufshierarchie einnehmen und welche Berufsfelder sie bekleiden – kurz: als was Frauen arbeiten. Trotz der zunehmenden Erwerbsbeteiligung von Frauen ist am Arbeitsmarkt eine beharrliche Spaltung in Frauenbereiche und Männerbereiche zu beobachten. Die hierarchische Stellung im Berufsleben illustriert die vertikale Dimension, die Spaltung des Erwerbsbereiches in geschlechtsspezifische Tätigkeitsfelder, Berufe und Branchen die horizontale Segregation.
Vertikale Segregation Berechnungen auf Basis des IAB-Betriebspanels bestätigen die viel beklagten Befunde über die geschlechtstypischen Ungleichheiten beim Zugang zu Spitzenpositionen auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Mit einem durchschnittlichen Anteil von 24 Prozent sind Frauen in der ersten Führungsebene nach wie vor schwach vertreten und wenn, dann leiten Frauen vor allem Klein- und Kleinstbetriebe, wo die Führungsverantwortung aufgrund einer fehlenden zweiten Ebene äußerst
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gering ist. Betrachtet man die Führungsbeteiligung von Frauen in Großbetrieben mit mehr als 500 Beschäftigten, sinkt diese auf nur noch vier Prozent, obwohl der Frauenanteil in diesen Betrieben immerhin noch bei 33 Prozent liegt (vgl. Kleinert u.a. 2007). Auch im Wissenschafts- und Forschungssystem ist bis heute, trotz einer deutlich erhöhten Teilhabe von Frauen im gesamten wissenschaftlichen Qualifikationsverlauf, keine Gleichstellung zwischen Männern und Frauen erreicht. So zeigen retrospektive Verlaufsanalysen von Karriereverläufen über alle Studienfächer, dass der Pool an potenziellen Wissenschaftlerinnen nicht genutzt wird: 2005 waren lediglich 14,3 Prozent der Professuren weiblich besetzt und das, obwohl rund 15 Jahre vorher – Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre – bereits 38,5 Prozent der Studienabsolventen Frauen waren (vgl. Löther 2006, BLK 2007). Mögliche Erklärungen für die erstaunlich stabile Unterrepräsentanz von Frauen in Führungspositionen sind vielschichtig. Fehlende höhere Bildung kann insbesondere für die jüngeren Frauenkohorten kein befriedigendes Argument liefern. Die geringe Anzahl von Frauen in Spitzenpositionen wird daher häufig einer so genannten „gläsernen Decke“ zugeschrieben (vgl. Littmann-Wernli/Schubert 2001). Als ein wesentlicher Grund für eine solche künstlich geschaffene Barriere gelten Diskriminierungsmechanismen, nach denen sich Arbeitgeber bei der Auswahl ihrer Führungskräfte auf stereotype Annahmen verlassen (vgl. Arrow 1973, Phelps 1972). Ein zentrales Stereotyp ist, dass Frauen aufgrund ihrer häufig auftretenden Doppelbelastung eine geringere Produktivität und ein höheres Fluktuationsrisiko aufweisen als Männer. Von dieser „statistischen Diskriminierung“ sind auch jene Frauen betroffen, die individuell dem Arbeitsmarkt vollständig zur Verfügung stehen können, da sie weder Kinder betreuen noch Angehörige pflegen müssen. Eine Arbeitsplatzkultur, die durch den grenzenlos verfügbaren Mitarbeiter geprägt ist, verstärkt die diskriminierenden Entscheidungen der Personalverantwortlichen zusätzlich. Damit tragen die oben skizzierten familienbedingten Erwerbsunterbrechungen und die weit verbreitete Teilzeitarbeit unter Frauen zentral zu ihrer Unterrepräsentanz in Führungspositionen bei. Einen empirischen Hinweis dafür liefern die Befunde von Kleinert u.a. (2007), die zeigen, dass weibliche Führungskräfte mit nur 14 Prozent vergleichsweise selten in Teilzeit arbeiten.
Horizontale Segregation Neben der ungleichen Allokation von Männern und Frauen auf statushohen Positionen zeigt sich die geschlechtsspezifische Spaltung des deutschen Arbeitsmarktes auch in den unterschiedlichen Berufen und Tätigkeiten von Männern und Frauen. In einer ersten Annäherung kann das empirische Ausmaß der horizontalen Segregation mit den Geschlechterdominanzen in den unterschiedlichen Berufen beschrieben werden (vgl. dazu Achatz 2004: 227f.). Hier zeigt sich, dass in fast allen Berufen ein großes Missverhältnis zwischen den Geschlechtern besteht (vgl. Hinz/Schübel 2001): Unter den 30 häufigsten Berufen weisen lediglich fünf Berufe einen Frauenanteil zwischen 30 und 70 Prozent auf und gelten damit nach der Definition von Hinz und Schübel als „relativ ausgewogen“. Dieses Ergebnis darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die in diesen Berufen ausgeübten Tätigkeiten sehr wohl segregiert sein können (vgl. Bielby/Baron 1986). Fast zwei Drittel der Berufe sind Männerberufe mit einem Frauenanteil von unter 30 Prozent. Frauen konzentrieren sich indessen auf ein erheblich eingeschränkteres Berufssegment. Laut Mikrozensus 2004 arbeiten über 50 Prozent der 16 Millionen erwerbstätigen Frauen in den Berufsgruppen Büroberufe, nicht ärztliches Gesundheitswesen (z.B. Krankenschwester), Verkäuferinnen, in sozialen Berufen (z.B. Erzieherinnen) und in der Berufsgruppe der Reinigungs- und Entsorgungsberufe. Um eine Gleichverteilung der Geschlechter über alle Berufe zu erreichen, müssten etwa 63 Prozent der erwerbstätigen Personen in Westdeutschland ihren Beruf wechseln (vgl. Brückner 2004). Anders als bei der vertikalen Arbeitsmarktspaltung lässt der Tatbestand der horizontalen Segregation per se keinen Rückschluss auf Erzeugung und Reproduktion sozialer Ungleichheit
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zwischen den Geschlechtern zu. Erst die Verknüpfung mit hierarchisierenden Komponenten, wie Arbeitsbedingungen, gesellschaftliche Anerkennung, Aufstiegsmöglichkeiten und Einkommen, macht die geschlechtsspezifische horizontale Segregation des Arbeitsmarktes zu einer fundamentalen Kategorie sozialer Ungleichheit (vgl. Reskin 1993, Kalleberg/Reskin 1995). Der Umfang der beruflichen Segregation über den zeitlichen Verlauf hinweg zeigt, dass Segregation ein sehr beharrliches Phänomen ist (vgl. Willms-Herget 1985). Ein Wechsel der geschlechtlichen Etikettierung der Berufe ist dennoch häufig zu beobachten. Inwieweit eine wachsendes Interesse der Männer an Frauenberufen für eine Aufwertung der damit verbundenen Tätigkeit sorgt oder eine Aufwertung eines Berufes (etwa aufgrund verbesserter Rahmenbedingungen) ein wachsendes Interesse der Männer nach sich zieht, ist dabei nicht abschließend geklärt. Aus akteurstheoretischer Sicht wird berufliche Segregation häufig mit dem Berufswahlverhalten der Individuen begründet. So wird in der Tradition der Humankapitaltheorien das Zustandekommen von Berufsentscheidungen auf ein klassisches Kosten-Nutzen-Kalkül zurückgeführt. In der Sozialisationsforschung dagegen basieren Berufsentscheidungen weniger auf rationalen Wahlentscheidungen, sondern sind das Ergebnis geschlechtsspezifischer Sozialisationsprozesse. Strukturtheoretische Ansätze wiederum sehen die Aufteilung des Arbeitsmarktes in Frauen- und Männerberufe als Folge von strukturellen Zwängen sowie Schließungs- und Integrationsprozessen in der Arbeitswelt selbst (vgl. Überblick von Reskin 1993, Achatz 2005). Eine wichtige und in der deutschen Segregationsforschung erst in jüngerer Zeit erschlossene Rolle spielen außerdem organisationsspezifische Ursachen wie Unternehmensgröße, Marktposition, Grad der Formalisierung (z.B. schriftliche Unterlagen über Einstellungsvoraussetzungen) oder das Vorhandensein von Gleichstellungsmaßnahmen (vgl. Achatz/Allmendinger/Hinz 2001). Mit Blick auf die ausgeprägte geschlechtsspezifische Teilung des Arbeitsmarktes müssen die Gleichstellungserfolge zwischen Männern und Frauen ein weiteres Mal nach unten korrigiert werden: Zum einen liegen die beruflichen Karrierechancen von Frauen sowohl in der Wirtschaft als auch im wissenschaftlichen Bereich nach wie vor weit hinter denen ihrer männlichen Kollegen. Zum anderen konzentrieren sie sich auf einen engen, häufig prestigeärmeren und einkommensschwächeren Berufsbereich. Die damit einhergehenden Einkommensdiskrepanzen beeinflussen schließlich auch die familiale Arbeitsteilung: Die höheren Löhne und Lohnerwartungen der Männer führen dazu, dass Frauen ihre Erwerbstätigkeit unterbrechen und/oder ihre Arbeitszeit reduzieren, um sich der Reproduktionsarbeit zu widmen. Damit ist geschlechtsspezifische Arbeitsmarktsegregation nicht nur Resultat, sondern auch Verstärker ungleicher Arbeitsmarktchancen.
Der Gender-Wage-Gap und die Folgen In den vorausgegangenen Abschnitten wurde mehrfach darauf verwiesen, dass die ungleichen Integrationsmuster von Männern und Frauen auf dem Arbeitsmarkt Lohnunterschiede nach sich ziehen, die zuungunsten von Frauen ausfallen. Dabei gestalten sich die Verdienstrelationen für Frauen in Westdeutschland wesentlich ungünstiger als für ostdeutsche Frauen. So lag 2002 die Höhe des (Vollzeit-)Fraueneinkommens gemessen am (Vollzeit-)Männereinkommen in Ostdeutschland bei 92 Prozent, in Westdeutschland konnten Vollzeit beschäftigte Frauen lediglich 76 Prozent des Einkommens erzielen (vgl. BMFSFJ 2005a: 159). Ein großer Teil dieser Lücke ist begründet in unterschiedlichen beruflichen Tätigkeiten von Männern und Frauen sowie einer ungleichen Ausstattung mit Humankapital (vgl. Achatz/Gartner/Glück 2005) – welche Rolle Lohndiskriminierung spielt, ist empirisch nur schwer zu fassen. Nach den Annahmen der Humankapitaltheorie liegt Lohndiskriminierung dann vor, wenn „zwei Arbeitnehmer aufgrund von Eigenschaften, die ihre Produktivität nicht beeinflussen, unterschiedliche Löhne erhalten“ (Abraham/Hinz 2005: 36). Um Ausstattungseffekte wie Ausbildung und Berufserfahrung ausschließen zu können, müssen die damit zusammenhängenden Variablen
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in empirischen Untersuchungen kontrolliert werden. Der „unerklärte Rest“ wäre dann auf Diskriminierungsprozesse zurückzuführen. Aufgrund der Schwierigkeiten, die mit der Messung von produktivitätsrelevanten Qualifikationen einhergehen, ist Lohndiskriminierung allerdings nur schwer zu belegen. Neuere Untersuchungen für Deutschland weisen auf einen Lohnunterschied zwischen Männern und Frauen mit gleicher Ausbildung, gleichem Alter, im gleichen Betrieb von zwölf Prozentpunkten hin (vgl. z.B. Hinz/Gartner 2005). Die breite öffentliche Resonanz, die solche Ergebnisse regelmäßig hervorruft, zeigt, dass die Störung des Konzepts „gleicher Lohn für vergleichbare Arbeit“ größere Irritationen auslöst als die in ihrer Wirkung wesentlich schwerwiegendere Diskriminierung durch sozialstaatliche und infrastrukturelle Maßgaben oder die geschlechtsspezifische Segregation von Arbeitsplätzen. Die Folgen der Lohnschere schlagen sich sowohl im Querschnitt als auch im Längsschnitt auf den Lebensverlauf von Frauen nieder. Im Querschnitt bedeutet ein geringerer Lohn von Frauen nicht nur eine geringere Wertschätzung ihrer auch außerhalb des Erwerbssystems geleisteten Arbeit. Weniger Einkommen bedeutet in Paarbeziehungen ferner eine höhere Abhängigkeit vom Partner. Trennen sich Paare, sind Frauen und insbesondere Frauen mit Kindern in der Regel die finanziellen Verliererinnen (vgl. Andreß/Güllner 2002). Auch im Falle von Arbeitslosigkeit tragen Frauen ein höheres Risiko, in existenzielle Schwierigkeiten zu geraten, was sich in der besonders hohen Armutsquote arbeitsloser Frauen manifestiert (vgl. BMFSFJ 2005a). Das deutsche Rentensystem führt aufgrund seiner Erwerbszentriertheit zu großen geschlechtsspezifischen Unterschieden in der durchschnittlichen Rentenhöhe. Im Längsschnitt schlagen sich die für Frauen aufgezeigten typischen Erwerbsverläufe (unterbrochene Erwerbsbiografien, Teilzeitarbeit, geringere Entlohnung, Rückzug aus dem Erwerbsleben) auch nach der Erwerbsphase in niedrigeren Altersrenten nieder. Diese geschlechtsspezifische Rentenlücke unterscheidet sich zusätzlich nach Region: So erhielten Frauen in den alten Bundesländern durchschnittlich nur 50 Prozent der gesetzlichen Altersrente der Männer, ostdeutsche Frauen 70 Prozent (vgl. Rasner 2006). Diese Anteile variieren je nach Familienstand: So erhalten Witwen, aber auch ledige Frauen, deutlich höhere Alterssicherungsleistungen. Dagegen ist der Rentenanspruch der Frauen umso geringer, je mehr Kinder erzogen wurden, da die Länge der Erwerbsbiografie mit steigender Kinderzahl abnimmt (vgl. Stegmann 2005). Berücksichtigt man alle weiteren Einkommen, können Frauen ab 65 Jahren in den alten Ländern mit 57 Prozent des Nettoalterseinkommens von Männern rechnen. In den neuen Bundesländern sind die Einkommensdisparitäten im Alter – bei einer absolut geringeren Höhe des Alterseinkommens der Männer – bedeutend schmaler: Frauen bekommen hier immerhin 77 Prozent des Nettoalterseinkommens der Männer (vgl. Alterssicherungsbericht 2005). Auch für die Zukunft werden aufgrund der aktuellen Arbeitsmarktpolitik zunehmende Abstände im Rentenniveau zwischen Männern und Frauen prognostiziert (vgl. Allmendinger 2000).
Ausblick und arbeitsmarktpolitische Implikationen Die jahrzehntelang geführte Diskussion über die Gleichstellung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt war – bei oberflächlicher Betrachtung – erfolgreich: Frauen sind heute stärker in den Arbeitsmarkt integriert als das noch in den Blütezeiten der Hausfrauenehe der 1950er und 1960er Jahre der Fall war. Teilzeiterwerbstätigkeit, wie sie viele berufstätige Mütter heute praktizieren, mindert jedoch Karrierechancen und führt ebenso wie ihre Konzentration auf typische Frauenberufe zu schlechteren Arbeitsmarkterträgen, die bis in die Alterssicherung hineinreichen. Neben der individuellen Benachteiligung für jede einzelne Frau hat dies auch gesellschaftliche Folgen: In dem Maße, in dem zahlreiche exzellent ausgebildete Frauen auch weiterhin der Zugang zu relevanten Positionen verwehrt wird, verzichten wir auf gleichermaßen wertvolles wie – im Hinblick auf den steigenden Fachkräftebedarf – unentbehrliches Humankapitalvermögen.
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Diverse Projektionen weisen darauf hin, dass die demografische Entwicklung zusammen mit einer Nachfrage nach hochqualifizierten Arbeitskräften Potenziale für eine Annäherung der Chancengleichheit von Männern und Frauen in sich birgt (vgl. Allmendinger/Ebner 2006). Die erforderlichen Rahmenbedingungen müssen aber erst noch geschaffen werden. Vieles deutet darauf hin, dass insbesondere die familiale Einbindung vielen Frauen den Weg in eine erfolgreiche Erwerbskarriere versperrt (vgl. Kleinert u.a. 2007). An erster Stelle steht daher der weitere Ausbau flexibler, kostengünstiger und qualitativ hochwertiger Kinderbetreuung. Kinderkrippen für Kleinstkinder gehören hier ebenso dazu wie ein konsequenter Ausbau des Ganztagsschulangebots. Des Weiteren müssen Betriebe verstärkt in die Verantwortung genommen werden, ihre Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie auszuweiten. Ergebnisse des IAB-Betriebspanels zeigen in diesem Zusammenhang, dass die Verbreitung von betrieblichen und tariflichen Vereinbarungen zur Chancengleichheit stagniert und vor allem bei kleinen Betrieben kaum etabliert ist, in denen der Frauenanteil am höchsten ist (vgl. Allmendinger/Möller/Kohaut 2006). Dabei ist zu beachten, dass all diese Maßnahmen gleichermaßen Männer mit einbeziehen müssen, um auch ihnen die Möglichkeit zu geben, Beruf und Familie besser als bisher zu leben. Um geschlechtsspezifische Muster abzubauen, ist es notwendig, die Dreiteilung der Lebensverläufe in Vorbereitungs-, Aktivitäts- und Ruhephase aufzubrechen und Gelegenheitsräume zuzulassen, die neue Muster für die Vereinbarkeit unterschiedlicher Lebensbereiche ermöglichen. Dann gibt es auch nicht mehr den männlichen Lebensverlauf, an den sich Frauen anzupassen und unter dem sie zu leiden haben (vgl. Allmendinger/Dressel 2005). Verweise: Arbeit Beruf Lebenslauf
Literatur Abraham, Martin 1996: Betriebliche Sozialleistungen und die Regulierung individueller Arbeitsverhältnisse. Endogene Kooperation durch private Institutionen. Frankfurt/M.: Lang Abraham, Martin/Thomas Hinz 2005: Theorien des Arbeitsmarktes: ein Überblick. In: Abraham, Martin/ Thomas Hinz (Hrsg.): Arbeitsmarktsoziologie. Probleme, Theorien, empirische Befunde. Wiesbaden: VS Verlag, S. 17-60 Achatz, Juliane 2005: Geschlechtersegregation. In: Abraham, Martin/Thomas Hinz (Hrsg.): Arbeitsmarktsoziologie: Probleme, Theorien, empirische Befunde. Wiesbaden: VS Verlag, S. 263-301 Achatz, Juliane/Hermann Gartner/Timea Glück 2005: Bonus oder Bias? Mechanismen geschlechtsspezifischer Entlohnung. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 57. Jg., H. 3, S. 466493 Achatz, Juliane/Jutta Allmendinger/Thomas Hinz 2001: Sex Segregation in Organizations: A Comparison of Germany an the U.S. Institut für Soziologie der LMU. München: Mimeo Allmendinger, Jutta 2000: Wandel von Erwerbs- und Lebensverläufen und die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern im Alterseinkommen. In: Schmähl, Winfried/Karl Michaelis (Hrsg.): Alterssicherung von Frauen. Leitbilder, gesellschaftlicher Wandel und Reformen. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 61-80 Allmendinger, Jutta/Kathrin Dressel 2005: Familien auf der Suche nach der gewonnenen Zeit. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 23-24, S. 24-29 Allmendinger, Jutta/Christian Ebner 2006: Die Situation von Frauen auf dem Arbeitsmarkt heute und in Zukunft. In: Hummel, Nora/Axel Schack (Hrsg.): Kinderlärm ist Zukunftsmusik: was Unternehmen und Politik für eine familienfreundliche Lebens- und Arbeitswelt leisten können. Heidelberg: Haefner, S. 37-50 Allmendinger, Jutta/Susanne Kohaut/Iris Möller 2006: Förderung der Chancengleichheit: ganz schön schwierig. In: IAB Forum, Nr. 1, S. 64-69 Alterssicherungsbericht 2005: Ergänzender Bericht der Bundesregierung zum Rentenversicherungsbericht 2005. Berlin: Bundesministerium für Arbeit und Soziales
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Ulrike Teubner
Beruf: Vom Frauenberuf zur Geschlechterkonstruktion im Berufssystem
Die Konstitution von Berufsarbeit als Konstruktion von Geschlechtlichkeit In diesem Beitrag zeichne ich nach, wie in der Frauen- und Geschlechterforschung der Zusammenhang von Geschlecht und Beruf konzeptualisiert und somit der Diskurs um das Konstrukt Beruf geführt worden ist. Als eine Form der Organisation von Erwerbsarbeit weist der Beruf eine „doppelte Zweckstruktur“ (Beck/Brater 1977) auf in der Verkoppelung von Beruf und Biografie einerseits, Beruf und Sozialstruktur andererseits. Je nach Blickwinkel werden in der Berufsforschung daher eher sozialintegrative oder system-funktionale Aspekte von Beruflichkeit hervorgehoben. Das originäre Anliegen der Frauen- und Geschlechterforschung besteht darin, die Bedeutung der Geschlechtszugehörigkeit für die Strukturierung und Symbolisierung von Berufsarbeit herauszuarbeiten. Geschlecht ist nach Angelika Wetterer (2002) – so die Grundthese – entscheidend für die Art und Weise, wie Arbeit organisiert ist, und Arbeit ist entscheidend für die Konstruktion von Geschlechtlichkeit. Die Konstruktion der Geschlechterdifferenz in der beruflichen Arbeit ist danach ein integraler Bestandteil von Strukturierungs- und Symbolisierungsprozessen von Berufsarbeit. Damit trägt der Berufsbereich in spezifischer Weise zur Reproduktion der Geschlechterverhältnisse bei. Der theoretische Zugang zum Zusammenhang von Beruf und Geschlecht kann aus mehreren Perspektiven erfolgen, je nachdem ob eine eher sozialstrukturelle oder akteursorientierte Sichtweise als angemessen betrachtet wird. In der feministischen Forschung sind unterschiedliche Zugänge entwickelt worden, die sich zur Aufgabe machen, den Zusammenhang von Geschlechtertrennung und -hierarchie zu analysieren, der eine Grundkonstante der Geschlechterordnung in der Berufswelt darstellt. Im Zentrum steht damit die Geschlechterdifferenz als operatives System, wobei der Fokus zunehmend auf die Mechanismen der Herstellung der Geschlechterdifferenz in der Berufsarbeit gelegt worden ist.
Die Verknüpfung von Beruf und Geschlecht im Kontext der geschlechtlichen Arbeitsteilung Entgegen der konzeptionellen Gleichsetzung des Arbeitsbegriffs mit Erwerbsarbeit setzt die Frauenforschung analytisch auf Zugänge, die vom Gesamtzusammenhang von Frauenarbeit innerhalb und außerhalb des Erwerbssystems ausgehen. Die Positionierung von Frauen im Berufssystem von Industriegesellschaften lässt sich – so die allgemeine Ausgangsthese – erst aus der gesellschaftlichen Organisation des Zusammenhangs von Produktions- und Reproduktionsbereich erklären. Dabei ist aus historischer Perspektive die normativ-institutionelle Verknüpfung von Erwerbsarbeit und privater Reproduktion als variabel und kulturabhängig zu sehen (vgl. Hausen 2000, Pfau-Effinger 2000, Becker-Schmidt 2002). Die Konzeptionen vom weiblichen Lebenszusammenhang (vgl. Prokop 1977), vom halbierten Leben (vgl. Beck-Gernsheim 1980) bzw. vom weiblichen Arbeitsvermögen (vgl. Beck-
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Gernsheim 1976, Ostner 1978) sowie von der doppelten Vergesellschaftung von Frauen (vgl. Beer 1987, Becker-Schmidt 1987) oder auch von Frauenarbeit als Zwangsarbeit (vgl. Bennholdt-Thomsen 1983) stellen frühe Erklärungsansätze dar, in denen gesellschaftstheoretische, sozialwissenschaftliche und historische Zugänge miteinander verbunden werden, um die normativ-institutionellen Verknüpfungen von bezahlter Berufsarbeit und Haus- oder Familienarbeiten zu erfassen. Dominiert zunächst der Blick auf die Gesamtsituation von Frauen auf dem Arbeitsmarkt, werden zunehmend die Berufe in ihrer Aufteilung in Frauen-, Männer- und Mischberufe ins Zentrum der Untersuchungen gerückt. Dies geschieht besonders vor dem Hintergrund, dass sich die Formen der sozialen Ungleichheit zwischen den Geschlechtern im Erwerbssystem als erstaunlich beständig erweisen. Die Analyse von Beruflichkeit als eine Form der Organisation von Arbeitskraft – der Beruf als entscheidende Vermittlungs- oder Zugangsinstitution für Qualifikations-, Erwerbs- und Lebenschancen – hat bis heute einen zentralen Platz in der feministischen Forschung. Vor dem Hintergrund der Qualifikationserfolge der Frauen, der veränderten Erwerbsmuster und gewandelten Lebensinteressen von Frauen stellt die sich über den Beruf reproduzierende Ungleichheit zwischen den Geschlechtern ein – auch theoretisches – Ärgernis dar. Die zentrale Aufgabe und Herausforderung an eine feministische Berufsforschung besteht darin, die Kategorie Geschlecht so zu konzeptualisieren, dass die Formen und Ursachen der Geschlechter-Ungleichheiten im Berufssystem angemessen erfasst werden können.
Die Mehrdimensionalität der Kategorie Geschlecht Rückblickend lässt sich feststellen, dass Frauenforscherinnen die Bedeutung von Geschlecht als Kategorie sozialer Strukturierung und symbolischer Codierung auf der Ebene der Arbeitsmarktstrukturen, der Berufe und der Arbeitsplätze sichtbar gemacht haben. Jenseits von Qualifikationen und Berufsinteressen ist die Geschlechtszugehörigkeit der Arbeitenden als ein zentrales Strukturierungs- und Symbolisierungsprinzip in der Berufsarbeit zu sehen. Insofern bezeichnen Helga Krüger und Rene Levy (2000) Geschlecht als Masterstatus. An die Geschlechtszugehörigkeit sind Zuweisungs- und Zuschreibungsprozesse gebunden, die jenseits von Qualifikation und Leistung von Individuen für eine ungleiche Integration und eine asymmetrische Positionierung im Berufssystem sorgen. Eine Vielzahl von empirischen Studien dokumentiert das Ausmaß der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern im Berufssystem (u.a. Teubner 1989, Engelbrech 1991, Nickel 1994, Gottschall 1995, 2000; Geissler u.a. 1998, Bothfeld u.a. 2005). Eine frühe Phase der Konzeptualisierung von Geschlecht in der Berufsforschung mit weitreichenden Auswirkungen ist geprägt durch das Konzept des weiblichen Arbeitsvermögens (vgl. Beck-Gernsheim 1976, Ostner 1978). Das weibliche Arbeitsvermögen – konzipiert als idealtypisches Konstrukt – sollte die Besonderheiten, die für Frauen in der Arbeitswelt gelten, jenseits vorherrschender Defizitzuweisungen erfassen. Ausgehend von der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern konturiert es besondere Qualifikationen und Berufsinteressen von Frauen, die diese in ihrem ersten Arbeitsbereich, den Haus- und Familienarbeiten, ausbilden. Erfahrungen im sog. privaten Arbeitsbereich prägen nicht nur die beruflichen Interessen und Zielsetzungen der Frauen, sondern werden in den Frauenberufen besonders genutzt oder abgefragt. Mit der Gegenüberstellung von personen- und bedürfnisbezogenem weiblichem Arbeitsvermögen und berufsbezogenem und tauschwertorientiertem männlichem Arbeitsvermögen stellen die Autorinnen ein Grundschema zur Konzeptualisierung der Geschlechterdifferenz dar, das trotz entschiedener Kritik weite Verbreitung fand. Die Kritik bezieht sich zum Teil auf die binäre Fassung der Geschlechterklassifikation und die Art ihrer Ableitung aus der geschlechtlichen Arbeitsteilung, die als reduktionistisch gesehen wird.
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Gudrun-Axeli Knapp (1987) kritisiert das Konzept insbesondere als ahistorisches und kontextfreies Konstrukt, mit dem den Frauen zugewiesene Potenziale idealisiert und essentialisiert werden. Weiblichkeit lässt sich nur – so die Argumentation – aus dem Geschlechterverhältnis ableiten und ist insofern ein relationaler Begriff (vgl. Knapp 1987: 247). Ein anderer Strang der Kritik betont, dass durchaus nicht alle Frauenberufe inhaltlich als hausarbeitsnah und/oder personenbezogen zu klassifizieren sind. Danach – so die These – folgt die Aufteilung in Männer- und Frauenberufe nicht inhaltlichen Kriterien und jeder Versuch, die berufliche Segregation arbeitsinhaltlich begründen zu wollen, führt in die Irre. In dieser Kontroverse lässt sich eine zentrale – nach wie vor gültige – Anforderung an die Frauenforschung benennen. Der Umgang mit der Kategorie Geschlecht erfordert eine mehrfache analytische Differenzierung, die zunächst von der Differenz zwischen Geschlecht als Status- oder Strukturkategorie und Geschlecht als Kategorie der Symbolisierung von Männlichkeit und Weiblichkeit auszugehen hat, sollen zirkuläre Argumentationen vermieden werden (vgl. Knapp 1987, Wetterer 1995, Becker-Schmidt 2002). Statt eine Differenz der Geschlechter – in polarer oder binärer Form – immer schon als gegeben vorauszusetzen und die Formen der Geschlechtertrennung in der Berufsarbeit als Ausweis der Differenz zu interpretieren und somit innerhalb eines geschlossenes Verweissystems zwischen Sozialstruktur und Individuum zu argumentieren, geht es darum, die Prozesse der Geschlechtertrennung und Hierarchisierung in der Berufswelt und die Mechanismen und Muster der symbolischen Zuordnung von Arbeit und Geschlecht getrennt zu analysieren, ohne den Zusammenhang von Strukturierungen und Codierungen in der Art der Vergeschlechtlichung von Arbeit aus den Augen zu verlieren (vgl. Wetterer 1995, 2002; Knapp 1987, 1995; Lorber 1999).
Geschlechtliche Segregation und die Vergeschlechtlichung von Berufen Die Bedeutung dieser Anforderung lässt sich an den Analysen zur beruflichen Segregation verdeutlichen, denn diese stellen das Feld dar, in dem lange Zeit differenz- und struktur- bzw. hierarchietheoretische Erklärungen neben- und gegeneinander standen. Pointiert lässt sich die geschlechtliche Segregation als Ausweis sozialer Ungleichheit wie folgt charakterisieren: Frauen und Männer nehmen trotz gleicher Qualifikation in allen Berufen und Professionen unterschiedliche Positionen ein; zudem sind sie sehr ungleich in den Berufen präsent. Nach wie vor erhalten Frauen eine geringere Entlohnung als ihre männlichen Kollegen – dies gilt selbst bei gleicher Qualifikation und im gleichen Beruf und wird sichtbar erst im direkten Vergleich – und nach wie vor ist die Bezahlung in den mehrheitlich von Männern besetzten Berufen höher als in den von Frauen dominierten Berufen (vgl. Engelbrech 1991, Gottschall 1995, Allmendinger/Podsialowski 2001, Teubner 2002). Die Frauenforschung konnte nachweisen, dass das Ausmaß der geschlechtlichen Segregation nicht in dem Maße abnimmt, wie sich die Qualifikationsniveaus zwischen den Geschlechtern angleichen oder wie sich eine Anpassung in den Erwerbsmustern und Erwerbsverläufen abzeichnet. Die Studien „Besser gebildet und doch nicht gleich“ (Rabe-Kleberg 1990) und „Ungleich unter Gleichen“ (Heintz u.a. 1999) fassen zentrale Erkenntnisse zusammen (vgl. Teubner 1989, 1992; Krüger 1992, Wetterer 1992, 1995). Damit widerlegt die Frauenforschung herkömmliche Erklärungsansätze, in denen, wie in den Humankapital- und Sozialisationstheorien, die Akteursperspektive dominiert. Mit dem Zurückweisen von subjekt- und sozialisationstheoretischen Erklärungsansätzen zu Berufsverläufen und Karrieremustern von Frauen werden auch differenztheoretische Erklärungen relativiert und der Fokus auf das Berufssystem als Ort der Produktion von Geschlechter-Ungleichheit gelegt. Sowohl die erste Schwelle, der Zugang zur Berufsausbildung, als auch die zweite Schwelle, der Übergang in die qualifikationsadäquate Berufstätigkeit, sind Gegenstand der Studien, in denen die
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Situation der Geschlechter in Frauen-, Männer- oder Mischberufen untersucht wird. Die „Integration“ von Frauen in das Erwerbssystem erfolgt zum Teil in spezifischen Berufsausbildungsinstitutionen, die mit der Trennung der Berufe in Männer- und Frauenberufe korrespondieren (vgl. Krüger 1984, 2001). Insofern ist im Berufsbildungssystem bereits eine Trennung zwischen den Geschlechtern angelegt und der Weg in unterschiedliche Berufe vorgezeichnet. Werden Konstitutionsprinzipien von Frauenberufen näher untersucht, dann zeigen sich als gemeinsame Merkmale: begrenzte oder kürzere Laufbahnen neben der Konzentration von Frauenberufen auf den niederen Besoldungsebenen (vgl. Allmendinger/Podsialowski 2001, Heintz u.a. 1999). Wenn Helga Krüger (1992) einen Teil der Frauenberufe als beschäftigungsförmig im Gegensatz zu Männerberufen bezeichnet – diese gelten als existenzsichernd –, dann im Hinblick auf die geringen Verdienstmöglichkeiten, die unzureichenden Laufbahnmuster und Sackgassen, die impliziten Altersgrenzen und die besonderen Belastungen in einer Vielzahl von Frauenberufen. Unabhängig vom Berufstypus verdienen Frauen weniger als Männer, werden später befördert und haben selbst als Führungskraft weniger Personalverantwortung als Männer. Und selbst bei Wahl eines Männerberufes als Ausbildungsberuf oder Studienfach, erweist sich die Geschlechtszugehörigkeit weiblich als Nachteil. Der erfolgreiche Studienabschluss in einem sog. Männerfach bietet keine Gewähr für den erfolgreichen Einstieg in den Beruf, der erfolgreiche Berufseinstieg keine Garantie für eine erfolgreiche Berufskarriere (vgl. Janshen/Rudolph 1987, Roloff 1989, Schmitt 1993, Schreyer 2008, Krais 2001). Zur Kennzeichnung der spezifischen Segregationspraxis in Männerberufen ist der Terminus des Drehtüreffektes, dessen quantitative Bedeutung umstritten ist, geprägt worden (vgl. Jacobs 1989, Lorber 1999). Damit ist gemeint, dass Frauen bis zu einem gewissen Anteil zwar Zugang zu einem Männerberuf finden, dort aber nur zeitlich begrenzt und nicht dauerhaft verbleiben. Wollte man die Situation lediglich unter dem generellen Gesichtspunkt der Besonderheiten von Minderheiten erfassen, würde man damit systematisch den Unterschied zwischen Frauen und Männern als Minderheiten im gegengeschlechtlich typisierten Beruf übersehen (vgl. Knapp 1995, Wetterer 2002). Die Verdienstunterschiede fallen in einem Frauenberuf positiv zugunsten der Männer aus und die Karrieremuster unterscheiden sich nicht von denen in Misch- oder Männerberufen. Insofern besetzen Männer auch hier eher die höheren Positionen. Normative Vorgaben zur zeitlichen Arbeitsorganisation oder Arbeitszeitregimes dienen – so eine These der Frauenforschung – als ein Instrument zur Exklusion von Frauen aus der Berufsarbeit und/oder zur Aufrechterhaltung der beruflichen Segregation. Das sog. Normalarbeitsverhältnis ist mehrfach als ein Konstituens asymmetrischer Geschlechterverhältnisse bezeichnet worden (vgl. Knapp 1995, Müller/Schmidt-Waldherr 1987, Jurczyk/Rerrich 1993, Lenz 2000, Geissler 2000). In dem Maße, wie es die primäre oder alleinige Zuständigkeit der Frauen für Kinder- und Hausarbeiten normierend voraussetzt, fungiert es als ein zentrales Bindeglied zwischen Berufsorganisation und Geschlechterkontrakt oder Geschlechterordnung. Der den Geschlechtern zugeschriebene unterschiedliche Umgang mit Zeit und die unterschiedlichen zeitlichen Anforderungen in Männer- und Frauenberufen – Stichwort Karriere – bildet einen zentralen Baustein im Geflecht der strukturierenden und symbolisierenden boundary work (Lorber 1999), mit dessen Hilfe sich die Trennungen und Aufteilungen zwischen den Geschlechtern im Berufssystem setzen und rationalisieren lassen. Seit Beginn der 1990er Jahre setzt in der Frauenforschung eine erneute Reflexion der bestehenden Erklärungsansätze ein, für die der von Angelika Wetterer begründete Schwerpunkt Profession und Geschlecht (1992, 1995) entscheidende Bedeutung hat. Um eine offensichtliche Redundanz in den Erklärungsansätzen – wenn die geschlechtlich strukturierte Arbeit immer schon als Ausdruck der Differenz zwischen den Geschlechtern gedeutet wird – zu vermeiden, greifen Regine Gildemeister und Angelika Wetterer (1992) auf konstruktivistische Ansätze des doing gender als doing difference zurück und tragen damit entscheidend dazu bei, Optionen für eine sozialkonstruktivistische Perspektive in der feministischen Berufsforschung anzuregen. Sie fordern dazu auf, die Prozesse und Ergebnisse der Geschlechtertrennung im Berufssystem analytisch voneinander zu unterscheiden, um jeweils genauer zu untersuchen, wie die Ge-
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schlechtszugehörigkeit ihre Wirkung im Berufssystem entfaltet (Wetterer 2002). Das bedeutet zunächst, binäre Geschlechterklassifikationen nicht länger als gegeben zu betrachten. Zugleich eröffnen sich mit dem Blick auf die Mechanismen der Herstellung einer je berufsförmig gefassten Geschlechterdifferenz neue Perspektiven zur Analyse des Zusammenhangs von Geschlechtertrennung und -differenzierung. Damit findet ein verstärkter Anschluss an die feministische Theoriebildung des anglo-amerikanischen Sprachraums statt, der nicht auf die Analyse des beruflichen Alltagshandelns der Akteure beschränkt ist (vgl. stellvertretend Lorber 1999, Heintz u.a. 1999, Gottschall 2000).
Geschlechts-Label von Berufen – historisch und kulturell variabel Die Relevanz dieses theoretischen Zugangs lässt sich im Blick auf ein Phänomen verdeutlichen, das in historisch und interkulturell angelegten Studien mehrfach untersucht worden ist: der „Geschlechtswechsel“ von Arbeit (vgl. Cockburn 1988, Willms-Herget 1985, Reskin/Roos 1990). Ändert sich die Geschlechterdominanz in einem Beruf, wird aus einem Männerberuf ein Frauenberuf oder umgekehrt, dann geht mit diesem Wandel ein Deutungsprozess einher, in dem symbolisch die neue, je spezifische Passung von Berufsarbeit und Geschlechtszugehörigkeit hergestellt wird. Ganz offensichtlich verläuft dieser Prozess hoch selektiv und willkürlich und gewinnt seine Plausibilität häufig erst nachträglich nach vollzogener Resegregation (vgl. u.a. Cockburn 1988 zum Bereich der Röntgenassistenz oder die Beispiele bei Reskin/Roos). Der Geschlechtswechsel von Arbeit ist zudem verbunden mit einer veränderten Positionierung des jeweiligen Berufes im Status-Gefüge der Berufe. Die Feminisierung von Arbeit geht in der Regel mit einem Status- und Ansehensverlust – so das klassische Muster – einher. Dies muss nicht immer in einem realen Bedeutungsverlust des Berufs begründet sein, obwohl häufig technischorganisatorische Veränderungen innerhalb von Berufen dazu führen, dass Frauen Zugang zu Tätigkeitsbereichen finden, die bisher Männern vorbehalten waren. In der Regel ziehen sich Männer aus diesen Feldern zugunsten anderer Berufe zurück und Frauen können diese Lücke nutzen (vgl. Kuhlmann 1999, Reskin/Roos 1990, Wetterer 2002). Angelika Willms-Herget (1985) war eine der ersten, die sich intensiv mit den Mustern von Segregationsprozessen beschäftigt hat. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass die Resegregation das Hauptmuster der Veränderung darstellt. Dies Muster lässt sich in Deutschland an den Berufen Friseur, Buchhalter und Grundschullehrer gut nachweisen, die lange Zeit Männerberufe waren. Sowohl der Beruf FriseurIn als auch GrundschullehrerIn gelten heute als typische Frauenberufe. Ihre Beruflichkeit ist überlagert von Querverweisen zu traditionellen Frauenaufgaben und -bereichen wie z.B. Ästhetik als Aufgabe der Frauen, Umgang mit (kleinen) Kindern als Interesse und Kompetenz von Frauen. Die zeitliche Organisation des Lehrerberufs lässt ihn zudem für Frauen als besonders geeignet erscheinen. Die im Beruf Friseurin angelegte begrenzte Berufskarriere korrespondiert in anderer Weise mit dem traditionellen Geschlechterkontrakt in Deutschland, der Frauen nach wie vor auf die Familienarbeiten verpflichtet.
Zu den Forschungsfragen Ein Blick auf die Forschungslage zeigt, dass die Aufnahme sozialkonstruktivistischer Ansätze des doing gender in die feministische Berufsforschung aus unterschiedlichen theoretischen Zugängen erfolgt ist. Helga Krüger (2001) hat einen Institutionenansatz entwickelt und nutzt das Konzept des doing gender, um zu analysieren, wie die Institution Beruf, Familie und Sozialpolitik miteinander verknüpft sind. Beate Krais (2001) verbindet ihn mit dem Habitus-Konzept von Pierre Bourdieu
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und betont seine Relevanz für den Bereich des Handelns als vorstrukturierte soziale Praxis. Angelika Wetterer (2002) überträgt den Ansatz auf die Meso-Ebene der Berufe und hat einen Bezugsrahmen für die Analyse der Geschlechterkonstruktionen auf der Ebene der beruflichen Arbeitsteilung vorgestellt. Zunehmend werden auch organisationssoziologische und sozialisationstheoretische Ansätze mit dem Konzept des doing gender verknüpft (vgl. Müller 2000, Metz-Göckel/Roloff 1995). Anschlussfähige Bezugstheorien ergeben sich in der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung sowie in den Theorien sozialer Ungleichheit (vgl. Gottschall 2000), ohne dass damit das Feld systematisch ausgeleuchtet worden ist und alle Kontroversen geklärt worden sind. Bereits in der Vergangenheit haben sich in der Berufsforschung interkulturell und sozialhistorisch angelegten Studien als äußerst produktiv erwiesen, die auf die Unterschiede in den Verknüpfungsvarianten von Erwerbsarbeit und Reproduktionsbereich hinweisen und die westdeutsche Variante des Geschlechterkontraktes oder der Geschlechterordnung als eine besondere Form des Patriarchalismus beschreiben. Eine auch konzeptionelle Ausweitung der kulturvergleichenden und historischen Berufsforschung eröffnet neue Perspektiven, um die Pfadabhängigkeit des (west-)deutschen Modells im Zusammenhang von Geschlechterordnung, Arbeitsordnung und Gesellschaftsordnung transparenter zu machen. Ein großes Feld für zukünftige Forschungen stellen Fragen zur Reorganisation von Arbeit und zur Zukunft des Konzepts Beruf dar. Im Spannungsfeld von realen und normativen Veränderungen – Zeit und Ortsgebundenheit von Arbeit, Arbeitsorganisation in festeren oder flexibleren Strukturen usw. – stellen sich die Fragen nach erneuerten oder veränderten Schließungsprozessen vor dem Hintergrund der Qualifikationserfolge von Frauen und einer zunehmenden Pluralisierung der Lebenslagen von Frauen. Dies schließt die Frage nach den jeweiligen Analyseebenen unterhalb der Kategorie Beruf ein. Unter Reorganisationsaspekten erscheint es sinnvoll, konkrete Arbeitszusammenhänge in Projekten und Teams zu untersuchen. In diesem Zusammenhang muss auch die strittige Frage, ob und wann Geschlecht als Ordnungskategorie an Bedeutung verliert, erneut thematisiert werden (Gildemeister/Wetterer 2006). Unter methodischen Gesichtspunkten fällt allerdings auf, dass die Diskussion um die quantitativen Kriterien (Messinstrumente verschiedener Art) zur Vergleichbarkeit von beruflicher Segregation im interkulturellen Vergleich in der deutschen Frauenforschung bisher wenig geführt wird. Das gilt auch für die Rezeption oder den Anschluss an eher makroökonomisch orientierten Thesen zu Wandel und Konstanz der beruflichen Segregation. Verweise: Arbeit Doing Gender Doppelte Vergesellschaftung Erwerbsarbeit Konstruktion von Geschlecht Lebenslauf Subsistenzansatz
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Beruf
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Ulrike Teubner
Schreyer, Franziska 2000: Ein bewegtes Jahrzehnt. Maschinenbau, Elektrotechnik, Informatik. In: IABMaterialien, 4/2000 Schreyer, Franziska 2008: Akademikerinnen im technischen Feld – der Arbeitsmarkt von Frauen aus Männerfächern. (IAB-Bibliothek, 03), Frankfurt/M.: Campus Teubner, Ulrike 1989: Neue Berufe für Frauen – Modelle zur Überwindung der Geschlechterhierarchie im Erwerbsbereich. Frankfurt/M.: Campus Teubner, Ulrike 1992: Geschlecht und Hierarchie. In: Wetterer, Angelika (Hrsg.): Profession und Geschlecht. Frankfurt/M.: Campus, S. 45-50 Teubner, Ulrike 2002: Gendered Segregation of Work. In: Becker-Schmidt, Regina (Hrsg.): Gender and Work in Transition. Opladen: Leske + Budrich, S. 113-130 Wetterer, Angelika (Hrsg.) 1992: Profession und Geschlecht. Frankfurt/M.: Campus Wetterer, Angelika 1995: Dekonstruktion und Alltagshandeln. In: Wetterer, Angelika (Hrsg.): Die soziale Konstruktion von Geschlecht in Professionalisierungsprozessen. Frankfurt/M.: Campus, S. 223-246 Wetterer, Angelika 2002: Arbeitsteilung und Geschlechterkonstruktionen: Gender at Work in theoretischer und historischer Perspektive. Konstanz: UVK Willms-Herget, Angelika 1985: Frauenarbeit. Zur Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt. Frankfurt/M.: Campus
Ute Luise Fischer
Transformation: Der Systemwechsel und seine Erkundung in der Frauen- und Geschlechterforschung
Definition und Gegenstand der Transformation In den Sozialwissenschaften wird unter dem Topos Transformation die Diskussion über den politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Umwälzungsprozess der ehemals sozialistischen Staaten Osteuropas und der DDR geführt. Im Unterschied zu früheren Transformationswellen etwa nach den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts liegt das Typische dieser Umbrüche in ihrer Entwicklungsrichtung und Geschwindigkeit sowie in der Gleichzeitigkeit des politischen und ökonomischen Systemwechsels mit den sozio-kulturellen Anpassungserfordernissen. Mit dieser Vielschichtigkeit der gesellschaftlichen Umwälzungen ist eine Dynamik verbunden, die es nahe legt, die Transformation als längerfristigen Prozess zu konzeptualisieren. Verlauf und tiefgreifende Folgen der Systemwechsel lassen sich idealtypisch anhand von drei Entwicklungsphasen beschreiben: 1. Niedergang, 2. Transition der politisch-institutionellen Ordnung und 3. Strukturierung (vgl. Kollmorgen 2001). Insbesondere die Strukturierungsphase muss als Prozess verstanden werden und stellt vor allem in der soziologischen Transformationsdebatte den wesentlichen Fokus der Forschung dar. Stärker als die Erforschung der ostdeutschen Transformation sind die Untersuchungen der osteuropäischen Prozesse von Fragen der ökonomischen und politischen Konsolidierung geprägt. Das Geschlechterverhältnis wird in der vornehmlich politologischen Diskussion erst in jüngerer Zeit unter den Aspekten der politischen Partizipation von Frauen und den sozialen Folgen der Umwälzungen für die soziale Lage, Armut, Erwerbsarbeit und Ausgrenzung thematisiert (vgl. exemplarisch das Schwerpunktheft „Osteuropa“ 2003). Bei aller soziokulturellen Differenziertheit der osteuropäischen Transformationsgesellschaften scheint unabhängig vom Gelingen des Übergangs ein Phänomen gemeinsames Kennzeichen zu sein: Es setzt sich nach dem Niedergang des mit dem Staatssozialismus verbundenen Emanzipationspostulats ein eher traditionelles Frauenbild durch, das mit der modernen Bürgerin im Sinne einer an den Belangen des Gemeinwesens aktiv Teilnehmenden wenig gemein hat. Der Blick auf die Lebens- und Arbeitschancen von Frauen hat sich sowohl in der osteuropäischen als auch in der ostdeutschen Entwicklung von der These der „Verliererinnen“ auf Differenzierungsprozesse zwischen Frauen verschoben. Die deutsche Vereinigung stellt unter den Transformationsprozessen insofern einen Sonderfall dar, als mit dem Anschluss der DDR an Westdeutschland die gesellschaftlichen Basisinstitutionen vorgegeben waren und die Entwicklung Ostdeutschlands ihrerseits eingebettet ist in krisenhafte Modernisierungsschübe der alten Bundesrepublik. Diese „doppelte Transformation“ (Nickel 1995) kann keineswegs als abgeschlossen gelten und fordert zu weiterer Forschung heraus. Ein zentrales Erkenntnisinteresse richtet sich aus der Perspektive der Frauen- und Geschlechterforschung auf die Frage, ob und auf welchem Wege sich das Geschlechterverhältnis sowie Deutungs- und Handlungsstrukturen von Männern und Frauen innerhalb tiefgreifender gesellschaftlicher Umbrüche verändern. Angesichts der Übereinstimmung der grundlegenden Transformationsproblematik sowie einer Flut der zur ostdeutschen Transformation vorliegenden Veröffentlichungen steht diese im Mittelpunkt dieses Beitrags.
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Ute Luise Fischer
Transformationen im Geschlechterverhältnis Die Forschung über den deutschen Transformationsprozess, der seinen Beginn mit der Öffnung der deutsch-deutschen Grenze im Herbst 1989 nahm und mit dem Einigungsvertrag im Oktober 1990 besiegelt wurde, wies bereits Ende der 1990er Jahre über 5.500 deutschsprachige Publikationen auf (vgl. Reißig 2000: 17). In der Bibliografie zur deutschen Einheit (Berth/Brähler 2000) finden sich allein über 700 Titel zum Stichwort Frauen, die eine Häufung bei folgenden Themen aufweisen: a. Rückblicke auf die DDR und der Systemvergleich mit der BRD, b. Qualifizierung, Erwerbsarbeit und Arbeitslosigkeit sowie c. Lebensführung, -entwürfe und biografische Verarbeitung der Transformation. Dabei lassen sich zwei Phasen innerhalb der Forschung ausmachen, die sich in der Fokussierung der Transformationsfolgen unterscheiden.
Umbruch im Visier: Vom Niedergang des DDR-spezifischen Geschlechterarrangements Zu Beginn des Transformationsprozesses muss von einer „Ad-hoc“-Forschung (Hradil 1996: 301) gesprochen werden, deren Charakter im Wesentlichen in einer wissenschaftlichen Begleitung und empirischen Berichterstattung über die gesellschaftlichen Umwälzungen an ihren „Brennpunkten“ (ebd.) besteht. Allen voran waren die drastischen Beschäftigungseinbrüche durch den wirtschaftlichen Niedergang der ehemaligen DDR Gegenstand einer Reihe von Untersuchungen. Aus der Geschlechterperspektive waren diese Entwicklungen besonders prägnant, stellten sie doch ein DDRtypisches Lebensmuster von Frauen in Frage, das sich vom BRD-Modell der „modernisierten Versorgerehe“ (Pfau-Effinger/Geissler 1992) deutlich unterschied und aus westdeutscher Sicht mit einiger Hoffnung auf inhärente Emanzipationsschübe verbunden war: das Vereinbarkeitsmodell von Familie und einem qualifizierten Beruf, der fast kontinuierlich über den Lebensverlauf hinweg ausgeübt wurde. Die schon im Juni 1990 sichtbare überproportionale Betroffenheit der Frauen von Arbeitslosigkeit war Ausgangspunkt von quantitativen Analysen, in denen die Neuschneidung von Segregationslinien und die Veränderung von geschlechtsspezifischen Erwerbschancen dokumentiert wurde (so etwa eine Reihe von Schriften des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, vgl. bspw. Beckmann/Engelbrech 1994, Engelbrech 1994 oder Publikationen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, z.B. Behringer 1995, Holst/Schupp 1995 u.a.). Schenk und Schlegel (1993) haben früh auf das Phänomen hingewiesen, dass das Beschäftigungsrisiko für Frauen nicht aus überproportionalen Entlassungen resultiert, sondern Frauen bei der Einmündung in neue Beschäftigung schlechtere Chancen haben. Dabei sinkt der Frauenanteil an den Erwerbstätigen in fast allen Wirtschaftsbereichen, unabhängig davon, ob eine Branche prosperiert, stagniert oder schrumpft, und unabhängig davon, ob sie zuvor frauen- oder männerdominiert war. Der Geschlechtszugehörigkeit kommt in der Restrukturierung der Beschäftigungsverhältnisse steigende Bedeutung zu. Frühe Arbeiten aus der Frauenforschung behandeln ferner rechtliche und politische Rahmenbedingungen, Geschlechterstereotype und Frauen-Leitbilder in der DDR sowie die subjektive Wahrnehmung patriarchaler Strukturen (vgl. z.B. Diemer 1994) oder beziehen einen Systemvergleich mit den westdeutschen Lebens- und Arbeitsverhältnissen ein (vgl. Bütow/Stecker 1994, Helwig/Nickel 1993, Knapp/Müller 1992). Einige wenige theoretische Überlegungen über die Strukturiertheit der Geschlechterungleichheit im Realsozialismus und ihre Transformation (vgl. Beer/Chalupsky 1993) stützen den Tenor der meisten Studien: Geschlechterasymmetrie war der DDR ebenso wie der BRD zu eigen. Die Gemeinsamkeit patriarchaler Strukturen wird vor allem in der gesellschaftlichen Organisation von Arbeit und Generativität gesehen. Deren wesentliches Strukturmerkmal ist eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, die auch in der DDR in der weitgehenden Übernahme der Reproduktionsaufgaben durch Frauen bestand und die Folgen hat für alle anderen Lebensbereiche, insbesondere für berufliche Karrieren und politische Teilhabe. Waren diese Folgen aufgrund der
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Vereinbarkeitsbedingungen von Familie und Beruf in der DDR abgefedert, so führen sie unter den transformierten Bedingungen zu einer steigenden Relevanz des Geschlechts als sozialem Differenzierungsfaktor.
Relativierung der Transformationsfolgen: Von der Beharrlichkeit des sozialistischen Erbes und der Differenziertheit der Lebensführung Etwa Mitte der 1990er Jahre folgt in der Transformationsdebatte eine Phase der differenzierteren Interpretation der Geschehnisse. Im Unterschied zu den frühen Studien werden die Differenzierungsprozesse unter Frauen stärker in den Vordergrund gerückt und die Tragfähigkeit von Ansätzen der Frauenarbeits(markt)forschung geprüft (vgl. Nickel/Schenk 1996). Beschäftigungsperspektiven werden ambivalenter eingeschätzt (vgl. Diewald/Sørensen 1996). Der Umbruch sei auf der Ebene des Beschäftigungsstatus weniger einschneidend als angenommen. Mehr als zwei Drittel der erwerbstätigen Frauen seien über die Transformation hinweg im gleichen oder in einem vergleichbaren Beruf verblieben (Trappe 1997: 174). Die auch zuvor schon umstrittene These der Frauen als „Verliererinnen der Wende“ wird aufgegeben. So zeigen auf qualitativen Analysen beruhende Berichte über Veränderungen im Geschlechterverhältnis auf Betriebsebene (vgl. bspw. für die Bereiche Verkehr und Finanzdienstleistungen Hüning/Nickel u.a. 1998) wie in Prozessen des doing gender, dass die innerbetriebliche Restrukturierung zu Segregationslinien führt, die nicht immer der Analogie von Geschlechterdifferenz und Geschlechterhierarchie folgen. Korrigiert werden muss demnach auch die Tendenzbeschreibung, nach der die transformierten Beschäftigungsstrukturen generell mit dem Sinken weiblicher Erwerbschancen einhergehen. Demgegenüber eröffnen sich in den Segmenten qualifizierter Dienstleistungsarbeit Beschäftigungspotenziale (vgl. Nickel 1999). Einige neuere Studien beschäftigen sich mit Form und Ursachen von geschlechtsspezifischer Arbeitsmarktsegregation und Erwerbschancen in historisch vergleichender Perspektive zwischen der DDR und der BRD vor der deutschen Vereinigung (vgl. Trappe/Rosenfeld 2001) oder der DDR und den neuen Bundesländern (vgl. Fischer 2001). Deutlich wird hier, dass sich Segregationslinien weder nach dem faktischen Vorliegen des Vereinbarkeitsproblems noch aus dem Inhalt der Tätigkeit begründen lassen, dass sie aber in beiden Gesellschaften bestanden haben bzw. nach der Vereinigung ansteigen und offenbar durch geschlechtsbezogene Deutungen und Zuschreibungen erklärt werden müssen. Regionalhistorische Wurzeln der Segregationen reichen weit vor die DDR-Zeit zurück und erlangen Wirksamkeit z.B. durch die Praxis von Arbeitsmarktakteuren. Die Veränderungen der Arbeitsstrukturen sowie der staatlichen Regulierungen durch die Übernahme des westdeutschen sozialpolitischen Regelwerks und der rechtlichen Normierungen schufen in kürzester Zeit einen neuen Rahmen für Handlungsorientierungen. Eine Vielzahl von Publikationen behandeln daher die Transformationsfolgen für Lebensentwürfe und Lebenslagen (vgl. z.B. Keiser 1997, Nauck u.a. 1995) und die biografische Bewältigung der Transformation (etwa Stolt 2000, Stuhler/Wedl 2001, Weihrich 1999, Zierke 1996). Hermeneutische Interviewanalysen zeigen auf der Ebene von Deutungsstrukturen prägnant die nachhaltige Wirkung der unter Sozialisationsbedingungen der DDR ausgeformten Lebenskonzepte und Habitusformen (vgl. Dölling/Seibt 1995, Fischer u.a. 2002). So erklärt sich, dass nach wie vor die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zum festen Bestandteil der Biografie gehört. Die Gewichtung der Lebensbereiche variiert jedoch: Unterscheidet man etwa nach „Handlungstypen“ (Stolt 2000) zwischen bindungs-, autonomie- und balanceorientierten Frauen, sind es die Bindungsorientierten, die unter den verschärften Arbeitsmarktbedingungen an die Grenze der Verwirklichung ihrer Vereinbarkeitsvorstellungen stoßen. Wird nach Generationen unterschieden, differieren die „Muster alltäglicher Lebensführung“ (Stuhler/Wedl 2001) bereits in der DDR. Entsprechend der Bedeutung von Familie und Erwerbstätigkeit haben sich Arrangements ausgebildet, die bei der Bewältigung der Transformation unterschiedliche Potenziale aufweisen. Lebensführung und Selbstverständnis weisen dabei selbst unter extremen Bedingungen eine hohe Stabilität auf
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Ute Luise Fischer
(ebd.: 548). Bei jüngeren Frauen führen allerdings die neuen Lebensbedingungen zu einer „Verengung alltäglicher Lebensführung auf Erwerbstätigkeit“ (ebd.: 549). Der Kinderwunsch wird aufgeschoben oder gar zur Disposition gestellt.
Aktuelle Entwicklungen und Fragestellungen Seit Ende der 1990er Jahre nimmt die Zahl der Publikationen zum Transformationsprozess merklich ab. Gründe hierfür mögen in einer veränderten Politik der Forschungsförderung liegen wie auch in einer gewissen Enttäuschung über die erzielten Erkenntnisgewinne. Selbstkritisch wird eingestanden, dass das Erkenntnispotenzial, welches Geschwindigkeit und Tiefe des gesellschaftlichen Umbruchs bergen, wenig ausgeschöpft wurde. Theoretische Innovationen seien ausgeblieben (Bulmahn 1997: 29). Meist seien bestehende Ansätze der westlichen Forschungstraditionen auf die Erforschung der Transformation angelegt worden (vgl. Reißig 1998: 303). Entlang der traditionellen Trennungslinie von System- und Akteurstheorien, die im Mainstream der Transformationsforschung dominieren, ist das Geschlechterverhältnis als Forschungsgegenstand nicht auffindbar. Sauer (1996) spricht von einer „Geschlechtsblindheit der Transformationsforschung und -theorie“. Frauen erscheinen allenfalls in empirischen Studien als benachteiligte Gruppe, etwa im Zusammenhang mit Arbeitslosigkeit, als Alleinerziehende oder als von Armut besonders Betroffene. Oftmals wird Geschlecht als Variable, die Verhalten und Einstellungen prägt, zum Forschungsdesign hinzu addiert. Ein Großteil der Arbeiten, die sich in der Frauen- und Geschlechterforschung verorten, weist demgegenüber eine Theorieabstinenz bezüglich des Transformationsprozesses auf. Seine theoretischen und empirischen Herausforderungen seien selten aufgegriffen worden, der Transformationsprozess werde wenig diskutiert (Nickel 1999). Insofern müssen zwischen Transformationsforschung und Geschlechterforschung gegenseitige Rezeptionssperren konstatiert werden. Bedauerlich ist daran, dass einerseits der Transformationsprozess in seiner Dynamik ohne das Geschlechterverhältnis als eine der zentralen Strukturen der gesellschaftlichen Reproduktion nicht durchdrungen werden kann. Andererseits bietet die Untersuchung der drastischen gesellschaftlichen Veränderungen eine einzigartige Gelegenheit für ein neuartiges Verständnis der Funktionsweise des Systems der Zweigeschlechtlichkeit und der Konstitution von Geschlechterdifferenz und -hierarchie. Die tiefgreifende Krise und anhaltenden Modernisierungsschübe im vereinigten Deutschland drängen aber nach Innovationen in der Geschlechterforschung, um die sich aktuell vollziehenden Neuformierungen im Geschlechterverhältnis erfassen zu können.
Ausblick auf Forschungsfragen und Zukunftsvisionen Beinahe zwei Jahrzehnte nach der deutschen Vereinigung haben sich weder die Lebensverhältnisse noch die geschlechtsbezogenen Deutungen und Geschlechterarrangements in Ost und West vollständig angeglichen (vgl. Dölling 2001). Dieser Sachverhalt wirft einige Forschungsfragen auf: Inwieweit gründet die offensichtliche Beharrlichkeit von Deutungsmustern und Habitusformen in sozialisatorischen Besonderheiten der Lebens- und Arbeitsverhältnisse der DDR bzw. der alten BRD? Ausgehend von Analysen, die verdeutlichen, dass die formal-statistische Erwerbsintegration von Frauen weder über den Grad der Selbstverwirklichung und die Art der Sinnerfüllung Auskunft gibt (vgl. Fischer u.a. 2002) noch ein geeigneter Gradmesser für die Gleichstellung der Geschlechter ist (z.B. Stolt 2000), fragt sich, welche Emanzipationspotenziale die Durchsetzung des DDR-typischen weiblichen Lebensmusters für die späten DDR-Generationen und die nachfolgenden birgt? Welche gleichstellungspolitischen Zielsetzungen können daraus abgeleitet werden?
Transformation
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Betrachtet werden müssen mit dem Fortschreiten der Transformation die Modernisierungskrisen in beiden Teilen Deutschlands, die offensichtlich auch in Zukunft noch auf verschiedene Bewältigungsformen treffen, aber gesamtgesellschaftlich Probleme der Existenzsicherung und Sinnerfüllung aufwerfen sowie die Frage nach der Positionierung in den betrieblichen Restrukturierungsprozessen. Geschlechtsbezogene mikropolitische Analysen stehen hier noch aus, sie könnten die widersprüchlichen Veränderungen im Geschlechterverhältnis verdeutlichen und Gestaltungspotenziale offen legen (vgl. Nickel 1999). Nicht zuletzt versprechen auch vergleichende Studien über Entwicklungen osteuropäischer Transformationsgesellschaften Aufschluss über Einflussfaktoren und Wirkungsmechanismen bzgl. der Veränderungen und Neuformierungen in den Geschlechterverhältnissen. Verweis: Arbeit Erwerbsarbeit
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Ute Luise Fischer
Keiser, Sarina 1997: Ostdeutsche Frauen zwischen Individualisierung und Re-Traditionalisierung. Ein Generationenvergleich. Hamburg: Kovacs Knapp, Gudrun-Axeli/Ursula Müller (Hrsg.) 1992: Ein Deutschland – zwei Patriarchate? Dokumentation der Jahrestagung der Sektion „Frauenforschung in den Sozialwissenschaften“ in Hannover, 21.-23. Juni 1991. Bielefeld, Hannover: Selbstverlag Kollmorgen, Raj 2001: Postsozialismus im 21. Jahrhundert oder: Wozu heute noch Transformationsforschung? Arbeitsbericht Nr. 9 des Institut für Soziologie. Magdeburg: Otto-von-Guericke-Universität Nauck, Bernhard/Norbert Schneider/Angelika Tölke (Hrsg.) 1995: Familie und Lebensverlauf im gesellschaftlichen Umbruch. Stuttgart: Enke Nickel, Hildegard Maria 1995: Frauen im Umbruch der Gesellschaft. Die zweifache Transformation in Deutschland und ihre ambivalenten Folgen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 36-37, S. 23-33 Nickel, Hildegard Maria 1999: Lebenschancen von Frauen in Ostdeutschland. Risiken und Optionen der Neuformierung von Frauenerwerbsarbeit. In: Glatzer, Wolfgang/Ilona Ostner (Hrsg.): Deutschland im Wandel. Sozialstrukturelle Analysen. Ein Sonderband der Zeitschrift Gegenwartskunde. Opladen: Leske + Budrich, S. 255-264 Nickel, Hildegard Maria/Sabine Schenk 19962: Prozesse geschlechtsspezifischer Differenzierung im Erwerbssystem. In: Nickel, Hildegard Maria/Jürgen Kühl/Sabine Schenk (Hrsg.) 1996: Erwerbsbeteiligung und Beschäftigung im Umbruch. Opladen: Leske + Budrich, S. 259-282 „Osteuropa“. Zeitschrift für Gegenwartsfragen des Ostens 2003: Hrsg. v. Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde. Heft 5. Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt Pfau-Effinger, Birgit/Birgit Geissler 1992: Institutionelle und sozio-kulturelle Kontextbedingungen der Entscheidung verheirateter Frauen für Teilzeitarbeit. In: MittAB, Nr. 3, S. 358-370 Reißig, Rolf 1998: Transformationsforschung: Gewinne, Desiderate und Perspektiven. In: Politische Vierteljahresschrift, Heft 2, S. 301-328 Reißig, Rolf 2000: Die sozialwissenschaftliche Transformations- und Vereinigungsforschung – der Erkenntnisund Ertragswert. In: BISS public, Heft 30, Berlin, S. 7-29 Sauer, Birgit 1996: Transition zur Demokratie? Die Kategorie „Geschlecht“ als Prüfstein für die Zuverlässigkeit von sozialwissenschaftlichen Transformationstheorien. In: Kreisky, Eva (Hrsg.): Vom patriarchalen Staatssozialismus zur patriarchalen Demokratie. Wien: Verlag für Gesellschaftskritik, S. 131-164 Schenk, Sabine/Uta Schlegel 1993: Frauen in den neuen Bundesländern – Zurück in eine andere Moderne? In: Berliner Journal für Soziologie, Heft 3/1993, S. 369-384 Stolt, Susanne 2000: Zwischen Arbeit und Liebe. Eine empirische Studie zum Wandel der Geschlechterbeziehungen in Ostdeutschland nach der Wende. Kassel: university press Stuhler, Heidemarie/Juliette Wedl 2001: Bleibt alles anders? Transformationen im Alltag ostdeutscher Frauen. In: Timmermann, Heiner (Hrsg.): Die DDR in Deutschland. Ein Rückblick auf 50 Jahre. Berlin: Duncker & Humblot, S. 513-552 Trappe, Heike 1997: Transformation der Erwerbsbeteiligung ostdeutscher Frauen? In: Corsten, Michael/Helmut Voelzkow (Hrsg.): Transformation zwischen Markt, Staat und Drittem Sektor. Marburg: MetropolisVerlag, S. 163-179 Trappe, Heike/Rachel A. Rosenfeld 2001: Geschlechtsspezifische Segregation in der DDR und der BRD. Im Verlauf der Zeit und im Lebensverlauf. In: Heintz, Bettina (Hrsg.): Geschlechtersoziologie. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Sonderheft 41, S. 152-181 Weihrich, Margit 1999: Alltägliche Lebensführung im ostdeutschen Transformationsprozeß. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B12, S. 15-26 Zierke, Irene 1996: Wenden im Leben ostdeutscher Frauen. Zur Veränderbarkeit von Verhaltensmustern im Transformationsprozeß. In: Berliner Debatte INITIAL, Heft 7/1996, S. 92-106
Sylvia M. Wilz
Organisation: Die Debatte um ‚Gendered Organizations‘
Die Debatte um Organisation und Geschlecht in der Frauen- und Geschlechterforschung Der Ausgangspunkt der Debatte um Organisation und Geschlecht in der Frauen- und Geschlechterforschung ist das Ziel, Ungleichstellungen zwischen Männern und Frauen sichtbar zu machen und zu analysieren, wie sie zustande kommen. Arbeitsmarkt und Organisationen sind, so das grundlegende Argument, zentrale Orte der Herstellung von sozialer Ungleichheit. Die zentrale Frage ist, ob und wie ungleiche Positionierungen der Geschlechter in Familien- und Erwerbsarbeit in Organisationen reproduziert werden und ob und wie neue Ungleichstellungen hergestellt werden, die (direkt oder indirekt) auf Geschlechterdifferenzierungen zurückzuführen sind. Die Debatte verläuft entlang der Beobachtung von sozialem Wandel und entlang der Verschiebungen der theoretischen Perspektiven innerhalb der Frauen- und Geschlechterforschung. Sie ist bisher kaum in enger Anlehnung an organisationssoziologische Begriffe und Konzeptionen geführt worden und lässt sich daher am besten mit Blick auf wichtige Etappen und zentrale Entwicklungslinien verstehen. Eine Ausarbeitung entlang zentraler Organisationsbegriffe steht noch weitgehend aus.
Ausgangspunkte der Organisationsforschung Typen moderner Organisationen sind Wirtschaftsunternehmen, Verwaltungseinrichtungen oder Non-Profit-Organisationen in Politik, Kultur, Bildung oder Sport. Sie werden, je nach gesellschaftstheoretischer Position beispielsweise als Bestandteil des Herrschaftsverhältnisses von Arbeit und Kapital (in marxistischer Perspektive) oder als Teilsystem funktional ausdifferenzierter Gesellschaften (in modernisierungstheoretischer Perspektive) angesehen. Der Begriff der Organisation ist nicht einheitlich definiert. Ein kleinster gemeinsamer Nenner könnte heißen: Organisationen sind von ihrer Umwelt abgrenzbare soziale Gebilde, die über eine angebbare Anzahl an Mitgliedern verfügen und deren Interaktionen und Beziehungen arbeitsteilig auf die Erreichung eines definierten Ziels hin ausgerichtet sind. Das Webersche Bürokratiemodell (Weber 1980) ist ihr ‚Urtyp‘: Demnach sind Organisationen gekennzeichnet durch das Verhältnis von Zwecken, Mitteln und Zielen, durch die eindeutige Anordnung von Hierarchien und Kompetenzen, durch Formalität, Regelhaftigkeit, Sachlichkeit, Rechenhaftigkeit, Aktenförmigkeit und Unpersönlichkeit. Organisationsmitglieder sind dementsprechend über einen Vertrag in die Organisation eingebunden; für die Organisation sind sie nur in ihrer Rolle als Mitglied, nicht in ihrer ganzen Person, von Bedeutung. Zentrale Anliegen der Organisationsforschung sind zu klären: was die Organisation (im Vergleich zu anderen sozialen Phänomenen) ‚zur Organisation macht‘, wie ihre je spezifische Funktionsweise aussieht, wie das Verhältnis von Organisation und Subjekt bestimmt ist und wie das Verhältnis von Organisation und Umwelt, der Zusammenhang von Organisation und Gesellschaft, zu fassen ist (vgl. Kieser 2001, Ortmann/Sydow/Türk 2000).
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Soziale Ungleichheit, Produktion und Reproduktion Dieser Zusammenhang von Organisation und Geschlecht ist der Ausgangspunkt der Debatten um Organisation und Geschlecht in der Frauen- und Geschlechterforschung, denn Organisationen werden im und aus dem gesamtgesellschaftlichen Gefüge heraus verstanden. Das zentrale Anliegen ist hier zu klären, ob und wie das gesellschaftliche Problem sozialer Ungleichheit zwischen Männern und Frauen (ungleiche gesellschaftliche Teilhabe, ungleiche Arbeitsbedingungen, ungleicher Lohn, ungleiche soziale Absicherung, ungleiche Chancen auf Macht und Einfluss) zu beobachten ist und wie es in und durch Organisationen reproduziert wird. Die Trennung von Produktion (Erwerbsarbeit) und Reproduktion (familiale Arbeit) in modernen (post)industriellen Gesellschaften ist untrennbar, so ein grundlegendes Argument, mit der Differenzierung und Hierarchisierung der Geschlechter verwoben. Diese Trennung liege auch Organisationen zu Grunde: Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und damit verbundene geschlechtsspezifische Fremd- und Selbstzuschreibungen prägten Erwartungen an Leistung, Mobilität, Flexibilität und Verfügbarkeit der Arbeitskräfte. Sie gingen in Muster des Personaleinsatzes, in Definitionen von Arbeit, in die Bewertung von Stellen, in Politiken von Arbeitszeit u.a. von Organisationen ein und sie prägten die subjektiven Orientierungen von Arbeitskräften. Die historisch ebenso variable wie stabile Segmentation und Segregation von Arbeitsmarkt und Organisationen in je typische Ausbildungswege, Berufsfelder, Aufgabenbereiche, Tätigkeiten, Karrierepfade und Erwerbsbiografien von Männern und Frauen ist mit solchen geschlechtsspezifischen Strukturen und Prozessen direkt verbunden.
Wichtige Etappen der Debatte: Frauenarbeit, Rationalisierung, patriarchale vs. formale Organisationsstrukturen, Segregation, Mikropolitik Die lange Zeit ungleicher Integration der Geschlechter in Arbeitsmarkt und Organisationen wurde zu Beginn der Debatte um den Zusammenhang von Organisation und Geschlecht vielfach so begründet: Frauen, insbesondere nicht höher qualifizierte Frauen, seien als Randgruppe des Arbeitsmarktes und Randbelegschaft von Organisationen anzusehen. Sie seien weniger erwerbsorientiert als Männer und arbeiteten häufig instrumentell orientiert als ‚Zuverdienerinnen‘. Dieses Argument widerlegten Becker-Schmidt u.a. (1983) mit einer für den deutschsprachigen Raum grundlegenden Studie über erwerbstätige Mütter: „Arbeitsleben, Lebensarbeit“. Anhand der Analyse der Berufsbiografien und Arbeitserfahrungen von Fabrikarbeiterinnen zeigten sie, dass auch Frauen an geringer qualifizierten und entlohnten Arbeitsplätzen über komplexe Arbeitsmotivationen verfügen und Anerkennung aus ihrer Arbeit erfahren. Frauen seien ‚doppelt orientiert‘ an Beruf und Familie und sie balancierten die ambivalenten Anforderungen von Berufstätigkeit und familialen Verpflichtungen aus. Frauen sind, so entwickelte Becker-Schmidt (1987) aus dieser Analyse theoretisch weiter, doppelt und widersprüchlich vergesellschaftet in die Sphären von Haus- und Erwerbsarbeit. Beide Bereiche stellen einander entgegengesetzte Anforderungen an die Subjekte; sie sind gleichzeitig eng miteinander verzahnt und funktional aufeinander bezogen. Diese frühe Studie zur Frauenarbeit ist, wie viele andere Arbeiten im Gegenstandsbereich ‚Arbeit, Organisation und Geschlecht‘, keine Organisationsanalyse im engeren Sinne. Es werden aber, und damit ist die Debatte eröffnet, zentrale Themen der Organisationsforschung erörtert: das Verhältnis von Arbeit, Organisation und Subjekt und die Zusammenhänge von Arbeit, Organisation und Gesellschaft mit Blick auf wechselseitige Erwartungs- und Anforderungsstrukturen, Funktionalitäten und sinnhafte Orientierungen. Ebenso wenig auf Organisationen direkt fokussiert, befassen sich Aulenbacher und Siegel (vgl. 1993) in ihrer Analyse von betrieblicher und sozialer Rationalisierung in arbeits- und industriesoziologischer Tradition mit einem zentralen Paradigma von Organisation. Sie verdeutlichen, dass das Prinzip der Rationalisierung als Leitlinie sach-, ziel- und effizienzorientierten Organisierens nicht
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voraussetzungslos ist, sondern direkt verbunden mit der sozialen Umwelt der Organisation. ‚Rationale‘ Muster des Personaleinsatzes oder ‚rationale‘ Arrangements von Arbeitszeit griffen beispielsweise auf Muster der ‚Normalfamilie‘ und der ‚Normalarbeitskraft‘ zu. Die in den gesamtgesellschaftlichen Strukturen verankerte Trennung von Produktions- und Reproduktionsarbeit würde so in Prozessen betrieblicher und sozialer Rationalisierung genutzt und reproduziert. Organisationen seien, im Gegensatz zu den Definitionen der Industrie- und Organisationsforschung, dementsprechend nicht unpersönlich und ‚neutral‘, sondern sie ruhten auf den strukturellen Ungleichheiten von Klassen- und Geschlechterverhältnis. Im angloamerikanischen Raum konzentrierte sich die Diskussion früher als im deutschsprachigen Raum direkt auf Organisationen. Dabei markiert die Studie von Ferguson (1984) einen wichtigen Pol in der Debatte, da Ferguson den Zusammenhang von Organisation und Geschlecht als durchgängig patriarchal strukturiert auffasst. Rationale Organisationen sind demnach grundsätzlich männlich geprägt, bürokratische Strukturen und Diskurse sind Instrumente hegemonialer Männlichkeit und männlicher Macht. Frauen und ihre spezifischen Erfahrungen und Orientierungen würden dagegen abgewertet und ausgeschlossen. Die Höherbewertung des ‚Männlichen‘ und die Abwertung des ‚Weiblichen‘ seien sowohl in die formalen Strukturen von Organisationen als auch in ihre informellen Diskurse ‚eingebaut‘, und der Bezug auf rationale Strukturen und Verfahren verschleiere die in Organisationen verankerte Ungleichstellung von Frauen. Den anderen Pol der frühen Debatte stellt der einflussreiche Ansatz von Kanter (1977) dar. Sie geht davon aus, dass organisatorische Strukturen im Sinne Webers formale, unpersönliche und damit auch geschlechtsneutrale Strukturen sind. Geschlechterasymmetrien in Organisationen sind nicht als in diesen Strukturen verankerte gesellschaftliche Ungleichheiten zu verstehen, sondern als Resultat des Minoritätenstatus und der niedrigeren hierarchischen Positionierung von Frauen. Frauen seien ‚tokens‘: Sie seien sichtbarer und würden kritischer beurteilt als Männer, so lange sie in der Minderzahl sind. Sie würden mit informell wirksamen stereotypen Weiblichkeitsanforderungen konfrontiert, seien aufgrund ihrer wenig machtvollen Position als Kooperationspartnerinnen für Männer unattraktiv und blieben daher oft aus wichtigen Netzwerken ausgeschlossen. Die Unterlegenheit weiblicher Beschäftigter mit Blick auf Macht und Einfluss sei, so Kanters Erwartung, über die Höherqualifikation und zunehmende Anzahl von Frauen in Organisationen zu verändern; ab einer ‚kritischen Masse‘ von etwa 40% würden sich Majorität und Minorität aneinander angleichen und Machtverhältnisse peu à peu egalisieren. Der Fortgang der Debatte war sowohl in angloamerikanischen als auch in deutschsprachigen Studien eher durch empirische Beiträge als durch theoretische, gar dezidiert organisationssoziologische, Weiterentwicklungen gekennzeichnet. Großen Raum nahmen und nehmen dabei v.a. Studien zur geschlechtsspezifischen Segregation von Arbeitsmarkt und Organisationen ein. Segregationsstudien zeichnen die dauerhafte, wenngleich auch hoch variable Aufgliederung von Arbeitsmarkt und Organisationen in typische Qualifikationen, Berufe, Einsatzbereiche, Tätigkeiten und Karrierepfade für Männer und Frauen nach und sie versuchen zu klären, wie die Verteilung von Männern und Frauen auf verschiedene Bereiche und hierarchische Ebenen von Organisationen zustande kommt (vgl. z.B. Reskin 1986, Allmendinger/Podsiadlowski 2001). Diese Studien führten zu einer weitgehenden Korrektur von Kanters Erwartungen: Auch wenn Frauen an Anzahl und Qualifikation mit Männern gleichziehen, können sie diese ‚Gleichheit‘ dennoch nicht in einen entsprechenden Zugewinn an Machtpositionen ummünzen; Männer dagegen können auch in Organisationen mit hohem Frauenanteil sehr viel leichter hierarchisch höher gestellte Positionen erlangen. Viel diskutierte Befunde von Segregationsstudien sind beispielsweise der Hinweis auf die ‚gläserne Decke‘, die hoch qualifizierte Frauen am Zugang zu Top-Positionen hindert, die Beschreibung von ‚dead end-jobs‘ und Routinetätigkeiten, in denen Frauen deutlich überrepräsentiert sind, oder der „Drehtüreffekt“ (Jacobs 1989): Frauen werden zwar verstärkt in Organisationen integriert, sie werden aber, ohne ihren Zugang in dauerhafte, gut dotierte und hoch positionierte Beschäftigungsverhältnisse umsetzen zu können, wieder ‚herausgedreht‘.
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Ein weiterer Zugang der Forschung zum ‚Gendering‘ von Organisationen ist dadurch gekennzeichnet, dass jeweils einzelne zentrale Aspekte des Zusammenhangs von Organisation und Geschlecht in den Mittelpunkt der Untersuchung gestellt werden. Beispielhaft für solche Studien sind die Arbeiten zu Themen wie ‚Frauen und Führung‘ (vgl. z.B. Müller 1999), Organisation und Sexualität (vgl. Burrell 1984, Hearn/Parkin 1987, Müller 1993, Rastetter 1994) oder Arbeit, Geschlecht und Technik (vgl. z.B. Cockburn 1983). Manche dieser zentralen Themenfelder, z.B. die Frage nach der Chancengleichheit von Männern und Frauen in Organisationen, sind stärker als andere in Anknüpfung an organisationssoziologische Debatten bearbeitet worden. Im Rahmen eines mikropolitischen Organisationskonzepts analysiert beispielsweise Riegraf (1996) den Prozess der Einführung betrieblicher Gleichstellungsmaßnahmen im Wandel eines Einzelhandelskonzerns. Die erfolgreiche Implementation von Frauenförderungskonzepten ist, so Riegraf (1996: 11), „Resultat komplexer und spezifischer Entscheidungs-, Aushandlungs- und Kompromissbildungsprozesse in Organisationen“. In diese Prozesse könnten Frauen ihre Interessen auf der Basis ihrer inner- und außerorganisatorischen Positionierung weniger erfolgreich einbringen als Männer. Frauen verfügten über geringere Ressourcen und Machtchancen, hätten deshalb geringere Aushandlungsmacht und könnten die Unsicherheitszonen relevanter Akteure nicht ausreichend beeinflussen. Der mikropolitische Ansatz ist, mehr oder weniger explizit, ein gemeinsamer Ausgangspunkt für Beiträge, die sich mit Frauenförderung, Gleichstellungspolitik und ‚gender mainstreaming‘ befassen; er ist aber in theoretischer Perspektive nicht vertieft erörtert worden.
Aktuelle Diskussionen: Das ‚(De)Gendering‘ von und in Organisationen Im Fortgang der Debatte um den Zusammenhang von Organisation und Geschlecht wird dann eine Verschiebung von der Makro- zur Mikroperspektive deutlich: von der strukturtheoretischen Fundierung der Analyse von Arbeit, Organisation und Geschlecht über die Analyse in Begriffen mikropolitischer Aushandlungen bis zur Frage nach der Herstellung und Hierarchisierung von Geschlechterdifferenzen auf der Ebene von Arbeitspraxen. „Doing gender while doing the job“ (Leidner 1991) ist der gemeinsame Nenner einer Vielzahl von empirischen Fallstudien aus verschiedenen Bereichen von Berufsarbeit und Organisationsgeschehen in den 1990er Jahren (vgl. z.B. Hall 1993, Leidner 1991, Wetterer 1995). Diese Studien zeigen, wie in Arbeitspraxen, Interaktionen am Arbeitsplatz, Strukturen der Arbeitsverteilung und -zuweisung usw. auf geschlechtsspezifische Verhaltenserwartungen und Symbole zurückgegriffen wird. Ein zentrales Ergebnis dieser Studien ist, dass mit Arbeits- und Organisationsprozessen immer auch die Darstellung und Zuschreibung von adäquater Geschlechtlichkeit verknüpft ist. Ein Bezugspunkt von herausragender Bedeutung in all diesen Forschungsarbeiten ist Ackers Konzeption der „gendered organization“ (vgl. z.B. Acker 1990). Organisationen sind demnach vergeschlechtlicht, weil die unterschiedliche Verteilung von Einkommen, Aufgaben und Positionen zwischen Männern und Frauen nicht beliebig oder zufällig ist, sondern systematisch. Diese Segregation basiert, so Acker, auf Annahmen über die gesellschaftliche Trennung von Produktions- und Reproduktionsarbeit (Frauen leisten Familien-, Männer Erwerbsarbeit mit allen daran anschließenden Zuschreibungen), die in Organisationen „inkorporiert“ und in der vergeschlechtlichten „Substruktur“ von Organisationen verankert sind. Prozesse des organisatorischen Geschehens ruhten auf verschiedenen Ebenen dieser Substruktur, in denen sich die Differenzierung und Hierarchisierung nach Geschlecht reproduziert. Acker nennt als erste zentrale Ebene, die zu Segregation und Hierarchisierung führt, die Differenzierung nach Geschlecht in alltäglichen Arbeitspraxen, Routinen und Entscheidungen. Annahmen über Geschlechterdifferenzen gingen auf dieser Ebene der Arbeitsorganisation in organisatorische Regeln und schriftliche Handlungsanweisungen ein. Als zweite Ebe-
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ne führt sie die Differenzierung nach Geschlecht und die Legitimation von Geschlechterungleichheit auf der symbolischen Ebene (in Form von Bildern, Symbolen, Ideologien und „Formen von Bewusstsein“) an, die geschlechtsspezifische Zuschreibungen und Konnotationen enthalten. Diese seien Teil der Unternehmenskultur und in der jeweiligen Definition und Sinngebung von Organisation wiederzufinden. Als dritte Ebene identifiziert Acker das ‚doing gender‘ auf der Ebene von Interaktionen in der alltäglichen Arbeit, in (Aus-)Handlungen und Koalitionsbildungen, also allen Aktivitäten der Organisationsmitglieder. Die vierte Ebene schließlich ist die Konstruktion von Geschlecht auf der Subjektebene: Für das organisatorische Geschehen sind die Wahrnehmungen und Deutungen geschlechtsspezifischer Strukturen durch die Subjekte ebenso bedeutsam wie die Positionierung der Organisationsmitglieder als adäquate männliche oder weibliche Personen. Sexualität und Körperlichkeit spielten in all diesen Prozessen eine Rolle: Die Vorstellung einer entkörperlichten Arbeitskraft, die gemeinhin Organisationsanalysen und Organisationspraxen leitet, ist laut Acker so wenig haltbar wie die Vorstellung geschlechtsneutraler bürokratischer Organisationsstrukturen. Das Maß der Deutung und Bewertung, der Entscheidung und Handlungsorientierung in Organisationen sei das Modell der ‚Normalarbeitskraft‘ und dieses Modell sei ein geschlechtlich geprägtes, nämlich ‚männliches‘ Modell. Diese Einschätzung vertreten auch die britischen ForscherInnen Halford, Savage und Witz, die in ihren Studien ein Konzept von Organisation als sozialem Zusammenhang entwickeln, in dem Geschlecht „embedded and embodied“ ist (vgl. Savage/Witz 1992, Halford/Savage/Witz 1997). Empirisch begründet diagnostizieren sie Wandel und Ungleichzeitigkeiten: Einerseits gerieten Segregationen ‚in Bewegung‘, öffneten sich interne Arbeitsmärkte und näherten sich die Karrierewege von Männern und Frauen einander an. Andererseits aber bestünden Segregationen im Hinblick auf die Förderung von Männern für Führungspositionen oder die Überrepräsentanz von Frauen in ‚Sackgassen-Bereichen‘ fort. Theoretisch spitzen sie Ackers Argumentation zu, denn sie definieren Organisationen als situierte Praxis, die sich als Netz sozialer Beziehungen konstituieren. Auch sie argumentieren, Organisationen seien nicht als entpersonalisierte Systeme zu verstehen, nicht von den Kontexten, gesellschaftlichen Verhältnissen und sozialen Beziehungen zu trennen, die sie umgeben. Von diesem Ausgangspunkt aus ziehen Halford u.a. ebenso wie Acker eine Verbindungslinie zwischen der Konstruktion der idealen Arbeitskraft, die als Norm und Messlatte organisatorischer Praxen fungiert, und der geschlechtlichen Körperlichkeit von Männern und Frauen. Wenn Organisationen nicht von den Personen, die sie konstituieren, abstrahieren und diese wiederum nicht von ihren Körpern losgelöst sind, dann können auch Organisationen nicht von Körpern abstrahieren. Männliche und weibliche Körper sind also Ansatzpunkte der Differenzierung; sie sind die Basis vergeschlechtlichter Diskurse in Organisationen und der Selbstpräsentationen der Subjekte. Über mit Körperlichkeit verbundene Zuschreibungen werden spezifische Verbindungen von Organisation und männlichen oder weiblichen Organisationsmitgliedern und Diskurse von Heterosexualität konstruiert, die differenzierend und, je nach Kontext, hierarchisierend wirken. Auf der Basis einer ähnlich angelegten Studie konstatieren Heintz/Nadai/Fischer/Ummel (1997) ebenso empirische Ungleichzeitigkeiten: Sie stellen einerseits fest, dass Geschlechterdifferenzierungen an Relevanz verlieren und kontextabhängig aktualisiert werden. Diese Tatsache interpretieren sie einerseits als Phänomen umfassenderer De-Institutionalisierungsprozesse von Geschlecht. Andererseits weisen sie nach, dass sowohl in männer- wie frauendominierten, aber auch in gemischt-geschlechtlichen Arbeitsbereichen Geschlechterdifferenzen auf struktureller und auf symbolischer Ebene fortbestehen. Als kontextunabhängige Prinzipien im Verhältnis der Geschlechter identifizieren sie – einmal mehr – das identitätsstiftende und ordnungsgenerierende Prinzip der Grenzziehung („boundary work“) und die Unvereinbarkeit von Beruf und Familie. Letztere kommt insbesondere in der Regulierung von Arbeitszeiten und Weiterbildungsanforderungen zum Nachteil von Frauen (mit Kindern) zum Tragen.
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Fazit und Ausblick In der Analyse des Zusammenhangs von Organisation und Geschlecht sind also klare Entwicklungslinien auszumachen. Ausgangspunkt der Forschung ist nach wie vor die Frage nach der sozialen Ungleichheit zwischen den Geschlechtern im sozialen Feld von Arbeit und Organisation. Mit dem Nachweis des Wandels in diesen Bereichen ist immer stärker die Frage nach den Ursachen und den Prozessen der Auflösung oder Verfestigung von Geschlechtersegregation und -differenzierung in Organisationen in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Herausgestellt wird in neueren Arbeiten, dass sich berufs- und organisationsübergreifend keine generellen Aussagen mehr machen lassen, sondern dass über verschiedene empirische Felder und Organisationstypen hinweg Unterschiede bestehen: So gibt es Bereiche von Organisationen, in denen keine systematischen Geschlechterdifferenzen mehr zu beobachten sind, es gibt Anzeichen dafür, dass Geschlechterdifferenzen situativ und kontextabhängig relevant gemacht werden, und es gibt Hinweise dafür, dass bestimmte Formen der Geschlechterdifferenzierung und -hierarchisierung fortbestehen. Damit wird die vordem klare Gegenüberstellung der Pole ‚Organisationen sind geschlechtsneutral‘ der Organisationsforschung und ‚Organisationen sind durchgängig und systematisch gendered‘ der Frauenforschung modifiziert. Mit dem Blick auf Prozesse des Gendering und des De-Gendering auf verschiedenen Ebenen von Organisationen – der Ebene von Strukturen, von Interaktionen, der ‚kulturellen‘ Ebene, von Symbolen und Sinngebung – verschiebt sich gleichzeitig der theoretische Fokus von der Analyse von Organisation und Geschlecht als Strukturzusammenhang zur Analyse dieser Prozesse als strukturierte Praxis und soziale Konstruktion von Organisation und Geschlecht (vgl. Gottschall 1998, Heintz/Nadai 1998, Kuhlmann u.a. 2002, Wilz 2002). Für die weitere Forschung ist daher zentral, einerseits den ‚großen Bogen‘ der Analyse des Zusammenhangs von Arbeit, Organisation, Gesellschaft und Geschlecht nicht aus dem Blick zu verlieren und andererseits den Fokus weiterhin stärker auf das organisatorische Geschehen direkt zu richten. Neben der differenzierten empirischen Beobachtung von organisationalen Prozessen und deren gesellschaftlicher Einbindung wird nötig sein, die theoretische Rahmung der ‚gendered organization‘ weiter auszuarbeiten und dabei mit der Frage nach dem je Spezifischen von Organisationen auch eine stärkere Anbindung an organisationssoziologische Debatten und ein kohärentes Modell von Organisation zu suchen. Verweise: Arbeit Beruf Doing Gender Doppelte Vergesellschaftung Erwerbsarbeit
Literatur Acker, Joan 1990: Hierarchies, Jobs, Bodies. A Theory of Gendered Organizations. In: Gender & Society, 4/1990/2, S. 139-158 Allmendinger, Jutta/Astrid Podsiadlowski 2002: Segregation in Organisationen und in Arbeitsgruppen. In: Heintz, Bettina (Hrsg.): Geschlechtersoziologie. Opladen: Westdeutscher Verl., S. 276-307 Aulenbacher, Brigitte/Tilla Siegel 1993: Industrielle Entwicklung, soziale Differenzierung, Reorganisation des Geschlechterverhältnisses. In: Frerichs, Petra/Margareta Steinrücke (Hrsg.): Soziale Ungleichheit und Geschlechterverhältnisse. Opladen: Leske + Budrich, S. 65-100 Becker-Schmidt, Regina/Uta Brandes-Erlhoff/Mechthild Rumpf/Beate Schmidt 1983: Arbeitsleben, Lebensarbeit. Konflikte und Erfahrungen von Fabrikarbeiterinnen. Bonn: Verl. Neue Gesellschaft Becker-Schmidt, Regina 1987: Die doppelte Vergesellschaftung – die doppelte Unterdrückung. In: Unterkircher, Lilo (Hrsg.): Die andere Hälfte der Gesellschaft. Wien: Verl. d. Österr. Gewerkschaftsbundes, S. 10-25 Burrell, Gibson 1984: Sex and Organizational Analysis. In: Organization Studies, 5/1984/2, S. 97-118 Cockburn, Cynthia 1983: Brothers: Male Dominance and Technological Change. London: Pluto Press
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Ferguson, Kathy E. 1984: The Feminist Case against Bureaucracy. Philadelphia: Temple Univ. Press Gottschall, Karin 1998: Doing Gender while Doing Work? Erkenntnispotentiale konstruktivistischer Perspektiven für eine Analyse des Zusammenhangs von Arbeitsmarkt, Beruf und Geschlecht. In: Geissler, Birgit/Friedrike Maier/Birgit Pfau-Effinger (Hrsg.): FrauenArbeitsMarkt. Berlin: Edition Sigma, S. 6394 Halford, Susan/Mike Savage/Anne Witz 1997: Gender, Careers and Organizations. Basingstoke: Macmillan Hall, Elaine J. 1993: Waitering/Waitressing: Engendering the Work of Table Services. In: Gender & Society, 7/1993/3, S. 329-346 Hearn, Jeff/Wendy Parkin 1987: „Sex“ at „Work“: The Power and Paradox of Organization Sexuality. Brighton: Wheatsheaf Books Heintz, Bettina/Eva Nadai/Regula Fischer/Hannes Ummel 1997: Ungleich unter Gleichen. Studien zur geschlechtsspezifischen Segregation des Arbeitsmarktes. Frankfurt/M.: Campus Heintz, Bettina/Eva Nadai 1998: Geschlecht und Kontext. In: Zeitschrift für Soziologie, 27/1998/2, S. 7593 Jacobs, Jerry 1989: Revolving Doors. Sex Segregation and Women’s Careers. Stanford: Univ. Press Kanter, Rosabeth Moss 1977: Men and Women of the Corporation. New York: Basic Books Kieser, Alfred (Hrsg.) 2001: Organisationstheorien. 4. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer Kuhlmann, Ellen/Edelgard Kutzner/Ursula Müller/Birgit Riegraf/Sylvia Wilz 2002: „Organisationen und Professionen als Produktionsstätten der Geschlechter(a)symmetrie.“ In: Schäfer, Eva/Bettina Fritzsche/Claudia Nagode (Hrsg.): Geschlechterverhältnisse im sozialen Wandel. Opladen: Leske + Budrich, S. 221-249 Leidner, Robin 1991: Selling Hamburgers and Selling Insurance. In: Gender & Society, 5/1991/2, S. 154177 Müller, Ursula 1993: Sexualität, Organisation und Kontrolle. In: Aulenbacher, Brigitte/Monika Goldmann (Hrsg.): Transformationen im Geschlechterverhältnis. Frankfurt/M.: Campus, S. 97-114 Müller, Ursula 1999: Zwischen Licht und Grauzone: Frauen in Führungspositionen. In: Arbeit, 8/1999/2, S. 137-161 Ortmann, Günther/Jörg Sydow/Klaus Türk (Hrsg.) 2000: Theorien der Organisation. 2., durchges. Aufl. Opladen: Westdeutscher Verl. Rastetter, Daniela 1994: Sexualität und Herrschaft in Organisationen. Opladen: Westdeutscher Verl. Reskin, Barbara F. (Hrsg.) 1986: Women’s Work, Men’s Work. Sex Segregation on the Job. Washington, D.C.: National Academy Press Riegraf, Birgit 1996: Geschlecht und Mikropolitik. Opladen: Leske + Budrich Savage, Mike/Anne Witz (Hrsg.) 1992: Gender and Bureaucracy. Oxford: Blackwell Weber, Max 1980 (zuerst: 1921): Wirtschaft und Gesellschaft. 5., rev. Aufl. Tübingen: Mohr Wetterer, Angelika 1995: Dekonstruktion und Alltagshandeln. In: Dies. (Hrsg.): Die soziale Konstruktion von Geschlecht in Professionalisierungsprozessen. Frankfurt/M.: Campus, S. 223-246 Wilz, Sylvia M. 2002: Organisation und Geschlecht. Strukturelle Bindungen und kontingente Kopplungen. Opladen: Leske + Budrich
Regina-Maria Dackweiler
Wohlfahrtsstaat: Institutionelle Regulierung und Transformation der Geschlechterverhältnisse
Definitionen und analytische Konzeptionen Geschlechtsblinder Mainstream Der Terminus Wohlfahrtsstaat (welfare state) kennzeichnet in den kapitalistischen Demokratien westlichen Typs die in Verfassungen, Gesetzen und Verordnungen fixierte staatliche Selbstverpflichtung zu umfassender Intervention in die Dimensionen Einkommenssicherung, Gesundheit, Wohnen und Bildung mit dem Ziel, soziale Sicherheit vor Armutsrisiken wie Krankheit, Alter und Erwerbslosigkeit für alle Gesellschaftsmitglieder zu schaffen sowie soziale Gleichheit und Gerechtigkeit in Bezug auf Teilhabe- und Lebenschancen zu gewährleisten (vgl. Esping-Andersen 1999). Ausgangspunkt ist hierbei ein gesellschaftspolitischer Konsens über die notwendige Solidarität mit sozial Schwächeren (vgl. Ritter 1991, Schmidt 2001). Im Anschluss an die Konzeption des englischen Soziologen Thomas H. Marshall (1992 [1948]) über „soziale Staatsbürgerrechte“ gilt der moderne Wohlfahrtsstaat als ein politisches System, das für alle BürgerInnen Rechtsansprüche auf ein weites Spektrum von Wohlfahrtsleistungen in Form von Gütern und Diensten institutionalisiert. Wohlfahrtsstaatliche Politik stellt somit einen zentralen Vergesellschaftungsmodus dar, soll sie doch den BürgerInnen eine menschenwürdige Existenz auf dem jeweils erreichten Zivilisationsniveau ermöglichen und dafür Sorge tragen, dass niemand aus sozialen Gründen von der Teilnahme am gesellschaftlichen und politischen Leben ausgeschlossen bleibt (vgl. Giddens 1995: 332f.). Zwar wird der moderne Wohlfahrtsstaat nicht nur als „materialer Unterbau“ (Altvater/Mahnkopf 1996: 563) formaler Demokratien und deren Institutionen verstanden, da er die Realisierung staatsbürgerlicher Beteiligungsrechte gewährleistet, sondern auch als Ausdruck der Humanität von Gesellschaft definiert, die den Menschen unabhängig von ihrem „Marktwert“ Lebensqualität ermöglicht. Doch sind das notwendige Ausmaß und die legitime Reichweite wohlfahrtsstaatlicher Aktivitäten seit den späten 1980er Jahren mit dem Ende der „Systemkonkurrenz“ durch den Zusammenbruch der staatssozialistischen Länder Osteuropas und im Zuge der ökonomischen Globalisierung auch auf der Ebene des Kampfes um „Deutungshegemonie“ (Esser 1999: 118) erneut vehement umfochten. Entsprechend den dominierenden neoliberalen Prinzipien soll der Wohlfahrtsstaat „postindustrieller“ Gesellschaften zukünftig weder „kompensatorische“, also Nachteil ausgleichende, noch „emanzipatorische“, also auf die Befreiung von Zwang und Ausgrenzung von sozialen Gruppen gerichtete Ziele verfolgen, sondern verstärkt „kompetitorisch“ (Butterwegge 2001: 18) wirken. Doch ob nun Genese, Funktion, Legitimation oder die gegenwärtig vollzogene Transformation der kapitalistischen Wohlfahrtsstaaten im Mittelpunkt empirischer Forschung und Theoriebildung stehen, die Bedeutung von Geschlecht bleibt fast ausnahmslos unberücksichtigt. Die deutschsprachige wie internationale herrschende Theorie und Empirie ist auf Grund ihrer Orientierung an der männlichen Norm(al)biografie anhaltend „geschlechtsblind“ (vgl. Kulawik 1998, Borchorst 1999, Dackweiler 2003a). Dieser geschlechtsblinde Mainstream ignoriert somit ein soziales Strukturierungsprinzip, das Hierarchien, Segregation und Marginalisierung hervortreibt und Männer und Frauen jenseits ihres Wünschens und Wollens als soziale Gruppen positioniert.
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Geschlechterreflektierte Begriffe und analytische Konzeptionen Erst geschlechterreflektierte Begriffe und analytische Konzeptionen, die im Kontext feministisch orientierter Sozialwissenschaft generiert wurden, beleuchten bei der Frage nach den Entstehungsursachen und -bedingungen der modernen Wohlfahrtsstaaten, dass diese keineswegs nur als widersprüchliche Reaktion auf die „Klassenfrage“ der industriekapitalistischen Moderne zu interpretieren sind (vgl. Offe 1984). Vielmehr institutionalisierten sie zugleich eine, die gesellschaftliche Reproduktion gewährleistende moderne Geschlechterordnung, welche die über alle Klassen und Milieus hinweg verbindliche Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern auf Dauer zu stellen suchte – hier der männliche Familienernährer, dort die weibliche Zuständigkeit für Hausarbeit, Kindererziehung und Pflege von kranken und alten Familienangehörigen. In den Blick gelangt mit Hilfe geschlechterreflektierter Analysen zugleich, dass die normativ-ideologisch legitimierte Verteilung der Verantwortung für die Produktion von Sicherheit und Wohlfahrt zwischen Staat, Markt und Familie jeweils auch ein geschlechtsspezifisches Arrangement darstellt, konkret zwischen Staat, Markt und Familien-Frauen. Bei der Frage nach konstatierbaren nationalen Unterschieden der Organisation, Finanzierung und der Leistungsniveaus sozialer Sicherungssysteme, vermag erst ein geschlechtersensibler Zugang die geschlechterselektiven Effekte sowohl des universellen „Beveridge-Modells“ (steuerfinanziert und armutsvermeidend) als auch des berufsbezogenen „Bismarck-Modells“ (beitragsfinanziert und statussichernd) als Ursache für das empirisch eindringlich belegte, historisch wie aktuell höhere Armutsrisiko von Frauen zu benennen. Und auch für eine Analyse der Restrukturierung des keynesianischen Wohlfahrtsstaats der „fordistischen Regulationsweise“ hin zu einem nationalen Wettbewerbsstaat „postfordistischer Regulation“ (Hirsch 1995) bedarf es einer feministischen Konzeption, die Geschlecht integriert, um die jeweils spezifischen Folgen des vorangetriebenen Abbaus sozialer Bürgerrechte für die Genus-Gruppen aufzeigen zu können. Geschlechtersensibel orientierte feministische Definitionen und Konzeptionen verdeutlichen, dass wohlfahrtsstaatliche Politik von Beginn an Geschlechterpolitik war und weiterhin ist, die ausgerichtet an Geschlechterleitbildern über die spezifischen Rechte und Pflichten, Aufgaben und Tätigkeiten sowie Zeiten und Orte von Männern und Frauen, ein herrschaftsförmiges Geschlechterverhältnis organisiert(e). Erst auf Grundlage Geschlecht berücksichtigender Definitionen und Konzeptionen kann der Wohlfahrtsstaat als ein vergeschlechtlichender Vergesellschaftungsmodus in den Blick genommen werden, der für Männer und Frauen als soziale Gruppen unterschiedliche Lebens- und Unsicherheitslagen sowie Teilhabechancen und -hindernisse hervorbringt. Deutlich wird sodann, dass wohlfahrtsstaatliche Institutionen eine Arena geschlechterpolitischer Kämpfe um die materiale und symbolische Ordnung der Geschlechter sowie um die „Bedürfnisinterpretation“ vergeschlechtlichter sozialer Gruppen in Bezug auf „Anerkennung“ und „Umverteilung“ (Fraser 1994, 2001) darstellen. Und es öffnet sich zuletzt die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit eines geschlechtergerechten Umbaus der Wohlfahrtsstaaten im Rahmen ihrer unter jeweils spezifischen nationalen, supra- und transnationalen gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen umstrittenen Transformation.
Grundlegende Debatten und Entwicklungen feministischer Wohlfahrtsstaatstheorie und -forschung Frauen als Objekte eines „patriarchalen“ und eines „frauenfreundlichen“ Wohlfahrtsstaats Das Erkenntnisinteresse internationaler feministischer Wohlfahrtsstaatsforschung und -theorie seit Ende der 1970er Jahre richtete sich zunächst auf die Decouvrierung des vermeintlich ge-
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schlechtsneutralen als eines de facto „patriarchalen Wohlfahrtsstaates“ (Pateman 1988), der mittels sozial-, familien- und arbeitsmarktpolitischer Regelungen einen Kreislauf weiblicher „Abhängigkeit“ hervortreibt (Fraser/Gordon 1993). So wurde die „Feminisierung der Armut“ als Ergebnis eines Frauen benachteiligenden „two-channel welfare state“ (Nelson 1990) bzw. einer „Zweiteilung der Systeme sozialer Sicherung“ (Gerhard 1988) identifiziert: ein auf den männlichen Familienernährer zugeschnittenes System erwerbsarbeitsbezogener Versicherungsansprüche einerseits, zu welchen nicht-erwerbstätige Ehefrauen und Kinder als mitversicherte Familienangehörige nur in „abgeleiteter“ Form Zugang haben, und bedürftigkeitsgeprüfte Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums andererseits, die in erster Linie Frauen mit Kindern ohne eigenes Erwerbs- und ohne ein ehemännliches Einkommen auffangen. In vielfältigen empirischen Studien konnte gezeigt werden, wie die Kanalisierung von Frauen in die von ihrem Status zweitrangige und häufig mit „Almosen“ und „Armenpflege“ konnotierte Sozialhilfe auf der Erwerbsarbeitszentrierung der Sozialsysteme und den eingeschränkten Partizipationsmöglichkeiten von Frauen am Arbeitsmarkt beruht. Diese gehen auf die ihnen zugewiesene Hauptverantwortung für die unbezahlte Reproduktionsarbeit zurück, welche der weiblichen Genus-Gruppe den Zugang zu eigenständigen existenzsichernden Ansprüchen auf soziale Leistungen erschwert (vgl. Gelphi u.a. 1984, Kickbusch/Riedmüller 1984, Sassoon 1987, Gordon 1990, Pfaff 1992, Ostner 1995). Zugleich deckten feministische Wohlfahrtsstaatstheoretikerinnen die ideologischen Grundlagen der Erwerbszentrierung moderner Sozialpolitik auf. Die Interdependenz von Erwerbs- und Versorgungsarbeit verleugnend, klammerten Ökonomen und Sozialwissenschaftler liberaler, konservativer und marxistischer Couleur die in der Privatsphäre von Ehe und Familie von Frauen erbrachte Haus-, Erziehungs- und Versorgungsarbeit aus „wertschaffender“ Tätigkeit aus. Somit legitimierten sie, dass die gesellschaftlich notwendige, aber unbezahlte Fürsorge- und Versorgungsarbeit von Frauen – von Anglo-Amerikanerinnen im Horizont einer Ethik des „Caring“ politisiert (vgl. Tronto 1993, Young/diQuinzo 1997) – anders als Erwerbsarbeit weder Grundlage politischer noch Bezugspunkt sozialer Rechte wurde (vgl. Wolf-Graf 1981, Barrett 1983, Lister 1993, Walby 1994, Haug 1996). In den sozialdemokratisch dominierten skandinavischen Ländern hoben Wohlfahrtsstaatsforscherinnen seit Ende der 1980er Jahre jedoch auch die geschlechteregalisierenden Wirkungen wohlfahrtsstaatlicher Aktivitäten hervor. In einer optimistischen Version betonten sie deren „frauenfreundliche“ (Hernes 1989) Dimensionen, welche durch den Ausbau wohlfahrtsstaatlicher (Frauen-)Arbeitsplätze und die Bereitstellung öffentlicher Einrichtungen für die Kinderund Altenbetreuung die Unabhängigkeit von Frauen vom Familienernährer ermöglichten, indem sie weibliche Erwerbstätigkeit förderten. Die pessimistische Version argumentierte, dass in Schweden, Norwegen und Dänemark seit den 1970er Jahren zwar die Reproduktion zu einer öffentlichen Angelegenheit gemacht worden war, es jedoch nicht gelang, die Geschlechter hierarchisierende horizontale und vertikale Arbeitsmarktsegregation aufzuheben. Daher sprachen skandinavische Wohlfahrtsstaatsforscherinnen auch von einer „Reorganisation patriarchaler Herrschaft“ (Holter 1984: 19) bzw. von einer Verschiebung weg von „privater“ hin zu einer „öffentlichen Abhängigkeit“ von Frauen (Borchorst/Siim 1987, Siim 1988).
Frauen als (kollektive) Akteurinnen in Geschlechterregimen Die Diversifizierung der internationalen Forschungsergebnisse regte einen Perspektivenwechsel feministischer Wohlfahrtsstaatsforschung an: Zum einen gelangen Frauen nicht mehr in erster Linie als Objekte von Wohlfahrtsstaaten, sondern als Subjekte der Ausgestaltung, Entwicklung und Veränderung wohlfahrtsstaatlicher Maßnahmen und Regelungen in den Blick. Ausgeleuchtet werden sowohl die Kämpfe der historischen Frauenbewegungen um den Zugang zu politischen und sozialen Rechten (vgl. Hobson 1996, Siim 2000, Lister 2003) als auch das Ringen
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dieser kollektiv organisierten Akteurinnen um die Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Lebensrisiken bei der Institutionalisierung sozialer BürgerInnenrechte. Besonderes Forschungsinteresse richtet sich auf die in der herrschenden Theorie vernachlässigten Auseinandersetzungen um „maternalistische Politik“, d.h. die Schaffung von Mutterschutzbestimmungen sowie Mutterschaftsversicherungen (vgl. Bock/Thane 1991, Koven/Michel 1993, Bock 1995, Kontos 1998), sowie auf den Einfluss von Frauen auf Sozialreformen und die Professionalisierung sozialer Arbeit als zentralem sozialpolitischem Handlungsfeld (vgl. Rappaport 2001). Zum anderen machen nicht zuletzt die Erfahrungen und Analysen der Skandinavierinnen, die – etwa am Beispiel der differenten Legitimationsstrategien für öffentliche Kinderbetreuungseinrichtungen (vgl. Leira 1994) – auch die geschlechterpolitischen Unterschiede zwischen den nordischen Ländern zu rekonstruieren vermochten, die Notwendigkeit geschlechterreflektierter vergleichender Wohlfahrtsstaatsforschung deutlich, um hierüber die Ursachen, Formen und Entwicklungspfade nationalstaatlicher Differenzen und Ähnlichkeiten zu verstehen. Im Vordergrund steht nun nicht mehr der Nachweis, dass Wohlfahrtsstaaten patriarchale Geschlechterverhältnisse reproduzieren, sondern der Nachvollzug, wie sie auf spezifische Weise herrschaftsförmige Verhältnisse konstituieren bzw. moderieren, reformieren oder gar transformieren (vgl. Dackweiler 2007). Hierbei wurde die einflussreiche vergleichende Forschung von Gösta Esping-Andersen (1990) zu „Wohlfahrtsstaatsregimen“ und sein Schlüsselkonzept der „Dekommodifizierung“, welches danach fragt, inwieweit soziale Bürgerrechte verankert werden, die es den Menschen erlauben, „to make their living standards independent of pure market forces“ (Esping-Andersen 1990: 3), zunächst zum Ausgangspunkt alternativer geschlechtersensibler Wohlfahrtsstaatstypologien. Denn während Esping-Andersen den jeweils spezifischen Nexus von Staat, Markt und Familie analysierend 18 untersuchte OECD-Staaten idealtypisch jeweils einem „liberalen“, „konservativ-korporatistischen“ oder „sozialdemokratischen“ Wohlfahrtsstaatsregime zuordnet, verweisen Kritikerinnen erstens darauf, dass er die in jedem Regime mehr oder weniger stark ausgeprägte „Familienerhalter“-Ideologie nicht berücksichtige. Werde diese in die Analyse eingelassen, erzwinge sie eine quer zu seiner Einteilung liegende Cluster-Bildung (vgl. Langan/ Ostner 1992, Lewis 1992, Ostner/Lewis 1995). Zweitens kritisieren feministische Wohlfahrtsstaatsforscherinnen, dass Esping-Andersen einzig „Klassenallianzen“ als Grundlage wohlfahrtsstaatlicher Entwicklungspfade analysiert. Dies blende nicht nur die Bedeutung von Frauenbewegungen und Frauenpolitikerinnen innerhalb intermediärer Organisationen wie Parteien und Gewerkschaften und ihre Aktivitäten zur Gestaltung von Sozialpolitik im Sinne der Interessen und Bedürfnisse von Frauen als Arbeitsbürgerinnen sowie als Mütter und Versorgerinnen von pflegebedürftigen Angehörigen aus (vgl. Hobson 2007). Zugleich vernachlässige eine Verengung auf Klassenzugehörigkeit als soziale Interessen organisierende Dimension die Relevanz von Geschlechterleitbildern, die „geschlechterkulturelle Wohlfahrtsstaatsmodelle“ generierten, welche die Verantwortung von Frauen für „care“-Arbeit sowie ihre Arbeitsmarktintegration steuerten. Erst die Analyse von Geschlechterleitbildern machten differente „Familiemodelle“ sichtbar, die im Wechselverhältnis zu gesellschaftlichen Institutionen, wie etwa den jeweiligen industriellen Beziehungen, und spezifischen „Geschlechter-Arrangements“ sozialer AkteurInnen und deren Aushandlungsprozesse stünden (vgl. Pfau-Effinger 2000). Es erfolgten aber auch Vorschläge für eine kritisch-feministische Rekonzeptualisierung der Typologie Esping-Andersens, um zur Analyse von „Geschlechterregimen“ zu gelangen (vgl. O’Connor 1993, 1996; Orloff 1993, Sainsbury 1994, 1997, 1999; Crompton 1998). Hierfür wurde die Schlüsselkategorie der Dekommodifizierung erstens ergänzt um die analytische Dimension der Bedingungen des Zugangs zum Arbeitsmarkt von Frauen und zweitens um die Dimension der Bedingungen der Möglichkeit von (alleinerziehenden) Frauen, unabhängig von einem „Ernährer“ einen autonomen Haushalt zu führen. Somit bemessen diese Typologien Geschlechterregime nach dem Grad der Unabhängigkeit von Frauen sowohl von einer Versorgerehe als auch von marktvermittelter Erwerbsarbeit. Von hier ausgehend werden zwei idealtypisch zu unterscheidende „Logiken“ von Geschlechterregimen in Bezug auf die wohlfahrtsstaatliche Regulie-
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rung des Geschlechterverhältnisses in Produktion und Reproduktion identifizierbar (Sainsbury 1997: 12): ein „male-breadwinner-model“, das Frauen familialisiert, und ein „individual-model“, das auf Grundlage der Defamilialisierung von „care“-Arbeit zu ihrer Individualisierung beiträgt. Vergleichende feministische Wohlfahrtsstaatsforschung hat diese differenten Logiken besonders eindringlich in Bezug auf die in allen Geschlechterregimen als „Problemgruppe“ bezeichneten alleinerziehenden Frauen sowie für vollzeiterwerbstätige Mütter zu demonstrieren vermocht (vgl. Gerhard/Knijn/Weckwert 2003).
Aktuelle Entwicklungen und Fragestellungen Wohlfahrtsstaatliche Geschlechterpolitik in Ost- und Mitteleuropa Vor dem Hintergrund der ökonomischen und politischen Umstrukturierungsprozesse in Ost- und Mitteleuropa sieht sich die feministische Wohlfahrtsstaatsforschung und -theorie vor neue Herausforderungen gestellt. So wurden diese Transitionsgesellschaften, die einen zweimaligen radikalen Traditionsbruch und Systemwechsel erlebten (vgl. Gerhard 1996: 15), konsequenter in vergleichende Analysen einbezogen. Gefragt wird nach den in die Gegenwart hineinwirkenden, unterschiedlichen sozialpolitischen Flankierungen der propagierten Geschlechteregalität in den staatssozialistischen Ländern. Hat dies doch auch hier zu geschlechtsspezifischen Arrangements zwischen Staat und Familie in Bezug auf Versorgungs- und Erziehungsarbeit geführt und das Verständnis der Verantwortlichkeit für „Care-“Arbeit und die Legitimität reproduktionsbezogener sozialer BürgerInnenrechte geprägt (vgl. Einhorn 1993, Makkai 1994). Analysiert wird nicht nur der massive Rückbau des Staatssektors, der für den Anstieg der Frauenerwerbslosigkeit entscheidend ist, sowie die mehrheitlich am Austeritätsprinzip ausgerichtete Sozial-, Familien- und Arbeitsmarktpolitik, die daran zu vermessen ist, ob sie Frauen mit und ohne Kinder den Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglicht oder erschwert und ob sie ihnen ein Überleben jenseits des Marktes gewährleistet (vgl. Götting 1998, Siemienska 2002, Fultz/ Steinhilber 2004). Gefragt wird zudem, welche Geschlechterleitbilder diesen Maßnahmen und Regelungen zugrunde liegen und wie z.B. traditionelle Geschlechterideologien deren Ausgestaltung erneut dominieren.
Der Einfluss der EU auf wohlfahrtsstaatliche Geschlechterpolitik Nicht nur aufgrund der Osterweiterung der EU beschäftigt sich geschlechterreflektierte Wohlfahrtsstaatsforschung vermehrt mit den Auswirkungen der europäischen Integration und deren geschlechterpolitischen Dimensionen (vgl. Meehan 1993, Hoskyns 1996, Ostner/Lewis 1998, Kreisky/Sauer 2001). Die neue Steuerungsebene der EU hat beträchtlichen Einfluss auf das Leben von Frauen: zum einen, weil die Mitgliedstaaten ihre Sozial-, Familien- Gleichstellungsund Arbeitsmarktpolitik entlang supranationaler Standards neu legitimieren und entwerfen müssen, zum anderen, weil Gemeinschaftspolitik legislative Maßnahmen und monetäre Ressourcen zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, u.a. in Bezug auf Kinderbetreuung, Mutterschutz und Elternurlaub und zur Beschäftigungsförderung von Frauen im Rahmen von Strukturpolitik, Förderlinien oder etwa die „Teilzeitrichtlinie“ geschaffen hat (vgl. Rubery/Fagan 1998, Schunter-Kleemann 1999, Rossilli 2000, Klein 2006). Feministischem Lobbying ist es in den 1990er Jahren darüber hinaus gelungen, sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz und Prostitution als „Sex-Arbeit“, aber auch sexuelle Gewalt im sozialen Nahraum und Frauenhandel auf die Agenda der EU-Sozialpolitik zu bringen (vgl. Elman 1996).
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Vor allem das auf globalem politischem Parkett der Vereinten Nationen durch die internationale Frauenbewegung entwickelte Prinzip des „Gender Mainstreaming“ wurde zum geschlechterpolitischen Hoffnungsträger und Bezugspunkt feministischer Wohlfahrtsstaatsanalyse, aber auch zum Gegenstand kritischer Reflexion hinsichtlich der möglichen Instrumentalisierung und Verwässerung feministischer Ziele (vgl. Behning/Amparo 2001, Gubitzer/Schunter-Kleemann 2006). Insbesondere die zu den EU-Gipfeln von Lissabon im Jahr 2000 und in Barcelona 2002 formulierten beschäftigungspolitischen Leitlinien und strategischen Ziele werden einer geschlechtersensibler Revision unterzogen und die „Nationalen Aktionspläne“ darauf geprüft, inwieweit sie im Sinne von Geschlechtergerechtigkeit bestehende Geschlechterverhältnisse, und vor allem die Beziehung zwischen Erwerbs- und Versorgungsarbeit, systematisch berücksichtigen oder ob sie hinsichtlich der Lebens- und Partizipationschancen von Frauen neue Widersprüche und Ungleichzeitigkeiten genieren (vgl. Walby 2005).
Vom „Familienernährer“- zum „adult-worker“-Modell? So sprechen feministische Wohlfahrtsstaatsforscherinnen angesichts der stetig wachsenden Erwerbsbeteiligung von Frauen mit Kindern vor allem in West- und Nordeuropa und in Anbetracht der explizit auch auf diese Frauen zielenden Beschäftigungspolitik der Europäischen Kommission im Horizont von Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum von einer unterdessen beobachtbaren Abkehr vom Ernährer- bzw. Hausfrauen- hin zu einem „adult-worker“-Modell (Lewis 2001). In diesem Modell soll jedes erwerbsfähige Familienmitglied – mehr oder weniger kontinuierlich, mehr oder weniger in Voll- bzw. in Teilzeit – erwerbstätig sein. Doch werde das „adultworker“-Modell bislang, außer in den nordischen Wohlfahrtsstaaten, weder mit ausreichend geschnürten „Betreuungspaketen“ für erziehungspflichtige Kinder flankiert (vgl. Jenson/Sineau 2001, Leitner/Ostner/Schratzenstaller 2004), noch existierten konsistente Maßnahmen und Instrumente zur geschlechtergerechten Verteilung von Erwerbs- und Versorgungsarbeit zwischen Frauen und Männern, die das „adult-worker“-Modell zugleich zu einem „adult-carer“-Modell machten, in dem alle Menschen „elementare Betreuungsarbeit“ leisten (Fraser 2001: 100). Vor dem Hintergrund der zu konstatierenden demographischen Entwicklungen und gesellschaftlichen Alterungsprozesse in allen entwickelten Wohlfahrtsstaaten (vgl. Dackweiler 2006) wendet sich die Aufmerksamkeit zugleich verstärkt der Frage nach der Pflege von kranken und alten Menschen als Teil der mehrheitlich von Frauen getragenen „care“-Arbeit bei der Analyse der Rahmenbedingungen setzenden Geschlechterregime zu (vgl. Theobald 2004, Pfau-Effinger 2005).
Ausblick auf Forschungsfragen und Zukunftsvisionen Wohlfahrtsstaaten unter Globalisierungsdruck und die Differenzen zwischen Frauen Angesichts der skizzierten Problemkonstellationen ist es für feministische Wohlfahrtsstaatsforschung von großem Interesse, die Frage zu beantworten, ob die jeweiligen „Logiken“ der Genderregime dazu beitragen, aus dem Top-down-Instrument des Gender Mainstreamings eines zu machen, das zu mehr Geschlechteregalität beizutragen vermag, oder ob es dieses Ziel stärker beund verhindert. Daher richtet sich die vergleichende Forschung vermehrt auf die Dimensionen vergeschlechtlichter „politics“, d.h. auf korporatistische Arrangements zwischen Regierungen, Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften sowie politische Institutionen wie ministerielle Bü-
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rokratien und Parteien und deren Offenheit bzw. Geschlossenheit für das Ziel der Geschlechtergerechtigkeit (vgl. Falkner 1998, Swank 2002, Dackweiler 2003c). Zugleich werden in jüngster Zeit immer deutlicher auch die Grenzen der Konzentration auf Geschlecht als (Struktur-)Kategorie sozialer Ungleichheit und als Fokus politischer Strategien diskutiert: Sowohl der Politikund Forschungsansatz der Intersektionalität, d.h. die Überkreuzung und Interdependenz verschiedener Ungleichheitskategorien, insbesondere von Klasse, Hautfarbe, Ethnie, sexueller Orientierung und Geschlecht, als auch das unterdessen in der EU-Antidiskriminierungspolitik festgeschriebene „Diversity“-Konzept, wenden sich der Fragestellung zu, wie das Wissen über Differenzen zwischen Frauen integraler Bestandteil von EU-Geschlechterpolitik und von Forderungen nach der Ausgestaltung von und Inklusion in soziale Rechte werden kann (vgl. Verloo 2006, Woodward 2007). Denn nicht zuletzt die Situation von langzeiterwerbslosen und gering qualifizierten Frauen mit Migrationshintergrund, von Arbeitsmigrantinnen aus Nicht-EU-Staaten, von „Undokumentierten“ sowie Asylsuchenden und ihren Kindern macht – im Rekurs auf StaatbürgerInnenrechte – die Dringlichkeit für feministische Wohlfahrtsstaatsforschung und -theorie überdeutlich, sich verstärkt den sozialen Differenzen innerhalb der weiblichen Genus-Gruppe zuzuwenden. Auch auf EU-Ebene zeigt sich, dass Wohlfahrtsstaaten nicht für alle Frauen gleichermaßen „Männerbund“ oder „Frauenfreund“ sind: In der „Festung Europa“ leben geschlechterpolitische Gewinnerinnen und Verliererinnen (vgl. European Parliament 1995, Kofman/Sales 1999). Darüber hinaus fordert die sozialwissenschaftliche Diskussion über die Restrukturierung nationaler Wohlfahrtsstaaten im Globalisierungsprozess feministische Wohlfahrtsstaatsforscherinnen dazu heraus, sich einzumischen. Analog zur neoliberalen Ideologie des Marktes, der mit unsichtbarer Hand auch die Gleichheit der Geschlechter herstellen werde, negieren die Protagonisten dieser Diskussionen die Existenz von Geschlecht(erdifferenzen), so dass die bereits vorliegenden feministischen Analysen zu den geschlechterselektiven Effekten des Abbaus von sozialen BürgerInnenrechten, aber auch zu der sich verschärfenden sozialen Ungleichheit zwischen Frauen entlang von Klassen-, ethnischer und nationaler Zugehörigkeit, von Alter und Familienstand in die wissenschaftlichen und politischen Debatten um „Standortsicherung“ und „Weltmarktkonkurrenz“ nachdrücklich eingebracht werden müssen (vgl. Young 2000, Kreisky 2001, Sauer 2001, Veil 2001).
Reformalternativen aus der Perspektive von Geschlechtergleichheit und -gerechtigkeit Ob im Rahmen „demokratischer und sozialer Reformalternativen“ (Butterwegge 2001: 159ff.) zu den hegemonialen liberal-konservativen Restrukturierungen der keynesiansichen Wohlfahrtsstaaten nun re-regulierende Instrumente wie Vermögensabgabe, gesetzlicher Mindestlohn und „Maschinensteuer“, bedarfsorientierte Grundsicherung oder soziale und ökonomische Grundrechte wie ein Grundeinkommen diskutiert werden: Das Ziel der Geschlechtergleichheit und -gerechtigkeit muss in diese Strategien stets von Neuem eingeschrieben werden. Zweitens gilt es, die Überlegungen „queerer“ Theoretikerinnen aufzugreifen, welche die in feministischer Forschung zu sozialen BürgerInnenrechten und Geschlechterregimen reproduzierte heteronormative Matrix sowie die Orientierung an Zweigeschlechtlichkeit kritisieren und als Teil der sozialen Kämpfe, Kompromisse und Aushandlungsprozesse (wohlfahrts)staatlicher Herrschaft analysieren (vgl. Raab 2005: 62). Und drittens gilt es, zukünftig den Blick vermehrt auch auf männliche Verlierer von Deregulierung, (Re-)Privatisierung und Rekommodifizierung zu richten, während gut und hoch qualifizierte Frauen in der globalen „Wissensökonomie“ durchaus zu Gewinnerinnen werden (vgl. Lenz 2007). Deren für eine Berufskarriere notwendige räumliche Mobilität und zeitliche Flexibilität, also ihre „Unabhängigkeit“ von der Sorge um sich selbst und ihre Familienangehörigen, stützt sich überwiegend weder auf die Übernahme von Hausarbeit durch (Ehe-)
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Partner bzw. auf deren „care“-Arbeit für pflege- und versorgungsbedürftige Angehörige, auch wenn vor allem in den skandinavischen Wohlfahrtsstaaten verstärkt monetär flankierte Bemühungen unternommen werden, Männern die Ausübung aktiver Vaterschaft zu ermöglichen (vgl. Hobson 2002). Noch sehen sie sich abhängig vom Fortbestand bzw. Ausbau wohlfahrtsstaatlicher Aktivitäten. Denn ihre Unabhängigkeit wird vermehrt gewährleistet durch privat gekaufte Dienstleistungen am Rande der informellen Ökonomie im Rahmen einer weltweiten Arbeitsteilung zwischen Frauen (vgl. Gather/Geissler/Rerrich 2002, Ehrenreich/Hochschild 2003, Lutz 2007). Ob und wie dies zum Wandel sozialer BürgerInnenrechte und bestehender Geschlechterverhältnisse beiträgt und ob diese weiterhin soziale Ungleichheit konstituieren bzw. hierarchische sein werden, ist auch zukünftig Gegenstand geschlechterreflektierter Wohlfahrtsstaatsforschung. Verweise: Gleichstellungspolitiken Globalisierung Intersektionalität Politik Transformation
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Cilja Harders
Krieg und Frieden: Feministische Positionen
Die feministische Auseinandersetzung mit Krieg und Frieden lässt sich grob in drei Diskussionsstränge gliedern. Die erste Gruppe von Arbeiten konzentriert sich auf eine Kritik theoretischer Konzepte von Krieg und Frieden im internationalen System, die auf ihren impliziten, geschlechterpolitischen Gehalt hin untersucht werden. Wie werden Krieg und Frieden erklärt und welcher Zusammenhang besteht beispielsweise zwischen Nationalstaatlichkeit, militärischer Verteidigungskapazität und Staatsbürgerschaft (vgl. Roß 2002, Ruppert 1998, Tickner 1992)? Der zweite Strang der Diskussion wurzelt in der Friedens- und Frauenbewegung und beschäftigt sich mit der Entwicklung feministischer Gegenentwürfe (vgl. Wasmuht 2002, Association 1000 Peace Women 2005). Der dritte Strang umfasst jene in den letzten Jahren stark angewachsene Gruppe von Arbeiten, die sich im weitesten Sinne mit dem praktischen En-Gendering des konkreten Kriegs- bzw. Friedensgeschehens auseinander setzt (vgl. Eifler/Seifert 1999, Rehn/Sirleaf 2002, UN 2002). Dazu zählt beispielsweise die kontroverse Diskussion um Frauen und Militär, um Friedensmissionen, Friedensverhandlungen, Krisenintervention, humanitäre Hilfe oder die Arbeit internationaler Organisationen und transnationaler Nicht-Regierungs-Organisationen (NRO).
Feministische Perspektivveränderungen Die feministische Debatte um Krieg und Frieden hat sich auf der theoretischen Ebene vor allem mit einer Kritik der Konzepte von Krieg, Frieden und Sicherheit befasst. Dafür hat sie den Krieg aus der Sicht des nur scheinbar Privaten in den Blick genommen und so den Zusammenhang von Geschlechterregimen und Gewaltformen erhellt. Grundlage dafür ist ein „weicher“, prozessorientierter Kriegsbegriff, der die Mikroebene der vergeschlechtlichen sozialen Praxen mit der Makroebene von Staatshandeln verbindet. Zugleich hat sie sich intensiv mit den Geschlechterstereotypen befasst, die den Theorien, aber auch der Praxis von Krieg und Frieden zu Grunde liegen. Diese Codierungen von „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“ weisen stereotyp dem „Mann“ Kriegsbereitschaft und Aggression, der „Frau“ jedoch Friedfertigkeit und Opferrolle zu.
Erweiterter Kriegs- und Sicherheitsbegriff Neben den klassischen Staatenkriegen bestimmen vermehrt die so genannten „neuen Kriege“ (Kaldor 2000) die politische und politikwissenschaftliche Wahrnehmung des Kriegsgeschehens. Durch die Anschläge vom 11. September 2001 und den seither deklarierten „Krieg gegen den Terror“ ist die bereits seit dem Ende des Kalten Krieges zu beobachtende Restrukturierung der internationalen Gewaltaustragung zwischen Bürgerkrieg und quasi-polizeilicher Kurzintervention beschleunigt und kulturalistisch zugespitzt worden. Geschlechterverhältnisse und Frauenrechte, aber auch Gewalt gegen Frauen, erfuhren dadurch stärkere öffentliche Beachtung, wie
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der Rekurs auf die Situation afghanischer Frauen unter den Taliban oder die Diskussion um sexualisierte Gewalt in den Staatszerfallskriegen Jugoslawiens zeigt. Damit ist vielfach auch eine Öffnung des Kriegsbegriffs hin zu nicht-staatlichen Akteuren, zu Gewaltökonomien und zu einer neuen Bewertung von Gewalt gegen ZivilistInnen verbunden (Nordstrom 2005). Diese zentralen Dimensionen kriegerischer Gewalt wurden in der feministischen Diskussion bereits viel früher thematisiert. Denn der entscheidende Perspektivwechsel der feministischen Forschung ist der Blick aus der nur scheinbar privaten Sphäre auf die internationale Politik der Staaten. Von dort aus zeigt sich, dass Sicherheit für einen Staat im Sinne unversehrter Staatsgrenzen und der Möglichkeit, sich bei einem Angriff zu wehren, nicht identisch ist mit der Sicherheit seiner BewohnerInnen. Ein besonders eklatantes Beispiel dafür ist die häusliche Gewalt gegen Frauen. Weltweit sind zwischen 10% und 50% aller Frauen mindestens einmal in ihrem Leben von häuslicher Gewalt durch einen intimen Partner betroffen (WHO 2000). Wenn also häusliche Gewalt und andere Formen sexualisierter Gewalt von Staaten nicht als elementares Sicherheits- und Demokratieproblem wahrgenommen werden, dann kann das Ausmaß privatisierter geschlechtsspezifischer Gewalt dazu führen, dass auch in Friedenszeiten Unfrieden den Alltag von Frauen prägt (vgl. Zwingel 2001). Die feministische Forschung hat daraus gefolgert, dass das eigentliche internationale Sicherheitsproblem nicht in Krieg und Aufrüstung liegt, sondern darin besteht „that there is no collective outrage against the terrifying costs of masculinist, classist, and racist inequities“ (Peterson 1992: 49). Diese Formen der nur scheinbar privaten Gewalt in Friedenszeiten sind eng mit den geschlechtsspezifischen Gewaltformen des Krieges verbunden. Oft enden sie nicht nach dem Abschluss offizieller Friedensverhandlungen. Die Stationierung ausländischer Truppen verschärft häufig Probleme der sexuellen Ausbeutung von Frauen, indem rund um Truppenstandorte Prostitution stark nachgefragt wird. Frauen sind dann besonders verletzlich für Ausbeutung und Gewalt. Gleichzeitig lässt die Heimkehr demobilisierter Soldaten das Ausmaß häuslicher Gewalt häufig drastisch ansteigen (vgl. Cockburn/Hubic 2002, Goldstein 2001, Enloe 2000). Eine Kriegsdefinition, die den solchermaßen vergeschlechtlichen Charakter von Gewalt erfassen kann, muss deshalb einen Blick auf Akteure unterhalb der Ebene von Nationalstaaten ermöglichen. Sie ist dynamisch und verbindet internationale, nationale und die so genannte private Ebene. Sie geht nicht von klar abgegrenzten Zuständen von Krieg und Frieden aus, denn ein formaler Friedensschluss bedeutet häufig noch nicht das Ende der Gewalt. Eine feministische Kriegsdefinition nutzt entsprechend einen gesellschaftsbezogenen Blick auf Gewalt und untersucht die dynamischen vergeschlechtlichten sozialen „Prozesse der Eskalation und Deeskalation von Gewalt“ (vgl. Elwert/Feuchtwang/Neubert 1999: 10) in ihrem institutionellen Rahmen. Geschlechterverhältnisse und -bilder spielen für die Ausgestaltung der sozialen Prozesse von Gewaltausübung und für die Legitimierung dieser Gewalt eine zentrale Rolle.
Kritik dichotomer Geschlechterkonstruktionen Internationale Politik, besonders in ihren kriegerischen Varianten, scheint allein personell eine überwältigend „männliche“ Angelegenheit zu sein. Auf der anderen, weniger thematisierten und sichtbaren, Seite des Geschehens stehen die Frauen, die überwiegend als passive Opfer wahrgenommen werden. Den kulturell und historisch differenzierten Praxen der „sexual division of violence“ (Cockburn 2001: 10) liegen außerordentlich beständige dichotome Zuweisungen geschlechtlicher Rollen zu Grunde, denen zufolge Männer in Kriegen kämpfen und Frauen nicht (vgl. Elshtain 1987, Goldstein 2001). Dieser Zusammenhang von Geschlechterungleichheit und Kriegskultur ist tief in das ideengeschichtliche Fundament des modernen demokratischen Nationalstaats eingelassen (vgl. Ruppert 1998, Roß 2002). Auf der einen Seite stehen dabei „Soldat“ und „Staatsmann“ und auf der anderen „schöne Seele“ und „Kriegermutter“ (Elshtain 1987: 4ff.). Politiker und Krieger stehen Frauen gegenüber, denen in diesem Diskurs die widersprüchlichen Rollen von „natürlicher Trösterin“ oder
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der „mütterlichen Patriotin“ zugewiesen werden. Die „schöne Seele“ repräsentiert dabei die Tröstungen und den Schutzbedarf der kriegsabgewandten, der „natürlich friedfertigen“ Frau. Binäre Geschlechtsrollenkonstruktionen dienen nicht nur als Begründungszusammenhang für die Zuweisung unterschiedlicher praktischer Rollen in kriegerischem Geschehen, sondern sie sind auch grundlegend für das Verständnis der Struktur und Funktion von Nationalismus und Militarismus. Diese dichotomen Geschlechterbilder sind gerade in ihrer Gegensätzlichkeit eng miteinander verbunden: Wenn Frauen Friedfertigkeit zugeschrieben wird, dann wird gleichzeitig auch Männern Kriegs- und Gewaltbereitschaft unterstellt. Nur so kann der „Schutz von Frauen und Kindern“ zu einem wichtigen Motiv der Begründung von Kriegen werden. Insofern dienen diese Geschlechterbilder auch dazu, Gewalt als Mittel der Konfliktbearbeitung als natürlich und angemessen erscheinen zu lassen. Krieg als sozialer Prozess muss von der Mehrheit der Gesellschaft als legitim betrachtet werden, damit er ausgetragen werden kann. Die Kampf- und Opferbereitschaft von Männern und Frauen muss hergestellt werden, sie ist nicht natürlich gegeben. Die Muster dieser Herstellung sind kulturell und historisch unterschiedlich, geschlechtsspezifisch und eng mit Modellen hegemonialer Männlichkeit verbunden, denn hegemoniale Männlichkeit trägt häufig militarisierte Züge (Connell 1995). Hinter den positiven Bezügen auf die angeblich friedfertige Weiblichkeit droht die Täterinnenschaft von Frauen, das „weibliche Gesicht des Krieges“ (vgl. Wasmuht 2002) jedoch zu verschwinden. Frauen als Täterinnen nehmen von klassischen Versorgerinnenrollen (Waffen, Nahrung, Information) über die aktive Unterstützung und Ermutigung (cheerleading) bis zur Ausübung von Gewalt (Kämpferinnen) (vgl. Zdunnek 2002) unterschiedliche Rollen ein. Frauen haben als Mitglieder einer dominanten ethno-politischen oder sozialen Klasse ebenso wie männliche Akteure eventuell ein Interesse an der Eskalation und Aufrechterhaltung von Gewalt, da sie damit unmittelbar materielle und nicht-materielle Machtgewinne verbinden können. Frauen sind als aktive oder passive Unterstützerinnen militarisierter Männlichkeit an der Aufrechterhaltung gewaltbereiter Konfliktkultur beteiligt. Sie unterstützen als Soldatinnen, Krankenschwestern, Versorgerinnen, Waffenproduzentinnen oder Schmugglerinnen den bewaffneten Konflikt. Auch marginalisierte Frauen können von gewaltvollen Konflikten ökonomisch profitieren, etwa, wenn sie in klassischen Versorgerinnen-Rollen als Händlerinnen für Truppen tätig sind. Als Täterinnen, Mittäterinnen und Unterstützerinnen einer gewaltsamen Konfliktkultur sind sie ebenso wie Männer daran beteiligt, dass Konflikte eskalieren oder de-eskalieren wie nicht zuletzt die Folterskandale im Krieg gegen den Irak gezeigt haben (Harders 2004, McKelvey 2007).
Engendering von Krieg und Frieden Frauen sind also Trägerinnen einer Kriegskultur ebenso wie sie Opfer einer solchen Kultur sein können. Sie agieren als Soldatin in einer Armee, die vielleicht andere Frauen in die Flucht zwingt. Soldatinnen können ebenso Opfer sexueller Belästigung innerhalb der Armee werden, wie Zivilistinnen Opfer sexualisierter Gewalt im Rahmen kriegerischer Handlungen werden. Essentialistische Positionen im Sinne einer besonderen Friedfertigkeit der Frau sind dementsprechend weder theoretisch noch politisch haltbar. Sie sind jedoch zugleich wirksame Diskurshintergründe für die friedenspolitische Praxis vieler Frauen und für die Alltagswahrnehmung von geschlechtlichen Rollen im Krieg. Denn in der geschlechtlichen Gewalt(zu)teilung der meisten Gesellschaften haben Frauen tatsächlich einen eingeschränkten Zugang zu Gewaltmitteln. Die Frauenfriedensbewegung entwikkelt daraus eine nicht zu unterschätzende „mütterliche“ Legitimation von Friedensaktivitäten. Auch in der Praxis vieler Frauengruppen in Konfliktregionen gehört diese mütterlich-weibliche Legitimation häufig zum Alltag (vgl. Cockburn/Hubic 2002). Sie bietet wichtige Anknüpfungspunkte für das empowerment von Frauen, da Frauen vor diesem Argumentationshintergrund aktiv werden, in die öffentliche Sphäre eintreten und sich in das Nachkriegsgeschehen einmischen. So können Frauen aufgrund ihrer spezifischen Situation als häufig nicht direkt in bewaffnete Kämpfe verwickelte
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Personen einen besonders wichtigen Beitrag zur Friedenssicherung leisten. Warum sollen sie also nicht ein relevanter Teil von Friedensverhandlungen sein? Sie sind oft mit der Überlebenssicherung und dem konkreten Wiederaufbau der eigenen und der Familienexistenz beschäftigt. Warum sollte ihr Wissen dann nicht auch in den Wiederaufbau eines Staates, einer Gemeinde, eines Dorfes fließen? Diese spezifische Perspektive von Frauen muss ernst genommen werden, so ein nicht unmaßgeblicher Teil der Autorinnen von Studien zum Thema Geschlecht und Gewalt. Ein Ausdruck des erfolgreichen en-genderings der internationalen Politik ist beispielsweise die Verabschiedung der UN-Resolution 1325, die besagt, dass „an understanding of the impact of armed conflict of women and girls (...) can significantly contribute to the maintenance and promotion of international peace and security“ (UN 2000). Neben diesen internationalen Entwicklungen bildet das Militär einen besonders wichtigen und umstrittenen Bereich des En-Gendering (Enloe 2000). Die Armeen fast aller NATO-Mitgliedstaaten haben gegen enorme gesellschaftliche und militärische Widerstände ihre Reihen für Frauen in allen Rängen und fast allen Aktivitäten geöffnet. Die Frauenquoten liegen aber nicht höher als 14% und Frauen bleiben in der Praxis auch weiterhin oft von Kampfeinheiten ausgeschlossen. Deutschland war einer der letzten europäischen Staaten, die ihr Militär für Frauen öffneten. Hier sorgte der EuGH 2000 für die Zulassung von Frauen jenseits von Sanitäts- und Musikkorps (vgl. Eifler 2002). „In der militärischen Organisation führt der Einbezug von Frauen zu einer (latenten) Infragestellung bisheriger institutioneller Praktiken, kultureller Rituale und der sozialen Beziehungen. (...) Mit der Einbeziehung von Frauen ins Militär wird die Konstruktion der Geschlechterdifferenz über die enge Bindung an die staatlich legitime Gewaltausübung als besonderes Privileg von Männern infrage gestellt.“ (Eifler 2002: 166)
Die exklusive Bindung von Männlichkeit an Kampfbereitschaft wird mit in der feministischen Forschung umstrittenen Folgen aufgebrochen. Offen bleibt jedoch, ob der Einbezug von Frauen die militärische Kultur verändern wird, oder ob sich zunächst die sozialen Herstellungsprozesse militarisierter Männlichkeit in der Institution Militär verändern (Ahrens/Apelt/Bender 2005).
Kontroverse frauen- und friedenspolitische Perspektiven Welche feministischen Friedens- und Reformvisionen werden im Rahmen der hier kurz vorgestellten Diskussion entfaltet? Es lassen sich im Wesentlichen drei friedenspolitische Herangehensweisen unterscheiden. Eine reformerische Perspektive rankt sich um Fragen des systematischen Einbezugs, des en-genderings, von Frauen (vgl. Rehn/Sirleaf 2002, UN 2002, Böge/Fischer 2005). Sie mündet in eine Art geschlechterdemokratischen Frieden: Geschlechterdemokratie kann als Indikator für die Friedensfähigkeit bzw. Kriegsbereitschaft einer Gesellschaft gelten. Dazu gehört auch die umfassende deskriptive und substantielle Repräsentation von Frauen, die zu einer Veränderung der Institutionen und der Qualität von Außen- und Sicherheitspolitik führt, so die Hoffnung der Aktivistinnen. Cockburn und Hubic folgern daraus, dass wir „ (...) weil wir wenn wir uns wünschen, die männliche Kultur zu verändern und zu verbessern – Frauen keinesfalls von der Verantwortung für die machtvolle Ausübung gerechter und notwendiger Gewalt freisprechen sollten, um sie einzig und allein Männern aufzubürden. (Selbstverständlich sollten wir Frauen genauso wenig stereotype Frauenaufgaben zuweisen)“ (Cockburn/Hubic 2002: 214).
Sie entwickeln ausgehend von dieser Analyse und den von bosnischen Frauengruppen artikulierten Erfahrungen im Umgang mit den Friedenstruppen sehr weitreichende Szenarien einer wirksamen, demokratischen und geschlechtersensiblen militärischen Kultur. Sie fragen beispielsweise: „Was bräuchte man, um eine Armee aufzubauen, in der Männer als Geschlecht und traditionell männliche Denkweisen nicht in überwältigendem Ausmaß Entscheidungsprozesse und Autoritätsstrukturen dominieren? Was bräuchte man, um eine Armee aufzubauen, in der Gender einen wichtigen Platz auf der politi-
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schen Agenda hat und in der es Einheiten und Personal gibt, die besonders für die Beobachtung und Veränderung von Geschlechterbeziehungen innerhalb der Militärstrukturen verantwortlich sind?“ (Cockburn/Hubic 2002: 216f.)
Eine zweite Perspektive ist die der modernen Kriegermütter, der aktiven Beteiligung an und Gestaltung von kriegerischer Weltpolitik im Sinne deskriptiver Repräsentation. Auch dies ist eine Form des Engendering, aber ohne reformerischen Anspruch der weiblichen Mitglieder internationaler und nationaler Institutionen von Krieg und Frieden. Prominente Beispiele dafür sind die immer noch seltenen Außen- und Sicherheitspolitikerinnen, weibliche Armeeangehörige und auch Intellektuelle. Eine dritte Perspektive ist diejenige positiver Friedensentwürfe, die die Sicherheitsbedürfnisse und Gewalterfahrungen der nur scheinbar privaten Sphäre zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen machen (Association 1000 Women 2005). So formuliert die amerikanische Theoretikerin Judith Ann Tickner eine umfassende Friedensvision: „The achievement of peace, economic justice, and ecological sustainability is inseparable from overcoming social relations of domination und subordination; genuine security requires not only the absence of war but also the eliminiation of unjust social relations, including unequal gender relations.“ (Tickner 1992: 128)
Tickners Sicherheitsbegriff trägt der Tatsache Rechnung, dass die gewaltförmige Ungleichheit zwischen den Geschlechtern große Unsicherheitsfaktoren für Frauen produziert. Traditionelle Sicherheitskonzepte streben nach Autonomie und Separation. Tickner (1992: 132) schlägt vor, stattdessen auf das menschliche Bedürfnis nach Gemeinschaft, Verbundenheit und Interdependenz zu setzen. In dieser Perspektive lösen sich die festen Grenzen zwischen Innen und Außen, zwischen Ordnung und Anarchie und zwischen Außen- und Innenpolitik auf. Das feministische Sicherheitskonzept geht von einer „interrelationship of violence at all levels of society“ aus (ebd.: 133). Es ist dynamisch und zielt eher auf die Herstellung von Gerechtigkeit, denn auf die Herstellung von Ordnung. Darin eingeschlossen ist Geschlechtergerechtigkeit, denn „replacing warrior-patriots with citizendefenders provides us with models that are more conductive to women's equal participation in international politics“ (ebd.: 138). Offen bleibt dabei, wie mit der dekonstruktivistischen Kritik an solchen geschlechtsspezifischen Zuschreibungen von Friedenskompetenz umzugehen ist (vgl. Kretzer 2002, Sylvester 1994). Lassen sich, so ist abschließend zu fragen, nicht-essentialistische feministische Friedenskonzepte denken, die an sozialen Erfahrungen von Frauen anknüpfen, ohne daraus „natürliche“ weibliche Dispositionen zum Frieden abzuleiten? Verweise: Geschlechterstereotype Globalisierung Nation, Kultur und Gender
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Barbara Holland-Cunz
Demokratiekritik: Zu Staatsbildern, Politikbegriffen und Demokratieformen
Konturen zentraler Konzepte: Staatsbilder, Politikbegriffe, Demokratieformen Die parlamentarische Demokratie im Rahmen des modernen Nationalstaats ist für Frauenbewegung und -forschung noch immer ein theoretisch und praktisch umkämpftes Terrain. Selbst diejenigen feministisch orientierten Wissenschaftlerinnen und Politikerinnen, die nicht von einer prinzipiellen „Fremdheit der Politik“ (Bärbel Schöler-Macher 1994) ausgehen, tun sich bis heute nicht leicht mit einer systematischen Haltung gegenüber den zentralen Begriffen und Institutionen des Politischen: „Staat“, „Demokratie“, „Parlament“. Die Erfolge der Alten Frauenbewegung in der Stimmrechtsfrage scheinen für einen selbstverständlichen Umgang noch viel zu jung, obgleich das allgemeine Wahlrecht in Deutschland vor über 80 Jahren erkämpft wurde – Deutschland gehört „Wahlhistorisch“ damit allerdings nur in das europäische Mittelfeld (vgl. Hoecker 1998b: 392). Doch seit der Bundestagswahl 2005 ist eine neue pro-feministische Stimmung im Lande zu spüren.
Bilder des Staates Kein Theorieansatz der Frauen- und Geschlechterforschung spiegelt die politiktheoretische Gewissheit, mit der der main stream etwa beim Begriff „Staat“ operiert. So konzediert Manfred G. Schmidt in seinem „Wörterbuch der Politik“ (Schmidt 1995) eingangs zwar eine begriffliche Mehrdeutigkeit, fährt jedoch nüchtern und eindeutig fort: „1) Im weitesten Sinn die Gesamtheit der politischen und gesellschaftlichen Institutionen eines Gemeinwesens und ihrer Wechselbeziehungen in einem räumlich abgegrenzten Gebiet. 2) Eine politisch-rechtliche Ordnung, die eine Personengemeinschaft auf der Grundlage eines Staatsvolkes innerhalb eines räumlich abgegrenzten Gebietes (Staatsgebiet) zur Sicherstellung bestimmter Zwecke (Staatszwecke) auf Dauer bindet und einer souveränen Herrschaftsgewalt (Staatsgewalt) unterwirft. 3) Im Sinn eines weiten institutionellen Begriffs die öffentlich-politischen Institutionen zur Regelung der gemeinschaftlichen Angelegenheiten eines Gemeinwesens ...“. (Schmidt 1995: 896)
Im Anschluss unterscheidet Schmidt (1995: 896ff.) eine genau bemessene Anzahl einflussreicher Herangehensweisen und Modelle aus der europäischen Ideengeschichte der Staatstheorie (von Max Weber bis Karl Marx, von Aristoteles bis Niklas Luhmann). Andere gebräuchliche Lexika der Politik argumentieren vergleichbar begriffssicher: „Staat(,) die politische Ordnung einer Gesellschaft. Der Staat besitzt das Monopol der legalen und legitimen Anwendung der physischen Gewalt, der Gesetzgebung und Rechtsprechung (Legalität, Legitimität). Max Weber bezieht den Begriff der Politik ... auf den Staat. Der Staat der BRD ist nach dem Grundgesetz eine Demokratie, ein Rechtsstaat, ein Sozialstaat und ein Bundesstaat. Die Staatswillensbildung wird im wesentlichen in den politischen Parteien (Parteienstaat) vorbereitet und durch sie im Parlament (Parlamentarismus, Bundestag) vollzogen.“ (Neumann 1995: 779)
Demokratiekritik
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Hier werden die zentralen Begriffe Staat, Politik, Demokratie und Parlament in wenigen Zeilen zu einem klar konturierten Definitionsbündel verwoben. Ein letztes Beispiel aus dem main stream der Lexika: „Staat (...), (1) i.w.S. die Gesamtheit der öff. Institutionen, die das Zusammenleben der Menschen in einem Gemeinwesen gewährleistet bzw. gewährleisten soll; (2) traditionellerweise definiert durch drei Elemente: (1) Staatsgebiet, (2) Staatsvolk (Staatsbürgerschaft) und (3) Staatsgewalt.“ (Schultze o.J.: 606)
Selbst die Pluralität der im Anschluss an die grundlegende Definition jeweils angeführten Modelle dokumentiert eine wohl geordnete Klarheit gegenüber dem Gegenstand „Staat“, eine Klarheit, die in der Frauen- und Geschlechterforschung keine Entsprechung hat. Betrachtet man/frau exemplarisch die beiden wichtigsten deutschsprachigen staatstheoretischen Monografien der vergangenen gut zehn Jahre, so wird deutlich, dass hier das Bild weniger als eines der wohl geordneten Pluralität, vielmehr als eines der Heterogenität oder gar der Unübersichtlichkeit erscheint. Birgit Seemann hat in ihrer Überblicksstudie 1996 herausgearbeitet, dass die Vielzahl feministisch-staatstheoretischer Ansätze keine erkennbare Systematik offenbart – auch wenn Seemann (1996: 121) wohlwollend unterstellt, dass die meisten von ihr untersuchten Autorinnen Staatlichkeit „als ein geschlechtlich konturiertes soziales Verhältnis“ bestimmen (vgl. auch Seemann 1998). Noch offensichtlicher wird dies in der Studie von Birgit Sauer, die, aus dem Reservoir des Malestream-Theoriebestandes schöpfend, bewusst ein äußerst eklektisches Bild zeichnet: Der Staat ist Apparat, Macht, Herrschaftsverhältnis, Institution, Netzwerke, zivilgesellschaftlicher Entwurf, Diskurse und Ergebnis sozialer Praktiken zugleich; zusammengehalten werden die disparaten Begriffe durch das Konzept einer „versachlichten Männlichkeit“ (Sauer 2001b: 54, vgl. Sauer 2001a). Während die Heterogenität, ja Disparatheit der verarbeiteten Konzepte die feministische Debattenstruktur widerspiegelt, zeigt die konzeptionelle Zusammenfügung im Begriff „Männlichkeit“ die Prägung der Debatte durch Eva Kreiskys 1992 formulierte These vom Staat als „Männerbund“ (Kreisky 1992). Eine erkennbar klare Definition „des Staates“ – des repräsentativ-demokratischen modernen Nationalstaates – lässt sich für die Frauen- und Geschlechterforschung somit bis heute nicht konturieren. Für den deutschsprachigen Raum muss jedoch festgehalten werden, dass die Staatsbilder stärker personalisiert (Männlichkeit, Männerbund) werden als im skandinavischen (KorporatismusKritik) oder im angelsächsischen (postmoderne Arena-Bilder) Diskussionskontext. Der offensichtliche Patriarchalismus demokratischer Nationalstaaten fungiert als theoretische Klammer, die prototypische feministische „Feindbilder“ generiert: Vater Staat, Männerstaat, Staatsmänner, Männerrunden, Männerbünde, old boys networks etc. Die wissenschaftliche Erklärungskraft solcher Bilder ist begrenzt, so stark auch ihre politisch-praktische Plausibilität sein mag. Es bleibt zu hoffen, dass die so genannten Gouvernementalitätsstudien im Anschluss an Michel Foucault staatstheoretische feministische Arbeiten künftig beflügeln werden.
Begriffe des Politischen Heterogenität und strukturelle Personalisierung bei den Staatsbildern stehen in deutlichem Kontrast zur Diskussion um den Begriff des Politischen, der in der feministischen Theorie vergleichsweise konsensuell und systematisch beschrieben wird. Feministische politische Theorie und Praxis – national wie international – grenzen sich vom klassischen, „herrschenden“ Politikbegriff in mehrfacher Weise eindeutig und selbstbewusst ab: a) durch die Einbeziehung des Privaten als unbedingt politisierungsfähig und -notwendig – von der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung bis zur privaten Gewalt; b) durch die Dezentrierung staatlicher, formalisierter und/oder institutioneller Politiken als zentrale Formen des Politischen – kontrastierend werden nicht verfasste, nicht institutionelle
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Partizipationsformen systematisch einbezogen; c) durch die Zurückweisung eines in erster Linie beschreibenden Verständnisses von Politik – kontrastierend wird der Politikbegriff stark normativ als Herrschaftskritik „aufgeladen“. Der zentrale Punkt in der feministischen Definition des Politikbegriffs, dies sollte noch einmal ausdrücklich betont werden, ist die anti-traditionalistische Auffassung der Relation zwischen Privatheit und Öffentlichkeit. In der klassischen politischen Theorie der Neuzeit werden die Sphären des Privaten und die des Öffentlichen säuberlich getrennt; nur in der Öffentlichkeit kann/soll Politik ihren Raum und ihre Artikulation finden. Ganz anders im Feminismus: Den praktisch-politischen Anliegen der Frauenbewegung entsprechend („Das Private ist politisch“), definiert auch die politische Theorie und Forschung die Inklusion des Privaten als Kern ihres Begriffs des Politischen. Diese Inklusion des Privaten versteht sich als unmittelbare Herrschaftskritik, da die Themen des Privaten nicht vorrangig als die Angelegenheit von „Privatleuten“ betrachtet werden; „private Fragen“ müssen, beispielsweise wenn es um sexualisierte Gewalt geht, die gesellschaftlichen Institutionen beschäftigen. Aus feministischer Perspektive zementiert der Ausschluss aller Themen des Privaten patriarchale Herrschaft, in dem er die Rechte derjenigen verletzt oder negiert, deren primärer Arbeits- und Verantwortungsbereich (Familie, Hausarbeit, Reproduktion) die so genannte Privatsphäre ist. Zwar hat sich die Schärfe dieser Kritik a) mit den zunehmenden Handlungschancen von Frauen in der politischen Öffentlichkeit und b) mit der liberaleren Einschätzung, dass auch Frauen vom Schutz der Privatsphäre profitieren könnten, deutlich abgeschwächt, doch ist die Kritik an der Spaltung der Sphären bis heute ein Fokus feministischer Theorie und Praxis geblieben – obgleich die (mediale) Intimisierung der politischen Öffentlichkeit erkennbar zunimmt. Noch in einem weiteren wichtigen Aspekt grenzt sich der Feminismus von der herrschenden politiktheoretischen Tradition ab. Aus der klassisch-ideengeschichtlichen Definition des Politischen in der neuzeitlichen Vertragstheorie (i.e. die Idee einer frei gewählten Vergesellschaftung der in ungeregelter „Natur“ lebenden Individuen durch einen Vertrag/Kontrakt) bleibt in der Frauen- und Geschlechterforschung letztlich nur der Aspekt der Selbstbestimmung, Selbstvertretung, Selbstregierung erhalten. Dieses zentrale vertragstheoretische Thema wird zudem individualisiert (im Sinne auch persönlicher Autonomie) und gleichsam ent-kontraktualisiert, da das klassische Bild des Gesellschaftsvertrages als sexualisiertes Herrschaftsbild gilt: Der würdevolle „social contract“ der politischen Theorie ist, Carole Pateman (1988) zufolge, ein „sexual contract“. Dem freiwillig geschlossenen Gesellschaftsvertrag liegt (unausgesprochen) ein herrschaftlich erzwungener Geschlechtervertrag, der vertragstheoretisch konstruierten Geschichte demokratischer Freiheit liegt die Unterwerfung von Frauen zu Grunde. Sie werden, im Widerspruch zum ausdrücklichen Selbstverständnis des Kontraktualismus, nicht als Freie und Gleiche mitgedacht, sind Vertragsbetroffene statt Vertragspartei.
Formen der Demokratie Hiermit ist schließlich der Demokratie-Begriff als dritte wesentliche Theorie-Komponente angesprochen. „Demokratie“ ist die in der Folge von Patemans Arbeit erst im Laufe der 90er Jahre verankerte politiktheoretische Kategorie, mit der nun auch die Frauen- und Geschlechterforschung Fragen nach dem Aufbau, der Struktur und Wirkungsweise staatlich verfasster, über parlamentarische Repräsentation sich selbst organisierende Gesellschaften untersucht. Ihrer ursprünglich basisdemokratischen Herkunft aus der Neuen Frauenbewegung gemäß, bearbeitet die Frauen- und Geschlechterforschung die Demokratiefrage allerdings mit großer Skepsis. Das parlamentarische Repräsentationssystem gilt als potenziell exklusives, Frauen noch immer marginalisierendes Entscheidungssystem, das die Zusammensetzung von Bevölkerungen nicht adäquat spiegelt (vgl. Anne Phillips 1991), keine „faire Repräsentation“ garantiert (vgl. Phillips 1995) oder die Gruppenrechte von Frauen nicht ausreichend berücksichtigt (vgl. Iris Marion Young 1990 und 1993). Der Parla-
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mentarismus der repräsentativen Demokratie wird als frauenpolitisches Problem, nicht als demokratische Chance diskutiert. Partizipatorische Demokratiemodelle (vgl. Pateman 1974) werden dagegen im Feminismus deutlich günstiger bewertet: als praktisch-politische Erfahrungen aus der Alten und Neuen Frauenbewegung, als vielfältige Modelle direktdemokratischer Beteiligung, als Vorstellung einer Demokratisierung aller Lebensbereiche einschließlich der privaten, beruflichen und/oder nachbarschaftlichen Sphären (vgl. Holland-Cunz 1998). Partizipatorische Demokratieformen stehen in unmittelbarer „Konkurrenz“ zu repräsentativen Modellen, da die partizipatorische Demokratie politisches Handeln/Entscheiden ausdrücklich über die parlamentarischen Gremien und typischen Orte des Politischen hinausträgt; Bewegungs-Politiken sowie (sozialistische) Rätemodelle für alle gesellschaftlichen Sphären sind Beispiele dieser klassischen Demokratieform. Die direkte Demokratie (von der athenischen Volksversammlung bis zur modernen Volksabstimmung) stellt einen idealtypischen Spezialfall der partizipatorischen Demokratie dar. Direkte Demokratie zielt auf breite politische Partizipation, bleibt aber etwa als „Referendums-Demokratie“ auf den typischen Raum des formalisierten politischen Instrumentariums beschränkt (i.e. sie weitet die Beteiligungschancen erheblich aus, jedoch nicht die Sphären des Politischen, möglicherweise allerdings dessen Themen). Die hochgradig binnendifferenzierte Unterschiedlichkeit der partizipatorischen Demokratie wird in der Frauen- und Geschlechterforschung bislang selten präzise definiert; die gängige theoretische wie praktische Haltung des Feminismus ließe sich eher als eine summarische Zustimmung zu basisdemokratischen, beteiligungsintensiven Entscheidungsstrukturen kennzeichnen. In den aktuellen Debatten, die sich angesichts der Globalisierung mit der Demokratisierung des politischen Systems jenseits der Nationalstaaten befassen, wird schließlich die Verhandlungsdemokratie aus feministischer Sicht betrachtet. Die Verhandlungsdemokratie ist eine als effizient und lösungsstark geltende Entscheidungsstruktur, in der RepräsentantInnen exekutiver, legislativer und möglichst auch zivilgesellschaftlicher Herkunft Problemfelder gemeinsam beraten und politisch (vor-)entscheiden (die potenziellen Beispiele reichen von informellen Kanzlerrunden über AgendaRäte und Runde Tische bis zu den formellen Ministerräten der Europäischen Union). Unter dem Stichwort „Global Governance“ wird seit einigen Jahren darüber gestritten, ob solcherart möglichst inklusive, korporatistisch orientierte Demokratieformen für AkteurInnen, die durch klassische Repräsentationssysteme deutlich benachteiligt werden, politisch attraktiv sein könnten; die Beurteilung ist hier äußerst kontrovers (vgl. Holland-Cunz/Ruppert 2000). Verhandlungsdemokratische Verfahren können einerseits besonders „exklusive Männerrunden“ hervorbringen, andererseits engagierten NGO-Vertreterinnen weitreichende Mitspracherechte sichern. Auch für die Verhandlungsdemokratie existiert demnach keine klar konturierte Definition und Position innerhalb der Frauen- und Geschlechterforschung. Verglichen mit der partizipatorischen Demokratie erscheint sie vielen deutlich weniger frauenpolitisch attraktiv, obgleich die Erfahrungen auf den UN-Weltkonferenzen der 1990er Jahre dokumentieren, dass die Chancen der Verhandlungsdemokratie nicht unerheblich sind; klassische Forderungen (vom Gewaltschutz bis zur politischen Teilhabe) konnten auf der symbolischen Ebene von globalen Abschlussdokumenten verankert werden. Zwischen den feministisch diskutierten Demokratieformen (repräsentative, direkte/partizipatorische und Verhandlungsdemokratie), den personalisierten Staatsbildern (Männlichkeit, Männerbund) und dem erweiterten Begriff des Politischen (Privatheit, nicht institutionelle Partizipation, Herrschaftskritik) lassen sich resümierend Verbindungslinien ziehen, die die Frauen- und Geschlechterforschung politiktheoretisch fundieren können. Dem weiten, anti-traditionalistischen Politikbegriff steht ein ebenfalls weit gefasstes Demokratieverständnis zur Seite; bei den Begriffsfeldern „Politik“ und „Demokratie“ liegt der Fokus auf der Inklusion von bislang ausgeschlossenen Themen, Sphären, Formen und AkteurInnen. Der Begriff „Staat“ evoziert dagegen eher Formen und Bereiche der Exklusion; der hierzulande deutlich personalisierte Begriff konturiert das Politische als ein spezifisches Terrain, in dem Frauen im Gegensatz zu Männern bis heute nur eine marginalisierte Position zugewiesen wird. Höchste Staatsämter für Frauen bleiben vorerst noch bewun-
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derte Ausnahme (zum Stand der politikwissenschaftlichen Frauen- und Geschlechterforschung vgl. auch insbesondere Rosenberger/Sauer 2004).
Zentrale Debatten und Ergebnisse zu den Begriffsfeldern „demokratische Politik“ und „konventionelle Partizipation“ Konventionelle und unkonventionelle Partizipation Die feministische Partizipationsforschung ist der wissenschaftliche Ort, an dem die wichtigsten demokratiepolitischen Ergebnisse, die zugleich demokratietheoretisch relevant sind, erarbeitet werden. In diesem Diskussionskontext ist vor allem die Unterscheidung zwischen konventioneller und unkonventioneller Partizipation/Beteiligung entscheidend, markiert diese Differenzierung doch den geschlechtsspezifischen Bias politischen Handelns in repräsentativ-demokratischen politischen Systemen. Unter „konventioneller Partizipation“ sind all jene Formen politischer Beteiligung zu verstehen, die sich auf verfasste, formalisierte, institutionalisierte politische Verfahren und Orte beziehen, d.h. u.a. Wahlen, Parteien, Parlamente, Regierungen sowie transnationale Organe und Institutionen. Der Begriff „unkonventionelle Partizipation“ umfasst all jene Politiken, die nicht verfasst und nicht oder nur wenig institutionalisiert sind, d.h. Bürgerinitiativen, Demonstrationen, Versammlungen, also vor allem die typischen Bewegungspolitiken. Während im konventionellen Bereich die Benachteiligung von Frauen (quantitativ und qualitativ) noch immer beträchtlich ist, lassen sich bei den unkonventionellen Beteiligungsformen deutlich weniger geschlechtsspezifische Unterschiede beobachten (vgl. u.a. Hoecker 1995).
Die Entwicklung der Diskussion seit den 1970er Jahren Die Diskurs-Linien, in denen sich die Konturen der einschlägigen Stichworte entfaltet haben, sind rückblickend klar nachzuzeichnen. Zunächst stand der sich in den 70er Jahren entwickelnden Frauen- und Geschlechterforschung ausschließlich der Politikbegriff zur analytischen Verfügung, während „der Staat“ allenfalls als politisch-praktische Projektionsfläche im Sinne eines Gegners und/oder Geldgebers (z.B. „Staatsknete“ für Frauenhäuser) zugänglich war. „Partizipation“ wurde zu jener Zeit nur als Bewegungspolitik gedacht und für richtig befunden, Diskussionen um „Demokratie“ bezogen sich höchstens auf Fragen der inneren, basisdemokratischen Verfassung der Neuen Frauenbewegung. Das gesamte elaborierte Analyse-Instrumentarium, das der mittlerweile professionalisierten sozialwissenschaftlichen Frauen- und Geschlechterforschung heute zu Gebote steht, galt in den 1970er Jahren als politisch und politiktheoretisch zweifelhaft. Weder „demokratische Politik“ noch „konventionelle Partizipation“ waren gebräuchliche Begriffe dieser Zeit. Die Lücken der Theorie korrespondieren mit den Lücken der Partizipationsforschung. Erst während der 1980er Jahre rückten Fragen der politischen Beteiligung von Frauen im konventionellen Bereich parlamentarischer Demokratien zunehmend in den Blickpunkt des Interesses – parallel zur verstärkten Hinwendung der Frauenbewegung (nicht nur in Deutschland) zu institutionellen Politikformen. Wissenschaftlerinnen wie Birgit Meyer (vgl. u.a. Meyer 1992a, 1992b) und Beate Hoecker (vgl. u.a. Hoecker 1987, 1995) sind für die deutschsprachige Diskussion hier als entscheidende Initiatorinnen zu nennen. Mit der begrifflichen Auseinandersetzung gingen politische Erfolge einher: Die Frauenquoten in Parteien, Parlamenten und Regierungen stiegen langsam, aber kontinuierlich an. So konnte Beate Hoecker (1995: 191) schließlich bereits Mitte der 1990er Jahre konstatieren, dass sich „das asymmetrische Geschlechterverhältnis in der Politik erkennbar zugunsten von Frauen verschoben“ hat. Diese Verschiebungen lassen sich allerdings nur als quantitative
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Fortschritte charakterisieren, grundlegende qualitative Fortschritte hin auf eine realisierte Freiheit und Gleichheit aller BürgerInnen sind noch kaum zu beobachten. Auch hat die feministisch gehegte Hoffnung getrogen, dass Frauen durch ihren Ein(be)zug in die Institutionen des Politischen diese nachhaltig verändern würden. Abgebildet wurde der allgemeine Trend zur politischen und politiktheoretischen Professionalisierung auch in den Analysen des Sozialstaats (d.h. durch das Ende eines primär negativen Staatsbezuges), vor allem aber in der internationalen Theoriedebatte, in der die demokratietheoretischen Arbeiten von Carole Pateman, Anne Phillips und Iris Marion Young eine Hinwendung der feministischen Theorie zur Kategorie „Demokratie“ anzeigten. Damit konnten sich Ende der 1980er/ Anfang der 1990er Jahre Partizipationsforschung und Demokratietheorie (neben sex/gender und Sexismus/Rassismus) als zentrale Themenschwerpunkte feministischer Theoriebildung etablieren. Dies hatte in den 1990er Jahren wiederum Auswirkungen auf die Analyse des Staates: Staatstheoretische Arbeiten jenseits der Sozialstaatskritik erlangten Aufmerksamkeit. Mitte der 1990er Jahre war die wissenschaftliche Befassung mit den Begriffen Staat, Politik, Demokratie, Partizipation, Parlament etc. in der Frauen- und Geschlechterforschung zum normalwissenschaftlichen Alltag avanciert. Die herrschaftskritische Analyse demokratischer Politiken nimmt heute neben Analysen von Frauenbewegung(en) und Gleichstellungspolitiken einen bedeutenden Raum ein. Die wichtigsten aktuellen Ergebnisse zur konventionellen Partizipation: Die feministische Kritik der Demokratie bewegt sich, wissenschaftlich gesehen, derzeit sowohl auf der politiktheoretischen als auch auf der empirischen Ebene. Besonders ertragreich sind die Ergebnisse der vergleichenden empirischen Partizipationsforschung, die dokumentiert, wie die Beteiligungschancen für Frauen und Männer am Beginn des neuen Jahrtausends weltweit verteilt sind. Einige wichtige Befunde, die sich vor allem aus den Arbeiten von Beate Hoecker (1995, 1998a, 1998b, 2000, 2006) gewinnen lassen: –
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Deutschland gehört, weltweit gesehen, mit seinen Beteiligungsraten von ca. einem Drittel Frauen im nationalen Parlament und einer fast paritätischen Besetzung bei den BundesministerInnen in die absolute Spitzengruppe. Was sich aus nationaler Perspektive noch immer eher bescheiden ausnimmt, ist im internationalen Vergleich eine höchst privilegierte Position. Quantitative Verbesserungen im Bereich der konventionellen Partizipation bedeuten jedoch noch keine qualitativen Veränderungen im Sinne selbstverständlicher Anerkennung und Integration. Frauen sind noch immer „integrierte Außenseiterinnen“ (Sandra Harding) der Politik. Die politische Kultur eines Landes, der Zeitpunkt der Einführung des Frauenwahlrechts, die politischen Quoten für und die Erwerbsquoten von Frauen stehen in einem direktem Zusammenhang mit den konventionellen Beteiligungschancen. Je egalitärer die politische, ökonomische und soziale Kultur eines Landes ist, desto größer sind die Chancen auf Teilhabe für Frauen. Die Beteiligungschancen im unkonventionellen Bereich sind insgesamt höher: Frauen engagieren sich in diesem Bereich sehr viel stärker und schätzen – realistischerweise – auch ihre Chancen hier als sehr viel besser ein. Bei den SprecherInnenposten u.a. sind Frauen jedoch, so Hoeckers (1995: 168) Vermutung, noch immer unterrepräsentiert. In der Europäischen Union liegt der Frauenanteil in den nationalen Parlamenten und Regierungen im Gesamtdurchschnitt bei einem knappen Viertel, im Europäischen Parlament bei einem knappen Drittel, in der Europäischen Kommission bei einem Drittel. Die Schwankungsbreite innerhalb der EU-Staaten ist allerdings außerordentlich beträchtlich: Zwischen 60% in Finnland und 0% in Rumänien schwanken die nationalen Regierungsbeteiligungen von Frauen (ec.europa.eu 03.09.2007). Nicht sicher nachgewiesen ist die Hypothese, dass zwischen der Bedeutung, dem „Ansehen“ bzw. der Entscheidungsmacht eines Gremiums und seinem Frauenanteil eine direkte Relation besteht: je unbedeutender ein Gremium, desto höher der potenzielle Frauenanteil. Der vergleichsweise hohe Anteil von Ministerinnen im bundesdeutschen Kabinett ist deshalb nur mit
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einer Binnendifferenzierung zwischen den bedeutenden und unbedeutenden Ressorts zu erklären. Vergleicht man/frau diese insgesamt eher ernüchternden Daten allerdings mit einem Kontrastbild, dann werden die politischen Erfolge von Frauenbewegung und Gleichstellungspolitik hierzulande mittelbar offensichtlich: Es existieren noch immer Staaten, in denen Frauen nicht wählen dürfen. Auch die Kanzlerinschaft Angela Merkels darf letztlich der Frauenbewegung als Erfolg langjähriger Anstrengungen zugerechnet werden; nachhaltige Veränderungen der politischen Kultur sind zu erwarten.
Aktuelle Forschungsfragen und demokratiepolitische Zukunftsvisionen Die Fragen, die sich angesichts der Erkenntnisse der feministischen Partizipationsforschung stellen, sind ebenso naheliegend wie die politischen Projekte, die sich für Frauenbewegung und Gleichstellungspolitik daraus weiterhin ergeben. Die wichtigste Forschungs- und politische Frage lautet seit ca. anderhalb Jahrzehnten: Welche nationalstaatliche Demokratieform ist am ehesten geeignet, die Beteiligungschancen von Frauen zu stärken? Und welche „gemischten Formen“, um eine klassische politiktheoretische Überlegung aufzugreifen, sollten genauer untersucht und intensiver politisiert werden, um die Teilhabechancen nachhaltig zu verbessern? Wie kann die politische Kultur eines Landes hin auf mehr Egalität verändert werden? Einige Anhaltspunkte für weitere Arbeiten existieren bereits. So lässt sich begründet vermuten, dass die Integration direktdemokratischer Verfahren in ein repräsentativ-demokratisches Institutionensystem zu einem größeren politischen Engagement von Frauen führen wird. Der Einbau von verhandlungsdemokratischen Strukturen müsste dagegen sehr sorgfältig betrachtet werden: Hier gibt es sowohl Indizien für verbesserte Teilhabechancen (im unkonventionellen, zivilgesellschaftlichen Bereich, Stichwort Governance) als auch Hinweise auf eine massive Chancenverschlechterung (bei exekutiv berufenen Runden im konventionellen Bereich, Stichwort Korporatismus). Sicher wiederum kann vor dem Hintergrund der bekannten Daten prognostiziert werden, dass verbindliche Quoten in allen Parteien die parlamentarische Teilhabe von Frauen bereits kurzfristig deutlich stärken würden. Dass die repräsentative Demokratie in ihrer jetzigen Gestalt die Chancen für Frauen auf lange Sicht begrenzt, ist leider die einzig gewisse Erkenntnis. So offen viele feministische Fragen zur politischen Verfasstheit demokratischer Nationalstaaten auch noch sein mögen, die wirklichen Herausforderungen für die Forschung liegen heute woanders. Die Globalisierung von Politik, Ökonomie und Kultur hat seit den 1990er Jahren des vergangenen Jahrhunderts bis heute völlig unbeantwortete Fragen aufgeworfen und stellt DemokratietheorikerInnen vor vollkommen neue, komplexe Aufgaben. Über fünf Jahrhunderte hat die politische Theorie der Neuzeit die gesellschaftliche Organisation von Gemeinwesen fast ausschließlich im verfassten Rahmen des Nationalstaats gedacht. Visionen und Phantasien über eine Transnationalisierung demokratischer Politik bzw. über demokratische Regelungen zwischen Nationalstaaten existierten bis zum Fall der Berliner Mauer allenfalls in Rudimenten. Wie sich moderne Nationalstaaten im Weltmaßstab untereinander friedlich, zueinander gerecht und miteinander demokratisch verhalten können, wie sie ihre Souveränität in transnationalen Verfahren einschränken sollten, um gemeinsam politisch handeln zu können, wie die politischen Ebenen „über“ den nationalstaatlichen Entscheidungswegen demokratisch zu gestalten wären, sind kontrovers diskutierte und noch lange nicht beantwortete Fragen. Die Visionen des main stream schwanken zwischen groß angelegten Modellen einer föderalen Weltrepublik (vgl. z.B. Höffe 1999) und einer eher bescheidenen Beschränkung auf die Demokratisierung der Europäischen Union (vgl. z.B. Habermas 1998).
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Für die Frauen- und Geschlechterforschung stellt die theoretische Herausforderung einer „NeuErfindung“ der Demokratie ein besonders schwieriges Problem dar, ist doch die selbstverständliche Befassung mit Demokratietheorie, -forschung und -politik ein noch junger Zweig feministischer Arbeit. Während sich Frauenforschung und -politik den Demokratie-Begriff erst kürzlich mühsam angeeignet haben und noch intensiv mit der nationalstaatlichen Demokratisierung der Demokratie beschäftigt sind, stellen sich die akuten Herausforderungen schon längst auf erweitertem Terrain. Zu denjenigen, die sich um überzeugende feministische Antworten auf die global(isiert)en Herausforderungen bemühen, gehören Seyla Benhahib, Martha C. Nussbaum und Iris Marion Young. Benhabib (2000) fragt nach den Möglichkeiten demokratischer Gleichheit in kultureller Vielfalt und will die Chancen aller Gruppen, am zivilgesellschaftlichen Diskurs teilzuhaben, stark sehen. Nussbaum (1999) konzipiert ein Ideal globaler Gerechtigkeit als interkulturell gültiges Bild vom „guten menschlichen Leben“. Young (1998) schlägt einen demokratischen Föderalismus vor, der auf globaler Ebene durch verbindliche Verständigung über Frieden, Umwelt, Handel, Kapital, Kommunikation, Menschenrechte, StaatsbürgerInnenschaft und Migration funktioniert. Die vorliegenden Theorieansätze bewegen sich vor allem auf der politisch-normativen, noch kaum auf der institutionellen, verfahrenspolitischen Ebene. Feministische Theoretikerinnen beschäftigt vorrangig die Frage, welche Werte in einer unfriedlichen, ungerechten, undemokratischen Welt dringend zur Geltung gebracht werden müssen, um Ressourcen, Lebenschancen und Entscheidungsmöglichkeiten gleich zu verteilen und sie nicht so vielen BürgerInnen, vor allem im Süden und Osten der Welt, herrschaftlich vorzuenthalten. Da dies bis heute noch nicht einmal auf der lokalen und nationalen Ebene annähernd erreicht werden konnte, ist vollkommen ungeklärt, wie Demokratie und Gerechtigkeit im globalen Maßstab realisiert werden können. Abgesehen vom umstrittenen Konzept „Global Governance“ fehlen angemessene Visionen für realisierbare Verteilungs- und Entscheidungsverfahren. Die Demokratisierung nationalstaatlicher Demokratien steht noch aus, die Demokratisierung der global(isiert)en Welt hat noch gar nicht begonnen. Auf dem Terrain von Demokratietheorie und Demokratiepolitik gibt es mehr offene Fragen als sichere Antworten; die engagierte Beteiligung an den einschlägigen politiktheoretischen Diskussionen und transnationalen Bewegungen ist für Feministinnen heute deshalb eine große und zugleich spannende Herausforderung. Sie können ihre historischen und akuten politischen Erfahrungen mit basisdemokratischen Modellen, institutionenkritischen Verfahren und der notwendigen Balance von Gleichheitsforderungen im Angesicht sozialer Differenzen in die neu zu (er)findenden Theorien und Praxen einbringen. Die Demokratie bleibt für Frauenbewegung und -forschung damit auch weiterhin ein theoretisch und praktisch umkämpftes Terrain. Verweise: Globalisierung Gleichstellungspolitiken Krieg und Frieden Nation, Kultur und Gender Wohlfahrtsstaat
Literatur Benhabib, Seyla 2000: Kulturelle Vielfalt und demokratische Gleichheit. Politische Partizipation im Zeitalter der Globalisierung. Frankfurt/M.: Fischer, 2. Aufl. Habermas, Jürgen 1998: Die postnationale Konstellation. Politische Essays. Frankfurt/M.: Suhrkamp Hoecker, Beate 1987: Frauen in der Politik. Eine soziologische Studie. Opladen: Leske + Budrich Hoecker, Beate 1995: Politische Partizipation von Frauen. Kontinuität und Wandel des Geschlechterverhältnisses in der Politik. Ein einführendes Studienbuch. Opladen: Leske + Budrich Hoecker, Beate 1998a: Zwischen Macht und Ohnmacht: Politische Partizipation von Frauen in Deutschland. In: Hoecker, Beate (Hrsg.): Handbuch Politische Partizipation von Frauen in Europa. Opladen: Leske + Budrich, S. 65-90 Hoecker, Beate 1998b: Politische Partizipation und Repräsentation von Frauen im europäischen Vergleich. In: Hoecker, Beate (Hrsg.): Handbuch Politische Partizipation von Frauen in Europa. Opladen: Leske + Budrich, S. 379-398
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Hoecker, Beate 2000: Geschlechterdemokratie im europäischen Vergleich. Die Konzepte der Europäischen Union zur Förderung der politischen Beteiligung von Frauen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft B 31-32/2000, S. 30-38 Hoecker, Beate (Hrsg.) 2006: Politische Partizipation zwischen Konvention und Protest. Eine studienorientierte Einführung. Opladen/Farmington Hills: Barbara Budrich Publishers Höffe, Otfried 1999: Demokratie im Zeitalter der Globalisierung. München: Beck Holland-Cunz, Barbara 1998: Feministische Demokratietheorie. Thesen zu einem Projekt. Opladen: Leske + Budrich Holland-Cunz, Barbara/Uta Ruppert 2000 (Hrsg.): Frauenpolitische Chancen globaler Politik. Verhandlungserfahrungen im internationalen Kontext. Opladen: Leske + Budrich Kreisky, Eva 1992: Der Staat als Männerbund. Der Versuch einer feministischen Staatssicht. In: Biester, Elke/ Brigitte Geißel/Sabine Lang/Birgit Sauer/Petra Schäfter/Brigitte Young (Hrsg.): Staat aus feministischer Sicht. Berlin: (Freie Universität), S. 53-62 Meyer, Birgit 1992a: Die „unpolitische Frau“. Politische Partizipation von Frauen oder: Haben Frauen ein anderes Verständnis von Politik? In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft B 25-26/1992, S. 3-13 Meyer, Birgit 1992b: Über das schwierige aber notwendige Verhältnis von Feminismus und Demokratie. In: Biester, Elke/Brigitte Geißel/Sabine Lang/Birgit Sauer/Petra Schäfter/Brigitte Young (Hrsg.): Staat aus feministischer Sicht. Berlin: (Freie Universität), S. 63-74 Nussbaum, Martha C. 1999: Gerechtigkeit oder Das gute Leben. Hrsg. von Herlinde Pauer-Studer. Frankfurt/M.: Suhrkamp Neumann, Franz 1995: Staat. In: Drechsler, Hanno/Wolfgang Hilligen/Franz Neumann (Hrsg.): Gesellschaft und Staat. Lexikon der Politik. München: Vahlen, 9. neubearb. u. erw. Aufl., S. 779-781 Pateman, Carole 1974: Participation and Democratic Theory. London, New York: Cambridge University Press, 4. Aufl. Pateman, Carole 1988: The Sexual Contract. Cambridge UK: Polity Phillips, Anne 1991: Engendering Democracy. Cambridge UK: Polity Phillips, Anne 1995: The Politics of Presence. Oxford: Clarendon Rosenberger, Sieglinde K./Birgit Sauer (Hrsg.) 2004: Politikwissenschaft und Geschlecht. Konzepte – Verknüpfungen – Perspektiven. Wien: Facultas Sauer, Birgit 2001a: Die Asche des Souveräns. Staat und Demokratie in der Geschlechterdebatte. Frankfurt/M., New York: Campus Sauer, Birgit 2001b: Das „bewundernswert Männliche“ des Staates. Überlegungen zum Geschlechterverhältnis in der Politik. In: femina politica, Heft 2/2001, S. 50-62 Schultze, Rainer-Olaf o.J.: Staat. In: Nohlen, Dieter/Rainer-Olaf Schultze/Suzanne S. Schüttemeyer (Hrsg.): Lexikon der Politik. Band 7. Politische Begriffe. Frankfurt/M.: Büchergilde Gutenberg (Lizenzausgabe; München: Beck 1998), S. 606-608 Seemann, Birgit 1996: Feministische Staatstheorie. Der Staat in der deutschen Frauen- und Patriarchatsforschung. Opladen: Leske + Budrich Seemann, Birgit 1998: „Feminism has no theory of the state“? Perspektiven feministisch-politikwissenschaftlicher Staatsforschung in der BRD. In: femina politica, Heft 1/1998, S. 15-25 Schmidt, Manfred G. 1995: Wörterbuch zur Politik. Stuttgart: Kröner Schöler-Macher, Bärbel 1994: Die Fremdheit der Politik. Erfahrungen von Frauen in Parlamenten und Parteien. Weinheim: Deutscher Studien Verlag Young, Iris Marion 1990: Justice and the Politics of Difference. Princeton: University Press Young, Iris Marion 1993: Das politische Gemeinwesen und die Gruppendifferenz. Eine Kritik am Ideal des universalen Staatsbürgerstatus. In: Nagl-Docekal, Herta/Herline Pauer-Studer (Hrsg.): Jenseits der Geschlechtermoral. Beiträge zur feministischen Ethik. Frankfurt/M.: Fischer, S. 267-304 Young, Iris Marion 1998: Selbstbestimmung und globale Demokratie. Zur Kritik des liberalen Nationalismus. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft 3/1998, S. 431-457
Gesine Fuchs
Politik: Verfasste politische Partizipation von Frauen
Zum Begriff der Partizipation Beteiligung an politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen liegt im Kern demokratischer Legitimität: ohne Partizipation keine Demokratie. Die im Weltmaßstab marginale, im europäischen Raum mittelmäßige Beteiligung und Einflussnahme von Frauen an politischen Prozessen stellt daher ein zentrales Problem für die Theorie und Praxis der Demokratie dar. Was gilt als politische Partizipation? „Partizipation in der Politik bedeutet alle Handlungen, die Bürger einzeln oder in Gruppen freiwillig mit dem Ziel unternehmen, Entscheidungen auf den verschiedenen Ebenen des politischen Systems (Gemeinde, Land, Bund, evtl. supranationale Einheiten) zu beeinflussen und/oder diese selbst zu treffen.“ (Kaase 1994: 442)
Diese Begriffsbestimmung ist eine Erweiterung des klassischen, ausschließlich auf Institutionen gerichteten Partizipationsverständnisses, denn mit dem Aufkommen neuer politischer Protestbewegungen seit den 1960er Jahren war die Forschung gefordert, diese als neue Formen politischer Beteiligung zu untersuchen. Der Partizipationsbegriff umfasst konventionelle bzw. verfasste Formen (wie Wahlbeteiligung und Mitarbeit in einer Partei), unkonventionelle bzw. unverfasste Formen (wie Bürgerinitiativen und Demonstrationen) und schließlich häufig als illegale geltende Protestformen (wie Besetzungen und wilde Streiks) (vgl. Hoecker 1995: 18). Sowohl Wissenschaft als auch Bevölkerung sehen die konventionellen und unkonventionellen Partizipationsformen zunehmend als parallele und sich gegenseitig ergänzende Aktivitäten an (vgl. Bertelsmann-Stiftung 2004: 14).
Partizipationsforschung unter Geschlechteraspekten Auf der Ebene staatlicher Institutionen wirken formelle und informelle Ausschlussmechanismen von politischer Macht, wie Muster der Elitenrekrutierung oder Bevorzugung männlicher Lebensentwürfe. Viele herkömmliche Verfahren, Parteistrukturen und männerbündische Entscheidungswege marginalisieren und diskriminieren Frauen in der Politik. Im Bereich der politischen Kultur sind es die Definitionen dessen, was als politisch oder unpolitisch gilt. Durch die Trennung zwischen privat und öffentlich können Männer als politisch und Frauen als unpolitisch konstruiert werden. Die Verhältnisse in der Privatsphäre sind Gegenstand politischer Regulierung und von Dominanzverhältnissen, etwa in Form wohlfahrtsstaatlicher Arrangements oder durch geschlechtshierarchische Sozialisation. Die Privatsphäre ist kein rechts- und geschlechtsfreier Raum, und Grundrechte auf körperliche Unversehrtheit, Autonomie und Teilhabe gelten auch hier. Kritische Analysen einschlägiger Partizipationsstudien wiesen in den 1970er Jahren nach, wie Untersuchungen, Themen, Bilder und die Definition dessen, was als politisch anzusehen sei, Frauen als politische Akteurinnen unsichtbar machten und als apolitische Wesen erscheinen ließen (vgl. Bourque/
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Grossholtz 1984; zuerst 1974). Für die Bundesrepublik Deutschland widerlegte Beate Hoecker (1987) mit einer empirischen Studie die weithin unhinterfragt überlieferten Defizithypothesen von weniger interessierten, abkömmlichen und laufbahnorientierten Frauen in der Politik. Weitere grundlegende feministische Kritikpunkte sind bisher nicht in den Mainstream der Partizipationsforschung eingeflossen (vgl. für einen Überblick Sauer 1994, Geißel/Penrose 2003: 2-5). So ist die Partizipationsforschung generell an quantitativen, individualisierenden Umfragen orientiert. Das Item „Politisches Interesse“ misst in solchen Erhebungen in der Regel eine vornehmlich männliche Definition von Politik mit einem Schwergewicht auf institutioneller (Parteien-)Politik. Geschlecht wird dabei als Variable, nicht aber als gesellschaftliche Strukturkategorie angesehen. Das führt dazu, Mängel in der politischen Beteiligung in das Individuum hineinzuverlagern. Das Geschlechtersystem prägt aber Modi und Möglichkeiten politischer Partizipation und stellt unterschiedliche Gelegenheitsstrukturen bereit, die jenseits individueller Merkmale liegen, wie geschlechtsspezifische Arbeitsteilung oder heimliche Lehrpläne. Insbesondere wird kritisiert, dass nur intentionale Handlungen als politisch gelten. Dabei haben Identitätsbildungsprozesse, expressive Handlungsweisen gerade sozialer Bewegungen und gesellschaftliches Engagement, das sich auf die Zivilgesellschaft richtet, bedeutende politische bzw. politisierende Konsequenzen. Ein enger Begriff verschleiert die politische und soziale Partizipation von Frauen, die andere Partizipationsformen als Männer bevorzugen und in sozialen Bewegungen die Chancen des unmittelbaren Einflusses suchen. In der Partizipationsforschung sind drei Aufgaben zu bewältigen, um Fragen des Geschlechterverhältnisses nachhaltig in den Mainstream zu integrieren. Erstens muss der Ausschluss von Frauen aus den gängigen politischen Theorien analysiert werden. Zentral sind hier die ideologische Trennung von öffentlicher und privater Sphäre und deren wechselseitige Beeinflussung als Kernproblem in Bezug auf die Geschlechterverhältnisse. Zweitens sind Untersuchungen notwendig, in denen Frauen als Bürgerinnen und Akteurinnen in der Politik betrachtet werden. Diese Forschungen machen Frauen überhaupt erst sichtbar, was keineswegs obsolet ist. Daraus resultierend ist es schließlich drittens unumgänglich, die Grundannahmen und Analyserahmen politischer Analyse und Partizipationsforschung zu rekonzeptualisieren, um systematische Zusammenhänge zwischen Geschlecht und anderen sozialen Strukturen zu erklären (vgl. Carroll/Zerilli 1993).
Begründungsmuster politischer Partizipation von Frauen Für die gleichberechtigte Partizipation von Frauen und Männern am politischen Entscheidungsprozess lassen sich in Theorie und politischer Praxis verschiedene Begründungsmuster finden – meist tauchen diese Argumente in Mischformen auf: – Gerechtigkeitsargumente weisen darauf hin, dass Demokratie beinhaltet, dass alle Gruppen in einer Gesellschaft das Recht und damit auch die Gelegenheit haben, an relevanten Entscheidungen teilzunehmen. Gleichheit in politischer Partizipation ist ein wichtiges Kriterium für die Bewertung von Demokratien, und die systematische Unterrepräsentierung von bestimmten Gruppen gilt hierbei als Problem (vgl. Philips 1994). – Das Argument der Fraueninteressen beinhaltet, dass Interessen von Frauen in männerdominierten Gremien unterdrückt, verschleiert und marginalisiert würden. Unabhängig davon, ob es „objektive Fraueninteressen“ gibt oder Fraueninteressen sich in einem konkreten Prozess herausbilden, sei die Anwesenheit von Frauen in politischen Gremien eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Voraussetzung für bestimmte Politiken zugunsten von Frauen. – Der Maternalismus-Ansatz zeigt eine historisch gewachsene Differenz-Argumentation, die besonders von Frauenwahlrechtsorganisationen ins Feld geführt wurde. Der Maternalismus wendete den Dualismus und interpretierte weibliche Partizipation positiv als Einbringung weib-
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licher Werte und Sichtweisen, etwa Friedfertigkeit und Fürsorglichkeit. Konservative Politikerinnen bedienen sich heute noch gelegentlich dieser Begründung. Abgewandelt wird manchmal ins Feld geführt, dass sich die Präsenz von Frauen zivilisierend auf politische Gremien auswirke. – Emanzipative Argumente beziehen sich einerseits auf die Überwindung patriarchaler Machtstrukturen, andererseits weisen sie darauf hin, dass eine vermehrte Beteiligung von Frauen die Qualität demokratischer Entscheidungen erhöhe, eine bessere Balance zwischen Partizipation und Repräsentation sowie eine bessere Rückbindung an die „Basis“ herstellen könne.
Das „Magische Dreieck“ zur Erklärung politischer Beteiligung von Frauen Sozioökonomische Strukturen, politische Kultur und Sozialisation sowie Institutionen sind drei miteinander verbundene Bestimmungsfaktoren für politische Beteiligung, die das konkrete Handeln politischer Akteurinnen beeinflussen. Umgekehrt können diese versuchen, Einfluss auf diese Umstände zu nehmen, um ihre Partizipation und Repräsentation zu erhöhen und ihre Ziele durchzusetzen. In diesen Argumenten schwingen Vorstellungen von Interessen und von Repräsentation mit. Ob es weibliche Interessen gibt und wodurch sie bestimmt sind, ist umstritten. Anna Jonasdottir (1988) plädierte für einen dynamischen und inhaltlich offenen Interessenbegriff. Der formale Aspekt betrifft das „inter esse“, das Dabeisein: Alle Menschen und sozialen Gruppen haben ein objektives Interesse daran, an Entscheidungen, die sie betreffen, teilzunehmen. Im Zuge postmoderner Theorien wurde der Begriff objektiver Interessen als essentialistisch verworfen (vgl. z.B. Pringle/Watson 1992). Dennoch bleibt der Interessenbegriff ein wichtiges heuristisches Instrument, um politische Forderungen, Inhalte und Handlungsorientierungen zu erklären. Rechtfertigungsmuster zur politischen Partizipation gehen implizit davon aus, dass sowohl eine deskriptive als auch eine substantielle Repräsentation wichtig sind; es ist wichtig, wer uns repräsentiert, aber es ist ebenso wichtig, dass diese Personen verantwortlich in unserem Interesse handeln (vgl. Überblick zur Repräsentationsforschung bei Hierath 2001).
Sozio-ökonomische Faktoren Seit dem von Verba und Nie in den 1970er Jahren und bis heute gültigen sog. Sozioökonomischen Standardmodell (SES-Modell, vgl. Burns/Schlozman/Verba 2001) besteht zwischen der individuellen Ressourcenausstattung und dem Interesse an Politik sowie tatsächlicher Beteiligung ein Zusammenhang: Je mehr Einkommen, Zeit, Bildung, Selbstvertrauen und Status eine Person hat, desto wahrscheinlicher partizipiert sie. Da Frauen durchschnittlich weniger Bildung haben, weniger erwerbstätig sind und ein geringeres Einkommen haben als Männer, wird so ihre geringere Partizipation erklärt (vgl. Hoecker 1999: 41-71; Bertelsmann-Stiftung 2004). Bettina Westle (2001) untersuchte ausgehend von der feministischen Kritik an der individualisierenden Verengung dieses Modells mit repräsentativen deutschen Umfragedaten (ALLBUS 1998) einige kontroverse Aspekte genauer. Sie stellte fest, dass deklariertes politisches Interesse positiv mit allen politischen Beteiligungsformen korrelierte (Westle 2001: 149f.). Soziodemografische Variablen wie Bildungsstand, Schichtzugehörigkeit, Zivilstand und Erwerbstätigkeit hatten positiven Einfluss auf politisches Interesse und subjektive politische Kompetenz. Bei gleichem soziodemografischem Hintergrund müssten die Partizipationsunterschiede zwischen Frauen und Männern verschwinden. Tatsächlich jedoch bleiben sie bestehen, sie bilden einen „unerklärten Rest“ und zeigen die Grenzen dieser Erklärungsfaktoren auf.
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Politische Kultur und Sozialisation Die politische Kultur eines Landes stellt einen zentralen Einflussfaktor auf die politische Partizipation von Frauen dar. Sie umfasst die Gesamtheit aller politisch relevanten Meinungen, Einstellungen und Werte der Mitglieder einer Nation, die im Rahmen des politischen Sozialisationsprozesses geprägt und übermittelt werden. Gesellschaftliche Orientierungen gegenüber der politischen Rolle von Frauen sowie die damit verbundenen Einstellungen zur weiblichen politischen Partizipation sind darin eingebettet. Zur politischen Kultur gehören auch die vorherrschenden Frauen- und Männerbilder in der Politik (vgl. z.B. Weber/Esch/Schaeffer-Hegel 1998). Der Zusammenhang zwischen dem Frauenanteil in der Politik und den in einem Land vorherrschenden Geschlechterrollen sowie Wertvorstellungen kann als weitgehend bestätigt gelten. So zeigen skandinavische Länder mit egalitärer politischer Kultur auch egalitäre Frauen- und Männerbilder und hohe Frauenanteile in den Parlamenten und Regierungen. In konservativen Ländern hingegen mit hierarchischer politischer Kultur, hoher Bedeutung der emanzipationsfeindlichen katholischen Kirche und relativ niedriger Frauenerwerbstätigkeit bleiben die Frauenanteile in der Politik eher gering (vgl. Morgan/Wilcox 1992, Hoecker 1995: 182-188). Aussagekräftiger Indikator im internationalen Vergleich ist überdies die Einführung des Frauenwahlrechts; je früher Frauen wählen konnten, desto wahrscheinlicher ist ein hoher Frauenanteil in den Parlamenten (vgl. Inglehart/Norris 2003). Bei Frauen und Männern sind unterschiedliche Politikschwerpunkte zu beobachten. Die Zuordnung zu Politikfeldern erfolgt in einer Wechselwirkung aus individuellen Interessen, externen Erwartungen und stereotypen Zuschreibungen. Problematisch ist dabei, dass „weiblichen“ Politikbereichen wie Soziales und Bildung häufig ein niedriger Status verliehen wird, der sich nicht mit der tatsächlichen Bedeutung des Feldes deckt. Diese Zuschreibungen sind national allerdings sehr verschieden (vgl. Hoecker/Fuchs 2004). Zum Erfahrungsschatz von Parteipolitikerinnen gehören nach wie vor offene und versteckte Diskriminierung, Beleidigung und ihr Ausschluss aus männerbündischen Strukturen in der Politik, d.h. durch Seilschaften, informelle Netze und Beziehungen von Führung und Gefolgschaft (vgl. Kreisky 1995). Die Frage nach einem anderen, weiblichen Politikverständnis ist in der deutschsprachigen Forschung in den 1990er Jahren vielfach bearbeitet worden. Birgit Meyer (1992: 9f.) erstellte dazu eine „kontrastive Arbeitsdefinition“, etwa egalitäre versus hierarchische Orientierung, ein kommunikatives statt strategisches Machtverständnis oder Kompetenz- statt Karriereorientierung. Qualitative Studien fanden zwar einzelne Belege dafür (vgl. Rebenstorf 1990, Sauer 1994: 112-117), insgesamt waren diese Untersuchungen aber eher hypothesengenerierend als thesenbestätigend (vgl. Geißel/Penrose 2003: 6). Last but not least ist die Rolle der Medien für die politische Sozialisation und Kultur zentral. Bisher haben die Medien eher traditionale und marginale Bilder von Frauen allgemein und von Politikerinnen im Besonderen gezeichnet und dabei die Wirklichkeit weniger gespiegelt als mitkonstruiert (vgl. Klaus 2002, Holtz-Bacha 2003). Insbesondere wird über Politikerinnen seltener berichtet und sie werden seltener als Expertinnen eingeladen und zitiert – und zwar noch seltener, als es ihrem Anteil am politischen Personal entspricht. Neuere Studien haben immerhin festgestellt, dass sich die stereotype Darstellung von Politikerinnen, z.B. die Fixierung auf ihr Äußeres, zumindest abgeschwächt hat und das Privatleben nicht mehr häufiger im Fokus steht als bei Politikern (vgl. Pfannes 2004, Hardmeier/Klöti 2004, vgl. auch die Beiträge in femina politica 2/2006).
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Institutionelle Faktoren Schließlich spielen institutionelle Faktoren eine wichtige Rolle für weibliche Partizipation. Dies betrifft das Parteiensystem und dabei insbesondere die politischen Rekrutierungs- und Laufbahnmuster, das Wahlsystem und das System der Interessenvermittlung. Wie zahlreiche Studien inzwischen belegen, begünstigen Verhältniswahlsysteme die Kandidaturen und Wahlchancen von Frauen, während Mehrheitswahlsysteme diese eher erschweren. Der Grund dafür wird allgemein in der starken Personenorientierung beim Mehrheitswahlrecht gesehen. Im Unterschied zur Listenwahl muss sich die Wählerschaft bei der Mehrheitswahl für einen Kandidaten bzw. eine Kandidatin im Wahlkreis direkt entscheiden. Nach wie vor bestehen aber Zweifel an der politischen Kompetenz von Frauen. Auch der harte innerparteiliche Konkurrenzkampf um sichere Wahlkreise mindert die Chancen von Frauen, überhaupt aufgestellt zu werden. Ohne politischen Willen ist auch ein Verhältniswahlsystem kein Garant für eine hohe Präsenz von Frauen im Parlament. Zwar bieten Verhältniswahlsysteme den Vorzug einer Quotierung der Parteilisten zugunsten von Frauen, allerdings müssen diese Quoten einen relevanten Anteil fixieren, verbindlich sein und sich zudem explizit auf die aussichtsreichen Listenplätze beziehen (vgl. dazu McKay 2004, allgemein Rule 1994, Norris 2000). Ein genuin osteuropäisches Beispiel für das Einwirken zivilgesellschaftlicher Aktivitäten auf Parlamente sind die sog. „Frauenwahlkoalitionen“, die etwa seit 2000 entstanden sind, so in Polen, Rumänien, der Slowakei, Slowenien, Litauen und Estland, und zuerst in Kroatien erprobt wurden. Sie rufen zur Nomination und zur Wahl von Frauen unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit auf. Sie fordern von Parteien eine klare Frauenmobilisierung und Quotenregelung. Sie lancieren Wahlgesetzänderungen, die z.B. vom französischen Parité-Gesetz inspiriert sind. Sie schulen (angehende) Politikerinnen, betreiben politische Willensbildung und Öffentlichkeitsarbeit, etwa mit Veranstaltungen, Medienarbeit und „Wahlprüfsteinen“ für die Kandidierenden. Der relative Misserfolg des französischen Paritätsgesetzes (vgl. Freedman 2004), das für die Wahllisten aller Parteien gilt, zeigt allerdings die begrenzte Möglichkeit, auf gesetzlichem Weg eine patriarchale politische Kultur und weiterhin ungünstige institutionelle Bedingungen des Wahl- und Parteiensystems auszuhebeln. Wechselwirkungen zwischen Gleichstellungspolitik und weiblicher politischer Partizipation können aber sehr stark sein, gerade wenn sie mit dem Prozess der Europäisierung assoziiert werden. Linke und grüne Parteien betreiben, eher als konservative Parteien, eine aktive Frauenförderpolitik. Quotenregelungen in linken Parteien haben eine Sogwirkung auch auf das mittlere und rechte Parteienspektrum gehabt. In Deutschland begann der Aufwärtstrend für weibliche Abgeordnete 1983, als die Grünen als erste Partei eine Quotenregelung einführten und sich in 20 Jahren der Frauenanteil im Bundestag verdreifachte (vgl. Brzinski 2003, McKay 2004). Insgesamt sind Mehrparteiensysteme mit pluralistischen Karrierekanälen und Parteien mit einem transparenten, lokal verankerten Rekrutierungsverfahren besser für eine gute Frauenrepräsentation geeignet (vgl. Norris 1993). Volatile Parteiensysteme, wie sie gerade für Transformationsgesellschaften kennzeichnend sind, oder Parteien als lockere Föderationen bzw. „Wahlvereine“ sind hingegen Hürden für bessere Frauenpartizipation. Klientelistische Strukturen in traditionalistischen Ländern können Frauen aus einflussreichen Oberschichtfamilien den Weg auch in höchste Staatsämter ebnen – aber eben nur ihnen. Beispiele sind Tansu Çiller in der Türkei oder Benazir Bhutto in Pakistan. In Westeuropa gründeten sich seit den 1970er Jahren, meist auf regionaler Ebene, feministische Frauenlisten oder -parteien. In der Bundesrepublik Deutschland hatten sie vorübergehend Mandatserfolge und machten „Fraueninteressen“ zum Thema politischer Auseinandersetzung. Diese Gruppierungen gingen später häufig in linken Parteien oder Bündnissen auf. In Island war die Frauenpartei über längere Zeit hinweg erfolgreich (vgl. Jaquette 1998: 62). Auch in einigen osteuropäischen Staaten haben sich Frauenparteien gegründet. Das betrifft vor allem Nachfolge-
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staaten der Sowjetunion; „Frauen Russlands“ war wohl die bekannteste und erfolgreichste Partei mit einer traditionellen, nicht-feministischen Programmatik. Strukturelle Faktoren wie ein präsidentielles System und ein personalisiertes Wahlsystem haben begünstigt, dass Frauen den Einflusskanal einer eigenen Partei zu etablieren suchten (vgl. Ishiyama 2003). Vorläufig lässt sich zusammenfassen, dass Frausein bzw. Fraueninteressen für eine Partei kein ausreichendes politisches Programm darstellen. Je eher Parteien sich für Frauen öffnen und je eher sie Möglichkeiten für ein parteipolitisches Engagement bieten, desto weniger notwendig scheint eine Frauenpartei zu sein.
Resümee und Ausblick Die Inklusion von Frauen in politische Entscheidungsprozesse ist in den letzten Jahrzehnten vorangekommen. Dies ist die Voraussetzung, dass Interessen von Frauen, so unterschiedlich sie im Einzelnen sein mögen, bei politischen Entscheidungen berücksichtigt werden. Es ist das Verdienst der sozialen Bewegungen, darunter auch der Frauenbewegung, dass sich unkonventionelle Partizipationsformen stark verbreitet haben und vielen Gruppen als zusätzlicher Partizipationskanal dienen. Insgesamt kann aber von einer ausgewogenen Beteiligung und Repräsentation der Geschlechter nicht die Rede sein. Die Gründe dafür liegen auf allen Seiten des „Magischen Dreiecks“, also bei den sozioökonomischen, institutionellen und politisch-kulturellen Faktoren. Diese beeinflussen sich gegenseitig und wirken je nach Land und Kontext auch in einem spezifischen Mix (vgl. Hoecker 1998, Hoecker/Fuchs 2004, Gelb/Palley 2008). Maßnahmen, Ansätze und Verfahren zur Erhöhung des Frauenanteils in der Politik können und müssen darum an allen Seiten ansetzen. In der Partizipationsforschung bleiben noch Lücken, von denen hier nur drei genannt seien: Erstens sind die Zusammenhänge von Gleichstellungspolitik und politischer Beteiligung, auch auf EU-Ebene, noch systematischer zu untersuchen, und es ist zu fragen, unter welchen Umständen sich auch in neuen Formen der Governance Handlungsmöglichkeiten öffnen – oder aber schließen (vgl. für die EU: Fuhrmann 2005). Zweitens sind die Zusammenhänge und Verknüpfungen zwischen verschiedenen Formen der weiblichen Partizipation in Parteien und Parlamenten und denen in Organisationen und Bewegungen kaum untersucht – etwa bezogen auf die politische Sozialisation und die politische Tätigkeit einzelner Personen, aber auch auf programmatische Diffusionen und thematische Koalitionen. Drittens ist erst in Ansätzen erforscht, wann, wo und unter welchen Bedingungen weibliche Abgeordnete ihre Erfahrungen als Frauen zum Ausgangspunkt machen, für (Gruppen von) Frauen zu handeln (vgl. Studlar/McAllister 2002: 235-238, Childs 2006: 9-11). Verweise: Demokratiekritik Frauenbewegungen Gleichstellungspolitiken Transformation Wohlfahrtsstaat
Literatur Bertelsmann-Stiftung 2004: Politische Partizipation in Deutschland. Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung Bourque, Susan/Jean Grossholtz 1984: Politics as Unnatural Practice: Political Science Looks at Female Participation. In: Silanen, Jean/Michelle Stanworth (Hrsg.): Women and the Public Sphere. A Critique of Sociology and Politics. London: Hutchingson, S. 103-121 Brzinski, Joanne Bay 2003: Women’s Representation in Germany: A Comparison of East and West. In: Matland, Richard E./Kathleen A. Montgomery (Hrsg.): Women’s Access to Political Power in Postcommunist Europe. Oxford: Oxford University Press, S. 63-80
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Burns, Nancy/Kay Lehman Schlozman/Sidney Verba 2001: The Private Roots of Public Action: Gender, Equality, and Political Participation. Cambridge: Harvard University Press Carroll, Susan J./Linda M.G. Zerilli 1993: Feminist Challenges to Political Science. In: Political Science: The State of the Discipline II. Washington: The American Political Science Association, S. 55-76 Childs, Sarah 2006: The Complicated Relationship between Sex, Gender and the Substantive Representation of Women. In: European Journal of Women’s Studies 13, No. 1, S. 7-21 Femina Politica 2006: Geschlecht in der politischen Kommunikation, Heft 2 Freedman, Jane 2004: Increasing Women’s Political Representation: The Limits of Constitutional Reform. In: West European Politics 27, No. 1, S. 104-123 Fuchs, Gesine/Beate Hoecker 2004: Ohne Frauen nur eine halbe Demokratie. Politische Partizipation von Frauen in den osteuropäischen Beitrittsstaaten vor den Europawahlen. Eurokolleg Nr. 49. Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung Fuhrmann, Nora 2005: Geschlechterpolitik im Prozess der europäischen Integration. Wiesbaden: VS Verlag Geißel, Brigitte/Virginia Penrose 2003: Dynamiken der politischen Partizipation und Partizipationsforschung. Politische Partizipation von Frauen und Männern. Berlin. Verfügbar unter www.fu-berlin.de/ gpo/index.htm am 25. Oktober 2004 Gelb, Joyce/Marian Lief Palley (Hrsg.) 2008: Women and Politics around the world, Santa Barbara: ABC-Clio Hardmeier, Sibylle/Anita Klöti 2004: Doing Gender in der Wahlkampfkommunikation? Eine Analyse zur Herstellung und Darstellung von Geschlecht im Rahmen der Presseberichterstattung zu den eidgenössischen Wahlen 2003. In: F - Frauenfragen No. 2, S. 11-22 Hierath, Bettina 2001: Repräsentation und Gleichheit. Neue Aspekte in der politikwissenschaftlichen Repräsentationsforschung. Opladen: Leske + Budrich Hoecker, Beate 1987: Frauen in der Politik. Eine soziologische Studie. Opladen: Leske + Budrich Hoecker, Beate 1995: Politische Partizipation von Frauen. Ein einführendes Studienbuch. Opladen: Leske + Budrich Hoecker, Beate (Hrsg.) 1998: Handbuch Politische Partizipation von Frauen in Europa. Opladen: Leske + Budrich Hoecker, Beate 1999: Lern- und Arbeitsbuch Frauen, Männer und die Politik. Bonn: Dietz Hoecker, Beate/Gesine Fuchs (Hrsg.) 2004: Handbuch Politische Partizipation von Frauen in Europa. Band II: Die Beitrittsstaaten. Wiesbaden: VS Verlag Holtz-Bacha, Christina 2003: Die Darstellung von Politikerinnen in den Medien. In: F - Frauenfragen No. 1, S. 47-49 Inglehart, Ronald/Pippa Norris 2003: The True Clash of Civilizations. In: Foreign Policy No. March-April, S. 67-74 Ishiyama, John T. 2003: Women’s Parties in Post-Communist Politics. In: East European Politics and Societies 17, No. 2, S. 266-304 Jaquette, Jane S. 1998: Frauen an der Macht. Vom Alibi zur kritischen Masse. In: Blätter für deutsche und internationale Politik No. 1, S. 57-65 Jonasdottir, Anna G. 1988: On the Concept of Interest, Women’s Interests, and the Limitations of Interest Theory. In: Jones, Kathleen B./Anna G. Jonasdottir (Hrsg.): The Political Interests of Gender. London: Sage, S. 33-65 Kaase, Max 1994: Partizipation. In: Holtmann, Everhard (Hrsg.): Politik-Lexikon, München: Oldenbourg, S. 442-445 Klaus, Elisabeth 2002: Perspektiven und Ergebnisse der Geschlechterforschung in der Medien- und Kommunikationswissenschaft. In: Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis 25. Jg., No. 61, S. 11-31 Kreisky, Eva 1995: Der Stoff, aus dem die Staaten sind. Zur männerbündischen Fundierung politischer Ordnung. In: Becker-Schmidt, Regina/Gudrun-Axeli Knapp (Hrsg.): Geschlechterverhältnisse als Gegenstand der Sozialwissenschaften. Frankfurt/M., New York: Campus, S. 85-114 McKay, Joanna 2004: Women in German Politics: Still Jobs for the Boys? In: German Politics 13, No. 1, S. 56-80 Meyer, Birgit 1992: Die „unpolitische“ Frau – Politische Partizipation von Frauen oder: Haben Frauen ein anderes Verständnis von Politik? In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 25-26, S. 3-16 Morgan, April/Clyde Wilcox 1992: Anti-Feminism in Western Europe, 1975-1987. In: West European Politics 15, No. 4, S. 151-169 Norris, Pippa 1993: Comparing Legislative Recruitment. In: Norris, Pippa/Joni Lovenduski (Hrsg.): Gender and Party Politics. London; New Delhi: Thousand Oaks; Sage, S. 309-330 [Deutsche Übersetzung:
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Recht: Normen zwischen Zwang, Konstruktion und Ermöglichung – Gender-Studien zum Recht
Wenn die Geschlechterforschung danach fragt, was genau „Männer“ und „Frauen“ in welchen Kontexten sind und sein dürfen, wie sich Männlichkeit und Weiblichkeit jeweils definieren, wer diese Definitionsmacht mit welchen Folgen ausübt und wie sich Gender-Konstellationen in Raum und Zeit verändern, kommt dem Recht eine besondere Rolle zu. Recht ist zunächst ein Machtfaktor und ein Herrschaftsinstrument. Allein dies ist für die Geschlechterforschung, die nie nur nach Unterschieden, sondern immer auch nach Hierarchien – und damit eben nach Macht und Herrschaft – fragt, ein wichtiger Aspekt. Recht besteht zudem unmittelbar aus Normen und ist folglich ein Feld, in dem einerseits sichtbar werden kann, wie sehr Gender nicht gegeben ist, sondern konstruiert wird, und in dem sich andererseits zeigt, welche normative Wirkung bestimmte Vorstellungen von dem, was Gender sein soll, auf allgemeine Geltung beanspruchende Normen haben. So stellen sich also immer zwei Leitfragen: Inwieweit wird das Recht selbst vom Geschlecht normiert? Und inwieweit normiert Recht das, was wir als „Geschlecht“ begreifen? Dazu kommt die produktive Komponente, die dem Recht als Gestaltungsmittel innewohnt. Dann lautet die Leitfrage: Inwieweit kann Recht dazu beitragen, Geschlechterverhältnisse als Hierarchien aufzubrechen? Juristische Geschlechterforschung fragt dies immer kritisch und konstruierend zugleich. Im Kern geht es um das Recht, also um geltende Regeln und deren heute kaum mehr ausdrücklichen, unmittelbaren, sondern heute meist heimlichen, mittelbaren Bezug auf Geschlecht. Insofern ist juristische Geschlechterforschung Rechtskritik. Gleichzeitig geht es auch um Rechtsgestaltung, denn Rechtskritik ist immer an der Interpretation von Recht, also an der Schaffung neuer Normen beteiligt. Anders verhält sich dies nur, wenn feministische Rechtskritik darauf hinausläuft, Recht als Steuerungsmittel grundsätzlich abzulehnen. Das ist sehr umstritten und wird auch nur für bestimmte Bereiche wie den des Meinungskampfes vertreten (vgl. Butler 1997 und dazu Baer 1998, Benhabib 1999 und dazu Baer 2001). Juristische Geschlechterforschung, oder Geschlechterstudien zum Recht, sind damit vielfältig, kritisch und gestaltend zugleich. Der vorliegende Beitrag skizziert, anhand welcher Fragen sich die also auch politisch brisante Auseinandersetzung um Geschlecht und Recht historisch entwickelt hat, welche Rolle die Erkenntnisse insbesondere der jüngeren Geschlechterforschung für das Recht und Geschlechterstudien zum Recht spielen und welche Anwendungsfelder einer feministischen Rechtskritik und Rechtsgestaltung heute besonders wichtig zu sein scheinen (vgl. Rudolf 2006, Foljanty 2006, Koreubner/Mager 2004, Holzleithner 2002, ProFri 2001, Kreuzer 2001, Aichhorn 1997, Rust 1997, Floßmann 1997, Maihofer 1995, Mac Kinnon 1993, 2008).
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Rechtskämpfe Gender-Fragen an das Recht stellen sich weltweit schon lange insbesondere in der Rechtspolitik und in der Rechtsanwendung durch Privatpersonen, durch Verwaltungen und durch Gerichte (vgl. Gerhard 1997, Jaeger 1998), zunehmend aber auch – und dann theoretisch grundlegender – in der Rechtstheorie und -philosophie (vgl. u.a. Sommer 1998, Nagl-Docekal/Pauer-Studer 1996). Die feministische Kritik richtet sich zunächst auf Recht als einem Instrument des Zwanges, wie beispielsweise im Fall des Verbots der Abtreibung (vgl. Oberlies 1997). Kritik richtet sich aber auch auf Recht als Instrument der Konstruktion historisch einseitig bestimmter Geschlechterrollen, wie beispielsweise im Fall patriarchalen Familienrechts (vgl. Berghahn 1998, Schiek 1994), des Ehegattensplittings im Steuerrecht (vgl. Vollmer 1998) oder geschlechtsstereotyper Arbeitsschutzregelungen (vgl. Schiek 1992) oder bestimmter Annahmen im internationalen Recht (vgl. Riegerich u.a. 2007, Rudolf 2006). Rechtskritik aus der Geschlechterperspektive ist also nichts Neues. Schon während der Französischen Revolution 1789 formulierte Olympe de Gouges einen Grundrechtskatalog für Menschen und Frauen, um den dominant rezipierten Rechtskatalog des Menschen und Bürgers zu ergänzen (vgl. Gerhard u.a. 1990). Desgleichen forderten US-Amerikanerinnen damals in der Erklärung von Seneca Falls Freiheit und Gleichheit für Frauen, konnten aber die Verfassungsentwicklung in Nordamerika kaum beeinflussen, wo bis heute ein ausdrückliches Grundrecht gegen geschlechtsbezogene Diskriminierung fehlt. In Deutschland protestierten Frauen vor 1900 vehement gegen das schon damals rückschrittliche Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) (vgl. Berneike 1995, Limbach 1990, 2003; Gerhard 1990), dessen diskriminierendes Familienrecht allerdings in der Bundesrepublik bis in die 1970er Jahre Bestand hatte, und in der Weimarer Zeit formulierten die Vertreterinnen insbesondere der „radikalen“ „ersten Frauenbewegung“ Rechtsforderungen auf Zugang von Frauen zu Bildung, bürgerlichen und auch juristischen (djb 1989) Berufen und grundlegend zu Verfahren demokratischer Willensbildung, also zu Wahlen. Diese Forderungen sind auch sukzessive erfüllt worden. Frauen protestierten aber auch damals schon gegen die Diskriminierung von Prostituierten, deren Rechtsstellung zwar in den letzten Jahren gesetzlich verbessert wurde, doch hat sich die rassistische Praxis der „Sexarbeit“ kaum verändert. Einige Rechtsforderungen der Frauenbewegungen waren später auch Protest gegen nationalsozialistische Politik, die u.a. mit Mutterideologie und gesetzlichen Berufsverboten ein spezifisches Geschlechterregime etablierte (vgl. König 1988, Floßmann 1986). Nach 1945 entbrannte dann der Kampf um die Gleichberechtigung im Grundgesetz, der in Deutschland formal gewonnen wurde: Die neue Verfassung, das Grundgesetz (GG), anerkannte formal in Artikel 3 Absatz 2 die Gleichberechtigung von Männern und Frauen. Tatsächlich musste die Gleichberechtigung allerdings in vielen Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht durchgesetzt werden (vgl. u.a. Böttger 1990, Sacksofsky 1996). Auch an dieser Entwicklung zeigt sich exemplarisch, dass Recht auf dem Papier („law on the books“) gerade in Fragen der Geschlechterordnungen kaum je von autorisierten Akteuren in Recht im Leben („law in life“) umgesetzt worden ist. Den ersten Schritten der Gesetzgeber mussten meist nicht nur viele Schritte von Gerichten folgen, um Privatpersonen und Verwaltungen dazu zu bringen, gesetztes Recht wirklich zu befolgen oder durchzusetzen. Das gilt auch für die DDR, wo formal Gleichberechtigung eher anerkannt wurde als in der Bundesrepublik, aber tatsächliche Diskriminierung beispielsweise im Bereich der Erwerbsarbeit anhielt und Rechtsdurchsetzung vor Gerichten nur punktuell und oft nicht unter rechtsstaatlichen Bedingungen möglich war. Vergleichbares zeigt sich heute in der Europäischen Union. Die Gleichstellungsrichtlinien auf der Grundlage des Art. 141 des EG-Vertrages (EGV) stellen zwar Lohn, Freistellungen und soziale Sicherheit seit langem diskriminierungsfrei, doch mussten und müssen zahlreiche Entscheidungen vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) erstritten und politische Kämpfe ausgetragen werden, um die Mitgliedstaaten der EU zu zwingen, Geschlechtergleichheit auch in der sozialen Wirklichkeit wirksam werden zu lassen. Im 21. Jahrhundert ist in der EU die Debatte um allgemeines Gleichbehandlungsrecht – in
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Deutschland das AGG gegen Benachteiligungen „aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität“ – dazu gekommen (vgl. Degener u.a. 2007). Weitere, wie Ute Gerhard sie nennt, „Rechtskämpfe der Frauenbewegung“ bezogen sich in der Bundesrepublik auf das Strafrecht gegen Abtreibungen und den Schutz vor sexueller und häuslicher Gewalt (vgl. Schweikert 2000, Althoff/Kappelt 1995), auf das Sorgerecht für Kinder (vgl. Flügge 1991, Bahr-Jendges 1995), auf das Scheidungsfolgenrecht (vgl. Berghahn 2007), auf Anerkennung und Schutz unverheiratet Zusammenlebender egal welchen Geschlechts, auf das Erwerbsarbeitsrecht insbesondere hinsichtlich des Zugangs zu Berufen, der Löhne und Gehälter (vgl. Feldhoff 1998, Winter 1998) und auch hinsichtlich sexueller Belästigung am Arbeitsplatz (vgl. Baer 1995). Daneben stehen die Versuche, rechtlich abgesichert an Entscheidungen teilhaben zu können, die von der Institutionalisierung von Gleichstellungsbeauftragten über Quotierungsregeln in politischen Parteien bis zu Besetzungsregeln für Gremien reichen (vgl. Sauer 2004, Schüller/Wolff 2001, Eulers 1995). Gerade diese Regeln und Forderungen sind allerdings auch auf erheblichen Widerstand gestoßen. Angemessene Repräsentanz beider Geschlechter im öffentlichen Raum ist daher kaum je erreicht. Die Rechtskämpfe der Frauenbewegungen, denen diese Rechtsentwicklungen zu verdanken sind, waren und sind meist eine Mischung aus Kritik an „patriarchalen“ und „männlichen“ Regeln, Forderung nach „gleichen Rechten“, rechtlicher Anerkennung von – in der Regel nur einer – Differenz und von „Frauenrechten“ (kritisch Baer 2001) und aktiver Gestaltung emanzipatorischen Rechts. Diese Kämpfe sind an einigen Stellen für einige Frauen und manchmal auch für bestimmte Männer erfolgreich gewesen. Doch werden radikale Forderungen in demokratischen Rechtsetzungsprozessen regelmäßig entradikalisiert (vgl. Lucke 1996). Veränderungen gehen oft mit allgemeineren Wandlungsprozessen einher, die insgesamt Verhältnisse nicht zwingend angenehmer, aber manchmal geschlechtergerechter werden lassen. So bewirkt der Umbau des Sozialstaates einen Abbau sozialer Fürsorge, der sich auf unterschiedliche Männer und unterschiedliche Frauen unterschiedlich auswirkt und – angesichts der Bevormundungstendenz der Fürsorge gerade gegenüber Frauen – sehr unterschiedliche Effekte haben kann (vgl. Scheiwe 1993). Rechtsforderungen zur Umgestaltung der Geschlechterverhältnisse bewegen sich immer in dem Dilemma (vgl. Baer 1996), einerseits zu kritisieren und andererseits selbst zu gestalten, also eventuell an einigen Aspekten des Problems und an der Herstellung bestimmter „Differenzen“ als allein oder primär wichtig weiter teilzuhaben. Die Auseinandersetzung mit der Geschlechterforschung zeigt denn auch, wie kompliziert es ist, dem – nach Carol Smart (1989) – „Ruf der Sirene“ Recht zu folgen.
Geschlechterforschung und Recht Der historische Rückblick zeigt u.a., dass sich im Feld Recht und Geschlecht die Maßstäbe für den Erfolg feministischer Forderungen verändern: Ein Rechtskampf kann gewonnen werden, indem – wie im Fall der Prostitution oder der häuslichen Gewalt – ein neues Gesetz erlassen oder – wie im Fall des Frauenarbeitsschutzes – ein altes Gesetz abgeschafft wird. Erfolg kann aber – wie im Fall von Zivilrecht gegen Pornografie – auch bedeuten, dass mit Hilfe einer Rechtsforderung etwas thematisiert werden kann, was vorher tabuisiert wurde. Dann wird daraus kein Gesetz, aber doch eine Debatte, die oft deutlicher positioniert ausfällt als allgemeinere Diskussionen. Zudem lässt sich Erfolg auch inhaltlich verschieden deuten. Ging es der ersten deutschen Frauenbewegung oft um „Sittlichkeit“ und um Frieden, der zweiten westdeutschen Frauenbewegung um „Befreiung“ und um Macht, der bürgerlichen Politik um „Gleichberechtigung“, oder DDR-Frauenbewegten um Gleichheit und Freiheit in eigenen Räumen, geht es heute meist um „Gleichstellung“ und um „Geschlechtergerechtigkeit“. Diese wird zunehmend auch von Männern gefordert und ihre Bedeutung ausdifferenziert und kontextualisiert. Komplexität und neue
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Bündnisse erleichtern keineswegs zwingend die Durchsetzung von Rechtsforderungen. Doch erlauben es die Differenzierungen und Kontextualisierungen, langfristig nicht den Fehler zu machen, gegen den sich feministische Rechtskritik selbst richtet: Normen aufzustellen, die wieder andere ausgrenzen, diskriminieren. An dieser Stelle zeigt sich der Zusammenhang zwischen Recht, Rechtskämpfen und der Entwicklung der Frauen- und Geschlechterforschung. GenderStudien zum Recht knüpfen an wesentliche Erkenntnisse an, von denen drei hier genannt seien: die Bedeutung von „Gender“ jenseits der Essentialisierung, die Fokussierung von Hierarchien und die Auseinandersetzung mit Gender im Kontext ähnlich strukturierter Differenzen.
„Gender“ und Recht: Abschied vom männlichen Normalfall und Ermöglichung von Vielfalt Zunächst steht die Auseinandersetzung mit „Gender“ im Mittelpunkt. Die Frauen- und Geschlechterforschung hat sich international mit der Bezugnahme auf „Gender“ darauf verständigt, Geschlechterverhältnisse nicht auf die angeblichen Tatsachen eines „Sex“, also eines scheinbar fixen biologischen Geschlechts zu reduzieren, sondern Geschlecht als soziokulturell konstruierte und auch das Biologische erfassende Praxis zu verstehen. „Gender“ bezeichnet damit die Mischung aus Zwang und Zuschreibung, Erfahrung und Handeln, also aus Identität und Identifizierung, aus Präsenz und Repräsentation, die das ausmacht, was wir als Mann oder Frau, als männlich oder weiblich erkennen. Für das Recht folgt daraus, dass Gender auf unterschiedlichen Ebenen wirksam wird. Recht kann Menschen zwingen, bestimmte Geschlechterrollen einzunehmen. Im Alltag geschieht das, wenn beispielsweise Räume nur Männern oder nur Frauen eröffnet werden – das reicht von Toiletten über Eliteeinheiten der Streitkräfte bis zu Haftanstalten. Es geschieht auch und weit häufiger, wenn ganze Rechtsgebiete implizit an einem Normalfall orientiert sind, der sich als typisch männlicher oder auch als typisch weißer, auf ein Mittelschichtseinkommen oder ein bestimmtes Alter festgelegter Fall entpuppt; das zeigt sich im Arbeitsrecht mit dem normalen Vollzeitarbeitnehmer, im Sozialversicherungsrecht mit dem lebenslang Erwerbstätigen oder im Strafrecht mit den rationalen, physisch handlungsfähigen Tätern und Opfern. In diesen Fällen wirkt Recht nur mittelbar zwingend und konstruiert nicht zuletzt Geschlechterrollen als Normalität. Daneben besteht der Zusammenhang zwischen Recht und Gender auch, wenn Recht nicht negativ zwingend oder einseitig konstruierend wirkt, sondern positiv ermöglicht, selbstbestimmt Identität zu gestalten. Das gilt insbesondere für die jüngste Generation des Gleichstellungsrechts, wenn es versucht, Diskriminierung zu verhindern, aber Lebensentscheidungen nicht vorzugeben. So verpflichtet Gleichstellungsrecht heute zur Förderung von Angehörigen des unterrepräsentierten Geschlechts, erzwingt Einzelfallgerechtigkeit und verbietet die Orientierung an Geschlechterstereotypen, indem es z.B. für unzulässig erklärt wird, „typisch allein verdienende“ Familienväter per se zu bevorzugen. Desgleichen normiert jüngeres Recht gegen Gewalt, dass Opfer geschlechtsbezogener Gewalt selbst bestimmen können, wie Schutz gestaltet sein muss und welche Folgen eine Gewalttat haben soll. So kombiniert das Gewaltschutzgesetz gegen häusliche Gewalt strafrechtliche Reaktionen mit zivilrechtlichen Möglichkeiten der Abwehr von Misshandlungen und des Ersatzes erlittener Schäden.
Geschlechterhierarchie und Recht: Abschied von besseren Normen und Schutz vor Diskriminierung „Gender“ bedeutet also nicht nur soziales Geschlecht. Die Frauen- und Geschlechterforschung hat „Gender“ vielmehr auch als kritischen Begriff bestimmt, der Geschlechterverhältnisse benennt, die nicht durch einen Unterschied, sondern als hierarchische Struktur geprägt sind. Genau
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genommen geht es der Gender-Forschung um geschlechtsbezogene Inklusion und Exklusion (vgl. Baer 2001), um Asymmetrien, die an hegemoniale Vorstellungen vom Geschlecht Nachteile knüpfen, um geschlechtsspezifische soziale Ungleichheiten, um Gewaltverhältnisse, juristisch gesprochen: um Diskriminierung. Die Konzepte, die in dieser Forschung zum Geschlecht entwickelt worden sind, zielen also darauf ab, Hierarchien zu benennen, um sie verändern zu können. Das bedeutet nicht, neue Normalitäten zu erzwingen. Vielmehr steht Recht vor der Aufgabe, Vielfalt zu ermöglichen. Recht ist ein zentrales und das demokratisch legitimierte Zwangsmittel, um Hierarchien abzubauen. Der Ruf nach rechtlicher Gleichheit war auch historisch immer ein Ruf danach, Privilegierungen zu beenden. Daher ist das Recht auf Gleichheit auch das zentrale Recht gegen geschlechtsbezogene Diskriminierung. Diese verhindert Recht aber nur, wenn es zwingende Vorgaben zu Männlichkeit und Weiblichkeit vermeidet und stattdessen Spielräume schafft. Recht muss also dem „feministischen Dilemma“ entkommen, zwar festzuschreiben, aber damit nicht das Problem fortzuschreiben. Wie funktioniert das? Recht kann beispielsweise auf Prostitution oder auf Pornografie mit Strafe und dem Urteil der Unsittlichkeit reagieren. Das war in Deutschland lange und ist in vielen anderen Staaten weiterhin der Fall. Daraufhin haben manche – auch gleichstellungspolitisch Engagierte – gefordert, Prostitution und Pornografie zu entkriminalisieren und als Beruf bzw. als Teil der Handlungs- oder Meinungsfreiheit anzuerkennen. Eine solche Rechtslage verschleiert jedoch tendenziell die Zwangs- und Gewaltverhältnisse, die den größten Teil der „Sexarbeit“ ausmachen, ähnlich wie ein sakrosanktes Eherecht verschleiern kann, wie häufig Gewalt Teil häuslicher Realität ist. Wenn Recht also nicht implizit weiter problematisch konstruieren will und wenn Recht Diskriminierungen beenden soll, bedarf es alternativer Normen. In Deutschland ist mit dem Prostitutionsgesetz, aber auch dem Straf- und Zivilrecht versucht worden, selbstbestimmtes Handeln zu entkriminalisieren und doch vor Gewalt und Ausbeutung zu schützen. Pornografie ist demgegenüber noch nicht differenziert genug geregelt. Insgesamt trägt jedoch die Gender-Forschung als kritische Forschung dazu bei, Recht genauer analysieren und implizit erneut diskriminierende Folgen auch emanzipatorischer Rechtsforderungen verhindern zu können.
Gender im Kontext: Sexualität, Rasse, Körper Die Bedeutung der Gender-Forschung für das Recht wird auch in einem weiteren Themenfeld deutlich. Kritische und zwingend auch selbstkritische Analysen können hier verhindern, dass Probleme nur verschoben, aber nicht gelöst werden. Das zeigt sich am Beispiel des nur scheinbar gleichen Rechts, wenn tatsächlich Ungleichheiten intakt bleiben oder neue Ungleichheiten geschaffen werden. So muss angemessenes Recht gegen Diskriminierung Geschlecht im Kontext weiterer Kategorisierungen wie „Rasse“, Sexualität und Lebensformen, Befähigung und Behinderung oder soziale Lage wahrnehmen. In Gesellschaften wie der Bundesrepublik, die sich historisch als „Volk“ und oft noch heute weithin als homogene Gesellschaft begreift, werden Geschlechterverhältnisse leicht als Relationen zwischen Frauen und Männern gesehen, ohne Unterschiede zwischen Frauen und zwischen Männern ausreichend anzuerkennen. In der Geschlechterforschung weisen Arbeiten zur Kontingenz des Modells der Zweigeschlechtlichkeit, die Lesbenforschung und die „QueerTheorien“ ebenso wie die Rassismusforschung und postkoloniale Theorien sowie die kritischen Arbeiten zum Umgang mit Behinderung darauf hin, dass die Auseinandersetzung mit „dem Geschlecht“ oder gar „den Männern“ und „den Frauen“ keinesfalls ausreicht, um Diskriminierung zu verhindern. Vielmehr steht Geschlecht zunächst in engem Zusammenhang mit Sexualität, insofern Geschlechterrollen weithin sexuell bestimmt sind, und Heterosexualität als Muster (oder als „Matrix“) unserer sozialen Ordnung zu Grunde liegt. Im Recht verdeutlichen letzteres die Normen des Familien- und Erbrechts ebenso wie z.B. das Steuerrecht, während die Sexualisierung der Geschlechter zu Stereotypen führt, die tatsächlich auch Rechtsanwendung prägen.
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Des Weiteren steht Geschlecht in engem Zusammenhang mit Fragen des Körpers und dem, was diesbezüglich als „normal“, auch als schön, attraktiv, „richtig“ männlich bzw. weiblich gesetzt wird. Im Umgang von Recht mit Behinderung – zwischen Ausgrenzung und Ausblendung – finden sich dafür Beispiele. In engem Zusammenhang damit stehen die Verknüpfungen zwischen Geschlecht und „Rasse“, also den Vorstellungen von der Verbindung zwischen Eigenschaften und Hautfarbe, Körperbau oder Herkunft. Hier gilt die genetische Frage als zentral, inwieweit Abstammung Verhalten und Fähigkeiten eines Menschen prägt. Sie wird auch immer wieder im Hinblick auf eine eben genetische Geschlechterdifferenz gestellt. Die Parallele ist daher offenkundig: Soweit Menschen genetisch auf bestimmte Eigenschaften als geschlechtlichen oder als rassischen Eigenschaften festgelegt sind, soweit stellen sich nicht mehr Fragen nach „Gender“ oder „Ethnie“, sondern es zeigen sich „Sex“ und „Rasse“. Daher liegt hier auch eine der großen Herausforderungen an die Geschlechterstudien nicht nur zum Recht: Wenn Menschen nämlich „natürlich“ verschieden sind, muss dann das Recht nicht diese Verschiedenheit abbilden? Wenn Männer und Frauen dagegen konstruiert und vielfältig sind, muss Recht diese Vielfalt ermöglichen.
Anwendungsbereiche der Gender-Studien zum Recht Geschlechterstudien zum Recht zeigen, dass Normen zwischen Zwang, Konstruktion und Ermöglichung angesiedelt sind. Diese Erkenntnis ist nun nicht nur theoretischer Natur. Da Recht eine per se umsetzungsträchtige Materie ist, der Zwangsgewalt innewohnt, da die Durchsetzung von Recht erzwungen werden kann, sind auch Geschlechterstudien zum Recht immer anwendungsorientiert. So zeigt sich bei den eingangs skizzierten Rechtskämpfen und auch den unterschiedlichen Vorstellungen von ihrem Erfolg, dass Diskussionen um Recht und der Streit um die Interpretation von Regeln Recht bereits verändern können. Sehr oft haben auch in Deutschland, das sich eigentlich als kontinentaleuropäische und damit eher legislativ handelnde Rechtskultur versteht, Gerichte und damit Interpretationen bestehenden Rechts Wirklichkeit verändert. Die Anwendungsbereiche treffen sich weitgehend mit den Arbeitsfeldern der Frauen- und Geschlechterforschung. Deren Erkenntnisse sollen unter der Prämisse des (nicht unumstrittenen) „Gender Mainstreaming“ (vgl. www.genderkompetenz.info, Baer/Hildebrandt 2007, Bothfeld u.a. 2002), also im Rahmen der Integration von Geschlechterfragen in alle Handlungsfelder und Sachgebiete, und auch in alle juristischen Felder Eingang finden. Das gilt für die soziale Sicherung – von der Sozialhilfe bis zur Pflege – und für Fragen der Migration – vom Asyl bis zur kulturellen Identität. Es gilt für die Erwerbsarbeit und deren Organisationsformen ebenso wie für den Bereich Körper und Gesundheit – vom Krankenversicherungsrecht bis bin zu Vorschriften über den Schulsport. Abschließend sei auf zwei Bereiche hingewiesen, denen übergreifende Bedeutung zukommt und in denen juristische Geschlechterfragen zwar gestellt werden, aber noch nicht beantwortet sind. Ein strukturell wichtiger Bereich, in dem sich Gender-Studien zum Recht niederschlagen und auswirken müssen, ist der Bereich der Gestaltung von Entscheidungsprozessen, des politischen öffentlichen Raumes und auch der sonstigen Verfahren, einschließlich derjenigen vor Gericht. Auf dieses Feld bezieht sich die Forderung nach „Geschlechterdemokratie“. Die feministische Forschung zur Ideologie der Trennung zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre, zwischen Politik und Ehrenamt, oder zwischen Erwerbsarbeit und Hausarbeit inspiriert zwar schon lange dazu, diese Trennungen zu hinterfragen. Wichtig bleibt es dennoch, in (weit verstandenen) öffentlichen Räumen Entscheidungsprozesse geschlechtergerecht zu gestalten. Das versuchen Regeln zur Präsenz unterschiedlicher Menschen in Gremien und Institutionen – vom Betriebsrat bis zu Parlamenten – ebenso wie Überlegungen zur Gestaltung von Wahlen und Abstimmungen oder auch Regeln zum Diskriminierungsverbot im Vertragsrecht (vgl. Emmenegger 1999). Darauf zielen auch Regeln zur Institutionalisierung von Gleichstellungsbeauftragten oder zur Ein-
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richtung von Stellen gegen Diskriminierung ebenso wie Verfahrensrecht für die Justiz, für Schiedsstellen oder zur Mediation (vgl. Pfarr/Kocher 1998). Ein weiterer Bereich, in dem Geschlechtergerechtigkeit auch juristische Bedeutung hat und der übergreifend wirkt, ist der Bereich der Kultur und Bildung. Hier geht es um die Prägung unserer Wahrnehmung und der Gestaltung unseres Wissens. Deshalb wird in der Geschlechterforschung über einseitige Curricula, über diskriminierende Lehrmaterialien oder über geschlechtsspezifische Formen des Lernens diskutiert. Teilweise finden diese Debatten auch Eingang in das Schul- und Hochschulrecht, das sich den Herausforderungen von Diskriminierung und Differenzen immer wieder stellen muss. Nur ein Beispiel dafür ist der Fall der Lehrerinnen, die im Unterricht ein Kopftuch tragen wollen, ein anderes das christliche Kreuz an der Wand eines Klassenzimmers oder Gerichtssaales, ein weiteres der geschlechtssegregierte Sportunterricht, schließlich aber auch das Thema der Gleichstellung in der Wissenschaft. Erst am Anfang stehen dagegen die Geschlechterfragen im – ohnehin bislang marginalisierten – Kulturrecht, also beispielsweise Regeln zur Kunst an Bauwerken, zu Anschaffungen in öffentlichen Sammlungen oder zur Kulturförderung.
Gerechte Steuerung Geschlechterforschung hat heute unterschiedlichste Arbeitsfelder und auch Wissenschaften erreicht. Sie befasst sich mit grundsätzlichen Fragen aus der Philosophie, Theologie, Naturwissenschaftsforschung und Erkenntnistheorie ebenso wie – unmittelbarer anwendungsbezogen – mit den zentralen Steuerungsformen unserer Gesellschaften. Zu den Steuerungsformen gehört neben Geld, also dem Gegenstand der Wirtschaftswissenschaften, auch die Technik, also der Gegenstand der Technikund Medienwissenschaften, die Zeit, der Raum, und – nicht zuletzt – das Recht. Geld, Technik, Zeit, Raum und Recht stehen nicht separiert nebeneinander, sondern beeinflussen sich auch wechselseitig: Recht konstruiert Zeit, Raum prägt Ökonomien, Geld steuert Medien usw. Allen Medien wohnt insofern auch eine normative Kraft inne: Unsere Umgebung bestimmt mit, was wir wie wahrnehmen und tun, und wir bestimmen mit, wie unsere Umgebung wahrgenommen wird und aussieht. Recht ist allerdings per se und gezielt Normung, während Räume, Medien oder Zeit meist mittelbar und faktisch, normierend wirken. Daher ist der unmittelbar normierende Zugriff des Rechts auf gesellschaftliche Verhältnisse besonders wirkmächtig. Geschlechterstudien zum Recht befähigen nun dazu und fordern ein, Normen kritisch zu reflektieren, sich der Mitverantwortung durch Interpretation bewusst zu sein, und gerechter zu gestalten. Juristische Geschlechterstudien weisen heute über eine Debatte über Gleichheit und Differenz weit hinaus, denn es geht zentral um Gleichstellung angesichts von Differenzen. Juristische Herausforderungen zeigen sich dann im Sozial- und Arbeitsrecht und im Familien- und Erbrecht, im Umweltrecht ebenso wie im Recht des Verbraucherschutzes oder der Gesundheit. In allen Bereichen geht es darum, Geschlecht nicht zu fixieren, also Normen nicht als Zwang und Konstruktion zu nutzen, sondern mit Hilfe des Rechts selbstbestimmte Vielfalt zu ermöglichen. Verweise: Geschlechterstereotype Gender Mainstreaming Gleichstellungspolitiken
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Sigrid Metz-Göckel
Eliten: Zur Konstruktion von Macht, Leistungen und Exzellenz
Eliten sind Repräsentationen sozialer Ungleichheit und ein gesellschaftliches Faktum, als solches höchst umstritten und daher auf zwei Ebenen ein Problem: als personaler Ausdruck einer sozialen Ungleichheit, die eine politische Stellungnahme erzwingt und als wissenschaftlicher Diskurs mit strittigen Positionen, in den ebenfalls Standpunkte eingehen. In den soziologischen und politikwissenschaftlichen Diskursen steht das Elitethema für ein Interesse an Formen sozialer Ungleichheit, worin die Geschlechterungleichheit unterschiedlich eingeschlossen ist. Mit Fragen, wie sich Eliten in Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft bilden, wie sie Einfluss auf wirtschaftliche, wissenschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen nehmen und ob sie mit demokratischen Vorstellungen vereinbar sein könnten, ist ein weiter Bogen gespannt (vgl. Krais 2001, Hartmann/Kopp 2001, Hartmann 2002, 2007; Zimmermann 2002). Mit dem Elitebegriff verbindet sich in der deutschen Geschichte eine unheilvolle Privilegierung und Selbstüberheblichkeit, die während der nationalsozialistischen Herrschaftsperiode zur Staatsideologie wurde. Der Begriff wurde missbraucht und war lange Zeit tabuisiert, da mit ihm eine Abwertung aller verbunden wurde, die nicht zur Elite gehören. Die zentrale Frage ist daher, ob Eliten mit einer Demokratie und dem Anspruch auf Chancengleichheit, um die es der Frauenund Geschlechterforschung geht, überhaupt vereinbar sind, und wenn ja unter welchen Bedingungen. Je nach fachwissenschaftlicher und politischer Perspektive werden Eliten als herrschende Minderheit, herrschende Klasse oder als ein Positionsnetz definiert, das über soziale Kooptationsprozesse hergestellt wird (vgl. Röhrich 1991). Die politologische Eliteforschung geht von einem Elitepluralismus aus und unterscheidet zwischen Positions- und Funktionseliten. Zu den Funktionseliten demokratischer Gesellschaften zählen politische, wirtschaftliche und kulturelle Eliten (vgl. Dahrendorf 1965, Hoffmann-Lange 1992, Bürklin/Rebenstorf 1997, Hartmann 2002). Aus der Perspektive der Geschichtswissenschaft sind Eliten „strategisch postierte, repräsentative Minderheiten mit speziellen Kenntnissen und Fähigkeiten zur Wahrnehmung wichtiger Funktionen in der Gesellschaft“ (Wehler 1987: 137). Entscheidende Merkmale sind die Minderheitensituation, besondere Qualifikationen und wichtige gesellschaftliche Funktionen. Gegenstand der Eliteforschung sind auch Homogenität und interne Strukturen sowie „die Rivalität zwischen Eliten und den Fraktionen der Eliten“ (Boudon/Bourricaud 1984: 124). Dahrendorf (1965) beschreibt den sozialhistorischen Wandel der Eliten im Nachkriegsdeutschland und eine zentrale Machtelite, geht aber relativierend gleichwohl von einem Elitenpluralismus aus, der auf unterschiedlichen Faktoren und Rekrutierungsweisen beruhen kann. Hartmann (2007) konzentriert sich auf Machteliten, die sich durch folgende Kriterien auszeichnen: Einflussnahme auf das Leben von vielen anderen; Machtkontinuität qua Position, unabhängig von den einzelnen Personen und Unabhängigkeit von der aktiven Unterstützung durch die Bevölkerung. Diese machtzentrierte Analyse betont vor allem die Entscheidungsmacht und ‚Unkontrolliertheit‘ von Eliten und verbindet mit ihnen ein Verhältnis von Einflussnahme und Einflusslosigkeit. In diesen Eliten sind Frauen extrem selten als genuine Mitglieder präsent, in der
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Regel aber als Gattinnen, die individuell von der Position ihres Ehemannes profitieren (vgl. König 2007). Etwas anders sieht es mit den Leistungseliten aus, da ihren Mitgliedern individuell eine besondere Leistungsfähigkeit zugeschrieben wird, die ihre herausgehobene gesellschaftliche Position und Privilegierung auf Zeit personengebunden legitimiert. Diese individuelle Zurechnung nimmt vor allem die Bildungselite und besonders die wissenschaftliche Elite für sich in Anspruch.
Wissenschaftliche Exzellenz und Elite Die aktuelle hochschulpolitische Auseinandersetzung um Bestenauslese, Spitzenförderung, wissenschaftliche Eliten und Eliteuniversitäten signalisiert einen politischen Stimmungswandel, zumal diese „Exzellenzinitiative“ in ein weltweites Konkurrenzverhältnis eingebunden ist, in dem Exzellenz von den Spitzen der Wissenschaftsorganisationen neu definiert wird (vgl. Koreuber 2008, Schacherl u.a. 2007). Gleichsam als Augenzeuge dieses sozialen Experiments im deutschen Wissenschaftssystem rekonstruiert Münch (2007) auf der Basis von Daten, eingeführten Kriterien und Indexbildungen, wie in dem relativ homogenen deutschen Hochschulsystem gegenwärtig Elitepositionierungen von Institutionen und Gruppen herausgebildet werden. Das Feld-Kapital-Habitus-Konzept von Bourdieu rezipierend, dem eine machttheoretische Vorstellung zugrunde liegt, deckt Münch immanente, tiefer liegende Konzentrationsprozesse auf, die der offiziellen „Exzellenz“-Rhetorik widersprechen, nämlich die Transformation des meritokratischen wissenschaftlichen Selbstverständnisses zur bloßen Ideologie. Die Prämierung von Exzellenz mit Geld leite geradezu Gegenläufiges in die Wege, nämlich eine Homogenisierung und Standardisierung der wissenschaftlichen Erkenntnisprozesse, die der offiziellen Zielsetzung einer Förderung von wissenschaftlicher Exzellenz und Kreativität widersprechen. Exzellenz(-kriterien) wie auch herausragende individuelle Leistungen kommen, so das kritische Verständnis der Soziologie, das auch die Frauen- und Geschlechterforschung für sich in Anspruch nimmt, nicht herrschaftsfrei zustande, da nicht alle gleichermaßen die Chance haben, sie zu erfüllen. Angesichts der ungleichen institutionellen Startbedingungen von Hochschulen und ihren Mitgliedern, lässt sich in diesem Prozess beobachten, wie Eliten unter dem Vorwand von Exzellenz und Leistung ‚konstruiert werden‘. Dies begründet die Skepsis, ob die institutionelle und individuelle Ebene der Exzellenz- und Elitekonstruktionen überhaupt voneinander getrennt werden können, mehr aber noch die Einsicht, dass individuelle Leistungsfähigkeit und Exzellenz von weiteren institutionellen Gegebenheiten abhängen. Die Elitepolitik zur Exzellenz und Bestenauslese produziert somit ihren eigenen Widerpart. Zumindest auf der Diskursebene ist der wissenschaftlichen Elite ihre Legitimation entzogen, wenn die Exzellenz als ‚Selbstdefinition‘ entlarvt wird. Der Prozess, der dieser neuen Elite- und Exzellenzkonstruktion zugrunde liegt, ist somit einer der sich selbst verstärkenden Konzentration, ein Prozess, den Merton (1985) als Matthäus-Effekt beschrieben hat und der die bereits Privilegierten weiter privilegiert und die Ungleichheit der Chancen von Individuen verstärkt, die nicht dazugehören. In einer demokratischen Gesellschaft sind Eliten legitimationsbedürftig und ihre Mitglieder müssen sich entsprechend ausweisen, im Wesentlichen über herausragende Begabungen und besondere Leistungen. Ein Ausschluss qua Geschlecht ist öffentlich nicht mehr legitimierbar. Dies gilt vor allem für Mitglieder von Bildungseliten, denen Spitzenleistungen attestiert werden. Mit diesen Zurechnungen sind allerdings Unwägbarkeiten bei der Umsetzung von ‚Potenz in Performanz‘ verbunden. Hier kommen neben den Faktoren der schulischen und familiären Umwelt auch Persönlichkeitsmerkmale wie Ausdauer, Gewissenhaftigkeit, Interesse, Ehrgeiz, Selbstkonzept und Leistungsmotivation in Spiel (Freund-Braier 2001: 53ff.). Während sich für Bildungs-
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eliten eine soziale Öffnung für Mitglieder weiterer Sozialschichten eingestellt hat, trifft dies für den Zugang zur Wirtschaftselite überhaupt nicht zu. Angehörige des gehobenen und des Großbürgertums haben eine 50 bis 200 Prozent größere Chance, eine Führungsposition in der Wirtschaft zu erreichen, als Angehörige der unteren Schichten (vgl. Hartmann/Kopp 2001, Hartmann 2002). Die Rekrutierung ist somit nicht nur an Leistung, sondern primär und zusätzlich an eine privilegierte soziale Herkunft und einen Nimbus gebunden, bzw. an eine soziale Selektion nach Elitenmilieus und Persönlichkeitsmerkmalen in Übereinstimmung mit den Entscheidern. Dies könnte auch für das Wissenschaftssystem zutreffen, das die Auswahl von Personen mit einem bestimmten Habitus präferiert und über Kooptationsnetze sicherstellt.
Eliteforschung aus der Geschlechterperspektive Im feministischen Verständnis war die Befassung mit Elitethemen lange Zeit ausschließlich kritisch auf das gesellschaftliche System gerichtet, das Eliten hervorbringt und privilegiert. Dieser Zusammenhang von Elite und Privilegierung wird in der internationalen Frauenforschung jedoch nicht als zwingend gesehen. Dies deuten Begriffsbildungen wie „Internationale NGO-FrauenElite“, „egalitäre Differenz“ (Kröhnert-Othman/Klingebiel 2000) oder feministische Elite an (vgl. Kahlert 1999). So ist darauf zu verweisen, dass Bewertungen exzellenter Leistungen zwar den Anspruch auf Geschlechtsneutralität erheben, diese Unabhängigkeit vom Geschlecht aber spätestens zu dem Zeitpunkt problematisch wird, seit Frauen in Deutschland qua Geschlecht formal keine Bildungsbenachteiligung mehr erfahren. Geschlechterforscherinnen untersuchen daher Rekrutierungsweisen von Eliten und ihre Ausschlussmechanismen, auch wenn zwischen Frauen- und Eliteforschung eine Spannung besteht, da beide „ideologisch und methodisch zwei verschiedenen Lagern angehören. (...) Gleichwohl gibt es Anzeichen, dass ein Elitebewusstsein im Selbstverständnis und im Handeln von Protagonistinnen der Frauenbewegung vorhanden war“ (Vogel 2000: 40). Dieses zugeschriebene Selbstverständnis kontrastiert mit der Fremddeutung und Akzeptanz feministischer Eliten. Als Gegeneliten oder Provokationseliten schreibt ihnen Roth (1992) eine innovative Funktion zu. Diese Gegeneliten stoßen aber schwerlich in den inneren Zirkel der Macht vor, nicht zuletzt weil auf dem Prüfstand feministischer Kritik „nicht die paritätische Besetzung von Führungspositionen, sondern deren Abschaffung“ steht (Roth 1992: 376). Auch in der Gegenüberstellung von Eliten und Protesteliten werden Eliten weitgehend als Männerherrschaft entlarvt. An den sozialwissenschaftlichen Elitediskussionen beteiligt sich inzwischen auch die Frauen- und Geschlechterforschung (vgl. z.B. Vogel 2000, Kahlert 2000, Krais 2000b, Metz-Göckel 2004, Dackweiler 2007); nach anfänglicher Distanz haben sich inzwischen drei Positionen zur Eliteforschung herauskristallisiert:
Die grundsätzlich kritische Position Die grundsätzlich kritische Perspektive der Eliteforschung konzentriert sich auf die Privilegien und Zirkulation der Eliten im engsten Kreis, die mit Chancengleichheit nicht vereinbar sind (vgl. Andresen 2007). Gerade der Aspekt, dass die individuelle Leistungsfähigkeit weder individuell noch essenziell bestimmbar ist, sondern in einem sozialen Prozess entsteht und zugeschrieben wird und als solche anerkannt werden muss, haben Frauenforscherinnen eindrücklich nachgewiesen, insbesondere, Beaufaÿs (2007, 2008) und Krais (2000a, b). Daher ist die Schlussfolgerung, generell auf den Elitebegriff in der Frauen- und Geschlechterforschung zu verzichten, nahe liegend. In liberalen Gesellschaften sind Eliten jedoch heterogener zusammengesetzt als in anderen Gesellschaftsformationen (vgl. Hartmann 2002). Wie weit die Öffnung für bisher ausgegrenzte
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Gruppen geht, zu denen Angehörige niederer Sozialschichten und Frauen gehören, ist eine empirisch zu beantwortende Frage, widerspricht aber ihrem Charakter als geschlossener Gruppierung. Wie Hartmann/Kopp (2001) nachweisen konnten, hatte die soziale Öffnung des Bildungswesens nicht gleichzeitig einen geöffneten Zugang zu den Machteliten zur Folge, vor allem nicht zur Wirtschaftselite. Im Gegenteil, der Aufstieg in die Eliten hat sich für die jüngere Generation trotz Bildungsexpansion weiter verengt. Für den Wissenschaftsbereich hat dies Münch (2007) aus einer institutionellen Perspektive detailliert ‚geschlechtsneutral‘ aufgezeigt. Aus der Geschlechterperspektive sind diese Eliten so gut wie frauenfrei. Der Zugang erfolgt über einen Kooptationsprozess, bei dem sich persönliches Leistungsvermögen und soziales Kapital verquicken und ‚potenziell unerwünschte Mitglieder‘ ausgefiltert werden.
Die pragmatisch-kritische Position Wie sich Eliten personell zusammensetzen, rekrutieren und intern strukturieren, ist Gegenstand einer geschlechtersensiblen Elitenforschung. Mit der Auseinandersetzung um Führungspositionen, so Kahlert (2000), hat auch in der Frauen- und Geschlechterforschung eine verdeckte Elitedebatte begonnen und der Diskurs zu Frauen und Karriere eine neue Wende genommen (vgl. Müller 1995, Macha u.a. 2000). Frauen- und Geschlechterforscherinnen haben eine kritische Sicht auf Eliten, die soziale Genese von Exzellenz und den sozialen Ausschluss von Frauen formuliert. Nicht zuletzt durch Veröffentlichungen der Europäischen Kommission (2004, 2001) und eine internationale Vergleichsperspektive ergibt sich die Aufforderung, Frauen in die Exzellenzdebatte einzubeziehen. Dass Leistung zugeschrieben und anerkannt werden muss, ist auch so zu verstehen, dass viele an ihrem Zustandekommen beteiligt sind. So konstituiert sich Expertenschaft über Netzwerke, von denen es allein in der Wissenschaftspolitik viele und unterschiedlich relevante gibt. Innenansichten von Frauen aus der symbolischen Machtsphäre wissenschaftlicher Steuerungselite zeigen, dass Elitezugehörigkeit, wenn der Einstieg gelungen ist, die Geschlechtszugehörigkeit offiziell neutralisieren kann, gleichwohl feine Differenzierungen erfunden werden, z.B. die Behauptung einer geringeren Belastbarkeit von Frauen, die an traditionelle Geschlechterstereotypisierungen anschließen und ihre Beteiligung wie ihren Aufstieg begrenzen (vgl. Metz-Göckel 2008). Diese wie auch andere Untersuchungen (vgl. Beaufaÿs 2007, Zimmermann/Metz-Göckel/Huter 2004) zeigen, wie Exzellenz, Leistung und Positionen zugeschrieben werden und inwieweit sich etablierte wissenschaftspolitische Eliten für neue Mitglieder öffnen, aber auch wieder verschließen. Zu den neuen Mitgliedern gehören neben Frauen der Dominanzkultur ebenso (vereinzelte) MigrantInnen und VertreterInnen von Minoritäten. Ihre vereinzelte Zulassung ist präsentabler Beweis für die vorgetäuschte Ernsthaftigkeit demokratieverträglicher Eliteformationen.
Die alternativ-konstruktive Position Was die Vorstellung einer feministischen Elite anziehend macht, ist die Idee einer Elite und Exzellenz, die nicht allein auf Positionsmacht (und Leistung) gründet, sondern auf Gerechtigkeit und Verantwortung für die Gestaltung der Gesellschaft. Macht als Ermöglichung zu begreifen, ist eine Idee, die sich mit Gerechtigkeit und Chancengleichheit verbinden kann, aber nicht muss. Für eine feministische Eliteforschung ist daher von Interesse, wie weit Konzepte demokratischer Eliteherrschaft zur Reproduktion oder Auflösung diskriminierender Geschlechterverhältnisse beitragen. Mit Fragestellungen, warum Frauen (und Männer) in bestimmten Wissensgebieten präsent sind und in anderen nicht, hat sich die Geschlechterforschung in die inhaltlichen Wis-
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sensgebiete hineinbegeben und eine kritische Position gegenüber der etablierten Wissenschaftskultur bezogen (vgl. Krais 2000a, b). Einige Projekte versuchen, im Mitspielen um Elitezugehörigkeit die Regeln zu ändern und Alternativen zu entwerfen. Um ein solches Projekt handelte es sich bei der Internationalen Frauenuniversität ‚Technik und Kultur‘ während der Weltausstellung 2000 in Hannover (vgl. Neusel 2000, 2003; Metz-Göckel 2007). Sie war in der Bundesrepublik das erste Hochschulprojekt von Frauen mit öffentlichem Anspruch, Exzellenz mitzubestimmen. Während Geschlechtsneutralität der Leistungsstandards auf Weltniveau „selbstverständliches“ Grundprinzip wissenschaftlicher Wissensproduktion ist, hat dieses Hochschulexperiment die globale Ausrichtung sowie die Genderperspektive und Genderwissen als neue Exzellenzkriterien hinzugefügt. Beide stellen die Rekrutierung von Mitgliedern der herrschenden Elite aufgrund herausragender persönlicher Leistung gründlich in Frage. Als Reformlabor einer eigenständigen Exzellenzdefinition für die inhaltliche, strukturelle und soziale Modernisierung des Hochschulwesens ging dieses Hochschulexperiment einen Schritt weiter als die bloße Diskussion, die den Missstand sozialer Ungleichheit in der Anerkennung von Leistung und Exzellenz (von Frauen) beklagt.
Befunde empirischer Elite- und Exzellenzforschung aus der Geschlechterperspektive Die sozialwissenschaftliche Eliteforschung denkt die Mitglieder von Eliten weitgehend unabhängig vom Geschlecht, während die feministische Forschung die De-Thematisierung der Geschlechterdimension in der Eliteforschung kritisch analysiert. Aus ihrer Perspektive gibt es allem Anschein nach fast ausschließlich männliche Eliten. Dass sich die Frauen- und Geschlechterforschung an der Elitedebatte beteiligt, lenkt die Aufmerksamkeit aber auch auf die Differenzierung und Hierarchisierung zwischen Frauen und problematisiert ebenso die Annahme, die Zurechnungen zu Eliten würde (ausschließlich) verdientermaßen erfolgen. Angehörige von Eliten haben unweigerlich ein soziales Geschlecht, und die Frage ist, inwiefern dieses eine Rolle spielt. Bereits in den 1920er Jahren des vorigen Jahrhunderts hatte Pareto (1955) die Kontinuität der herrschenden Eliten in ihrer Fähigkeit gesehen, sich durch Selbstergänzung zu erweitern und revolutionären Umwälzungen damit zuvorzukommen. Im Jahrhundert des Feminismus sind die politischen und wissenschaftlichen Eliten nicht mehr völlig frauenfrei. Dank einer Quotierungspolitik sind Frauen vereinzelt bis in politischen Spitzenpositionen (vgl. Hoecker 1998) – hier noch am erfolgreichsten – vorgedrungen und minimal auch in der wissenschaftlichen Elite vertreten. Zur Legitimationsbeschaffung und Klärung anstehender Probleme greift die staatliche Wissenschaftspolitik mehr und mehr auf ein Vordenken durch Expertengremien zurück. Solche Beratungsgremien wurden zur Überbrückung von Interessengegensätzen zwischen Staat und Hochschulen zu einem Zeitpunkt eingesetzt, als weibliche Experten ausreichend vorhanden waren und sich auf frischer Tat verfolgen ließ, wie Expertise in diesem Feld hergestellt und wem sie zugeschrieben wird. Mitglieder dieser Gremien sind einer neuen wissenschaftspolitischen Steuerungselite zuzurechnen. Diese ‚instrumentelle Elitepolitik‘ einer temporären Elitekonstruktion drückt neben einem legitimatorischen Anliegen auch das Verständnis einer Politik aus, die in der Wissensgesellschaft vielerorts generiertes Wissen sinnvoll zusammenzubinden und zu bewerten hat. Die umstrittenen Quotierungsmaßnahmen beruhen auf der legitimen Annahme, das Geschlecht sollte keine Rolle spielen und die Politik auf eine angemessene Repräsentanz von Frauen hinwirken. Diese Vorstellung findet sich in abgewandelter Form auch in den Wissenschaften. Dort sind Frauen als Ressourcenpotenzial programmatisch selbst in den wissenschaftlichen Spitzenpositionen erwünscht (vgl. Baltes 1997, BLK 2002, Europäische Kommission 2001), weshalb eruiert wird, warum es dem deutschen Hochschul- und Wissenschaftssystem so selten ge-
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lingt, Frauen in die Top-Positionen zu befördern (vgl. Allmendinger u.a. 1999, Etzkowitz/Kemelgor 2001). Vier externe Bedingungen für einen ‚Spitzenerfolg‘ haben sich bisher herauskristallisiert: eine rasche Expansion des ganzen Hochschulsystems oder einzelner Forschungszweige; ein Prestigeverlust im Kontext der wirtschaftlichen Entwicklung; ein gesamtgesellschaftlicher Ideologieumschwung; ein Mangel an männlichen Mitgliedern. Damit verlagerte sich der Schwerpunkt weg von den Frauen auf die Umstände, die ihren Elitenzugang begünstigen oder behindern. In ihrer Analyse der Werdegänge von Nobelpreisträgern hat Zuckerman bereits 1990 gezeigt, dass sich diese Spitzenleistungen in einem Akkumulationsprozess von individueller Leistung und Sozialisation in privilegierenden, mit hohem kulturellem Kapital ausgestatteten Familien, Bildungsinstitutionen und Forschungszirkeln entwickeln. In dieser Interdependenz von persönlicher Begabung und anregendem Umfeld vollziehen sich Ausschluss und Integration von Frauen vorwiegend über (informelle) Netzwerke. Denn Leistung zählt nicht per se, sondern muss als solche anerkannt und zugerechnet werden. Dafür haben sich institutionelle Mechanismen wie das Nobelpreiskomitee, Gutachtergremien, Preise und vor allem die Anerkennung durch die scientific community herausgebildet (vgl. Krais 2000). Diese Zuerkennung wissenschaftlicher Spitzenleistung ist an die Beurteilung durch Kollegen gebunden, die unausweichlich auch Konkurrenten sind. Diese Prozesse und konstitutiven Beziehungsnetze fungieren als Filter, und es gibt Anzeichen dafür, dass sie erhöhte Eingangsbarrieren für Frauen (als Newcomer) in der Wissenschaft darstellen (vgl. Vennerås/Wold 1997, 2000). Nicht die Leistung allein, sondern die Durchsetzung ihrer Anerkennung im Rahmen der sozialen Organisationsform Wissenschaft ist eine Voraussetzung für die Beteiligung an wissenschaftlichen Eliten. Eine andere Untersuchung zu Frauen in den „Netzwerken der Eliten“ (Moore/White 2001: 136) fand die Annahme, die massive Untervertretung der Frauen sei in den informellen Mechanismen begründet, so nicht bestätigt. Nach Moore/White gewinnen Männer zwar leichter als Frauen Zugang zu Mentoren und einflussreichen Netzwerken, aber Frauen in herausgehobenen Positionen hätten kaum weniger informelle Kontakte. Wie Frauen selbst über eine Elitezugehörigkeit denken, der sie persönlich zugerechnet werden können, ist wenig bekannt. Eine empirische Studie über die Positionierung von Frauen in wissenschaftspolitischen Steuerungseliten, also mit Erfahrungen in der Gestaltung von Politik und Wissenschaft der Bundesrepublik, ergab eine überraschend zustimmende Selbsteinschätzung. Die Befragten verstanden Elite im Sinne von Einflussnahme und Verantwortung für die gesellschaftliche und wissenschaftliche Entwicklung und thematisierten ihre Macht eher negierend (vgl. MetzGöckel 2008, Zimmermann/Metz-Göckel/Huter 2004). Sie attestierten sich mehr Handlungsmächtigkeit und Autonomie im wissenschaftlichen als im politischen Feld, indem sie sich als Ausnahme oder Quereinsteigerin sahen, womit sie implizit auch ihre legitimatorische Funktion benannten.
Resümee Zum einen ist Elite von einem höchst umstrittenen zu einem affirmativen Begriff geworden, zum anderen zeichnet sich der Exzellenzbegriff als neues Instrument der Selektion ab, potenziell aber auch der Differenzierung. Für Frauen könnte diese neue soziale Differenzierung eine weitere Hürde auf ihrem Weg an die Spitze sein. Die Legitimationsprobleme für Leistungseliten verstärken sich in dem Maße, wie sich ihre Zuordnung über individuelle Leistungen als Schein entpuppt. Die feministische Eliteforschung steckt insofern in einer Elitefalle: Sie kritisiert einerseits die Zugangsbarrieren für Frauen, andererseits will sie die traditionellen Eliten als solche aus den Angeln heben. Sofern Frauen einen Reformbedarf von Institutionen sehen, müssen sie um Zugang zu den Machteliten ringen und auf Differenzierungen dringen. Elite bleibt ein problematischer Begriff. Die empirische Eliteforschung ist daher aus reflektierter soziologischer Sicht von einem politischen Standpunkt kaum zu trennen, da die Forschen-
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den in das Feld, das sie untersuchen, eingebunden sind und sich immer in einem Verhältnis zur Elite sehen und befinden. Das gilt auch für die Frauen- und GeschlechterforscherIinnen. „Dissidente Partizipation“ (Hark 2005) könnte eine mögliche Position sein. Verweise: Demokratiekritik Hochschule und Wissenschaft
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Helma Lutz
Migrations- und Geschlechterforschung: Zur Genese einer komplizierten Beziehung
Geschlecht und Migration: Die Doppelung des Gegenstandsbereichs Das Thema dieses Beitrags bezieht sich auf die Koppelung von zwei wissenschaftlichen Arbeitsbereichen: der Migrations- und Minderheitenforschung und der Frauen- und Geschlechterforschung, die zwar über einen Gegenstandsbereich miteinander verbunden sind, sich jedoch isoliert voneinander etabliert haben. In der englischsprachigen Forschung, aus der wichtige theoretische und empirische Anstöße kommen, hat sich ‚Gender und Migration‘ zu einem eigenständigen Forschungsgebiet entwickelt; jedoch ist die akademische Anerkennung in Deutschland immer noch spärlich, obgleich es mittlerweile eine umfangreiche deutschsprachige Literatur zu dem Thema gibt. So existiert bislang (Stand: Sommer 2008) noch kein universitärer Lehrstuhl mit dieser Widmung; an den Fachhochschulen dagegen erfährt das Thema mehr Anerkennung. Die Migrationsforschung ist, vergleichbar mit der Geschlechterforschung, nicht durch eine fachspezifische Perspektive gekennzeichnet, sondern wesentlich interdisziplinär. Mit dieser doppelten Ausfächerung ist gleichzeitig eine ‚doppelte Bindung‘ des Gegenstandes verbunden: Im Mainstream der Migrationsforschung gelten Männer als prototypische Migranten, und weibliche Migration wird als Ausnahme oder vom Mann abgeleitete ‚abhängige‘ Migration charakterisiert; gleichzeitig war und ist das Geschlechterverhältnis implizit unverzichtbar für die Beschreibung des Verhältnisses zwischen Mehrheitsgesellschaft und MigrantInnengemeinschaften, indem bei letzteren vom deutschen ‚Standard‘ abweichende Besonderheiten vermerkt und skandalisiert werden (siehe dazu Lutz/Huth-Hildebrandt 1998: 159). Vergleichbar spielen Migrantinnen in der feministischen und Frauenforschung eine untergeordnete Rolle; sie werden entweder ausgeschlossen oder im Duktus der ‚Besonderlichung‘ (Gümen 1998) der Betrachtung autochthoner Frauen (autochthon wird von allochthon unterschieden, womit die ethnische, kulturelle und oft auch noch nationale Differenz gekennzeichnet wird) hinzugefügt. In beiden Fällen wird also mit einem bipolaren differenztheoretischen Paradigma gearbeitet, das die Migrantin als die jeweils ‚Andere‘, Abweichende, in der Hierarchie Untergeordnete betrachtet. Dies hat dazu geführt, dass die Migration von Frauen in der Migrationsforschung als ‚Genderspezifik‘ thematisiert wird, während sie in der Genderforschung als ‚Ethnizitätsspezifik‘ erscheint. Debatten zur Konstruktion von ‚Ethnizität‘ werden primär im ersten Forschungsbereich geführt, während die Konstruktions- und ‚doing gender‘-Debatte im zweiten Forschungsbereich bislang kaum auf Migrantinnen bezogen wird (vgl. zu den Ansätzen Gutiérrez Rodríguez 1999). Nur wenige Arbeiten befassen sich bislang mit der Ko-Konstruktion von Gender und Ethnizität und der Überschneidung von ‚doing gender‘ und ‚doing ethnicity‘ (vgl. Lutz 2001, Hess/Lenz 2001, Lenz 1995). Die Migrations- und Geschlechterforschung steht also in einem komplexen wissenschaftlichen Spannungsfeld. Die folgende Nachzeichnung wichtiger Traditionslinien und Debatten bezieht sich auf die vorhandene Thematisierung weiblicher Migration, die eher implizit als explizit Aussagen zu Geschlechterarrangements und -differenzierungen gemacht hat.
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Helma Lutz
Zur Migrationsforschung Migration ist kein (post-)modernes Phänomen, sondern Wanderungsbewegungen über Länder-, Staats- und Ethnizitätsgrenzen hinweg sind ein Motor der Menschheitsgeschichte. Zu einem weltumfassenden Phänomen neuer Qualität und Größenordnung hat sich Migration vorrangig im 20. Jahrhundert entwickelt. Im Zeitalter der Globalisierung und des informationellen Kapitalismus (vgl. Castells 2001) muss die Palette von Bewegungen und Motiven der Wanderungen, die sowohl auf freiwilliger wie auf erzwungener, auf individueller wie auf kollektiver Basis zustande kommen, neu bewertet werden: Schätzungen zu Folge leben heute ca. 150 Millionen Menschen (World Migration Report 2000) außerhalb der Grenzen ihres Herkunftslandes, etwa die Hälfte davon sind Frauen. Zusätzlich sind 20 Millionen Menschen auf der Flucht, suchen mehrere Millionen Binnenmigranten eine Zukunft in den neuen Megastädten Asiens, Lateinamerikas und Afrikas. Millionen andere, die grenzüberschreitend und in verschiedenen Pendelbewegungen fast ihr ganzes Leben lang unterwegs sind (etwa als SaisonarbeiterInnen oder HändlerInnen), sind schwer in Zahlen zu erfassen und werden oftmals in den offiziellen Definitionen von Migration übersehen, außer wenn sie als Undokumentierte, Illegale oder als Transit-Migranten in den informellen Wirtschaftsnetzen der Länder, die sie durchwandern, erwähnt werden. Frauen sind in all diesen Bereichen gleich stark vertreten wie Männer, in einigen sogar überrepräsentiert. Castles und Miller (1993) sprechen vom Zeitalter der Migrationen, welche sich heute stärker denn je als feminisiertes Phänomen darstellen (vgl. Koser/Lutz 1998). Tatsächlich sind fast die Hälfte der statistisch erfassten MigrantInnen Frauen, wobei man annimmt, dass sie unter den Flüchtlingen weltweit sogar in der Mehrheit sind. Die Behauptung, die Feminisierung sei einer der bedeutendsten Trends der Wanderungsbewegungen geworden, die laut World Migration Report (2000) vorher überwiegend männlich waren, impliziert, dass die Frauenpräsenz in diesen Bewegungen etwas Neues ist. Frauen waren jedoch stets Teil der Bevölkerungswanderungen (vgl. INSTRAW 1994). Neu ist vielmehr, dass Forschung und Politik mittlerweile anerkennen, dass Frauen großen Anteil an der Migration haben, obgleich es auch heute noch Migrationsstudien gibt, die ihr Sample auf Männer beschränken. Die Migrationsforschung stellt Fragen nach Ursachen, Motiven und Zwecken der Migration, wobei sowohl die Perspektive der Wandernden als auch die Wanderungsveranlassungen berücksichtigt werden. Das Modell von Treibel (2000: 78) ergänzend können folgende Wanderungsformen unterschieden werden: – freiwillige (Arbeits-, Abenteuer-, Heirats-, Qualifikations-) und Zwangs-Migration (Flucht aus politischen, religiösen oder ökologischen Gründen, Vertreibung, Zwangsprostitution); – Armuts- sowie ‚betterment‘- (Steigerung des Lebensstandards) und Expert/inn/en- oder Karrieremigration; – Binnen- und internationale/interkontinentale sowie transnationale Migration; – temporäre, permanente und Pendelmigration. Bei dieser Aufzählung wird bereits die auf einer umfangreichen Vielfalt der Migrantengruppen basierende Diversität der Migrationsanlässe deutlich; die Wandernden wiederum stützen sich auf eine Vielzahl von kollektiven und individuellen Ressourcen. Auf Seiten der AkteurInnen werden unterschiedliche Kapitalsorten in verschiedenen Kombinationen zur Bewältigung des Wanderungsprozesses eingesetzt (ökonomisches, soziales, kulturelles und symbolisches Kapital wie etwa Bildungsabschlüsse, Freundes- und Familiennetzwerke und Risikobewältigungskompetenzen). Demgegenüber sind auf der Seite der Wanderungsverursachung nicht nur Diktaturen, rassistische und ethno-nationale Verfolgungen, ökologische Katastrophen, der Zusammenbruch von Systemen (Beispiel Osteuropa und Sowjetunion), Armut und/oder fehlende berufliche Betätigungsfelder in der Herkunftsregion zu nennen, sondern auch der Bedarf an (Niedriglohn-) Arbeitskräften in den Regionen des Nordens und Westens, der durch Hierarchisierung von Arbeitsmärkten (Technologien versus Landarbeit und Handwerk) und Degradierung von Arbeitsbereichen (Büroarbeit versus schmutzige, gefährliche, körperliche Arbeit) entstanden ist. Im Migrationsprozess finden weltweite
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ungleiche Wirtschaftsbeziehungen ihren Ausdruck und werden soziale Ungleichheiten fortgeschrieben oder neu organisiert. Die ‚Entsorgung‘ von sozialem Unruhepotenzial oder aber von Bildungsüberschüssen (brain-drain) in einem Staat oder einer Weltregion kann auf den Importbedarf von billigen Arbeitskräften in einer anderen Region treffen und damit Migration auslösen oder fördern. Nicht selten führt brain-drain in solch einem Prozess zu brain-waste, der Entwertung von Bildungsabschlüssen, und zu sozialem Abstieg. Seit dem 19. Jahrhundert unterliegen Migrationsbewegungen der Aufsicht von Nationalstaaten, die Wanderungen mithilfe von Staatsbürgerschaftsgesetzen und Einwanderungsbestimmungen zu regeln versuchen. In der Bundesrepublik Deutschland, die zwar kein erklärtes, aber ein faktisches Einwanderungsland ist, hat die legale Migration – mit Ausnahme der Spätaussiedler- und der Fluchtmigration – durchgehend dem Kalkül des Arbeitskräftebedarfs gedient. Die klassischen theoretischen Paradigmen des Mainstream in der Migrationsforschung sollen hier kurz genannt werden:
Das Pull-Push-Modell Es stammt vom amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler Everett Lee (1966) und geht davon aus, dass internationale Wanderung dann zustande kommt, wenn der Arbeitskräftebedarf (pull) in einem Land vom Arbeitskräfteüberschuss (push) in einem anderen Land profitieren kann; Wanderungsakteure sind rational entscheidende junge und gesunde Männer auf der Suche nach besseren (Über)Lebensmöglichkeiten. Frauen und Kinder müssen, so Everett Lee, den Entscheidungen der Männer (widerwillig) folgen und die Konsequenzen ertragen. Als ‚Abhängige‘ sind sie per definitionem auch Opfer. Diese Theorie individueller Nutzenmaximierung, die von den dominanten Geschlechterbildern ihrer Zeit geprägt war, entsprach bereits damals nicht den Fakten: Die Migration in und aus der Karibik sowie im nachkriegseuropäischen Gesundheitsbereich war feminisiert. Dennoch ist dieses Erklärungsmodell bis heute weltweit dominant in der Forschung. Nun richtete sich die aktive Anwerbepolitik der BRD und der DDR in der Tat über lange Zeiträume hinweg an junge Männer; doch wurden auch, etwa für den Gesundheits- und Pflegebereich, das Hotel- und Gaststättengewerbe sowie von der Elektro-, Lebensmittelverarbeitungs- und Textilindustrie Frauen angeworben und nachgereiste Ehefrauen in den Arbeitsmarkt integriert. Mitte der 1970er Jahre gingen über 40 Prozent der Migrantinnen einer Erwerbstätigkeit nach, eine Quote, die die der einheimischen Frauen weit überstieg (genaue Angaben vgl. Mattes 1999). Die Wahrnehmung der Migrantinnen war damals bereits auf die Rolle als nichterwerbstätige Ehefrauen beschränkt, und Gastarbeit ist bis heute männlich konnotiert.
Integration und Assimilation in der deutschen Migrationsforschung Die deutsche Migrationsforschung entwickelte sich von der Gastarbeiter- über die Integrations- hin zu einer (ethnischen) Minderheitenforschung. Ein zentraler Forschungsgegenstand ist die Theorie über den Wanderer oder – seit Ende der 1980er Jahre – die Kritik daran, die stattdessen „den gesellschaftlichen Umgang mit dem Wanderer“ (Bukow/Llaryora 1988: 10) betrachtet. Während die erste Richtung, die bis heute dominant geblieben ist, von der Prämisse eines signifikanten (Kultur-) Unterschieds zwischen Autochthonen und Eingewanderten ausgeht und diesen insbesondere im Geschlechterverhältnis verortet, kritisiert die letzte Richtung die mit dieser – oft ontologisierten – Prämisse einhergehende Ethnisierung von sozialen Differenzen und Ungleichheiten. Das einflussreichste Paradigma der Theorie über die Wanderer ist die kognitive Handlungstheorie von Hartmut Esser (1980, 1983). Esser unterscheidet vier verschiedenen Integrationstypen, die sich zwischen den Polen sozial integriert, kulturell assimiliert einerseits und sozial segregiert andererseits bewe-
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gen. Bukow und Llaryora (1988) merken kritisch an, dass Esser eine Art ‚Nullsituation‘ postuliert. „Der Wanderer kommt mit leeren Händen und hat sich zu entscheiden, ob er entweder assimiliert oder segregiert. Gegebenenfalls kann er sich auf verschiedenen Ebenen unterschiedlich verhalten“ (Bukow/Llaryora 1988: 133). Essers Paradigma findet seine Weiterentwicklung und Ergänzung in den Arbeiten von Heitmeyer u.a. (1997) zur Entstehung von ethnischen Segregationen und Parallelgesellschaften. An dem Modell sind vor allem der naive Umgang mit dem Begriff der Assimilation, die fehlende Reflexion heteronomer Faktoren, wie z.B. institutioneller und Alltagsrassismus und restriktive Migrationspolitik sowie die Nicht-Berücksichtigung von kollektiven Sozialbezügen als integrationsfördernde Orientierungshilfen kritisiert worden. Diese auf das Individuum ausgerichtete ‚Lerntheorie‘ (Bukow/Llaryora 1988: 133) fand und findet allerdings bis heute ihre Entsprechung in der Pädagogisierung der Migration, in der Erziehung und Bildung als ein Steuerungsinstrument sozialer Probleme gesehen werden, mit dem jeweils auf die Bedürfnisse der aktuellen Migrationspolitik reagiert wird (vgl. dazu Huth-Hildebrandt 2002).
Unilinearität der Migration Implizite Prämisse sowohl der Forschung als auch der erforschten Praxis- und Politikfelder ist die Vorstellung von Migration als einem uni-linearen, teleologischen Prozess, bei dem Aus- zu Einwanderung wird; sie ignoriert die Vielzahl der möglichen Zwischenformen (z.B. Trans- und Pendelmigration). Symbolisch entspricht diese Sichtweise der Übernahme einer neuen Staatsbürgerschaft verbunden mit dem Verzicht auf die alte. In der Forschung überwiegen dementsprechend Untersuchungen, in denen Messungen und Aussagen über die Assimilations- und Integrationserfolge von Migranten mit deren Bereitschaft zur Übernahme der deutschen Staatsbürgerschaft oder zur Ehe mit einem deutschen Staatsbürger verbunden werden. Diese Paradigmen bilden auch den Hintergrund für die Arbeiten, die sich mit Migration und Geschlecht befassen.
Migration und Ethnizität in der Geschlechterforschung Zeitlich verschoben haben sich zwei Disziplinen, die Erziehungswissenschaft (vgl. Krüger-Potratz/Lutz 2003) und die Psychologie, intensiv mit Migrantinnen beschäftigt (vgl. dazu Schulz 1992, Huth-Hildebrandt 2002). Seit Ende der 1970er Jahre finden sich in der Frauen- und Geschlechterforschung Arbeiten, die feministisch motiviert sind. Simone Prodolliet (1999) hat in ihrem Übersichtsartikel drei Phasen dieser Forschung unterschieden (vgl. auch Aufhauser 2000, Hahn 2000): 1. Die erste Phase verpflichtete sich der ‚Sichtbarmachung von Frauen in der Migration‘. Dieser ‚kompensatorische‘ Ansatz beabsichtigte, typische weibliche Migrationsmuster und die Besonderheiten von weiblicher Migration aufzuzeigen. 2. Die zweite Phase bezeichnet Prodolliet als ‚kontributorisch‘. Es handelt sich dabei um Arbeiten, die sowohl die Rolle der Frauen im Migrationskontext als auch ihre spezifischen Migrationserfahrungen herausstellen. 3. Eine dritte Phase thematisiert seit Mitte der 1980er Jahre Macht- und Herrschaftsdimensionen des Geschlechterverhältnisses, die für die spezifische Situation der Migration relevant sind. Dabei werden feministische Themen, wie die Konstruktion von Männlichkeit und Weiblichkeit, die Bedeutung von privat und öffentlich, aufgegriffen sowie die Auswirkungen von Migrationserfahrungen auf Paar- und Familienbeziehungen untersucht, aber auch allmählich die Machtunterschiede zwischen autochthonen und allochthonen Frauen thematisiert. Seit Anfang der 1990er Jahre (vgl. Lutz 1991) wird unter Einfluss des Konstruktivismus die Vergesellschaftung
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der Migrantin als ‚Kunstfigur‘ – insbesondere als Opferfigur – thematisiert, die der deutschen Mehrheitsgesellschaft, darunter auch Feministinnen, als Projektionsfläche oder ‚Absetzschablone‘ dient. Dabei wird die Konstruktion von bipolaren Gegensätzen (modern vs. traditionell, westlich vs. nichtwestlich, säkularisiert vs. religiös etc.) kritisiert, in der eingewanderte Frauen und Mädchen sozial auf einer Entwicklungsstufe zur Zivilgesellschaft verortet werden, während autochthone Frauen in letzterer bereits angekommen seien. Dieser Vorwurf, der zunehmend auch von Forscherinnen mit Migrationshintergrund erhoben wird, beabsichtigt, die in diesem Diskurs entstandenen Setzungen und den damit einhergehenden ‚Kanon‘ aufzubrechen. So wird darauf hingewiesen, dass dieser Diskurs vor allem der positiven Selbstaufwertung gegenüber Migrantinnen (‚wir sind emanzipiert, selbstbewusst, autonom, etc.‘) dient. Das Bild der Migrantin als Folie, auf der Geschlechterverhältnisse thematisiert werden können, bleibt weiterhin ein sensibles ungelöstes Thema innerhalb der feministischen Debatte. Obgleich alle diese als Generationen bezeichneten Denkweisen weiterhin existieren, deutet sich mittlerweile eine vierte Generation an, die poststrukturalistisch beeinflusst ist.
Transnationalismus und Netzwerkbildung Mirjana Morokvasic (2003) stellt zu Recht fest, dass aktuelle Migrationsbewegungen mit den vorherigen Paradigmen nicht mehr adäquat zu erfassen sind (vgl. auch Koser/Lutz 1998). Sie unterscheiden sich von früheren durch neue Geografien, die als Folge von geo-politischen und geoökonomischen Veränderungen auftreten. Einerseits sind in jüngster Zeit neue Staaten gegründet worden und bisherige Staaten zerfallen, andererseits verlieren territorial und national definierte Grenzen zunehmend an Bedeutung. Dadurch kommt es zu einer Hinterfragung der Bedeutung der klassischen Nationalstaatsordnung und zu veränderten Vorstellungen von Raum und Zeit. Der EntGrenzung und De-Nationalisierung von Märkten, Konsumgütern, Kommunikationsmitteln und damit von Kapital, Arbeit und Arbeitskraft folgen Veränderungen auf der Ebene des Sozialen. Hier wurde der Begriff transnationale oder „transstaatliche Räume“ (Faist 2000) eingeführt, um der unidirektionalen Konzeptualisierung von Migrationsbewegungen kritisch zu begegnen. In transnationalen sozialen Räumen bilden sich, so Pries (2000) neue sozial-kulturelle Muster und Formen der Vergesellschaftung heraus, die Elemente der Herkunfts- und der Ankunftsgesellschaft miteinander vermengen und zu einer Neumischung in hybrider Gestalt führen. In transnationalen sozialen Räumen entwickeln Menschen plurilokale kollektive (Familien-)Netzwerke und Organisationen über Staatsgrenzen hinweg (vgl. Faist 2000). Trans-Nationalität betont die übergreifende Qualität dieses Phänomens, innerhalb dessen Kommunikationsstrategien und neue Formen von Soziabilität entstehen, die selbst dann, wenn sie als Übergangsformen erscheinen, oft von langfristiger Dauer sind. Menschen, die in solchen Netzen operieren, sind dann auch keine Aus- oder Einwanderer mehr, sondern Trans-Migranten (vgl. Glick-Schiller u.a. 1995): Sie können vielleicht als eine neue Form des klassischen „Fremden“, „der heute kommt und morgen bleibt“ (Simmel 1908: 764), aber eventuell auch weiterzieht, bezeichnet werden. So entstehen transnationale Biografien, die sich den Einteilungsmustern klassischer Nationalstaats-Zugehörigkeit entziehen und als ent-grenzte Bewegungen in einem „dritten Raum“, dem „in-between-space“ (Bhabha 1994), beschrieben werden. Der in vielen Theorien enthaltenen Prämisse, dass Menschen sozusagen als Verschiebemasse den Push- und Pull-Faktoren der Arbeitsmärkte Folge leisten, wird statt dessen die Perspektive der AkteurInnen entgegengesetzt, die verschiedenste Netzwerke errichten und sich innerhalb von Netzwerken bewegen. Für das Verständnis der transnationalen Migrationbewegungen und ihrer sozialen Praktiken bleibt allerdings die Politik der Nationalstaaten zentral (vgl. Nyberg-Soerensen 1998): Transnationale Beziehungen zwischen verschieden Orten sind vom legalen Status der wandernden Menschen
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abhängig und damit auch von der internationalen Bewertung ihrer Pässe. Für viele stellen zwischenstaatliche Grenzen sehr reale Hindernisse für die Bewegungsfreiheit dar, und sie müssen andere transnationale Verbindungen und Netzwerke entwickeln als die Mobilitätsgewinner, Angehörige der nördlichen Industrieländer und einiger asiatischer Staaten. Die Übrigen müssen bleiben, wo sie sind, oder sich auf Menschenhändler einlassen. Vor allem hinsichtlich der Feminisierung der Migrationsbewegungen spiegelt verstärkte Mobilität nicht nur die Migration aus Heirats- oder Familiengründen wider, wie normalerweise angenommen wird (vgl. SOPEMI 2000), sondern sie schließt auch neue Heiratsstrategien mit ein („mail order brides“ nach Vartti 2003, Truong 1996). Darüber hinaus resultiert sie aus der Verbreitung von ungeschützten Arbeitsverhältnissen im Haushalt (vgl. Lutz 2002a, 2002b, www.uni-muenster.de/fgei), in der Unterhaltungsindustrie oder in der Textilbranche, wo Frauen und junge Mädchen oftmals vollkommen abhängig von ihren Arbeitgebern sind, die oft auch ihre Pässe einbehalten (vgl. World Migration Report 2000, Anderson 2000, Truong 1996, Huang/Yeoh 1996). Der Extremfall von Mobilität ist Menschenhandel, bei dem MigrantInnen wie Waren verschoben werden, wie bei Sexarbeit und Prostitution, obwohl sie mit anderen Lebensentwürfen und Zukunftshoffnungen kommen. Als Metapher für die vielfältigen Prozesse, die mit Transnationalität verbunden sind, wird oftmals das „nomadische Subjekt“ der feministischen Philosophin Rosi Braidotti (1994) herangezogen: eine Frau, die sich zwischen verschiedenen Welten, Sprachen, Berufen und Orten fortbewegt, ohne einen festen Wohnsitz zu haben oder einen solchen anzustreben. Dieses endlos fragmentierte Subjekt „Frau“ findet in der Mobilität, dem Reisen, dem Pendeln ihre Identität. Die Metapher der Nomadin unterscheidet nicht zwischen verschiedenen Lebenssituationen und schließt gerade jene Mehrheit von Frauen mit Migrationserfahrung aus, für die Mobilität keine Wahl, sondern erzwungen ist: Ohne Pass und ohne andere finanzielle Mittel ist frau nicht freiwillig Nomadin. Die Verherrlichung von Mobilität und Bewegungsfreiheit als Ressource findet hier ihre Grenze. Ob andere Metaphern wie etwa die der Mestizin (vgl. Gutiérrez Rodríguez 2001) geeigneter sind, um veränderte Subjektpositionen von Frauen zu beschreiben, bleibt offen. Wichtig ist hier abschließend zu bemerken, dass die empirische Forschung nach der Vergeschlechtlichung von Transnationalität noch im Aufbau begriffen ist (vgl. Morokvasic 2003, Lutz/Morokvasic-Müller 2002, MorokvasicMüller u.a. 2003, Lenz u.a. 2002). Auf theoretischer Ebene gilt es sowohl den Beschränkungen, Zwangs- und Leidensaspekten von Migrations- und Fluchtbewegungen gerecht zu werden wie auch der Forderung nach Berücksichtigung subjektiver Handlungsspielräume.
Ausblick: Doing gender and doing ethnicity Im Ausblick dieses Artikels sollen Theorie- und Forschungslücken paraphrasiert und Desiderate vorgestellt werden. Wie bereits erwähnt, hat sich in der Geschlechterforschung in den vergangenen Jahren der Blick verstärkt von einer ontologisierenden Perspektive zur Beschreibung der fortlaufenden Herstellung von Männlichkeit und Weiblichkeit, d.h. des doing gender verändert, womit die Produktion und Reproduktion der (hierarchischen) zweigeschlechtlichen Ordnung (vgl. Lorber 1999, Gildemeister/Wetterer 1992) gemeint ist. Vergleichbar wurde in der Postkolonialismusforschung, die sich mit dem Migrationsphänomen in westlichen Gesellschaften beschäftigt, die Kategorie ‚Ethnizität‘ neu bestimmt (vgl. Hall 1994). Ethnizität wird als soziale Positionierung gesehen, als Element von Fremd- und Selbstzuweisung, als Merkmal sozialer Differenzierung. Stuart Hall (1994) löst damit die gängige Zuschreibungspraxis auf, in der die (weißen) Mitglieder dominanter Gruppen sich als nicht-ethnisch verstehen und präsentieren, die als ‚Unmarkierte‘ den Maßstab bilden, an denen sich ‚die Anderen‘ spiegeln müssen. Auch Hall deutet bereits an, dass die Frage danach, was Ethnizität ist, verändert werden muss in die Frage danach, wie Ethnizität hergestellt wird: doing ethnicity, das Herstellen einer ethnisch hierarchischen Gesellschaftsordnung, verlangt vom Einzelnen Ein- und Unterordnung. Als Weiterentwicklung dieser Analyseschritte kann die so ge-
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nannte Intersektionalitätsanalyse verstanden werden, die versucht, beide miteinander zu verbinden und dazu auch andere Differenzlinien wie Klasse, Nationalität und Sexualität zu berücksichtigen – diese Theorie geht im Übrigen auch über die von Ilse Lenz (1995) entwickelte Theorie der dreifachen Vergesellschaftung hinaus. Der Begriff intersectionality – im Deutschen wird mittlerweile auch von Multi-Axialität gesprochen – wurde von der amerikanischen Juristin Kimberlé Crenshaw (1989, 1994) entwickelt. Gender, Ethnizität, Klasse, Nationalität und Sexualität gehen stets gleichzeitig und in Wechselwirkung miteinander einher: Gender wird immer durch Klasse ergänzt; Ethnizität ist immer bereits „gegendert“ und mit Klassenmerkmalen versehen. Intersectionality ist eine Subjekttheorie, die Identitäten auf Kreuzungen von Differenzierungslinien lokalisiert; gleichzeitig werden soziale Positionierungen untersucht, die nicht eindimensional sondern das Produkt von simultanen, sich kreuzenden Mustern von Verhältnissen und Merkmalen sind (anwendungsbezogene Vorschläge siehe Lutz 2001, 2002c, Krüger-Potratz/Lutz 2002). In einen solchen theoretischen Kontext könnten auch Ansätze der neueren Männerforschung integriert werden, die die Herstellung von Geschlecht und Ethnizität in den Blick nehmen müssten. Unter den vielen offenen Forschungsfragen hebe ich die heraus, die der gesteigerten gesellschaftlichen Komplexität und Heterogenität gerecht zu werden versuchen und sich z.B. mit Multilokalität und Transnationlität von Biografien beschäftigen: Es sind Fragen nach translokalen Lebensweisen und -wegen, interkulturellen Begegnungen, Globalisierungsformen des sozialen Alltags und den darin entstehenden sozialen Übergangsräumen, die sich auch auf veränderte Geschlechteridentitäten und -arrangements beziehen müssen (vgl. Schlehe 2001), zu stellen und adäquat zu untersuchen. Ebenfalls steht zur Debatte, wie immer komplexere analytische Modelle, die die Dekonstruktion von Begriffsapparaten und Alltagsverständnissen betreiben, auf die realen Migrationsprozesse bezogen werden, in denen sich teilweise dramatische Entwicklungen von Ausbeutungs- und Ungleichheitsverhältnissen abzeichnen. Es geht also nicht nur um die De-Dramatisierung von Differenzen und die Re-Dramatisierung sozialer Ungleichheit, sondern immer auch um Verortungs- und Positionierungsfragen, sowohl auf Seiten der Untersuchungsgruppe als auf der Seite der ForscherInnen. Schlussendlich ist es auch für die deutsche Debatte wichtig, dass das Wissenschaftsgebiet ‚Gender und Migration‘ einen eigenständigen, im Dialog der Disziplinen zu entwickelnden Forschungsbereich bildet. Verweise: Doing gender Globalisierung Intersektionalität Postkolonialismus Rassismustheorien
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Brigitte Young, Hella Hoppe
Globalisierung: Aus Sicht der feministischen Makroökonomie
Globalisierung und Gender Der Begriff „Globalisierung“ wird seit einigen Jahren kontrovers diskutiert. Einerseits wird Globalisierung als unausweichlicher Sachzwang des Weltmarkts bewertet, der dazu führt, dass sich der nationale Wohlstand sowohl in reichen als auch armen Ländern erhöht. Andererseits wird argumentiert, die Globalisierung sei nur ein Mythos oder eine Ideologie, um von der Ideenlosigkeit der Politik abzulenken. Diese kontroversen Debatten sind von hoher Emotionalität geprägt. So bezeichnet beispielsweise der französische Wirtschaftswissenschaftler Alain Minc die Globalisierung als Glück und Chance der Zukunft (Minc 1998), während Viviane Forrester den „Terror der Ökonomie“ und das Diktat des Weltwirtschaftssystems und seiner mächtigen Agenten kritisiert. Forrester zufolge werden das politische Denken und Handeln nur noch von den Prinzipien des profitablen Wirtschaftens bestimmt und der Primat der Bilanzen zum universellen Gesetz, der das „Leben vergiftet, lähmt und mit falschen Versprechungen in Apathie hält“ (Forrester 1998, vgl. auch Forrester 2001). Trotz der bestehenden Komplexität und Emotionalität der Diskussionen besteht weitestgehend Konsens darüber, dass sich die gegenwärtige Entwicklung der Weltwirtschaft durch Brüche und radikale Veränderungen der bestehenden wirtschaftlichen, politischen, rechtlichen, ökologischen und kulturellen Verflechtung charakterisiert, bei denen sich auch nationale politische und ökonomische Räume zunehmend entgrenzen. Die Globalisierung ist somit Teil eines weiten Prozesses der Restrukturierung des Nationalstaates und der Zivilgesellschaft, politischen Ökonomie und Kultur. Dabei wird jedoch oft übersehen, dass die Globalisierung sehr unterschiedlich ausgeprägt ist. Finanzmärkte beispielsweise haben einen sehr hohen Integrations- und Globalisierungsgrad erreicht, während im Bereich der Güter- und Dienstleistungsmärkte vor allem die kapitalintensiven globalisiert sind (Deutscher Bundestag 2002). Arbeitsmärkte, Bildung, Infrastruktur und staatliche Verwaltung sind derzeit noch national geprägt, stehen aber unter zunehmendem internationalem Konkurrenzdruck. Insgesamt gesehen ist der Globalisierungsprozess somit von Ungleichzeitigkeiten und Widersprüchlichkeiten sowie sehr unterschiedlichen Verortungen und Reichweiten der Perspektiven gekennzeichnet (vgl. Lenz 2002). Eine dieser Widersprüchlichkeiten und Ungleichzeitigkeiten ist das geschlechtsspezifische Terrain, auf dem die globale Restrukturierung stattfindet. Die neoliberale Logik, die die Globalisierung kennzeichnet – Steigerung und Erhöhung des Wettbewerb und der Privatisierung, Deregulierung und Informalisierung – hat dabei weltweit durchaus verschiedene, oft gegenläufige Auswirkungen auf Frauen und Männer (vgl. Bakker 1994, 2002; Sassen 1998, Cagatay 2001, Elson 1995, Wichterich 1998, Afshar/Barrientos 1999, Rai 2002, Lenz 2000, Young 1998, 2002). In den auf der Weltfrauenkonferenz 1985 in Nairobi unterzeichneten „Forward Looking Strategies“ wird z.B. argumentiert, dass ökonomisches Wachstum nicht unbedingt eine Verbesserung der ökonomischen und gesellschaftlichen Situation von Frauen nach sich zieht. Während der Glaube an einen Zusammenhang von wirtschaftlichem Wachstum und der Besserstellung der Frau zunächst noch gerechtfertigt erschien, wird diese Prämisse nach den Erfahrungen der letzten zehn Jahre in Frage gestellt. Vielmehr wird die
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Schlussforderung gezogen, dass Frauen vor allem zu den Verliererinnen der globalen Umstrukturierungsprozesse gehören. Diese Feststellung mag zunächst stimmig erscheinen, sie geht aber nicht über einen rudimentären Vergleich der ökonomischen Lage zwischen Männern und Frauen in unterschiedlichen Ländern hinaus. Dass Globalisierung sich auf einem geschlechtsspezifischen Terrain abspielt, bedeutet jedoch nicht, dass alle Frauen zu den Verliererinnen und alle Männer zu den Gewinnern der Globalisierung gehören; die Verhältnisse sind weitaus komplizierter. GewinnerInnen und VerliererInnen gibt es sowohl bei Frauen als auch bei Männern. Die zunehmende Überlagerung von Klassen- und Geschlechterverhältnissen, von Migration und rassistischer Diskriminierung bringt unter dem Druck der Globalisierung vollkommen neue Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnisse hervor. Folglich entsteht auch unter Frauen ein zunehmend differenziertes Bild. Entsprechend dem UNIFEM Report „Progress of the World’s Women 2000“ machen Frauen mit der Globalisierung weltweit sehr unterschiedliche Erfahrungen. So hat die Globalisierung mehr Frauen Beschäftigungsmöglichkeiten eröffnet. Gleichzeitig hat sie die existierenden Ungleichheiten und Unsicherheiten, die für Frauen aus der Zunahme von informeller Arbeit und Privatisierungsprozessen erwachsen, in vielen Teilen der Welt erhöht. Für gut ausgebildete Frauen bedeutet die Globalisierung neue Chancen und höher dotierte Tätigkeiten in der formalen Wirtschaft. Andererseits zeigen Studien aus Hong Kong, Singapur, Europa und Nordamerika, dass hochbezahlte Frauen ihre reproduktiven Lasten auf niedrig bezahltes Hauspersonal und Migrantinnen aus anderen Ländern übertragen. Solange sich Staaten weigern, geeignete Strukturen zur Unterstützung von arbeitenden Frauen zu schaffen, sind die Bedingungen für den Zugang von Frauen zu den derzeit existierenden „männlichen Arbeitsstrukturen“ nicht nur geschlechts-, sondern auch klassen- und ethnienspezifisch (vgl. Young 1999/2000, 1998). Trotz dieser Einschränkungen kommt der UNIFEM-Report zu der Schlussfolgerung, dass die wirtschaftliche Ungleichheit zwischen Frauen zugenommen hat. Es gibt allerdings keine verlässlichen Indikatoren über das Ausmaß, in dem Frauen in der Bevölkerung unter der Armutsgrenze überrepräsentiert sind. Die vielzitierte Schätzung, dass 70% der Armen Frauen seien, hat keine fundierte Basis, da keiner der statistischen Indikatoren Geschlechterunterschiede berücksichtigt (UNIFEM 2000). Diese Korrektur ändert jedoch nichts an der besonders hohen Verletzbarkeit von Frauen im Hinblick auf Armut. Diese Verletzbarkeit resultiert aus den Strukturen der geschlechtlichen Arbeitsteilung, den jeweils vorherrschenden gesellschaftlichen Geschlechterbildern und den Geschlechterregimen, die bestimmte Versionen des Geschlechterverhältnisses privilegieren.
Die Auswirkungen von Finanzkrisen auf Frauen Der durch die asiatische Finanzkrise ausgelöste ökonomische Kollaps in Thailand, Indonesien, Malaysia, Süd-Korea und den Philippinen wurde von feministischen ÖkonomInnen auf ihre unterschiedlichen Auswirkungen auf Männer und Frauen untersucht (vgl. Lim 2000, Floro/Dymski 2000, Singh/Zammit 2000). Dabei konnte gezeigt werden, dass in den von der Krise am stärksten betroffenen Ländern, Indonesien, Thailand und der Republik Korea, in den 20 Jahren vor der Krise die Frauenerwerbstätigkeit in der formellen Ökonomie zugenommen hat. Auch haben die hohen Wachstumsraten des Volkseinkommens Investitionen in Bildung und Gesundheitssystemen ermöglicht und somit neue Erwerbschancen für Frauen geschaffen. Die jüngsten Analysen zeigen jedoch auch, dass Männer von der hohen Wachstumsperiode vor der Krise stärker profitierten als Frauen (vgl. Young 2002). Nach der Krise hat sich die Situation insbesondere zu Ungunsten von Frauen und von armen Familien verändert. Zum einen haben Frauen in einem größeren Umfang als Männer ihre Arbeitsplätze in der formalen Ökonomie verloren bzw. waren unterbeschäftigt und mussten verstärkt informelle Tätigkeiten annehmen. Des Weiteren wurde der Sozialbereich durch die auferlegten
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Strukturanpassungsprogramme und deren rigide Sparpolitik stark gekürzt bzw. es wurden Gebühren für ehemalige öffentliche Güter wie z.B. Schulen und Krankenpflege erhoben. Auch fielen die Subventionen für Nahrungsmittel, Transportdienstleistungen und andere Serviceleistungen häufig dem Sparkurs der öffentlichen Haushalte zum Opfer. Zudem waren Frauen einerseits mit einem starken Reallohnrückgang und dem Anstieg der Nahrungsmittelpreise, andererseits mit der Tilgung von Schulden und einer abnehmenden Kreditmöglichkeit für Frauen konfrontiert. Letzteres ist dadurch bedingt, dass Frauen aufgrund erhöhter Armut und ihrem „Frau-Sein“ als im Vergleich zu Männern risikoreichere Kreditnehmerinnen eingeschätzt werden (vgl. Floro/Dymski 2000, Singh/Zammit 2000, Lim 2000).
Gendersensible Entwicklungsfinanzierung Das Ziel der UN-Konferenz „Financing for Development“ in Monterrey/Mexiko (18.-22.3.2002) war es, finanzielle Ressourcen zu mobilisieren, um die sog. Milleniumsziele der Vereinten Nationen zu erreichen. Demnach sollte bis zum Jahr 2015 der Anteil der Armen und Hungernden auf dem Globus halbiert, allen Kindern eine Grundschulausbildung garantiert, die Müttersterblichkeit um drei Viertel, die Sterblichkeit von Kindern unter fünf Jahren um zwei Drittel gesenkt, die Ausbreitung von Seuchen wie Aids oder Malaria gestoppt und bis 2020 erhebliche Verbesserungen im Leben von mindestens 100 Millionen Slumbewohnern erreicht werden (vgl. United Nations 2000). Trotz der Betonung ökologisch nachhaltiger, sozial gerechter und genderspezifischer Aspekte wurden diese jedoch nicht zu einem zentralen Bestandteil des Abschlussdokuments der Konferenz. Sie wurden vielmehr lediglich den Kernempfehlungen hinzugefügt, deren Hauptaugenmerk auf Auslandsinvestitionen und Handelsliberalisierung liegt. Abgesehen von der Einleitung und dem ersten Kapitel (Mobilisierung einheimischer Entwicklungsressourcen) kommen genderspezifische Bezüge im übrigen Dokument nicht oder nur am Rande vor (vgl. Neuhold 2001, Floro 2002, Bakker 2002). Um die in der Einleitung des Dokuments genannten Prinzipien nachhaltiger und gendersensitiver Entwicklung tatsächlich zu verwirklichen, ist es jedoch notwendig, die Folgen von wirtschaftlichen Strategien und Politiken für die Lebensrealität von armen Frauen in Regionen des Südens zu analysieren und vorbeugende Maßnahmen umzusetzen, damit Frauen nicht eine weitere Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen erfahren. Zentraler Gesichtspunkt ist dabei die Beachtung der Vielschichtigkeit weiblicher Rollen, d.h. ihrer produktiven Tätigkeiten in der formellen Wirtschaft, in der Subsistenzwirtschaft und im informellen Sektor, ihrer reproduktiven Arbeiten und Aufgaben rund um Haushalt und Familie und ihres oftmals hohen Engagements in der Gemeinde und in NGOs, das in der Regel als Erweiterung ihrer reproduktiven Tätigkeiten angesehen wird. Ein weiteres Element, das in Analysen und Planungen einzubeziehen ist, betrifft die benachteiligte Position der Frauen in Familie und Gesellschaft und ihr oft unzureichender oder fehlender Zugang zu Entscheidungspositionen, Infrastruktur und Ressourcen. Ohne weitreichende Veränderungen in diesem Bereich sind eine nachhaltig und sozial ausgewogene Entwicklung und umfassende Armutsbekämpfung nicht zu erwarten (vgl. Neuhold 2001). So werden in dem Dokument der Konferenz „Financing for Development“ zwar Budgetanalysen aus der Genderperspektive eingefordert, andererseits werden Frauen jedoch im Zusammenhang mit Mikrokrediten nicht einmal erwähnt, obwohl sie die überwiegende Mehrheit jener darstellen, die Bedarf an Mikrokrediten haben. Frauenorganisationen weisen aber auch auf die Widersprüchlichkeit in den Zielen der Entwicklungsfinanzierung hin. Einerseits sei diese auf eine holistische, nachhaltige, gendersensitive und auf Menschen bezogene Entwicklung ausgerichtet, andererseits stehe diesen Forderungen eine starke Fokussierung auf die Liberalisierung von Märkten gegenüber und der damit verbundene Rückzug des Staates aus der Verantwortung für die Sicherung sozialer Grundrechte sowie die Pri-
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vatisierung ursprünglich staatlicher Aufgaben. Dies kann zu massiven Verschlechterungen in der Einkommensverteilung führen und betrifft Frauen besonders stark. Eine strategische Rolle kommt hier internationalen Institutionen wie der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds bei der Konzeption von Strukturanpassungsprogrammen zu. Eine weitere zentrale Frage in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass das Funktionieren von staatlichen Steuersystemen zunehmend von nationalen Eliten, transnationalen Konzernen und Interessengruppen der unterschiedlichsten Art beeinträchtigt wird. Kapital- und Steuerflucht, die Errichtung von „Offshore-Zentren“ und Steueroasen, die Gründung von steuerlich begünstigten Stiftungen und kriminelle Praktiken wie Geldwäsche gehören zu den Phänomenen, die zu großen Verlusten an staatlichen Vermögen führen und die Basis für Umverteilungs- und Sozialprogramme empfindlich verringern (vgl. Deutscher Bundestag 2002).
Globaler Frauenhandel NGOs und Menschenrechtsorganisationen haben seit geraumer Zeit auf die Verbindung zwischen illegaler Migration und organisierter Kriminalität hingewiesen. Die Vereinten Nationen bezeichnen den Menschenschmuggel als das „am schnellsten wachsende kriminelle Geschäft der Welt“ (Frankfurter Rundschau 2002). Besonders Frauen und Kinder bilden in diesem grenzüberschreitenden Teufelskreis eine neue globale Dienstleistungsklasse. Die Vereinten Nationen schätzen, dass 1998 vier Millionen Menschen von meist „sex trafficking“ betroffen waren und mittlerweile einen Profit von zehn Milliarden US-Dollar für kriminelle Gruppen erwirtschaften. Gleichzeitig übertrafen 1998 die Überweisungen von legalen und illegalen Migrantinnen an ihre Herkunftsländer 70 Milliarden US-Dollar. Mittlerweile zählen in den Philippinen die Devisenüberweisungen aus der globalen Unterhaltungsindustrie zur drittgrößten Einnahmequelle des Landes (vgl. OECD 2000: 234). Auch in Bangladesh betragen die Auslandsüberweisungen in Höhe von 1,4 Mrd. US-Dollar ungefähr ein Drittel der Gesamtdevisen. Nach der Finanzkrise fing auch Thailand an, aktiv Frauen als „Hausmädchen“ in den Mittleren Osten, die USA und Europa zu „exportieren“. Truong (2001, 2000) schätzt, dass thailändische weibliche „entertainer“ im Jahr 1998 in Japan ein Bruttoeinkommen von 3,1 Mrd. US-Dollar erzielt haben. Für die Jahre von 1993 bis 1995 wird der Umfang der illegalen Ökonomie in Thailand (Drogen, Schmuggel, Prostitution, Glückspiele) auf elf bis 18 Mrd. USDollar geschätzt. Dies entspricht zwischen acht und 13 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. In Thailand, Malaysia und Indonesien scheint das „trafficking“ von Frauen und Kindern in die Prostitution mit der extremen Armut der Familien, besonders in Stammes- und im Hochland, verbunden zu sein (vgl. Jones 1998). Die grenzüberschreitende Migrationsbewegungen des stark angestiegenen Menschenhandels von Indonesien nach Malaysian Borneo und von Thailand durch Malaysia nach Japan, Korea, Europa und in die USA kann folglich als eine Strategie der Feminisierung der menschlichen Sicherheit und der Überlebenssicherheit der von der Krise betroffenen Familien bewertet werden. Genaue Daten über das Ausmaß der globalen Sex-Industrie und des Menschenhandels sind schwer zu erhalten. Neuere Studien weisen aber nicht nur auf den Anstieg der Frauen-Prostitution in den Touristenzentren und in der Unterhaltungsindustrie in Asien und den benachbarten Ländern hin. Besonders schockierend sind die Berichte über die zunehmende Kinderprostitution. In einem Bericht für das „Asian Regional High-level Meeting on Child Labour“ beschreibt Tumlin (2000), dass ungefähr eine Million Kinder in der Prostitution in Asien arbeiten und dass in Süd-Ostasien die Prostitution mittlerweile zu einer der größten Beschäftigungsindustrien in der Region zählt.
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Lösungsansätze aus Sicht der feministischen Makroökonomie Alternatives Verständnis von Makroökonomie Der Nobelpreisträger für Ökonomie Amartya Sen hat in seinem Buch „Ökonomie für den Menschen“ (Sen 2000) darauf hingewiesen, dass es nicht ökonomische Sachzwänge sind, die Teilhaberechte und Zugangsberechtigungen zu wirtschaftlichem Reichtum begrenzen. Statt dessen ist Sen der Überzeugung, dass jeder gesellschaftlichen Entwicklung eine Sozialwahl zu Grunde liegt, in der entschieden wird, welche Werte und Normen die Basis einer wirtschaftlichen Ordnung bilden. Diese Erweiterung von einer traditionellen, in sehr engen Grenzen definierten Ökonomie hat wiederum zur Folge, dass makroökonomische Prozesse nicht nur hinsichtlich ihrer marktwirtschaftlichen Kriterien beurteilt werden, sondern ihre gesellschaftlichen Auswirkungen von Anfang an in die Kalkulation einer Bonitätsbewertung einfließen sollten. Derzeit gelten soziale Aspekte und Konsequenzen der ökonomischen Prozesse jedoch nur als Externalitäten. Ob ein Land den gesellschaftlichen Reichtum auf wenige konzentriert oder ob eine gerechtere Verteilungspolitik das Ziel eines Staates ist, ob die sozialen Auswirkungen der Finanzkrisen in Asien und Russland besonders Frauen und Arme trifft oder ob die Transnationalisierung globaler Unternehmen informelle und unregulierte Arbeitsverhältnisse fördert und damit soziale Konflikte verstärkt, spielt für das globale Kapital und bei Entscheidungen über Direktinvestitionen eine untergeordnete Rolle. Wenn makroökonomische Rahmenbedingungen jedoch auch nach Kriterien der sozialen Gerechtigkeit beurteilt werden, wäre es vielmehr das Ziel, Armut zu reduzieren, soziale und genderspezifische Gerechtigkeit zu unterstützen, eine Fokussierung auf inklusive anstatt exklusive Prosperität zu erreichen, eine nachhaltige Entwicklung sowie international anerkannte Arbeitsnormen und Menschenrechte zu fördern und das Recht auf „human und gender security“ in die ökonomische Kalkulation mit einzubringen. Der Abbau von geschlechtsspezifischen Bias ist folglich ein zentrales Element eines „transformativen“ Ansatzes in Bezug auf eine alternative Makroökonomie. „Transformativ“ bedeutet nicht nur, soziale und geschlechtsspezifische Komponenten zu den makroökonomischen Prämissen hinzuzufügen, sondern es bedeutet, die fundamentalen Annahmen der Makroökonomie im Kontext der globalen Herausforderungen neu zu deuten und Ökonomie auch mit der Förderung von substantiellen Freiheiten und Lebensqualität in Einklang zu bringen (vgl. Elson/Cagatay 2000). Um die Vielschichtigkeit der Zusammenhänge von Globalisierung und Gender adäquat erfassen zu können, fordern feministische Ökonominnen die Schaffung von gesellschaftlichem Reichtum und Wohlstand als Kreisläufe lokaler, nationaler, regionaler und globaler Produktion zu erfassen und die Dynamik sozialer Interaktionen in die Kalkulation einer humanen wirtschaftspolitischen Ordnung einzubeziehen. Diesem Ansatz folgend lässt sich der gesamtwirtschaftliche Wohlstand als Resultat einer Interaktion zwischen vier Wirtschaftsbereichen analysieren: der Warenwirtschaft des Privatsektors, die aus einem formalen Sektor und einem expandierenden informellen Sektor besteht, der staatlichen Dienstleistungsökonomie, der care economy, in der familien- und gemeinwesenorientierte Güter erzeugt werden sowie den NGOs mit einem bezahlten und einem auf unbezahlte Volontärarbeit basierenden Sektor. Der erste Schritt auf dem Weg zu einer anderen gesellschaftlichen Prioritätensetzung wäre deshalb ein alternatives Verständnis von Makroökonomie. Dies bedeutet von der Prämisse auszugehen, dass alle makroökonomischen Entscheidungen auf einem Terrain von gesellschaftlichen Strukturen und den damit verbundenen Verteilungsinteressen und -konflikten ausgehandelt werden. Ein Beispiel für ein Instrument feministischer Makroökonomie sind geschlechtergerechte Haushalte.
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Gender Budgets Status- und Einkommensunterschiede zwischen Frauen und Männern sind nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Diskriminierung zu beanstanden, es entstehen auch gesamtgesellschaftliche Kosten (vgl. Budlender/Elson/Hewitt/Mukhopadehyay 2002). Feministische Ökonominnen haben in ihren jüngsten Arbeiten sehr deutlich gezeigt, dass die Geschlechterungleichheit gesamtgesellschaftliche Ziele der makroökonomischen Politik konterkarieren kann. Dies ist der Fall, wenn ein restriktiver Zugang zu Bildung und Ausbildung, das Fehlen von Kindertagesstätten und sozialen Diensten sowie die Diskriminierung beim Zugang zu und bei der Kontrolle über finanzielle Ressourcen die Entwicklung des Human- und Sozialkapitals von Frauen und deren Aufstiegschancen beeinträchtigen. Die Erkenntnisse der feministischen Makroökonomie haben zu der Forderung geführt, stärkeren Einfluss auf Wirtschafts- und Finanzpolitik auszuüben. Die Gender-Budget-Initiative, die 1984 in Australien begann, ist weltweit ein wichtiges finanzpolitisches Instrument geworden, um die Auswirkungen des Staatshaushaltes auf verschiedene Gruppen von Frauen und Männern zu bewerten. Sie geht von der Prämisse aus, dass das gesamte Haushaltsbudget sowie seine einzelnen Bestandteile unterschiedliche Auswirkungen auf Frauen und Männer haben. Ziel dieser Initiative ist es, Budgetanalysen nach Geschlecht aufzuschlüsseln und sicherzustellen, dass Frauen den gleichen Zugang zu öffentlichen Mitteln erhalten wie Männer. Zentrale Fragestellungen der Initiative sind dabei die folgenden: Wer profitiert von Staatsausgaben? Wie fördern Veränderungen des öffentlichen Haushaltes und der Steuerpolitiken bestimmte Tätigkeitsbereiche? Wer trägt die Hauptlast dieser Veränderungen? Geschlechtergerechte Staatshaushalte sind jedoch keine separaten Budgets für Frauen. Es geht in diesen Initiativen weniger um spezielle Frauen- und Frauenförderungsprojekte, die nur wenige Prozentpunkte eines Budgets ausmachen, sondern um den scheinbar geschlechtsneutralen Hauptstrom der Budgetausgaben, der nach sozial-gerechten und nachhaltigen Kriterien auf die folgenden drei Bereiche überprüft werden soll: die geschlechtsspezifische Zuwendung, die geschlechtsspezifischen Auswirkungen der zentralen Ausgaben in allen Sektoren und Leistungen sowie die Begutachtung der Gleichstellungspolitik und Zuwendung im Öffentlichen Dienst. In vielen Ländern wirkt sich die Mitbestimmung über öffentliche Mittel in einem partizipativen Prozess „von unten“ sehr positiv auf die Situation von Armen und Frauen aus. Dies gilt nicht nur, weil Frauen selbst Prioritäten definieren können, sondern auch weil das allgemeine „Empowerment“ von Frauen durch die Mitbestimmung von Frauen in wirtschaftspolitischen Belangen gestärkt wird. Die positiven Erfahrungen mit partizipativen Budgets in Brasilien und Südafrika zeigen, dass dieser Ansatz ein hohes Entwicklungspotenzial hat (vgl. Floro 2002). Das Neue und Brisante an dem geschlechtergerechten Haushalts-Ansatz ist, dass er nicht mehr vom Nachkriegsmodell einer Expansion der Staatsausgaben ausgeht und einer Konzeption von Förderung von „Randgruppen“. Vielmehr soll mit dem geschlechtergerechten Budget-Ansatz das ganze Budget sinnvoll und gerecht verteilt werden. Dazu gehört auch die Forderung nach einer Stärkung von öffentlichen Gütern (Public Goods), welche die notwendigen Rahmenbedingungen für soziale, gendergerechte und ökologische Nachhaltigkeit wirtschaftlicher Entwicklung darstellen. Wohlhabende Menschen können sich grundlegende öffentliche Güter wie Bildung und ärztliche Versorgung leicht privat kaufen, womit sie das Interesse an der öffentlichen Finanzierung dieser Güter verlieren. Von ökologischen und sozialen Katastrophen, von Krisen und sozialer Zerrüttung, den sog. Public Bads, können sie sich jedoch nicht „loskaufen“. Für deren Eindämmung sind sie auf öffentliche Finanzen angewiesen. Auf internationaler sowie auch auf nationaler Ebene sind jedoch Mittel für die Bekämpfung von Krisen noch immer einfacher zu akquirieren als für die Bereitstellung von öffentlichen Gütern im Bereich der Bildung, der Gesundheitsvorsorge oder der nachhaltigen Energieversorgung (vgl. Kaul 1999). Die systematische Formulierung und Implementierung eines geschlechtergerechten Haushaltes kann dazu beitragen, eine Kosten-Nutzen-Berechnung von Public Bads versus Public Goods innerhalb einer erweiterten Input-Output-Berechnung (inklusive der Versorgungsökonomie) aufzustel-
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len, die den gesamtgesellschaftlichen Nutzen des Budgets analysiert. Die traditionelle Auffassung, dass Budgets geschlechtsneutral sind, stellt nicht nur die Gleichstellung zwischen den Geschlechtern in Frage, sondern läuft auch Gefahr, dass wirtschaftliche und soziale Zielsetzungen der Budgetpolitik verfehlt werden. Denn ein Budget, das Geschlechterverhältnisse berücksichtigt, ist ökonomisch insofern sinnvoll, weil es damit wirksamer zur Wirtschafts- sowie zur sozialen Entwicklung eingesetzt werden kann.
Offene Fragen Die Forschung über die Zusammenhänge von ökonomischer Globalisierung und Gender hat gerade erst begonnen. Analysen, die die globalen Ungleichzeitigkeiten und Widersprüche mit den dramatischen weltumspannenden Veränderungsprozessen mit geschlechtsspezifischer, klassen- und ethnischer Diskriminierung verbinden, sind dabei dringend erforderlich. Vordergründig in den Analysen sollten die strategischen Veränderungen sein, die die gegenwärtige Phase der globalen Ökonomie prägen. Sassen weist zu Recht darauf hin, dass die gegenwärtige Entwicklungsphase der Weltwirtschaft durch grundlegende Wandlungen und eine neue Dynamik charakterisiert wird. Um zu erfassen, ob und in welchem Maße die Geschlechterfrage bei den strategischen Dynamiken und Veränderungen eine Rolle spielt und wie eine feministische Analyse gegebenenfalls auszurichten ist, wäre es sinnvoll, die Abweichung der gegenwärtigen Periode von den vorangehenden Phasen der Weltwirtschaft stärker herauszuarbeiten. Es wäre der Frage nachzugehen, auf welche Weise die Transformation des derzeitigen Industriekapitalismus in den unterschiedlichen Weltregionen zu einem neoliberalen Weltwirtschaftsmodell mit der Konstituierung von geschlechtsspezifischen Herrschaftssystemen und neuen Genderregimen verbunden ist (vgl. Young 1998). Dieser Ansatz integriert das Grundanliegen des Südens, die strukturellen Veränderungen der wirtschaftlichen und politischen internationalen Ungleichheiten und die Anerkennung der „eigenen Geschlechterkultur“ zu thematisieren (vgl. Lenz 2000). Dringender Forschungsbedarf besteht des Weiteren hinsichtlich der Auswirkungen der weltweiten Liberalisierung von Dienstleistungen. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Wasser- und Energieversorgung sowie der Gesundheits- und Bildungsbereich diesem Liberalisierungsdruck verstärkt ausgesetzt sind, ist eine Analyse möglicher genderspezifischer Implikationen sowohl für Industrie- als auch für Entwicklungsländer erforderlich (vgl. Hochuli 2002, Deutscher Bundestag 2002). Wichtig sind in diesem Zusammenhang auch Analysen zu den neuen internationalen AkteurInnen und der sozialen Gestaltung der Globalisierung. Internationale Frauenbewegungspolitik, die sich besonders in den Kooperations- und Partizipationsansätzen von Global Governance manifestieren, hat sich zu einer globalen Politik entwickelt (vgl. Ruppert 2002). So erscheint Frauenbewegungspolitik zum ersten als „ungewollte Tochter“ (Wichterich 1998) der Globalisierung. In ihrer heutigen Form ist sie entstanden aus einer diffusen Mischung aus einerseits Gegenreaktionen gegen die vielfältigen Emanzipationshindernisse, Ungerechtigkeiten und Polarisierungen der Globalisierung und andererseits der Fähigkeit, sich Teilaspekte der Globalisierung wie die neuen Kommunikationstechnologien oder globale Politikprozesse wie die Weltkonferenzen der 1990er Jahre zu Nutze zu machen. Zum zweiten entsteht jenseits des Reagierens auf die Realitäten ökonomischer Globalisierung im Prozess politischer Globalisierung aber auch neuer Raum für die Artikulierung von zentralen Anliegen globaler Frauenpolitik. Dass mit der zunehmenden Bedeutung von NGOs erhebliche politische Risiken verbunden sind, zeigen erste Studien, die mit der griffigen Formel „vom Protest zur kritisch begleitenden Politikberatung“ umschrieben werden (Ruppert 2001). Anmerkung: Der Abschnitt „Die Auswirkungen von Finanzkrisen auf Frauen“ basiert in Auszügen auf Young, Brigitte 2002: Entwicklungsfinanzierung, Finanzkrisen in Asien und die „Feminisierung der Menschlichen Sicherheit (human security). In: femina politica, 11. Jg. Heft 1/2002, S. 38-48. Der Abschnitt „Globaler Frauenhandel“ basiert in Auszügen auf Young, Brigitte 2002: Entwicklungsfinanzierung, Fi-
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nanzkrisen in Asien und die „Feminisierung der Menschlichen Sicherheit (human security). In: femina politica, 11. Jg. Heft 1/2002, S. 38-48.
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Edith Kuiper
Ökonomie: Feministische Kritik mikro- und makroökonomischer Theorien und Entwurf alternativer Ansätze
Grundlagen feministischer Ökonomie Feministische Wirtschaftswissenschaftlerinnen haben länger als Wissenschaftlerinnen aus anderen Fachdisziplinen gebraucht, um sich von herrschenden Vorstellungen frei zu machen. Einer der Gründe hierfür könnte in der Dominanz der Mainstream-Ökonomie liegen, die zunehmend bestimmt, was als ökonomische Theorie gelten darf und die allen, die den orthodoxen Theorierahmen verlassen, den Status als Wirtschaftswissenschaftlerin abzusprechen droht. Feministische Arbeiten zu ökonomischen Problemen, etwa zur Situation von Frauen am Arbeitsmarkt, zur Rolle der Hausarbeit in der kapitalistischen Wirtschaft sowie zu den Auswirkungen entwicklungspolitischer Maßnahmen auf die (ökonomische) Situation von Frauen wurden deshalb zunächst außerhalb der hier betrachteten Wirtschaftswissenschaften, insbesondere in der politischen Ökonomie, der Soziologie, den politischen Wissenschaften und der Geschichte durchgeführt. Zu nennen sind insbesondere die Hausarbeitsdebatte, die Auseinandersetzung mit der Marxschen Tradition einschließlich strukturalistischer Positionen, die Analysen zum Verhältnis von ökonomischer und sozialpolitischer Bestimmung des Geschlechterverhältnisses sowie zur Frauenökonomie im internationalen Rahmen (u.a.: Beer 1984, 1991; Heise 1986). Auf diese Arbeiten gehe ich hier ebenso wenig ein wie auf feministische Ansätze aus der Betriebswirtschaft, insbesondere der Personalwirtschaft, sondern beschränke mich auf die im Rahmen der Wirtschaftswissenschaften (Volkswirtschaftslehre) geführte Diskussion mit einem Schwerpunkt auf der im Kontext der Internationalen Finanzinstitutionen (Weltbank, Internationaler Währungsfond) entwickelten Kritik. Durch den geringen Status, den interdisziplinäre Arbeit in den Wirtschaftswissenschaften hat, sind auch die Kontakte und Kooperationen zwischen feministischen Wirtschaftswissenschaftlerinnen und der Frauenforschung in anderen Gebieten relativ spärlich. Dabei könnte einerseits eine stärkere interdisziplinäre Ausrichtung die feministischen Wirtschaftswissenschaften stärken und andererseits könnte die feministische Wirtschaftswissenschaft neue Perspektiven zu aktuellen ökonomischen Fragen, wie z.B. zu Globalisierungsprozessen und zur Rolle internationaler Finanzinstitutionen, beitragen. In den 1960er bis 1980er Jahren wurde zunächst im Rahmen bestehender Theorien, z.B. der neoklassischen Theorie von Wirtschaftswissenschaftlern wie Gary Becker (1965, 1981) und Jacob Mincer (1962), Forschungen zur „Frauenfrage“ durchgeführt, um z.B. die Erwerbsbeteiligung von Frauen und die unterschiedliche Entlohnung von Frauen und Männern zu erklären. Die Theorien und Methoden selbst wurden dabei jedoch nicht in Frage gestellt. Erst Ende der 1980er Jahre kritisierten Wirtschaftswissenschaftlerinnen wie Julie Nelson (1992), Diana Strassmann (1993), Frederike Maier (1993) und Ulla Regenhardt (Regenhard/ Maier/Carl 1994) ökonomische Grundkonzepte und das Wissenschafts- und Methodenverständnis der Ökonomie als androzentrisch. In 1993 organisierte eine Gruppe von Doktorandinnen an der Universität Amsterdam die erste internationale Konferenz über feministische Wirtschaftswissenschaften („Out of the Margin. Feminist Perspectives on Economic Theory“). Feministische Wirtschaftswissenschaftlerinnen aus einer Reihe von Ländern (z.B. Brasilien, China, USA, Nigeria und Finnland) machten u.a. deutlich, dass die Mainstream-Ökonomie ein sexistisches Frauenbild und
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die geschlechtsspezifische, hierarchische Arbeitsteilung als einen grundsätzlichen hierarchischen Dualismus zur Grundlage hat (vgl. Kuiper/Sap 1995, Ferber/Nelson 1993, Nelson 1995, Ferber/ Nelson 2003, Maier 2000, Regenhard 1998, Hoppe 2002, 2004). Ausgehend von der in diesen Diskussionen entwickelten Kritik an den Annahmen der Mainstream-Ökonomie hat sich inzwischen auf vielen Teilgebieten eine feministische Wirtschaftswissenschaft herausgebildet. Diese bezieht sich insbesondere auf Datenkonstruktion, Anwendung und Entwicklung von Methoden, Modellen, Konzepten und Theorien, auf die Entwicklung sozialpolitischer Konzepte sowie auf Philosophie und Geschichte der Wirtschaftswissenschaften. Zu den wichtigsten Gebieten der feministischen Wirtschaftswissenschaften gehören: –
Arbeitsmarktforschung (z.B. geschlechtsspezifisch unterschiedliche Erwerbsbeteiligung und Entlohnung), – Entwicklungsökonomie (z.B. geschlechtsspezifisch unterschiedliche Auswirkungen von makroökonomischer Politik, Welthandel und internationaler Entwicklung), – Ökonomie der Versorgungsarbeit (z.B. Konzeptualisierung von Pflege- und Versorgungsarbeit, Fragen der Kinderbetreuung), – Messung von unbezahlter Arbeit (z.B. Definition, Konzeptualisierung und Messung von unbezahlter Arbeit mit Hilfe von Zeitverwendungsstudien, Einbeziehung der unbezahlten Arbeit in die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung und die Wohlfahrtsindikatoren). Diese Forschungsgebiete und Diskussionen hängen eng miteinander zusammen und tragen gemeinsam zur Entwicklung einer neuen Sicht auf die Ökonomie bei, die den Fokus nicht mehr ausschließlich auf Märkte und Erwerbsarbeit richtet, sondern auch den Wert unbezahlter Arbeit und Versorgungsarbeit, das Verhältnis von marktlichen und nicht-marktlichen Aktivitäten sowie die Rolle, die das Geschlecht für das ökonomische Verhalten, die Ausgestaltung von Politik und die ökonomische Theoriebildung spielt, einbezieht.
Neoklassische mikroökonomische Modelle: das Beispiel der „Neuen Haushaltsökonomie“ (New Home Economics) Als Reaktion auf die zunehmende Erwerbsbeteiligung von Frauen, die aufkommende Frauenbewegung und das Fehlen von Theorien, die die zunehmende Präsenz von Frauen auf dem Arbeitsmarkt und die unterschiedliche Entlohnung von Frauen und Männern erklären konnten, entwickelte Gary Becker in den 1960er Jahren ein mikroökonomisches Modell als Grundlage der so genannten „Neuen Haushaltsökonomie“. Dieses Modell wird noch heute von der Weltbank als Grundmodell zur Konzeptualisierung des ökonomischen Verhaltens von Haushalten benutzt. Becker (1965, 1981) sieht die Familie als eine Einheit, in der die erwachsenen Familienmitglieder rationale Entscheidungen mit dem Ziel der Nutzenoptimierung für die Familie treffen. Zeit wird auf Arbeit, Haushalt und Freizeit aufgeteilt. Güter werden entweder gekauft oder zu Hause produziert. Erwerbsarbeit und unbezahlte Arbeit werden nach ihren komparativen Vorteilen aufgeteilt: Die Person mit der höchsten Produktivität auf dem Markt (dem höchsten Einkommen) spezialisiert sich ganz auf die Erwerbsarbeit, die andere konzentriert sich voll oder teilweise auf die Hausarbeit. Das Modell hat sein effizientestes Ergebnis dann, wenn sich mindestens ein Haushaltsmitglied ganz auf die Erwerbsarbeit spezialisiert (vgl. Becker 1981). Beckers Modell ist eindeutig biologistisch-essentialistisch, da er Frauen aus biologischen Gründen auf Hausarbeit orientiert sieht und die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung nicht in Frage stellt, sondern stattdessen die zunehmende Erwerbsbeteiligung von Frauen für eine Bedrohung der Familie hält (Becker 1981). Da in dem Modell die geschlechtshierarchischen, familieninternen Machtverhältnisse unberücksichtigt bleiben und nur der Gesamtnutzen des Haushalts, nicht aber die individuellen Interessen der Familienmitglieder betrachtet werden, hat das Modell zum Ergebnis,
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dass die traditionelle Familie, in der der Mann der Hauptverdiener ist, die größte Effizienz aufweist. Notburga Ott (1992, 1993, 1995) kritisiert Becker und vertritt einen Ansatz, der auch Aushandlungsprozesse und die Möglichkeit der Ehescheidung einbezieht. Sie weist darauf hin, dass die volle Spezialisierung der Frauen auf die Hausarbeit ihre Position auf dem Arbeitsmarkt und damit ihre Verhandlungsposition innerhalb der Familie schwächt. Berücksichtigt man die Möglichkeit der Ehescheidung, kann nach Otts Meinung die volle Spezialisierung auf Hausarbeit nicht als rationales Verhalten erklärt werden (zur Kritik von Becker siehe auch Beer 1991, Hoppe 2002, Gustafsson 1997). Die unterschiedlichen Arbeitseinkommen von Frauen und Männern werden in der ökonomischen Forschung oft mit Hilfe der „Humankapitaltheorie“ erklärt. In dieser Theorie wird unterstellt, dass das Humankapital zum Zeitpunkt des Eintritts in den Arbeitsmarkt von der Begabung und der Ausbildung abhängt und durch berufliche Erfahrung wächst. Je höher das Humankapital, desto höher das Arbeitseinkommen, weshalb berufliche Erfahrung sich in höherem Einkommen auszahlt, Berufsunterbrechungen dagegen zu Einkommensminderungen bei Wiederaufnahme der Erwerbsarbeit führen. In einigen Modellen wird darüber hinaus unterstellt, dass bei Frauen der Zuwachs an Humankapital durch Erwerbstätigkeit umso geringer ist, je mehr Kinder sie haben. Bei Männern wird dagegen kein solcher Zusammenhang angenommen. Feministische Wirtschaftswissenschaftlerinnen haben diese ökonomischen Modelle angewendet, um die Frauendiskriminierung auf dem Arbeitsmarkt zu belegen (Schubert 1993, 1997), aber auch angepasst und kritisiert (zur Kritik siehe Regenhardt/Fiedler 1994, Symma 1995) und zugleich alternative Modelle wie das der „segregierten Arbeitsmärkte“ (vgl. Bergmann 1974) entwickelt. Die Humankapitaltheorie wurde kritisiert, weil sie den Prozess der Diskriminierung nicht direkt untersucht, und der Ansatz der Neuen Haushaltsökonomie, weil er die familieninternen Machtverhältnisse und Aushandlungsprozesse vernachlässigt. Um Einblick in die dynamischen Prozesse innerhalb von Haushalten und zwischen Haushalten zu gewinnen, muss mit geschlechterbezogen disaggregierten Daten gearbeitet und die Rolle der unbezahlten Arbeit von Frauen bei ökonomischen Entscheidungen und Ergebnissen anerkannt werden (vgl. z.B. Elson 1995, Waring 1988).
Makroökonomische Theorien: das „Harrod-Domar-Modell“ und das „Australian Model“ Von feministischen Wirtschaftswissenschaftlerinnen kritisiert wurden auch die makroökonomischen Modelle, die von der Weltbank für ihre Modellierungen benutzt werden. Auf zwei dieser Modelle wird im Folgenden eingegangen: Auf das „Revised Minimum Standard Model“ (RMSM), das auf dem „Harrod-Domar-Wachstumsmodell“ beruht, und auf das „Australian Model“ oder „Open Economy Model“ (Elson 1995, Pouw 1995). Das Harrod-Domar-Modell ist ein Modell zur Darstellung des Zusammenhangs von Wirtschaftswachstum, Höhe der Ersparnisse bzw. Sparquote (Anteil der Ersparnisse am Einkommen) und Zunahme des Outputs im Verhältnis zum zusätzlich eingesetzten Kapital (Kapital-OutputRelation). Das bereits in den 1930er Jahren entwickelte Modell wird dazu genutzt, um die für eine gewünschte Wachstumsrate bei einer gegebenen Produktivität des investierten Kapitals notwendige Spar- und Investitionsquote zu ermitteln, wobei die Notwendigkeit von Importen vorausgesetzt wird. Eine Grundannahme des Modells ist, dass alle verfügbaren Kapazitäten auch genutzt werden. Gibt es in einem Land nicht genug Ersparnisse oder Devisenreserven, kann eine Finanzhilfe nötig sein, um Wachstum herbeizuführen. Das Konsumniveau ergibt sich als Restgröße (Einkommen minus notwendiger Ersparnis). Zur Verteilung des Einkommens werden keine Annahmen getroffen. Im Kern ergibt das Modell, dass die Wachstumsrate umso höher ist, je höher die Sparrate. Das „Australian Model“ oder „Open Economy Model“ beruht auf der Theorie des komparativen Vorteils, die besagt, dass sich Länder auf diejenigen Bereiche bzw. auf die Nutzung derjenigen
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Produktionsfaktoren spezialisieren sollten, bei denen sie vergleichsweise niedrige Kosten haben, und die Waren importieren, die sie nur mit (relativ) hohen Kosten herstellen können. Das Modell beruht also auf dem gleichen Prinzip, das Becker in seinem Haushaltsmodell anwendet, um die Spezialisierung von Haushaltsmitgliedern theoretisch zu fassen. Das „Open Economy Model“ unterscheidet zwischen handelbaren und nicht-handelbaren Gütern und Dienstleistungen. Die Preise von handelbaren Gütern (und Dienstleitungen) werden auf dem Weltmarkt bestimmt, die Preise von nicht-handelbaren Gütern im Inland. Im Gleichgewichtszustand gibt es eine spezifische Preisrelation zwischen den Preisen der handelbaren und der nichthandelbaren Güter (P = P1 / P2). Das Modell wird z.B. dazu benutzt um zu erklären, was im Fall von ausländischer bzw. internationaler Finanzhilfe geschieht. Wenn die Menschen aufgrund von ausländischer Hilfe mehr konsumieren können, werden die nicht-handelbaren Güter knapp (handelbare Güter gibt es immer genug, da diese auf dem Weltmarkt gekauft werden können), was dazu führt, dass der Preis der nicht-handelbaren Güter steigt, worauf mehr nicht-handelbare Güter produziert werden (da es sich nun für mehr Unternehmen lohnt, sich auf diesem Markt zu engagieren). Nach dem Modell ist nun die Relation von handelbaren und nicht-handelbaren Gütern im Ungleichgewicht, es gehen zu viele Ressourcen in die Produktion von nicht handelbaren Gütern und zu wenig in die Produktion von handelbaren Gütern. Dies ist in vielen Entwicklungsländern ein Problem, eine häufig vorgeschlagene Lösung besteht darin, die handelbaren Güter und Dienstleistungen zu verteuern. Das wird meistens durch Abwertung der einheimischen Währung gemacht. Die feministische Kritik (siehe z.B. Elson 1995, Pouw 1995, Beneria 1995, 2003) an diesen Modellen bezieht sich auf die Nichtbeachtung von Verteilungswirkungen, obwohl die Politik, die auf diesen Modellen basiert, durchaus Auswirkungen auf das Verhältnis der Staats- und Privatausgaben und auf die Einkommensverteilung hat, vor allem wenn Staatsausgaben gekürzt und Märkte liberalisiert werden, um eine stärkere Exportorientierung der betreffenden Volkswirtschaften zu erreichen. Auch die Annahme der voll genutzten Kapazitäten im „Harrod-Domar-Modell“ wird als wenig realitätsgerecht kritisiert, genauso wie die Tatsache, dass bestimmte Parameter in diesen Modellen als unabhängig betrachtet werden, obwohl sie möglicherweise voneinander abhängig sind. So können staatliche und private Investitionen so miteinander verknüpft sein, dass sich eine Kürzung der Staatsausgaben unmittelbar negativ auf die privaten Investitionen auswirken kann. Problematisiert wird auch, dass der Konsum nur als Restgröße angesehen wird. Aus geschlechtsspezifischer Sicht ist vor allem zu kritisieren, dass die Modelle das komplementäre Verhältnis von Staat und Privatsektor unberücksichtigt lassen. Tatsächlich dienen Staatsausgeben oft zur Unterstützung der gesellschaftlichen Reproduktion und damit der Produktivität des Privatsektors (Elson 1995: 1856). Außerdem hängen die Effekte von Investitionen oft davon ab, für wen sie eingesetzt werden. Investitionen in die Gruppe der Frauen führen eher zu besserer Kindergesundheit und -ernährung als Investitionen in die Gruppe der Männer (vgl. World Bank 1990). Die Unsichtbarkeit der unbezahlten Arbeit von Frauen ist in den meisten, wenn nicht in allen heutigen ökonomischen Modellen ein Problem, im „Open Economy Model“ ebenso wie im „Harrod-Domar-Modell“. Hinzu kommt, dass Investitionen und Output in Gestalt von gesellschaftlicher Reproduktion, die nicht in Geld umsetzbar sind, in den zu Grunde gelegten Statistiken oder in den Modellen selbst nicht berücksichtigt werden. Dies hat zur Folge, dass sich Verlagerungen, die zu größerer Ungleichheit im Geschlechterverhältnis führen, als Verbesserung der Kapitalproduktivität (Kapital-Output-Verhältnis) niederschlagen und als Wirtschaftswachstum gedeutet werden können. Ein weiteres Problem besteht darin, dass die Modelle von einer vollständigen Zeitelastizität bei Frauen ausgehen, was bedeutet, dass Verlagerungen der Produktivität auf den unbezahlten Sektor nur als Ausgabenkürzungen bewertet und die Auswirkungen auf die Zeit der Frauen nicht berücksichtigt werden. Die allgemeine Tendenz ist, Frauen in die Lage zu versetzen, am Erwerbssektor teilzuhaben, ohne die Auswirkungen auf ihre unbezahlte Arbeit und ihre Ansprüche zu berücksichtigen. Dies kann jedoch verheerende Langzeiteffekte haben, z.B. wenn Mädchen aus der Schule genommen werden, um die unbezahlte Arbeit ihrer Mütter zu übernehmen. Laut Elson (1995) wird sogar in Modellen, die durchaus mit geschlechterbezogen disaggregierten Daten arbeiten, kein Ver-
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such unternommen, Arbeit aus der Sicht von Frauen zu betrachten und nach Möglichkeiten einer Veränderung zu suchen.
Zur Anwendung dieser Modelle im Entwicklungsprozess Die vorgestellten Modelle sind von Regierungen und internationalen Institutionen wie der Weltbank (WB) und dem Internationalen Währungsfond (IWF) als Grundlage von Wirtschaftspolitik und Armutsbekämpfung weltweit angewendet worden. Diese Anwendung, die Ausgestaltung und Umsetzung von Entwicklungspolitik und die Auswirkungen, die dies auf Frauen (und Männer) hatte, wurde von feministischen, aber auch von vielen anderen Wirtschaftswissenschaftlerinnen scharf kritisiert. Diane Elson (1991) unterscheidet in ihrer Studie „Male Bias in the Development Process“ drei zentrale Verzerrungen (Bias) zugunsten von Männern: – Männer-Bias die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung betreffend: In der Mehrzahl der Fälle wird nicht berücksichtigt, dass bestimmte Aufgaben als ‚Frauenarbeit’ und andere als ‚Männerarbeit’ betrachtet werden, obwohl diese geschlechtsspezifische Zuordnung dazu führt, dass sich wirtschaftspolitische Maßnahmen in den meisten Fällen unterschiedlich auf Frauen und Männer auswirken. – Männer-Bias die unbezahlte Hausarbeit betreffend: Die von Frauen im Haushalt geleistete Arbeit wird ausgeklammert, weil sie unbezahlt ist und (daher) nicht gemessen und als produktiv angesehen wird. – Männer-Bias den Haushalt betreffend: Der Haushalt wird im Allgemeinen als die kleinste ökonomische Analyseeinheit angesehen. Damit bleibt die familieninterne Dynamik unberücksichtigt. Eine Verlagerung der durch schwächeres Wirtschaftswachstum verursachten Lasten auf die Familie, etwa durch Kürzungen von Staatsausgaben, kann unterschiedliche Auswirkungen auf Frauen und Männer haben, da die Verhandlungspositionen von Frauen und Männern in der Familie unterschiedlich sind (vgl. Woestmann 1994: 11, Pouw 1995: 15f). Diese Verzerrungen haben zu einer fehlgeleiteten Politik geführt, die in vielen Fällen die ökonomische Position von Frauen letztlich nicht verbessert, sondern verschlechtert hat (vgl. Beneria 2003). Dazu einige Erläuterungen zur Funktionsweise der Politik von Weltbank und Internationalem Währungsfond (IWF). Wenn ein Land finanzielle Probleme hat und sich wegen eines Darlehens an den IWF oder die Weltbank wendet, konzentriert sich der IWF auf Finanzplanung und Ausgabenkürzungen, um die Ausgaben in einem Land in Übereinstimmung mit den vorhandenen Mitteln zu bringen. Die Weltbank pumpt Darlehen und Finanzhilfe hinein, um wirtschaftliches Wachstum herbeizuführen und die Wirtschaft zu beleben. Der Grundgedanke dabei ist, dass die Schaffung von markwirtschaftlichen Bedingungen oder die Befreiung der Märkte von zu starken staatlichen Regulierungen und Staatseingriffen zu wirtschaftlichem Wachstum führt. Im so genannten „Washington Consensus“ einem von der US-Regierung, der Weltbank, dem IWF und der Welthandelsorganisation getragenen, kohärenten System von ökonomischen Konzepten und Wirtschaftspolitik galt die „freie Marktwirtschaft“ als effizientes Instrument der Armutsbekämpfung. Das Rezept, um die Märkte in die Lage zu versetzen, reibungslos zu funktionieren und Angebot und Nachfrage zusammenzubringen, besteht in der Minimierung der Staatseingriffe, um so den Markt zu stützen und Preisverzerrungen zu beseitigen. Diane Elson (1995) stellt in ihrem Beitrag in der Sonderausgabe der Zeitschrift „World Development“ fest, dass dieser Ansatz zwar manchmal funktionieren kann, die Minimierung staatlichen Handelns jedoch in vielen Fällen zu einem Rückgang der öffentlichen Investitionen führt, ohne dass Investitionen aus dem Ausland oder dem Privatsektor diese ersetzen. Die daraus folgende Knappheit an Dienstleistungen geht größtenteils zu Lasten der Frauen, die den Wegfall durch mehr unbe-
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zahlte Reproduktionsarbeit ausgleichen müssen bzw. deren Reproduktionsarbeit weniger unterstützt wird. Mehr Markt führt nicht immer dazu, dass Menschen mehr produzieren, und mehr Investitionen führen nicht immer zu mehr Investitionen in Menschen. Und auch wenn die Investitionen zunehmen und zu steigender Beschäftigung und mehr Konsum führen, so heißt dies auch, dass mehr Menschen und mehr Tätigkeiten der Profitmaximierung und den Kräften des Marktes unterworfen werden (vgl. Elson 1995: 1835), was in vielen Fällen eine einseitige Abhängigkeit der ArbeiterInnen vom Großkapital bedeutet. Zunehmende Frauenerwerbstätigkeit in „Export Processing Zones“ (EPZ) geht oft mit der Vernichtung alternativer Beschäftigungsmöglichkeiten für Frauen, aber auch für ihre Väter, Brüder und Männer einher. Forderungen nach höheren Löhnen ziehen häufig einen Produktionsrückgang nach sich, da Großunternehmen ihre Produktion auslagern (vgl. Elson 1995, Seguino 2004).
Neuere makroökonomische Ansätze Seit 1998 hat sich die Politik der Weltbank in relevanten Punkten verändert: Berücksichtigt werden nun auch die Unvollkommenheiten von Märkten, die Rolle von Informationen, Risiken, Vertrauen, Institutionen und Werten. Dieser so genannte „Post-Washington Consensus“, angeregt von Joseph Stiglitz (1998) ist in seiner Konzeptualisierung von sozialem Zusammenhalt, Humankapital und Sozialverhalten umfassender. Er erkennt die Kosten von Transaktionen und begrenzter Information an und begreift Institutionen als eine effiziente Lösung für diese Probleme, vertraut also nicht mehr blind und einseitig nur den Marktkräften. Douglas North (1990), ein Vertreter dieses Ansatzes der so genannten „Neo-Institutional Economics“ unterscheidet zwischen formalen Institutionen (Regeln, Normen usw.) und informellen Institutionen (Traditionen, Bräuche und andere nichtformalisierte Verhaltensnormen). Außerdem benennt er Organisationen, in denen sowohl formale als auch informelle Institutionen das Verhalten regulieren und unterschiedliche Beschränkungen für Frauen und Männer festlegen. „Definiert man Institutionen als Beschränkungen, die sich die Menschen selber auferlegen, erhält man eine Definition, die sich komplementär zum Rational-ChoiceAnsatz der neoklassischen Wirtschaftstheorie verhält. Die Entwicklung einer Theorie der Institutionen, die auf individuellen Entscheidungen aufbaut, ist ein Schritt zum Ausgleich der Differenzen zwischen der Ökonomie und den anderen Sozialwissenschaften“ (North 1990: 5). Feministische Kritikerinnen wie Suzanne Bergeron (2004) und andere Kritiker wie Ben Nicolas Guilhot (2004) und Fine/Lapavitsas/Pincus (2001) geben jedoch zu bedenken, dass der neoinstitutionalistische Ansatz zwar mehr Raum für ein breiteres Spektrum von Einflussfaktoren bietet, die Grundvorstellungen von profitmaximierenden Individuen und von der Rolle konkurrenzorientierter Märkte jedoch nicht antastet.
Feministische ökonomische Modellierung bei der Weltbank 1995 veröffentlichte eine Gruppe von feministischen Wirtschaftswissenschaftlerinnen – u.a. Nilüfer Cagatay, Diane Elson und Caren Grown (1995) – eine kohärente Kritik am Männer-Bias der von der Weltbank in „World Development“ benutzten Modelle. Beneria (1995) verweist auf die negativen Auswirkungen von Strukturanpassungsprogrammen (SAP) und betont, wie wichtig die feministische Kritik an den von der Weltbank und dem IWF benutzten makroökonomischen Modellen wie auch die Konstruktion neuer, die feministischen Anliegen einbeziehender Konzepte, Modelle und Theorien ist (zur Einbettung der Ökonomie in die Entwicklungspolitik siehe auch Lachenmann/ Dannecker 2001, Lachenmann 1998). Elson (1995) gibt einen kurzen Überblick über die vier wichtigsten Ansätze zur Einbeziehung des Geschlechts in die Gestaltung makroökonomischer Politik:
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1. Einbeziehung des Geschlechts in ein makroökonomisches Modell, in dem mindestens eine der Variablen geschlechterbezogen disaggregiert wird. Zu denken wäre etwa an eine Disaggregierung von Haushaltsdaten in Daten für Frauen und Daten für Männer. 2. Betrachtung der Wirtschaft aus der Sicht von Frauen und Bestimmung fehlender Variablen. Dies würde Variablen erfordern, die zum Beispiel die Erwerbsbeteiligung von Frauen mit der Zahl der Stunden verknüpfen, in denen Frauen unbezahlte Arbeit leisten, usw. 3. Konzeptualisierung der Volkswirtschaft als einer vergeschlechtlichten Struktur. Dabei werden ökonomische Institutionen als Träger von Gender und das Geschlechterverhältnis als Faktor verstanden, der das Funktionieren der Marktwirtschaft von innen heraus beeinflusst. 4. Betrachtung des Aggregationsprozesses selbst als vergeschlechtlichtem Prozess. Dies bedeutet, die Aufmerksamkeit darauf zu richten, wie der Aggregationsprozess durchgeführt wird und wer die Entscheidung darüber fällt, was in ein Modell aufzunehmen bzw. aus ihm auszuschließen ist; d.h. Betrachtung der „Schließung“ des Modells (Elson 1995: 1851f.). Zum Wandel des Denkens und der Politik der Weltbank gehört nicht nur eine stärkere Konzentration auf die Armutsbekämpfung. Die Weltbank initiierte auch ein großes Gender-Projekt, bei dem sie mit einem breiten Spektrum von Nichtregierungsorganisationen und ExpertInnen zusammenarbeitete, um zu einer differenzierteren Konzeptualisierung von Gender-Fragen insbesondere in Bezug auf das Verhältnis von Entwicklung, Wirtschaftswachstum, (Un-)Gleichheit der Geschlechter und Armut. Das Ergebnis wurde in Form des Berichts „Engendering Development. Through Gender Equality in Rights, Resources, and Voice“ (2001) veröffentlicht. Dieser Bericht hebt den Zusammenhang zwischen Armut und Ungleichheit der Geschlechter hervor und betont, dass Armut nicht wirklich bekämpft werden kann, wenn nicht zugleich die Ungleichheit der Geschlechter bekämpft und eine geschlechterbewusst Politik gemacht wird. „Soll Entwicklung wirksam gefördert werden, müssen Gender-Fragen ein integraler Bestandteil von Analyse, Design und Implementierung von Entwicklungspolitik sein“ (ebd.: xii). Ungleichheit der Geschlechter wird als Hemmnis für wirtschaftliches Wachstum gesehen und drei wichtige Strategien zur Förderung der Geschlechtergleichheit skizziert: – –
–
Gleiche Rechte, d.h. Reformen von Institutionen, um Gleichberechtigung und Chancengleichheit für Frauen und Männer zu schaffen. Gleicher Zugang zu Ressourcen, d.h. Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung, um stärkere Anreize für mehr Gleichheit von Frauen (und Männern) beim Zugang zu und der Verfügung über Ressourcen zu schaffen. Gleiche Stimme, d.h. aktive Maßnahmen zur Beseitigung von Disparitäten bei der politischen Mitsprache.
Der Bericht definiert „Gender“ als Bezeichnung für sozial konstruierte Rollen und sozial erlernte Verhaltensweisen und Erwartungen, die mit Frauen bzw. Männern assoziiert werden. „Gleichheit der Geschlechter“ wird definiert als „gesetzliche Gleichberechtigung, Chancengleichheit und gleiche Mitsprache“ (ebd.: 2f.). Als Grundlagen der fortbestehenden Diskriminierung werden genannt: Institutionen (soziale Normen, Gesetze und Märkte), Haushalt und Familien und die Wirtschaft. Darüber hinaus sind in dem Bericht einige allgemeinere Veränderungen der Vorstellungen über das Funktionieren der Wirtschaft enthalten. Zum Beispiel wird nun die Rolle des Staates für wichtig erachtet, etwa bei der Kompensation von Marktversagen oder bei der zur Verfügungsstellung von Informationen über die Arbeitsmärkte. Der Bericht führt Diskriminierung weitgehend auf Informationsmangel zurück. Das Fehlen von Informationen z.B. über die tatsächliche Produktivität von Beschäftigten führe dazu, dass sich Unternehmen bei der Auswahl von BewerberInnen weiterhin auf Geschlechterstereotypen wie auch Stereotypen über ‚race’, Alter oder die Bedeutung von Bildungsabschlüssen stützen (ebd.: 126). Deshalb wird erwartet, dass mit der Entwicklung der Informationsmärkte und der damit verbundenen Verbilligung der Informationsbeschaffung für die Arbeitgeber Diskriminierungen abnehmen
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werden. Das klingt so, als hätte sich am Verständnis von Diskriminierung gegenüber der eingangs zitierten Auffassung von Becker nicht viel geändert – der Markt wird die Diskriminierung zum Verschwinden bringen – doch wird auch festgestellt, dass die meisten heutigen Konkurrenz- und Informationsmodelle den Einfluss unterschätzen, den Normen und Bräuche auf das Individual- und Gruppenverhalten und damit auf die Aufrechterhaltung von diskriminierendem Verhalten haben können. Normen und Traditionen, die Frauen auf „Heim und Herd“ und ihre Arbeit auf die unbezahlte Hausarbeit beschränken, sind ein wichtiger Faktor zur Erklärung von Geschlechterdifferenzen (ebd.: 127). Der Bericht betont, dass ökonomische Anreize, staatliche Investitionen und die Machtverteilung innerhalb der Familie sich auf die geschlechtsspezifisch unterschiedliche Allokation von Ressourcen und Investitionen in der Familie auswirken und schlägt statt dem traditionellen Modell, in dem der Haushalt als die ökonomische Grundeinheit angesehen wird, ein Aushandlungsmodell vor, das die Position von Frauen innerhalb und außerhalb der Familie berücksichtigt. Dies ist ein wesentlicher Fortschritt und ernsthafter Versuch, die neuesten (feministischen) ökonomischen Konzepte zu integrieren. Zu einer umfassenden Analyse und Diskussion über den Beitrag, den dieser Bericht zu einer gendersensiblen Herangehensweise an ökonomische Entwicklung leistet, vgl. Kuiper/Barker 2006. All dies jedoch bewegt sich durchaus noch innerhalb des allgemeinen theoretischen Bezugsrahmens der Weltbank (und des IWF und der Welthandelsorganisation), in dem das wirtschaftliche Wachstum die zentrale Größe und der Markt das wichtigste Mittel ist, dieses Wachstum herbeizuführen. Die unbezahlte Arbeit von Frauen wird nicht bewertet, gemessen oder konzeptualisiert, es sei denn als soziales Kapital in seiner Funktion für das Marktverhalten – trotz der im Weltentwicklungsbericht 2000 nachzulesenden Aussage, dass eine stabile, mit wohlüberlegter Steuer- und Geldpolitik gesteuerte Makroökonomie eine wesentliche Hintergrundbedingung für die Entwicklungspolitik nach diesem neuen Ansatz bildet. Zu einer stabilen makroökonomischen Umgebung gehört auch die „andere Hälfte der Bilanz“ (World Bank 2000: 21). Obwohl bei der Integration von Gender in die von der Weltbank zu Gender-Fragen benutzten Modelle wesentliche Fortschritte gemacht wurden, bleibt die allgemeine makroökonomische Politik bisher unverändert.
Ausblick Bis jetzt hat sich die Kritik feministischer und anderer WirtschaftswissenschaftlerInnen auf die Herangehensweise der Weltbank an Gender-Fragen konzentriert. Es wird jedoch immer klarer, dass Gender-Fragen zwar zunehmend Eingang in die Aushandlung und Ausgestaltung der Politik finden, die auf wirtschaftliche Stabilität und Wirtschaftswachstum ausgerichtete makroökonomische Politik selbst aber nicht angetastet wird. Doch gibt es Anzeichen, die auf eine Veränderung hindeuten. Der IWF hat selbst angekündigt, dass Gender-Fragen in seiner Politik stärker berücksichtigt werden sollen. Auch in der WTO wächst das Interesse hieran. Daraus ergibt sich eine Aufgabe für die feministischen Wirtschaftswissenschaftlerinnen, da sie ihre Kritik konkretisieren und kritische Behauptungen mit ökonomischen Daten und wirtschaftswissenschaftlicher Forschung untermauern können. Das heißt, nicht nur zu kritisieren, sondern auch neue Modelle und Konzepte und ein Verständnis der politischen Rolle der Wirtschaftswissenschaften zu entwickeln. Ins Deutsche übertragen von Hella Beister
Verweise: Arbeit Armut Erwerbsarbeit Globalisierung Subsistenzansatz
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C Körper und Gesundheit Barbara Duden
Frauen-„Körper“: Erfahrung und Diskurs (1970-2004)
Körper, Körperlichkeit, Somatik Das Wort „Körper“ ist janusköpfig: mal benennt es ein definierbares Objekt und die entsprechende sozial erwünschte Vorstellung (Perzeption) und mal die Selbstwahrnehmung (Autozeption). Wer „Körper“ sagt, spricht auch von soma, von Fleisch und Blut, von den Eingeweiden und vom Herzen als Erlebnisecho und in diesem Sinne deutet „Körper“ auf das Innigste und Persönlichste hin, das konkrete Anwesendsein. „Körper“ klingt als somatischer Referent mit, wenn jemand „ich“ sagt. Dieser mehrsinnige Bedeutungshof des Wortes zwischen Erlebnisecho und Sozialkategorie machte „Körper“ zu einem Schlüsselbegriff der Frauenbewegung. Was „Körper“ in der Frauenbewegung war und zu „Körper“ wurde, kann nur aus einer „genealogischen“ Perspektive (Foucault 1974: 94), d.h. durch die Genese der Sprechweisen über „Körper“ seit Beginn der Frauenbewegung sichtbar gemacht werden.
Ausgangspunkt: Die feministische Kritik der Biologie nach 1970 Drei Konfliktlinien feministischer Kritik lassen sich ausmachen: erstens die frauen-politische Kritik an der „Biologisierung“ der Frau, zweitens die Rückeroberung des weiblichen Körpers und drittens die Untersuchung der Geschichte der Körperpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts, um die Funktionsweise des Zusammenspiels von Staat, Bürokratie, Ärzteschaft, Naturwissenschaft und Mutterschaft aufzuhellen.
Anatomie ist kein Schicksal Feministinnen der ersten Generation begannen in den 1970er Jahren, die ihnen aufgehalste Ideologie der biologischen und deshalb sozial prädeterminierenden Frauen-Natur abzustreifen. Die Eigenarten, die Frauen und Männer leibhaftig unterscheiden, seien letztlich sozial irrelevant, nicht mehr als der „kleine Unterschied“ zwischen den Beinen und unter der Bluse. Damit wurde vom „Frauenkörper“ konzeptuell ein Stück abgetrennt, das „anatomische Geschlecht“, das in den 1980er Jahren „sex“ getauft und den sozialen Geschlechterordnungen gegenübergestellt wurde. Dieser epistemische Gegensatz von „sex“ einerseits und „sozialem Geschlecht“ andererseits wurde selbstverständlich und ging in die Selbstwahrnehmung von Frauen ein. Simone de Beauvoir hatte schon 1949 sich selbst, die Frau, vom Körper getrennt und im gleichen Zug das medizinische Objekt „Frauen-Körper“ bestätigt: „Von der Pubertät bis zur Menopause
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ist sie (die Frau B.D.) der Schauplatz eines Ablaufs, der sich vollzieht, ohne sie selbst zu betreffen“ (Beauvoir 1968: 40ff., Kaufmann 1998). Die feministische Theorie klammerte damals Körperbezogenes in die Residualkategorie des „biologischen Geschlechts“ ein und distanzierte sich von der „Biologie“ in einer Doppelbewegung, die somatische Erlebnisbereiche auf anatomische Sachen reduzierte und zugleich diese Vergegenständlichung als a priori bestätigte. Auf diese Weise verschoben die Frauenforscherinnen die Grenzziehung zwischen Natur und Kultur: sie machten die soziale Natur der polarisierenden Zuweisungen sichtbar, die Frauen den Naturgeschöpfen beigeordnet hatte. Zugleich bekräftigten sie aber a-perspektivisch wissenschaftlich, d.h. „biologisch“ definierte Merkmale an einem „Geschlechtskörper“ – z.B. die Hormone, die Menstruation, den Eisprung – als „sex“, als universal gültige Tatsachen. Die „Biologie“ der Frau, die als Effekt des objektivierenden Blicks der Lebenswissenschaften zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstanden war und die sich in einem „entitativen Körper“ vergegenständlicht hatte, wurde insofern kritisiert und zugleich am „anderen Ufer“ naturwissenschaftlicher Objektivität fest vertäut. Mitte der 1980er Jahre hatten Feministinnen die Ideologie erschüttert, dass körperliche Eigenarten der Frauen unvermeidlich die Hierarchie zwischen Frauen und Männern begründen, sie hatten aber zugleich die um 1800 entstandene, epochenspezifische, nämlich medizinwissenschaftliche Definition des Frauenkörpers in der Kategorie „sex“ zur „Natur“ erhoben.
„Mein Bauch gehört mir“ – der Frauenkörper als Besitz Im gleichen Zeitraum wurde der Körper, den die Medizin der Nachkriegs- und Wirtschaftswunderjahre nicht nur symbolisch, sondern praktisch übernommen hatte, als Besitz zurückgefordert: „Mein Bauch gehört mir“! Fast alle Forderungen der Frauenbewegung konzentrierten sich auf Körperliches: das Recht abzutreiben, den Zugang zu Empfängnisverhütung, Informationen über die Pille und all das wurde im Namen der „Selbstbestimmung“ im „Umgang mit dem eigenen Körper“ eingeklagt. Kaum ein Buch der angewandten Frauenforschung hat dabei so erfahrungsprägend gewirkt und die Beziehung von Frauen zu ihrem Körper kollektiv ausgerichtet wie „Our Bodies – Ourselves“ – „Unser Körper – Unser Leben“ vom Boston Health Collective (1980). Durch die geschilderten Erfahrungen sollten Frauen gestärkt und ermutigt werden, den Ärzten selbstbewusst gegenüberzutreten. Die Autorinnen – eine Gruppe engagierter Feministinnen – verknüpften die beißende Kritik am „patriarchalen Medizinsystem“ und an der „Medikalisierung des Frauenkörpers“ mit der Aufforderung, sich selbst durch die Aneignung des Körpers zu befreien. Die entscheidende Form der Unterdrückung schien das von der Medizin vorenthaltene Wissen um den eigenen Körper zu sein und so bestand ein großer Teil von „Unser Körper – Unser Leben“ aus der anschaulichen Darstellung medizinischer Kenntnisse, insbesondere der Geschlechtsteile und des hormonellen Zyklus (kritisch dazu Haug 1983). So ermutigend und befreiend der Aufbruch mit Spekulum und Vaginaldusche persönlich auch für die Aktivistinnen gewesen sein mag, ohne Frage stellte die Frauengesundheitsbewegung die Weichen auf dem Weg zur zukünftigen Konsumentin eines expandierenden Gesundheitsmarktes: die informierte Klientin, die zwischen den Optionen des medizinischen und des alternativen Angebots selbstbestimmt entscheidet. Bezeichnenderweise war die Pille das erste chemische Kommando, das es erlaubte, im Körper eine Funktion zeitweise und nach Belieben abzustellen (Duden 2002: 139ff.); sie war auch das erste ärztlich verschriebene Mittel, das aufgrund des politischen Drucks der Frauen-Gesundheitsbewegung einen Beipackzettel für die Klientin mitliefern musste (Watkins 1998), damit diese die Nebenwirkungen und möglichen Folgen der chemischen Steuerung informiert und selbstbestimmt auf sich nahm. Indem die vormals unmündige Patientin zur selbstbestimmten Konsumentin wurde, gab sie dem medikalisierten Frauenkörper das somatische Echo. Die Wandlung der Patientin in eine „selbstbestimmte“ Kundin passte in die gleichzeitige Transformation des Medizinsystems. Unter dem Druck der Frauenbewegung wurde aus dem autoritativ befehlenden „Halbgott in Weiß“ nach und nach der Berater, der die Informationen über die technisch
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möglichen Optionen bereit und die „Entscheidung“ über die Behandlung der Patientin anheim stellt (Samerski 2002a). Rückblickend ist nicht der naturheilkundliche Einschlag der Frauengesundheitsbewegung epochentypisch gewesen, sondern die Leistung, Millionen von Frauen dabei zu helfen, sich im Namen ihrer Selbstbestimmung und persönlichen Befreiung einen sexuierten Gattungskörper durch Selbstbeobachtung persönlich anzueignen und zu verinnerlichen.
Frauenkörper, Volkskörper, Gattungskörper Auch die Historikerinnen nahmen ohne Umwege den „Frauen-Körper“ ins Visier (Pomata 1993), um herauszufinden, auf welchen Wegen die Ideologie der Frau als Naturwesen entstanden war und welche Bedeutung Körperlichkeit in vormodernen Epochen zukam. Hier stellte sich als erstes heraus, dass die Karriere eines sexuierten „Körpers“ engstens mit dem Aufstieg der biologischen Wissenschaften verbunden war, die eine neue Form des sozialen Denkens bereitstellten, dass nämlich menschliche Gruppen distinkte biologische Typen bilden und biologische Unterschiede das letztendliche Fundament und die Quelle sozialer Ungleichheiten seien. Die Forscher beobachteten und entdeckten im Körper die „Natur“, die sie als soziale Klassifikation im Kopf mitgebracht hatten und die sie als Wesensbestimmung, eben als „Natur“, in die Gesellschaft zurückgaben. So begann mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert die unablässige Beschreibung und fürsorglich disziplinierende Behandlung des Frauenkörpers durch die biologischen Wissenschaften (Jordanova 1989, Moscucci 1990, Jacobus/Fox-Keller/Shuttleworth 1990). Erst die Moralphysiologie, dann die Medizin und schließlich die Gynäkologie entwarfen an ihrem Körper eine „Sonderanthropologie des Weibes“ (Honegger 1991), die die „Polarisierung“ der Geschlechtscharaktere in allen Fasern des Körpers suchte und fand, wobei die physis der Frauen sie als Gattungswesen vorrangig wegen ihrer generativen Leistungsfähigkeit interessant machte. Der Nachweis, dass „Körper“ die Chiffre war, in der seit dem 19. Jahrhundert die epochenspezifische soziale Programmatik durchbuchstabiert wurde, trug damals entscheidend zur Historisierung des Frauenkörpers bei und eröffnete ein ungemein fruchtbares Forschungsfeld. Im nächsten Jahrzehnt erschienen die ersten Untersuchungen zur „Körpergeschichte“ im 20. Jahrhundert: Studien zur Politik der Mutterschaft, zur disziplinierenden Funktion der Sozialhygiene, zur fördernden und verbietenden Sexual- und Bevölkerungspolitik (Planert 2000). Auch wenn diese Körperpolitik gleichfalls jugendliche, arbeitslose, deviante oder „fremdrassische“ Männer zu disziplinieren suchte, waren Frauen ungleich betroffen. An wenigen Studien zu den 1920er Jahren kann dies angedeutet werden. Die Mutterschafts-Propaganda zur Zeit des Ersten Weltkriegs betonte die Leistungssteigerung der Geburten als nationale Pflicht (Davin 1978); die Zulassung der Empfängnisverhütung sollte letztendlich einem rationelleren Einsatz der weiblichen „Reproduktionsleistung“ für den Nationalkörper dienen (Bergmann 1992); die Hygienebewegung in den 1920er Jahren suchte Arbeiterinnen zu einem körperlich „vernünftigen“ Einsatz ihrer Kräfte zu bewegen (Usborne 1994); die Sexualreform der Weimarer Republik verknüpfte Aufklärung mit normalisierendem Wissen (Grossmann 1995); die Kriminalisierung der Abtreibung in den 1920er Jahren diente der Zerstörung nachbarschaftlicher gegenseitiger Hilfe zwischen Frauen (Usborne 1996). Die Analyse der Zwangs-Sterilisierungen des NS demonstrierte den intrinsischen Zusammenhang zwischen Rassen-, Frauen- und Körperpolitik (Bock 1986). Auch in der Nachkriegszeit bauten die politischen Systeme ihre Geschlechterpolitik auf systemkonforme Frauen-„Körper“ auf (Budde 2000). In zwei Dekaden Frauenbewegung war das Konzept Frauen-„Körper“ in Bewegung geraten und zwar in widersprüchlicher Weise: die Frauenbewegung distanzierte sich von sentimentalen Konzepten verkörperter Weiblichkeit und machte sich im Gestus der kritischen Abwendung von der Medizin einen medikalisierten Frauenkörper zu eigen. Die historischen Studien zu den Sozialtechnologien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlaubten eine präzisere Periodisierung der staatlichen und bürokratischen Steuerungsansätze. Die üppige ideologische Überfrachtung der weibli-
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chen „Biologie“, wie sie im Weiblichkeitswahn der Nachkriegszeit noch einmal propagiert worden war, konnte als nur eine, und eine zunehmend anachronistische, verstaubte Variante biologistischen Denkens erkannt werden, auch wenn diese sich in den 1970er Jahren auf die Soziobiologie stützen konnte.
Zeitgeschichte unter der Haut Diachrone Geschichten 1: Zum Körper als „zweite Natur“ Die Körpergeschichte der letzten Jahrzehnte wäre nicht hinreichend beschrieben, würde nicht danach gefragt, wie Frauen ihren „Umgang“ mit dem in Besitz genommenen Körper gestalteten, wie in alltäglichen Routinen Modi der Wahrnehmung zur „zweiten Natur“ wurden. In den 1980er Jahren drängten Forscherinnen darauf, die Zurichtung des weiblichen Körpers (feminine body) in den „Körper“ der gesellschaftlich erwünschten Weiblichkeit (body of femininity) unter die Lupe zu nehmen. Susan Bordo (1989, 1993) konzentrierte sich auf den „gefügigen“, gelehrsamen Frauenkörper, den sie paradigmatisch in den Hungerkünstlerinnen der anorektischen oder bulimischen Jugendlichen verkörpert sah. Paradoxal verkehrt, so Bordo, verweigern und bestätigen diese Jugendlichen das Frausein („femininity“), insofern sie alle „weiblichen“ körperlichen Zeichen an sich durch disziplinierte Willensakte in einem Akt der Selbstbeherrschung auszulöschen suchen. Bordo sah mit Sorge, dass im Verlauf der 1980er Jahre – außer in den Schriften der feministischen Antipornographiebewegung – die konkreten Körper-Praxen nicht mehr im Zentrum der feministischen Kulturkritik standen, während Studien zur „kulturellen Repräsentation der Zweigeschlechtlichkeit“ zunehmend das Themenfeld besetzten. Bordos damalige Beobachtung gilt mit Einschränkungen nach wie vor, obwohl im Zuge des wissenschaftlichen Körperbooms beschreibende Studien zum Schönheitswahn, zur Zunahme kosmetischer Operationen (Davis 1995), zur grassierenden Magersucht (Bordo 1993), zur Bedeutung von Fashions, Kosmetik und Tanz (Klein 1992, Klein/Zipprich 2003, Villa 2003) herauskamen. Wie die Selbstformierung durch das Bild, das sie im Blick des Anderen verkörpern will, die Gesten, den Augenaufschlag, die Kopfneigung orientiert, Handlungsspielräume eröffnet und Selbstanpassung begehrenswert macht, ist wohl am gründlichsten in Studien zur weiblichen Zuschauerin im Film bearbeitet worden (Schlüpmann 1990, Stacey 1994, Doane 1997, Kuhn 1997, Modleski 1997). Aus der Fülle von Themen soll nur die symbolische Wirkung klinischer Testverfahren diskutiert werden, weil sich an der Patientin die Umstülpung des Wollens und Handelns in dreißig Jahren plausibel machen lässt. Der erste Schub eines neuen Typus der „Vorsorge“ galt den Schwangeren. Geburt und Schwangerschaft wurden erst relativ spät, nämlich in den 1950er, bzw. 1970er Jahren, in der Tiefe medikalisiert. Zwar waren in den Industrieländern um 1970 die meisten Geburten hospitalisiert, aber das Angebot einer „Schwangerenvorsorge“ traf weithin den Widerwillen von Frauen (Oakley 1984). Zur gleichen Zeit als die Frauengesundheitsbewegung die „programmierte“ klinische Geburt massiv angriff, mühten sich Mediziner zunächst vergeblich, die Schwangeren von der Notwendigkeit einer medizinischen Vorsorge zu überzeugen. Schwangergehen galt als Angelegenheit von Frauen, war nicht Medizinersache. Erst der Wechsel im Regime der SchwangerenKontrolle – von disziplinierender Bevormundung zum Angebot des Risiko-Screenings – änderte nachhaltig Praxis und Haltungen: innerhalb einer Dekade – zwischen Mitte der 1970er und der 1980er Jahre – lernten die Schwangeren, dass Kontrolle bei diesem Tun in ihrem eigenen Interesse sei und vernünftigerweise ihren Wünschen entsprechen müsse. Wie auch bei anderen „prädiktiven“ Tests unterminierte das technische Angebot der Visualisierung von bisher Unsichtbarem das bis dahin notwendige Selbstvertrauen ins eigene Können (Petchesky 1987, Duden 1991). Die Schwangerschaft, aber auch das Älterwerden, das Gebären, die Sorge um einen Knoten in der Brust oder die Gesundheit des kommenden Kindes gerieten unter das Diktat der Risikosteue-
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rung. Ein Satz ungewohnter Konzepte begann nach und nach alle körperbezogenen Zustände im Frauenleben neu auszurichten: Verhütung, Verdacht, Prävention, Früh-Erkennung, Normalfall, Beratung, Eingriff, ‚Screening‘, Kontrolle, ‚management‘, ‚informierte Entscheidung‘. In diesen Konzepten kristallisierte sich ein neues, praxisleitendes Syndrom: das selbstverantwortliche RisikoManagement (Samerski 2002a, Duden 2002: 179ff.), zu dem die Patientinnen angehalten wurden, das sie aber auch bald für unvermeidlich halten mussten. Rasch verkehrten sich die Fronten, aus einem medizinischen Angebot wurde eine obligatorische Kontrolle, aus einer gelegentlich ärztlich indizierten Diagnose wurde die selbstverständliche Teilnahme an der Fahndung nach Auffälligkeiten in einer weiblichen Population. Der Umbruch von einer nachsorgenden, einen pathologischen Befund therapierenden Medizin zur Medizin als Beratungsinstanz im Dienst einer ökonomisch-effizienteren Gesundheitsverwaltung von Bevölkerungsgruppen brauchte einen anderen „Körper“ und ein anderes Bewusstsein der Klientin (Kaufert 2000). Das pränatale Testangebot, zunächst als Ausnahme für besondere „Risiko-Gruppen“ eingeführt, erzwang bald ein widersinniges Schwangerschaftserleben, die „Schwangerschaft auf Abruf“ (KatzRothman 1989, Schindele 1990); die Menopause stellte die Patientin nun vor die Zwickmühle des Versprechens, sich hormonell jung und fit erhalten zu können und dabei ein erhöhtes statistisches Risiko für Brustkrebs einkalkulieren zu müssen (Lock 1993, 1998a, 2002, Klinge 1998, Mühlhauser/Meyer 2004); das Mammographieangebot versprach bessere Behandlungschancen durch Früherkennung und verbreitete epidemisch eine neue Angst vor Brustkrebs (Lock 1998b); das Angebot der künstlichen Befruchtung machte es unvermeidlich darüber nachzudenken, ob das Unvermeidliche ein vermeidbarer Fehler sein könnte und die kinderlose Frau unterzieht sich, fast zwangsläufig, einem Hindernislauf, dessen Scheitern sie sich schließlich selbst zuschreiben muss (Franklin 2002). Die meisten kritischen Studien zum Angebot der neuen Reproduktions- und Medizintechnologien untersuchten die Verfahren in Begriffen, die das Selbstverständnis der Anbieter weiter verbreiten: Chance und Risiko, Information, Selbstbestimmung und „autonome Entscheidung“ (BeckGernsheim 1991, 1995). Die Autorinnen glauben an die Mythen, die in diesen Verfahren verkörpert sind. Der „Körper“ der Klientin, der in den letzten beiden Jahrzehnten zustande kam, dient weitgehend als Ressource, um Entscheidungszwang und Risiko-Management als ein Mehr an Selbstbestimmung misszuverstehen. Die Medizin drängt die Frauen nicht mehr zu einer Behandlung, sie bietet der Klientin nur die Optionen, zwischen denen sie sich „selbstbestimmt entscheiden“ muss und vermittelt in den Konsultationen die Bereitschaft zu dieser „Entscheidung“. Kritische Studien zu diesen körperbezogenen Techniken sind heute nicht in Gefahr, einen natürlichen Körper bewahren zu wollen, wie oft behauptet wird, sondern eine neue Sozialtechnologie als Freiheit zur körperlichen Selbstbestimmung misszuverstehen. In den hier skizzierten Routinen wird die Frau als „decision-maker“ gefordert, als informierte Klientin einem wachsenden Dienstleistungsangebot gegenüber, aus dem sie sich eine Option auswählen muss. Die Prozeduren sind inzwischen so selbstverständlich geworden, dass auch die Nicht-Inanspruchnahme als selbst zu verantwortende Option erscheint und bei einem zukünftigen Schaden der Betroffenen vorgehalten werden kann (Samerski 2002a, 2003). Die Heterogenität zwischen somatischem Wissen (embodied knowledge) und professionellen statistischen Konstrukten und die Verrückung der Sinne durch dieses Angebot, sich selbst zu entkörpern, kann nur dann zur Sprache kommen, wenn die Forscherin selbst bei Sinnen bleibt. Wenn sie also weiß, dass das Versprechen der Zukunftskontrolle, das Angebot zur Selbst-Herstellung, die eigenverantwortliche Optimierung und die Aufforderung zur „selbstbestimmten Entscheidung“ Kopfgeburten sind. Und wenn sie versteht, dass die Medizin heute – im Kontrast zur Medizin, mit der die Frauen 1970 zu tun hatten – eine Instanz ist, die die Patientinnen, in Reaktion auf die feministischen Klagen, in Übereinstimmung mit deren Autonomie und Freiheit führt (Weir 1996: 384ff.).
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Diachrone Geschichte 2: Vom entitativen Körper der Anatomie zum System Zwischen den 1970er und den 1990er Jahren können wir die Genese eines „neuen“ Körpers verfolgen, der den älteren „entitativen“ Körper der klassischen Medizin ablöste. Dieser epochale Umbruch vollzog sich zeitgleich mit dem Aufstieg der Epidemiologie als Leitwissenschaft in der Medizin, mit der Verlagerung des Schwerpunkts vom therapeutischen ärztlichen Handeln zur Funktion der Medizin als einer Instanz in der Risiko-Verwaltung und mit der Rekonzeptualisierung der Patientin zur eigenverantwortlichen Managerin ihrer Zukunft (Samerski 2003). In den frühen 1980er Jahren befragte Emily Martin Frauen nach ihren Vorstellungen und Erlebnissen beim Bluten, beim Älterwerden und beim Gebären. Sie interpretierte deren Erzählungen vor dem Hintergrund der Beschreibung von Menstruation, Menopause und Geburt in gynäkologischen Standardwerken. Hinter jedem medizinischen Konstrukt des weiblichen Körpers entdeckt die Anthropologin widersprüchliche Vorstellungen über die physis der Frau mit unvereinbaren Verhaltensanforderungen. Das Gebären z.B. wurde vonseiten der Ärzte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als ein standardisierter, linearer Ablauf konstruiert und die uterinen Kontraktionen als autonome Leistungen der hormonellen Steuerung interpretiert. Dies war ein Modell des gebärenden „Körpers“, in dem für die tätige Frau kein Platz vorgesehen war. Die Medizin sah im Uterus eine Maschine, die ein Kind produziert und doch, gelegentlich, kann es nicht ganz ohne die Frau abgehen, die das Kind gebären soll (Martin 1987: 54ff.). Aus gynäkologischer Sicht war die „Frau im Körper“ nicht mehr als eine an- und abschaltbare Funktion ihrer uterinen Maschine, deren Leistung gemessen, technisch überwacht und effizient gemanagt werden muss. Die Forderung, dies Modell zu verkörpern, verlangte der Gebärenden Unmögliches ab: „Da sagen sie Dir, dass Dein Uterus ein unabhängiger Muskel ist, und im nächsten Moment heißt es, Du sollst nicht pressen. Ich weiß nicht, ob Du mit dem Uterus presst, wahrscheinlich nicht oder doch?“ (Martin 1989: 76ff.). Die Erzählungen der Frauen über ihr Blut, das Versiegen des Blutes und die Geburt zeugen von einer tiefen „Fragmentierung“, von heillosen Brüchen zwischen „Selbst“ und „Körper“ als dominante Erlebnisweise. Sie sprechen von ihrem körperlichen Geschehen als etwas, das ihnen widerfährt, nicht etwas, das sie tun. In einer zweiten Studie fünfzehn Jahre später sind die Leitmetaphern ganz andere: das ältere Modell eines Inneren, das durch hierarchische Kontrollinstanzen in Gang gehalten wird und das dem Disziplinarsystem der industriellen Produktion entsprochen hatte, war von einem neuen Modell abgelöst worden: der Wahrnehmung des Selbst als rückgekoppeltes System (Martin 1994, 2002, Haraway 1991). Der Effekt des „Selbst“ als System ist ein Paradox: Die Interviewten fühlten sich für ihre Gesundheit verantwortlich und zugleich machtlos. Früher hätten sie z.B. gewusst, sich vor Ansteckung zu hüten, aber jetzt, im Immunsystem, gibt es keine Grenze mehr zwischen sich und der Welt. Da die ununterbrochene Rückkoppelung den Einzelnen in allseitiger Abhängigkeit vernetzt und er doch für das optimale Funktionieren seines Immunsystems verantwortlich sein soll, ist der Einzelne machtlos und doch selbst schuld, wenn sein System versagt. Das verinnerlichte Immunsystem macht die Betroffenen tiefer von professioneller Beratung in allen Lebenslagen abhängig. Denn das „System“, das sie sind, integriert Sphären, die die allopathische Medizin vormals nicht als „Ursache“ einer Erkrankung zugelassen hatte: Frust und Lust, Denken und Einstellung. Eine befriedigende Liebesnacht oder ein Glas Zitronensaft haben tendenziell einen gleich günstigen Einfluss. Eigene Wünsche und Erfahrungen haben konzeptuell den gleichen Stellenwert für die optimale Steuerung, wie z.B. physiologische oder psychische Stimulierung, denn das System verlangt die Gleichsetzung und letztliche Ersetzbarkeit von allem und jedem. Das „eigene Immunsystem“ benennt in jedem Fall einen Umbruch im Verständnis des Körpers. Es hypostasiert eine Funktion, es macht aus einer Funktion ein Subjekt: Der Mensch ist ein Immunsystem. Das erkenntnisleitende Modell der Molekularbiologie, nämlich „System“, also die Funktion der Rückkopplung, wurde alltagsmächtig zum Subjekt. Als Selbsterlebnis sagt das: nichts ist sicher, ich bin ein Risiko, nichts ist wahr, trau Deinen Sinnen nicht.
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In einer neuen Studie fragt Martin danach, wie die Aufforderung, sich selbst zu managen seitdem für viele zur verinnerlichten Routine, ja zum Modell der Wahl geworden ist. Sie untersucht die Verbreitung des „Mood-Management“, der eigenverantwortlichen chemischen Steuerung des „Selbst“, das sich andauernd beobachtet, kontinuierlich bemisst und bewertet und entsprechend auf einem mittleren Kurs einpegelt, um das Dasein zwischen „high“ und „low“ zu steuern. Der Wechsel vom autonom sich regelnden „Immunsystem“ der 1990er Jahre zum optimal selbst-gesteuerten Gesamtsystem weist wohl darauf hin, wie die Anforderung zum Management des eigenen Schicksals inzwischen auch im Alltagshandeln und -fühlen der Befragten zum körperlichen Bedürfnis geworden ist. Die „Körper“, die den „Stoff“ der Selbst-Wahrnehmung zwischen 1970 und 2000 bilden, sind heterogen: der ältere, entitative Körper der klassischen Medizin wurde durch hierarchische Kontrollinstanzen, Über- und Unterordnung, klare Ursache-Folge-Ketten bestimmt; die Definition dieses Modells des „Körpers“ durch die Experten ließ noch einen Spielraum für einen Rest von eigenwilliger Wahrnehmung durch die „Frau im Körper“. Hier konnte die Klientin noch in etwa die unterschiedlichen Sphären trennen, die eigenmächtige Selbstdeutung konnte neben dem Expertenspruch prekär existieren. Für das neue Modell gibt es keine identifizierbare soziale Instanz, die als Urheber dieses „Körpers“ ausgemacht werden könnte. Und doch soll der Mensch nichts anderes mehr sein als eine Funktion, die digital wie ein Computer dar- und vorgestellt wird. Die Menschen, die ihre „moods“ chemisch stimulieren um sich jeweils optimal einzustellen, handeln buchstäblich in diesem Bild, sie verbessern sich „selbst“ wie eine Software. „Körper“ dienen in den 1990er Jahren als Stoff, die den ökonomischen und sozialen Umbau der Gesellschaften im globalen Neoliberalismus auch im „Selbstbezug“ eines jeden als unausweichlich erscheinen lässt: „Wir stehen nicht vor dem Ende des Körpers, sondern vor dem Untergang des einen und am Beginn der Durchsetzung eines neuen, postmodernen Modells“ (Martin 1997: 544, Martin 1998, 2002).
Von der linguistischen zur statistischen Wende: feministische Körper-Diskurse und die Genetik in den 1990er Jahren Die Erschütterung der „Biologie“ als mächtigstem sozialen Klassifikations-Mittel und Platzzuweiser des 19. und frühen 20. Jahrhunderts (Stepan 1998) war durch die Frauenforschung in den 1980er Jahren gelungen und abgeschlossen. Die Gleichsetzung von „Biologie“ mit „Natur“ war als eine spezifisch moderne Herrschaftstechnik sichtbar gemacht worden. Die Angst vor „Natur“ und vor der „Zuschreibung“ durch „naturalisierende Diskurse“ war damit eigentlich gegenstandslos geworden. Sie hätte von der Tagesordnung gestrichen werden können. Die dekonstruktiven Theorien zum „Körper“, die in den 1990er Jahren ausgearbeitet wurden und mit dem Namen von Judith Butler assoziiert sind, zogen den Impetus für ihre breite Rezeption indes aus eben dieser schon 1970 schiefen, weil veralteten Frontlinie von Natur gegen Kultur, „Körper“ gegen Sozialwelt. Der akademische Streit der 1990er Jahre darum, ob „Körper“ real oder konstruiert, historisch vorgängig oder diskursiv gemacht sind, ist so prekär, weil in diesen Jahren nicht „die Biologie“, sondern die Reste somatischer Hexis auf dem Spiel standen. Im Rückblick ist es erklärungsbedürftig, warum Autorinnen der Frauen- und Geschlechterforschung sich derart vehement in die Dekonstruktion eines vermeintlich natürlichen Körpers verbissen, als der Referent des Wortes „Körper“ als kategoriales Objekt und als Selbstgefühl schon längst systemtheoretisch und informationstechnologisch besetzt war. Drei parallele Entwicklungen müssen zusammengedacht werden, um das Paradox zu fassen, dass in eben der Periode, als der Referent und das Erlebnis von „Körper“ in systemischen Begrifflichkeiten aufgelöst wurde, feministische Autorinnen diesen Trend vorantrieben und „Körper“ zum reinen Effekt von Diskursen dekonstruierten: erstens, wurde „sex“ als Rest des älteren „entitativen“ Körpers zum Problem; zweitens, verkoppelte die Geschlechterforschung in den 1990er Jahren „Körper“ und „Geschlecht“ derart, dass die Mathematisierung der Geschlechterdiffe-
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renz auch das Reden über „Körper“ bestimmte; drittens, die linguistische Wende in den Geschlechterstudien vollzog sich parallel zu einer statistischen Wende, die als Genetisierung des Körpers begriffen werden muss.
Körper als „instabile Kategorie“ Die Gegenüberstellung von „social gender“ und „anatomical sex“ war zu Beginn der 1990er Jahre noch ein Dogma der Gender-Studies. Das „anatomische Geschlecht“, das zunächst als geschichtsloses Urgestein aus der Analyse ausgeklammert worden war, wurde dann aber rasch in seiner Allgemeingültigkeit in Frage gestellt. „Sex“ wurde zu einer „instabilen Kategorie“, die in verschiedenen Zeiten verschieden „variierte“. Thomas Laqueur (1990) verfolgte die biowissenschaftliche Entdekkungsgeschichte des „sex“ in Frauen im Verlauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und legte dar, welche Laborexperimente und klinischen Verfahren „biological sex“ geschaffen hatten. „Sex“ war damit, ebenso wie social gender, eine historische Kategorie. Unter der Hand ermutigte diese – bald geläufige – distanzierte Haltung zur „Biologie“ als ideologene Instanz der sozialen Konstruktion dazu, den „eigentlichen“ Geschlechtsunterschied beim Menschen in der Variation der Konstruktionen zu suchen, die Konstruiertheit also zum überzeitlichen und universalen Prinzip zu machen. Für diese Kolonialisierung der Vorstellungen ist Laqueurs Geschichte von „Sex seit Plato“ das paradigmatische Vorbild. Denn so sehr sich die Substanz der biologischen Grundbegriffe aus seiner Sicht über die Zeiten auch verändert haben mochte, „social biological sex“ als die zu einem historischen Zeitpunkt gültige „philosophisch-medizinisch“ zugeschriebene „Differenz“ zwischen Mann und Frau wurde bei Laqueur ebenso radikal zu einem „sozialen Konstrukt“ wie das von ihm beschriebene vormoderne Gegenstück, nämlich „social-anthropological gender“. Auf diese Weise wurde nun logisch alles mit allem homolog. Laqueur übersah, wie fragwürdig es ist, jene Eigenschaften, denen Adam seinen Ursprung aus Lehm und Eva den ihren aus Fleisch verdanken, oder jene Eigenschaften, die als Schmerzen einer „männlichen und weiblichen Mutter“ empfunden wurden (Duden 1987: 132ff., 2002: 29-38), in dieselbe Kategorie zu stellen, wie jene Merkmale, die mit X oder Y-Chromosom in Verbindung stehen. Laqueur setzte die Vergangenheit dazu sein, einen transhistorischen „Körper“ zum Apriori zu machen: die immer gleiche Schreibfläche für einen historisch je anderen Text. Es ging ihm in der Geschichte nicht um die Geschichtlichkeit von Erlebbarem, sondern um einen modellhaften Unterschied, der unvermeidlich und buchstäblich auf die Andersartigkeit der Geschlechtsteile verweist. Damit reduzierte er das Objekt der Forschung auf die historischen Variationen der sozialen Konstruktion der gleichen Körperteile. Sein flaches historisches Objekt „anatomical sex“ kam ja dadurch zustande, dass Laqueur den Modellbegriff auf den Körper anwendete und der Geschlechtsunterschied als Beziehung paramorpher (gleichgestaltiger) Körper-Modelle seinerseits wieder in diese analytische Kategorie gepresst, ja systemtheoretisch formalisiert wurde. Damit verschwand nicht nur die Möglichkeit, die Andersartigkeit erlebter Körperlichkeit vergangener Zeiten zu verstehen, die Forschung gewöhnte auch daran, die Sub-Stanz, den leiblichen Referenten unvergleichbarer Erlebnis- und Wahrnehmungsweisen zu formalisieren und als „Konstruktion“ von „Differenz“ zu entkörpern. Im Rahmen dieser Konstruktionsvarianten entstand ein Objekt historischer Forschung, in dem alle Geschichtlichkeit darauf reduzierbar wird, ob der Unterschied im Modell „sex“ hierarchisch, horizontal inkommensurabel oder nichtig ist. Die vielsinnige Geschichte der Unterschiedenheit und Bezüglichkeit in früheren Zeiten verschwand damit als Denkmöglichkeit, die Sprache für Vergangenes und Gegenwärtiges wurde mathematisiert und die Konstruiertheit zur universalen Substanz. Nicht die unhistorischen „Körper“, die der Autor der Vergangenheit andichtete, sind zeit- und körpergeschichtlich anstößig, sondern dass Laqueur den Konstruktionsbegriff hypostasiert hatte.
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Konstruktion, Konstruiertheit als Apriori Diese Reduktion jedweden Unterschieds auf die Konstruktion variierender „Differenzen“ prägte das Denken von Wissenschaftlerinnen in den 1990er Jahren. In der Geschlechterforschung ersetzte der mathematische Begriff der Differenz die vormaligen Begriffe für Verschiedenheit, Unterschiedlichkeit, Andersartigkeit, unähnliche Analogien und bezügliche Unterschiedenheiten. Das Fremdwörterbuch definiert „Differenz“: messbarer Unterschied, Ergebnis einer Subtraktion. Das wichtigste Konzept in den Geschlechterstudien, nämlich „soziales Geschlecht“, bzw. „Geschlecht“ an und für sich wurde damit mathematisiert. Diese Herauslösung der Worte aus erlebbaren Wirklichkeiten und ihre Integration in eine systemische Denkweise wurde noch verstärkt durch die Popularisierung der Informatik in der akademischen Sprache: Code, Codierung wurden geläufig und schienen ohne Zungenschlag auf Wirklichkeiten anwendbar. „Geschlecht“, ursprünglich ein Hilfskonstrukt zur Untersuchung der sozialen Wirklichkeiten von Frauen und Männern und ihren Lebenswelten, wurde im Set der systemtheoretischen Begrifflichkeiten von „Differenz“ und „binärem Code“ zu einem „askriptiven Merkmal“, zu einer Funktion oder einem Faktor bei der „Zuschreibung“ oder Zuweisung von Differenzen. Eine Funktion in der Konstruktion von „Differenz“. Schließlich setzte sich in der „linguistischen Wende“ die Prämisse durch, dass die Differenz zwischen „Geschlechtern“ durch Diskurse, durch „Bezeichnungspraktiken“ zustande komme. Wozu taugt diese terminologische Spitzfindigkeit? Nicht nur weil die Sprache der Geschlechterstudien einen erschreckenden Wirklichkeitsschwund anzeigt, sondern vor allem weil die Reste von „Körper“ in diese diskursive Mühle gerieten. Im gleichen Jahrzehnt, als Frauen und Männer gelernt hatten, sich selbst als ein „System“ zu fühlen, entbrannte in den Geschlechterstudien der Streit um das Für oder Wider einer „prädiskursiven Gegebenheit des biologischen Geschlechts“ (Stoff 1999: 146). Dieser Streit entsprach genau den entkörperten Begrifflichkeiten, die zu Selbstverständlichkeiten geworden waren. Eine mutige, zeit- und wissenschaftsgeschichtliche und vor allem selbst-kritische Distanzierung von den Begrifflichkeiten wäre notwendig gewesen, aber die Programm-“Sprache“ passte offenbar so ins Lebensgefühl, dass sie kaum mehr weggedacht werden konnte. Doch der Denkstil der 1990er Jahre gründete eben nicht mehr in etwas „Biologischem“, also Substantiellem an den Frauen, vielmehr diente die vage Konnotation des Wortes dazu, den Gespenstern von Differenz, Konstruktion und Variation einen „Körper“ zu verleihen. Dem Denken „vorgängig“, also „prädiskursiv“, war nicht ein Rest somatisch empfundener Unterschiedenheit, sondern die zeitgemäße Gewissheit, dass Wirklichkeiten durch Diskurse, Sprechakte, „Zuschreibungen“ variabel konstruiert werden. „Körper“ war zu einem leeren Wort geworden und wurde doch noch gebraucht, um dem Gefühl der beliebigen Machbarkeit Gewicht zu geben (paradigmatisch: Angerer 1999). Judith Butler untersuchte zunächst im Anschluss von Foucault die Genese von Subjekten und in diesem Rahmen auch die Genese von „Körper“ durch diskursive „Bezeichnungspraktiken“. Die symbolische Wirkung ihres einzigartig schnell popularisierten Arguments war, dass nicht nur die „Subjekte“, sondern auch ihre „Körper“ zu einer immer unbestimmteren, nie fixierbaren, mithin veränderbaren „Kategorie“ wurden (Stoff 1999: 147). In „Körper von Gewicht“ bestimmte Butler gegen ihre Kritikerinnen, die ihr einen „linguistischen Idealismus“ vorgeworfen hatten, die Eigenart von „Körperlichem“ als schiere „Materialität“, die sie als Resultat aus diskursiven Herstellungspraktiken hervorgehen ließ. Butlers These kann wohl auf die Formel gebracht werden, dass diskursive „Konstruktionen“ als „konstitutiver Prozess der Materialisation“ eines „biologischen Geschlechts“ als wirkmächtig vorauszusetzen sind. An Butlers Schreibweise fällt zweierlei auf: die Armut des Wortfeldes, mit dem sie die Hülse von „matter“ oder „Materialität“ ausfüllt und die Beschränktheit, einen solchen „Körper“ überall und universal vorauszusetzen. Wenn Butler über Körper spricht, nennt sie ausschließlich Hauptwörter, die erlebnisunfähig sind, leere Begriffe oder biowissenschaftliche Objekte: „ein ganzes Arsenal von ‚Materialitäten‘ (...), die dem Körper zukommen – das Arsenal, das mit den Bereichen der Biologie, Anatomie, Physiologie, hormonaler und chemischer Zusammensetzungen, Krankheit, Alter, Gewicht, Stoffwechsel, Leben und Tod be-
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zeichnet ist“ (Butler 1995: 98). Die Reichweite dieser Worte und Sachen, wenn sie denn untersucht werden sollen, ist historisch eng begrenzt, dennoch behandelt Butler sie wie universale Gegebenheiten. Die „Materialität“ von Körper ist (im Deutschen) ein Neologismus, der nicht nur abstrakt und sinnlos ist, sondern zur historischen Kategorie untauglich. In der Durchführung ihrer Theorie setzt Butler einen abstrakten, universalen, homogenen und erlebnisunfähigen „KonstruktionsKörper“ voraus. Der Biologe der 1970er Jahre reklamierte das von ihm beobachtete Objekt als „Natur“, die feministische Theoretikerin der 1990er Jahre „naturalisiert“ nach dem „Tod der Natur“ die Konstruiertheit. Die Frage nach der Geschichtlichkeit des somatischen Erlebnisstoffes kann so gar nicht aufkommen. Butlers Theorie ist ein paradigmatisches Beispiel für die Aporie, Körperliches in eine Welt integrieren zu müssen, wenn diese nur noch in der Diagrammatik von Differenzen und in den Effekten von Konstruktionen gedacht werden kann. An dieser Wüste von sinnlosen Worten, die nichts Wirkliches mehr benennen, in jedem Fall aber von Konstruiertheit handeln, ist in Bezug auf „Körper“ in den Geschlechterstudien nur eines bedeutsam: es fehlt das nötige Gespür, um die Isomorphie, die Gleichgestaltigkeit zwischen der Logik dieser Theorie und der Genetik zu bemerken. Die Verdoppelung der Wirklichkeiten durch einen hinter den Dingen wirkmächtigen Text und die Interpretation der Realien als Epiphänomen einer wiederholten Codierung entspricht dem Denken der popularisierten Genetik. Zeitgleich mit dem Streit in den Geschlechterstudien um die Konstruiertheit des Menschen popularisierte die Humangenetik ein Modell, das ihn – und sie – mit Haut und Haar zum Resultat seines genetischen „Programms“ macht.
Die Gene als trojanisches Pferd Der Frauenkörper war zwischen 1970 und 1990 wohl das wichtigste Symbol, durch das die Mythen der Spätmoderne Fleisch bekamen: das Versprechen der Beherrschbarkeit von Krankheit, der Kontrolle von Entwicklung, der Überwachung von Lebensprozessen verkörperten sich ebenso abstrakt wie anschaulich im „öffentlichen Fötus“ als Emblem und konnte in den Routinen der Schwangerenvorsorge zum Erlebnis werden (Duden 1991). Mit den „Genen“ kam dann ein „Körper“ unter die Haut, der nochmals etwas anderes „sagt“. Die klassische Medizin hatte der Patientin einen Körper angeboten, den sie hatte, zu dem sie sich possessiv verhalten musste oder konnte. Die „Gene“ sagen der Frau, wer sie ist. Und, mehr noch, weil „Gene“ eine auf Datenverarbeitung und statistischen Berechnungen basierende Hypothese sind, leisten sie etwas, was der ältere entitative „Körper“ nicht vermochte: sie implantieren statistische Berechnungen als persönlich zu vergegenwärtigende Bedrohungen unter die Haut (Samerski 2002b). Die Gene verankern ein aus dem Versicherungsdenken stammendes, statistisches und nur für Populationen gültiges Konzept, nämlich das „Risiko“, im „individuellen Körper“. Sie machen die einzelne Frau zu einem Fall einer Population und fordern sie auf, alle für solche statistischen Populationen denk- und berechenbaren Wahrscheinlichkeiten als persönlich bedrohliche Gefahr misszuverstehen. Silja Samerski untersuchte genetische Beratungsgespräche, denen Schwangere zunehmend ausgesetzt sind, die wissen wollen, ob mit dem kommenden Kind „alles in Ordnung ist“. Wie aus Silja Samerskis Textanalyse der Protokolle solcher Beratungen hervorgeht, ist der Effekt dieser Dienstleistung noch viel subtiler und intensiver entkörpernd als die vormaligen Instruktionen in der „Vorsorge“. Denn der Human-Genetiker kann über die Gegenwart der Frau und ihres Kindes nichts sagen, er vermeidet sorgsam jeden „ist“-Satz. Der Genetiker weiß, dass Genetik nichts Wirkliches, Konkretes, Fleischliches über den Ausgang dieser Schwangerschaft zu sagen erlaubt. Er kann nur von den Wahrscheinlichkeiten dieser oder jener Eventualität in einer Population sprechen. Deshalb meidet er ebenso klare Anweisungen über etwas, das seiner Ansicht nach sein „muss“. Nach der Unterweisung über das, was sein „könnte“ fordert er von der Beratenen eine „Entscheidung“. Samerski untersucht den neuartigen Typus dieser „Entscheidung“, deren Modell aus der Entscheidungstheorie stammt und die für betriebswirtschaftliche Entscheidungsprozesse entwickelt wurde.
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Das genetische Beratungsgespräch steht hier paradigmatisch für den Vorgang, in dem durch professionelle Beratung die Klientin schrittweise in eine neue Haltung zu sich und zur Zukunft eingeführt wird: nach Kenntnisnahme aller Eventualitäten werden ihr die Optionen an Tests oder Behandlungen präsentiert, zwischen denen sie eine „selbstbestimmte Entscheidung“ treffen soll. Zukünftige Geschehen, über die niemand etwas wissen und sagen kann, soll sie als vermeidbare Konsequenz ihrer kalkulierten Entscheidungen begreifen und in diesem Rahmen ist sie unvermeidlich gefordert, sich in die verantwortliche Managerin ihrer Zukunft zu verwandeln. „Gene“ körpern einen präzedenzlosen Gegenwartsschwund und vorauseilenden Zukunftsbezug ein, geben einem reinen Konstrukt, dem „Risiko“, leibhaftige Konsistenz. Sie entwerten die Gegenwart und damit das, was somatisch gewusst werden kann: das unschuldige und vernünftige Vertrauen in den Verlass auf die eigenen Sinne. Körpergeschichtlich stehen „Gene“ deshalb für eine weitere Radikalisierung der Virtualisierung des Körpers. Nochmals zeigt sich im Rückblick ein peinliches zeitgeschichtliches Missverständnis. Die meisten feministischen Forscherinnen zu Gen- und Reproduktionstechnologien sind außerstande, eine wirklich distanzierte Haltung zu diesem Beratungs- und Behandlungsangebot einzunehmen: der eingefleischte Reflex aus der Frühzeit der Frauenbewegung, das körperliche So-Sein von Frauen als Beschränkung und „Selbstbestimmung“ in Bezug auf körperliches Handeln als Befreiung wahrzunehmen, behindern wohl den nüchternen Blick auf die Gegenwart. Die damaligen Forderungen von Frauen sind heute aber Forderungen an Frauen, sich selbstbestimmt zu entmündigen und zu entkörpern, und sie sind zentral für ein Regime der „Selbstführung als Fremdführung“, das „Körper“ braucht, mit Leib und Seele (Samerski 2003).
Forschungslücken und Forschungswünsche „Körper“ als Kategorie hatten Konjunktur in den Geschlechterstudien. In den 1970er Jahren ging es um die Kritik und die Aneignung des entitativen Körpers, in den 1990er Jahren war der Streit um die dekonstruktive Auflösung des Restes eines somatischen Referenten der treibende Impuls, heute beklagen Wissenschaftlerinnen den Verlust an „Lebendigkeit“ und die Gleichgerichtetheit der feministischen Analysen mit der rezenten technischen Verfügung über „Körper“ und der Selbstformung von Frauen auf dem Markt der Körperindustrie (Barkhaus/Fleig 2002, Barkhaus 2002, Kaufmann 1998). Dennoch müssen die Versuche scheitern, einen Rest von „Unverfügbarem“ in der Theorie zu retten. Warum? Annette Barkhaus und Anne Fleig benennen im Vorwort zu ihrem wichtigen Band „Grenzverläufe“ die Falle: „eine differenzierte Rezeption der Technologienentwicklungen (...) (ist BD) letztlich immer schon selbst Teil der Grenzverläufe, die wir thematisieren“ (Barkhaus/Fleig 2002: 14). Die Autorinnen sind mit Haut und Haar selbst Teil des zeitgeschichtlichen Umbruchs, sie kommen nicht umhin, ihn kommentierend zu bekräftigen, auch wenn sie versuchen, sich theoretisch zu distanzieren. Mit der kritischen Revision der Begrifflichkeiten kann die Geschichte nicht umgekehrt werden. Auch die Versuche, mit „Leib“ (Lindemann 1993, 1996, 2002) oder „Körperschema“ das begriffliche Register zu erweitern oder der Hinweis, dass im dekonstruierten „Körper“ die Generativität (Landweer 1994) ausgeblendet wird, können die Reste von „Lebendigkeit“ nicht zurückholen. Die Aporie ist unvermeidlich, denn in a-perspektivischen Begriffen und mit erlebnisunfähigen Kategorien lässt sich nichts zurückholen noch wiederbeleben. Warum sollte „Leib“ und „Körper“ etwas anderes unterscheiden als die Buchstabenfolge, wenn das Gespür für den Unterschied nicht mehr „gewusst“ wird? Um an die technogene und gesamtgesellschaftliche Entkörperung heranzukommen, müsste zunächst das Wort selbst, „Körper“, als eine Kategorie der Untersuchung gestrichen werden. Referent des Wortes war ein epochenspezifisches kategoriales Objekt der Medizin, und die Reste somatischer Konnotationen des Wortes (scheinbare „Naturhaftigkeit“) dienen heute vor allem dazu, den Eindruck der Kontinuität eines vergleichbaren Referenten zu schaffen. Vollends ungeschickt ist das
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Wort, um die Historizität des somatischen Erlebnisechos zu besprechen. „Körper“ als Erlebnis existieren nicht als allgemeine, der Begriff muss auf eine begrenzte Epoche in der Medizin- und Sozialgeschichte beschränkt bleiben, die im späten 18. Jahrhundert begann und im Laufe der dritten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu Ende kam. Die zeitentbettete Verwendung des Wortes: „der Körper des Menschen“ – in der Antike, im 18. Jahrhundert – macht es unmöglich, an die Heteronomie des somatischen Erlebens damals, gestern und heute heranzukommen. Die Suche nach den Resten somatischen Erlebens kann wohl nur als Zeitgeschichte des somatischen Referenten der ersten Person Singular angegangen werden. Die „reflexive“, auf sich verweisende somatische „deixis“, die bei jeder Rede eines „ich“ mitschwingt – und die Alltagspraxis orientiert – und die Schizo-Aisthesis, die Brüche in der Selbstwahrnehmung, die typisch für unsere Zeit sind, müssten das Thema künftiger Studien sein. Was ansteht ist die disziplinierte Suche nach den epochenspezifischen modi der sinnlichen Wahrnehmung, die jenseits der Worte anklingen. Dazu müssten die Quellen mit anderen Sinnen gelesen werden, die Ohren und die Hapsis der Forscherin sind gefragt, weil in den Klagen der Toten – und hoffentlich lebenden Frauen – nicht „Körper“ zur Sprache kommen, sondern diese eine Frau von sich spricht und gehört werden will (Duden 2002: 15ff.). Und dies setzt nicht nur eine begriffs- und wissenschaftsgeschichtliche Anstrengung voraus, sondern die Übung in disziplinierter, geschichtlich verwurzelter Askese, Haltung, hexis. Nicht nur begriffliche, sondern begreifende Distanz zum postmodernen „Körper“ ist dazu eine Voraussetzung. Verweise: Behinderung Gen- und Reproduktionstechnologien Gesundheit Mode Sexualität
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Andrea D. Bührmann, Sabine Mehlmann
Sexualität: Probleme, Analysen und Transformationen
Die Sexualitätsdebatte der Neuen Frauenbewegung Der Beginn der Frauenforschung über Sexualität ist eng mit der Entstehung der Neuen Frauenbewegung in den 1960er Jahren in Westdeutschland verbunden. Unter dem Motto „Das Private ist politisch“ kritisierten Frauen die konkreten Auswirkungen der sexuellen Revolution und forderten eine Politisierung des Privaten: Im Zentrum ihrer Kampagnen und Debatten stand das Selbstbestimmungsrecht der Frau. Diskutiert wurde zum einen die (alltägliche) Gewalt gegen Frauen und Mädchen im Allgemeinen und im Besonderen die Fragen der Prostitution und der Pornographie. Frauen wendeten sich gegen patriarchale Weiblichkeitsvorstellungen in Bezug auf den weiblichen Körper und die Sexualität von Frauen, z.B. den ‚Mythos vom vaginalen Orgasmus‘. Zum anderen bekannten Frauen im Rahmen der Abtreibungsdebatte öffentlich, dass sie abgetrieben hatten. Sie organisierten Demonstrationen, auf denen sie eine Reform bzw. eine Streichung des § 218 forderten. In vielen Großstädten wurden Frauennotrufe und Selbsthilfegruppen gegründet. Zudem verfassten Frauen Handbücher, in denen frauenfeindliche Praktiken einer ‚männlichen‘ Medizin angeprangert und frauenfreundlichere Behandlungsmethoden aufgezeigt wurden. Gleichzeitig begann die entstehende Frauenforschung, sich wissenschaftlich mit dem Gegenstand Sexualität auseinanderzusetzen. Sie kritisierte, dass Frauen nur als Objekte vor allem sexualwissenschaftlicher bzw. medizinischer Forschungen auftauchten, und formulierte die Forderung, dass Frauen das Begehren von Frauen erforschen sollten. In diesem Kontext lassen sich mehrere thematische Verschiebungen differenzieren: Ausgehend vom Selbstbestimmungsrecht von Frauen wurden erstens die gesellschaftspolitische Bedeutung der ‚sexuellen Unterdrückung‘ (vgl. z.B. Millett 1971) sowie gewalttätige Formen männlichen Sexualverhaltens thematisiert (vgl. z.B. Brownmiller 1983). Zweitens setzten sich Forscherinnen kritisch mit psychoanalytisch orientierten Sexualitätskonzepten auseinander (vgl. u.a. Chasseguet-Smirgel 1974, HagemannWhite 1979). Drittens übte die entstehende Lesbenforschung Kritik an der Annahme, Heterosexualität sei ‚normal‘ und damit ‚natürlich‘. Schließlich wurde viertens nach der gesellschaftlichen bzw. geschlechterpolitischen Relevanz der Normalität und Normativität von Heterosexualität gefragt. Sowohl bei der Frage nach der gesellschaftspolitischen Bedeutung der Unterdrückung der weiblichen Sexualität als auch bei der Frage nach den Modi der psychosexuellen Entwicklung konzentrierten sich auch Forscherinnen meist auf die Heterosexualität. Dagegen wehrte sich die entstehende Lesbenforschung: Sie kritisierte, dass sich das Sexualitätsverständnis bisher an der Norm der Heterosexualität orientierte, so dass lesbisches Begehren nicht nur ausgeblendet, sondern auch als nicht ‚natürlich‘ bzw. ‚normal‘ definiert werde. Gegen diese Ausblendung wandten sich Lesben und forderten eine systematische Berücksichtigung lesbischer Frauen bzw. Lebensweisen auch im Rahmen der Frauenforschung und machten damit auf Differenzen und Hierarchien zwischen Frauen aufmerksam. Gleichzeitig stellten einige Forscherinnen die Frage, was lesbisch sein bedeutet und entwickelten Vorstellungen über eine lesbische Identität bzw. ein lesbisches Kontinuum, die mit einer Kritik der machtpolitischen Ordnungsfunktion des Systems der
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„Zwangsheterosexualität“ (Rich 1983) für die Stabilisierung asymmetrischer Geschlechterverhältnisse verknüpft wurden (vgl. Soine 2002).
Sexualität und Geschlecht als kulturelle Konstruktionen Im Zuge der (de-)konstruktivistischen Wende der Frauen- und Geschlechterforschung rückte die Eindeutigkeit, Naturnotwendigkeit und Natürlichkeit der biologischen Zweigeschlechtlichkeit in das Zentrum kontroverser – zunächst v.a. erkenntnistheoretisch orientierter – Debatten. Im Kontext der Problematisierung der sex/gender-Unterscheidung wurden auch Sexualitätskonzepte kritisiert, die von einer ‚natürlichen‘ weiblichen oder männlichen Sexualität bzw. einem ‚natürlichen‘ weiblichen oder männlichen Sexualtrieb ausgehen. Dabei spielten die Arbeiten Michel Foucaults zur kulturellen Konstruktion von Sexualität eine wichtige, gleichwohl umstrittene Rolle. Im Anschluss an Foucault arbeitete insbesondere Judith Butler (1991) die zentrale Funktion der Zwangsheterosexualität als diskursivem Produktionsrahmen für das kulturelle System der Zweigeschlechtlichkeit heraus. Die vermeintliche ‚Naturhaftigkeit‘ des (Körper-)Geschlechts und der „substantivistische[n] Schein der Geschlechtsidentität“ (Butler 1991: 60) werden in dieser Perspektive als (performative) Machteffekte einer „heterosexuellen Matrix“ (Butler 1991: 220) ausgewiesen, die die binäre Struktur und Kohärenz von Körpergeschlecht, geschlechtlicher Identität und heterosexuellem Begehren als ‚Natur‘ festschreibt und alle jene Individuen ausschließt, die nicht der Norm einer exklusiven heterosexuellen Zweigeschlechtlichkeit entsprechen. Die Naturalisierung der binär-hierachischen Geschlechterdifferenz ist somit unmittelbar mit der heterosexuellen Normierung des Begehrens verbunden. Viele Forschende kritisierten, dass im Rahmen dieser (de-)konstruktivistischen Perspektivverschiebung die faktischen Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen von Frauen, also z.B. sexueller Missbrauch, Vergewaltigung, homophobe Praktiken usw., ausgeblendet würden. Demgegenüber begrüßten aber auch viele diesen neuen Blickwinkel. Sie erforschten nicht nur in interaktionistischer bzw. wissenssoziologischer Perspektive, wie und warum welche Differenzen in Bezug auf die Geschlechtlichkeit kulturell hervorgebracht worden sind und welche Folgen dies für die bestehenden Geschlechterverhältnisse hat (vgl. etwa Gildemeister/Wetterer 1992, Hirschauer 1993). Insbesondere die Queer Studies hinterfragten darüber hinaus, ob überhaupt eine ‚natürliche‘ Sexualität bzw. ein ‚natürlicher‘ Sexualtrieb existiert. In kulturanthropologischen Studien wurden die kulturell variablen Formen der Konstruktion des Sexuellen akzentuiert und auf eine Vielzahl von Kombinationsmöglichkeiten von biologischem und sozialem Geschlecht und Sexualität verwiesen, die zudem nicht notwendig als festgelegte oder unveränderliche ‚Identitäten‘ gedacht sind (vgl. zusammenfassend Caplan 2000). Daneben waren historische Zugänge wesentlich. In diesem Kontext sind zum einen die historischen Bedingungen und Zusammenhänge untersucht worden, aufgrund derer sich der neue Erkenntnisbereich ‚Sexualität‘ formierte. Zum anderen ging es darum zu analysieren, wie sich dieser neue Erkenntnisbereich Sexualität mit modernen bzw. nachmodernen Machtmechanismen und Institutionen der Macht verbunden hat.
Zur historischen Verschränkung von Sexualität und Geschlecht Zentrale Referenz für eine Vielzahl von historisch angelegten Untersuchungen bildet Foucaults Analyse des Sexualitätsdispositivs (Foucault 1977). Gegen die These einer mit der Entstehung bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaften zunehmenden Repression eines ‚natürlichen‘ sexuellen Begehrens, das es folglich zu befreien gelte, setzt Foucault den Befund einer expansiven ‚Dis-
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kursivierung des Sexes‘ seit Mitte des 18. Jahrhunderts, in der bzw. durch die eine ‚Natur‘ der Sexualität erst hervorgebracht und zugleich als Wesensmerkmal und ‚innere Wahrheit‘ in die Körper der Individuen ‚eingepflanzt‘ wird. Sexualität ist demzufolge ein historisch spezifisches Produkt gesellschaftlicher Diskurse und Praktiken und als solches nicht jenseits von Machtverhältnissen zu verorten, sondern vielmehr – so Foucault – als zentraler Bezugspunkt für die Verankerung und Ausbreitung moderner Machttechnologien zu betrachten: Sexualität eröffne den Zugriff der Macht sowohl auf das Leben des Körpers wie auf das Leben der Gattung. Ihre Überwachung, Kontrolle und Normierung ermögliche es, die beiden Pole einer produktiven, auf die Optimierung des Lebens gerichteten Bio-Macht – die Disziplinierung der Individuen und die Biopolitik der Bevölkerung – zu verbinden (vgl. Foucault 1977: 173f.). Foucault unterscheidet vier strategische Komplexe, „die um den Sex spezifische Wissens- und Machtdispositive entfalten“ (Foucault 1977: 125): die „Pädagogisierung des kindlichen Sexes“, die „Hysterisierung des weiblichen Körpers“, die „Psychiatrisierung der perversen Lust“ und die „Sozialisierung des Fortpflanzungsverhaltens“ (Foucault 1977: 126f.). Wesentlich für die Formierung des Sexualitätsdispositivs ist es, dass in diesem Dispositiv die Abweichungen von der als Norm gesetzten ehelichen und reproduktionsorientierten (Hetero-)Sexualität in das Zentrum wissenschaftlicher Wahrheitsproduktion rücken: Neben den Figuren des masturbierenden Kindes, der – potenziell – hysterischen Frau und des sich fortpflanzenden Paares avanciert insbesondere der perverse Erwachsene zum privilegierten Gegenstand einer neuen ‚Wissenschaft vom Sex‘. Die Rezeption der Foucaultschen Sexualitätsanalytik in der Frauen- und Geschlechterforschung setzt an der Kritik der androzentrischen Konzeption des Sexualitätsdispositivs an, die den Blick auf die historisch spezifische Verschränkung von Sexualität und Geschlecht als zentrale Ordnungskategorien moderner Gesellschaften verstellt (vgl. zusammenfassend Raab 1998). Ausgehend von dieser Kritik sind zahlreiche Studien entstanden, in denen die von Foucault beschriebenen vier Fronten des Sexualitätsdispositivs systematisch um die Geschlechterperspektive erweitert werden. So stellt Andrea Bührmann (1998a) fest, dass Foucault zwar die expansive Diskursivierung des Sexes in den Blick genommen, jedoch die Diskursexplosion über die Geschlechterdifferenz, die sich im gleichen historischen Zeitraum ereignete, weitgehend ignorierte. Ausgehend von der Studie Thomas Laqueurs (1992) zur Transformation eines biologischen Ein-Geschlecht-Modells in ein biologisches Zwei-Geschlechter-Modell und der Studie Claudia Honeggers (1991) zur Ausarbeitung einer weiblichen Sonderanthropologie zu Beginn des 19. Jahrhunderts schlägt Bührmann vor, das in den Humanwissenschaften hervorgebrachte hierarchische System der biologischen Zweigeschlechtlichkeit als „modernes Geschlechterdispositiv“ (Bührmann 1998a: 90) zu fassen. Die aus der Struktur und Funktion vergeschlechtlichter Körper abgeleitete „Polarisierung der Geschlechtscharaktere“ (Hausen 1976) wird dabei als Bezugspunkt einer „geschlechtsspezifischen Normalisierung mit dem strategischen Ziel einer Hierarchisierung der Geschlechter“ (Bührmann 1998a: 91) ausgewiesen. Im Rahmen der ‚Hysterisierung des weiblichen Körpers‘ wurden Frauen als potenziell pathologische, vom Sexuellen durchdrungene Gattungswesen bestimmt, während Männer als Individuen normalisiert wurden (vgl. hierzu ebenfalls Landweer 1990). Die Konstruktion einer geschlechtsspezifisch definierten ‚Normalfunktion‘ des (heterosexuellen) Geschlechtstriebs fungiert zugleich als normativer Bezugsrahmen für die Konstruktion und Pathologisierung sexueller und geschlechtlicher Abweichungen in der im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstehenden Sexualpsychiatrie. An der ‚Erfindung‘ der modernen Homosexualität wird in einer Reihe von Untersuchungen gezeigt, dass die ‚Einkörperung der Perversionen‘ nicht nur die Geburt einer sexuell bestimmten Identität, sondern eine zentrale diskursive Schnittstelle markiert, an der die ‚Natur‘ der Sexualität und die ‚Natur‘ des Geschlechts in einer heterosexuellen Zweigeschlechterordnung zusammengeführt werden: Als Verkörperung einer ‚widernatürlichen‘ sexuellen Empfindungsweise avanciert Homosexualität zum wirkungsvollen Gegenbild, von dem sich eine ‚natürliche‘ Ordnung der Sexualität, im Sinne einer fortpflanzungs-
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bezogenen Heterosexualität, abheben kann. Auf der Folie des zum Ideal der Gattenliebe verklärten Komplementaritätsmodells der Ergänzung von Mann und Frau (vgl. Hausen 1976) wird die geschlechtliche Identität mit der Ausrichtung des sexuellen Begehrens verknüpft (vgl. Hirschauer 1993, Hark 1996, Soine 2000). Damit wird Homosexualität gleichzeitig als Verkörperung einer geschlechtlichen Grenzüberschreitung entworfen, die auf eine ‚natürliche‘ Ordnung des Geschlechts, im Sinne einer eindeutig differenzierten und kohärenten Einheit von anatomischen Geschlechtsmerkmalen, psychischen Geschlechtscharakteristika und (hetero-)sexuellem Begehren verweist (vgl. Soine 2002: 143). Die Konstruktion von Homosexualität in Gestalt der sog. „conträren Sexualempfindung“ (Westphal 1869), die nunmehr als eine ‚rätselhafte‘ Nichtübereinstimmung von Physis und Psyche codiert wurde, schließt unmittelbar an das Konzept der Geschlechtscharaktere und das Postulat eines natürlichen mimetischen Ableitungsverhältnisses zwischen biologischem Geschlecht und geschlechtlicher Identität an (vgl. Bührmann 1998a: 91, Mehlmann 1998: 104). Damit konnten im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts alle Formen der Abweichung von der ‚Natur‘ der Sexualität, in der sich die Norm fortpflanzungsbezogenen männlichen und weiblichen Sexualverhaltens und die Norm einer exklusiven psychophysischen Zweigeschlechtlichkeit überkreuzen, als geschlechtliche Entartungserscheinungen pathologisiert und als ‚Gefahrenherde‘ für die Gesundheit und moralische ‚Sauberheit‘ des Gesellschaftskörpers ausgewiesen werden (vgl. Schmersahl 1998, Bublitz 2000, Mehlmann 2006). Parallel hierzu etablierte sich ein Gegendiskurs, der – gestützt auf die These eines qua ‚Natur‘ gegebenen ‚dritten Geschlechts‘ – auf die Entkriminalisierung und Entpathologisierung des gleichgeschlechtlichen Begehrens zielte. Studien zur Genealogie lesbischer Identität machen hier auf eine grundlegende Differenz in der Diskursivierung männlicher und weiblicher Homosexualität aufmerksam: Im Unterschied zur männlichen Homosexualität, die „in einer kollektiven Anstrengung zwischen homosexuell bewegten Männern einerseits und Medizinern, Juristen, Psychiatern und Sexualreformern andererseits“ (Hark 1996: 78) hervorgebracht wurde, blieb die weibliche Homosexualität zunächst eine ‚rein‘ wissenschaftliche Kategorie und wurde (wie Weiblichkeit generell) am Modell und Maßstab des Männlichen entworfen (vgl. u.a. Hacker 1987, Göttert 1989). Mit Blick auf die Überschneidungen der hierarchischen Kategorien männlich/weiblich und hetero-/homosexuell, die zugleich auf die grundlegenden gesellschaftsstrukturierenden Implikationen von Sexualität und Geschlecht verweisen (vgl. Ott 1998: 51ff., Bublitz 2001), kann die moderne Ordnung heterosexueller Zweigeschlechtlichkeit als „heterosexistisches Geschlechterdispositiv“ (Soine 2002: 141) gekennzeichnet werden. Deutet sich bei der ‚Hysterisierung des weiblichen Körpers‘ bereits an, dass die – durch vielfältige Pathologien stets gefährdete – weibliche Sexualität hinsichtlich ihrer reproduktiven Funktion in eine enge „organische Beziehung zum Gesellschaftskörper“ (Maasen 1998: 394) gebracht wird, zeigt sich in Bezug auf die ‚Sozialisierung des Fortpflanzungsverhaltens‘, dass die biopolitischen Verfahren der Regulierung und Kontrolle der Bevölkerung zunächst vor allem am Körper der Frau ansetzten. Die Einführung des § 218, die systematisch durchgeführten Abtreibungen, Zwangssterilisationen bzw. -kastrationen in Frauenkliniken und psychiatrischen Anstalten, aber auch die Verbreitung von Verhütungsmitteln, die auf eine ‚freiwillige‘, moralische Verpflichtung zur ‚vernünftigen‘ Planung der Fortpflanzung zielte, dokumentieren, wie Anna Bergmann (1998) ausführt, eine zunehmende „Verstaatlichung und Medikalisierung der weiblichen Fruchtbarkeit“ (Bergmann 1998: 163). Im Kontext rassenhygienischer und eugenischer Diskurse und Praktiken zeichnet sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht nur eine Entkopplung von Sexualität und Fortpflanzung, sondern auch eine „(Wieder-)Entdeckung des Mannes als Gattungswesen“ (Planert 2000: 568) ab: Unter dem Aspekt ,pflichtbewußter Zeugung‘ wurden nun „auch Männer mit einem ‚Gattungskörper‘ “ ausgestattet und aufgefordert, „ihre physische Erscheinung, ihren Sexualtrieb und ihre Fortpflanzungsfähigkeit in den Dienst der ‚Volksaufartung‘ zu stellen“ (Planert 2000: 547). An den Diskursen über Sexualität haben sich um 1900 auch Vertreterinnen der kulturwissenschaftlichen Frauenforschung beteiligt (vgl. dazu Bührmann 2004). Im Rahmen der Sittlich-
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keitsdebatte forderten sie zum einen das Recht auf freie, heterosexuelle Liebe auch für Frauen, zum anderen aber auch das Recht zur bloßen ‚geistigen Mütterlichkeit‘. Zugleich skandalisierten Frauenforschung wie -bewegung das männliche Sexualverhalten. Analysen der Diskurspositionen – insbesondere des sog. radikalen Flügels – der Frauenbewegung machen aber auch deutlich, dass z.B. die kritisch-emanzipatorische Forderung nach einer neuen ‚sexuellen Ethik‘ mit dem eugenisch-rassenhygienischen Projekt der Menschenzüchtung im Sinne der Hebung der (eigenen) Rasse verbunden wurde (vgl. Omran 2000).
Transformationen der ‚Natur‘ von Sexualität und Geschlecht Eine weitere Forschungsperspektive wird in Untersuchungen eröffnet, die den Blick auf die historisch spezifischen Konstruktionsweisen der ‚Natur‘ von Sexualität und Geschlecht und die mit der Vervielfältigung sexueller und geschlechtlicher Abweichungen verknüpften Problematisierungen und Transformationen der Kategorie Geschlecht richten: Während beim Hermaphroditismus die diffuse Streuung geschlechtlicher Merkmale im Hinblick auf die Anatomie, Morphologie und die psychosexuelle Konstitution die Frage nach dem Ort und Ursprung des ‚wahren‘ Geschlechts aufwirft (vgl. Schäffner 1995, Foucault 1998, Schäffner/Vogl 1998, Dreger 2000), konzentrieren sich die Debatten über das ‚Rätsel‘ der ‚conträren Sexualempfindung‘ auf die Ursachen des Auftretens psychischer ‚Geschlechtsverkehrungen‘ bei Individuen, die ansonsten körperlich völlig ‚normal‘ erscheinen (vgl. Schäffner/Vogl 1998). Um 1900 wird die legitimatorische Naturbegründung der Geschlechtscharaktere selbst zur Disposition gestellt: Über die Ausdifferenzierung eines immer engmaschigeren klassifikatorischen Netzes wird eine immer größere Zahl von „Abweichungen der Natur von sich selbst“ (Runte 2001: 267) hervorgebracht, die die zugrunde gelegten anatomisch-physiologischen Gesetze überschreiten und grundsätzliche Fragen nach dem Verhältnis von Natur und Kultur, nach der inneren – organischen – Verbindung von Körpergeschlecht, Sexualtrieb und Psyche (vgl. Schmersahl 1998), nach einem gesicherten Bezugspunkt für die Bestimmung eindeutiger Geschlechtergrenzen (vgl. Schäffner 1995) und den Grenzen geschlechtlicher Normalität aufwerfen (vgl. Link 1997, Dornhof 1998, Mehlmann 2000, Runte 2001). Die sich in der Psychoanalyse abzeichnende Verlagerung von einer biologischen zu einer psychologischen Begründung geschlechtlicher Identität kann vor diesem Hintergrund als diskursive Strategie der (Re-)Stabilisierung einer heterosexuellen Zweigeschlechterordnung betrachtet werden (vgl. Schäffner 1995, Weickmann 1997, Mehlmann 2000, 2006). Die hier auch auf theoretischer Ebene vollzogene Trennung zwischen Sexualtrieb und Fortpflanzungsfunktion markiert den Ausgangspunkt einer Flexibilisierung sexueller Normalitätsstandards, die mit dem Aufkommen der empirischen Sexualwissenschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einsetzt (vgl. u.a. Link 1997, Bührmann 1998b) und nach der ‚sexuellen Befreiung‘ der 1960er Jahre in eine „neosexuelle Revolution“ (Sigusch 2000) mündet, die u.a. mit einer Vervielfältigung sexueller und geschlechtlicher Empfindungs- und Lebensweisen, bei zunehmender Kommerzialisierung und Banalisierung des Sexuellen einhergeht (vgl. ebd.: 243ff.) In neueren gegenwartsbezogenen Studien avanciert die Intersexualität zu einem zentralen Themenkomplex. Hier geht es – im Unterschied zur Erforschung von Homosexualität oder Transsexualität – nicht mehr nur darum, die Konstruiertheit sexueller und geschlechtlicher Identitäten aufzuzeigen, sondern vielmehr darum zu verdeutlichen, dass und wie v.a. durch medizinische Vermessungs- und Beschneidungspraxen vergeschlechtlichte Körper ‚hergestellt‘ und damit Sexualitäten ‚heteronormativiert‘ werden. An der Intersexualität werden zum einen die Möglichkeiten und Grenzen einer Existenz ‚jenseits‘ der heterosexuellen Zweigeschlechtlichkeit und das anstrengende und mühevolle Ringen eines ‚Lebens in der Schwebe‘ ausgelotet, zum anderen wird die Existenz von mehr als nur zwei biologischen Geschlechtern thematisiert (vgl.
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Fausto-Sterling 2002). In jüngster Zeit wird die Uneindeutigkeit des (intersexuellen) Körpers auch als Ansatzpunkt für eine grundlegende Kritik des „Dogmas von Zweigeschlechtlichkeit“ diskutiert, das als nunmehr letzte „antiuniversalistische Herausforderung“ (Dietze 2003: 27) der Kategorie Geschlecht erscheint (vgl. ebenfalls Dornhof 2004). Das biologische System der Zweigeschlechtlichkeit wird dabei als Zwangssystem betrachtet, das untrennbar mit der Norm der Heterosexualität verknüpft ist. Die gleichzeitig zu beobachtenden Tendenzen einer Pluralisierung geschlechtlicher und sexueller Existenzweisen im Rahmen neuer individualisierender Herrschaftstechniken, „die zunehmend weniger auf eindeutige, stabile und naturalisierte Identitäten angewiesen sind“ (Engel 2002: 202) wirft jedoch auch Fragen nach neuen Formen kritischer Intervention und politischen Handelns auf (vgl. u.a. Genschel 1997, Hark 2000). Diese Problematik wird ebenfalls deutlich in der Diskussion um die Relevanz der Gen- und Reproduktionstechnologie für Frauen, die hier zugleich als bloße Ressource und als Profiteurinnen dieser neuen Technologien betrachtet werden: Einerseits nährten diese Technologien Hoffnungen auf ein ‚besseres‘ Leben einzelner Frauen, andererseits offerierten sie für den Staat eine Optimierung der Kontrollmöglichkeiten der Bevölkerung(-sentwicklung), die nunmehr auf die ‚Autonomie‘, ‚Information‘ und ‚Selbstbestimmung‘ der Individuen setzen und so die gesundheitlichen und reproduktiven Bedürfnisse von Frauen nutzbar machen (vgl. Kuhlmann 2004: 531f.). Eine andere Perspektive steht im Mittelpunkt von Studien aus dem Umfeld der Governmentality Studies, die primär nach den gesellschaftlichen Folgen sozialer Bevölkerungsregulierung fragen (vgl. etwa Pühl/Schultz 2001). Dabei wird nicht nur ein enger Konnex zwischen sozialem und sexuellem Wandel unterstellt, sondern auch hervorgehoben, dass die neoliberalen Regierungsformen als höchst ambivalente Prozesse der Festschreibung und Flexibilisierung der Geschlechterverhältnisse zu begreifen sind. Vor diesem Hintergrund könnten etwa Forderungen der internationalen Frauengesundheitsbewegung nach Selbstbestimmung über den eigenen Körper, die sie anlässlich der UN-Weltbevölkerungskonferenz von Kairo 1994 formulierte, gleichermaßen als erwünschte Eigenständigkeit im Sinne ‚reproduktiver Rechte‘ und ‚reproduktiver Gesundheit‘ (Pühl/Schultz 2001: 109) wie „als Einfallstor einer nun verinnerlichten biopolitischen Macht“ (ebd.: 108) gelesen werden. So werde gerade im Rahmen (über-)staatlicher Bevölkerungspolitiken die Frage der selbstbestimmten Fortpflanzung zum zentralen Maßstab für den Grad an Gesundheitsverantwortung einer Frau gemacht und an ein spezifisches ‚generatives Verhalten‘ gebunden (ebd.: 115).
Perspektiven In der zukünftigen Forschung ist nicht nur nach der kulturellen Hervorbringung des Sexualtriebes zu fragen und wie es dazu kommen konnte, dass Menschen sich selbst und andere über ihr sexuelles Begehren definierten, sondern auch danach, ob sich dieses nicht auch ändern könnte. Diese Option, die bereits von bedeutenden Protagonistinnen der um 1900 sich formierenden kulturwissenschaftlichen Frauenforschung erörtert wurde (vgl. Bührmann 2004), wird auch unter dem Aspekt veränderter Formen der Regierung bzw. Selbstregierung diskutiert (vgl. etwa Miller/Rose 1995, Rose 1992). Dabei wird gefragt, ob sich am Beginn des 21. Jahrhunderts nicht mehr und mehr Menschen als ‚unternehmerisches Selbst‘ betrachten, welches das eigene Handeln, Fühlen, Denken und Wollen an ökonomischen Effizienzkriterien und unternehmerischen Kalkülen ausrichtet, während sexuelle und geschlechtliche Identitätsdimensionen zunehmend in den Hintergrund treten. Inwieweit es sich dabei um eine bloße Gegenwartsdiagnose oder aber um einen weitreichenden und tiefgreifenden sozialen Wandel handelt, der auf einen Bedeutungsverlust sexueller und geschlechtlicher Subjektivierungsweisen verweist, bleibt abzuwarten. Deutlich dürfte allerdings geworden sein, dass sich die Debatte um den Begriff Sexualität innerhalb der Frauen- und Geschlechterforschung weiter ausdifferenziert hat. Die Diskussion von (de-)
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konstruktivistischen (Gedanken-)Experimenten scheint sich wieder stärker auf den faktischen Zwangs-, aber auch Ermöglichungscharakter des Systems der biologischen Zweigeschlechtlichkeit und die damit verbundene Heteronormativität zu verlagern. Dies mag wohl nicht zuletzt der ‚unheimlichen‘ Zählebigkeit und Integrationsfähigkeit dieses Systems geschuldet sein. Verweise: Biologie (De)Konstruktion und Diskurs-Genealogie Frauen-„Körper“ Geschichte Lesbenforschung und Queer Theorie Reproduktionstechnologien
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Ellen Kuhlmann
Gen- und Reproduktionstechnologien: Ein feministischer Kompass für die Bewertung
Einleitung Die Gen- und Reproduktionstechnologien gehören zu den umstrittensten, aber auch zu den expansivsten Bereichen gesellschaftlicher Entwicklungen. Genetische Diagnostik und reproduktive Technologien sind längst aus den Laboren in den (Frauen-) Alltag eingezogen. Die ‚Erfolgsgeschichte‘ begann mit der Pränataldiagnostik (Coventry/Pickstone1999, Nippert et al. 1997), es folgten die Invitro Fertilisation, Präimplantationsdiagnostik, Embryonenforschung und Organersatzzüchtung; auch Klonierung und Verbindungen zwischen der menschlichen und anderen Spezies werden diskutiert (Berg 1999, Graumann 2001, Hauskeller 2001, Kollek 2000, Schneider 1999). Die Angebotspalette im „transhuman bodyshop“ (Williams 1997: 1042) wird ständig erweitert; den Marktzugang und -erfolg sichert vor allem das Duo ‚Reproduktionsmedizin und Humangenetik‘ – die Repro-Genetik. Frauen sind zugleich Ressource und Nutzerinnen der neuen Technologien. Es geht also nicht mehr um ein generalisiertes Votum ‚für‘ oder ‚gegen‘ die Repro-Genetik im Namen der Frauen, sondern um differenzierte Bewertungen und soziale Relevanzkriterien in einer nach biowissenschaftlich-technologischen Kriterien geführten Debatte (ReproKult 2002). Dieser Beitrag stellt Erklärungspotenziale der Geschlechterforschung vor (Kuhlmann/Kollek 2002) und plädiert für einen ‚feministischen Kompass‘ bei der Bewertung der Gen- und Reproduktionstechnologien. Im Zentrum steht der Körper als Medium sozialer Regulierung. Die darin eingelagerte Bedeutung der Geschlechterkategorie wird auf unterschiedlichen Ebenen analysiert: als Ordnungsmuster des Wissenschaftsfeldes, als Ungleichheitsstruktur im Praxisfeld und als kulturelles Legitimationsmuster neuer Angebote.
Entwicklungen und soziale Effekte der Gen- und Reproduktionstechnologien Die pränatale Diagnostik gilt als der Schlüssel des Aufstiegs der Humangenetik und als zentrales Anwendungsfeld (ausführlich dazu Pichlhofer 1999, ReproKult 2002). Als Pränataldiagnostik werden Verfahren bezeichnet, die genetische Merkmale des Fötus identifizieren. Zur Verfügung stehen unter medizinischen Aspekten risikoarme und ökonomisch kostengünstige Serumtests, zum Teil auch bildgebende Verfahren und darüber hinaus die mit einem Abortrisiko verbundene Fruchtwasseruntersuchung (Amniozentese). Die Aussagekraft dieser Diagnostiken variiert erheblich; kennzeichnend ist jedoch, dass sie (mit Ausnahme der Amniozentese) zum einen keinen Nachweis für eine Erkrankung oder Behinderung liefern, sondern diese mit einer bestimmten – zum Teil auch geringen – Wahrscheinlichkeit prognostizieren, und zum anderen keine Aussagen über den Schweregrad machen. Ging es zunächst um Hinweise auf das Downsyndrom und schwere neurologische Störungen, so kommen kontinuierlich neue Indikationen und potenzielle Anwendungsfelder hinzu: Pränatale Diagnostik wird in vielen Ländern zur Geschlechterselektion eingesetzt, was
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oftmals zu massenhaften Abtreibungen weiblicher Föten führt. Sie soll neuerdings auch Erkrankungen aufspüren, die erst im Erwachsenenalter auftreten. Ebenso können die Augenfarbe, die Neigung zu Übergewicht oder Ähnliches pränatal prognostiziert werden; die Möglichkeiten und die Grenzen scheinen sich zunehmend auf die Frage technischer Machbarkeit zu reduzieren. Begriffe wie ‚Designer Babies‘ oder ‚Schwangerschaft auf Probe‘ bringen diese neuen Dimensionen menschlicher Fortpflanzung zum Ausdruck (vgl. Duden 2002). Das zweite zentrale Feld ist die In-vitro Fertilisation (IVF) oder ‚assistierte Reproduktion‘, bei der Embryonen im Reagenzglas erzeugt werden. Auch hier werden die Techniken und die Indikationen seit den 1980er Jahren beständig erweitert (ausführlich dazu Berg 1999, ReproKult 2002). Alle Verfahren erfordern, dass sich die Frau einer hormonalen Therapie und einem invasiven Eingreifen für den Eizelltransfer aussetzt. Zunächst nur bei eindeutig organisch bedingter Unfruchtbarkeit von Frauen angewandt, kommt die IVF seit den 1990er Jahren auch bei Fruchtbarkeitsstörungen von Männern zum Einsatz und avanciert zum obligatorischen Verfahren bei unerfülltem Kinderwunsch, gleich welcher Ursache. Wie die Pränataldiagnostik weist auch die IVF erhebliche Effizienzdefizite auf. Im günstigsten Fall erfüllt sich die Hoffnung auf ein eigenes Kind nur für etwa ein Viertel der Frauen pro Embryonentransfer (Berg 1999). Darüber hinaus sind die gesundheitlichen Risiken für die Frau schwerwiegend, die psychischen Belastungen hoch und die Mehrlingsgeburten überdurchschnittlich häufig. Die auf Planbarkeit und Gestaltbarkeit der Reproduktion zielenden Technologien setzen sich mit der Präimplantationsdiagnostik (PID) fort (ausführlich dazu Graumann 2001, Kollek 2000, ReproKult 2002). Die PID ermöglicht die Diagnostik im Reagenzglas und damit eine gezielte Auswahl von Embryonen mit den gewünschten Eigenschaften. Damit sind nur einige zentrale Technologien benannt. Die Genetik weitet sich über traditionelle Allianzen mit der reproduktiven Medizin kontinuierlich aus und dringt in immer neue Forschungs-, Anwendungs- und Lebensbereiche immer tiefer ein. Jedes Verfahren erfordert eine differenzierte Bewertung des Nutzens und der Risiken sowie des gender bias, die hier nicht erfolgen kann (ausführlich dazu ReproKult 2002). Vielmehr geht es an dieser Stelle um die übergreifenden Entwicklungstendenzen und die Regulierungsmuster. Die Repro-Genetik nährt die Hoffnungen auf ein ‚besseres Leben‘ ebenso wie auf die Kontrollmöglichkeiten der Gesellschaft. Obschon die weitreichenden Visionen ihre empirische Prüfung bisher nicht bestanden haben, ist die Metaphorik historischer Umbruchphasen zutreffend, allerdings auf einer Ebene, die von den Biowissenschaften selbst kaum reflektiert wird: Die Gestaltbarkeit von Körpern und die Machbarkeit von ‚Leben‘ erhalten neue Dimensionen. Angeleitet durch die Experten wird das ‚autonome Subjekt‘ zum Konstrukteur seiner selbst und zukünftiger Generationen; die soziale ‚Passfähigkeit‘ soll nunmehr im Körper selbst hergestellt und dieser nach den Nutzenkalkülen der Gesellschaft ‚konfiguriert‘ werden (Kuhlmann 2002a). Es handelt sich also bei der Repro-Genetik nicht um singuläre Problematiken, sondern um grundlegende Fragen gesellschaftlicher Regulierung und um neue Technologien der Normierung. Um so nachdrücklicher stellt sich die Frage nach den ‚Regeln‘ und den Akteuren, die Definitionsmacht über das ‚Design‘ der sozial erwünschten Körper haben. Nachfolgend wird die Relevanz der Geschlechterkategorie in den Konstruktions- und Konstitutionsprozessen der Repro-Genetik analysiert.
‚Gender matters‘ Die Gen- und Reproduktionstechnologien stehen in einer symbiotischen Beziehung zu Frauen, Reproduktion und Geschlechterfragen, dennoch bleibt die soziale Kategorie ‚Geschlecht‘ hinter vorgeblichen Objektivitäts- und Neutralitätspostulaten verborgen (Haraway 1995). Der strukturierende Einfluss kommt auf verschiedenen Ebenen zum Tragen und kann in unterschiedlicher Weise relevant werden (Knapp 1998). ‚Geschlecht‘ erscheint hierdurch widersprüchlicher, aber auch offener für Veränderungen.
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Geschlecht als Ordnungsmuster im Forschungsfeld Hierarchische Ordnungsmuster und geschlechtlich konnotierte Interpretationen werden trotz alternativer Deutungsangebote des Fachdiskurses und der feministischen Forschung auch in den neuen Anwendungsfeldern immer wieder reproduziert (vgl. Becker-Schmidt 2002, Hubbard 2001, Kuhlmann 2002a). So wird die Eizelle als passiv, „as damsel in distress, shielded only by her sacred garments“ und die Samenzelle als aktiv beschrieben, als „heroic warrior to the rescue“ (Martin 1999: 183). Die modernisierte Variante präsentiert die Zusammenhänge analog der Chancengleichheit als einen „process by which egg and sperm find each other and fuse“ (Keller 1995: XII). Dieses ‚gendering‘ von Körperprozessen erstreckt sich über die reproduktiven Vorgänge hinaus auch auf sexuell indifferente Körpersubstanzen. Gene, die mit der Kodierung des Zellmetabolismus in Verbindung stehen, werden beispielsweise als „housekeeping genes“ bezeichnet (Spanier 1995: 87). Die Geschlechtsbestimmung und die Intersexualität belegen, dass die Geschlechterordnung gerade in Grenzsituationen die Funktion eines ‚Ankers in unsicheren Gewässern‘ übernimmt. So lassen sich mehr als zwei Variationen der Anordnung von X- und Y-Chromosomen nachweisen. Doch die empirische Vielfalt wird auf eine dichotome Matrix gespannt, damit soziale Ordnungsmuster stabil bleiben. Ebenso wird der intersexuelle Körper, um „die Mythologie des Normalen“ aufrecht zu erhalten, so umgebaut, „dass er entweder in die eine oder die andere Schublade passt“ (FaustoSterling 2002: 26). Gemeinsam ist diesen Entwicklungen, dass sie subjektive Wahrnehmungen und Körpererfahrungen abwerten und soziale Kontexte ausblenden, wohingegen Wahrscheinlichkeitsprognosen zu Determinanten des Körpererlebens avancieren (Katz Rothman 2002). Über statistisch-probabilistische Modelle werden „normalistische Landschaften“ (Waldschmidt 2001: 193) erzeugt und in der humangenetischen Beratung als wertneutrale Tatsachen vermittelt.
Frauen als Nutzerinnen der Humangenetik ‚Geschlecht‘ wird nicht nur als Ordnungsmuster relevant, auch die Körper von Frauen haben eine strategische Bedeutung als Ressource für die Forschung und die Anwendung; Frauen stellen die Mehrheit der NutzerInnen der Angebote (Mahowald 2000) und spielen eine entscheidende Rolle in der Vermarktungsstrategie. Ihre Nachfrage nach den Angeboten und ihre vorgeblichen Bedürfnisse werden zur Legitimationsfigur ethisch und sozial umstrittener Angebote, wie vor allem die Pränataldiagnostik zeigt. Das Selbstbestimmungsrecht und die Autonomie von Frauen werden argumentativ gegen die KritikerInnen eingesetzt (ausführlich dazu ReproKult 2002) Beispiele sind das Screening auf das Downsyndrom im Rahmen der Schwangerschaftsvorsorge, das den Weg für die Akzeptanz von Selektionstechniken bereitete (Beck-Gernsheim 1995, Rapp 1999). Bei der Einführung prädiktiver genetischer Tests auf multifaktorielle Erkrankungen stehen wiederum die Tests auf erblichen Brustkrebs – und damit die in der Pränataldiagnostik bewährte Marktöffnung durch Frauen – an vorderster Front. In der Embryonenforschung werden Frauen als ‚fötales Umfeld‘ und Rohstofflieferantinnen für die Wissenschaft und die Industrie genutzt (Schneider 1999); die Präimplantationsdiagnostik bedient sich des Kinderwunsches als Vehikel für die Durchsetzung von Forschungsinteressen und für die Auflösung moralischer Grenzen (Graumann 2001, Kollek 2000). Auch die durch die Repro-Genetik ermöglichten neuen Formen der Elternschaft bleiben mindestens ambivalent, da sie „die Technisierung und Instrumentalisierung von Frauen“ voraussetzen oder begünstigen (Kettner 2001: 43, vgl. ReproKult 2002). Der anhaltende Erfolgskurs des Wissenschaftsfeldes ist demzufolge unmittelbar verknüpft mit der Nutzbarmachung der gesundheitlichen und reproduktiven Bedürfnisse von Frauen.
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Frauen als ‚moralische Pioniere‘ auf riskanten Pfaden Die pränatale Diagnostik belegt exemplarisch, wie die Vorstellung der Machbarkeit und Gestaltbarkeit von Leben neue Dimensionen erhält und in den Verantwortungsbereich von Frauen gestellt wird. In einer Situation, in der die traditionelle Aufgabenteilung zwischen den Geschlechtern zunehmend Brüche aufweist, erzeugen die Angebote der Repro-Genetik neue Zuständigkeiten für Frauen, aber nicht für Männer. In ihrer modernisierten Variante ist die geschlechterspezifische Arbeitsteilung um eine genetische Dimension erweitert: Neben der Betreuung sind Frauen nun auch für das genetische Make-up ihrer Kinder zuständig. Die Verfügbarkeit prädiktiver Diagnostik erzeugt stumme soziale Zwänge und individuelle Belastungen (Beck-Gernsheim 1995, Rapp 1999), und die neuen Technologien verändern die Wahrnehmungen des eigenen Körpers und der Schwangerschaft (Duden 2002). Darüber hinaus nehmen Frauen die Rolle der gate-keeper ein, wer in diese Gesellschaft eintreten darf und wer nicht, welche Merkmale als sozial erwünscht und welche als zu vermeiden gelten. Die mit der Pränataldiagnostik verknüpften bevölkerungspolitischen Interessen und eugenischen Zielsetzungen werden individualisiert und hierüber scheinbar sozial entschärft (Lippman 1992, Nelkin/Lindee 1997, Stacey 1996). In der Praxis können individuelle Frauen durchaus von den Angeboten profitieren; die Entscheidungsspielräume sind jedoch begrenzt und die sozialen Effekte prekär (Gupta 2000, Petchesky 1995). Technologisch-statistisch erzeugtes Wissens hat Priorität vor den subjektiven Gesundheitseinschätzungen; individualisierte und medikalisierte Bewältigungsmuster treten an die Stelle institutioneller, sozialer Lösungsstrategien. Die Autonomie, welche die Humangenetik den Frauen anzubieten hat, erstreckt sich auf ein Terrain, das von Experten kontrolliert wird und von deren Informationspolitik abhängig ist. Der versprochene und partiell möglicherweise auch realisierte Zugewinn an Autonomie steht einem Verlust an Definitionsmacht über den eigenen Körper gegenüber (Davies-Floyd 1998).
Ausblick – Frauen, Geschlechterverhältnisse und Repro-Genetik Reproduktive Rechte und Gesundheit waren der Motor für politische Aktionen der Frauenbewegungen in den 1970er Jahren in allen westlichen Nationen und nehmen bis heute eine exponierte Stellung in der feministischen Debatte ein (Boston Women’s Health Collective 1973, Price/Shildrick 1999). Dennoch ist dieses Themenfeld von Beginn durch Widersprüche gekennzeichnet; es wird zum paradigmatischen Fall für die feministische Debatte (Annandahle/Clark 1996, Hofmann 1999). Frauen gehörten zu den ersten und den schärfsten KritikerInnen der Gen- und Reproduktionstechnologien. Doch es sind auch Frauen, die diesen Technologien zum Erfolg verhelfen. Bereits in den 1970er Jahren entzündete sich eine heftige Kontoverse an der von Firestone (1971) vertretenen These, die Technisierung reproduktiver Vorgänge beinhalte Befreiungspotenziale für Frauen. Die Hoffnungen sind mittlerweile gedämpfter, doch die Kontroversen setzen sich fort, und die verhandelten Fragen werden brisanter (BMG 2001, Graumann/Schneider 2003, ReproKult 2002). Eine über biomedizinische, ökonomische und individuelle Interessen hinausgehende soziale Bewertung dieser Entwicklungen, die den Lebensbedingungen von Frauen gerecht wird, ist demzufolge nach wie vor dringlich. Frauen sind zu ‚Mitspielerinnen‘ geworden und diese neue Position eröffnet durchaus auch Gestaltungschancen. Doch geht es nicht nur um die Frage, wer – Frauen oder Männer; Professionelle oder PatientInnen etc. – entscheidet. Vielmehr steht zur Debatte, was unter welchen sozialen Bedingungen verhandelt wird (Gupta 2000). Die Regulierung von Geschlechterverhältnissen erfolgt nicht mehr offen über den Ausschluss, sondern primär über Partizipationsangebote, die auf ‚Autonomie‘, ‚Information‘ und ‚Selbstbestimmung‘ der Individuen setzen. Diese neuen Formen der Regulierung legen die Ambivalenzen eines Autonomiekonzeptes offen, das „with 300 years of the dominant Eu-
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ro-American model of dichotomization between self and community, body and society“ (Petchesky 1995: 404, vgl. Kuhlmann 2002b) belastet ist. Selbstbestimmung und reproduktive Rechte – und mit ihnen Frauen- und Geschlechterfragen – erhalten im Zeitalter der Repro-Genetik neue Bedeutungen, die zu entschlüsseln und in politisch-praktische Handlungsstrategien zu übersetzen eine noch zu bewältigende Herausforderung bleibt. In diesem Beitrag wurde gezeigt, dass die Gen- und Reproduktionstechnologien trotz ihrer Innovationssymbolik auf unterschiedlichen Ebenen von einer tief greifenden Geschlechterasymmetrie durchdrungen sind. Die Entwicklungen belegen, dass ‚Geschlecht‘ als hierarchisches Ordnungsmuster und als soziales Ungleichheitsverhältnis gerade ‚auf unsicherem Terrain‘ – in neuen Wissenschafts- und Anwendungsfeldern und in ethischen Grenzsituationen – nicht an Relevanz verliert. Statt eines generellen Bedeutungsverlustes zeichnet sich eher eine Pluralisierung von Differenzen und Interessenlagen auch innerhalb der Gruppe der Frauen ab. Es spricht also einiges dafür, den ‚feministischen Kompass‘ weiterhin bei der Bewertung der Gen- und Reproduktionstechnologien zu Hilfe zu nehmen und zugleich die stabil geglaubten ‚Achsen‘ neu auszuloten. Verweise: Behinderung Frauen-„Körper“ Gesundheit Sexualität
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Ellen Kuhlmann
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Andrea Pauli, Claudia Hornberg
Gesundheit und Krankheit: Ursachen und Erklärungsansätze aus der Gender-Perspektive
Frauen und Männer weisen äußerst heterogene Morbiditäts- und Mortalitätsprofile auf (vgl. Lademann/Kolip 2005, RKI 2006). Frauen verbringen im Vergleich zu Männern mehr Lebensjahre mit beeinträchtigter Lebensqualität bzw. weniger Lebenszeit bei guter Gesundheit (vgl. Eurostat 2000, Klotz 2006), haben aber zugleich gegenüber den Männern einen Überlebensvorteil von etwa sechs bis sieben Jahren (80,8 vs. 74,8 Jahre) (vgl. Statistisches Bundesamt 2002, Lademann/Kolip 2005). Dieser geschlechtsspezifische Lebenserwartungsunterschied ist in nahezu allen Nationen, vor allem der westlichen Hemisphäre, nachzuweisen (vgl. Luy 2002, Klotz 2006). Insbesondere in der Altersspanne zwischen 15 und 65 Jahren ist die männliche Mortalitätsrate etwa doppelt so hoch wie bei Frauen dieses Alters (vgl. Brähler/Goldschmidt/Kupfer 2001). Das sog. „Geschlechterparadox“ (vgl. Kolip 2003), demzufolge Frauen als vermeintlich „kränkeres Geschlecht“ (vgl. Maschewsky-Schneider 1996, Sieverding 1998) eine höhere Lebenserwartung haben, beschäftigt die Wissenschaften bereits seit Jahrzehnten (vgl. Verbrugge 1976, 1990). Auch innerhalb von Public Health, als Wissenschaft und Praxis zur Verbesserung der bevölkerungsbezogenen Gesundheit und der gesundheitsbezogenen Lebensqualität sowie zur Reduzierung von Gesundheitsbelastungen und Krankheitsrisiken (vgl. Flick 2002), hat sich die Frage, inwieweit Unterschiede in Gesundheit und Krankheit allein auf biologische oder eher auf verhaltens- und/oder bzw. umweltbezogene Faktoren zurückgehen zu einem bedeutsamen Schwerpunkt entwickelt. Im Wesentlichen lassen sich die diskutierten Einflussvariablen in Anlehnung an Verbrugge (1990) einteilen in:
Biologisch-genetische Faktoren Geschlechtsspezifische Differenzen im Krankheitsspektrum sowie in Symptomatik, Ausprägung, Häufigkeit und Dauer von Erkrankungen gehen zum Teil zurück auf Unterschiede in den genetischen Anlagen, dem Hormonstatus, der immunologischen Ausstattung sowie den anatomischfunktionalen Besonderheiten. Physiologische Unterschiede in der Enzymausstattung und im Hormonstatus sowie der höhere Fettanteil im weiblichen Körper beeinflussen z.B. die höhere organische Vulnerabilität und Reaktion auf die Exposition gegenüber Schadstoffen des Tabakrauchs (vgl. Lademann/Kolip 2005) sowie die pharmakokinetische Wirkung von Arzneimitteln. Bei vielen Erkrankungen ist der Anteil biologisch-genetischer Faktoren am Krankheitsgeschehen noch weitgehend ungeklärt.
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Geschlechtsspezifische Verhaltensweisen und Gesundheitskonzepte Frauen- und Männergesundheit ist unmittelbar verknüpft mit der kulturell und historisch verankerten Auffassung von Weiblichkeit und Männlichkeit (vgl. Dinges 2004) sowie mit der Vorstellung von Frauen- und Männerkörpern. Die Ausbildung subjektiver Körper- und Gesundheitskonzepte, die vorwiegend in der Phase der Adoleszenz erfolgt (vgl. Helfferich 2001), hat wesentlichen Einfluss auf das spätere Inanspruchnahmeverhalten von Gesundheitsleistungen (vgl. Stein-Hilbers 1995). Gesundheitsverhalten, subjektive Bewertungen gesundheitlicher Befindlichkeiten sowie Krankheitsbewältigungsverhalten (Coping-Strategien) sind eng mit der soziokulturell und gesellschaftlich determinierten weiblichen und männlichen Geschlechtsrolle und den damit einhergehenden Rollenerwartungen, Handlungsoptionen bzw. Restriktionen verwoben (vgl. Waldron 1998, Kolip u.a. 2004). Darüber hinaus hat sich der soziale Status in der Vergangenheit als eine zentrale Gesundheitsdeterminante erwiesen, die Einfluss auf das Gesundheitsverhalten von Frauen und Männern nehmen kann (vgl. Lampert 2006). Geschlechterunterschiede in Herz-Kreislauferkrankungen, HIV-Infektionen, malignen (bösartigen) Tumoren der Leber, Lunge, Speiseröhre, Mundhöhle und Bronchien sowie Verkehrsunfällen und Suiziden haben wesentlichen Anteil an dem überproportionalen Verlust an Lebenszeit und Lebensqualität zuungunsten der Männer. Zahlreiche dieser Morbiditäts- und Mortalitätsrisiken sind eng mit männerspezifischen Belastungen sowie gesundheitsgefährdenden Verhaltensstereotypen und Bewältigungsstrategien assoziiert (vgl. Merbach/Kleiberg/Brähler 2001, Hollstein 2002). Wenn auch das Bild „traditioneller Männlichkeit“ (Dinges 2005) in bestimmten Bereichen Veränderungen unterworfen ist und Bruchstellen aufweist, reproduzieren bestehende Rollenerfordernisse nach wie vor „typisch männliches Gesundheitshandeln“, das zum Teil mit erheblichen Risiken assoziiert ist (vgl. Sieverding 2004, Koppelin/Müller 2004). Bereits im Zuge der Sozialisation werden die Unterdrückung und Kontrolle von Emotionen sowie die Fixierung auf Leistung und Erfolg als wichtige „männliche Eigenschaften“ vermittelt. Aus einer Art „Außenperspektive auf ihren Körper“ (Brandes 2003: 10) werden Körpersignale als mögliche Krankheitssymptome und Befindlichkeitsstörungen entsprechend bagatellisiert, ausgeblendet und Arztkonsultationen vielfach hinausgezögert (vgl. Kolip/Koppelin 2002, Brandes 2003). Dieses Verhalten findet sich in der geringen Nutzung von Gesundheitsförderungsangeboten (vgl. Sieverding 2004) sowie in der niedrigen Inanspruchnahmerate von Früherkennungsuntersuchungen wieder (vgl. Altgeld 2004, RKI 2006). Im Umgang mit komplexen Belastungssituationen aktivieren Männer tendenziell eher externalisierende, ausagierende Bewältigungsstrategien. Konsistente Befunde verweisen beispielsweise darauf, dass Arbeitsplatzverlust bei Männern häufig mit Alkoholmissbrauch gekoppelt ist (vgl. Brenner 2006) und mit der hohen männlichen Suizidrate (vgl. Schmidtke u.a. 2005) in Verbindung steht. Zusammenhänge zwischen männlicher Geschlechtsrolle und Gesundheitsverhalten treten besonders deutlich im riskanten Alkoholkonsum und im Sexualverhalten zutage (vgl. RKI 2006). Im Straßenverkehr und am Arbeitsplatz sind Männer eher bereit Gesundheitsrisiken mit u.U. weitreichenden Folgen einzugehen (vgl. Schofield u.a. 2000, Altgeld 2004, RKI 2006, Seidel u.a. 2007). Frauen schätzen ihre physische und psychische Gesundheit nicht grundsätzlich, aber doch in bestimmten Altersgruppen (z.B. jenseits des mittleren Lebensalters) (vgl. MFJFG 2000) schlechter als Männer ein und berichten über eine höhere subjektive Beschwerdeprävalenz (vgl. Sieverding 2005, RKI 2006). Für gesundheitliche Beeinträchtigungen sind Frauen gewöhnlich feinfühliger und nehmen diese mit ihrer eher nach innen gerichteten Perspektive auf den eigenen Körper (vgl. Brandes 2003) im Vergleich zu Männern früher wahr (Brähler/Felder 1999). Aufgrund ihrer Sozialisation wird Frauen mehr Sensibilität und Aufmerksamkeit im Umgang mit dem eigenen Körper zugeschrieben. Diese sind eng mit Attributen wie Schönheit und Attraktivität assoziiert und können gerade bei jungen Frauen in eine destruktive Körperfixierung umschlagen (vgl. Kiefer u.a. 2000). Körperliche und seelische Beeinträchtigungen äußern Frauen eher in psychosomatischen Beschwerdemustern. Sie verweisen u.a. auf die Dominanz internali-
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sierender, emotionsbezogener Reaktionsweisen als Form der Lebensbewältigung (vgl. Bullinger/ Petersen 2007). Darüber hinaus sind sie Ausdruck eines geschlechtsspezifisch geprägten, biografisch erworbenen Repertoires für die Bewältigung von Belastungsfaktoren (vgl. Kuhlmey 2006). Nivellierungen von Geschlechterunterschieden im Gesundheitsverhalten sind u.a. im Alkoholkonsum und im Rauchverhalten zu beobachten (vgl. Landtag Nordrhein-Westfalen 2004, RKI 2006). Unterschiede sind hingegen bezüglich Frequenz und Intensität körperlicher Bewegung zu konstatieren. Danach sind Frauen vor allem im mittleren Lebensalter und aus unteren sozialen Schichten körperlich inaktiver als Männer (vgl. Mensink 2003, Lademann/Kolip 2005, Schneider/Becker 2005). Andererseits sind Frauen in allen Altersgruppen seltener übergewichtig (vgl. Statistisches Bundesamt 2006). Ein höheres Gesundheitsbewusstsein zeigen Frauen vor allem im mittleren Lebensalter in der Inanspruchnahme von Gesundheitsvorsorge. Insgesamt sind Frauen gegenüber Prävention und Gesundheitsförderung aufgeschlossener als Männer.
Determinanten der sozialen Lage – Sozialepidemiologische Befunde Der aktuelle Gesundheitsbericht für Deutschland (RKI 2006) zeigt sehr deutlich, dass Morbiditäts- und Mortalitätsprofile der weiblichen und männlichen Bevölkerung zugleich als Indikatoren der sozialen Lage eines Landes zu bewerten sind. Als ein deutliches Indiz für bestehende Zusammenhänge von Sozialstatus und gesundheitlicher Ungleichheit gilt die in allen westlichen Industrienationen vorhandene Differenz der mittleren Lebenserwartung von etwa sieben Jahren zwischen der höchsten und niedrigsten Sozialschicht (vgl. Mackenbach u.a. 2003). Für eine Vielzahl von Erkrankungen hat die sozialepidemiologische Forschung nachweisen können, dass Inzidenz- und Prävalenzraten sowie der Bedarf an ärztlicher Versorgung mit abnehmendem Sozialstatus ansteigen (vgl. Lampert u.a. 2005). Unter den zahlreichen Ansätzen zur Klärung dieses sogenannten „sozialen Gradienten“ in den Gesundheitschancen konnte die Annahme, dass ein schlechter Gesundheitszustand einen niedrigeren sozialen Status zur Folge hat, weder eindeutig empirisch belegt noch widerlegt werden (vgl. Mielck 2000, 2005). Demgegenüber haben sich Erklärungsansätze, welche die Lebensbedingungen fokussieren (vgl. Sperlich/Mielck 2003), wie z.B. die Qualität und Beschaffenheit der Wohnung und des Wohnumfeldes (vgl. Bolte/Mielck 2004) sowie Belastungen am Arbeitsplatz (vgl. Mielck 2000), als wesentlich bedeutsamer in ihrem Einfluss auf die Gesundheit und die Lebenserwartung statusniedriger Bevölkerungsgruppen erwiesen. Sie sind eng verbunden mit sozialen Unterschieden in personalen und sozialen Ressourcen, materiellen Gütern und Gesundheitsverhalten/Lebensstilen (vgl. Elkeles/Mielck 1997, Mielck 2000, 2005). Neben die traditionelle über Bildung, Berufsstatus und/oder Einkommen vermittelte vertikale Strukturierung der Gesellschaft treten horizontale Unterschiede nach Geschlecht, Alter, Nationalität, Wohnort, Familienstand etc., die Einfluss auf die Gesundheitschancen nehmen (vgl. Mielck 2000, 2005). Die Kategorie „Geschlecht“ ist in zahlreichen Forschungsarbeiten als Variable belegt, die eng mit sozialer Benachteiligung und höheren Krankheitsrisiken in Verbindung steht (vgl. Gottschall 2000, Babitsch 2005). Frauen mit geringem Haushaltseinkommen und niedrigem Lebensstandard geben häufiger psychische und physische Beschwerden als Grund für Einschränkungen in alltäglichen Aktivitäten an und schätzen ihren Gesundheitszustand insgesamt negativer ein als Frauen aus höheren Einkommensgruppen (vgl. Lampert u.a. 2005). Die geäußerten Beschwerden und subjektiven Beeinträchtigungen sind vielfach Ausdruck der Lebenssituation, z.B. als Alleinerziehende (vgl. Helfferich/Hendel-Kramer/Klindworth 2003, Hartwig/Waller 2006) und der bestehenden sozialen Benachteiligungen. Sie lassen sich auf kumulative Effekte der ökonomisch schlechteren Position von Frauen in bestimmten Lebenslagen zurückführen. Auf der anderen Seite gewährleistet die aktuelle Arbeitsmarktlage auch Männern keine lebenslange materielle Sicherung und Kontinuität im Erwerbsleben mehr. Migranten, Ältere, Unqualifizierte etc. sind bereits aktuell überproportional von sogenannten prekären Beschäftigungsverhältnissen und Erwerbslosigkeit be-
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troffen (vgl. Puchert/Gärtner/Höyng 2005). Angesichts der engen Kopplung männlicher Lebenslagen und Erwerbsarbeit ist bei ihnen die gesundheitliche Relevanz der Zusammenhänge zwischen Geschlecht, Sozialstatus/Bildung und Berufstätigkeit, z.B. infolge von Arbeitsplatzverlust (vgl. Hollederer/Brand 2006), sehr viel prägnanter als bei Frauen (vgl. Rieder 2004). Die eindimensionale Aussage, Frauen seien grundsätzlich häufiger und gravierender von sozialer Benachteiligung und gesundheitlicher Ungleichheit betroffen, bedarf angesichts der gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen einer relativierenden und differenzierten Perspektive auf die Betroffenheit bestimmter Subgruppen. Dies gilt im Besonderen für das Handlungsfeld der Primärprävention und Gesundheitsförderung (vgl. Rosenbrock/Kümpers 2006).
Geschlecht als Gesundheitsdeterminante in der Gesundheitsversorgung Empirisch nur schwer zu belegen ist die Frage, ob und in welchem Ausmaß das Geschlecht der „Health Professionals“ und die Geschlechterdynamik in der Praxis der Gesundheitsversorgung relevant sind (vgl. Glaesmer/Deter 2002, Sieverding 2005). Dass Geschlechtsrollenzuschreibungen in Verbindung mit „Geschlechtsrollen-Selbstkonzepten“ (vgl. Hunt u.a. 2007) sowie Geschlechterdifferenzen im Symptomberichtverhalten möglicherweise ärztliche Diagnosen beeinflussen, ist nicht auszuschließen. Aus der Gender-Perspektive sind hier vor allem Erkrankungen relevant, die sowohl bei Frauen als auch bei Männern vorkommen, jedoch durch differierende Prävalenzraten und Symptomausprägungen charakterisiert sind (z.B. koronare Herzkrankheit) (vgl. Kuhlmann 2004). Studien zufolge werden selbst unter Angabe gleicher Beschwerden bei Männern eher organische Störungen diagnostiziert, während bei Frauen psychosomatische Diagnosen dominieren (vgl. Möller-Leimkühler 2007). Diese Tendenz spiegelt sich auch in der ärztlichen Verschreibungspraxis wider. Danach erhöht sich mit abnehmendem Sozialstatus und zunehmendem Lebensalter bei Mädchen (vgl. Schubert/Horch 2004) und Frauen (vgl. Kolip 2000) bis in das hohe Lebensalter die Wahrscheinlichkeit und die Zahl der Verordnungen psychotroper Medikamente (z.B. Beruhigungs- und Schlafmittel, Psychopharmaka, Stimulanzien) (vgl. Krah 2002). Medikamentöse Über- und Fehlversorgung von Frauen (vgl. Kolip 2000) ist Ausdruck der Tendenz zur Medikalisierung und Pathologisierung weiblicher Lebensphasen wie Pubertät, Schwangerschaft, Geburt (vgl. Labouvie 1998, Seidel 1998) und Klimakterium (vgl. Writing Group for the Women’s Health Initiative 2002, Kuhlmann/Kolip 2005). Während hier Tendenzen einer Über- und Fehlversorgung zu Lasten des weiblichen Geschlechts zutage treten, besteht in anderen Bereichen eine deutliche geschlechtsspezifische Unterversorgung (vgl. Maschewsky-Schneider u.a. 2001). Herz-Kreislauf-Erkrankungen, zählen z.B. bei Männern bereits im mittleren Lebensalter zu den führenden Todesursachen und waren lange Zeit als „typische Männerkrankheit“ konnotiert. Sie sind ein prägnantes Beispiel für die fehlende oder defizitäre Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Besonderheiten und Risikofaktoren im Versorgungsmanagement, die im Wesentlichen auf einen „gender-bias“ bzw. „male bias“ zurückgehen (vgl. z.B. Bisig/Gutzwiller 2002, Dehler/Bisig 2002, Grande u.a. 2002). Eine Fülle wissenschaftlicher Studienergebnisse verweist auf Geschlechterunterschiede sowohl in der Behandlung als auch im Behandlungserfolg, die von Herz-Kreislauf-Erkrankungen zum Nachteil von Frauen (vgl. Schwarz/Dören 2007). Sie sind auch von anderen chronischen Krankheiten (vgl. BMFSFJ 2001, RKI 2006) und Altersrisiken erst in einem höheren Lebensalter überproportional häufig betroffen (vgl. Rieder 2004, Weyerer 2005, RKI 2006). In den vergangenen Jahren ist neben den körperlichen Erkrankungen die Relevanz psychischer Störungen in beiden Geschlechtergruppen kontinuierlich gestiegen. Psychische Störungen und neuropsychiatrische Erkrankungen wie Depression, Schizophrenie, Alkohol- und Drogenabhängigkeit, Angst- und Zwangsstörungen, somatoforme Störungen und Demenzen (vgl. WHO 2004) machen bereits heute einen erheblichen Teil der sogenannten „Disability Adjusted Life Years (DALYs)” aus, d.h. der im Bezug zur Lebenserwartung verlorenen Lebensjahre aufgrund
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von Krankheit und vorzeitigem Tod (vgl. Murrey/Lopez 1997). Im Unterschied zu körperlichen Erkrankungen werden psychische Beeinträchtigungen in der Allgemeinbevölkerung vorwiegend als „geschlechtsneutrale“ Gesundheitsstörungen behandelt (vgl. z.B. BMG 2006) oder aber als „weibliche“ Krankheiten interpretiert, mit der Folge, dass beispielsweise die Depression bei Männern ein weithin vernachlässigtes Forschungs- und Handlungsfeld darstellt. Angesichts der hohen männlichen Suizidraten (vgl. RKI 2006), liegen zahlreiche Anhaltspunkte für eine mögliche Unterdiagnostizierung und Unterversorgung depressiver Störungen bei Männern vor (vgl. Möller-Leimkühler 2006). Verdeckte Symptome bei Männern, wie Aggressionen, erhöhte Risikobereitschaft, Suizidneigung sowie Substanzmissbrauch, werden mit dem verfügbaren diagnostischen Instrumentarium vielfach nicht erfasst, da sie außerhalb der typischen Depressionssymptomatik liegen (vgl. Winkler/Heiden/Kasper 2004, Wolfersdorf u.a. 2006). Ungeachtet der bestehenden inter- und intraindividuellen Varianzen zwischen Frauen und Männern spielen auch bei Männern psychische Belastungen und psychische Krankheiten eine bedeutsame Rolle (vgl. Jacobi/Klose/Wittchen 2004). Diese sind durch geschlechtsspezifische psychopathologische Unterschiede charakterisiert und wiederum eng mit der Geschlechterrolle sowie mit geschlechtsspezifischen Gesundheitsrisiken assoziiert (vgl. Riecher-Rössler/Rohde 2001). Drogen- und alkoholinduzierte psychische Störungen sowie Suizidalität sind vorwiegend bei Männern zu beobachten. Eine höhere Vulnerabilität und Betroffenheit von Frauen ist bezüglich depressiver Erkrankungen, Suizidversuchen, Angststörungen, Essstörungen und demenzieller Erkrankungen beschrieben (vgl. Jacobi/Klose/Wittchen 2004).
Anknüpfungspunkte zur Verringerung bestehender Defizite in Forschung und Praxis Die Bedeutung von Diversität im Kontext Gender und Gesundheit Die geschlechtsneutrale Ausrichtung von Angeboten und Maßnahmen, die einseitige Fokussierung auf ein Geschlecht oder der implizite Ausschluss eines Geschlechts geht an den unterschiedlichen Bedarfslagen von Frauen und Männern vorbei (vgl. Kuhlmann/Kolip 2005). Eng damit verbunden ist die Gefahr, Geschlechterdifferenzen überzubewerten und einer weiteren Zementierung von Geschlechterrollen bzw. Rollenstereotypen Vorschub zu leisten (vgl. Jahn 2005). Das Erfordernis der Geschlechterorientierung erklärt sich aus der Feststellung, dass es nicht die Frauen und die Männer gibt, sondern lediglich Frauen und Männer, die aus sehr unterschiedlichen Lebenslagen heraus und mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen und Anforderungen an das Gesundheitssystem herantreten (vgl. Rieder 2004). Ein quantitativ und qualitativ weithin unterschätztes Gesundheitsrisiko sowohl für Frauen (vgl. Schröttle 2004, Schröttle/ Müller 2006, Hornberg u.a. 2007, Hagemann-White/Bohne 2003) als auch für Männer (vgl. Heinrich-Böll-Stiftung 2002, Lenz 2006) stellen gesundheitliche Folgen personaler Gewalterlebnisse im sozialen Nahraum, im öffentlichen Raum und in institutionellen Settings wie Schule, Arbeitsplatz, Haftanstalt etc. dar (vgl. Jungnitz u.a. 2007). Innerhalb des Systems der Gesundheitsversorgung stellen sie sämtliche AkteurInnen vor besondere Herausforderungen (vgl. Brzank/Hellbernd/Maschewsky-Schneider 2006, Hellbernd u.a. 2004). Frauen und Männer mit Migrationshintergrund, Gewalterfahrungen, Behinderungen, psychischen Erkrankungen, Suchterkrankungen etc. repräsentieren Bevölkerungsgruppen, die sich in besonderen gesundheitlichen und meist auch prekären sozialen Lagen (z.B. Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit, Alleinerziehen, Migration) befinden. Im System der Gesundheitsversorgung bleiben sie mit ihren sehr heterogenen Problemkonstellationen vielfach unsichtbar bzw. werden nur unzureichend wahrgenommen. Im Sinne einer „bevölkerungsbezogenen Diversity-Perspektive“ (Geiger 2006: 173) und eines „Diversity Managements“ (vgl. Altgeld/Bächlein/Deneke
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2006) gilt es, diese Unterschiedlichkeit zwischen Frauen und Männern sowie intraindividuelle Differenzen innerhalb der Geschlechterkategorien zu identifizieren. Auf diese Weise rücken Zielgruppen in den Fokus, die aus gesundheitswissenschaftlicher Perspektive erhöhter Aufmerksamkeit bedürfen. Sensibilität gegenüber verschiedenen sozialen und ethnischen Gruppen und die entsprechende Ausdifferenzierung von Subzielgruppen sind somit prioritär zu berücksichtigende Komponenten in der Entwicklung bedarfsgerechter, an den Lebenskontexten und -lagen der AdressatInnen anknüpfende, präventive und gesundheitsfördernde Interventionen (vgl. Rosenbrock/Michel 2007).
Geschlecht als zentrale Variable für Prävention und Gesundheitsförderung Prävention und Gesundheitsförderung im Sinne von Gender Mainstreaming haben ihren Anknüpfungspunkt in den konkreten Lebenslagen und damit auf der Mikro- und Mesoebene der sozioökonomisch geprägten Lebensumwelten und -bedingungen, die Verhalten und Lebensstile von Frauen und Männern determinieren. Demzufolge hat sich die geschlechtsneutrale Ausrichtung präventiver und gesundheitsfördernder Angebote in der Vergangenheit häufig nur in geringem Umfang als effizient erwiesen (vgl. Kuhlmann/Kolip 2005). Prävention und Gesundheitsförderung, die den Verschiedenheiten von Frauen und Männern im Sinne von Gender Mainstreaming Rechnung tragen und an den spezifischen Bedürfnissen, Ressourcen, Belastungen und Risikofaktoren von Frauen und Männern orientiert sind, verfolgen in der Regel zwei Zugänge: Zu unterscheiden sind einerseits geschlechtsspezifische Angebote, die entweder ausschließlich an Frauen oder ausschließlich an Männer adressiert sind. Einen anderen Zugang verfolgen geschlechterübergreifend konzipierte Angebote in Handlungsfeldern, die für beide Geschlechter relevant sind. Die Gendersensibilität dieser kaum verfügbaren Angebote zeichnet sich dadurch aus, dass sie zielgruppen- und somit altersspezifisch medizinische, psychische und soziale Geschlechterunterschiede in ihren Konsequenzen für Prävention und Gesundheitsförderung durchgehend, d.h. systematisch von der Planung über die Intervention bis hin zur Evaluation einbeziehen (vgl. Kolip/Altgeld 2006). Chancen, die avisierte Zielgruppe tatsächlich zu erreichen, sind in der Regel dann gegeben, wenn Interventionen einen engen Bezug zu wesentlichen Lebensbereichen herstellen (vgl. z.B. Bär/Buhtz/Gerth 2004, Rosenbrock/Michel 2007).
Aufgaben gendersensibler Gesundheitsforschung Repräsentative Studien bilden in der Gesundheitsforschung die empirische Basis, um Ausmaß und Formen geschlechtsspezifischer Gesundheits- und Krankheitsprofile zu erfassen. Eine wesentliche Schwäche vieler Untersuchungen liegt nach wie vor entweder in der fehlenden Einbeziehung männlicher bzw. weiblicher Vergleichsgruppen oder aber in der lediglich vergleichenden Gegenüberstellung von Prävalenzraten. Wenngleich die Gender-Gesundheitsforschung in den vergangenen Jahren bereits eine Vielzahl wichtiger Ergebnisse hervorgebracht hat, ist die geschlechtersensible Analyse und Aufbereitung des erhobenen Datenmaterials, u.a. als Basis für die Gesundheitsversorgung und ein geschlechterdifferenzierendes Versorgungsmanagement, künftig weiter zu fördern (vgl. Kolip 2001). Dabei sollte der Fokus darauf gerichtet werden, das Wissen um geschlechtsspezifische Variationen in den gesundheits- und krankheitsbezogenen Schutz- und Risikofaktoren in unterschiedlichen Altersgruppen, Lebenslagen, sozialen Gruppen etc. zu erweitern, um Potenziale (primär-)präventiver Interventionen stärker ausschöpfen zu können. Die Einbeziehung beider Geschlechter beugt darüber hinaus dem Risiko einer Überbetonung geschlechtsspezifischer Besonderheiten sowie einer einseitigen Fehlinterpretation be-
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stimmter Rollenphänomene und Geschlechterdifferenzen vor, die sich in der Realität unter Umständen anders darstellen bzw. weit weniger ausgeprägt sind. Um dies zu verhindern, kommt einer geschlechtergerechten Gesundheitsberichterstattung eine wichtige Aufgabe zu.
Gendersensibilität in der Gesundheitsberichterstattung Geschlechtersensibel aufbereitete Gesundheitsinformationen (vgl. BAG 2006) und eine geschlechtsangemessene Publikationspraxis (vgl. Maschewsky-Schneider/Fuchs 2002) können einen wichtigen Beitrag im Sinne der Qualitätssicherung leisten. Sie sind erforderlich, um bestehende Informationslücken über geschlechtsspezifische Versorgungsbedarfe und den Geschlechter-Bias in der medizinischen Forschung, Diagnostik, Therapie und Rehabilitation aufzudecken und zu schließen (vgl. Böhm/Maschewsky-Schneider 2004). Auf der Ebene des Bundes gelten mittlerweile verbindliche Richtlinien zur Anwendung des Gender-Mainstreaming-Prinzips in der Gesundheitsberichterstattung und die Verpflichtung einer systematischen geschlechtervergleichenden Betrachtungsweise, die frauen- und männerspezifische Belange einbezieht. Um statistisch feststellbare gesundheitliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern nachzuvollziehen sowie geschlechtsspezifische Verzerrungen zu vermeiden, wurden von Seiten des Robert-KochInstituts (RKI) Handreichungen für eine geschlechtssensible Gesundheitsberichterstattung ausgearbeitet (vgl. Lange/Lampert 2004). Der von Eichler/Fuchs/Maschewsky-Schneider (2000) entwickelte Kurzfragebogen zur Identifikation von Gender-Bias in Forschung und Praxis hat sich dabei als wichtiges Arbeitsinstrument und Orientierungshilfe erwiesen. Die konsequente Umsetzung gendersensibler Gesundheitsberichterstattung scheitert bisweilen an fehlenden geschlechterrelevanten Indikatoren sowie an der mangelnden Verknüpfung von gesundheitsbezogenen Daten mit sozialdifferenzierten Daten zu den Lebenslagen von Frauen und Männern. Die Perspektiven und Potenziale einer gendersensiblen Gesundheitsberichterstattung liegen darin, geschlechtsspezifische Besonderheiten und geschlechterübergreifende Problemlagen im Zusammenhang mit weiblichen und männlichen Rollenanforderungen und Lebenslagen differenziert zu betrachten und aufeinander zu beziehen (vgl. BAG 2006). Auf diese Weise können Asymmetrien zwischen den Geschlechtern sowie innerhalb der Geschlechterkategorien in ihrer Relevanz für die Gesundheitsversorgung erschlossen und entsprechende Konsequenzen für Forschung und Praxis formuliert werden (vgl. Lange/Lampert 2004).
Gender-Kompetenzen als Qualitätsstandard in der Gesundheitsversorgung Im Gesundheitswesen tätige Berufsgruppen haben eine hohe Verantwortung im Umgang mit Frauen und Männern, die mit sehr unterschiedlichen subjektiven und objektiven gesundheitlichen Belastungen und Ressourcen an sie herantreten. Um dieser Diversität gerecht zu werden, bedarf es entsprechender Gender-Kompetenzen. Wissen um die soziale Konstruktion von Geschlechterrollen und Geschlechterverhältnissen, die Fähigkeit zur Reflexion von (eigenen) Geschlechterrollenbildern sowie der wissenschaftliche und praktische Umgang mit der Analysekategorie „gender“ (vgl. Blickhäuser/Bargen 2005) bilden ein zentrales Fundament und Qualitätskriterium professionellen gendersensiblen Handelns. Auf der Kommunikations- und Interaktionsebene zwischen Health Professionals und PatientInnen indiziert dies eine Veränderung in der Beziehung zwischen dem Arzt oder der Ärztin und den PatientInnen, in der Frauen und Männer nicht länger als zu behandelnde Objekte, sondern als handlungsfähige Subjekte wahrgenommen werden. „Nutzerorientierung“ (Sachverständigenrat 2003), „Patientenpartizipation“ (Sachverständigenrat 2000/2001) und innovative Formen der PatientInnenberatung durch Reduzierung
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bestehender Informationsasymmetrien zwischen NutzerInnen und GesundheitsexpertInnen (vgl. Reibnitz/Schnabel/Hurrelmann 2001) sind in diesem Zusammenhang mehr als nur Schlagworte. Ziel sollte es sein, die fehlende Sensibilität gegenüber geschlechtsspezifischen Besonderheiten, Handlungsunsicherheiten, aber auch Wissensdefizite zu reduzieren. Zentrale Ausgangsbasis für die (Weiter-)Entwicklung einer „Gender-Medizin“, einer gendersensiblen Gesundheitsforschung und -versorgung ist die generelle Einbeziehung der Gender-Thematik und damit der frauen- und männerspezifischen Besonderheiten in ärztliche und pflegerische Ausbildungscurricula sowie in Weiter- und Fortbildungen (z.B. Voss 2003).
Ausblick Public Health ist mit der Aufgabe konfrontiert, die Ansätze der Frauengesundheitsforschung (vgl. z.B. Maschewsky-Schneider u.a. 2000) mit denen der Männergesundheitsforschung zu verbinden. Geschlecht ist dabei lediglich eine, wenn auch sehr bedeutsame Gesundheitsdeterminante, die eng mit anderen Faktoren verknüpft ist. Herausforderungen einer gendersensiblen Public-Health-Versorgungsforschung, eines gendersensiblen Versorgungsmanagements sowie einer genderseniblen Gesundheitspolitik liegen darin, starre Grenzziehungen zwischen „weiblich“ und „männlich“ sowie Geschlechtsrollentypisierungen in allen Bereichen gesundheitsbezogener Forschung und Praxis so weit wie möglich aufzulösen. Die Gender-Perspektive verfügt insgesamt über ein hohes Potenzial, die gesundheitsbezogene Chancengleichheit und Gleichberechtigung von Frauen und Männern zu fördern und zudem Erkenntnisse zu generieren, die der Gesundheit beider Geschlechter dienen. Verweise: Gewalt Gender Mainstreaming Frauen-„Körper“ Sozialberichterstattung
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Andrea Pauli, Claudia Hornberg
Umwelt und Gesundheit: Gender-Perspektiven in Forschung und Praxis
Umwelt als geschlechterrelevante Gesundheitsdeterminante Umweltbezogene Gesundheit (environmental health) umfasst dem Sprachgebrauch der Weltgesundheitsorganisation zufolge alle physikalischen, chemischen, biologischen sowie psychosozialen Umweltfaktoren, die potenziell schädigenden Einfluss auf die Gesundheit nehmen können. Im Verlaufe des vergangenen Jahrhunderts haben sich die umweltbezogenen Gesundheitsfaktoren ebenso wie individuelle Lebensweisen (vgl. Naidoo/Wills 2005), vorwiegend in den Industrienationen, qualitativ verändert. Deutlichen Verbesserungen des Umweltzustandes aufgrund technologischer Entwicklungen und rechtlicher Vorgaben stehen neuartige bzw. wieder auftretende Probleme in den Mensch-Umwelt-Beziehungen gegenüber, welche die (umweltbezogene) Krankheitslast („Environmental Burden of Disease“) beeinflussen (Malsch u.a. 2006, Prüss-Üstün/Corvalán 2006). Als bedeutsame interagierende „soziale Noxen“ (Neuser u.a. 2002) sind darüber hinaus sozialstrukturelle Faktoren zu nennen, die zu einer sozialen Ungleichverteilung von Umweltbelastungen führen können (vgl. Heinrich u.a. 1998). Bildung, Beruf und/oder Einkommen, als Indikatoren der sozialen Schicht, determinieren zusammen mit dem Geschlecht als Struktur- und Prozesskategorie (vgl. Babitsch 2005) sowie mit weiteren horizontalen Merkmalen der sozialen Lage die umweltbezogene Gesundheit (vgl. Mielck 2002, 2005). Ursachen und Ausmaß der auf Umweltfaktoren zurückzuführenden Krankheitslast innerhalb der deutschen Bevölkerung sind angesichts fehlender Datenquellen weitgehend ungeklärt (vgl. Malsch u.a. 2006). Die Weltgesundheitsorganisation (WHO 2002) geht davon aus, dass in den industrialisierten Staaten Nord- und Westeuropas bis zu zehn Prozent der gesundheitlichen Beeinträchtigungen auf Umweltfaktoren zurückgehen. Belastungen aus der Umwelt gelten neben der sozialen Lage, dem Bildungsniveau und dem individuellen Lebensstil auch in Deutschland als bedeutsame Gesundheitsdeterminanten (vgl. RKI 2006, Mielck 2002).
Die Geschlechterkategorie in ihrer Bedeutung für „environmental health“ Ungeachtet mangelnder wissenschaftlicher Evidenz und kontroverser Einschätzungen über die Bedeutung einer Umweltbeteiligung in der Krankheitsentstehung, in den Beschwerdebildern und in den Krankheitsverläufen (vgl. Seidel 1998, Stopper/Gertler 2002) kann einer groben Einteilung zufolge unterschieden werden zwischen –
multifaktoriellen Erkrankungen mit Umweltbezug (z.B. Allergien) (vgl. Behrendt/Gfesser/ Ring 1999), – Erkrankungen mit unklarer Umweltbeteiligung, bei denen Umweltfaktoren als Trigger- oder Ko-Faktoren eine Rolle zukommt (z.B. bestimmte Krebserkrankungen) (vgl. Nguyen 2002),
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umweltbezogenen funktionellen Syndromen (z.B. „Sick Building Syndrome“ (SBS), „Multiple Chemical Sensitivity“ (MCS)), für die ein Umweltbezug vermutet wird (vgl. Hornberg/ Pauli/Wiesmüller 2003, Wiesmüller/Bischof 2006) sowie Befindlichkeitsstörungen (vgl. Bullinger 2002).
Erfahrungswerte aus den universitären umweltmedizinischen Ambulanzen im Bundesgebiet zeigen übereinstimmend eine höhere Prävalenz umweltbezogener Befindlichkeitsstörungen und Krankheitssymptome bei Frauen (vgl. Keller u.a. 2005, Wiesmüller/Bischof 2006). Umweltfaktoren können allerdings nur in seltenen Fällen die geklagten Beschwerden und Krankheitssymptome hinreichend erklären (vgl. Hornberg u.a. 2005, Keller u.a. 2005). Eine Identifizierung von Kausalzusammenhängen ist bei umweltbezogenen Symptomen, Entitäten und Erkrankungen oftmals nicht möglich. Hier spielen interdependente Wirkungen zwischen einer Vielzahl möglicher ursächlicher Faktoren, unterschiedliche Latenzzeiten zwischen Ursache und Wirkung sowie die potenzielle Variationsbreite intra- und interindividueller Reaktionen eine wichtige Rolle. Daneben sind geschlechtsspezifische toxikogenetische und toxikodynamische Besonderheiten und Empfindlichkeiten zu berücksichtigen, die auf Unterschiede in der weiblichen und männlichen Anatomie und Physiologie zurückgehen (vgl. Stopper/Gertler 2002). Sie können geschlechtsspezifische Wirkungen von Umweltschadstoffen in den Zielorganen determinieren und sich letztlich in unterschiedlichen Symptomkonstellationen und Erkrankungen bei Frauen und Männern manifestieren. Ihre Wahrnehmung, das Adaptionsverhalten und die daraus resultierende Inanspruchnahme von medizinischen Versorgungsstrukturen variiert ebenfalls zwischen den Geschlechtern (vgl. Kuhlmann/Kolip 2005). Darüber hinaus gilt es zu berücksichtigen, dass Frauen und Männer sich in differenziellen Alltags- und Arbeitskontexten bewegen, die ihre alltäglichen Aktivitäten, Handlungsmuster, Alltagsroutinen und Lebensstile wesentlich beeinflussen (vgl. BMFSFJ 2001). Modifikationen in den Expositionsfaktoren und in der Vulnerabilität für eine Exposition sind in Anbetracht der Variabilität der Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie der sozioökonomischen Verhältnisse im Lebensverlauf sehr wahrscheinlich.
Gender, Umwelt und Gesundheit im Kontext beruflicher Erwerbsarbeit Geschlechterunterschiede am Arbeitsmarkt bestehen nicht nur in den verschiedenen Berufs-, Wirtschaftsbereichen und Tätigkeitsgruppen (horizontale Segregation). Auch innerhalb des gleichen Beschäftigungssektors sind Frauen und Männer meist in unterschiedlichen hierarchischen Positionen (vertikale Segregation) (Allmendinger/Podsiadlowski 2001) mit sehr unterschiedlichen Arbeitsanforderungen und -tätigkeiten konfrontiert (European Agency for Safety and Health at Work 2003). Ein Arbeitsfeld mit überdurchschnittlicher Frauenbeteiligung und hoher Fehlzeitenrate ist das Tätigkeitsfeld „Reinigung und Raumpflege“ (vgl. BKK 2006). Frauen tragen als Reinigungskräfte durch Kontakt mit Chemikalien in Reinigungs- und Desinfektionsmitteln, häufig ohne entsprechende Schutzmaßnahmen und Schulung, ein doppelt so hohes Risiko an Asthma und Kontaktekzemen zu erkranken wie Frauen in anderen Berufen (vgl. European Agency for Safety and Health at Work 2003). Die als oberflächenaktive Stoffe für Putzmittel und Detergentien verwendeten Alkylphenole zählen zu den sog. hormonell wirksamen „Xenoöstrogenen“, die u.a. als ein Risikofaktor für Brustkrebs diskutiert werden (vgl. Gies u.a. 2001). Im Friseurhandwerk bergen der Kontakt mit Chemikalien, z.B. in Haarfärbe- und Dauerwellenprodukten, sowie die fortwährende Arbeit im feucht-nassen Milieu ein hohes Risiko für Hautkrankheiten, Allergien und Asthma. Darüber hinaus hat sich das Tragen von Handschuhen aus Naturlatex, das eigentlich dem Hautschutz dienen soll, als Expositionsquelle erwiesen. Na-
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turlatexhaltige Schutzhandschuhe können durch die Freisetzung von Allergenen, insbesondere bei bestehender Sensibilisierung, das Risiko für Allergien und chronisch obstruktive Atemwegserkrankungen deutlich erhöhen (vgl. Allmers 2003, Allmers u.a. 2005). In Branchen mit einem hohen Frauenanteil (Metall- und Elektroindustrie, Textil- und Bekleidungsindustrie) sind Frauen vor allem Lärm, ungünstigen klimatischen Bedingungen und der Gefährdung durch chemisch-irritativ oder toxisch wirkende Stäube und Chemikalien(-gemische) (Färbemittel, Formaldehyde zur Behandlung von Textilien, Lösemittel, Schmierstoffe etc.) ausgesetzt (vgl. Banos/Droge/Reuß 2003). Gesundheitsrisiken an diesen Arbeitsplätzen wurden bislang in der Gesundheitsforschung weitgehend vernachlässigt. Auch der erste deutsche Frauengesundheitsbericht (vgl. BMFSFJ 2001), der Erwerbsarbeit und Gesundheit als einen Schwerpunkt behandelt, beschränkt sich auf die gesundheitlichen Belastungen in frauentypischen Dienstleistungsberufen. Zu diesen gehören u.a. Arbeitsplätze wie Call-Center und Großraumbüros. Beleuchtungsverhältnisse, thermisches und raumakustisches Klima (vgl. RKW-Verbundprojekt 2002) zählen hier zu den umweltmedizinisch relevanten Belastungsquellen. Sie können, vielfach in Verbindung mit psychosozialen Arbeitsbelastungen (z.B. Mobbing), zu innenraumbezogenen Entitäten wie dem Sick-Building-Syndrom (SBS) führen. Die zu beobachtende deutlich höhere Prävalenz der Symptome bei Frauen ist wissenschaftlich noch ungeklärt (vgl. Wiesmüller/Bischof 2006). Branchenspezifische gesundheitliche Beeinträchtigungen bei Männern, z.B. im verarbeitenden Gewerbe, sind vorwiegend langfristige Einwirkungen physikalischer Faktoren. Schwerhörigkeit durch Lärm rangiert in Deutschland an erster Stelle unter den anerkannten Berufskrankheiten bei Männern, gefolgt von asbestverursachten Erkrankungen, Quarzstauberkrankungen, Hauterkrankungen sowie chronisch obstruktiven Atemwegserkrankungen (vgl. Seidel u.a. 2007). Kontaktallergien spielen in Bauberufen, z.B. durch die Verwendung von chromathaltigem Zement, eine Rolle (vgl. Straff/Schnuch 2006). Arbeitsbereiche mit einem hohen Allergierisiko sind zudem Bäckereien, Holzverarbeitung, Laboratorien sowie die Agrarwirtschaft (vgl. Seidel u.a. 2007). Tätigkeiten in gewerblichen Bereichen wie Berufsfeuerwehr, Müllabfuhr und Straßenreinigung sind vielfach mit problematischen Arbeitsstoffen assoziiert, die diverse Organerkrankungen verursachen können. Insgesamt sind bei Männern häufiger als bei Frauen berufsbedingte Krebserkrankungen, u.a. aufgrund branchentypischer Belastungen und der durchschnittlich höheren Expositionsdauer, zu verzeichnen (vgl. European Agency for Safety and Health at Work 2003). Arbeitsschutzrechtlich wurden die vermeintlich „leichteren Arbeiten“ in frauentypischen Tätigkeitsfeldern gegenüber „männerdominierten Branchen“ mit einem hohen Verunfallungsrisiko (vgl. Seidel u.a. 2007) in der Vergangenheit durchgängig als weniger gesundheitsgefährdend und risikobehaftet eingestuft. Sie haben folglich arbeitsschutzrechtlich wenig bis keine Aufmerksamkeit erfahren (vgl. Östlin 2002, Messing/Stellman 2006). Forschungsansätze basieren nach wie vor häufig auf androzentrischen, das männliche Geschlecht als Norm setzenden Grundannahmen (vgl. Jahn 2005, Vogel 2003). Die Folge ist, dass geschlechtsbezogene Problemlagen nicht erkannt werden bzw. ein entsprechend verzerrtes Bild entsteht (vgl. Landtag NRW 2004, Jahn 2005). Statistiken und Berichte zum beruflichen Krankheitsgeschehen in Deutschland waren in der Vergangenheit aufgrund ihrer Alters- und Geschlechtsstandardisierung nur wenig geeignet, die aus der geschlechtsspezifischen Segregation des Arbeitsmarktes resultierenden Gesundheitsrisiken und Arbeitsbelastungen zu erfassen. Mittlerweile liegen u.a. von Seiten der Versicherungsträger vereinzelt geschlechtsdifferenzierte Auswertungen vor, die sich z.B. auf Arbeitsunfähigkeitsdaten in unterschiedlichen Branchen, Berufen und Regionen beziehen. Sie weisen auf erhebliche berufs- und branchenbezogene Varianzen in den Belastungen und Krankheitsschwerpunkten von Frauen und Männern hin (vgl. z.B. BKK 2006). Symptome und Krankheiten, die mit der Arbeitstätigkeit in Verbindung gebracht werden können, betreffen die Arbeitsumgebung mit ihren physikalischen Faktoren (Lärm, Nachtlicht-Exposition bei Nacht- und Schichtarbeit),
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chemischen Faktoren (Umgang mit Chemikaliengemischen im Friseurhandwerk) und den Einfluss der psychosozialen Arbeitsumwelt (Stress, mangelnde Anerkennung, Mobbing) (vgl. Östlin 2002, Messing 2004). Die auftretenden Gesundheitsprobleme sind zudem eng mit dem Alter, mit der beruflichen Qualifizierung und mit dem sozioökonomischen Status assoziiert (vgl. BKK 2006). Grundsätzlich verweisen die Geschlechterdifferenzen auf umfassenden Handlungsbedarf und die Entwicklung geschlechtssensibler Konzepte im Arbeits- und Gesundheitsschutz (vgl. Landtag NRW 2004). Eine systematische genderbezogene Ausrichtung der Gestaltung von Arbeitsplätzen und Arbeitsplatzbedingungen wurde mit der im Jahr 2002 verabschiedeten „Gemeinschaftsstrategie für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz (2002-2006)“ auf europäischer Ebene verankert (vgl. Niedhammer u.a. 2000, European Agency for Safety and Health at Work 2003). Bisher existieren nur wenige Beispiele für gendersensible Gesundheitsmanagementansätze und Unternehmenskonzepte, die Gender Mainstreaming als Qualitätskriterium einbeziehen (vgl. Ulmer/Gröben 2004). Die geschlechtsspezifische Arbeitsmarktsegregation zeigt auch hier ihre Auswirkungen, indem betriebliche Gesundheitsförderung vor allem in männerdominierten Großbetrieben etabliert ist. Branchen mit einem überdimensional hohen Anteil an weiblichen Beschäftigten halten hingegen nur sehr vereinzelt Angebote geschlechtsspezifischer betrieblicher Gesundheitsförderung bereit (vgl. Pirolt/Schauer 2005). Anknüpfungspunkte für eine geschlechterdifferenzierte Ausrichtung sind auf allen Ebenen betrieblichen Gesundheitsmanagements auszumachen. Langfristig angelegte, ganzheitliche und „beteiligungsorientierte Interventionsansätze“ (Altgeld 2006), die verhaltens- und verhältnisbezogene Ansätze kombinieren, bergen ein besonders hohes Potenzial für eine gendersensible Ausrichtung. In der Überprüfung der geplanten Maßnahmen und Aktivitäten in ihren potenziellen geschlechtsspezifischen Auswirkungen auf den Alltagskontext und die Alltagsgestaltung von Frauen und Männern hat sich das Instrument des sog. Gender Impact Assessment (GIA) (vgl. Weller u.a. 2003) als gewinnbringend erwiesen. Es kann z.B. aufdecken, dass erwerbstätige Mütter mit komplexen Wegeketten und Zeitaufwendungen konfrontiert sind (vgl. Küster 1999, Bauhardt 2006). Sie sind das Ergebnis divergierender Anforderungen aus bezahlter Erwerbsarbeit und unbezahlter Haus- und Versorgungsarbeit, die es im Alltag zu koordinieren und in Einklang zu bringen gilt (vgl. Pirolt/Schauer 2005).
Häusliche Versorgungsarbeit als umweltbezogene Gesundheitsdeterminante Während die Lebensrealität von Männern im mittleren Lebensalter nach wie vor von außerhäuslicher Erwerbsarbeit dominiert ist, verwenden Frauen, vielfach zusätzlich zur Erwerbstätigkeit, erhebliche Zeitressourcen auf Alltagsarbeiten im Haushalt (vgl. BMAS 2006, Gille/Marbach 2004). Aus der ungleichen Arbeitsaufteilung resultiert, dass die Aufenthaltszeiten von Frauen in den Expositionssettings der Wohnung und im häuslichen Wohnumfeld weit über denen der Männer liegen (vgl. Blättel-Mink/Kramer/Mischau 2000). Sauberkeit und Hygiene haben in vielen Kulturen gerade für Frauen einen hohen Stellenwert. Nicht wenige der im Haushalt angewendeten „Alltagsprodukte“ bergen ein allergenes Potenzial. Andere Stoffe können aufgrund ihrer toxischen Wirkung die Atemwege unmittelbar schädigen oder Atemwegsreizungen hervorrufen. Verbindungen zwischen der Zunahme von Allergien und der steigenden Chemikalienbelastung in Privathaushalten sind nicht auszuschließen (vgl. Schnuch u.a. 2004). Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang die Beobachtung von Geschlechterunterschieden in der Sensibilisierbarkeit gegenüber Allergenen und in der Manifestation von Kontaktekzemen. Die bei Frauen dominierenden Allergene, die u.a. in Kosmetika, nickelhalti-
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gem Schmuck und Reinigungsmitteln vorkommen, stehen vermutlich mit geschlechtsspezifischen Nutzungsmustern in Verbindung (vgl. Straff/Schnuch 2006). Ein bekanntes Beispiel sind auch die sog. Phthalate (vgl. UBA 2007), die u.a. in Alltagsprodukten wie Hygiene- und Kosmetikartikeln (Parfüms, Cremes) enthalten sind (vgl. Schettler 2006, Koos/Lee 2004). Als persistente, lipophile Verbindungen reichern sie sich in der Umwelt an und gelangen über diesen Weg in die Nahrungskette und in das menschliche Fettgewebe (vgl. UBA 2006). Besondere Aufmerksamkeit haben diesbezüglich bioakkumulierende Stoffe mit hormoneller Wirkung erlangt. Sie reichern sich über viele Jahre im menschlichen Organismus an und können noch weitgehend ungeklärte geschlechtsabhängige, gesundheitliche Langzeitfolgen hervorrufen (vgl. Wolff u.a. 2007). Sie sind ebenso wie synthetische Moschus-Duftstoffe (vgl. UBA 2006), die in Waschmitteln, Raumsprays, Hautpflegeprodukten etc. zum Einsatz kommen, in der Muttermilch von Frauen nachzuweisen (vgl. Cameron/Smolka 2005, Stopper/Gertler 2002). Muttermilch hat sich als verlässlicher Indikator für die korporale Belastung mit diversen Chemikalien und Rückständen erwiesen (vgl. Seidel 1998). Da die Konzentration verschiedenster Stoffe in der Muttermilch jedoch unterhalb der gesundheitsschädigenden Aufnahmemengen liegt, wird eine Einschränkung des Stillens von den zuständigen Fachstellen nicht empfohlen (vgl. Nationale Stillkommission 2004). Einer deutlichen Reduzierung der Rückstandsgehalte in der Muttermilch, z.B. infolge gesetzlicher Regelungen, Anwendungsbeschränkungen und technischer Maßnahmen, steht allerdings nach wie vor die Identifizierung kontinuierlich neuer Stoffgruppen u.a. in alltäglichen Bedarfsgegenständen (synthetische Duftstoffe, polybromierter Diphenylether (PBDE – sog. Flammschutzmittel)) gegenüber (vgl. Mühlendahl/Otto 2006). Bei der Expositionsbewertung im häuslichen Umfeld sind die traditionell vorwiegend männlich konnotierten Arbeiten, wie z.B. das Heimwerken und Renovieren, das sich zu einem expandierenden Betätigungsfeld entwickelt hat, nicht zu vernachlässigen. Männer sind in Paarbeziehungen häufig diejenigen, die handwerkliche Arbeiten, Reparaturen, Pflege und Wartung des Autos übernehmen (vgl. Blättel-Mink/Kramer/Mischau 2000). In diesem Tätigkeitsfeld sind sie vermutlich häufiger als Frauen mit Umweltnoxen konfrontiert. Von Bedeutung sind z.B. Farben, Lacke und Klebstoffe in Heimwerker- und Hobbyprodukten oder die Verwendung von Autoreinigungs- und -pflegemitteln. Empirische Studien über die Beschaffung, Lagerung, Nutzung und Entsorgung von Produkten in privaten Haushalten, in denen bedeutende Mengen gesundheitlich problematischer Stoffgruppen zur Anwendung kommen, fehlen derzeit nahezu gänzlich (vgl. Habib/El-Masri/Heath 2006). Da sich die arbeitswissenschaftliche Forschung erst in jüngster Zeit der Analyse von gesundheitlichen Belastungen durch haushaltsbezogene Tätigkeiten widmet (vgl. Keller u.a. 2004), sind Angaben über die tatsächliche Expositionshöhe nur schwer zu generieren (vgl. Östlin 2002). Die Gesamtbewertung der geschlechtsspezifischen korporalen Belastung durch Haushaltsschadstoffe ist mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass die Kenntnis der Toxikokinetik von Substanzgemischen, d.h. die Änderung der Konzentration von Chemikalien im menschlichen Organismus, bislang lückenhaft ist (vgl. UBA 2006) und differenzierter Forschung bedarf.
Aufgaben einer gendersensiblen Gesundheitsforschung und -praxis Nach den Ergebnissen der Umweltbewusstseinsstudie sehen Frauen in Bezug auf Gesundheitsvorsorge eine vorrangige Aufgabe der Politik in der besseren Information über gesundheits- und umweltgefährdende Produkte und Zusätze. Sie bemängeln im Vergleich zu Männern häufiger die defizitäre Information über die Gesundheits- und Umweltverträglichkeit von Lebensmitteln und Haushaltsprodukten (vgl. Kuckartz/Rheingans-Heintze 2006). In dieser Einschätzung spiegelt sich das Defizit an vorsorge- und alltagsorientierten geschlechtergerechten Dialogformen
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und Kommunikationsinstrumenten im umweltbezogenen Gesundheitsschutz. Ansätze in der Risiko- und Umweltkommunikation, die über die reine Information als Wissensvermittlung hinausgehen und zudem Geschlechterunterschiede im Umwelt- und Konsumverhalten sowie in der Rezeption und Verarbeitung von umweltbezogenen Gesundheitsinformationen berücksichtigen, sind bislang kaum zu finden. Die Erarbeitung entsprechender Interventionen erfordert einen erweiterten Blick auf unterschiedliche Bevölkerungsgruppen, differenziert nicht nur nach Geschlecht, sondern auch nach Alter, Lebensphase, sozialer Lage und Nationalität (vgl. Kuckartz/ Rheingans-Heintze 2006). Die Untersuchung der verschiedenen Muster des Gebrauchsverhaltens bietet hier wichtige Anknüpfungspunkte, um geschlechtsspezifische Unterschiede in Handlungsmustern, Gesundheitsorientierungen, Risikoeinstellungen etc. in Abhängigkeit von soziostrukturellen Determinanten zu erfassen. Obwohl es sich bei den skizzierten Stoffen in der Einzelanwendung um gesundheitlich wenig bedenkliche Konzentrationen handelt, ist letztlich die Zahl der verwendeten Produkte, ihre (häufig unbekannten) Wechselwirkungen und die zusätzliche Belastung durch andere relevante Expositionsquellen ausschlaggebend für die Beurteilung der Gesamtbelastung (vgl. Sachverständigenrat für Umweltfragen 1999, UBA 2006). Dies stellt die Gesundheitsforschung vor die Aufgabe, sich verstärkt den vorhandenen Schnittstellen von (unbezahlter) Hausarbeit und (bezahlter) Erwerbsarbeit aus der Genderperspektive zu widmen und sie in Prävention und Gesundheitsförderung zusammenzuführen. Ein noch wenig ausgeschöpftes Potenzial liegt diesbezüglich in der Erweiterung verhaltensbezogener Ansätze um zielgruppenspezifische, geschlechtssensible verhältnisorientierte Ansätze. In der Verankerung von Prävention und Gesundheitsförderung in den sog. „Settings“ des Alltags ist das Potenzial zu vermuten, das es ermöglicht, die physikalisch-chemischen und sozialen Rahmenbedingungen der Lebens- und Arbeitsumwelt in entsprechende Maßnahmen einzubeziehen (Trojan/Legewie 2001). Gesundheitsförderung und Prävention in alltagsbezogenen Settings wie dem Arbeitsplatz versprechen zudem eine höhere Erreichbarkeit männlicher Zielgruppen (vgl. Altgeld 2004). Prävention und Gesundheitsförderung können sich hier wirkungsvoll ergänzen (vgl. Altgeld/Kolip 2004, 2005), indem miteinander verknüpfte Angebote im Themenbereich Gender, Umwelt und Gesundheit gezielt an den Arbeitsund Lebensbedingungen als verhaltens(mit-)beeinflussenden Determinanten ansetzen. Nachdem sowohl umwelt- als auch gesundheitsbezogene Forschungsthemen lange Zeit gänzlich ohne eine Differenzierung nach Geschlecht bearbeitet wurden, sind das Bewusstsein und die Sensibilität für die Integration von „Gender“ als zentrale Analysekategorie deutlich gestiegen. Trotzdem existieren zahlreiche Leerstellen einerseits im Themenkomplex „Gender und Umwelt“ im Hinblick auf die Berücksichtigung der Gesundheitsdimension sowie andererseits im Themenkomplex „Umwelt und Gesundheit“ bezogen auf die Geschlechtersensibilität. Vor allem im Umweltbereich werden Genderperspektiven nach wie vor weitgehend ausgeklammert, während die Aufgeschlossenheit gegenüber „Genderfragen“ im Gesundheitsbereich kontinuierlich wächst (vgl. Schubert-Lenhardt 2004). Eine gendersensible gesundheitswissenschaftliche Analyse der unterschiedlichen Lebensumwelten, Einstellungen, Verhaltensmuster etc. von Frauen und Männern sollte sich dabei stets ihrer Gradwanderung bewusst sein. Einerseits erweitert sie den Blickwinkel für Geschlechterunterschiede, andererseits birgt sie die Gefahr der einseitigen Fokussierung auf ein Geschlecht, der Überbewertung von Geschlechterdifferenzen und der Reproduzierung von Rollenstereotypen (vgl. Jahn 2005). Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern können auf diese Weise tendenziell eher vergrößert denn reduziert werden (vgl. Kuckartz/Rheingans-Heintze 2006). Es gilt demgemäß auch im Kontext Umwelt und Gesundheit zu differenzieren zwischen den (expliziten) Besonderheiten des jeweiligen Geschlechts und den (impliziten) gesellschaftlich konstruierten Geschlechterunterschieden (vgl. Weber 2005). Von zentraler Bedeutung sind in jedem Fall Zusammenschau und Verständnis der Gemeinsamkeiten, Differenzen und Besonderheiten sowie die ihnen zugrunde liegenden (biologisch-genetischen, umweltbezogenen und sozialen/gesellschaftlichen) Prozesse und Wechselwirkungen. Diese Basis ermöglicht es, Gender, Umwelt und
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Ulrike Schildmann
Behinderung: Frauenforschung in der Behindertenpädagogik
Das Arbeitsfeld der Frauenforschung in der Behindertenpädagogik Verhältnisse zwischen (weiblichem) Geschlecht und Behinderung werden systematisch reflektiert und untersucht im Rahmen der „Frauenforschung in der Behindertenpädagogik“. Diese entstand Ende der 1970er Jahre im Zuge der Frauenbewegung und der feministischen Frauenforschung sowie auf der Basis der „Kritik der Sonderpädagogik“ der 1970er Jahre (vgl. Abé u.a. 1973, Jantzen 1974) und entwickelte sich weiter im Laufe der 1980er und 1990er Jahre (vgl. zusammenfassend Schildmann/Bretländer 2000). Untersucht wurde das Verhältnis zwischen Geschlecht und Behinderung zunächst überwiegend auf der konkreten Ebene sozialer Probleme. Dabei standen die soziale Lage behinderter Frauen (vgl. Schildmann 1983, Ewinkel u.a. 1985) und die besondere Situation der Sonderschülerinnen bzw. die Sozialisation behinderter Mädchen (vgl. Prengel 1984, Schildmann 1985) im Mittelpunkt des Interesses. Aber auch die Geschlechterspezifik der an der Behindertenpädagogik beteiligten Berufsgruppen (insbesondere Sonderschullehrer/innen, vgl. Rohr 1984) und die Probleme von Müttern behinderter Kinder (vgl. Jonas 1990) wurden von Anfang an in den Untersuchungskanon aufgenommen. Im Anschluss an die Initiativphase der Frauenforschung in der Behindertenpädagogik (ca. 1978-1988) kam es vor allem in den 1990er Jahren zu einer inhaltlichen Ausdifferenzierung und Etablierung des Fachgebietes (ca. 1988-1996), nicht zuletzt beeinflusst durch die Gründung der bundesweiten Netzwerke behinderter Frauen (vgl. Schopmans/Scherer 1995) und durch Fachtagungen für behinderte und nichtbehinderte Frauen bzw. für Dozentinnen/Dozenten der Sonderpädagogik (vgl. Barwig/ Busch 1993, Henschel 1997, Jantzen 1997, Warzecha 1997). Damit einher gingen intensive Bemühungen, das Fachgebiet wissenschaftlich zu fundieren: Gegen Ende der 1990er Jahre begann eine theoretische Vertiefungsphase, die sich bis heute auf die Strukturen der Kategorien Geschlecht und Behinderung konzentriert.
Geschlecht und Behinderung als soziale Strukturkategorien Auf der Basis der Orientierung an den zentralen Untersuchungsgruppen der Frauenforschung in der Behindertenpädagogik entstand ein zweites wichtiges Untersuchungsfeld: die theoretische Verbindung der sozialen Strukturkategorien Geschlecht und Behinderung, die im Rahmen der Gesellschaftsanalyse – neben Klasse/Schicht und kultureller Herkunft – vor allem als Indikatoren sozialer Ungleichheitslagen fungieren. Die Kategorie Geschlecht dient der Sozialstrukturanalyse gemeinhin als „Oberbegriff und Kriterium für die Einteilung der Bevölkerung in Frauen und Männer, in weibliche und männliche Individuen. Sie folgt damit der Einsicht, daß in allen uns bekannten Gesellschaften das Geschlecht (wie auch das Alter) eine mit der Geburt festliegende Dimension sozialer Strukturierung, die das gesamte soziale und kulturelle Leben einer Gesellschaft prägt, sowie ein Bezugspunkt der Zuweisung von sozialem Status ist (...). Deshalb nennt Helmut Schelsky das Geschlecht eine ‚soziale Superstruktur‘“ (Ostner 1998: 211, o. Quelle zu Schelsky).
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Während also das Geschlecht eine Kategorie ist, die die Menschen sozialstrukturell (im Wesentlichen) in zwei etwa gleich große Gruppen einteilt und so zueinander in Beziehung setzt, dient die Kategorie Behinderung dazu, eine bestimmte Art der Abweichung von der männlichen bzw. weiblichen Normalität zu definieren und zu klassifizieren. Damit gerät nicht die Hälfte der Gesamtbevölkerung, sondern eine abweichende Minderheit in den Blick. In der Bundesrepublik Deutschland beträgt diese seit vielen Jahren etwa acht Prozent der Gesamtbevölkerung. Eine sozialwissenschaftliche Definition von Behinderung gibt der Behindertenpädagoge Wolfgang Jantzen wie folgt: „Behinderung als sozialer Begriff bezieht sich zum einen (1) auf einen Prozess sozialer Ausgrenzung und Segregation, hinter dem unterschiedliche ökonomische, soziale, historische und normative Interessen stehen, zum anderen (2) auf individuelle Geschichten biographischer Erschwernisse und Probleme, häufig überlagert durch (3) naturalisierende (z.B. ‚genetisches‘ Syndrom) oder individualisierende Ideologien, deren Bezugspunkte Abweichungen von der fiktiven Norm des mitteleuropäischen oder nordamerikanischen Menschen mittleren Lebensalters, mit guter Schulbildung, angemessenem Einkommen und männlichen Geschlechts sind.“ (Jantzen 2002: 322)
Beide strukturellen Ebenen – die von Geschlecht sowie die von Behinderung – sind durch auffällige soziale Hierarchien gekennzeichnet. Die Geschlechterhierarchie entwickelte sich mit der Moderne und der bürgerlichen Gesellschaft und ist traditionell gekennzeichnet durch eine binäre Anordnung des Mannes und der Frau zueinander, d.h. durch eine kulturelle Vorstellung von der Ergänzung der Geschlechter zu einem Ganzen, die allerdings ungleich gebrochen ist: Das Männliche wurde als das Wesentliche, das Weibliche als, wenn auch notwendige, Ergänzung des Wesentlichen konstruiert. „Damit erhalten wir die Struktur von dem Einen und dem Anderen, wobei das Eine zu identifizieren ist, weil es die Grenze zu dem Anderen selbst enthält und das Andere damit hervorbringt.“ (Moser 1997: 142; erstmals eingeführt wurde diese Argumentation von Beauvoir 1949/deutsch 1951)
Auch die Kategorie Behinderung – in sich selbst nochmals stark hierarchisch untergliedert – steht in einem binären Anordnungsverhältnis. Ihren Gegenpol bildet die „Normalität“, eine gesellschaftliche Macht- und Diskursstrategie, die sich im 19. Jahrhundert etablierte (vgl. Davis 1995, Link 1997, Schildmann 2000a) und strukturell eine soziale Orientierung der Menschen an der gesellschaftlichen Mitte, dem sozialen Durchschnitt bezweckt und einfordert. Wie die Geschlechter so gehen auch Normalität und Abweichung/Behinderung eine Ergänzung miteinander ein und erhalten eine Struktur von dem Einem und dem Anderen, wobei das Eine (das Normale) weitgehend nur aus dem heraus begreifbar wird, wie von ihm selbst das Andere (Abweichung/Behinderung) definiert und behandelt wird. Während das jeweils Eine (männliches Geschlecht, Normalität) so als das vermeintlich „allgemein Menschliche“ erscheint, trägt das jeweils Andere (weibliches Geschlecht, Behinderung) den Charakter des Anderen, Besonderen. „Die besondere Situation der Frau“ und „die besondere soziale Lage der Behinderten“ sind soziale Konstruktionen, die erst eingebunden in hierarchisierende Interessenlagen historisch möglich wurden: Basierend auf biologistischen Argumentationsmustern, mit denen die „Natur“ der Frau (im Vergleich zum Mann) und der behinderten Person (im Vergleich zur nicht behinderten) für deren gesellschaftliche Besonderung herangezogen wurde, erfuhren Frauen und Behinderte so genannte „Einschreibungen in den Körper“ (vgl. Moser 1997: 138ff.), durch die sie sozial verwundbar und abgewertet wurden. Vera Moser, die diesen Zusammenhang näher ausführt, bezieht sich auf den französischen Sozialwissenschaftler Michel Foucault, der die sozialen Zusammenhänge zwischen Körper und Macht und die Erziehung des Körpers als wesentliches Instrument der Erziehung des Menschen herausgearbeitet hat (vgl. Foucault 1976). So kommen wir zu einer gewissen Parallelität von weiblichem Geschlecht und Behinderung: – Beide verbindet die Zuschreibung des Unvollständigen im Vergleich zur Norm; – beide Unvollständigkeiten werden an den Körper geheftet (vgl. Moser 1997: 142).
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Diese Parallelität zwischen den Strukturkategorien (weibliches) Geschlecht und Behinderung ist jedoch eine allgemeine, die nach weiteren Differenzierungen verlangt, insbesondere dann, wenn es um die Analyse sozialer Probleme geht. Dazu geeignet ist auf struktureller Ebene vor allem die gesellschaftliche Konstruktion der (Arbeits-)Leistung, welche für die Zuordnung unterschiedlicher Menschengruppen zueinander und ihre Hierarchisierung untereinander von höchster Relevanz ist: Die moderne Industriegesellschaft basiert auf einer geschlechterspezifischen Arbeitsteilung, welche Männern und Frauen traditionell unterschiedliche Arbeitsbereiche zuwies: Männern die Erwerbsarbeit, Frauen an erster Stelle die familiale Reproduktionsarbeit (Hausarbeit) und (ggf.) zusätzlich (zumeist reproduktionsbezogene) Erwerbsarbeit. Während die (männliche) Erwerbstätigkeit nach jeweiligem Marktwert entlohnt wurde, wurde Vergleichbares für die familiale Reproduktionsarbeit nicht eingeführt; der Aufwand für die Hausarbeit wurde statt dessen indirekt im Lohn des männlichen „Ernährers“ mitgedacht und die Leistung der Frau auf dieser Basis gegenüber der (männlichen) Erwerbsarbeit abgewertet. Auch wenn die „Ernährernorm“ des Mannes heute brüchig geworden ist (vgl. Ostner 1998: 219) und Frauen unterschiedliche Formen des „Spagats“ zwischen familialer Reproduktionsarbeit und Erwerbsarbeit (insbesondere Teilzeitarbeit) praktizieren, bleiben finanzielles Ungleichgewicht und unterschiedliche Bewertungen der Arbeit nach Geschlecht bis heute erhalten. Anders als das Verhältnis zwischen Geschlecht und Leistung ist strukturell gesehen das Verhältnis zwischen Behinderung und Leistung gestaltet. Maßstab für die Klassifizierung eines Individuums als behindert ist dessen nicht erbrachte, an einem fiktiven gesellschaftlichen Durchschnitt gemessene Leistung. Behinderung als eine mögliche Form der Abweichung von der Normalität wird also gemessen an einer Leistungsminderung im Zusammenhang mit gesundheitlichen Schädigungen und/oder intellektuellen Einschränkungen. Die formalen Kriterien für die Festlegung einer Behinderung, im Sinne des Gesetzes „Schwerbehinderung“ genannt, orientierten sich im 20. Jahrhundert zum einen an den Problemen kriegsbeschädigter Männer, zum anderen an männlichen Erwerbstätigen (vgl. Schildmann 2000b). In dem Begriff der Minderung der Erwerbsfähigkeit, der bis 1985 die Definition von Schwerbehinderung bestimmte (seitdem wird nur noch vom Grad der Behinderung gesprochen), wurde der Zusammenhang zur (industriellen) erwerbsarbeitsbezogenen Leistungsminderung deutlich. Reproduktionsbezogene Familienarbeit und/oder Erwerbsarbeit spiel(t)en immer eine nachgeordnete Rolle bei der Definition von (Schwer-)Behinderung, wodurch jedoch die betroffenen Frauen keinen Vorteil hatten, sondern im Gegenteil: Die ausgehandelten Nachteilsausgleiche für Behinderte orientieren sich an den Strukturen männlicher Erwerbsarbeit und Sozialversicherung und vernachlässigen weibliche Problemlagen. Soziale Ausschlussprozesse und Armut treffen behinderte Frauen sozialstrukturell deshalb mehr als behinderte Männer, weil ihre Problemlagen nicht als gleichrangig wahrgenommen und behandelt werden.
Forschungsperspektiven der Frauenforschung in der Behindertenpädagogik Das Fachgebiet hat sich in enger Verbindung mit der sozialwissenschaftlichen Frauenforschung entwickelt und ist in seiner Existenz auf eine interdisziplinäre Einbindung angewiesen (vgl. exemplarisch die Auseinandersetzungen um Gleichheit und Differenz: Prengel 1993, oder um Geschlecht und Behinderung im Rahmen der Normalismusforschung: Schildmann 2004). Auf dieser Basis sind zu Beginn des 21. Jahrhunderts auch erste Ansätze des Gender Mainstreaming in der Behindertenpolitik (vgl. Schildmann/Tremel 2003) sowie der De-Konstruktion von Behinderung (vgl. Tervooren 2000) zu beobachten. Von behinderten Frauen selbst wird außerdem eine Kombination aus Frauen- und Behinderungsforschung im Rahmen der „Disability Studies“ – einer internationalen (vor allem nordamerikanischen) Forschungsinitiative – entwickelt (vgl. exemplarisch Linton 1998, Disability Studies in Deutschland 2003). Forschungsansätze und -perspektiven der Frauenforschung
Behinderung
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in der Behindertenpädagogik lassen sich jedoch nur dann nachhaltig weiterentwickeln, wenn die Etablierung des Fachgebietes – nicht zuletzt durch ein hohes Engagement von Nachwuchswissenschaftlerinnen – in den nächsten Jahren voranschreitet. Verweise: Frauen-„Körper“ Gen- und Reproduktionstechnologien Gesundheit
Literatur Abé, Ilse u.a. 1973: Kritik der Sonderpädagogik. Gießen: Edition 2000 Barwig, Gerlinde/Christiane Busch (Hrsg.) 1993: Unbeschreiblich weiblich: Frauen auf dem Weg zu einem selbstbewußten Leben mit Behinderung. München: AG SPAK Beauvoir, Simone de 1951: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Reinbek: Rowohlt Davis, Lennard J. 1995: Enforcing Normalcy. London, New York: Verso Disability Studies in Deutschalnd 2003: Behinderung neu denken! Programm der Sommeruniversität Bremen 18.7.-1.8.2003 (www.sommeruni2003.de) Ewinkel, Carola u.a. 1985: Geschlecht: behindert – besonderes Merkmal: Frau. München: AG SPAK Foucault, Michel 1976: Mikrophysik der Macht. Berlin: Merve Henschel, Angelika (Hrsg.) 1997: Weiblich – /un/beschreiblich. Zur Lebenssituation von Frauen mit Behinderung. Bad Segeberg: Wäser Jantzen, Wolfgang 1974: Sozialisation und Behinderung. Gießen: Focus Jantzen, Wolfgang (Hrsg.) 1997: Geschlechterverhältnisse in der Behindertenpädagogik. Subjekt/Objekt-Verhältnisse in Wissenschaft und Praxis. Luzern: Edition SZH Jantzen, Wolfgang 2002: Identitätsentwicklung und pädagogische Situation behinderter Kinder und Jugendlicher. In: Sachverständigenkommission 11. Kinder- und Jugendbericht (Hrsg.): Bd. 4: Gesundheit und Behinderung im Leben von Kindern und Jugendlichen. München: Verlag Deutsches Jugendinstitut, S. 317-394 Jonas, Monika 1990: Trauer und Autonomie bei Müttern schwerstbehinderter Kinder. Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag Link, Jürgen 1997: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität hergestellt wird. Opladen: Westdeutscher Verlag Linton, Simi 1998: Claiming Disability. Knowledge and Identity. New York, London: New York University Press Moser, Vera 1997: Geschlecht: behindert? Geschlechterdifferenz aus sonderpädagogischer Perspektive. In: Behindertenpädagogik 36, Heft 2, S. 138-149 Ostner, Ilona 1998: Frauen. In: Schäfers, Bernhard/Wolfgang Zapf (Hrsg.): Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands. Opladen: Leske + Budrich, S. 210-221 Prengel, Annedore 1984: Schulversagerinnen. Versuch über diskursive, sozialhistorische und pädagogische Ausgrenzungen des Weiblichen. Gießen: Focus Prengel, Annedore 1993: Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik. Opladen: Leske + Budrich Rohr, Barbara 1984: Mädchen – Frau – Pädagogin. Köln: Pahl-Rugenstein Schildmann, Ulrike 1983: Lebensbedingungen behinderter Frauen. Gießen: Focus Schildmann, Ulrike 1985: Zur Situation behinderter Mädchen – Realität und Träume im Kontrast? In: Diezinger, Angelika/Regine Marquardt/Ulrike Schildmann/Ursula Westphal-Georgi: Am Rande der Arbeitsgesellschaft: Weibliche Behinderte und Erwerbslose. Alltag und Biografie von Mädchen. Bd. 13, hg. v.d. Sachverständigenkommission Sechster Jugendbericht, Opladen: Leske + Budrich, S. 89-142 Schildmann, Ulrike 2000a: Forschungsfeld Normalität. Reflexionen vor dem Hintergrund von Geschlecht und Behinderung. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 51, Heft 3, S. 90-94 Schildmann, Ulrike 2000b: 100 Jahre allgemeine Behindertenstatistik. Darstellung und Diskussion unter besonderer Berücksichtigung der Geschlechterdimension. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 51, Heft 9, S. 354-360 Schildmann, Ulrike 2004: Normalismusforschung über Behinderung und Geschlecht. Opladen: Leske + Budrich Schildmann, Ulrike/Bettina Bretländer (Hrsg.) 2000: Frauenforschung in der Behindertenpädagogik. Systematik – Vergleich – Geschichte – Bibliographie. Ein Arbeitsbuch. Münster: LIT
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Ulrike Schildmann
Schildmann, Ulrike/Inken Tremel 2003: Wissenschaftliche Expertise über die Berichte der Bundesregierung am Beispiel des Ersten Armuts- und Reichtumsberichtes der Bundesrepublik Deutschland/Abschnitt „Behinderung“ mit dem Ziel der Umsetzung des Gender Mainstreaming zu diesem Teil des Berichtes. Unveröffentlichtes Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Berlin/Bonn Schopmans, Birgit/Andrea Scherer/Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.) 1995: Mit uns ist zu rechnen – aber wir brauchen noch einen langen Atem! Selbsthilfeinitiativen, Projekte und Angebote von/für Frauen mit Behinderung. Kassel: Hessisches Koordinationsbüro für behinderte Frauen Tervooren, Anja 2000: Der ‚verletzliche Körper‘ als Grundlage einer pädagogischen Anthropologie. In: Lemmermöhle, Doris/Dietlind Fischer/Dorle Klika/Anne Schlüter (Hrsg.) 2000: Lesarten des Geschlechts. Zur De-Konstruktionsdebatte in der erziehungswissenschaftlichen Geschlechterforschung. Opladen: Leske + Budrich, S. 245-255 Warzecha Birgit (Hrsg.) 1997: Geschlechterdifferenz in der Sonderpädagogik. Forschung – Praxis – Perspektiven. Hamburg: LIT
Sabine Scheffler
Psychologie: Arbeitsergebnisse und kritische Sichtweisen psychologischer Geschlechterforschung
Die Frauen- und Geschlechterforschung ist in der deutschen Universitätspsychologie, stärker noch als in den übrigen Sozialwissenschaften, randständig und marginalisiert. Geschlechtsspezifische Fragestellungen und Geschlecht als Analysekategorie haben sich bisher nicht in den Curricula, weder an den Universitäten noch in den anwendungsbezogenen Weiterbildungsinstitutionen (wie Psychotherapie und Supervision, vgl. Freytag 2003), verankern können. Dies im Unterschied zu den Women- und Genderstudies in den USA (vgl. Matlin 2000) und zur breiteren Rezeption der Kategorie Geschlecht in den Politik-, Sozial- und historischen Wissenschaften in der BRD. Geschlechtsspezifische Fragen zentrier(t)en sich in der Auseinandersetzung mit der akademischen Psychologie und in Absetzung von ihr auf folgende Fragen: – Kritik des Androzentrismus in der Erkenntnisproduktion (Objektivität, Neutralität), der kontextisolierten, experimentellen Datenerhebung und die methodisch kritische Aufarbeitung und Weiterentwicklung – Kritik der Vorstellungen von psychologischer Identität und Subjektkonstitution (Behaviorismus, humanistisch-existentielle Psychologie und Psychoanalyse) – Enttabuisierung lebenspraktischer Konflikte, Benachteiligungen und Belastungen und deren Sichtweise unter dem Aspekt – „das Psychologische ist politisch“ – auch durch strukturelle Machtdynamiken bestimmt. Aus der Absetzungsbewegung entwickelten sich mit der Frauenprojektebewegung im Zusammenhang stehende neue und ganzheitlichere Arbeitsbereiche (z.B. Beziehungsdynamiken in Gewaltverhältnissen, Folgen von sexuellem Missbrauch, alternative klinische und beraterische Interventionsformen, Arbeit mit Krisen und Traumatisierung, Frauengesundheitsbewegung, Kritik der psychologischen und psychiatrischen Institutionen). Diese Bestrebungen waren und sind getragen von der Bedeutung der Geschlechterverhältnisse für die psychische Konstitution von Frauen und Männern; die ForscherInnen bemühen sich in diesem Sinne um die Sichtbarmachung von Differenzen im Sinne der Differenzierung, nicht des Defizits, im Sinne von Gleichstellung und Beachtung von Differenzen, vor allem aber um eine De- und Rekonstruktion zentraler Paradigmen von Erkenntnisproduktion und deren Anwendung im psychologischen Bereich. Die Veröffentlichungen der jüngeren Zeit als Ergebnis der Forschungsförderung des Bundes wie der Gleichstellungspolitik der Universitäten deuten eine Verknüpfung der Ergebnisse der Projektarbeit mit der Institution Universität an; Ergebnisse der Arbeit aus den Praxisbereichen werden ansatzweise integriert (vgl. Amann/Wipplinger 1998, Brückner 2001, Franke/Kämmerer 2001, Hurrelmann/Kolip 2002, Hagemann-White/ Kavemann/Ohl 1997, Enns 1997).
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Sabine Scheffler
Geschlechterforschung und empirisch akademische Psychologie Die empirisch akademische Psychologie definiert ihren Gegenstand als Lehre vom Erleben, Verhalten und seiner inneren Begründung und folgt einem aus den Naturwissenschaften übernommenen positivistischen Erkenntniskonzept. Dieses Konzept wurde u.a. von der Frauenforschung in Frage gestellt und als androzentrisch entlarvt (vgl. Harding 1990). Die Unterrepräsentanz von Frauen in Experimenten führte zu unzulässigen Verallgemeinerungen, männliche Ergebnisse wurden als Norm gesetzt, Scores von Frauen galten als defizitäre Abweichung. Ergebnisse wurden im Sinne der funktional konservativen Frauenrolle gesehen und durch Untersuchungsdesigns bestätigt. Geschlechterdifferenzen wurden durch die einseitige Suche nach diesen verschärft und verzerrt. Die Kritik bezog sich zum einen auf die Datengewinnung und deren Validität, aber auch auf die biologistischen Erklärungsweisen für die gefundenen Geschlechtsunterschiede, neuronale und hormonale Faktoren wurden (und werden) betont, interaktionistische und kognitionspsychologische Thesen dagegen kaum geprüft, ein biomedizinisches Modell wird unterstellt: „Frauen sind mehr Biologie und Natur als Männer“ (Schmerl 1999a: 98ff.). Die empirische Forschung folgt(e) einem „trait“-(Eigenschafts-)Paradigma im Sinne einer differentiellen Persönlichkeitspsychologie oder der Argumentation der modernen Soziobiologie. Die Frauenforscherinnen entlarv(t)en die Statik und Unangemessenheit dieser Bezugssysteme und bereiten so für Konzepte der interaktiven und kognitiven Herstellung von Geschlecht den Boden. Selbst biologisch gegebene oder erscheinende Unterschiede entfalten sich nicht starr und unbeeinflusst von sozialen Interaktionen (vgl. Lorber 1999). Geschlecht wird nicht mehr als unabhängige Subjektvariable, sondern als Stimulusvariable gesehen, als ein Konstrukt gegenseitiger Reaktionen und Attributionen, die auf einem strukturell verankerten Geschlechterverhältnis aufruhen, erfasst und gestaltet werden. Empirische Untersuchungen zu geschlechtsspezifischem Verhalten zeigen, –
dass die Variabilität von Verhalten innerhalb der Gruppe der Frauen/Männer größer ist als die Variabilität des Verhaltens zwischen Männern und Frauen und dass Geschlecht nur etwa 5% der Verhaltensvarianz erklärt. Psychologische Geschlechtsunterschiede sind eher gering und inkonsistent. Geschlecht als Subjektvariable ist unerheblich (vgl. Eagly 1987, Maccoby/Jacklin 1974, Hare-Mustin/Marecek 1990, Alfermann 1996); – dass z.B. Beziehungsfähigkeit und Empathie von Frauen in Abhängigkeit von ihrer Statusposition in einer Hierarchie variiert und Reaktionen auf Frauen und Männer mit der Stellung in der Hierarchie verknüpft sind; Frauen zeigen im Führungsverhalten keine signifikant unterschiedlichen Verhaltensweisen im Vergleich zu Männern (vgl. Dobbins/Plaz 1986, Hare-Mustin/Marecek 1990, Eagly 1987). Diese empirischen Schlaglichter legen den Schluss nahe, dass geschlechtspezifisches Verhalten sich minimiert, wenn Frauen in Systemen und Kontexten qua Position und Status anerkannt werden. Es sind eher hierarchische und Machtstrukturen, die Frauen zu Frauen machen und damit männlicher Dominanz zuarbeiten. Andere Beispiele zur Korrektur empirischer Psychologie sind die Leistungsmotivations- und Aggressionsforschung, die den unbewussten Stereotypien aggressionsloser und beziehungsorientierter Weiblichkeit folgen und in diesem Sinn ‚empirische‘ Ergebnisse produzieren (vgl. Björkqvist/Niemelä 1992, Campbell 1995, Alfermann 1996, Schmerl 1999a, 1999b: 98ff. u. 106ff.). Ergebnis der Bemühungen neuerer empirischer Arbeiten ist das Verständnis von geschlechtsspezifischen Verhaltensweisen als flexible kontextabhängige Erfahrungs- und Handlungsmuster, deren Variabilität sich in Vermittlung mit den umgebenden Kontexten und Strukturen gestaltet (vgl. zum „doing gender“ West/Zimmermann 1991).
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Geschlecht und Identität Um Erleben, Verhalten und die dahinter stehenden Motive zu beschreiben, zu verstehen, zu erklären und zu systematisieren, unterstellt die Psychologie eine Subjekt- oder Identitätskonstitution, deren Gewordenheit, Handlungs- und Ausdrucksfähigkeit und deren Selbstreflexivität in Vermittlung zur gesellschaftlichen Verortung (z.B. Geschlechts-, Gruppenzugehörigkeit) zu sehen ist. Psychologisch gesehen sind Menschen nicht „frei flottierende Konstrukteure“, aber auch nicht ein die Objektwelt beherrschendes autonomes rationales Individuum. Am Beispiel der Geschlechtsidentität, ihrer Entwicklung, ihrer Flexibilität ergeben sich Fragen nach der „Vermittlung von Subjektivität und ihren soziokulturellen Voraussetzungen“ (Becker-Schmidt 2000: 124). Da Geschlecht als soziale Ordnungskategorie gesehen wird, „we can never ever do not gender“ (West/Zimmermann 1991) ist es von Interesse, was wir lernen zu „tun, was wir denken, was wir fühlen, um ein Geschlecht zu sein“ (vgl. Villa 2000). Die Art und Weise der emotionalen und kognitiven Verarbeitung vergeschlechtlichter Rahmenbedingungen, die Konstruktion geschlechtsspezifischer Verhaltensmuster, der Umgang mit männlicher und weiblicher Fremd- und Selbstattribuierung, die Bewältigung von geschlechtsspezifisch geprägten Biografieverläufen, die Verarbeitung von Benachteiligungen, die Identifikation mit Männlichkeit und Weiblichkeit sind Themen psychologisch orientierter Geschlechterforschung. Hier überschneiden sich zuweilen mikrosoziologische und psychologische Fragestellungen produktiv, wie die Debatte für und wider die „Entkörperlichung“ von Geschlecht anschaulich zeigt (vgl. Butler 1994, Lindemann 1994, Bock-Landweer 1994, Villa 2000). Die Sozialisationsforschung erklärt den Erwerb von Geschlechtsidentität über interaktive Lernprozesse, Klassifikationsleistungen und Selbstkategorisierungsprozesse. Gelernt wird ein symbolisches System der Zweigeschlechtlichkeit als „Grammatik der Begierden, Gefühle und Bezogenheiten,“ der Phantasien, der Bewertungen auf bewusster und unbewusster Ebene (vgl. HagemannWhite 1988). Die Reaktionswirkungen von Elternverhalten, Peers und Institutionen (Schule, Medien, Berufsausbildung, Organisationen) und die aktiven geschlechtsspezifischen Selbstgestaltungen sind ausreichend belegt. Die Schwierigkeit der eher festschreibenden, differenzorientierten Forschungsansätze liegt in der „Verknüpfung der Ebenen und in der Aufrechterhaltung einer prozesshaften Konzeption der sozialen Realität“ (Dausien 1999: 233ff.). Theorien zur Frauen- und Geschlechterforschung sind „Aussagesysteme über Geschlechter und Geschlechterdifferenzen (wie sie) zustande kommen und wie sie funktionieren: Geschlecht gilt als Konstruktion, (...) (als) symbolische Ordnung, (...) (als) diskursiv vermitteltes Handeln. Das Subjekt erscheint als Intersubjekt, als Effekt von Interaktionen (...) psychische Strukturbildungen finden in diese Theorie kaum Eingang. Da aber (...) Geschlechterbilder, Diskurse über Männlichkeit und Weiblichkeit und sexuierte Praxen, mit denen Menschen täglich in Berührung kommen, ihnen nicht äußerlich bleiben können, sind all diese Phänomene nolens volens Bestandteil der Subjektkonstitution“ (Becker-Schmidt 2000: 127). Seit langem bemühen sich feministische Psychoanalytikerinnen im o.a. Sinne, die Verdrängungen und Verzerrungen der klassischen Psychoanalyse aufzuarbeiten. Die Bindung der individuellen Entwicklung an die Triebgestaltung in Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Forderungen und einer angemessenen Entwicklung der Person, die Gebundenheit dieser Entwicklung an psychodynamische Konzepte der Sexualität/Aggressivität, das Konzept des Unbewussten und der Verdrängung machen sie zu einem idealen Feld der Abarbeitung und Rekonstruktion weiblicher Subjektivität. Die Psychoanalyse war und ist zumindest eine Theorie zur Entwicklung einer geschlechtsspezifischen Identität, wenn auch im Sinne des „phallischen Monismus“ (vgl. Mitchell 1976, Hagemann-White 1988, Rohde-Dachser 1991, Chodorow 1978, 2001; Benjamin 1993, 2002; Mertens 1992, 1994; Liebsch 1997). Geschlechtsidentität in dieser Systematik ist ein situationsspezifisches, emotionales, kognitives Selbstkonzept; es bezeichnet die Kontinuität eines Bewusstseins, ein Mann/eine Frau zu sein, bewusste Vorstellungen und unbewusste Phantasien einer individuellen Kombination von Männlichkeit und Weiblichkeit, wie sie aufgrund biologischer, psychischer und
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kultureller Faktoren zustande gekommen sind (vgl. Mertens 1992: 24-30). Geschlechtsidentität wird mit drei Komponenten dargestellt: a) Core-identity (Kernidentität): Sie entwickelt sich sinnlich, sozial, sensumotorisch in der Interaktion mit bedeutsamen Anderen in den frühen Lebensjahren. b) Gender-role-identity (Geschlechtsrollenidentität) als Gesamtheit der bewussten und unbewussten Erwartungen an mein eigenes und das Verhalten Anderer; diese gegenseitigen Erwartungen sind symbolisch in der Zweigeschlechtlichkeit verankert und so verknüpft mit der Bedeutung der biologischen Geschlechtsmerkmale. Die Geschlechsrollenidentität ist als flexibles Konstrukt zu sehen; sie gibt Spielräume, die von Entscheidungsdruck unabhängig machen, und sie enthält einen unbewussten Anteil. In der Sozialpsychologie ist der von Keupp u.a. (1999) entwickelte Begriff der „patchwork-Identität“ ähnlich zu verstehen, speziell um die Variabilität und Vielfältigkeit des verfügbaren Verhaltensrepertoires zu betonen. c) Choice of love object (GechlechtspartnerInnenorientierung): In der Adoleszenz wird mit der Wahl des Liebesobjektes die geschlechtsspezifische Ausrichtung des Begehrens abgeschlossen und schreibt die heterosexuelle dichotome komplementäre Matrix sozialer Beziehungen fest (vgl. Fast 1984, Mertens 1994, Scheffler 1994a). Geschlechtsidentität wird gekoppelt an notwendige konflikthafte Auseinandersetzungen in der Entwicklung, die um die Gestaltung des Begehrens, um das Streben nach Autonomie, wie um die Entwicklung von sozialer Bindungsund Trennungsfähigkeit zentriert sind. In neueren Analysen wird v.a. die emotionale und kognitive Präsentation spezifischer Beziehungen und Kontexte reflektiert: Mutter – Tochter, Vater – Tochter, Mutter – Sohn, Kleinfamilie (vgl. Chodorow 1994, 2001; Olivier 1987, Benjamin 1993, 2002; Mitscherlich 1985, Mertens 1994). Dabei wird die Orientierung an der mittelschichtigen weißen Kleinfamilie westlicher Prägung kritisiert. Diskutiert wird der Ansatz von Benjamin (1993, 2002), die in ihrer Analyse der Entwicklung von Geschlechtsidentität, Anerkennungs- und Bindungsbedürfnisse einerseits und Autonomiebedürfnisse andererseits mit dem Bedürfnis nach Kontrolle und Unterwerfung als Abwehr von sozialer Bezogenheit verbindet. Identität entstehe nur aus der Anerkennung des/der Anderen als unabhängig und nicht kontrollierbar und der Akzeptanz eigener Angewiesenheit auf soziale Resonanz. Wo die Spannung zwischen Anerkennungsbedürfnis und Unabhängigkeitstreben nicht gehalten werden könne, komme es zu herrschaftsförmigen Beziehungsgestaltungen oder zu Unterwerfung. Dabei bedient sich Benjamin der Hegelschen „Herr-Knecht-Metapher“, um die Dialektik von Macht und Angewiesenheit zu verdeutlichen. Die entstehenden Abwehrformationen der Omnipotenz oder Unterwerfung sind geschlechtsspezifische Verarbeitungsformen und haben ihre Entsprechung in hierarchisch strukturellen Geschlechterverhältnissen. Diese Identifizierungs- und Abwehrleistungen sind mit der Wahrnehmung der Gleich- oder Gegengeschlechtlichkeit, der Wahrnehmung der (mangelnden) Subjektivität und der sozialen Positionierung der erziehenden Personen in der Entwicklungsdynamik verknüpft. Kritisiert wird an dieser Position der geschlechtsspezifischen Identitätsentwicklung die Betonung der Bedeutung intersubjektiver Beziehungen, die Vernachlässigung der Triebdynamik und die systemfremde philosophische Argumentation (vgl. Becker-Schmidt 2000, Liebsch 1997). Körperlichkeit und Begehren und die daraus notwendig werdende Konfliktverarbeitung spielen jedoch in der analytischen Adoleszenzforschung eine zentrale Rolle als Möglichkeit, physische Materialität emotional und kognitiv zu besetzen und zur Darstellung von Geschlechtsidentität zu nutzen (vgl. Flaake 2001, vgl. zum Begriff der ‚somatischen Kulturen‘ in der Gesundheitsforschung Helfferich 1994, Kolip 1997).
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Geschlechterforschung und angewandte Psychologie In Bereichen der angewandten Psychologie – Klinische Psychologie, Diagnostik, Beratung und Therapie, Drogenarbeit, Arbeit mit Essstörungen, Arbeits- und Organisationspsychologie, Gruppendynamik, Gesundheitsforschung – „women get sicker, men die quicker“ – kann von einer „Dethematisierung“ von Geschlecht nun gar keine Rede sein (vgl. Becker-Schmidt 2000: 124-143, Wetterer 1995: 199-225). Die Disparitäten im Umgang mit Gesundheit und Krankheit, Diagnostik und Behandlung, mit Arbeit, Karriere und Familie, sowohl auf der individuellen Bewältigungsebene wie auf institutioneller Seite, sind enorm. Geschlecht ist wohl die wichtigste Kategorie, die Umgehensweisen im Hinblick auf psychische und physische Gesundheit und die Lebensgestaltung, sicherlich in Verknüpfung mit Schicht, Ethnie und Verfügbarkeit über Ressourcen, bestimmt. Die Kritik wendet sich gegen die Basisannahmen dieser Disziplinen, ihr Frauenbild und die daraus folgenden Praktiken. Die Diskussion kreist um die Frage, was psychosoziale Gesundheit in einer von Geschlechterdifferenz strukturierten Gesellschaft bedeuten kann. Dabei ist die enge Verzahnung von praktischer Arbeit und theoretischer Kritik und die Weiterentwicklung von beidem beispielhaft für frauenspezifische Arbeitsformen, z.B. die Gründung des ersten Frauengesundheitszentrums in Berlin 1977, Gründung des ersten Frauentherapiezentrums in München 1978 oder 20 Jahre Frauentherapiekongress Kloster Seon 1997. Im Bereich belastender Lebenserfahrungen, Umgang mit Gewalterfahrungen, Trennung, Scheidung, Drogenmissbrauch, Verarbeitung von sexuellem Missbrauch gibt es insbesondere aus der Frauenprojektebewegung spezifische Konzepte, mit strukturell bedingten und psychosozial differenten Bewältigungsmustern umzugehen (vgl. Vogt 1995, Kreyssig 1998, Franke/Winkler 2001, Scheffler 2004). Die Konzepte folgen dabei einem Differenzansatz mit sozialisationstheoretischem Hintergrund und sind in der Regel darauf ausgerichtet, Benachteiligungswirkungen zu vermindern und persönliche Spielräume zu erweitern. Mit der Gender-Perspektive zu arbeiten, verlangt die Erkenntnis in Arbeiten und Handeln umzusetzen, dass nicht nur die realen Lebensbedingungen geschlechtsspezifisch strukturiert sind, sondern auch Denksysteme und Institutionen. Medizinische und psychologische Diagnostik ist von Zuschreibungen geprägt, wie sich eine normale „gesunde“ Frau und ein normaler „gesunder“ Mann zu verhalten haben. Die Forschung konzentrierte sich beispielhaft um den so genannten Doppelstandard „weiblicher Gesundheit“ (Broverman u.a. 1972). Die Studie wies den so genannten „psychologischen Sexismus“ nach. Sie ergibt, „dass erwachsene, gesunde und kontaktfähige Frauen von Psychiatern, Psychologen und Sozialarbeitern (Frauen und Männern) als eher submissiv, abhängig, beeinflussbar, weniger aggressiv, weniger abenteuerlustig, weniger ehrgeizig, leichter erregbar, emotionaler, weniger objektiv, verletzlicher und empfindlicher beschrieben werden als erwachsene, gesunde Männer. Bezogen auf ihre psychische Gesundheit ergab sich kein Unterschied in den Erwartungen und Vorstellungen der Expertinnen für gesunde Erwachsene und Männer, aber sehr wohl ein Unterschied zwischen gesunden Erwachsenen und Frauen. Frauen können also entweder gesunde, reife Erwachsene sein oder Frauen, aber nicht beides (Sturdivant 1980: 55, Übers. Verfasserin)“. In den USA, aber auch in der BRD wurden in der Folge geschlechtersensible Beratungsund Therapieansätze entwickelt, die aber nur zum Teil strukturell verankert werden konnten (vgl. Sturdivant 1980, Greenspan 1983, Ussher 1992, Eichenbaum/Orbach 1984, Enns 1997, Worell/Remer 1992, Scheffler 2004). Im Zentrum dieser Arbeitsansätze steht zunächst eine Kritik der kontextisolierten Veränderungskonzepte und Interventionsformen des zumeist defizitären Verständnisses von Symptomatik. Vor allem wird der Gesundheits- und Krankheitsbegriff mit den diagnostischen und theoretischen Analysekategorien (Krankheitsbilder, Theorien zur Genese psychischer Störungen, Psychoanalyse, Verhaltenstheorien, humanistische Psychologie, klassische Psychiatrie) kritisiert. Ohne jetzt die Kritik im Einzelnen darlegen zu können, lässt sich aus den unterschiedlichsten Studien ableiten, dass Erklärungsweisen auf der Grundlage einer lediglich individuellen Pathologie zurückgewiesen werden; es wird eine Verknüpfung mit der Sozialbiografie der Betreffenden als Ausdruck von Kontextorientierung versucht. Krankheit ist so Ausdruck missgeleiteter, dysfunktionaler, jedoch in-
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dividuell möglicher und stabilisierender Konfliktverarbeitung. Kaschak (1992) nennt dies ein „environment model of psychopathology“. Die Berücksichtigung der sozialen Lebenslage von Betroffenen führt so zur Verlagerung des im Symptom erscheinenden Konfliktes von intrapsychischen hin zu interaktiven kontextuellen Betrachtungsweisen. Der psychische Konflikt ist nicht mehr nur ein Konflikt zwischen z.B. Bedürfnisspannung und eigenen Ansprüchen oder Repräsentanzen, sondern ein Konflikt ist eine interaktive Bewältigung, die Selbstbefindlichkeit, Lebenszusammenhang und Spannungen ausgleichen will. Es wird nicht mehr nur auf der Ebene psychischer Repräsentanz gearbeitet, sondern psychische Belastungen werden als multifaktorielles und strukturbedingtes Geschehen gesehen. Im Zentrum feministischer therapeutischer Modelle (vgl. Brown/Ballou 1992, Enns 1997) stehen Basishaltungen, die Bedeutsamkeit von Vielfalt (diversity) hervorheben, um die Erfahrungen marginalisierter Positionen in die Entwicklung von Theorie und Praxis einzubeziehen. Dabei wird ‚gender‘ als zentraler Aspekt von Belastung betrachtet, der mit Statusvariablen wie Schicht, Alter, Ethnie und sexueller Orientierung variiert. Feministische Theoriebildung favorisiert dabei alternative Vorstellungen von menschlicher Entwicklung und Wachstum, die über traditionelle Vorstellung von „Selbst“ und Identität hinausgehen. Es werden multikausale Erklärungen mit besonderem Rückbezug auf soziopolitische Kontexte für die Erklärung von Störungen bevorzugt. Besondere Beachtung und Sorgfalt erhalten Konzepte der Beratungsbeziehung, die den Diskurs der Interventionen antihierarchisch und in den Machtstrategien transparent gestalten „powersharing is the heart of feminist therapy“ (Brown/Ballou 1992, vgl. Enns 1997: 286ff.). Auch das Verhältnis geschlechtersensibler Handlungstheorien zu den humanistischen Therapieverfahren, nicht nur zur Psychoanalyse, ist durchaus widersprüchlich (Gesprächspsychotherapie, Rogers; Gestalttherapie, Perls; Psychodrama, Moreno). Einige Positionen der humanistischen Psychologie sind zwar einer geschlechtersensiblen Betrachtungsweise zentral, werden aber dennoch kritisch gesehen. Das Konzept von Autonomie und das Recht auf Selbstdefinition beispielsweise bedeutet ein Denken in Richtung auf Individualität, Selbstverantwortlichkeit, eigenständigem Handeln, das wiederum die Eingebundenheit in Struktur und Lebenswelt negiert und die Möglichkeiten der persönlichen Gestaltungsspielräume im Sinne der Eigenverantwortlichkeit unsinnig betont. Das Geschlecht, das Lebenschancen und Status zuweist, werde in dieser Betrachtungsweise vernachlässigt, und es wird befürchtet, dass durch das Axiom der Selbstverantwortlichkeit die tatsächlichen realen Veränderungschancen und Möglichkeiten einer Betroffenen in den Hintergrund treten und verzerrt wahrgenommen werden. Die Selbstverantwortlichkeit des Individuums kann in diesen Ansätzen überstrapaziert werden. Weitere konzeptionelle Begrifflichkeiten humanistischer Verfahren, wie das Wachstumskonzept, das Selbstaktualisierungskonzept, das „awareness“-Konzept (Bewusstheit) und der Primat der Subjektivität der persönlichen Erfahrungs- und Wahrnehmungswelt vernachlässigen die Auswirkungen von vorhandenen Einschränkungen. Es könne die Illusion entstehen, dass das persönliche Lebensglück lediglich eine Angelegenheit des persönlichen Vermögens sei. Greenspan (1983) nannte dies die „unsuccessful marriage of humanist therapy and feminism“. Für psychotherapeutisches Arbeiten ist es zwar von grundlegender Bedeutung, die subjektive Erfahrungs- und Wahrnehmungsweise zu bestätigen und zu unterstützen, dabei besteht jedoch die Gefahr, dass ‚die spezielle Empirie der persönlichen Erfahrung‘ die Vermitteltheit des Verhaltens mit strukturellen Bedingungen in den Hintergrund treten lässt und so der Schein entsteht, als wäre persönliches Vermögen allein für persönliches Wohlbefinden verantwortlich. Gefühle sind zwar subjektiv wahr und evident, sie bedürfen keiner weiteren Begründung; dennoch entstehen sie in der Verschränkung mit Kultur und sozialer Identität, sie werden als solche subjektiv wahrgenommen, gefühlt, und es wird auf sie reagiert. Humanistische Therapieverfahren laufen Gefahr, individuelle Handlungsfreiheit unzulässig zu betonen und eher narzisstischen Selbstkonzepten Vorschub zu leisten (vgl. Greenspan 1983, Worell/Remer 1992, Enns 1997, Scheffler 1994b, 2004). Das Konzept der organismischen Selbstregulation, das der Gestalttherapie zu Grunde liegt, legt eine „ursprüngliche Naturhaftigkeit“ nahe, der Frauenforscherinnen äußerst kritisch gegenüberstehen. Mit dem Rekurs auf scheinbare Natürlichkeit im essentialistischen Sinne werden weibliche Handlungsspielräume zugewiesen und eingegrenzt (vgl. Scheffler 2004). In den humanistischen Verfah-
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ren fehlen Aussagen zu Geschlecht und Subjektkonstitution, während in der Psychoanalyse zumindest patriarchale Konzepte vorliegen, die produktiv umgeschrieben werden konnten (vgl. Mitchell 1976, Chodorow 2001, Hagemann-White 1988, Rohde-Dachser 1991, Benjamin 1993). Im Wesentlichen wird die therapeutische Symptomatik, sowohl in der Psychoanalyse wie in den humanistischen Verfahren, als innerpsychische Konfliktstruktur gedacht, die sich an der Umwelt entfaltet. Die geschlechterdifferenzierende Sichtweise dagegen verweist gleichzeitig auf die strukturellen Positionierungen von Männern und Frauen, die spezielle Coping-Strategien erfordern, die schließlich dysfunktional werden können. Es ist ein zentrales Anliegen geschlechtersensibler Arbeitsweisen, vernachlässigte Lebenserfahrung und Lebenspraxis von Frauen und Männern in diagnostische und dynamische Betrachtungsweisen einzubeziehen und dies in den Diagnosemöglichkeiten sichtbar werden zu lassen. Sie beziehen sich nachdrücklich auf die Verschränkung zwischen Lebenswelt, deren Struktur und der Konfliktsymptomatik. Herkömmliche Therapie wird eher als Institution sozialer Kontrolle gesehen, die seelisches Leiden von Frauen pathologisiert – „Die Frau als wandelndes Risiko“ (Schmerl 2002) – und Entwicklungen im traditionellen Sinne favorisiert. Die Individualisierung sozialer Problemlagen (vgl. Beck 1986) hat eine besondere Relevanz. Thomas Szasz (1976) betrachtete als Kritiker psychiatrischer Institutionen Depression, Minderwertigkeitsgefühl und geringe Selbstachtung nicht als Zeichen individueller Krankheit, sondern als Zeichen einer Psychologie von Unterdrückten. Zielsetzungen der Veränderung zentrieren sich in der Folge um Empowerment (Worell/Remer 1992) und die Rekonstruktion der Bedeutung der eigenen Leidenserfahrung. Gemessen an den eingangs genannten Kriterien – Androzentrismus, Subjektkonstitution und Ganzheitlichkeit – war die Kritik an naturwissenschaftlich orientierten Paradigmata gründlich und kann nicht mehr als feministische Ideologie abgetan werden. Auch die Denktraditionen der Psychoanalyse wurden zugunsten intersubjektiver, interaktionistischer Positionen erweitert. Frauenforschung in anwendungsbezogener Orientierung existiert vor allem als Praxisforschung mit netzwerkartigen Bezügen, wie an Beispielen aus der Antigewaltarbeit deutlich wird. Die Prozesse der Herstellung und interaktiven Aushandlung von Geschlecht und deren Bedingungen bleiben in der psychologischen Forschung ein offenes und weiter zu differenzierendes Thema und Forschungsaufgabe. Verweise: Frauenprojekte Geschlechterstereotype Gesundheit Sozialisationstheorien
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Ursula Müller
Gewalt: Von der Enttabuisierung zur Einfluss nehmenden Forschung
Vom Tabu zum rechtsfähigen Tatbestand Die Thematisierung von Gewalt im Geschlechterverhältnis richtete sich zunächst und v.a. auf die Gewalt gegen Frauen. Erste Publikationen aus England (vgl. Pizzey 1978), denen erste Berichte aus dem deutschen Sprachraum folgten (vgl. Benard/Schlaffer 1978, Frauenhaus Köln 1980), kündigten eine wichtige Veränderung im öffentlichen Denken über Gewalt im Privaten an: die dauerhafte und von heute aus gesehen endgültige Enttabuisierung eines Themas, das in der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft bisher strikt privat gehalten und in der Familienforschung ignoriert (vgl. Benard/Schlaffer 1978) worden war. Gewaltausübung gegen Frauen im „sozialen Nahraum“ (vgl. Godenzi 1996) bzw. Gewalt gegen mit dem Täter „bekannte“ Frauen (vgl. Hearn 1998) ist geschichtlich betrachtet ein „normales“ Element der bürgerlichen Ehe. Das gegen Ende des 18. Jahrhunderts erstmals kodifizierte bürgerliche Ehe- und Familienrecht bis hin zum deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) von 1900, das in Teilen bis heute gültig ist (vgl. Gerhard 1978), kennt das „Züchtigungsrecht“ des Ehemannes gegenüber der Ehefrau und die Verpflichtung der Ehefrau zum Geschlechtsverkehr unabhängig von ihrem Bedürfnis und ihrem Willen. Beides konnte erst in langwierigen Auseinandersetzungen aus dem BGB entfernt werden (vgl. Müller 2008). Diese Norm wird durch Einschränkungen, die sie im Lauf der Zeit erfährt, zunächst nur umso deutlicher. So stellte z.B. ein englisches Gerichtsurteil im Jahre 1891 fest, dass es Ehemännern verboten sei, ihre Frau zu schlagen, wenn der Schlagstock dicker war als der Daumen des Ehemannes; 1895 konnten englische Ehefrauen die Trennung vom Mann durchsetzen, wenn er sie länger als zwei Monate zuhause eingeschlossen hatte (vgl. Hearn 1992). Diese als Eingrenzung von Gewalt lesbaren Urteile zeigen zugleich das Ausmaß, in dem Gewalt als „normal“ galt. Auch heute noch zeigen Untersuchungen in den westlichen Industriestaaten, dass Frauen in ihrem privaten Lebensraum von Ehe bzw. Partnerschaft die größte Gefahr laufen, Opfer von Gewalt zu werden – weit häufiger als auf der Straße, am Arbeitsplatz oder an anderen Orten (vgl. Becker 2000, Schröttle/Müller 2004, Müller/Schröttle 2006, Martinez u.a. 2006, 2007). Dies ist jedoch im Falle kriegerischer Auseinandersetzungen, die mit ethnischen Vernichtungsangriffen einhergehen, zu relativieren, wie Massenmisshandlungen und -vergewaltigungen immer wieder zeigen (vgl. WHO 2002). Allerdings hat sich die Rechtslage dahingehend gewandelt, dass der Schutz vor geschlechtlich konnotierter Gewalt weltweit Thema von Menschenrechtsdiskursen und internationalen Organisationen geworden ist (vgl. UNIFEM 2000, die 2004 angelaufene Kampagne von amnesty international, www2.amnesty.de/internet/deall.nsf/windexde/KA2004010, und die 2007 angelaufene bundesweite Kampagne von terre des femmes, www.frauenrechte.de). In einer Reihe von Industrieländern „westlichen“ Typs kann die rechtlich geschützte „Privatheit“ von Ehe und Familie nicht mehr als Deckmantel für Gewalt dienen. Der Schutz vor geschlechtlich konnotierter Gewalt gegen Frauen wurde zu einem Thema staatlicher Politik und Intervention (vgl. Kavemann 2005). In der Bundesrepublik hat das Gesetz gegen Schutz vor Vergewaltigung in der Ehe (1998) und dem „Gesetz zum zivilrechtlichen Schutz vor Gewaltta-
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ten und Nachstellungen sowie zur Erleichterung der Überlassung der Ehewohnung bei Trennung“, das als sogenanntes Gewaltschutzgesetz bekannt wurde (2002), Gewalt in der Partnerschaft zum Offizialdelikt erklärt und damit polizeiliches und staatsanwaltschaftliches Handeln erzwungen, die rechtliche Regulierung gewalttätiger Aspekte im Geschlechterverhältnis deutlich verändert. Nach dem österreichischen Vorbild des „Wegweisegesetzes“ ermöglicht das Gewaltschutzgesetz einen besseren Schutz für die Opfer – Frauen wie Männer – vor häuslicher Gewalt und den längerfristigen Ausschluss des Täters/der Täterin aus der gemeinsamen Wohnung (vgl. auch Kavemann/Grieger 2006). In diesem Rahmen ist auch das Gesetz zur Ächtung jeglicher Form von Gewalt als Mittel der Erziehung aus dem Jahre 2000 zu sehen, das mit einem umfassenden Gewaltbegriff, der psychische und emotionale Dimensionen einschließt, den gemeinsamen Raum von Eltern und Kindern als gewaltfreie Zone etablieren will – eine bedeutsame Intervention in einen weitgehend privatisierten Bereich (vgl. Müller 2008). Hagemann-White (1992, 1993) spricht bezogen auf den Bereich „Gewalt gegen Frauen“ von der beeindruckendsten Erfolgsgeschichte von Frauenbewegung und -forschung. In kaum einem anderen Bereich sei es so durchgreifend gelungen, ein Thema zu etablieren, staatliche Politik Schritt für Schritt zu verändern und zugleich in diesem Prozess die Problemdefinitionen der Betroffenen als gültig durchzusetzen. Gewalt im Geschlechterverhältnis wird von Hagemann-White (1992) definiert als auf die körperliche oder seelische Integrität des Gegenübers gerichtete Handlung, die mit der Geschlechtlichkeit des Täters und des Opfers zusammenhängt. Wann Betroffene sich in ihrer Integrität verletzt fühlen, können nur diese selbst entscheiden; ein zentraler Grundsatz von Frauenbewegung, der auch für die Ent-Tabuisierung von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz eine wichtige Rolle spielte (vgl. Holzbecher u.a. 1991). Dieser Grundsatz sollte die Unsichtbarkeit und die Stummheit von Gewaltopfern beenden und diese zugleich vor Leugnung, Verharmlosung oder Negierung des erfahrenen Leides schützen (vgl. Brückner 2002: 12). Damit richtete sich die Thematisierung von Gewalt durch die Frauenbewegung auch gegen die verbreitete Schuldzuweisung an die Opfer. Heute, in einer Zeit diskursiver Verschiebungen, wäre gegenüber einer so uneingeschränkten Definition sicher Vorsicht angeraten. So mussten rechtliche Kriterien der Strafverfolgung gefunden werden, die den Tatbestand häuslicher Gewalt auch unabhängig von persönlicher Einschätzung und Sensibilisierungsgrad der Gewaltopfer fassten (vgl. Müller/Schröttle 2008). Gleichwohl ist diese „Erfolgsstory“ ambivalent zu beurteilen (vgl. Hagemann-White 1992, 1993). An die 400 Frauenhäuser in Deutschland heute (vgl. Brückner 2002: 98), die von ungefähr 45.000 Frauen und ihren Kindern (vgl. Deutscher Bundestag 2001) jährlich aufgesucht werden, bieten zwar unverzichtbare Hilfe und Schutz in Notsituationen; andererseits lösen sie nicht das Problem der Entstehung geschlechtsbezogener Gewalt überhaupt (vgl. Hagemann-White 1993). Hier setzt die Gewaltprävention an, die Konsequenzen ziehen möchte aus den umfangreichen und gut dokumentierten Erfahrungen mit der Frauenhausarbeit (vgl. Neubauer u.a. 1987, Hagemann-White u.a. 1981, Nini u.a. 1995, Kavemann 2005). Auch phantasievolle Transfers der White-Ribbon-Campaign (Männer gegen Männergewalt) in deutsche Kontexte zielen über öffentlichkeitswirksame Aktionen auf Prävention (vgl. Heiliger/Hofmann 1998). Ins Blickfeld gerückt ist auch die Täterarbeit (vgl. Logar 2002), die in den letzten Jahren verstärkt dem Konzept folgt, den Gewalttätigen dazu zu bringen, die Verantwortung für seine Tat zu übernehmen, statt sie bei der Partnerin, den Lebensumständen o.Ä. zu suchen. Dies ist im Übrigen eine gängige diskursive Strategie gewalttätiger Männer. Hearn (1998) berichtet in seiner Untersuchung über schwer gewalttätig gewordene Männer, dass auch Täter, die ihre Partnerin schwer verletzt oder getötet haben, von sich selbst behaupten, im Prinzip nicht gewalttätig zu sein, sondern nur auf Provokation geantwortet zu haben. Dies bestätigen Erfahrungen aus der deutschsprachigen Täterarbeit (vgl. Hafner 2002, Bullinger/Väth 2005).
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Thematisierung sexuellen Missbrauchs Sexueller Missbrauch von Kindern ist in der Folge der Enttabuisierung von Gewalt in der Partnerschaft ebenfalls als Thema etabliert worden, aber später und in einem Problemfeld mit anderer Komplexität. Aus der Frauenbewegung entstandene Selbsthilfeorganisationen (wie z.B. Wildwasser e.V.), die den sexuellen Kindesmissbrauch aufgedeckt und öffentlich sichtbar gemacht haben, sind zum einen sehr erfolgreich gewesen, wie sich an der Rechtsprechung, der Etablierung zahlreicher Präventionsprojekte für Schulen und Kindergärten und der Existenz einer breit gestreuten Ratgeberliteratur zeigt (vgl. Enders 2001). Angesichts der im Zuge der Globalisierung noch steigenden Vernetzung von Kinderhandel, Kinderpornographie und Pädophilen-Interessengruppen zeigen sich heute neue Herausforderungen bei fortbestehenden Widerständen gegen die Aufdeckung dieses Delikts; dabei gilt die Aufmerksamkeit seit einiger Zeit Kindern beiderlei Geschlechts (vgl. Bange 2000). Die Prävalenz von sexuellem Missbrauch ist schwierig zu bestimmen, da die polizeilich erfassten Daten nur den kleineren Teil erfassen und die Forschung meist auf retrospektive Daten angewiesen ist. Bange und Deegener (1996: 123) fanden bei einer engen Definition des sexuellen Missbrauchs (sexuelle Handlungen gegen den Willen des Kindes bzw. das Kind war nicht in der Lage, wissentlich zuzustimmen) eine Häufigkeit zwischen 22% und 25% aller Frauen und zwischen 5% und 8% aller Männer (zit. nach Hagemann-White/Bohne 2003). In ihrer Auswertung verschiedener nationaler und internationaler Untersuchungen kommen Hagemann-White/Bohne (2003: 15) zu folgenden Schlüssen: „Als Fazit aus der Gesamtheit der vorliegenden Untersuchungen scheint die Schätzung plausibel, dass zwischen 12% und 15% aller Mädchen Formen von sexuellem Missbrauch erleiden, die sie emotional und körperlich belasten. Zieht man körperliche Misshandlung hinzu – Wetzels (1997) fand (bei 9,9% Prävalenz) eine Überschneidung zwischen Missbrauch und Misshandlung von etwa 30%, woraus sich eine Belastung von weiteren 6% bis 7% durch Misshandlung oder Missbrauch ergäbe –, so könnte der Anteil von Mädchen, die schwerwiegende Gewalt in der einen oder anderen Form erleiden, in der Summe mit 18% bis 20% geschätzt werden.“
Reviktimisierungsuntersuchungen kommen zu weitaus höheren Schätzungen der Betroffenheit; dies ist aus ihrer Anlage erklärlich: Erwachsene, die heute Opfer von (statistisch erfasster!) Misshandlung und sexueller Gewalt werden, geben bei Befragungen in großer Häufigkeit an, bereits in der Kindheit Opfer von Gewalt geworden zu sein; bei Wetzels (1997) hatten etwa zwei Drittel der Opfer sexueller oder schwerer körperlicher Gewalt in der Familie bereits als Kind Gewalt erlebt. Er betont allerdings, dass die größte Mehrheit (über 80%) derer, die in ihrer Kindheit Opfer waren, als Erwachsene nicht erneut Gewalt erleiden mussten (zit. nach Hagemann-White/Bohne 2003: 14). Allerdings zeigt die neue frauenbezogene Gewaltuntersuchung für Deutschland, dass Gewalterfahrungen weiblicher Kinder das Risiko verdoppeln, auch als Erwachsene in gewalttätigen Beziehungen zu leben; sexuelle Gewalterfahrungen in der Kindheit vervierfachen das Risiko, sexuelle Gewalt in späteren Partnerschaften zu erfahren (vgl. Schröttle/Müller 2004).
Thematisierungen in der Forschung: Kontroversen und Kooperationen Bezogen auf die Anfänge der Gewaltforschung können wir mit Godenzi (1996) zwischen der Forschung zu Gewalt gegen Frauen und der Forschung zum Thema „Familiengewalt“ unterscheiden. Während die feministische Perspektive lange Zeit Begriffe wie „Familiengewalt“ oder „Gewalt in Paarbeziehungen“ ablehnte, weil diese Begriffe eine Wechselseitigkeit unterstellen, die der geschlechtsspezifischen Richtung und Einbettung von Gewalt gegen Frauen nicht gerecht
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würde, treten solche Kämpfe um Begriffe heute zurück. Die Gewaltforschung befindet sich vielmehr mittlerweile in einem professionalisierten und differenzierten Prozess, der Vertreter und Vertreterinnen beider Richtungen manchmal in Kooperation, auf jeden Fall jedoch in Auseinandersetzung auf „gleiche Augenhöhe“ gebracht hat, was die Position im Wissenschaftsbetrieb und die Ausstattung mit Ressourcen anbelangt. Ein Streitpunkt, der von einigen Familiengewalt-Vertretern immer wieder in die Debatte gebracht wird, ist die These der annähernden Gleichheit vom Ausmaß der Gewalt, die von Frauen wie Männern in Paarbeziehungen ausgehe (vgl. Straus/Gelles/Steinmetz 1980, Lamnek/Ottermann 2004). Diese These wird mit Erhebungen belegt, die jede einzelne Gewalthandlung in viele Unterabschnitte aufteilt und dann zusammenzählt; jemandem, von dem man am Verlassen eines Raums gehindert wird, einen Stoß zu versetzen, um ihn aus dem Weg zu haben, wird genauso gezählt wie das gezielte Stoßen einer Person gegen die Wand oder ein Möbelstück. Systematisches Gewalt- und Kontrollverhalten wird mit dieser Methode nicht erfasst (zur detaillierten Auseinandersetzung mit der Conflict Tactics Scale (CTS) von Murray Straus u.a. und zu den Modifikationen der Skala als Reaktion auf Kritik vgl. Gloor/Meier 2003). Zugeben müssen Vertreter der Familiengewalt-These, dass in aller Regel Frauen die weitaus schwereren Verletzungen bei Partnergewalt davontragen; in Straus’ eigenen Daten beträgt das Verletzungsrisiko der Frauen das Sechsfache von dem der Männer (Straus 1999). Dies ändert aber nichts daran, dass die These der Gleichbeteiligung von Frau und Mann an Gewalt in der Partnerschaft immer weiter vertreten und auch im deutschsprachigen Raum aufgegriffen wurde. Hier üben sich auch einige Vertreter darin, Frauen den überwiegenden Anteil von Gewalt in der Partnerschaft zuzusprechen (vgl. Gemünden 2003). Zu dieser Gruppe gehören auch Personen, die Internetseiten gegen die angebliche „Frauenhauslüge“ betreiben u.a.m. Die CTS-gestützte Forschung weist methodische Probleme aus, die ihre Ergebnisse zwar nicht wertlos machen – weisen sie doch darauf hin, wie „normal“ aggressive bis gewalttätige Handlungen im Familienalltag sind –, aber in ihrer Aussagefähigkeit einschränken. Gloor/Meier (2003) schlagen in ihrer Analyse des CTSModells vor, zwischen „Gewalt als spontanem Konfliktverhalten“, welche eher das Forschungsfeld von Straus repräsentiert – und „Systematischem Gewalt- und Kontrollverhalten“ zu unterscheiden, in welchem ein Paarteil wiederholt Gewalt androht und/oder ausübt und in Verbindung mit Einschüchterung und repressivem Verhalten den anderen fortwährend in eine unterlegene Position versetzt. Dieser Gewalttyp müsse mit anderen Methoden untersucht werden; er grenze Gewalt gegen Frauen von der gegen Männer ab und markiere damit eine heute noch aktuelle Differenz. Inwieweit diese Differenz im Lichte neuer Untersuchungen durch eine Vielfalt weiterer Differenzen, z.B. nach Lebensalter, kontextualisiert werden muss, ist eine von HagemannWhite (2006) formulierte Forschungsfrage für die Zukunft. Vom teilweise polemischen Bezug auf Männer als „eigentlichen“ Gewaltopfern strikt zu unterscheiden ist eine sich neu etablierende Forschungsrichtung, die Männer als Gewaltopfer allgemein in den Blick nimmt. Lenz (2000) lenkt den Blick darauf, dass Männer insgesamt sehr viel häufiger Opfer von Gewalt – durch andere Männer, durch Krieg, durch krankmachende Arbeit etc. – seien als Frauen. Insbesondere in der Jugend (Misshandlungserfahrungen durch Eltern, Schulkameraden etc.) und im Alter (Misshandlung in Pflegeverhältnissen), aber auch über den gesamten Lebenslauf verstreut, werden hier beträchtliche Gewalterfahrungen vermutet, die jedoch aufgrund des vorherrschenden Bildes von Männlichkeit noch kaum thematisierbar seien. Im Unterschied zur gelungenen Enttabuisierung von Gewalt im Geschlechterverhältnis war die Forschungslage zur Prävalenz lange Zeit unbefriedigend. Erst in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre wurden einige Untersuchungen durchgeführt, die auf repräsentativer Basis Angaben machen konnten (z.B. in den Niederlanden, England/Wales, Finnland, Schweden). Hierbei handelte es sich noch um unterschiedlich angelegte Studien, die meist keinen unmittelbaren Vergleich erlauben; gleichwohl kann gesagt werden, dass sich der Anteil von Frauen, die Gewalt in der Partnerschaft erlebt haben, zwischen 10 und 33% bewegt (vgl. Hagemann-White/Bohne 2003, Wetzels/Pfeiffer 1995). Zu bedenken ist hierbei, dass das Dunkelfeld als groß eingeschätzt
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werden muss, da aktuell von Gewalt betroffene Frauen, die einem meist stark kontrollierenden Partnerverhalten ausgesetzt sind, oft keine Interviews geben oder Fragebögen ausfüllen und zurückschicken können. Für Deutschland wurde von 2002 bis 2004 die erste umfangreiche Repräsentativuntersuchung zur Gewalt gegen Frauen erstellt (vgl. Müller/Schröttle 2004, Schröttle/Müller 2004, Schröttle u.a. 2006). Befragt wurden 10.264 in Deutschland lebende Frauen im Alter von 16 bis 85 Jahren, darüber hinaus wurden Interviews mit Migrantinnen, Asylbewerberinnen, Prostituierten und Frauen in Haft durchgeführt. Parallel zur Frauenstudie wurde die erste Pilotstudie zu Gewalterfahrungen von Männern durchgeführt, in denen 266 Männer mündlich und 190 schriftlich befragt wurden (vgl. Jungnitz u.a. 2004, 2007). In der Repräsentativerhebung gaben 40% der Frauen an, seit dem 16. Lebensjahr körperliche oder sexuelle Gewalt oder beides in inner- oder außerfamiliären Kontexten erlebt zu haben. Körperliche Übergriffe nannten 37% – es handelt sich um ein breites Spektrum von körperlichen Übergriffen in unterschiedlichen Lebenszusammenhängen, die von leichten Ohrfeigen und wütendem Wegschubsen bis hin zum Schlagen mit Gegenständen, Verprügeln und Waffengewalt reichten. Bei insgesamt 55% der Frauen, die körperliche Übergriffe erlebt hatten, waren diese mit Verletzungsfolgen verbunden. Zusammenfassend hat etwa jede fünfte in Deutschland lebende Frau im Alter von 16 bis 85 Jahren in ihrem Erwachsenenleben mindestens einmal körperliche Übergriffe mit Verletzungsfolgen erlebt (vgl. Schröttle/Müller 2004). Sexuelle Gewalt wurde von etwa jeder siebten Frau (13%) berichtet, wobei sich dieser Anteil auf eine enge Definition strafrechtlich relevanter Formen von mit Zwang verbundener sexueller Gewalt bezieht, die Vergewaltigung, versuchte Vergewaltigung und sexuelle Nötigung umfasst. Unterschiedlich schwere Formen von sexueller Belästigung in verschiedenen Lebensbereichen haben der Studie nach insgesamt 58% aller befragten Frauen benannt. Alle Formen von Gewalt und Belästigung gegenüber Frauen gingen häufiger von männlichen als von weiblichen TäterInnen aus. So wurden bei körperlicher Gewalt von 71% der Befragten ausschließlich männliche Täter, von 19% sowohl männliche als auch weibliche und von knapp 10% ausschließlich Täterinnen genannt. Bei sexueller Gewalt und bei Gewalt in Paarbeziehungen waren fast ausschließlich – zu 99% – männliche Täter genannt worden. Auch sexuelle Belästigung ging zu 95% ausschließlich oder überwiegend von Männern oder männlichen Jugendlichen aus. Rund 25% aller befragten Frauen gaben an, körperliche oder sexuelle Übergriffe (oder beides) durch aktuelle oder frühere Beziehungspartner in unterschiedlichen Ausprägungen und Schweregraden erlebt zu haben (vgl. Schröttle/Müller 2004). Die Ergebnisse der nicht repräsentativen deutschen Pilotstudie „Gewalt gegen Männer“ (Jungnitz u.a. 2004, 2007) lassen erkennen, dass Jungen/Männer insgesamt einem beträchtlichen Risiko körperlicher, psychischer und sexualisierter Gewaltübergriffe im öffentlichen Raum und in institutionellen Settings wie Schule, Arbeitsplatz, Haftanstalt etc., aber auch in Partnerschaftsbeziehungen ausgesetzt sind. Besonders betroffen von körperlicher Gewalt waren jüngere Männer im Alter von 18 bis 20 Jahren. Die Täter waren zu 90% männlichen Geschlechts. Allerdings scheinen sich die schweren Gewalterfahrungen von Männern im Vergleich zu denen von Frauen stärker auf Gewalt in der Öffentlichkeit und in der Freizeit zu konzentrieren, wo Männer auch häufiger als Täter in Erscheinung treten (vgl. Wetzels/Pfeiffer 1995, Jungnitz u.a. 2004). Erklärungsangebote zur Entstehung von Männergewalt gegen Frauen (vgl. Neubauer/Steinbrecher/Drescher-Altendorff 1987) sind vielfältig. „Männliche Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist weltweit in vielfacher Form in die kulturell vorherrschende Konstruktion des Geschlechterverhältnisses eingebettet, und zwar als grundsätzliche Dominanz des einen Geschlechts über das andere“ (Brückner 2002: 9), lautet eine einflussreiche Position. Andere Autorinnen und Autoren betonen eher die strukturelle Seite der ökonomischen Abhängigkeit und sexuellen Unterdrückung von Frauen, welche durch Gewalt bzw. deren Androhung abgesichert werde und die bis hin zur noch weltweit verbreiteten rechtlichen Sanktionsfreiheit von Gewalt gegen Frauen reicht. Godenzi (1996) gibt einen Überblick über soziologische Theorien, die zur Erklärung her-
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angezogen werden (z.B. Devianz, Subkultur, Kontrollverhalten, ökonomische Abhängigkeit), und Minssen/Müller (1995) diskutieren soziogenetisch und psychogenetisch orientierte Erklärungsversuche, einschließlich psychoanalytischer Ansätze und Beiträge aus der Forschung zu Männlichkeiten; dabei unterziehen sie u.a. Thesen zur „Zwangsläufigkeit“ männlicher Gewaltbereitschaft gegenüber Frauen aufgrund von Sozialisationsprozessen und psychosexueller Entwicklung einer kritischen Betrachtung und weisen auf die bisher unterbelichtete Rolle des „heterosexuellen Glücksversprechens“ für die Entstehung männlicher Gewalt- und weiblicher Duldungsbereitschaft hin.
Zukünftige Entwicklungen Initiativen gegen Gewalt im Geschlechterverhältnis vernetzen sich zunehmend international (z.B. WAVE – Women Against Violence Europe). Dies gilt ebenso für die Forschung (z.B. European Network of Gender, Conflict & Violence; Co-ordination Action Human Rights Violations) und zeigt sich dort auch in der Etablierung von wissenschaftlichen Publikationsorganen (z.B. Journal of Interpersonal Violence, Journal „Violence against Women“). Dies drückt sich ferner aus in der Durchführung international vergleichbarer nationaler Prävalenzforschung und der Bemühung, Überblick und Analyseperspektiven im globalen Rahmen zu entwickeln (vgl. Kelly/Radford 1998, CAHRV 2008). Hierbei stellen sich unterschiedliche gesellschaftliche Kontexte als wichtige soziokulturelle Rahmenbedingungen für die Thematisierbarkeit von Gewalt heraus, wie z.B. Schröttle (1999) in ihrer retrospektiven Analyse von Gewalt im Geschlechterverhältnis in der DDR aufzeigen kann (z.B. Ideal der Harmonie des Zusammenlebens im Sozialismus, Abwehr gegen staatliche Eingriffe in die Privatheit der Familie, Priorität auf Entkriminalisierung und Reintegration der gewalttätigen Partner in das sozialistische Kollektiv). Ferner zeigen sich Tendenzen zur Überwindung disziplinärer und konzeptioneller Beschränkungen. Als Herausforderung werden die Verfeinerung und die Vervielfältigung von Forschungsmethoden begriffen sowie die Notwendigkeit, aber auch die Schwierigkeit disziplinübergreifender Definitionen und Konzepte (vgl. Dobash/Dobash 1998). Bisher eher vernachlässigte Aspekte wie Gewalttätigkeit von Frauen und Mädchen seriös und differenziert zu untersuchen, steht an (vgl. auch Meuser 2003, Wolf 2006), wird aber derzeit häufig tendenziös, z.B. als „Abrechnung“ mit einer vorgeblichen feministischen Kontrolle des Staates verhandelt (vgl. Kelly 2003). Eine große Zukunftsaufgabe ist darin zu sehen, die bisher zu beobachtende Abgrenzung der Gewaltforschung in einzelne Bereiche – Geschlecht, Jugend, Fremdenfeindlichkeit etc. – und in einzelne Disziplinen – Sozialwissenschaften, Psychologie, Rechtwissenschaft, Erziehungswissenschaft etc. – stärker aufeinander zu beziehen, um zu einem komplexeren Problemverständnis zu gelangen (vgl. hierzu auch Schröttle 2001). Hierbei stellen sich unterschiedliche Situierungen als wichtige Rahmenbedingungen für die Thematisierbarkeit von Gewalt heraus; stark marginalisierte soziostrukturelle Kontexte können ebenso zum Verschweigen erlebter Gewalt beitragen wie hoch privilegierte (vgl. Müller/Schröttle 2008). Mit differenzierterer Datenlage wird zunehmend deutlich, dass es kein klassisches Grundmuster von Gewalt in Paarbeziehungen gibt; „Opfer“ sind auf unterschiedliche Weise hilflos oder auch nicht hilflos, was nicht ohne Auswirkungen auf die Weiterentwicklung von Präventions- und Intenventionsmaßnahmen bleiben wird, aber auch die Forschung anregt in Richtung von Handlungsfähigkeit; agency und capabilities können hier als Stichworte genannt werden (vgl. Helfferich 2005, Sen 1993). Verweise: Armut FrauenMenschenrechte Gewaltprävention Jungen Krieg und Frieden Lebens- und Wohnformen Männlichkeitsforschung Recht Sexualität Stadt und Raum
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Carol Hagemann-White, Sabine Bohne
Gewalt- und Interventionsforschung: Neue Wege durch europäische Vernetzung
Gewalt und Menschenrechte Seit der Weltfrauenkonferenz in Beijing (1995) wird Gewalt gegen Frauen und Mädchen im Alltag nicht nur als öffentliches Thema sondern auch als Menschenrechtsfrage verhandelt. Seit 1998 hat jede neue EU-Präsidentschaft eigene Initiativen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen vorgestellt, der Europarat hat umfassende Empfehlungen hierzu verabschiedet, internationale Organisationen wie die UNO und die WHO, aber auch engagierte Menschenrechtsorganisationen wie terres des hommes und amnesty international haben sich des Themas angenommen (vgl. Wölte 2002). Jedoch sind alltägliche Übergriffe ein „Frauenthema“ geblieben; die Verbindungen zu Gewalt gegen Kinder oder gegen ältere Menschen werden selten untersucht, und Männer als Opfer von Gewalt finden kaum Aufmerksamkeit. Zwar treten auch diese Problemfelder, ebenso wie rassistische Gewaltausbrüche, Jugendgewalt in den Schulen oder Armut und Verelendung der sozial Ausgegrenzten, immer wieder mal in den Rang eines skandalösen Missstandes, aber die oft hektischen Diskussionen bleiben auf die aktuelle Aufregung beschränkt. Mit der Sorge um Menschenrechte hingegen verbindet man nach wie vor staatliche und organisierte Übergriffe, die Folgen bewaffneter Konflikte oder Folter in der Haft. Ein Bewusstsein des Zusammenhangs zwischen Geschlechtergerechtigkeit und Wahrung der Menschenrechte wurde bislang nur unzureichend erreicht. So haben zwar die Verletzungen im alltäglichen Leben der „friedlichen“ Gesellschaft dank der Frauenbewegungen rhetorisch den Status einer Menschenrechtsfrage erhalten, aber um den Preis des Verzichts darauf, sie zu anderen Grundrechten in Verbindung zu setzen. Die Themen öffentlicher Besorgnis bleiben zersplittert; Zusammenhänge werden selten hergestellt, Strategien zielen immer neu auf das aktuelle Problem. So wird immer wieder die Wahrnehmung erzeugt, dass die bekannt gewordenen Exzesse Ausnahmen sind. Dabei ist bei ernsthafter Betrachtung nicht zu übersehen, dass die Gewährleistung der Menschenrechte erst möglich sein wird, wenn das Verhältnis der Geschlechter und der Generationen gründlich geprüft und gemeinsam neu gestaltet wird. Doch die meisten Studien und Forschungsdiskurse fokussieren auf einzelne Formen und Kontextbedingungen der Gewalt und deren Folgen, wie Gewalt gegen Frauen, Kindesmisshandlung, Gewalt gegen Ältere oder Ursachen gewalttätigen Verhaltens von Männern.
Coordination Action on Human Rights Violations Im Rahmen des 6. Forschungsrahmenprogramms der EU hat sich ein Netzwerk zusammengefunden, das die Forschung über Menschenrechtsverletzungen integriert und zugleich auf diese alltäglichen Übergriffe fokussiert. Das Projekt „Coordination Action on Human Rights Violations (CAHRV, 2004-2007)“ will einen Dialog über die Forschungsansätze und Befunde im breiten Feld der interpersonellen Gewalt herstellen und dabei die Spaltungen überbrücken, die sich auf unterschiedliche Betroffenheit nach Geschlecht, Generation und sozialer Lage berufen
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haben. Beteiligt waren 22 Partner in 14 Ländern sowie individuelle Forscherinnen und Forscher aus unterschiedlichen Disziplinen und Arbeitsgebieten. Das Arbeitsprogramm von CAHRV zielte darauf, Forschung zu allen Formen der interpersonellen Gewalt im Verhältnis zwischen den Geschlechtern und den Generationen mit einem integrativen Ansatz zusammenzuführen. In vier Unternetzwerken wurde Zusammenarbeit in den Bereichen Prävalenz und Folgen für Opfer, Ursachen der Täterschaft, Interventionsstrategien und deren Evaluation und zukunftsorientierte Prävention aufgebaut. Der Verbund verknüpft Forschungsergebnisse zu Opfer-Sein und Täterschaft von Frauen und Männern und betrachtet das Vorkommen unmittelbarer Übergriffe und Verletzungen vor dem Hintergrund der sozialen, rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen. Eine Integration verschiedener Forschungsbereiche und paralleler Diskurse kann präventive Ansätze und Interventionsmaßnahmen stärken (vgl. CAHRV Final Report 2008). Dabei gewinnt eine spezifisch europäische Sichtweise an Profil, die es erlauben wird, eine konstruktive Auseinandersetzung mit den dominanten Modellen der US-Forschung aufzunehmen. Im Folgenden werden Beispiele von Fragmentierung aufgezeigt, die den Vernetzungsbedarf verdeutlichen.
Ausmaß und Verbreitung von Gewalt Während die nordamerikanische Forschungsentwicklung schon früh von der quantitativen Erfassung des Vorkommens von Gewalt in Familien geprägt wurde, hat die europäische Betrachtung zunächst der gesellschaftlichen Wahrnehmung und der praktischen Intervention Raum gelassen, die mit qualitativen Studien und Evaluationsforschung begleitet wurden. Hierfür sind unterschiedliche Traditionen sowohl in der Forschung als auch im Umgang mit sozialen Problemen verantwortlich (Hagemann-White 2001). Im Ergebnis ist festzustellen, dass quantitative Erhebungen erst relativ spät in Angriff genommen wurden, als über die Konturen und die Dynamik des jeweiligen Problems viel bekannt war. In Europa hatte zudem die feministische Sichtweise sowohl die Debatte eröffnet als auch den Rahmen für weitere Forschung gesetzt: Häusliche und sexuelle Gewalt gelten als geschlechtsbezogen und ohne Bezug auf das Geschlecht nicht adäquat zu untersuchen. Entsprechend sind die politischen Verlautbarungen der Europäischen Union und des Europarates: Gewalt gegen Frauen gilt als Symptom der noch nicht eingelösten Gleichberechtigung der Geschlechter. In den USA hingegen hält ein chronischer Streit zwischen der familienzentrierten Betrachtung und der geschlechtsbezogenen Sichtweise an. Trotz eigenständiger empirischer Traditionen behielt das nordamerikanische Paradigma lange einen dominierenden Einfluss. In den USA festgestellte Zahlen wurden als eine Art ‚Eichmaß‘ für die Güte der Forschung in anderen Ländern anerkannt – obwohl die dort üblichen Erhebungsinstrumente zu einer Zeit ausgearbeitet wurden, als die Verflechtung von Geschlecht und Gewalt gesellschaftlich noch weitgehend verborgen war. Bis heute ist die Neigung verbreitet, empirische Befunde aus Nordamerika auch für andere Länder geltend zu machen. Der Kontextverlust ist jedoch beim Thema Gewalt besonders problematisch; er lässt offen, inwieweit überhaupt die gleiche Sache gemeint ist. Das Interesse an verlässlichen Zahlen wuchs zusammen mit der Durchsetzung einer Betrachtung aus der Perspektive der Menschenrechte. Nach ersten europäischen Pionierarbeiten in den 1980er Jahren (v.a. Römkens 1997) wurden v.a. ab 1995 Prävalenzstudien zu Gewalt gegen Frauen in immer mehr EU-Ländern durchgeführt, die jeweils ihr eigenes Erhebungsinstrument entwickelten und deren Ergebnisse nicht miteinander vergleichbar waren (vgl. Hagemann-White 2000). Nach dem Erscheinen der finnischen Studie von Heiskanen und Piispa (1998) begann eine wechselseitige Bezugnahme der neueren europäischen Studien untereinander. Feministisch aufgeklärte Forschung traut sich inzwischen zu, standardisiert und quantifizierend angemessen zu fragen, und dies gelingt auch: Offenbar hat die öffentliche Diskussion es Frauen mittlerweile möglich gemacht, ihre Erfah-
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rungen mitzuteilen, wie die sehr hohe Rücklaufquote (über 70%) der postalischen Erhebungen in Finnland und Schweden bestätigt. Das Anliegen dieser Prävalenzuntersuchungen ist längst nicht mehr, die Existenz des Problems zu belegen: Dies haben die Einrichtungen für praktische Hilfe erreicht. Vielmehr geht es um die Aufdeckung von Mustern und Verknüpfungen: Wo liegen die besonderen Risiken für Gewalt? Wohin wenden sich Betroffene bei der Hilfesuche und wo wird ihnen effektiv geholfen? Welche Auswirkungen hat erlittene Gewalt für Leben und Gesundheit? Wann gelingt es, die Gewalt zu beenden? Eine aufschlussreiche Ergänzung sind regionale repräsentative Prävalenzuntersuchungen im Gesundheitswesen (Romito/Garin 2001, Hellbernd u.a. 2004), die insbesondere die gesundheitlichen Auswirkungen und den Umgang der in der Versorgung tätigen Fachkräfte mit gewaltbetroffenen Frauen beleuchten. Diese Fragen regen dazu an, Variationen bei unterschiedlichen Bedingungen zu suchen und den Zustand zu überwinden, dass jede Erhebung nur im eigenen Land zur Kenntnis genommen wird. Mit diesem Anliegen berücksichtigen neuere Untersuchungen vorangegangene europäische Studien, so in Schweden (Lundgren u.a. 2001) und Frankreich (Jaspard 2002) sowie die erste bundesweite deutsche Prävalenzstudie (vgl. Müller in diesem Band). Ein Vergleich zwischen Frauen und Männern ist viel schwieriger. Dem Prinzip folgend, dass die zu erfassenden Phänomene zunächst in ihrer Struktur und Dynamik eingehend betrachtet werden, ehe man zu breiten Umfragen übergeht, war es für die Untersuchung der Betroffenheit von Männern als Opfer von Gewalt zunächst notwendig, einen Raum für die Wahrnehmung und Mitteilung dessen zu öffnen, was Männer an Gewalt erleiden (vgl. Lenz 2000). Männer definieren Gewalt in einer anderen Art und Weise als Frauen, rechnen eher mit physischen Angriffen von gleichgeschlechtlichen Personen und sind in ihrer Sozialisation dazu aufgefordert, physische Herausforderungen bestehen zu können und dies in ihr Selbstbewusstsein zu integrieren. Erst fundierte Studien zur Viktimisierung von Männern, die eines eigenständigen theoretischen und methodologischen Rahmens bedürfen, werden dazu beitragen, Verbindungen zwischen Geschlecht und Gewalt außerhalb polarisierter Stereotypen zu verstehen. Eine weitere Fragmentierung von Forschung und Praxis zeigt sich in der Ausblendung der Zusammenhänge zwischen Gewalt unter Erwachsenen und Gewalt an Kindern. Bislang ist es nur in Ansätzen gelungen, Formen des Machtmissbrauchs im Generationenverhältnis mit denen im Verhältnis der Geschlechter zusammen zu sehen. So fokussieren Interventionsmaßnahmen entweder auf Gewalt gegen Frauen und Maßnahmen zu deren Schutz oder auf Kindesmisshandlung und Umsetzung von Kindesschutzrechten. Die Trennung ist u.a. in der unterschiedlichen Schwerpunktsetzung und verschiedenen Arbeitsaufträgen der involvierten Institutionen begründet (Kavemann 2000). Oft wird die Gewaltproblematik auf Misshandlung in nahen Beziehungen reduziert – sowohl die „Indikatoren“ der EU als auch die Aktionspläne verschiedener europäischer Länder zu „Gewalt gegen Frauen“ beschränken sich gänzlich auf physische (und psychologische) Gewalt in der Ehe, es werden dazu gesonderte Gesetze erlassen. Sexueller Gewalt – ob an Frauen oder an Kindern – wird, wenn überhaupt, zumeist gesondert zum Thema (und sexuelle Gewalt an Männern ganz ausgeschlossen). Es mehren sich jedoch die Belege für breite Überschneidungen zwischen den meist getrennt betrachteten Gewaltphänomenen. So zeigen die Ergebnisse einer umfangreichen britischen Prävalenzstudie zu Kindesmisshandlung (vgl. Cawson u.a. 2000) auf, dass ein großer Anteil der misshandelten Kinder in Familien lebt, in denen Frauen von Gewalt durch den Partner oder Ehemann betroffen sind. In der „Concerted Action on the Prevention of Child Abuse in Europe“ (CAPCAE 1998) wurden in acht europäischen Ländern, u.a. in Deutschland, Untersuchungen zu Kindesmisshandlungen durchgeführt, die Kinderschutzeinrichtungen bekannt waren: In 57% der aufgetretenen Fällen von körperlicher Misshandlung oder Vernachlässigung spielen Beziehungsprobleme der Betreuer eine wesentliche Rolle. Bei 45% der von physischer Misshandlung betroffenen Kinder und 34% Fällen von Vernachlässigung ist häusliche Gewalt ein signifikanter Faktor.
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Ursachen von Gewalt Über die ganze Spannbreite der Menschenrechtsverletzungen, von Menschenhandel und Kriegsvergewaltigungen bis zur alltäglichen häuslichen Gewalt, treten schon beim ersten Augenschein soziale Konstruktionen und Praktiken von Männlichkeit in den Vordergrund. Wissenschaftlich setzt sich die Einsicht zunehmend durch, dass Aggression und Gewalt nicht ohne eine Geschlechterperspektive untersucht werden können. Nachdem die Unterstützung für betroffene Frauen und die Erforschung ihrer Lage ein Bewusstsein für die Verbreitung männlicher Gewalt geschaffen hatte, stellte sich die drängende Frage nach den Ursachen. International entfaltet sich seit etwa zehn Jahren eine Forschungs- und Theoriediskussion über den kulturellen Zusammenhang von Gewalt und sozial anerkannter Männlichkeit (vgl. Pringle 1995, Bowker 1998, Hearn 1998). Weitgehend unverbunden neben der Betrachtung der potenziellen und praktizierten Täterschaft steht allerdings die noch in den Anfängen begriffene Untersuchung männlicher Opfererfahrungen. Connell (1999) hat auf die gleichzeitige Existenz verschiedener Männlichkeiten in Verhältnissen der Dominanz und Unterordnung hingewiesen. Gewalthandeln und Gewaltbereitschaft sind vor dem Hintergrund der sozialen Verortung differenziert zu betrachten (Meuser 2002). Privilegierte Männlichkeiten strahlen Durchsetzungsfähigkeit aus, vor allem im Vergleich zu weniger erfolgreichen Männern. Mit der Globalisierung – insbesondere auch der ehemals sozialistischen Gesellschaften – wächst der Anteil der marginalisierten Männer, die gegen sich selbst oder gegen andere gewaltsam agieren. Zwischen den großen gesellschaftlichen Entwicklungen und dem Konfliktverhalten der Individuen können also Geschlechterpraktiken vermitteln, zu denen auch verschiedene Formen von Gewalt gehören. Im 5. Rahmenprogramm der EU hat ein thematisches Netzwerk das „European Documentation Centre on Men“ (www.cromenet.org) aufgebaut, das eine Grundlage bietet, geschlechtsbezogene Normen und Verhaltensmuster von Männern in verschiedenen Ländern und Milieus sorgfältiger zu differenzieren. Dabei wurde deutlich, dass es kaum geschlechtsdifferenzierte Erkenntnisse über Prozesse der sozialen Privilegierung und Marginalisierung gibt, zumal nicht im Hinblick auf die Veränderungen im Osten und im Westen seit 1989. Prozesse von Einschluss und Ausschluss, von Aufstieg, Abstieg und Ausgrenzung sind von erheblicher Bedeutung für die potenzielle und realisierte Position als Täter (oder als Opfer) von Gewalt. In der Männerforschung steht die Gewalt überwiegend als Thema für sich im Raum, nur selten werden Bezüge zu sozialen Strukturen und sozialem Wandel hergestellt.
Intervention und Evaluation Obwohl die Thematisierung von Gewalt gegen Frauen in den 1970er Jahren ganz ähnliche Forderungen und Projekte in den verschiedensten Ländern in Westeuropa, Nordamerika und Australien hervorgebracht hat, waren die Institutionalisierungserfolge unterschiedlich (Hanmer 1996), und erst recht die Begleitung durch interventionsbezogene Forschung. So haben die deutschsprachigen Länder (Deutschland, Österreich und die Schweiz) sowie Großbritannien und Irland eine längere Tradition staatlich finanzierter Evaluationsstudien, während in den nordischen Ländern, trotz beträchtlicher Mittel für Maßnahmen und Programme, die Evaluation eher selten ist. Dies kann damit erklärt werden, dass in der erstgenannten Ländergruppe freie Träger den Hauptanteil an der praktischen Interventionsarbeit übernehmen, während die skandinavische Tradition die Hilfe bei sozialen Problemen als unmittelbare Aufgabe des Staates sieht, sodass keine Überprüfung erforderlich scheint, ob öffentliche Zuschüsse entsprechend den Zielen der Politik effektiv eingesetzt wurden. Die osteuropäischen Länder und Beitrittsgebiete der EU sahen sich fast über Nacht mit Interventionsmodellen und Interventionserwartungen konfrontiert, die nicht aus eigenständigen sozialen Bewegungen entstanden sind; die Modelle wurden pragmatisch modifiziert, aber Ressourcen für die Evaluation waren selten vorhanden.
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Die vorliegende deutsch- und englischsprachige Evaluationsforschung begann bei den Unterstützungseinrichtungen für betroffene Frauen (z.B. Hagemann-White u.a. 1981, Gloor/Meier/Verwey 1995), ergänzend kamen Untersuchungen zum routinemäßigen Umgang von Institutionen hinzu, die im Rahmen ihres Auftrages mit geschlechtsbezogener Gewalt zu tun haben (z.B. Gregory/ Lees 1999, Seith 2003). Innovative Maßnahmen zur Veränderung des Vorgehens von Behörden wie Polizei und Gerichten werden ebenfalls evaluiert (Dearing/Haller 2000). Seit den 1990er Jahren werden verstärkt Formen interinstitutioneller Kooperationen erprobt und wissenschaftlich begleitet (Kelly 1999, Harwin/Hague/Malos 1999, Gloor u.a. 2000, Kavemann u.a. 2001). Die Ergebnisse der sechsjährigen wissenschaftlichen Begleitforschung zu Interventionsprojekten gegen häusliche Gewalt in Deutschland im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) liegen vor (vgl. www.wibig.uni-osnabrueck.de). Begleitforschung zur Intervention zugunsten misshandelter Kinder ist deutlich seltener zu finden, v.a. im deutschsprachigen Raum. Als letztes kam Evaluationsforschung zu Täterprogrammen hinzu (Dobash u.a. 2000, Gloor/Meier 2002, Logar/Rösemann/Zürcher 2002). So existiert in Europa ein beträchtliches Wissen über Interventionsstrategien, rechtliche Bestimmungen und deren Implementationen zum Schutz vor interpersoneller Gewalt sowie Forschungsergebnisse aus spezifischen Aktionen und Programmen. Es fehlt aber ein Überblick sowohl über Fehler als auch Erfolge der sozialen Institutionen und ziviler Gesellschaft sowie eine Einschätzung der Effektivität von Veränderungen und Maßnahmen. Die Reichweite ist oft sehr bewusst auf die regionalen Bedingungen und die Sprache ausgerichtet, um einen sinnvollen „Regelkreis“ mit guter Praxis zu schaffen. Dadurch besteht keine breite Wissensgrundlage darüber, welche Maßnahmen wo und unter welchen Bedingungen effektiv gewesen sind und welche Beispiele guter Praxis auf andere Länder übertragbar sein könnten. Integrationsbedarf in der interventionsnahen Forschung ist auch quer zu den Handlungsfeldern feststellbar. So besteht eine ausgeprägte Korrelation zwischen Kindesmisshandlung durch den Vater oder den Partner der Mutter und Misshandlung der Frau durch den Mann. Zudem sind Kinder, auch wenn sie selbst nicht geschlagen werden, in den meisten Fällen bei Gewalt gegen die Mutter anwesend und erleben diese mit (Mullender/Morley 1994). Das Erleben der Misshandlung der Mutter belastet die Entwicklung des Kindes und kann für späteres eigenes Gewalthandeln von mindestens ebenso großer Bedeutung sein, als wenn das Kind selber geschlagen worden wäre. Eine Fokussierung auf die Gewalt gegen die Frau kann dazu führen, dass Gewalt gegen Kinder nicht genügend wahrgenommen wird. Auch in Frauenschutzeinrichtungen fehlen oft Ressourcen für spezifische Beratungsangebote, für Einzelgespräche mit Kindern und Jugendlichen über ihr Erleben häuslicher Gewalt und für eine – in diesem Kontext unentbehrliche – Nachbetreuung. Die Fokussierung auf Gewalt gegen Kinder und Jugendliche im Arbeitsfeld des Kinderschutzes und der Jugendhilfe kann andererseits dazu führen, vorliegende Gewalt gegen die Mutter auszublenden bzw. nicht genügend zu berücksichtigen (Kelly/Mullender 2000). Empirische Ergebnisse weisen auf die Notwendigkeit von Kooperationen zwischen Institutionen und Einrichtungen für Frauenunterstützung und Kinderschutz bzw. Jugendhilfe hin: Wenn die Misshandlung und Bedrohung der Mütter ausgeblendet wird, können Umgangs- und Sorgerechtsregelungen Frauen nach einer Trennung zu erneutem Kontakt mit dem gewalttätigen Partner zwingen; neben der psychischen Belastung birgt dies handfeste Gefahren für Frauen und für Kinder (Hester/Radford 1996). Die chaotische familiäre Situation kann bei Familiengerichten und Jugendämtern den Eindruck erwecken, die misshandelte Mutter sei außerstande, für die Kinder angemessen zu sorgen. Die Auswirkungen jahrelanger Misshandlung und Demütigung auf Gefühle und Verhalten der Frau und auf ihr Selbstverständnis als Mutter sind jedoch nicht irreversibel (Kelly 1994). Schließlich ist in Ländern, in denen Politik und Gesellschaft eine aktive Vaterrolle in der Familie einfordern, eine Tendenz zu beobachten, die Misshandlung der Partnerin auszublenden, sobald eine Trennung erfolgt ist. Gewalt in nahen sozialen Beziehungen wirft jedoch ernste Fragen nach der Wahrnehmung väterlicher Verantwortung auf, die im Sinne des Kindeswohls dringend geklärt wer-
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den müssen, bevor Regelungen des Umgangs festgelegt werden (Stark/Flitcraft 1988, Peled 1997, Hester/Eriksson 2001, Hester 2002). Kavemann (2000) zieht aus der internationalen Evaluation den Schluss, dass Schutz vor Gewalt immer Vorrang vor dem Recht auf Kontakt haben muss: –
„Alle Maßnahmen, die zum Schutz und zum Wohle von Kindern eingeleitet werden, müssen daraufhin überprüft werden, ob sie die Sicherheit der Mutter gefährden. – Alle Angebote, die dem Schutz und der Unterstützung von Frauen dienen, müssen daraufhin überprüft werden, ob sie das Wohl und den Schutz von Kindern nicht vernachlässigen. – Alle Entscheidungen über die Rechte von Vätern auf Umgang mit ihren Kindern müssen daraufhin überprüft werden, ob sie die Sicherheit der Mütter oder das Wohl der Kinder gefährden.“ (Kavemann 2000: 119) Der grenzüberschreitende Austausch macht darauf aufmerksam, dass es eine Vielfalt möglicher Interventionsorte und entsprechende Erkenntnisquellen gibt. Länder, die eine weniger entfaltete Landschaft von problemzentrierten Projekten aufweisen – sei es, dass die Ressourcen fehlen, sei es, dass die Bedeutung spezieller und freier Vereine geringer geschätzt wird – nutzen weit stärker z.B. das Gesundheitswesen als Weg, von Gewalt Betroffene zu erreichen und ihnen zu helfen (vgl. Garcia-Moreno 2002, Posse/Heimer 1999). In der Bundesrepublik wird erst in den letzten Jahren begonnen, dieses Interventionspotenzial zu nutzen (Hellbernd u.a. 2004), das von der Kenntnisnahme der im Ausland gesammelten Forschung und Praxis einen starken Schub erfahren konnte (Hagemann-White/Bohne 2003). Viktimisierung ist ein hoher Risikofaktor für eine ganze Bandbreite psychischer und physischer Gesundheitsprobleme (Kilpatrick u.a. 1997, Campbell u.a. 1997, Campbell 2002, Kretschmann 2002, Olbricht 2002, WHO 2002). Gut belegt sind inzwischen allgemeine Zusammenhänge zwischen Gesundheitsproblemen und Gewalt, jedoch wurden die differenzierten Auswirkungen der unterschiedlichen Gewaltformen sowie Bedingungen von Vulnerabilität und Bewältigungsstrategien noch nicht ausreichend analysiert. Gerade im Bereich der ‚verdeckten‘ Gewalt, deren Auswirkungen nicht unmittelbar als gesundheitliche Beeinträchtigung ersichtlich sind, haben Professionelle im Gesundheitswesen einmalige Chancen zu intervenieren. Viele Leitlinien zum Umgang mit einem möglichen Gewalthintergrund und mit Betroffenen sowie mehrere empirische Studien (z.B. Zachary u.a. 2001, Romito/Garin 2002) befürworten ein routinemäßiges Ansprechen von Gewalt durch Professionelle. Betroffenen kann so die Möglichkeit gegeben werden, über Gewalterfahrungen zu sprechen, und Behandelnde können weiterführende Unterstützungsmaßnahmen aufzeigen und vermitteln. Jedoch zeigen diverse Studien, dass es vielfältige Barrieren gibt und eine Sensibilisierung gegenüber der Problematik oft fehlt (Rönnberg/Hammarström 2000). Bislang wurde noch nicht untersucht, inwiefern Leitlinien zum Umgang mit gewaltbetroffenen Frauen und Mädchen eine wirkliche Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung gewährleisten können. In Deutschland ist eine Öffnung und Sensibilisierung des Gesundheitswesens für den Problembereich der alltäglichen Gewalt zu erkennen. Kooperationsmodelle zwischen spezifischen qualifizierten Einrichtungen und dem breiteren Versorgungssystem werden in Anlehnung an die Erfahrungen mit „Runden Tischen“ und Interventionsprojekten zu häuslicher Gewalt begonnen; die Ergebnisse der Evaluation der schon länger erprobten Kooperationsmodelle könnten für die Klärung der Übertragbarkeit auf das Gesundheitswesen herangezogen werden.
Europäische Vernetzung als Chance Eine integrierte Perspektive ist keineswegs einfach herzustellen. Engagierte Projekte, Vereine und soziale Bewegungen gewinnen meist ihre Kraft und ihre Dauer aus der Konzentration auf ein als besonders veränderungsbedürftig empfundenes Problemfeld; sie grenzen sich von Institutionen und
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Gruppen ab, die „ihr“ Problem zu wenig beachtet oder mit Unkenntnis und ohne Verständnis behandelt haben. Dadurch entstehen Misstrauen, Konkurrenz um öffentliche Anerkennung und Ressourcen und politisch-ideologische Grabenkämpfe. Diese greifen auf die Forschung über, die ihre eigene Logik der Profilierung auf Kosten anderer Sichtweisen kennt. Gerade bei emotional hoch aufgeladenen Themen wie Gewalt und Menschenrechtsverletzungen ist es kaum leistbar, sich gleichermaßen auf alle Formen der Betroffenheit einzulassen, die Identifizierung mit der besonders fokussierten Gruppe – ob Opfer oder als hilfsbedürftig angesehene Täter – rückt in den Vordergrund. Ein fruchtbarer Dialog mit denen, die einen anderen Fokus gelegt haben, kann leicht scheitern. Hier bietet die europäische Ebene eine besondere Chance: umfasst sie doch zugleich eine riesige Bandbreite von Sprachen, Begriffstraditionen, institutionellen Rahmenbedingungen auf der einen Seite und eine dichte soziale, wirtschaftliche, rechtliche und ethisch-normative Verflechtung auf der anderen. In Forschung und praktischer Intervention befinden sich die Beteiligten im transnationalen Rahmen nicht mehr im unmittelbaren Wettkampf um Ressourcen und Geltungsansprüche, der innerhalb eines jeden Landes eine multiperspektivische Betrachtung erschwert. In multinationaler und multidisziplinärer Zusammenarbeit können theoretische und empirische Grundlagen für Politik und Praxis allmählich zu einer gemeinsamen Grundlage verwoben und bisher parallel verlaufende Forschungsdiskurse integriert werden. Eine transnationale Forschungsgrundlage erlaubt es, den Fragen nachzugehen, wann Interventionen und politische Maßnahmen Wirkung zeigen, und welche Kontextvariablen bei einer Übertragung ausländischer Modelle zu berücksichtigen sind. Weiter reichen die „großen“ Querschnittsfragen, die auf Erkenntnisse über protektive Faktoren und Bedingungen gerichtet sind. Wenn wir einen Prozess in Gang setzen, das Wissen aus vielen Bereichen zusammenzutragen und uns für ungewohnte Fragen zu öffnen, können daraus Impulse erwachsen, eine Gesellschaft zu denken, in der Gewalt zwar noch vorkommen wird, aber nicht mehr sinnhaft als Ressource im Geschlechtverhältnis. Verweise: Gesundheit Gewalt FrauenMenschenrechte Männlichkeitsforschung Praxisforschung, wissenschaftliche Begleitung, Evaluation
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Ilse Hartmann-Tews, Bettina Rulofs
Sport: Analyse der Mikro- und Makrostrukturen sozialer Ungleichheit
Die Sportwissenschaft ist eine multidisziplinäre Wissenschaft und umfasst die Gesamtheit der wissenschaftlichen Erkenntnisse und Methoden, die Phänomene des Sports zum Gegenstand haben. In den 1970er und 1980er Jahren kristallisierten sich im Sport Problemstellungen zur Geschlechterordnung heraus, die einer wissenschaftlichen Bearbeitung bedurften, aber von den bisher vorhandenen Teildisziplinen der Sportwissenschaft nicht behandelt wurden. Sozialwissenschaftliche Ansätze der Frauen- und Geschlechterforschung erhielten damit Einzug in die Sportwissenschaft und sind inzwischen in verschiedenster Weise im Wissenschaftsgebiet institutionalisiert (z.B. Einrichtung eines Lehrstuhls für Frauenforschung an der Deutschen Sporthochschule in Köln, Gründung einer Kommission für Frauenforschung innerhalb der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft) (vgl. Hartmann-Tews 2006). Die Ausdifferenzierung von Bewegung, Spiel und Sport zu einem eigenständigen gesellschaftlichen Teilsystem ist dadurch gekennzeichnet, dass die Inklusion der Bevölkerung nicht neutral gegenüber zentralen sozialstrukturellen Merkmalen wie Klasse, Geschlecht und Alter realisiert worden ist. Angehörige der oberen Klassen hatten vor denjenigen der unteren Klassen Zugang zu Turnen und Sport, Kinder und Jugendliche vor der erwachsenen Bevölkerung, Jungen vor Mädchen und Männer vor Frauen (vgl. Hartmann-Tews 1996: 47ff.). Die funktionalen Bezüge von Turnen und Sport zum Militär bestimmten weitestgehend die Inklusionsformeln und -mechanismen, mit denen Mädchen und Frauen ausgeschlossen wurden. Turnerische und sportliche Aktivitäten von Mädchen und jungen Frauen wurden nur partiell und nur unter strikter Einhaltung von differenten Regelungen – und dies auch nur gegen großen Widerstand – akzeptiert (vgl. Müller-Windisch 1995, Pfister 1993, 2006). Es waren sowohl naturwissenschaftliche Argumente über die unterschiedlichen konstitutionellen Voraussetzungen der beiden Geschlechter als auch die Vorstellung von zwei naturhaft unterschiedlichen Wesen mit polaren Geschlechtscharakteren und grundverschiedenen naturhaften Lebenswegen, mit denen Mädchen und Frauen der Zugang zum Turnen und Sport lange Zeit verwehrt wurde. Nicht selten wird der Sport in diesem Zusammenhang auch als eine machtvolle Reproduktions- und Inszenierungsstätte traditioneller männlicher Geschlechterstereotype beschrieben (vgl. Messner 1985, Connell 1990). Die systematische und wissenschaftliche Beschäftigung mit der sozialen Geschlechterordnung im Sport erfolgte über verschiedene theoretische Linien und bezüglich verschiedener Gegenstandsbereiche, die im Folgenden skizziert werden, um im Anschluss hieran die konstruktivistische Wende der Frauen- und Geschlechterforschung aufzugreifen und ihr analytisches Potenzial sowie die methodologischen Konsequenzen für eine sozialwissenschaftliche Geschlechterforschung im Sport aufzuzeigen (vgl. Hartmann-Tews/Rulofs 1998).
Sport
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Zentrale Fragestellungen und Entwicklungslinien Ziel der ersten Studien zur Frauenforschung im Sport war es, den gesellschaftlichen Kontext der vorwiegend naturwissenschaftlichen Ansätze über die polare Natur und das Wesen der Frauen und Männer, vor deren Hintergrund Mädchen und Frauen der Zugang zum Sport lange Zeit verwehrt wurde, zu verdeutlichen (vgl. Pfister 1993). In dieser ersten Phase galt es, mit einer neuen Geschichtsschreibung Mädchen und Frauen im Sport überhaupt erst einmal sichtbar zu machen. Mit der theoretischen Unterscheidung von sex als dem biologisch verankerten Geschlecht und gender als dem sozialen Geschlecht sowie einem darauf basierenden feministischen Theoriemodell gelang es der sportwissenschaftlichen Frauenforschung in dieser Phase, das einseitig naturwissenschaftliche und Diskriminierungen begünstigende Verständnis von Geschlecht im Sport weitestgehend zu überwinden. Argumente der biologischen Untauglichkeit oder Anderswertigkeit der Frau, die die Exklusion der Frauen aus dem Sport begründen, halten sich jedoch bis heute erstaunlich beharrlich im Alltagswissen der Akteure des Sportsystems. Bei der Analyse sozialer Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern konzentrieren sich die Beiträge der Frauenforschung im Sport in den 1970er und frühen 1980er Jahren schwerpunktmäßig auf sozialisatorische und sozialstrukturelle Defizite in der Lebenswirklichkeit von Mädchen und Frauen. So sind in dieser Zeit einige Untersuchungen entstanden, die aufzeigen, dass Mädchen aufgrund von Geschlechterstereotypen und geschlechtsspezifischen Rollenerwartungen benachteiligende Erziehungspraktiken und Sozialisationsbedingungen auch im Bereich von Sport und Bewegung erfahren (vgl. z.B. Kröner 1976, Pfister 1983). Sportliche Aktivitäten, die verbunden sind mit Raumnahme, selbstbestimmtem Tun, Anstrengung, Kraft, Wettkampf und Konkurrenz, stimmen vielfach nicht mit den an Mädchen und Frauen gerichteten sozialen Erwartungen überein. Mädchen und Jungen erhalten deshalb unterschiedliche Gelegenheitsstrukturen, ihre motorischen Fähigkeiten zu entwickeln. Deutlich wird mit den Arbeiten der Frauenforschung in dieser Zeit, dass die Sportund Bewegungssozialisation von Mädchen und jungen Frauen erhebliche Defizite aufweist (vgl. z.B. Kugelmann 1980, Scheffel 1988). In den 1980er Jahren lässt sich in der Frauenforschung allgemein ein Perspektivwechsel in der Konzeptionalisierung der sozialen Fassung des Geschlechts beobachten. Nicht mehr Defizit und Nachholbedarf stehen im Mittelpunkt, sondern zunehmend die Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Der Differenzansatz ist von der Einsicht getragen, dass die soziale und kulturelle Fassung von Geschlechtlichkeit im Rahmen der patriarchalen Vergesellschaftung unterschiedliche Stile und Orientierungen der Geschlechter hervorgebracht hat. In der sportwissenschaftlichen Frauenforschung entstehen in diesem Zusammenhang vermehrt Arbeiten, die sich qualitativ-rekonstruierend mit den Lebensläufen und Identitätskonzepten von Sportlerinnen beschäftigen. Die breiteste Rezeption haben dabei Untersuchungen erfahren, die sich auf der Basis von Tiefeninterviews und differenzierten Biografieforschungskonzepten mit den Identitätskonstruktionen von Leistungssportlerinnen auseinandersetzen (vgl. z.B. Abraham 1986, Palzkill 1990, Rose 1991). Studien dieser Art haben in der sportwissenschaftlichen Frauenforschung insbesondere auch den Weg für eine fundierte Anwendung qualitativer Forschungsmethoden geöffnet. Angesichts einer Vielzahl von quantitativen Erhebungen zur Sportpartizipation der Bevölkerung liegen mittlerweile auch detaillierte Erkenntnisse zur differentiellen Inklusion der Geschlechter vor. Hieran anschließende Untersuchungen zur Unterrepräsentanz von Mädchen in den Turnund Sportvereinen oder von Frauen in den Führungspositionen des Sports fokussieren die Frage „Warum so wenige?“ und konzentrieren sich in der theoretischen Konzeptionalisierung zumeist auf geschlechtsbezogene Rollenerwartungen, diskriminierende Alltagstheorien über weibliche Interessen und Fähigkeiten und die darauf aufbauenden sozialstrukturellen Arrangements (vgl. z.B. Schenk 1986, Voigt 1986, Kraus 1997, Baur u.a. 2002).
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Konstruktivistische Theorieperspektiven In der sportwissenschaftlichen Frauenforschung steckt die Rezeption und methodologische Umsetzung von sozialkonstruktivistischen Ansätzen der Geschlechterforschung noch in den Anfängen. Empirische Untersuchungen, die Phänomene der Geschlechterordnung im Sport mit konstruktivistischen Theorieansätzen und entsprechendem methodischem Instrumentarium analysieren, bringen erste Einblicke in die Komplexität des Zusammenspiels von Kultur und Gesellschaft, von Handlung und Struktur in den verschiedenen Kontexten von (Leistungs-) Sport, Bewegung und Spiel (vgl. Hartmann-Tews u.a. 2003, Rulofs/Hartmann-Tews 2006, Voss 2003). Der Sport ist ein Sozialsystem, das sich angesichts seiner auf den Körper und die Steigerung körperlicher Leistungen gerichteten Handlungsorientierungen durch eine besondere Indifferenz gegenüber den sozialen Phänomenen der Geschlechterunterscheidung auszeichnet. Die Evidenz der Zweigeschlechtlichkeit, die Tatsache, dass es zwei Geschlechter gibt, die sich nach Anatomie, Physiologie und Leistungsfähigkeit unterscheiden lassen, ist im sportlichen Kontext unmittelbar. Mit jedem körperlichen Auftreten einer Person wird eine Anschaulichkeit der Geschlechterordnung erzeugt, die ungleich realitätsmächtiger ist, als es Diskurse je sein können. Die Körper der Sportlerinnen und Sportler und deren unterschiedliche Leistungsfähigkeiten sind eine visuelle Empirie der – scheinbar – natürlichen Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Allzu leicht wird damit eine natürliche Ordnung zwischen den Geschlechtern als erwiesen angesehen und immer wieder als Referenzpunkt für die Aktualisierung der sozialen Geschlechterdifferenz und der Legitimierung von Exklusion hervorgebracht. Formale Exklusionen sind an der Geschichte der Zulassung von Sportdisziplinen zu den olympischen Spielen ablesbar, die eine differentielle Anerkennung des Leistungssports von Männern und Frauen in der Richtung zeigen, dass die Teilnahme von Frauen in einzelnen Sportdisziplinen vielfach Jahrzehnte und zum Teil erst ein Jahrhundert später als bei den Männern akzeptiert wurde. Darüber hinaus sind einige Disziplinen bei offiziellen Wettkämpfen ausschließlich Frauen, andere ausschließlich Männern vorbehalten: Zum Beispiel sind beim Synchronschwimmen und bei der Rhythmischen Sportgymnastik nur Frauen zugelassen, beim Skispringen und Zehnkampf nur Männer. Die traditionellen Strukturen des Sportsystems, die auf Wettkampf und Leistung orientierten Turn- und Sportvereine, weisen in nahezu allen Sportdisziplinen eine Trennung der Geschlechter auf. Das heißt Jugendliche, Männer und Frauen üben den gleichen Sport aber in getrennten Wettkampfligen aus. Aufschlussreiche Einsichten in die Konstruktion von Geschlecht und Geschlechterverhältnissen lassen sich auch durch die Analyse der Gestaltung des Regelwerks von Sportdisziplinen gewinnen. In einer Vielzahl von Sportdisziplinen sind unterschiedliche ‚geschlechtsbezogene‘ Regelwerke für die Wettkämpfe der Männer und Frauen etabliert. So wurde das amerikanische Baseball durch Regelveränderungen zum Softball für Frauen, so dass Baseball mit seinen traditionellen Regelstrukturen eine klare Männerdomäne bleibt. Ebenso wurde z.B. vom internationalen Eishockeyverband für das Frauen-Eishockey der Bodycheck als regelwidrige Handlung definiert – ganz im Gegensatz zum traditionellen Eishockey, wo dies zu einem ganz zentralen Spielelement avancierte. Diese strukturellen Arrangements katalysieren eine Geschlechtsunterscheidung und den Aufbau von hierarchisierenden Differenzen, indem sie schon für Kinder- und Jugendliche zentrale Elemente ihrer Körper- und Bewegungssozialisation darstellen, die Nachfrage nach eindeutiger Geschlechtszugehörigkeit verschärfen und Gelegenheitsstrukturen für die Inszenierung von Geschlecht bereitstellen. Nimmt man die theoretischen Einsichten in die soziale Konstruktion von Geschlecht ernst, so stellen sich vor allem zwei Herausforderungen. Zum einen müssen Analysen in ihrem Theoriedesign und ihrer methodologischen Anlage offen sein gegenüber Phänomenen der Relevanz und Irrelevanz von Geschlecht bzw. des doing und undoing gender – auch im Sinne eines reflexiven Umgangs mit den Prämissen der Frauen- und Geschlechterforschung. Zum anderen liegt die Herausforderung in der Analyse des Zusammenwirkens von mikrosozialen Mechanismen der Wirklich-
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keitskonstruktion und makrosozialen (Ungleichheits-)Strukturen des Sports (vgl. u.a. Knapp 1992, Hagemann-White 1995, Hirschauer 1994, 2001). Eine Vielzahl von Beispielen lässt erkennen, dass die soziale Ordnung der Geschlechter in den mikrosozialen Mechanismen der Praxis des Sports (re-)produziert, zugleich aber auch herausgefordert wird. Dies lässt sich im Kontext der frühkindlichen Bewegungserziehung erkennen, aber auch im koedukativen Sportunterricht und im Kontext des Leistungssports (vgl. Gieß-Stüber/Voss/Petry 2003, Gieß-Stüber 2000, Kleindienst-Cachay/Kunzendorf 2003). In diesen Praxisfeldern des Sporttreibens entstehen auf der einen Seite kontinuierlich Situationen, die durch das Miteinander der Akteure und Akteurinnen traditionelle Geschlechterdifferenzen reproduzieren, z.B. wenn Übungsleiterinnen den Jungen sportliche Leistungen abfordern, den Mädchen gegenüber jedoch geringere Leistungserwartungen haben, wenn Trainer/innen dem weiblichen Nachwuchs ein Engagement in so genannten „Männersportarten“ (z.B. Fußball, Boxen) erschweren oder wenn Schüler/innen ihren Sportlehrerinnen nicht zutrauen, Sportspieltechniken und -strategien zu beherrschen. Auf der anderen Seite bietet die sportliche Praxis auch die Chance, die Geschlechterordnung herauszufordern. Hier zeigt sich jedoch, dass es bis heute vor allem Mädchen und Frauen sind, die die Geschlechterordnung im Sport „auf den Kopf stellen“, indem sie z.B. als Fußballerinnen, Rennfahrerinnen oder Boxerinnen in traditionelle Männerdomänen des Sports eindringen und dort erfolgreich tätig sind (vgl. Kleindienst-Lachay/Heckemeyer 2006). Die Umkehrung der Geschlechterverhältnisse im Sport wurde bisher aus der Richtung der Männer nur selten vorgenommen. So gibt es nur wenige Jungen, die sich z.B. im Schulsport trauen, ihre sportlichen Schwächen und Leistungsgrenzen einzugestehen sowie es nur wenige Lehrer/innen gibt, die dies auch akzeptieren, und genauso sind Männer nur selten in Sportarten aktiv, die traditionelle Weiblichkeitsdomänen darstellen (z.B. Tanzen, Gymnastik). Diese mikrosozialen Prozesse bringen sodann Strukturen hervor, in denen die Praxis der Unterscheidung sichtbar wird, sich bestätigt und in den rekursiven Prozess der Vergesellschaftung eingeht. Hierzu gehört die formalisierte Trennung der Geschlechter in den Sportdisziplinen und Regelwerken, die geschlechtsbezogen vertikal und horizontal differenzierte Mitarbeitsstruktur in den Turn- und Sportvereinen und die mediale Vermittlung von Sport (vgl. HartmannTews/Combrink/Dahmen 2003, Combrink/Dahmen/Hartmann-Tews 2006, Hartmann-Tews/Rulofs 2003, Rulofs 2003). Gerade bei einer Analyse der Medienprodukte, ihrer Herstellungsmodi sowie der Deutungsstrukturen von JournalistInnen zeigt sich sehr deutlich, wie geschlechtsbezogene Strukturen der Informationsselektion und -verarbeitung perpetuiert werden und zu einer Aktualisierung von Geschlechterdifferenzen beitragen. Die Sportmedien sind auf allen journalistischen Ebenen von einer Männerdominanz geprägt: Auf der Inhaltsebene dominiert die Berichterstattung über Sportler (90% aller täglichen Sportnachrichten in Presse und Fernsehen befassen sich mit Männern), auf der Ebene der Medienproduktion agieren vorwiegend Männer (nicht mehr als 8% der im Sportjournalismus Beschäftigten sind Frauen) und auf der Ebene der Medienrezeption interessieren sich deutlich mehr Männer als Frauen für den Sport (vgl. Hartmann-Tews/Rulofs 2002, Rulofs/ Hartmann-Tews 2006). Diese Strukturen führen in der journalistischen Praxis zu einer stereotypisierenden Engführung: Sportjournalisten produzieren ein Medienangebot, das den vermuteten Interessen eines männlichen Publikums gerecht werden soll. Sie informieren deshalb vorwiegend über die so genannten „Männersportarten“ (insbs. Fußball) oder selektieren in der Berichterstattung über Sportlerinnen vorwiegend solche Bilder, die den männlichen Zuschauern gefallen sollen (z.B. erotische Bilder von Sportlerinnen). Auf diese Weise werden geschlechtsbezogene Differenzen durch die Sportmedien aktualisiert. Die Analyse der fortlaufenden wechselseitigen Konstitution von sozialem Handeln und sozialen Strukturen stellt sowohl den Prozesscharakter als auch die Kontextabhängigkeit der Aktualisierung und Neutralisierung von Geschlechterdifferenz in Rechnung. Gerade im Sport, der die körperzentrierte Leistung in den Mittelpunkt seiner Handlungsorientierungen stellt und damit der Vorstellung einer natürlichen Ordnung der Geschlechter Vorschub leistet, ist diese Perspektive vielversprechend für neue Einsichten in die differenzielle Relevanz von Geschlecht als Kategorie sozialer Ordnung.
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Ilse Hartmann-Tews, Bettina Rulofs
Verweise: Doing gender Geschlechterstereotype Konstruktion von Geschlecht Sozialisationstheorien
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D Bildung, Kultur und Kunst Anne Schlüter
Bildung: Hat Bildung ein Geschlecht?
Hat Bildung ein Geschlecht? Bildung wird in der Literatur je nach Kontext als Orientierungs-, Klassifizierungs- oder Reflexionsbegriff gebraucht, um Unterschiede im Zugang, Prozess und Niveau menschlicher Kulturfähigkeit und moralischer Integrität feststellen zu können. Der Begriff grenzt sich deutlich ab gegenüber Lernen, Qualifikation, Kompetenz, Sozialisation, Wissen oder Biografie. Gleichwohl sind auch diese Begriffe notwendig, um Bedingungen und Verhältnisse für Bildungsprozesse zu veranschaulichen. Bildung ist auf Aneignung von Wissen durch Lernen angewiesen. Lebensgeschichtliche Entwicklungen lassen sich als Bildungsprozesse verstehen, wenn sich über Bildung menschliche Handlungsmöglichkeiten erweitern lassen (Kompetenzbiografien). Während Qualifikation aufgrund beruflicher Anforderungen ausgebildet wird, lässt sich Sozialisation in Abhängigkeit von Ethnie, sozialer Herkunftskultur sowie beispielsweise den Interaktionsstrukturen innerhalb von Institutionen begreifen. Geschichtsphilosophisch, bildungstheoretisch und anthropologisch gesehen hebt der Bildungsbegriff auf eine generelle Bildsamkeit des Menschengeschlechts ab. Bilden bedeutet sprachgeschichtlich „einer Sache Gestalt und Wesen geben“. Erst seit dem 18. Jahrhundert wird „Bildung“ mit „Unterweisung“ gleichgesetzt. In dieser Tradition wird Bildung häufig eingeschränkt als Schulbildung bzw. oft sogar mit dem Abitur als allgemeinbildendem Kanon verstanden. Mit solch einer intellektuellen Bildung haben Individuen an Kultur teil. Die Frage, was ein Schüler, eine Schülerin, wissen sollte, wenn er/sie die Schule verlässt, hat die Qualität der Bildung zum Thema aktueller politischer Diskussion und der vergleichenden internationalen Forschung gemacht. In der Erwachsenenbildung wird der Begriff Bildung bezogen auf den modernen Imperativ des lebenslangen Lernens für Prozesse der Aneignung neuen Wissens, neuer Erfahrungen bzw. der biografischen Reflexion bis ins hohe Alter verwandt. Manche Wissenschaftler würden den Begriff Bildung gerne durch „Lernfähigkeit“ ersetzen, denn der Bildungsbegriff, eine deutsche Besonderheit, lässt sich kaum in andere Sprachen übersetzen. In seiner emphatischen Ausprägung meint er Persönlichkeitsbildung nach dem humanistischen Ideal, die in der Auseinandersetzung mit sich und der Welt erworben wird. Das heißt implizit ist die Aneignung von Bildung traditionell inhaltlich konnotiert mit der Entwicklung moralischer Reife und dem Erhalt von menschlicher Würde. Für Frauen war er lange mit dem Begriff der Emanzipation verbunden, denn über Bildung erhofften sich Frauen die Befreiung vor allem aus patriarchalen Verhältnissen und die Ermöglichung einer eigenständigen Lebensgestaltung. Wenn Bildung als sozialwissenschaftlicher Grundbegriff in der Erziehungswissenschaft eingesetzt wird, lässt sich mit ihm danach fragen, inwieweit Bildung (z.B. als soziales Kapital) sozialen Anschluss, soziale Ausgrenzung oder gesellschaftliche Integration ermöglicht. Auf diese Weise kann Bildung in ihrer historischen Ausgestaltung empirisch erforscht werden. Dann kön-
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nen die Fragen lauten: Wie wird Bildung möglich? – Oder: Welche rechtlichen und sozialen Ausgangsbedingungen steuern welche Bildungsprozesse? Welche Bildungseinrichtungen stehen dem weiblichen und männlichen Geschlecht jeweils in der Gesellschaft offen? Welche Geschlechtsstereotype beeinflussen die Bildungs- und Berufslaufbahnen von Frauen und Männern?
Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung Grundlegende Debatten über Geschlechterverhältnisse im gesellschaftlichen Wandel fanden zu Beginn der pädagogischen Frauenforschung in der Geschichtsdidaktik statt. In der Reihe „Frauen in der Geschichte“ – herausgegeben von Annette Kuhn seit 1979 – wurden die ersten Studien publiziert, u.a. die Beiträge zur Bildungsgeschichte im 18. und 19. Jahrhundert mit dem Titel „Wissen heißt leben ...“ (Jacobi-Dittrich/Kleinau 1983). Die zentrale und damals aufregende Frage von Annette Kuhn in ihrem Beitrag „Das Geschlecht – eine historische Kategorie?“ hieß: „Warum konnte, warum musste die Frau als historisches Subjekt aus der neuzeitlichen Geschichte verdrängt und durch die Ideologie des Geschlechtscharakters ersetzt werden?“ (ebd.: 32). Frauenforschung verstand sich entsprechend als Ideologiekritik. Sie trat an, die vergessenen und verschwiegenen Leistungen von Frauen sichtbar zu machen, die Geschichtsschreibung zu korrigieren und die Sicht auf weibliche Lebenszusammenhänge zu erweitern. Katharina Ruf (1998) formulierte daher in ihrer Darstellung „Über erzogene und erziehende Frauen“: „Bildung hat (k)ein Geschlecht“. Das von Elke Kleinau und Claudia Opitz herausgegebene zweibändige Handbuch zur „Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung“ (1996), das im ersten Band die Zeitspanne vom Mittelalter bis zur Aufklärung und im zweiten Band vom Vormärz bis zur Gegenwart umfasst, zeigt den Beitrag von Frauen an der geschichtlichen Entwicklung in vielen Facetten auf. Ihr Anteil an demokratischen Bewegungen lässt sich ebenso nachzeichnen, wie der Kampf der Frauenbewegung als soziale Bewegung um Bildung und politische Rechte, wissenschaftliche und berufliche Bildung, Lehrberufe und um den Zugang von Frauen zu Technik und Naturwissenschaften. Solche Studien verdeutlichen, dass Frauen die Zuschreibung und Zuweisung der dreifachen Bestimmung des Weibes zur „beglückenden Gattin“, „bildenden Mutter“ und „weisen Vorsteherin des inneren Hauswesens“ (Campe 1988) selten aufgrund der sozio-ökonomischen Verhältnisse erfüllen konnten und sie damit allein auch kaum glücklich waren. Die sechsbändige „Einführung in die pädagogische Frauenforschung“ (hg. von Margret Kraul, Juliane Jacobi, Hildegard Macha und Anne Schlüter), deren erste Bände explizit die Entwicklung der „Erziehung und Bildung des weiblichen Geschlechts“ (Kleinau/Mayer 1996) aufzeigt, thematisiert außerdem die psychoanalytische Frauen- und Geschlechterforschung (Winterhager-Schmid 1998), die Frauenforschung in der Sozialpädagogik (Friebertshäuser/Jakob/KleesMöller 1997), innovative Modelle in der Frauenweiterbildung (de Soteleo 2000) und untersucht „Geschlechterperspektiven in der Fachdidaktik“(Hoppe/Kampshoff/Nyssen 2001). Sie wurde 2002 mit einer umfassenden Dokumentation „Aufwachsen in verschiedenen Kulturen“ von Renate Nestvogel über Interkulturelle Bildung, weibliche Sozialisation und Geschlechterverhältnisse abgeschlossen. Dieses Curriculum lässt sich als Bildungskanon der pädagogischen Frauenforschung verstehen, hinter den man in der Sozial- und Erziehungswissenschaft nicht zurückfallen kann. Gleichwohl fällt es der etablierten Wissenschaft schwer, diesen zu rezipieren.
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Anne Schlüter
Was hat Bildung den Frauen gebracht? Neben den historischen Darstellungen, die Ausgrenzungs- und Integrationsprozesse des weiblichen Geschlechts sowie den fehlenden Zugang von Mädchen zum öffentlichen Bildungswesen analysierten, wurde in den 1980er und 1990er Jahren das Geschlechterverhältnis im Bildungswesen auf vielfältige Weise hinterfragt. Denn trotz der steigenden Zahlen der Mädchen bei Abitur und Studium blieben die Fächer- und Studienwahl sowie die beruflichen Möglichkeiten weitgehend traditionell verteilt. Beim Zugang zu gewerblich-technischen Berufen und zu Naturwissenschaft und Technik bestehen Barrieren, die in Forschungs- und Modellprojekten untersucht wurden. Einen großen Raum nahm die Koedukationsdebatte ein, denn die Annahme hieß, dass Mädchen und Jungen trotz formal gleicher Bildung innerhalb der schulischen Institution geschlechtsspezifisch sozialisiert werden und damit die Studienfachwahl geprägt wird. Die Ergebnisse der Koedukationsforschung allerdings verwiesen auf die sozialen Ausgangsbedingungen von Schülerinnen und Schülern: auf ihre sozialen Herkunftskulturen. Töchter aus akademisch gebildeten Elternhäusern studierten eher medizinische, technische und naturwissenschaftliche Fächer als Töchter aus Arbeiterfamilien. Selbst das „katholische Arbeitermädchen vom Lande“ – Maßstab der Bildungsreformpolitik der 1960er und 1970er Jahre – profitierte von der Bildungsexpansion. Die Bildungsherkunft wurde in den 1990er Jahren noch einmal zum Thema wissenschaftlicher Untersuchungen (vgl. Schlüter 1993, 1999a und b), als es um die Diskussion der Individualisierungsthese ging, die behauptet, dass soziale Barrieren aufgrund der Herkunft die Bildungschancen der Individuen kaum noch determinieren. Mädchen und Frauen gehören heute qua Geschlecht nicht mehr zu den Bildungsbenachteiligten. Zählen sie aber zu den neuen sozialen Gruppierungen wie den Kindern der ArbeitsmigrantInnen, dann unterliegen sie den sozialstrukturellen Benachteiligungen, die als bildungsfern oder bildungsarm bezeichnet werden (vgl. Kampshoff/Lumer 2002). Interkulturelle Bildung ist daher ein wichtiges Thema an allen Schulen, einschließlich der Volkshochschulen; letztere bieten auch den (Ehe-)Frauen der Arbeitsmigranten Bildung zur sozialen Integration an. Generell verbreiteten sich seit den 1970er Jahren die bildungspolitischen Überlegungen zur Demokratisierung u.a. in Form spezifischer Bildungsangebote für Frauen in Institutionen der Erwachsenenbildung. Themen der demokratischen Partizipation und gesellschaftlichen Integration wurden durch Frauengesprächskreise, Bildungskurse, Frauenforen, Frauenprogramme, Selbsthilfegruppen, Zielgruppenarbeit und Netzwerkaufbau aufgenommen. Die Aussagen waren beispielsweise: „Frauen lernen ihre Situation verändern. Was kann Bildungsarbeit dazu beitragen?“ (Jurinek-Stinner/Weg 1982). In Abgrenzung zu dem verbreiteten Fortschrittsglauben, Ungleichheitsstrukturen über Bildungsarbeit verändern zu können, stellte Ursula Rabe-Kleberg bereits 1986 die Frage: „Was hat die Bildungsreform den Frauen gebracht?“ Frauen haben im Bildungswesen zwar mit dem männlichen Geschlecht gleichgezogen, doch qualifizierte Stellen erhielten sie deshalb auf dem Arbeitsmarkt nicht selbstverständlich. Bei beruflichen Karrieren stießen sie nach wie vor auf Grenzziehungen, die so genannte gläserne Decke, die ein Weiterkommen verhindert. Auch Qualifizierungsangebote und Umschulungsmaßnahmen zum Wiedereinstieg von Frauen in den Beruf und Weiterbildungsangebote stärkten zwar das Bildungsinteresse von Frauen und ihr Selbstbewusstsein (vgl. Schiersmann 1993), doch ein berufliches Fortkommen war damit selten gegeben. Die Rahmenbedingungen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie stimmten nicht. Das Resümee hieß entsprechend: Frauen haben Wissen, aber keine Macht erlangt. Dies zeigt, dass Bildung allein für strukturelle Veränderungen in der Gesellschaft nicht ausreicht. Die Ausgrenzungen von Frauen aus hierarchisch hohen beruflichen Positionen lässt sich letztendlich nicht über fehlende Bildung bzw. fehlende höhere Bildungsabschlüsse erklären. Schließlich verweisen gerade die Thematisierungen von Erwartungen und Enttäuschungen unter gebildeten Frauen auf Wahrnehmungsmuster, die eher durch stark unterschiedliche soziale Positionen und beruflichen Status erklärbar als durch Weiblichkeitsbilder bedingt sind (vgl. Weber/
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Maurer 2001). Dieses Phänomen macht die schon länger geführten theoretischen Debatten um Differenz und Gleichheit zwischen den Geschlechtern auch zum Thema der Auseinandersetzung zwischen Frauen verschiedener Generationen. Die Debatten um Differenz und Gleichheit, Sex and Gender oder Geschlecht als Konstruktion sowie die Behauptungen, dass Frauen heute gleiche Chancen haben, führte zu den vielfältigen „Lesarten des Geschlechts“ (vgl. Lemmermöhle u.a. 2000). Die nebeneinander bestehenden – häufig ungleichzeitigen – Lesarten haben die Notwendigkeit von Frauenbildung allerdings nicht überflüssig gemacht (ausführlich dazu: Gieseke 2001). Denn während einerseits feministische Bildung – nach langen Kämpfen – institutionalisiert wird (vgl. Friese 2000), haben andererseits anscheinend die Bildungsangebote abgenommen, die sich speziell an Frauen wenden. Frauen nutzen mittlerweile eher Kurse und Seminare, die in den Ankündigungen keine Aussage zum Geschlecht machen. Ihr Bildungsbedarf für Kreativitäts- und Biografie-Themen, wie z.B. Gesundheit, ist jedoch ungebrochen (vgl. Hess 2002).
Ausblick auf bildende Generationenbeziehungen Bildungsbiografien von Frauen waren mit Beginn der Frauenforschung ein spezifischer methodischer Zugang zu Themen in der von Frauen initiierten Forschung, denn über erzählte Frauenleben wurde nach Erkenntnissen über weibliche Lebenszusammenhänge gesucht (vgl. Klika 2001, Dausien 2001, Schlüter 1993, 1999a und b). Gegenwärtig geht es jedoch nicht allein um biografische Themen wie ein „Leben für andere“ oder um „ungelebtes Leben“ von Frauen, sondern eher um Fragen, wie sich verschiedene Frauengenerationen aufeinander beziehen können. Mutter-Tochter-Beziehungen vor dem Hintergrund der Individualisierungstendenzen oder die Verhältnisse von Frauenbewegungs- und Frauenforschungs-Generationen sind erst in Ansätzen erforscht. Wesentliche Fragen sind immer noch: Was gibt die ältere Frauengeneration an die jüngere weiter? Oder: Warum müssen jüngere Frauen sich immer wieder gegen ältere abgrenzen? Auf die Notwendigkeit, sich mit der älteren Frauengeneration auseinanderzusetzen, verweist auch das neue Phänomen, das vor allem bei jungen Frauen zu beobachten ist: Junge Frauen leugnen mehrheitlich die Benachteiligungen aufgrund des Geschlechts. Dies kann natürlich heißen, dass junge Frauen bislang selbst keine Diskriminierungen und Gewalterfahrungen gemacht haben oder aber solche Erfahrungen nicht als geschlechtsspezifisch interpretieren. Möglicherweise resultiert ein Leugnen von Benachteiligungen aber auch aus der Angst heraus, keine soziale Anerkennung zu finden. Junge Frauen wollen sich gegenüber der älteren Generation von Frauen absetzen, die sich über Diskriminierungen in der Arbeitswelt, über Missachtung ihrer Kompetenzen, über den Missbrauch ihrer Körper und Ausschluss aus den Netzwerken beklagt haben. Die neueren Debatten setzen bei der „Entkörperung“ an. Darin wird der funktionale Einsatz der weiblichen Körper nach den Gesetzen der Medien und des Marktes kritisiert. Die aktuelle Anforderung – z.B. nach Simone Hess – meint, die eigene Weiblichkeit selbstreflexiv in Auseinandersetzung mit anderen Weiblichkeiten (immer wieder neu) zu bestimmen (vgl. Hess 2002: 110). Diese Aufforderung entspricht einerseits neueren Überlegungen, in der Frauenbildungsarbeit das Thema „Körper“ wieder wichtiger zu nehmen, und andererseits der Idee, körperliche Chiffren als Ergebnis von Bildungsprozessen für Forschungen zu konzeptualisieren. Schließlich ist für eine Selbstbestimmung von Frauen und für eine „biographische Selbstaufklärung“ (Gieseke 2001) nicht allein die Bildung als intellektuelle, sondern auch als körperliche Ausdrucksweise eine wesentliche Basis. Diese müssten für einen bildungstheoretischen Entwurf oder für ein Forschungsdesign selbstverständlich sein. Verweise: Biografieforschung Junge Frauen Oral history und Erinnerungsarbeit Schule
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Maria Anna Kreienbaum
Schule: Zur reflexiven Koedukation
Das System Schule hat in der Auseinandersetzung mit den Geschlechterfragen viele und nachhaltige Verbesserungen erfahren. Die Standards haben sich verändert: Es ist heute weder ehrenrührig noch lächerlich, ein besonderes Augenmerk auf Mädchen und Jungen im Schulalltag zu richten. Diese Veränderungen haben eine ganze Reihe von Ursachen: Die Frauenbewegung – und hier besonders die „Frauen und Schule-Bewegung“, die in regelmäßigen landes- und bundesweiten Tagungen Hunderte von schulinteressierten Frauen mobilisierte – war offenbar so breitenwirksam und erfolgreich, dass sich das gesellschaftliche Bewusstsein verändert hat. Auch die Rechtsprechung hat Weichen gestellt. Wie es Mädchen und Jungen im Schulsystem geht, welche Chancen sich ihnen bieten, das hat mit dem zu tun, wie „die Gesellschaft“ über Frauen und Männer denkt, und dieses Denken bleibt nicht gleich. Die wichtigsten Strömungen werden in diesem Handbuch ausgiebig vorgestellt, deshalb hier nur eine knappe Skizzierung: Ausgangspunkt ist der Defizitansatz, der in seiner krassesten Form Frauen die Bildbarkeit absprach und aufgrund dessen bis vor rund hundert Jahren Frauen von höherer Bildung weitgehend ausgeschlossen blieben. Der Differenzansatz überwindet die Statuszuweisungen und betont die Gleichwertigkeit in der Verschiedenheit. Um das Geschlechterverhältnis aufzuklären, wurde begrifflich unterschieden, sex für das unveränderliche biologische und gender für das erworbene soziale Geschlecht. Der sog. De- oder Rekonstruktionsansatz entlarvt die Unterschiede zwischen Männern und Frauen als hergestellt. Seine Kernaussage lautet, dass alle, die an Wahrnehmungs- und Kommunikationsprozessen beteiligt sind, als Akteure und Akteurinnen im Geschlechterverhältnis auftreten. Wir deuten und konstruieren die Welt zweigeschlechtlich, stellen Ordnungen her mit kulturellen und symbolischen Unterschieden, über die wir eine Ungleichheit der Geschlechter herstellen. Mit „doing gender“ wird dieser Prozess bezeichnet (vgl. Hagemann-White 1984 und 1993). Diese Erkenntnis hat Konsequenzen: Was man selbst herstellt, kann man auch verändern. Man kann die Brille absetzen und genauer hinsehen lernen: Gibt es (wirklich) Eigenschaften, die bei einem Geschlecht immer, zumeist, öfter vorkommen? Funktioniert das Lernen nach bestimmten Mustern jeweils beim einen oder anderen Geschlecht?
Die Koedukationsdebatte In der Erziehungswissenschaft spiegeln sich die Auseinandersetzungen zur Geschlechterthematik u.a. in der Koedukationsdebatte. Sie fand Widerhall in der Fachwissenschaft wie in der Öffentlichkeit. In den letzten 25 Jahren haben namhafte pädagogische Fachzeitschriften und Periodika ihr Themen- oder Sonderhefte gewidmet. Zahlreiche Bildungsorganisationen richteten Kongresse, Symposien und Fachtagungen zu Koedukationsfragen aus. Die Debatte um die Chancengerechtigkeit für Mädchen und Jungen, Frauen und Männer entzündete sich an fortwährender Ungleichbehandlung im Bildungswesen. In einem frühen bilan-
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zierenden Beitrag zur Koedukationsforschung haben Kauermann-Walter u.a. (1988) Phänomene ausgemacht, an denen sich Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen ablesen lassen: Fachwahlen im Wahl-Pflicht-Bereich der Sekundarstufe I und der gymnasialen Oberstufe, Einmündungen in den Beruf und die Interaktionsstrukturen im Klassenzimmer ließen eine deutliche Benachteiligung der Mädchen erkennen (Metz-Göckel/Nyssen 1990). Zudem manifestierte sich die Geschlechterhierarchie in der Dominanz der Männer in Funktionsstellen.
Phasen der Koedukationsdebatte Der Umgang mit der Koedukation und die Einstellung hierzu veränderten sich im Laufe der Jahre merklich. Vier Hauptphasen lassen sich unterscheiden. Die Einführung der gemeinsamen Erziehung von Jungen und Mädchen in Zeiten von Bildungsexpansion und Aufbruch Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre lässt sich als Phase der Koedukationseuphorie bezeichnen. Die gemeinsame Erziehung wurde als Errungenschaft gefeiert. Einmal durchgesetzt galt sie als längst überfälliges sichtbares Zeichen einer auf Gleichberechtigung ausgerichteten Gesellschaft. Doch die als Überwindung der Geschlechtertrennung gefeierte Reform geriet schon Ende der 1970er/Anfang der 1980er Jahre in die Kritik. Diese richtete sich vornehmlich auf sexistische Schulbücher, patriarchale Strukturen in Kollegien, schlechtere Chancen von Abiturientinnen in Studium und Beruf sowie die eingeschränkte Berufswahl von Haupt- und Realschülerinnen. In dieser Phase der Koedukationskritik wurden Überlegungen in Richtung auf eine Rückkehr zu geschlechtergetrennten Schulen laut und die Wiedereinrichtung von Mädchenschulen (allerdings unter feministischen Vorzeichen) erwogen. Parallel hierzu entwickelten engagierte Lehrerinnen (vereinzelt auch Lehrer) Konzepte zur Mädchenförderung und Unterrichtsformen, die dem Gleichheitsgedanken zur Durchsetzung verhelfen wollten. Insbesondere an Gesamtschulen entstanden vielfältige Angebote für MädchenAGs, Zeitungsprojekte wurden ins Leben gerufen, Mädchenräume und -cafés eingerichtet, Selbstbehauptungskurse und Mädchen-Computer-Angebote realisiert. Viele Initiativen zur Förderung der Technikkompetenz von Mädchen entstanden. Standen zunächst Mädchen im Zentrum der Aufmerksamkeit, so waren es vornehmlich zwei Publikationen, die entscheidend dazu beitrugen, auch die Jungen in den Blick zu nehmen: Die Expertise zur „Jungensozialisation“ (1988) von Enders-Dragässer/Fuchs sowie der Band „Kleine Helden in Not“ (1990) von Schnack/Neutzling. Besonders letzteren ist es zu verdanken, dass seit Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre Jungen in differenzierter Weise wahrgenommen werden. Ihr Verdienst ist es, die frühkindliche wie die schulische Sozialisation mit ihren Prägungen und Einschränkungen sichtbar gemacht zu haben. Dadurch gelten Jungen nicht mehr automatisch als Machos, Gegenspieler der Mädchen oder als Lieblinge der LehrerInnen. Als Faktoren, die zu Unterrichtsstörungen führen, offenbarten sich die potenzielle Brüchigkeit der Lebensentwürfe und der Erwartungsdruck, dem Jungen standhalten sollen. Zunächst waren es sozialpädagogische Einrichtungen die Konzepte zur Jungenförderung entwickelten und erprobten (Glücks et al. 1996). In Schulen setzte sich Schritt für Schritt die Erkenntnis durch, dass es – lapidar formuliert – nicht ausreicht, Mädchen gezielt zu fördern und Jungen derweil mit Fußball oder Videokonsum abzuspeisen. Die Denkschrift der Bildungskommission NRW „Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft“ nahm 1995 den programmatischen Begriff der „Reflexiven Koedukation“ von FaulstichWieland (1991) auf und verhalf ihm damit zum Durchbruch. Er zielt auf eine wichtige Erkenntnis und zentrale Kritik an der schulischen Praxis: Bislang ist Koedukation meist rein organisatorisch umgesetzt worden, ein pädagogisches, didaktisches oder methodisches Konzept war damit nicht oder zu selten verbunden. Ohne diese Rückbezüglichkeit stellen sich bei formaler Gleichheit Ungleichheiten ein, die häufig zur Verstetigung der Geschlechterhierarchie führen. Um die
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gemeinsame Erziehung fruchtbar werden zu lassen, muss man reflektieren, was man tut und im Sinne des Ziels eines gelingenden Miteinanders der Geschlechter nötigenfalls geeignete Maßnahmen ergreifen.
Empirische Koedukationsforschung In den späten siebziger Jahren entstand ein neuer Zweig der Schulforschung, den an Geschlechterfragen interessierte Sozial- und Erziehungswissenschaftlerinnen und Psychologinnen (z.B. Metz-Göckel 1987 und 1996, Hagemann-White 1984) begannen und über den zahlreiche Nachwuchswissenschaftlerinnen für intensive Forschung und Qualifizierung gewonnen wurden. Ausgehend von Sozialisationsstudien (Grabrucker 1985, Belotti 1975, Scheu 1977, Schultz 1978), die den Zusammenhang von Sozialisation und Geschlechterstereotypisierungen beleuchteten, gerieten zunächst Schulbücher und Curricula in den Fokus der Kritik. Rollenbilder und Darstellungen wurden als einseitig entlarvt und Alternativen gefordert und entwickelt (Fichera 1995a und b). Die Interessenentwicklung von Mädchen und Jungen insbesondere im Bereich der Naturwissenschaften wurden untersucht (z.B. Hoffmann/Lehrke 1986, Hannover 1989), diskrete Diskriminierungen und die Dynamiken im Klassenzimmer über Interaktionsstudien und Videoaufzeichnungen entlarvt und u.a. mit der Methode des nachträglichen lauten Denkens (NLD) die Zirkel von Denkknoten und deren Verkettung sichtbar gemacht (Frasch/Wagner 1982, Barz 1984). Forschung über Lehrerinnen und ihre Motivation für Funktionsstellen (Brehmer 1987) etablierten sich, und das berufliche Selbstverständnis von Lehrerinnen und Lehrern war Gegenstand zahlreicher sozial-psychologischer Studien (Flaake 1989 und 1990). Die Forderung, die „Betroffenen“ – also Schülerinnen und Schüler – anzuhören, wurde laut. Über Aufsatzstudien (Horstkemper/Faulstich-Wieland 1995) und schließlich über ethnografische Studien (Orenstein 1996, Thorne 1993, Breidenstein/Kelle 1998) wurde versucht, deren Sichtweisen und Bedürfnisse in die Koedukationsdebatte einzubeziehen.
Lernen und Geschlecht Geschlechterfragen liegen quer zu allen anderen Fragestellungen und durchziehen deshalb jedes Thema. Aus dieser Erkenntnis folgen mehrere Konsequenzen, die bei der Entwicklung zu einer geschlechtergerechten Schule beachtet werden müssen. Das Geschlecht ist nur eine Strukturkategorie – neben regionaler und ethnischer Herkunft, Alter und Schichtzugehörigkeit. Dass Lernen von eben diesen Faktoren beeinflusst wird, hat die PISA-Studie eindrücklich gezeigt. Es reicht also nicht, nur auf das Geschlechterverhältnis zu achten, Selbsttätigkeit und Eigenverantwortung müssen ebenso gefördert werden. Lernen ist ein Prozess, für den der gleiche Grundsatz gilt wie für die Emanzipation oder demokratisches Bewusstsein: Es lässt sich nicht verordnen. Schule und Lehrpersonen können nur erschwerende oder begünstigende Bedingungen bereitstellen und die Prozesse mit Geduld und pädagogischem Fingerspitzengefühl unterstützen. Selbstbewusstsein zu entwickeln, die eigenen Potenziale zu entdecken und auszubauen, sich zu erproben und enge (Geschlechter- oder Schichten-) Grenzen zu überwinden, sind also gemeinsame Ziele einer leistungsfördernden und geschlechtergerechten Schule.
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Einstellungen zum Geschlechterverhältnis Die Koedukationsdebatte brachte eine Veränderung der Einstellung zum Geschlechterverhältnis bei vielen LehrerInnen, wenngleich nicht bei allen. Goffman (1994) hat zwei Arten des Umgangs mit dem Geschlechterverhältnis unterschieden: das Betonen und das Minimieren. Mit Angelika Wetterer lassen sich diese beiden Alternativen erweitern: Außer dem Betonen (bzw. Dramatisieren) und dem Minimieren kann man das Geschlechterverhältnis in seiner Relevanz leugnen oder seine Gesetze aushebeln, indem man sie offensiv wendet (Wetterer 1996: 265).
Die Bedeutsamkeit des Geschlechterverhältnisses leugnen „Ich behandle Mädchen und Jungen gleich“ – behauptet so manche Lehrperson und leugnet damit, dass das Geschlecht im schulischen Kontext überhaupt eine Rolle spielt. Für sie ist es selbstverständlich, dass der eigene Unterricht unter diesem Aspekt nicht zu kritisieren ist. Ob sich dahinter Unbedarftheit, Naivität oder bewusstes Negieren verbirgt, sei dahin gestellt. Die Befunde der Koedukationsforschung zeigen: Gerade dann, wenn man sich keine Gedanken um die Gleichbehandlung von Mädchen und Jungen im Unterricht macht, passiert häufig eine Bevorzugung der Jungen z.B. über Themen und Aufmerksamkeitszuwendung, die aber als solche nicht wahrgenommen wird (Kreienbaum 1995 und 1999).
Dominantes Vorgehen oder bewusstes und unbewusstes Dramatisieren Wie man die Geschlechter begreift, ist von erheblicher pädagogischer Relevanz. Geht man davon aus, Mädchen und Jungen seien grundlegend unterschiedlich, können diese Unterschiede dadurch immer wieder verstetigt werden, dass Mädchen und Jungen als Kollektive angesprochen werden. „Die Jungen sind jetzt mal ruhig!“, „Die Mädchen melden sich immer zu wenig“. Je nach politischer Einstellung oder Klima der Schule erkennen LehrerInnen die Benachteiligungen von Mädchen (oder Jungen) und sprechen sich für eine entsprechend notwendige Bevorzugung aus. In diesem Sinne wurden an zahlreichen Schulen Mädchen- oder Jungenförderprogramme ins Leben gerufen, Benachteiligung zum Thema gemacht und bewusst eingefordert, dass sich Mädchen wie Jungen jeweils als „Betroffene“ zu einer Sache äußern. Diese Art des Umgangs mit dem Geschlechterverhältnis lässt sich als dominantes Vorgehen bezeichnen. Zwar belegt die Forschung eine Benachteiligung von Mädchen (z.B. in technischen Fächern, bei der Benotung in Physik und Chemie, in der Aufmerksamkeitsverteilung, vgl. Kreienbaum/Metz-Göckel 1992), ob eine gezielte punktuelle Bevorzugung allerdings auf Dauer der richtige Ausweg ist, bleibt zu bezweifeln. Auch wenn ein dominantes Vorgehen in bester Absicht geschieht, tritt die gewünschte Wirkung nicht unbedingt ein. Mädchen wie Jungen haben ein Gespür dafür entwickelt, was eine Lehrerln von ihnen erwartet – und verhalten sich entsprechend. „Ich als Junge sehe die Situation folgendermaßen“ mag zu einer Wendung werden, die im Unterricht häufiger anklingt, aber nicht, weil dies einer sensiblen Erkenntnis entspringt, sondern weil der Schüler weiß, dass eine solche Antwort von ihm erwartet wird und sich dies nicht zuletzt bei der Benotung niederschlägt.
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Paradoxe Intervention: Das Geschlechterverhältnis betonen und es gleichzeitig unbedeutsam machen Sinnvoll ist daher ein Ansatz, der es erlaubt, mit dem Geschlechterverhältnis, aber auch mit der Zugehörigkeit zu sozialen Schichten und Ethnien so umzugehen, dass Benachteiligungen vermieden werden. Diskriminierungen – so eine erste These – entstehen durch jede Art von Festlegung eines Menschen auf sein/ihr Geschlecht oder die Herkunft: Auch wenn sie in bester Absicht geschieht und damit eine Kompensation erkannter Benachteiligung erreicht werden soll. Der dritte Weg versucht, mit geeigneten Mitteln das Geschlechterverhältnis weder zu dramatisieren noch zu leugnen, sondern geht von einer potenziell geschlechtergerechten Schule aus: einer Schule, in der Lernen für alle Individuen möglich wird. Hier verknüpfen sich die Erkenntnisse der Koedukationsforschung mit denen der Lehr-Lern-Forschung. Individualität im Lernprozess lässt sich nur durch veränderte Lehr- und Lernformen, durch eine andere Schulorganisation, durch systematische Eröffnung von Erfahrungsräumen und beständige Reflexion und Evaluation erreichen. Eine ungleiche Aufmerksamkeitsverteilung nach Geschlecht kommt vorwiegend in lehrerzentrierten Unterrichtsformen vor. Wird nicht frontal doziert oder fragend-entwickelnd unterrichtet, sondern z.B. Themen einzeln oder in Gruppen bearbeitet, werden eigenverantwortlich Materialien gesammelt, sortiert, strukturiert und zur Präsentation aufbereitet, so steht für Dominanzverhalten keine Bühne bereit, ist es unnötig, Lern- und Kommunikationsprozesse zu verschleppen, damit Wissenslücken nicht auffallen etc. Eine gute Bedingung für soziale Lernziele und Verhaltensänderungen sind stabile Gruppen und klare Regeln, das ist in der aktuellen Unterrichtsforschung Konsens (vgl. u.a. Beck/Scholz 1995, Garlichs 1996). Das gilt erwiesenermaßen auch für das Miteinander der Geschlechter (Thies/Röhner 1999).
Schulprogrammentwicklung Ansätze zur Schulentwicklung haben sich Mitte der 1990er Jahre zu einem Megatrend und Hoffnungsträger entwickelt. Ihr Ziel ist die Bündelung von Kompetenzen und Strategien durch Einsicht. Reflexivität erreicht dadurch eine neue Qualität: Jede einzelne Lehrerin, jeder Lehrer plante bislang mit Blick auf die konkrete Lerngruppe und richtet ihren/seinen Unterricht am Bildungsauftrag und an sinnvollen Lernzielen aus. Im Prozess der Schulentwicklung reflektieren die Mitglieder und Betroffenen einer Organisation die übergeordneten Ziele (Leitbilder) und planen die gemeinsame institutionelle Umsetzung. Maßnahmen, die eine Schulgemeinde verabredet, haben – weil sie auch organisatorische und strukturelle Veränderungen einschließen und über die Klassenebene hinausgehen – eine höhere Chance, erfolgreich umgesetzt zu werden. Die hier umrissenen Ansätze sind solche, bei denen die Geschlechterdebatte die aktuellen Diskurse zu Schulentwicklung, konstruktivistischer Lernforschung und der Weiterentwicklung des Professionsverständnisses mit einschließen.
Erfahrungsräume eröffnen: Die zufällige methodische Trennung Das Konzept der zufälligen methodischen Trennung innerhalb der Koedukation (vgl. „beiträge 43/44“ 1996) berücksichtigt die Tatsache, dass Lernen und Verhalten kontextabhängig sind. Deshalb werden systematisch unterschiedliche Kontexte bereitgehalten und die Erfahrungen jeweils reflektiert. Wenn es stimmt, dass viele Mädchen und auch Jungen im Laufe ihres Schulle-
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bens verstummen, kann dies daran liegen, dass sich innerhalb der Lerngruppe Verhaltensnormen herausgebildet haben, die ein anderes Auftreten erschweren. Durch eine neue Gruppenzusammensetzung können überkommene Interaktionsstrukturen aufgebrochen und Rollen neu verteilt werden. Erst wenn Kontexte gewechselt werden, bemerkt man, welche ungeschriebenen Gesetze gelten und welche Mechanismen jeweils zum Tragen kommen. Das Vorgehen: Ein Unterrichtsfach (oder zwei) von rund zehn, die pro Halbjahr unterrichtet werden, wird in reinen Mädchen- und Jungengruppen erteilt. Welches Fach ausgewählt wird, bestimmen die beteiligten Lehrerinnen und Lehrer. Da nach jedem Halbjahr ein Wechsel erfolgt, kommen fast alle Fächer einmal an die Reihe. Die Entscheidung dafür ist nicht aus fachlichen Gründen zu treffen. Das Ziel unterschiedlicher Lernarrangements ist es vielmehr, sich in verschiedenen Kontexten zu erleben, zu experimentieren und herauszufinden, welche Bedingungen dem Lernen förderlich sind. Dazu ist es wichtig, dass die Erfahrungen in Mädchen- und Jungenkonferenzen, aber auch in Klassenkonferenzen reflektiert werden. Was tut mir gut, was hindert mich beim Lernen? Welche Bedingungen müssen erfüllt sein? So lauten die Leitfragen der Diskussionen. Schülerinnen und Schüler werden darüber zu ExpertInnen für das Lernen. Sie lernen Situationen und Prozesse wahrzunehmen und sich gegenseitig zu spiegeln. Sie handeln aus, welche Standards für den gemeinsamen Unterricht gelten sollen.
Standards für einen guten koedukativen Unterricht: Einbeziehende Erziehung Das Offenhalten von Entwicklungsmöglichkeiten ist Ziel einer „reflexiven Koedukation“. Einerseits ist es wichtig, systematisch das Erfahrungsfeld reiner Mädchen- und Jungengruppen zu eröffnen und dies auch auf der organisatorischen Ebene zu verankern. Andererseits ist es genauso bedeutsam, mit Bedacht und Aufmerksamkeit den gemeinsamen Unterricht zu gestalten. Das Geschlechterverhältnis und eventuelle Diskriminierungserfahrungen zum Thema zu machen, ist nicht unbedingt Erfolg versprechend (Kraul/Horstkemper 1999). Damit werden Unterschiede betont und vielleicht sogar erst hergestellt und die Aufmerksamkeit auf Differenzen gelenkt, statt diese zu überwinden. Exemplarisch für aktivierende Methoden soll hier das Konzept der einbeziehenden Erziehung vorgestellt werden, das den doppelten Anspruch an ein Curriculum erfüllt: Es soll sowohl ein Fenster sein, durch das man in die Welt sieht, wie auch ein Spiegel, der die eigenen Erfahrungen zurückwirft und hilft, sie zu verstehen. Dabei handelt es sich um Erfahrungen, die Mädchen und Jungen als Angehörige einer sozialen Schicht oder aufgrund ihrer ethnischen Herkunft machen. Einbeziehende Erziehung macht das Geschlechterverhältnis nicht zum Thema, sondern versucht, Lernanlässe zu finden, bei denen alle Individuen so eingebunden sind, dass sie ihre Interessen einbringen können und zu neuen Herausforderungen angeregt werden. Themen werden dabei selbstständig erschlossen, Informationen gesucht, strukturiert, aufbereitet und der Klasse präsentiert. Die Empathiefähigkeit wird dadurch gefördert, dass sich z.B. bei der Recherche zu einem Thema Schülerinnen und Schüler jeweils zwei Personen aussuchen, zu deren Lebensweg und Leistungen sie Wissenswertes erarbeiten. Die Aufgabe verlangt von Mädchen wie von Jungen dabei die Beschäftigung mit einer Frau und einem Mann (Themen, die sich zur Bearbeitung anbieten: literarische Figuren, Personen bestimmter zeitgeschichtlicher Epochen, RepräsentantInnen für ein Berufsfeld etc.). Bei der Präsentation in einem ‚dramatischen Monolog‘ versetzen sie sich in ihre ProtagonistInnen und erzählen in der Ich-Form. Zur einbeziehenden Erziehung gehört konstitutiv hinzu, eine Arbeitsatmosphäre zu schaffen, die es den Schülerinnen und Schülern erlaubt, sich auf sensible Operationen wie eine symbolische Überwindung der Geschlechtergrenzen einzulassen.
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Ausblick Wird auf diese Weise das Geschlechterverhältnis offensiv gewendet, wird sich zeigen, ob sich das Geschlecht tatsächlich als lernrelevanter Faktor erweist. Gerade weil Geschlechtergrenzen fließend verlaufen und Grenzüberschreitungen gewünscht sind, fordern sie immer wieder zu einer Neubestimmung heraus. Die Möglichkeiten pädagogischer Schulentwicklung zu nutzen und im Unterricht das Erarbeiten vor das Entwickeln und Dozieren zu stellen, im Rahmen der Gestaltungsautonomie strukturelle Veränderungen zu erproben und so das Geschlechterverhältnis (und nicht das Geschlecht) als Bedingungsfaktor sichtbar und veränderbar zu machen, Kontexte zu variieren und Wahrnehmen und Reflektieren zu lernen, dies zusammen sind die Wege, um Schule und Unterricht nachhaltig zu verändern und zu mehr Chancengerechtigkeit hinzuführen. Verweise: Bildung Doing Gender Jungen Mädchen Sozialisationstheorien
Literatur Barz, Monika 1984: Was Schülerinnen und Schülern während des Unterrichts durch den Kopf geht und wie sich ihr Denken dabei verknotet. In: Wagner, Angelika (Hrsg.): Bewusstseinskonflikte im Schulalltag. Weinheim: Beltz, S. 92-129 Beck, Gertrud/Gerold Scholz 1995: Beobachten im Schulalltag, Weinheim: Beltz Beiträge für eine feministische Theorie und Praxis 1996: „Um Bildung“, Heft 43/44, 1996 Belotti, Elena G. 1975: Was geschieht mit den kleinen Mädchen? München: Frauenoffensive Bildungskommission NRW 1995: Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft. Denkschrift der Kommission. Neuwied: Luchterhand Brehmer, Ilse 1987: Der widersprüchliche Alltag. Probleme von Frauen im Lehrberuf. Berlin: Frauen und Schule Breidenstein, Georg/Helga Kelle 1998: Geschlechteralltag in der Schulklasse. Weinheim: Juventa Enders-Dragässer, Uta/Claudia Fuchs 1988: „Jungensozialisation – eine Expertise“. Darmstadt: EKHN Enders-Dragässer, Uta/Claudia Fuchs 1989: Interaktionen der Geschlechter. Weinheim: Juventa Faulstich-Wieland, Hannelore 1991: Koedukation – enttäuschte Hoffnungen? Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft Faulstich-Wieland, Hannelore/Marianne Horstkemper 1995: „Trennt uns bitte, bitte nicht!“ Koedukation aus Mädchen- und Jungensicht. Opladen: Leske + Budrich Flaake, Karin 1989: Die Angst vor der eigenen Stärke – vom ambivalenten Verhältnis der Lehrerinnen zu Macht und Autorität. In: Kreienbaum, Maria Anna (Hrsg.): FRAUEN BILDEN MACHT. Dortmund: Barbara Weissbach Verlag, S. 121-131 Flaake, Karin 1990: Grenzenlose Wünsche. Beschränkte Möglichkeiten. Lehrerinnen und Entlastungsmöglichkeiten. In: Pädagogik 10/90, 42. Jg. S. 34-37 Garlichs, Ariane 1996 : Alltag im offenen Unterricht, Frankfurt/M.: Grundschulverlag Glücks, Elisabeth/Franz-Gerd Ottemeier-Glücks (Hrsg.) 1996: Geschlechtsbezogene Pädagogik. Münster: Votum-Verlag Frasch, Heidi/Angelika Wagner 1982: „Auf Jungen achtet man einfach mehr ...“ In: Brehmer, Ilse (Hrsg.): Sexismus in der Schule. Weinheim: Beltz, S. 260-278 Fichera, Ulrike 1995a: Die Schulbuchdiskussion in der BRD. Beiträge zur Neugestaltung des Geschlechterverhältnisses: Bestandsaufnahme und Sekundäranalyse. Frankfurt/M.: Peter Lang Fichera, Ulrike 1995b: Warum die feministische Schulbuchdiskussion immer noch ein Politikum ist. In: GEW-Frauen. Koedukation. Texte zur neuen Koedukationsdebatte, Frankfurt/M.: GEW, S. 89-94 Goffman, Irving 1994: Die Interaktionen der Geschlechter. Frankfurt/M.: Campus Grabrucker, Marianne 1985: Typisch Mädchen ... Prägungen in den ersten drei Lebensjahren. Frankfurt/M.: Fischer TB Hagemann-White, Carol 1984: Sozialisation: weiblich – männlich? Opladen: Leske + Budrich
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Hagemann-White, Carol 1983: Die Konstrukteure des Geschlechts auf frischer Tat ertappen? In: Feministische Studien 2/93, S. 68-78 Hannover, Bettina u.a. 1989: Mehr Mädchen in Naturwissenschaft und Technik. Abschlussbericht des gleichnamigen Projekts, gefördert von der Stiftung Jugend forscht. Berlin (Typoskript) Hoffmann, Lore/Manfred Lehrke 1986: Eine Untersuchung zu Schülerinteressen an Physik und Technik. In: Zeitschrift für Pädagogik 32, Nr. 2, S. 189-204 Kauermann-Walter, Jacqueline/Maria Anna Kreienbaum/Sigrid Metz-Göckel 1989: Formale Gleichheit und diskrete Diskriminierung. In: Rolff, Hansgünter u. a. (Hrsg.): Jahrbuch der Schulentwicklung. Band 5. Weinheim: Juventa, S. 155-188 Kraul, Margret/Marianne Horstkemper 1999: Reflexive Koedukation in der Schule. Mainz: v. Hase & Koehler Kreienbaum, Maria Anna (Hrsg.) 1999: Schule lebendig gestalten. Reflexive Koedukation in Theorie und Praxis. Bielefeld: Kleine Kreienbaum, Maria Anna 1995: Erfahrungsfeld Schule. Koedukation als prägendes Erfahrungsfeld. 2. Aufl. Weinheim: Deutscher Studienverlag Kreienbaum, Maria Anna/Sigrid Metz-Göckel 1992: Koedukation und Technikkompetenz von Mädchen. Der heimliche Lehrplan der Geschlechtererziehung und wie man ihn ändert. Weinheim: Juventa Metz-Göckel, Sigrid 1987: Licht und Schatten der Koedukation. Zeitschrift für Pädagogik 33, S. 455-474 Metz-Göckel, Sigrid/Elke Nyssen 1990: Frauen leben Widersprüche. Zwischenbilanz der Frauenforschung. Weinheim: Beltz Metz-Göckel, Sigrid 1996: „als männlich und weiblich erschuf er sie“. Geschlechterdifferenz und Koedukation. In: Horn, Hermann (Hrsg.): Didakalos. Studien zum Lehramt in der Universität, Schule und Religion. Dortmund: Projekt Verlag, S. 95-120 Orenstein, Peggy 1996: Starke Mädchen, brave Mädchen. Frankfurt/M.: Campus Scheu, Ursula 1977: Wir werden nicht als Mädchen geboren, wir werden dazu gemacht. Frankfurt/M.: Fischer TB Schnack, Dieter/Rainer Neutzling 1990: „Kleine Helden in Not“. Jungen auf der Suche nach Männlichkeit. Reinbek: Rowohlt Schultz, Dagmar (Hrsg.) 1978 und 1979: Ein Mädchen ist fast so gut wie ein Junge. Band I und II. Berlin: Frauenselbstverlag Thies, Wiltrud/Charlotte Röhner (Hrsg.) 1999: Lernziel Geschlechterdemokratie. Weinheim: Juventa Thorne, Barrie 1993: Gender Play. Girls and boys in school. New Brunswick: Rutgers University Press Wetterer, Angelika 1996: Die Frauenuniversität als paradoxe Intervention. Theoretische Überlegungen zur Problematik und zu den Chancen der Geschlechter-Separation. In: Metz-Göckel, Sigrid/Angelika Wetterer: Vorausdenken, Querdenken, Nachdenken. Festschrift für Ayla Neusel. Frankfurt/M.: Campus, S. 263-278
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Hochschule und Wissenschaft: Karrierechancen und -hindernisse für Frauen
Im Zentrum der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Themenfeld „Frauen in Hochschule und Wissenschaft“ stehen die Marginalisierung von Wissenschaftlerinnen, ihre Unterrepräsentanz in Leitungspositionen ebenso wie der „male bias“ des Hochschulwesens und Wissenschaftsbetriebs sowie der Inhalte von Wissen. Obgleich der Frauenanteil an AbsolventInnen der Institutionen höherer Bildung kontinuierlich gestiegen ist, zeichnet sich die berufliche Situation von Wissenschaftlerinnen nach wie vor durch vertikal strukturierte Segregation aus. Gleichzeitig hat die geringe Präsenz von Frauen im Wissenschaftsbetrieb Folgen für die Generierung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Unter dieser Perspektive wird „Gender“ zum essentiellen Bestandteil dekonstruktivistischer Analyse sozialer wie kultureller Prozesse und Strukturen einschließlich der Hochschulen, des Wissenschaftsbetriebes und der Wissensgenerierung, wobei deren Wertneutralität und Kontextunabhängigkeit nachhaltig in Frage gestellt werden (vgl. Gruppe Berliner Dozentinnen 1977, Wesely 2000, Schiebinger 2000, Keller/Longino 1996, Harding 1994, Mischau 2005). Die Unterrepräsentanz von Frauen an Hochschulen und in der Wissenschaft ist zu einem beachtlichen Teil historisch bedingt. Universitäten zählen zu den traditionsreichsten Institutionen Europas (vgl. Ellwein 1992). Von ihrem Besuch waren Frauen bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts weitgehend ausgeschlossen (vgl. Costas 1995). Mit dem Aufkommen der zunächst im Bürgertum verankerten Frauenbewegung begann der Kampf der Frauen um uneingeschränkte Teilhabe am öffentlichen Leben, in dessen Folge auch die Zugangsbarrieren zu Bildung und Wissenschaft allmählich abgebaut wurden. In Deutschland wurde Frauen der Zugang zu den Institutionen der höheren Bildung vergleichsweise spät gewährt (z.B. 1900 in Baden und 1908 in Preußen). Erst in der Weimarer Republik wurden Wissenschaftlerinnen – Mathilde Vaerting und Margarete von Wrangell – auf Lehrstühle berufen (vgl. Schlüter 1992, Kleinau 1996). Seit etwa den 1960er Jahren versucht die Politik in Deutschland, den Frauenanteil an den Studierenden zu erhöhen sowie die Hochschule als Arbeitsplatz für Frauen zugänglicher zu machen. Während der Fokus zunächst auf dem Abbau von Zugangsbarrieren, wie etwa der mangelnden gymnasialen Qualifikation von Frauen, lag, wurde in den 1980er Jahren insbesondere auf organisationsinterne Steuerungsinstrumente gesetzt und Frauenfördermaßnahmen und -pläne an Hochschulen implementiert. In den 1990er Jahren wurden Frauenforschung bzw. Gender Studies an ausgewählten Hochschulen institutionalisiert und mittels Förderprogrammen die Netzwerkbildung unter den im Wissenschaftsbetrieb tätigen Frauen unterstützt (vgl. Färber 2000, Mischau u.a. 2000). Ausgehend von Initiativen der EU (vgl. Empfehlung des Rates der Europäischen Union 1999) wird derzeit vor allem der Ansatz des Gender-Mainstreaming mit der Zielsetzung der Geschlechtergerechtigkeit auf den verschiedenen Ebenen des Wissenschaftsbetriebs gefördert (vgl. Kahlert 2003, ETAN 2000, Löther 2005, Schlegel/Burkhardt 2005). Inzwischen liegen eine Reihe von Studien vor, die die Unterrepräsentanz von Frauen insbesondere in Leitungspositionen an Hochschulen und im Wissenschaftsbetrieb für Deutschland und im europäischen Vergleich mittels sekundärstatistischer Analysen unter Beweis stellen (vgl.
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Appelt 2004, Kriszio 2004, Leemann 2002, Lind 2004, 2006; Zimmer/Krimmer/Stallmann 2007, The Helsinki Group on Women and Science 2002, BLK 2002, Blättel-Mink/Mischau 2001, ETAN 2000, Kramer 2000, Mohr 1987). Im Jahr 2001 betrug der Frauenanteil in der deutschen ProfessorInnenschaft 11,2 Prozent, an den C4-Professuren jedoch nur 7,7 Prozent (Statistisches Bundesamt). Im europäischen Vergleich rangiert die Bundesrepublik damit auf einem der unteren Plätze, und es verbleibt noch ein langer Weg, um mit Spitzenreitern wie Finnland (18,4% in 1998) oder Portugal (17% in 1997) mithalten zu können. Insbesondere wenn man die jährliche Zuwachsrate des Frauenanteils an C4-Professuren, die sich in den 1990er Jahren bei 0,5 Prozent einpegelte, berücksichtigt (vgl. ETAN 2000: 10ff.). Die Repräsentanz von Frauen an Hochschulen und in der Wissenschaft wie auch Fragen der beruflichen Situation, Arbeitszufriedenheit und Karrieremobilität werden sowohl mittels quantitativer wie qualitativer Methodik untersucht, wobei Studien mittels qualitativer Zugänge und kleiner Samples, wie etwa Case Studies, Fokusgruppen und biografische Interviews, häufiger durchgeführt werden (z.B. Macha u.a. 2000, Baus 1994, Geenen 1994, Baume/Felber 1994, Bauer u.a. 1993, Schultz 1991, Duka 1990). Zunehmend findet man auch einen Methodenmix, wobei quantitativ angelegte Studien Basisdaten für weitergehende und eher qualitativ angelegte Forschungsdesigns zur Verfügung stellen (vgl. Holzbecher u.a. 2002, Strehmel 1999, Onnen-Iseman/Oßwald 1991, Krell/Ortlieb/Rainer 2006). Während eine Reihe von empirischen Projekten ausschließlich auf Frauen fokussiert (vgl. Strehmel 1999, Baus 1994, Geenen 1994, Macha/Paetzhold 1992, Wetterer 1989, 1986; Bimmer 1972), nehmen andere eher Geschlechterdifferenzen in den Blick und berücksichtigen dementsprechend auch Männer beim Sampling (vgl. Holzbecher u.a. 2002, Engler 2001, Macha u.a. 2000, Bauer u.a. 1993, Onnen-Iseman/Oßwald 1991, Duka 1990, Schultz 1991, Lind 2002, 2004). Blickt man zurück, so wurde in den 1950er Jahren, als Frauen in der Scientific Community kaum vertreten waren, im Rahmen der allgemeinen Hochschulforschung ihre Unterrepräsentanz in Deutschland zumindest implizit bereits thematisiert. Allerdings zeichneten sich diese frühen und primär von Wissenschaftlern verfassten Studien zum Teil durch eine tendenziöse und vorurteilsbelastete Sicht von den intellektuellen Fähigkeiten von Frauen, ihren Charaktereigenschaften und Motivationen aus (vgl. Plessner 1956, Lorenz 1953, Anger 1960, Vetter 1961). Ab etwa Mitte der 1960er Jahre haben sich verstärkt Wissenschaftlerinnen der Thematik angenommen und hierbei Geschlechterstereotypen und -diskriminierung sowie Fragen von Identität und Selbstperzeption von Wissenschaftlerinnen einerseits und Probleme ihrer Doppelbelastung durch Familie und Beruf andererseits in ihren nachteiligen Folgen für die Karriereentwicklung analysiert (vgl. Sommerkorn 1967, Bimmer 1972). Für die 1980er und 1990er Jahre lässt sich eine Diversifikation der Forschungsinteressen und -ziele sowie methodologischen Zugänge im Hinblick auf das Themenfeld feststellen. Neben Aspekten der beruflichen Karriere im Wissenschaftsbetrieb und den spezifischen Lebensumständen von Wissenschaftlerinnen (vgl. Strehmel 1999, Bauer u.a. 1993, Onnen-Isseman/Oßwald 1991) werden Machtprozesse an Universitäten (vgl. Hasenjürgen 1996, Geenen 1994, allgemein zu Organisationen: Acker 1990, Nienhaus/ Pannatier/Töngi 2005, Scheer/Spilker 2007) sowie Fragen und Probleme der weiblichen Berufssozialisation, Identitätsentwicklung und Konfliktbewältigung untersucht (vgl. Engler 2001, Macha 2000, Baus 1994, Macha/Paetzhold 1992). Inzwischen ist das Themenfeld Hochschule und Wissenschaft ein integrierter Bestandteil der Gender-Forschung, wobei sich eine zunehmende Spezialisierung entweder auf einzelne Themenbereiche, wie etwa die Analyse der Stellung von Wissenschaftlerinnen in außeruniversitären Forschungseinrichtungen (vgl. Wimbauer 1999, Allmendinger 1998), die genderspezifischen Auswirkungen der aktuellen Reformen im Hochschulwesen (vgl. Roloff/Selent 2003, Roloff 1998) oder aber auf spezifische Disziplinen, wie z.B. die Sport-, Natur- und Ingenieurswissenschaften (vgl. Petry 2000, Wiesner 2002), feststellen lässt (vgl. Flaake u.a. 2006, Krell/Ortlieb/Rainer 2006, Leicht-Scholten 2007). Aus methodologischer Sicht wird zur Erklärung der Unterrepräsentanz von Frauen an Hochschulen und im Wissenschaftsbetrieb ein breites Spektrum von Ansätzen herangezogen. Ansätze
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der Gender-Forschung, wie der Gleichheits- und/oder Differenzansatz, sind hier ebenso zu nennen, wie makro-soziologisch orientierte Ansätze, die Bezüge zur Wohlfahrtsstaat-, Arbeitsmarkt- und insbesondere Professionsforschung (vgl. Wetterer 1989, 1995, 1999) aufweisen und thematisieren, warum Frauen generell in der Arbeitswelt untergeordnet und marginalisiert sind, wie auch mikro-soziologisch orientierte Ansätze (vgl. Gisbert 2001), die dem Kontext der Sozialisationsforschung zuzurechnen sind und insbesondere Fragen der Nichtentscheidung für einen bestimmten Berufs- und Karriereweg diskutieren, sowie schließlich Ansätze aus dem Kontext der Organisationssoziologie (vgl. Morley 1999, 2003; Genetti 2006, Wimbauer 1999), die auf organisationsstrukturelle Hindernisse, wie etwa Glass-Ceiling, eingehen und Prozesse von Mikro-Politik thematisieren, in deren Folge Frauen der Einstieg, Verbleib oder Aufstieg in einer Organisation oder in einer Profession erschwert oder sogar unmöglich gemacht wird. Ferner haben insbesondere in Deutschland eine Reihe von Studien in diesem Themenfeld explizit auf die Vereinbarkeitsproblematik von Familie und Beruf Bezug genommen (z.B. Strehmel 1999, Baus 1994, Macha/Paetzhold 1992, Onnen-Iseman/Oßwald 1991, Schultz 1991, Bimmer 1972, Buchmayr/Neissl 2006). Ungeachtet des methodologischen Zugangs steht im Zentrum des forschungsleitenden Interesses jeweils die Identifikation struktureller, informeller und kulturell-bedingter Barrieren und Schwierigkeiten, wie z.T. auch begünstigender Kontextbedingungen in Form etwa der sozialen Herkunft (vgl. Baus 1994), denen Frauen an Hochschulen und in der Wissenschaft gegenüberstehen. Die Mehrheit der Studien kommt zu dem Ergebnis, dass sich Ausschlussmechanismen sowie offene und subtile Diskriminierung von Frauen im Wissenschaftsbetrieb und an Universitäten mit hoher Evidenz nachweisen lassen, die davon betroffenen Wissenschaftlerinnen jedoch häufig davon ausgehen und auch angeben, hiervon entweder persönlich nicht tangiert zu sein oder aber bestehende Schwierigkeiten und Probleme durch individuelle Anpassungsprozesse und effektivere Organisation der persönlichen Lebenssituation zu managen und damit überwinden zu können (z.B. Schultz 1991, Wetterer 1986). Insofern werden strukturelle Hindernisse und kontextuell bedingte Probleme und Schwierigkeiten von den Wissenschaftlerinnen personalisiert und auf die eigene Person bezogen und damit in individuell zu lösende bzw. zu überwindende Problemlagen umgedeutet. Im europäischen Ausland sowie in den USA durchgeführte Untersuchungen zur beruflichen Situation von Frauen im Wissenschaftsbetrieb und an Universitäten kommen zu ähnlichen Ergebnissen wie deutsche Studien (Übersicht bei Bebbington 2001, Fogelberg u.a. 2000, Sonnert/ Holton 1995, Sonnert 1995). Die berufliche Situation von Frauen einschließlich der von Wissenschaftlerinnen ist europaweit durch horizontale wie vertikale Segregation gekennzeichnet (vgl. Training Paper 01 und 02). Frauen favorisieren ein Studium und damit auch eine spätere Wissenschaftskarriere in den Geisteswissenschaften, der Medizin und den Sozialwissenschaften, während sich vergleichsweise wenige Frauen für die Natur- oder Ingenieurswissenschaften entscheiden (vgl. Wiesner 2002, Flaake u.a. 2006). Frauen sind tendenziell eher bereit als Männer, eine Teilzeitbeschäftigung anzunehmen sowie untergeordnete, dem Charakter einer Hilfstätigkeit entsprechende berufliche Positionen zu akzeptieren. Auch im Wissenschaftsbetrieb sind die Beschäftigungsverhältnisse von Frauen unsicherer und ist ihr Verdienst geringer als der von Männern. Wissenschaftlerinnen sind in den Eliteeinrichtungen des Wissenschaftsbetriebs deutlich unterrepräsentiert, und ihnen gelingt in geringerem Ausmaß als Wissenschaftlern der berufliche Aufstieg in die Spitzenpositionen der universitären Hierarchie. Infolge der tendenziellen Geschlossenheit von Mentoren- und informellen Netzwerken sind Wissenschaftlerinnen in geringerem Umfang in die forschungsorientierte Scientific Community integriert (Nienhaus/Pannatier/Töngi 2005). Insbesondere dieser Ausschlussmechanismus wirkt insofern in hohem Maße karrierebehindernd, als Nachwuchswissenschaftlerinnen in geringerem Umfang als ihre männlichen Kollegen in Kontexte der Spitzenforschung eingebunden sind, sondern stattdessen in lehrintensiven Beschäftigungsverhältnissen arbeiten, so dass sie die für weitere Karriere- und Statuspassagen notwendigen wissenschaftlichen Leistungen in geringerem Umfang erarbeiten kön-
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nen. Während Wissenschaftler in der Regel in familiären Strukturen leben, sind Wissenschaftlerinnen häufiger alleinstehend und nicht selten kinderlos (vgl. Training Paper 03). Weltweit erhalten Wissenschaflerinnen geringere Anerkennung für ihre Leistungen, so dass von ihnen tendenziell ein höheres Leistungsniveau als von ihren männlichen Kollegen erwartet wird. Dies hat nicht zuletzt die Untersuchung von Wenneras und Wold (2000) gezeigt, die einen deutlichen Genderbias zu Ungunsten der Wissenschaftlerinnen auch bei der Beurteilung von Forschungsanträgen und wissenschaftlichen Aufsätzen nachwies und insofern die Genderneutralität von Peer-Reviews nachhaltig in Frage stellte. Zwar lässt sich hinsichtlich der Kernaussagen der landesspezifischen Studien eine weitgehende Übereinstimmung der Ergebnisse feststellen, allerdings bestehen erhebliche Divergenzen in Einzelaspekten. Beispielsweise lässt sich festhalten, dass der Anteil von Wissenschaftlerinnen an der Professorenschaft in Ländern mit sog. Tenure Track Berufungsverfahren vergleichsweise günstiger ausfällt als in Ländern, die den Wechsel der Universität zur Erlangung einer Professur notwendigerweise voraussetzen (vgl. ETAN 2000). Je nach landestypischem Universitätssystem, Karrieremuster und Berufsverlauf bestehen auch deutliche Unterschiede hinsichtlich der horizontalen wie auch vertikalen Segregation (vgl. Stiver Lie/O´Leary 1990, ETAN 2000, The Helsinki Group on Women and Science 2002, Siemienska/Zimmer 2007, Zimmer/Kimmer/Stallmann 2007). Beispielsweise bildete im deutschen System das „Nadelöhr“ einer Universitätskarriere bislang die Anstellung als HochschulassistentIn (C1), während es im Hochschulwesen Großbritanniens insbesondere darauf ankommt, an welcher Universität der PhD als zentrale wissenschaftliche Qualifikation erworben wird. Die Unterschiede lassen sich vor allem daraus erklären, dass die Universitätssysteme ihre heutige Prägung in der Hochphase der Nationalstaatlichkeit im 19. Jahrhundert erworben haben und insofern in ihrer Unterschiedlichkeit zum einen die jeweiligen Wissenschaftskulturen wie auch die Modi der Elitenrekrutierung der betreffenden Länder widerspiegeln. Vor dem Hintergrund von Globalisierung und insbesondere Europäisierung wird aktuell diskutiert, inwiefern sich die landesspezifischen Unterschiede abschleifen und es zu einer Konvergenz und damit zur Entstehung eines, wenn nicht internationalen so doch zumindest einheitlichen europäischen Arbeitsmarktes des Wissenschaftsbetriebs und der Universitäten kommen wird (vgl. Enders 2001). Ob diese Entwicklung sich zugunsten oder eher zum Nachteil von Wissenschaftlerinnen auswirken wird, lässt sich derzeit ebenso wenig absehen, wie die Folgen des zunehmenden Trends der Privatisierung und damit zum Teil auch Kommerzialisierung des Wissenschaftsbetriebs und der Hochschulen. Erste Ergebnisse aus Großbritannien, das seine Universitäten frühzeitig auf dem neuen globalen Bildungsmarkt positioniert hat, deuten eher darauf hin, dass die zunehmende Kommerzialisierung die vertikale Segregation an Hochschulen insofern eher noch verschärfen wird, als Wissenschaftlerinnen nicht selten auf Zeitverträgen vorrangig im Lehrbetrieb beschäftigt sind und damit von weiteren Statuspassagen, die vorrangig Forschungsengagement erfordern, strukturell ausgeschlossen werden (vgl. Morley 1999, 2003). Wie die derzeit sich vollziehenden tiefgreifenden Veränderungen der Universitätssysteme in Europa auf den Arbeitsmarkt Wissenschaftsbetrieb (vgl. Altbach 1996), auf das akademische Personal und insbesondere auf Wissenschaftlerinnen auswirken werden, ist jedoch sehr schwer einzuschätzen, und zwar weil sich der Wissenschaftsbetrieb einer stringenten komparativen Betrachtung bislang weitgehend entzieht. Die Gründe hierfür sind zum einen in der schon genannten Diversität der Universitätssysteme und den damit einhergehenden sehr unterschiedlichen Karrierewegen an Hochschulen und Forschungseinrichtungen in Europa zu sehen. Wie unterschiedlich die Berufswege an europäischen Universitäten gestaltet sind, lässt sich nicht zuletzt daran erkennen, dass es keine allgemein anerkannte Berufsbezeichnung für die Tätigkeit als HochschullehrerIn bzw. als ProfessorIn in Europa gibt. Die sekundärstatistisch ermittelten Angaben und Überblicke zum wissenschaftlichen Personal in Europa sind daher zumindest im Detail insofern mit Vorsicht zu interpretieren, als sowohl die OECD wie auch die Europäische Union keine Primärerhebungen durchführen, sondern ausschließlich auf das Datenmaterial der
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Nationalstaaten rekurrieren, diese aber ihr Datenmaterial auf sehr unterschiedliche Art und Weise generieren und dabei auch keine international anerkannten und damit stringent vergleichbaren Kategorien insbesondere in Bezug auf das wissenschaftliche Personal verwenden, sondern hier jeweils den historisch geprägten nationalstaatlichen Gepflogenheiten folgen (vgl. zur Validität der Daten: Training Paper 02). Insofern besteht in diesem Themenfeld sowohl Bedarf an weiterer Forschung als auch an Aufmerksamkeit vonseiten der Politik. Forschungsvorhaben sollten daher sowohl der Komplexität des Themenfeldes gerecht werden als auch zumindest in Ansätzen versuchen, die Suche seitens der Politik nach Lösungsstrategien zur Reduzierung und in der Zielperspektive Beseitigung von Benachteiligung nachhaltig zu unterstützen. Verweise: Bildung Eliten Institutionalisierung der Frauen-/Geschlechterforschung
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Birgit Heller
Religionen: Geschlecht und Religion – Revision des homo religiosus
Die Kategorie Geschlecht in der Religionswissenschaft Die Einführung der Kategorie Geschlecht markiert einen bedeutungsvollen Wendepunkt im zeitgenössischen Studium der Religionen (vgl. King 1990). Religion und Geschlecht hängen in mehrfacher Weise zusammen. Zum einen sind die religiösen Traditionen, Begriffe, Anschauungen, Symbole und Rituale geschlechtsspezifisch geprägt. Weiter stehen die Geschlechterrollen, die Bilder, Stereotype, Ideale und das Selbstverständnis von Frauen und Männern im Rahmen einer bestimmten Kultur in der ständigen Wechselwirkung mit dem jeweiligen religiös-philosophischen Erbe. Darüber hinaus ist die herkömmliche Erforschung und Darstellung von Religionen selbst überwiegend durch eine androzentrische Perspektive gekennzeichnet. Die wenigen Studien, die sich mit dem Thema Frau auseinandergesetzt haben, behandeln Frauen als externalisierte Forschungsobjekte (so z.B. Heiler 1977). Frauen als religiöse Subjekte kommen nicht zur Sprache und der jeweilige konzeptuelle Rahmen einer religiösen Tradition mit den ihm zu Grunde liegenden geschlechtsspezifischen Vorannahmen wird keiner kritischen Analyse unterzogen.
Kritik des homo religiosus Rita Gross, die als eine Pionierin der religionswissenschaftlichen Frauenforschung bezeichnet werden kann, stellte in den 1970er Jahren das Paradigma der bisherigen Forschung in Frage (vgl. Gross 1977). Seither ist in vielen Studien der vielfach unbewusste Androzentrismus der religiösen Traditionen sowie deren wissenschaftlicher Erforschung aufgedeckt worden (Forschungsüberblicke bei: O’Connor 1989, Buchanan 21993, Gross 1994 und King 1995). Der so genannte homo religiosus hat sich in vielen Fällen als vir religiosus entpuppt. Um die Asymmetrie in der Darstellung und im Wissen zu beseitigen, hat sich die Forschungsarbeit daher bislang weitgehend auf die femina religiosa konzentriert. Prinzipiell bilden aber beide Geschlechter und ihr Verhältnis zueinander den Fragehorizont vieler Untersuchungen. Zum Thema „Mann“ liegen allerdings erst wenige explizite religionswissenschaftliche Studien auf der Basis der Frauen- und Geschlechterforschung vor (vgl. Heller 2002).
Paradigmenwechsel? Perspektiven und Einsichten der kritisch-feministischen Theorie wie die Natur-Kultur-Debatte, die geschlechtsspezifische Sozialisation, die „Care“-Ethik, die Postulate von Gleichheit oder Differenz und Fragen des Postmodernismus haben in die Vielfalt der religionswissenschaftlichen Frauen- und Geschlechterforschung Eingang gefunden. Da die unbewussten androzentrischen Vorannahmen, die der wissenschaftlichen Erforschung von Religionen zu Grunde liegen, zu unvollständigen und verzerrten Ergebnissen geführt haben, ist ein fundamentaler Paradigmenwechsel
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erforderlich, der der Kategorie Geschlecht einen selbstverständlichen Platz in der Sammlung, Beschreibung, Analyse und Interpretation religionswissenschaftlicher Daten einräumt. Die Perspektive der Frauen- und Geschlechterforschung ist mittlerweile als Ergänzung innerhalb der religionswissenschaftlichen Forschung akzeptiert. Tatsächlich kommt den spezialisierten Studien, die großteils von Frauen über Frauen durchgeführt und überwiegend von Frauen rezipiert werden, eine Randexistenz zu. Eine tiefgreifende Veränderung im Sinn eines grundlegenden Paradigmenwechsels, der die Kategorie Geschlecht in den gesamten Forschungszusammenhang integriert, ist (noch) nicht in Sicht. Dass die nötige Revision der methodologischen Basis religionswissenschaftlicher Forschung (vgl. Pahnke 1993) dazu führen wird die dominante Wissenskonstruktion zu ersetzen, wird zur Zeit pessimistisch beurteilt (vgl. Warne 2001). Auch wenn das Ausmaß der begonnenen Transformation strittig ist, so gibt es doch Anhaltspunkte für einen Fortschritt. Am Vergleich der von Mircea Eliade herausgegebenen Encyclopedia of Religion aus dem Jahr 1987 (unveränderte Auflage 1993) und der neuen Auflage dieses Referenzwerks im Jahr 2005 ist die Entwicklung gut ablesbar. Während die Encyclopedia 1987 nur einen kurzen Artikel über „Women’s Studies“ (Constance Buchanan) aufweist, enthält die neue Encyclopedia einen Eintrag zu „Gender and Religion“ mit vielen Einzelbeiträgen im Gesamtumfang von 125 Seiten. Auch wenn die Verankerung der Geschlechter-Perspektive im Mainstream der Religionsforschung noch zu wünschen übrig lässt, so drängt sie sich doch unaufhaltsam in den Vordergrund.
Patriarchale Religionen: ein gemeinsames Merkmal der Weltreligionen Die großen Weltreligionen der Gegenwart sind im Kontext patriarchal organisierter Gesellschaften entstanden und haben im Lauf ihrer Geschichte mehr oder weniger die männlich dominierte Sozialstruktur legitimiert. Deshalb werden sie als patriarchale Religionen bezeichnet. Die Religionswissenschaftlerin Katherine Young (1987: 16ff.) hat die Weltreligionen in eine Skala mit den Polen männliche Dominanz und weibliche Macht eingeteilt. Die ursprünglich ethnischen Religionen Hinduismus, Konfuzianismus und Judentum fasst sie als Gruppe zusammen, die die männliche Dominanz außerhalb des Hauses anerkennen. Die religiöse Bedeutung der Frau basiert auf ihrer Rolle als Mutter (von Söhnen). Durch die religiös legitimierte Kontrolle der Frau (z.B. hoher Wert der Jungfräulichkeit, Todesstrafe für die Ehebrecherin) in jeder Lebensphase durch Vater, Ehemann und Sohn oder Bruder wird die Reinheit der Abstammungslinie gewährleistet. Islam, Christentum und Buddhismus weisen nach Young als universale Religionen Ähnlichkeiten auf. Universale Religionen betonen die soteriologische Gleichheit und die persönliche Erfahrung. Frauen waren aktiv in der Entstehungsphase und konnten verschiedene religiöse Funktionen einnehmen. Im Lauf der Geschichte wurde jedoch die hierarchische Geschlechterbeziehung oder sogar die Minderwertigkeit von Frauen gegenüber Männern immer wieder religiös untermauert. Protestantisches Christentum und Theravda-Buddhismus nehmen nach Young die Mittelposition in der Skala ein. Obwohl die Hauptrichtungen des Protestantismus von männlicher Dominanz charakterisiert sind, gibt es in protestantischen Denominationen viele Beispiele von Frauen in Leitungsrollen. Im Theravda-Buddhismus, der durch geschlechtsegalitäre Lehren gekennzeichnet ist, spiegelt die Struktur der religiösen Organisation von Anfang an die soziale Nachrangigkeit von Frauen. Da darüber hinaus die Sukzessionslinie der Nonnenorden mit dem Niedergang des Buddhismus in Indien abgerissen ist, akzeptieren die männlichen Autoritäten des Theravda-Buddhismus bis heute die vollgültige Ordination buddhistischer Nonnen nicht. Tantrismus (im Kontext des Hinduismus oder Buddhismus) und Taoismus sind sich ähnlich hinsichtlich der Bedeutung weiblicher Symbolik und darin, dass sie Frauen Rollen religiöser
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Autorität zuerkennen. Deshalb werden diese Traditionen von Young am nächsten an den Pol weibliche Macht herangerückt. Dabei erscheint die Frage der Instrumentalisierung von Frauen für die männliche Befreiung im Tantra allerdings genauso ungelöst wie die mangelhafte soziale Übersetzung der religiösen Geschlechtergleichheit. Weder Tantrismus noch Taoismus sprengen den patriarchalen Rahmen und die reale männliche Dominanz in der Gesellschaft. Diese Klassifikation stellt einen stark vereinfachten Versuch dar, den Status von Frauen in den Weltreligionen zu bestimmen. Es werden grobe Linien sichtbar, die zu ergänzen und zu verfeinern sind. Young bezieht sich auf traditionelle Positionen und berücksichtigt jüngere Entwicklungen und Reformbewegungen nicht, die die männliche Dominanz hinterfragen und danach streben, den Status und die Rollen von Frauen in den Weltreligionen zu verändern.
Forschungskomplexe Status und Rollen von Frauen (und Männern) Der soziale und religiöse Status von Frauen in frühhistorischer Zeit ist umstritten. Viele Quellen lassen aber einen vorsichtigen Rückschluss auf die weite Verbreitung und Bedeutung weiblicher religiöser Symbolik, auf unterschiedliche Formen des Zusammenlebens der Geschlechter und auf die Existenz zentraler weiblicher religiöser Rollen wie Priesterin, Seherin oder Schamanin zu. In zahlreichen ethnischen Religionen nehmen Frauen vielfältige religiöse Rollen und zum Teil hohe Positionen ein. Es finden sich unterschiedliche Formen sozialer, politischer, wirtschaftlicher und religiös-ritueller Macht, die teilweise von matrifokalen Gesellschaftsstrukturen unterstützt werden. In den Religionen des Alten Orients und anderen Religionen der Vergangenheit (wie die griechische, römische, keltische, germanische Religion) konnten Frauen ebenfalls verschiedene religiöse Rollen einnehmen. Sie fungierten beispielsweise als Priesterinnen, Seherinnen, Prophetinnen oder Heilerinnen. Im Gegensatz dazu legitimieren die universal ausgerichteten Religionen der Gegenwart die von männlicher Dominanz und weiblicher Unterordnung geprägten Geschlechterbeziehungen. Die religiösen Rollen von Frauen wurden eingeschränkt und die wichtigen Ämter und Leitungsfunktionen sind den männlichen Anhängern vorbehalten. Häufig dienen die weiblichen biologischen Funktionen der Menstruation und Geburt unter dem Verdikt der Unreinheit als Begründung für den Ausschluss von Frauen von religiösen Rollen und Ämtern. Unter Anknüpfung an geschlechtsegalitäre Elemente der jeweiligen Tradition haben allerdings moderne Reformbewegungen in den jeweiligen Weltreligionen – beeinflusst durch die gesellschaftlich veränderten Geschlechterrollen – mehr oder weniger erfolgreiche Veränderungen im Status von Frauen in Gang gesetzt. Frauen erhalten Zugang zu religiösen Rollen wie Theologin, Lehrerin, Rabbinerin, die mit Autorität und Interpretationskompetenz verbunden sind. In den neuen Religionen und neureligiösen Bewegungen reicht die Bandbreite von der Bestätigung der traditionellen Frauenrollen über die Öffnung von Leitungsrollen für Frauen bis hin zu einer völligen Frauenzentrierung (vgl. dazu Jacob 1991, Palmer 1994).
Frauenbilder (und Männerbilder) Wichtige Einsichten in die symbolische und normative Konstruktion der Geschlechter entstehen aus der Untersuchung der verschiedenen Aspekte von Frauenbildern (und Männerbildern): kulturelle Stereotype, Ideale und daraus abgeleitete Normen (vgl. z.B. Kloppenborg/Hanegraaff 1995). Mann und Frau gelten beispielsweise im Judentum, Christentum und Islam zwar als Ebenbilder bzw. Stellvertreter Gottes, aber der Vorrang und die sexuelle Verfügungsgewalt des Mannes werden
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trotzdem untermauert, beispielsweise durch das Mythologem von der Ersterschaffung des Mannes und das Stereotyp der Verführerin Eva oder der stärkeren weiblichen Triebhaftigkeit. Verbote (besonders drastisch im Hinduismus und im Judentum) oder Einschränkungen für den Erwerb religiösen Wissens werden unter anderem mit der starken Triebhaftigkeit von Frauen begründet (vgl. Heller 1999a). Die Frau gilt in vielen religiösen Traditionen als Verkörperung der Sinnlichkeit und wird besonders in einer asketisch orientierten Spiritualität negativ bewertet. In vielen klassischen Studien gelten der Jäger, Opferpriester, Krieger/Held und Asket als die herausragenden religiösen Männerbilder. Religionswissenschaftliche Männerforschung (beginnend in den 1990er Jahren) hinterfragt diese Bilder und Ideale, die der Natur des Mannes entsprechen sollen, kritisch und geht von sich verändernden Ideologien der Männlichkeit aus (vgl. Boyd u.a. 1996, Boyarin 1997). Die spezielle Thematik der weiblichen religiösen Symbolik hat in jüngster Zeit zunehmende Aufmerksamkeit erhalten. In den letzten Jahren sind viele wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Werke erschienen, die sich mit den mythologischen und theologischen Konstrukten des Weiblichen, näherhin „der Göttin“ befassen. Die Existenz weiblicher Bilder und Verkörperungen des Göttlichen wirft auch die interessante Frage auf, in welcher Beziehung die Göttinnen zu den real lebenden Frauen stehen (vgl. z.B. Atkinson u.a. 1985, King 1997). Vor allem in der populärwissenschaftlichen Literatur wird aus der Tatsache der Göttinnenverehrung häufig die gehobene soziale Stellung von Frauen abgeleitet. Der Zusammenhang zwischen Göttinverehrung und Status von Frauen erweist sich jedoch in den konkreten religiösen Traditionen als vielschichtig und komplex und ist weder linear noch generell zu erfassen.
Frauen als religiöse Subjekte Im Zentrum der religionswissenschaftlichen Frauen- und Geschlechterforschung steht das religiöse Leben und Denken von Frauen (sowie dessen Verhältnis zum religiösen Leben und Denken von Männern). Viele Studien haben sich das Ziel gesetzt, ein Stück weibliche Religionsgeschichte zu entdecken. Die bisher vorliegenden Ergebnisse zeigen, dass es Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen religiösen Erfahrungen und Bedürfnissen gibt (vgl. z.B. Sered 1991, Bynum 1996). Prophetinnen, Priesterinnen, Heilerinnen, Mystikerinnen, Asketinnen, Theologinnen, Predigerinnen, Lehrerinnen oder Heilige bezeugen die religiöse Autonomie von Frauen in allen religiösen Traditionen. Diese Vielfalt der tatsächlich ausgeübten religiösen Funktionen ist zwar häufig auf wenige Ausnahmen beschränkt, macht aber dennoch die Kluft zwischen religiöser Norm und gelebter Realität deutlich. Durch die wenig bekannten Beispiele frauendominierter religiöser Traditionen wird die Sichtweise einer universalen religiösen Marginalisierung von Frauen korrigiert (vgl. Sered 1994). Die traditionell patriarchalen Religionen sind in den letzten Jahrzehnten selbst zum Gegenstand feministischer Reinterpretationen geworden. Innerhalb des Judentums und des Christentums haben sich facettenreiche feministische Theologien entwickelt (vgl. dazu die mittlerweile klassischen Werke von Ruether 1985 und Plaskow 1992). Auch im Islam reflektieren Frauen ihre Rolle, das geschichtliche Erbe und ihr religiöses Selbstverständnis, vgl. z.B. Hassan 1994, Mernissi 1991). Nicht zuletzt durch die wachsende Zahl westlicher Buddhistinnen ist die Rolle von Frauen in den buddhistischen Traditionen zu einem wichtigen Thema geworden. Westliche Frauen revidieren buddhistische Traditionen aus kritisch-feministischer Perspektive (vgl. Gross 1993), aber auch Frauen in den traditionellen buddhistischen Herkunftsländern entwickeln ein neues Selbstbewusstsein (vgl. Tsomo 1991). Im modernen Hinduismus finden sich verschiedene Modelle weiblicher Emanzipation bezogen auf die traditionell für Frauen vorgesehenen Rollen und Normen (vgl. Heller 1999b) und eine kritisch-feministische Auseinandersetzung mit der Tradition (vgl. Gupta 1994).
Religionen
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Verweise: Geschlechterstereotype Kirchen Matriarchat Partriachat
Literatur Atkinson, Clarissa W./Constance W. Buchanan/Margaret R. Miles (Hrsg.) 1985: Immaculate and Powerful. The Female in Sacred Image and Social Reality. Boston: Beacon Press Boyarin, Daniel 1997: Unheroic Conduct. The Rise of Heterosexuality and the Invention of the Jewish Man. Berkely, California: Universtity of California Press Boyd, Stephen B./Merle W. Longwood/Mark W. Muesse (Hrsg.) 1996: Reedeeming Men. Religion and Masculinitiers. Louisville, Ky.: Westminster John Knox Press Buchanan, Constance H. 21993: Women’s Studies in Religion. In: Eliade, Mircea (Hrsg.): The Encyclopedia of Religion 15/16. New York: Macmillan, S. 433-444 Bynum, Caroline Walker 1996: Fragmentierung und Erlösung. Geschlecht und Körper im Glauben des Mittelalters. Frankfurt/M.: Suhrkamp Gross, Rita M. 1977: Androcentrism and Androgyny in the Methodology of History of Religions. In: Dies. (Hrsg.): Beyond Androcentrism. Missoula, Montana: Scholars Press, S. 7-19 Gross, Rita M. 1993: Buddhism after Patriarchy. A Feminist History, Analysis, and Reconstruction of Buddhism. Albany, New York: State University of New York Press Gross, Rita M. 1994: Studying Women and Religion: Conclusions Twenty-Five Years Later. In: Sharma, Arvind (Hrsg.): Today’s Woman in World Religions. Albany, New York: State University of New York Press, S. 327-361 Gupta, Lina 51994: Kali, the Saviour. In: Cooey, Paula M./William R. Eakin/Jay B. McDaniel (Hrsg.): After Patriarchy. Feminist Transformations of the World Religions. Maryknoll, New York: Orbis Books, S. 15-38 Hassan, Riffat 51994: Muslim Women and Post-Patriarchal Islam. In: Cooey, Paula M./William R. Eakin/Jay B. McDaniel (Hrsg.): After Patriarchy. Feminist Transformations of the World Religions. Maryknoll, New York: Orbis Books, S. 39-64 Heiler, Friedrich 1977: Die Frau in den Religionen der Menschheit. Berlin: de Gruyter Heller, Birgit 1999a: „Der Frauen Weisheit ist nur bei der Spindel“. Zur Geschichte weiblicher Interpretationskompetenz im Hinduismus und Judentum. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 51/1999, S. 289-300 Heller, Birgit 1999b: Heilige Mutter und Gottesbraut. Frauenemanzipation im modernen Hinduismus, Wien: Milena Heller, Birgit 2002: Art. Mann. In: Betz, Hans Dieter/Don S. Browning/Bernd Janowski/Eberhard Jüngel (Hrsg.): Religion in Geschichte und Gegenwart 5. 4. völlig neu bearb. Aufl. Tübingen: Mohr Siebeck, Sp. 743f. Jacob, Janet L. 1991: Gender and Power in New Religious Movements. A Feminist Discourse on the Scientific Study of Religion. In: Religion 21/1991, S. 345-356 King, Ursula 2005: Gender and Religion: An Overview. In: Lindsay, Jones (Hrsg.): Encyclopedia of Religion 5. 2. Aufl. New York: Macmillan, S. 3295-3310 King, Karen L. (Hrsg.) 1997: Women and Goddess Traditions. In Antiquity and Today. Minneapolis: Fortress Press King, Ursula 1990: Religion and Gender. In: Dies. (Hrsg.): Turning Points in Religious Studies. Essays in Honour of Geoffrey Parrinder. Edinburgh: T&T Clark, S. 275-286 King, Ursula 1995: Introduction: Gender and the Study of Religion. In: Dies. (Hrsg.): Religion and Gender. Oxford: Blackwell Publishers, S. 1-38 Kloppenborg, Ria/Wouter J. Hanegraaff (Hrsg.) 1995: Female Stereotypes in Religious Traditions. Leiden: Brill Mernissi, Fatima 41991: Geschlecht – Ideologie – Islam. München: Kunstmann Mikaelsson, Lisbeth 2004: Gendering the History of Religions. In: Antes, Peter/Armin W. Geerk/Rondi R. Warne (Hrsg.): New Approaches to the Study of Religion 1. Regional, Critical, and Historical Approaches. Berlin: de Gruyter, S. 295-315 O’Connor, June 1989: Rereading, Reconceiving and Reconstructing Traditions: Feminist Research in Religion. In: Women’s Studies 17/1989, S. 101-123
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Birgit Heller
Ruether, Rosemary Radford: Sexismus und die Rede von Gott. Schritte zu einer anderen Theologie. Gütersloh: Gütersloher Verl.-Haus Mohn Pahnke, Donate (Hrsg.) 1993: Blickwechsel. Frauen in Religion und Wissenschaft. Marburg: diagonal-Verl. Palmer, Susan 1994: Moon Sisters, Krishna Mothers, Rajneesh Lovers. Women’s Roles in New Religions. New York: Syracuse University Press Plaskow, Judith 1992: Und wieder stehen wir am Sinai. Eine jüdisch-feministische Theologie. Luzern: Ed. Exodus Sered, Susan Starr 1991: Childbirth as a Religious Experience? Voices from an Israeli Hospital. In: Journal of Feminist Studies in Religion 7/1991, S. 7-18 Sered, Susan Starr 1994: Priestess, Mother, Sacred Sister. Religions Dominated by Women. New York: Oxford University Press Tsomo, Karma L. (Hrsg.) 1991: Töchter des Buddha. Leben und Alltag spiritueller Frauen im Buddhismus heute. München: Diederichs Warne, Randi R. 2001: (En)gendering Religious Studies. In: Juschka, Darlene M. (Hrsg.): Feminism in the Study of Religion. London: Continuum, S. 147-156 Young, Katherine M. 1987: Introduction. In: Sharma, Arvind (Hrsg.): Women in World Religions. Albany, New York: State University of New York Press, S. 1-36 Young, Serinnity (Hrsg.) 1993: An Anthology of sacred Texts by and about Women. London: Padora Young, Serinnity (Hrsg.) 1999: Encyclopedia of Women and World Religion. 2 Bde. New York: Macmillan
Ute Gause
Kirchen: Frauen in der römisch-katholischen und den evangelischen Kirchen in Deutschland
Die im ersten nachchristlichen Jahrhundert entstehende Kirche (griech. ecclesia) als Gesamtund Ortskirche und als Versammlung der Gläubigen erfährt in den verschiedenen christlichen Kirchen unterschiedliche Definitionen. Der römische Katholizismus sieht die Kirche als Heilsanstalt, als Sakrament, das Christus lebensbegleitend vermittelt und ihn repräsentiert. Sie sieht sich als die einzige wahre Kirche Jesu Christi; andere Kirchen und kirchliche Gemeinschaften, die sich von ihr getrennt haben, werden als Abspaltungen von der wahren Kirche gesehen. Diese Sichtweise teilen die anderen christlichen Kirchen und Denominationen nicht. Für die evangelischen Kirchen ist konstitutiv, dass in der Kirche das Evangelium gepredigt und die Sakramente verabreicht werden. Die Kirche ist Kreatur des Evangeliums – und ihr Haupt ist Christus. Sie entsteht dort, wo der Glaube das Wort er- und begreift. Zu trennen sind diese Beschreibungen von Kirche als ‚unsichtbarer Kirche‘ – d.h. als geglaubter Gemeinschaft der Christinnen und Christen –‚ die alle Gläubigen (Verstorbene und Lebende) umfasst und damit über die empirisch beschreibbare, soziologische Ausprägung von Kirche hinausgeht, von den sichtbaren Ausprägungen der Kirchen. Innerhalb der unsichtbaren Kirche gelten die Gleichheit aller Getauften, die Gemeinschaft der Heiligen und das allgemeine Priestertum, d.h. der Geschlechtsunterschied ist hier nivelliert. Er wird jedoch innerhalb der sichtbaren Kirche(n) mehr oder weniger betont. Unbestritten hat Jesus in einer für das zeitgenössische Judentum ungewöhnlich aufgeschlossenen Weise Umgang mit Frauen gehabt. Dieser wird besonders deutlich an seinem Verhalten gegenüber einer Ehebrecherin (Joh 7), an der Berührung einer unreinen Frau (Mk 5) oder daran, dass er eine Frau als Tochter Abrahams tituliert (Lk 13). Neuere Untersuchungen zeigen, dass Frauen in den urchristlichen Gemeinden wichtige soziale Funktionen, beispielsweise als Apostelinnen, Missionarinnen, Prophetinnen und Lehrerinnen übernommen haben. Im Zuge der Herausbildung fester Organisationsstrukturen wurden sie in ihren Verantwortlichkeiten immer stärker eingeschränkt. Dieser Prozess spiegelt sich bereits in den neutestamentlichen Schriften. Neben den unabweisbaren Hierarchisierungen innerhalb der Kirchen, die Frauen in untergeordnete Funktionen verwies und sie vom Pfarr- bzw. Priesteramt ausschloss, gibt es innerhalb der Kirchengeschichte zahlreiche Beispiele von z.T. fast autonom lebenden frommen, theologisch arbeitenden Frauen (beispielsweise in Klöstern zusammenlebende Nonnen, Mystikerinnen und Theologinnen wie Hildegard von Bingen oder Mechthild von Magdeburg) und in der sozialen Arbeit tätigen Ordensfrauen und Diakonissen, deren Geschichte jedoch erst wenig aufgearbeitet ist. Die römisch-katholische sowie die evangelischen Kirchen und Freikirchen sind aufgrund ihrer unterschiedlichen Haltung zu Frauen- und Geschlechterfragen zu unterscheiden. Im Folgenden sollen die beiden Kirchen wesentlich anhand ihrer Haltung zur Frauenordination bzw. zur Priesterweihe der Frau dargestellt werden.
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Evangelische Kirchen Auch wenn die Reformation als weltgeschichtliches Ereignis mit ihrer Konzentration auf das biblische Wort und die Gewissensentscheidung des Einzelnen einer Individualisierung und der neuzeitlichen Autonomie des Menschen Vorschub geleistet hat, profitierten von der Vorstellung des Priestertums aller Gläubigen die Frauen nur mittelbar. Mit der Abschaffung des Zölibats und der Gründung des evangelischen Pfarrstandes wurde die Rolle der Frau als Ehefrau und Mutter gegenüber dem bisherigen Vorbild der Nonne aufgewertet, damit aber auch festgeschrieben. Erst mit dem im 19. Jahrhundert entstehenden Diakonissenamt wurde evangelischen Frauen eine akzeptierte Form der Berufstätigkeit jenseits der Ehe ermöglicht. In den evangelischen Landeskirchen wurde die ‚Frauenfrage‘ seit Anfang der 1920er Jahre diskutiert. Dadurch dass zwischen 1900 und 1920 erstmals Frauen Zugang zu den Universitäten bekamen, stellte sich auch im Theologiestudium die Frage ihrer Berufsperspektive. 1925 wurde der ‚Verband evangelischer Theologinnen‘ gegründet. Mit seiner Hilfe konnte in einigen Landeskirchen ein Gesetz für die Einstellung von Frauen als ‚Pfarramtshelferin‘ durchgesetzt werden. 1927 verabschiedete die Synode der Altpreußischen Union (APU) ein Gesetz über den Dienst der ‚Vikarin‘. Die Vikarinnen wurden vor allem für die Seelsorge an Frauen und Kindern eingesetzt; sie waren ausdrücklich nicht zur Wortverkündigung und zur Sakramentsverwaltung zugelassen. Während des Zweiten Weltkriegs übernahmen die Vikarinnen dann aber in vielen Gemeinden sämtliche Aufgaben des Pfarramtes. In der Bekennenden Kirche der APU wurde zwischen 1939 und 1945 eine erbitterte Auseinandersetzung darüber geführt. Dabei waren es die Theologinnen selbst, die seit 1939 aktiv wurden. Jedoch gelang es nicht, die Ordination für Frauen zu erwirken, obwohl durchaus auch männliche Befürworter für das volle Pfarramt eintraten. Mit ihrem Protagonisten Peter Brunner hatte die rheinische Landeskirche einen entschiedenen Gegner der Frauenordination, der 1940 zu folgender Einschätzung kam: „Eine Kirche, die eine Frau ordinieren und damit in die öffentliche Ausübung des göttlich gestifteten Predigtamtes berufen würde, würde sich in einen ausdrücklichen Gegensatz zu den bestimmten Weisungen der apostolischen Schriften des NT setzen. Eine solche Maßnahme übersieht die von der Heiligen Schrift gebotene Beachtung des in der geschöpflichen Stellung von Mann und Frau gründenden seinsmäßigen Unterschiedes zwischen beiden, der die Frau als solche nicht befähigt, ein öffentliches Amt zu bekleiden, in dem an Christi Statt mit Anspruch auf eine die ganze Gemeinde bindende Autorität geredet und gehandelt wird“ (Brunner, in: Herweg 1997: 128). Mitte der 1960er Jahre erhielten die Vikarinnen schließlich das Zugeständnis, ebenfalls ein vollwertiges geistliches Amt auszuüben. Es wurde jedoch als Amt ‚sui generis‘ (eigener Art) definiert und blieb so in der Aufgabenbeschreibung wiederum eingeschränkt, d.h. nach wie vor blieben den Frauen Arbeitsbereiche des ‚vollen‘ Pfarramtes verschlossen. Etwa seit 1965 übernahmen die Landeskirchen nach und nach ihre Theologinnen in den vollen Pfarrdienst, wahrscheinlich aufgrund des bestehenden Pfarrermangels. Am 1.1.1978 wurden die Pfarrerinnen den Pfarrern in allen Landeskirchen (mit Ausnahme von Schaumburg-Lippe, das die Gesetzgebung erst 1991 übernahm) per Gesetz rechtlich gleichgestellt. Damit fiel auch die Zölibatsklausel, die bis dahin verheirateten Frauen nicht gestattet hatte, ihr Amt weiter auszuüben – allerdings hatte es vor allem auf dem Gebiet der DDR auch vorher schon Ausnahmen von dieser Regelung gegeben. Einen wichtigen Anstoß zum Nachdenken über die kirchlichen Geschlechterverhältnisse gab schon die Gründung des Rates der Ökumenischen Kirchen (ÖRK) 1948, in dem unterschiedlichste christliche Kirchen und Denominationen zusammenkamen. Der ÖRK bzw. sein erster Präsident, der Niederländer Willem Visser’t Hooft, formulierte auf der ersten Vollversammlung in Amsterdam das Anliegen, Frauen gleichberechtigt in den Kirchen mitarbeiten zu lassen. Als Folge dieser Forderung und anderer, entsprechender Berichte beschloss die Vollversammlung die Bildung einer ständigen Kommission für Frauenfragen beim ÖRK. Erste Vorsitzende wurde die Inderin
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Sarah Chakko. Die Kommission traf sich 1950 als „Kommission für Leben und Wirken der Frau in der Kirche“ in Bossey bei Genf. Eine Mitarbeiterin im ÖRK, Kathleen Bliss, wurde beauftragt eine Studie zur Frauenfrage zu erstellen. Diese Studie mit dem Titel „Dienst und Status der Frauen in der Kirche“ gilt bis heute als „ökumenisches Standardwerk zur kirchlichen Frauenfrage“ (Bliss „Frauen“ in: Simpfendörfer 1991: 19). Damit einher ging auch in Deutschland eine gesellschaftliche wie politische Entwicklung, die sich den Fragen der Gleichberechtigung und Gleichbehandlung stellte. Trotzdem begegneten die evangelischen Kirchen den Emanzipationsbestrebungen der Frauen zumeist misstrauisch und wenig aufgeschlossen. 1989 jedoch war das Thema der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland „Die Gemeinschaft von Frauen und Männern in der Kirche“. Hier wurde erstmals die Frauenbewegung gewürdigt, und eingestanden, dass auch die Kirche lange Zeit das Leitbild der Frau und Mutter verabsolutiert hatte. Gefordert wurde von der Synode unter anderem eine Verankerung der theologischen Frauenforschung in Forschung und Lehre, die praktische Unterstützung von Frauen in Kirche und Diakonie, verbunden mit einer gezielten Frauenförderung, um Frauen in Leitungsfunktionen zu etablieren. Diese Entwicklung war zum einen durch die bereits erwähnte Ökumenische Bewegung, zum anderen durch die innerhalb von kirchlichen Frauengruppen diskutierte, seit den 1970er Jahren entstehende Feministische Theologie angestoßen worden. 1992 wurde die erste Frau Bischöfin einer Landeskirche: die lutherische Pfarrerin Maria Jepsen. Der Rat der EKD (Evangelischen Kirche in Deutschland) veröffentlichte eine Studie, in der festgestellt wurde, dass „eine prinzipielle Kritik an der Frauenordination (...) den Boden der in der evangelischen Kirche geltenden Lehre“ (Frauenordination und Bischofsamt 1992: 4) verlässt. Diese deutliche Stellungnahme wurde durch Kritik konservativer Kreise veranlasst. Dort und in einigen evangelischen Freikirchen wird das Pfarramt der Frau meist aus vermeintlich biblischen Gründen abgelehnt. Im ökumenischen Dialog ist die Frauenordination ebenfalls bis heute umstritten. Ausgehend von der ökumenischen Bewegung und den Diskussionen um Emanzipation entstand innerhalb der Landeskirchen und an den Universitäten eine vielfältige feministische Theologie, die sich als konfessionsübergreifende, auch interreligiöse Bewegung, versteht, der es um Patriarchatskritik und die Veränderung „kyriarchaler Herrschaftsstrukturen“ ([von griech. kyrios=der Herr], Schüssler-Fiorenza 1997: 35) geht. Durch sie haben sich sowohl die wissenschaftliche Theologie wie auch die liturgische Praxis in Gottesdiensten verändert. Frauengerechte Sprache, die Beachtung der spezifischen Lebenskontexte von Frauen und deren Sichtbarmachung sowie das geschlechtergerechte Durchdenken dogmatischer Setzungen sind vor allem auf der Gemeindeebene und in evangelischen Akademien bearbeitet worden. Die Untersuchungen von Geschlechterkonstruktionen durch Theologie und Kirche innerhalb der theologischen Wissenschaft stehen jedoch erst am Anfang.
Römisch-katholische Kirche Die römisch-katholische Kirche hält an der Nicht-Zulassung der Frauen zum geistlichen Amt fest. Tiefgehend geprägt wurde sie vom Frauenbild des mittelalterlichen Kirchenlehrers Thomas von Aquin, der in seiner Summe der Theologie eine breit rezipierte Lehre von der Frau entwickelte, die im Gegensatz zum Mann „etwas Mangelhaftes und Zufälliges“ (aliquid deficiens et occasionatum) (zitiert nach: Ludolphy 1983: 438) sei. Kirchenrechtlich kann die „heilige Weihe“ nur einem getauften Mann gespendet werden (can. 1014/ CIC/1983) – so festgelegt im Codex Iuris Canonici (CIC), dem katholischen Kirchenrecht. Bestätigt wurde es durch Papst Johannes Paul II., der in seinem apostolischen Schreiben vom 22.5.1994 erklärte: „Damit also jeder Zweifel bezüglich der bedeutenden Angelegenheit, die die göttliche Verfassung der Kirche selbst betrifft, beseitigt wird, erkläre ich kraft mei-
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nes Amtes, die Brüder zu stärken (vgl. Lk 22,32), daß die Kirche keinerlei Vollmacht hat, Frauen die Priesterweihe zu spenden, und daß sich alle Gläubigen der Kirche endgültig an diese Entscheidung zu halten haben“ (Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben 1994: 6). Diese Erklärung sollte eine weitergehende Diskussion verhindern; dies gelang jedoch nicht. Neben der Frage nach der Frauenordination ist in der römisch-katholischen Kirche immer wieder auch der Zugang der Frauen zum Diakonat erörtert worden. Hierbei handelt es sich um ein unterhalb des geistlichen Amtes stehendes Amt, das beispielsweise auch verheiratete Männer ausüben können. Hatte es schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Überlegungen zur Zulassung von Frauen zum diakonischen Amt oder sogar zum Priestertum gegeben (u.a. Adolf Karlsbach, Edith Stein), wurde diese Entwicklung durch den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg unterbrochen. Das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) hob zwar die Bedeutung der Frauen für die Kirche hervor, gestattete ihnen jedoch keinen Zugang zum erneuerten Ständigen Diakonat oder gar zur Priesterweihe. Die Enzyklika ‚Pacem in terris‘ von Papst Paul XXIII. von 1963 würdigte erstmals im Rahmen der katholischen Kirche die Emanzipationsbewegung der Frauen und gab so Reformüberlegungen neuen Antrieb. Das überarbeitete kanonische Recht (CIC), das 1983 die Fassung von 1917 ablöste, ließ eine weitergehende Tätigkeit von kirchlichen Laien – bei denen nicht zwischen Frauen und Männern unterschieden wurde – zu, dazu gehören beispielsweise die Lesung, die Predigt, das Austeilen der Kommunion, die Leitung von Gebeten und der Ministrantendienst, zu dem in CIC 1917, can. 813 noch ausdrücklich Mädchen nicht zugelassen waren. Seit den 1970er Jahren wurde in vielen Ländern auf nationalen Pastoralsynoden über die Diakonatsweihe für Frauen diskutiert. Auch einige Bischöfe sprachen sich dafür aus. In den Jahrzehnten danach gab es immer wieder Tagungen und Initiativen zum Thema. Die Erklärung der Kongregation für die Glaubenslehre ‚Inter insigniores‘ 1977 beendete von offizieller Seite solche Überlegungen: Unter dem Pontifikat Pauls VI. wurde so ein offizielles Dokument gegen die Zulassung von Frauen zum Priesteramt veröffentlicht. Diese Erklärung wurde weltweit – nicht nur von katholischen Frauenverbänden, sondern auch aus Theologenkreisen – kritisiert. Bis heute ist der Diakonat von Frauen – der ja erst die Vorstufe zum Priestertum darstellt – lehramtlich nicht bestätigt worden. In Nordamerika führte die seit ca. 1985 von feministischen Theologinnen initiierte Bewegung für ein Priesteramt der Frau dazu, dass eine ‚Women’s Church‘ gegründet wurde, die eigene Rituale und Liturgien entwickelte und sich damit aus der römisch-katholischen Tradition löste. Eine wichtige Protagonistin war hier Mary Daly, die sich dem Entwurf einer nachchristlichen feministischen Theologie widmete. In Deutschland wurde ein weniger radikaler Weg eingeschlagen: 1987 gründeten die Theologinnen Ida Raming und Iris Müller die „Initiative Gleichberechtigung für Frauen in der Kirche – Maria von Magdala“, um die Gleichberechtigung der Frauen in der römisch-katholischen Kirche voranzutreiben. Diese Forderung wurde 1995 in einem „Kirchenvolks-Begehren“ von ca. zweieinhalb Millionen Unterschreibenden gestützt. Unter anderem aus dieser Aktion und Initiative entstand die ‚Wir-sind-Kirche‘-Bewegung, die versucht, diesen Forderungen Nachdruck zu verleihen. Einen bisherigen Höhepunkt fand diese Entwicklung in der Priesterinnenweihe von sieben römisch-katholischen Frauen am 29.6.2002 auf dem Donauschiff MS Passau. Nicht wenige Anhänger und Anhängerinnen der Bewegung distanzierten sich jedoch von der Weihe. Am 22.7.2002 stellten die Priesterinnen an die Vatikanische Kirchenleitung den Antrag, CIC 1983/ can. 1024 wie folgt umzuformulieren: „Die heilige Weihe empfängt gültig nur ein getaufter Mensch.“ Diesem wurde nicht stattgegeben; die Priesterinnen wurden unter Androhung der Exkommunikation aufgefordert zuzugeben, dass sie geirrt hätten. Am 5.8.2002 wurden sie exkommuniziert. Im Sommer 2001 hatte erstmals eine internationale Konferenz zum Thema Frauenordination stattgefunden – organisiert durch das internationale Netzwerk Women’s Ordination Worldwide (WOW) – die ebenfalls die Frauenordination in der römisch-katholischen Kirche forderte.
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Ausblick Während in den meisten evangelischen Kirchen die rechtliche Gleichstellung von Männern und Frauen im Pfarramt vollzogen ist, steht diese Entwicklung innerhalb der römisch-katholischen Kirche und in vielen anderen christlichen Kirchen und Denominationen noch aus. Die Chancen, hier langfristig Gleichberechtigung herbeiführen zu können, müssen jedoch als gering angesehen werden, auch wenn das 20. Jahrhundert erhebliche Fortschritte erkennen lässt. Die theologische Frauen- und Genderforschung in den Kirchen und Universitäten kann jedoch als mittlerweile „fest etabliert“ (Dingel 2003: 7) gelten. Hier bildet beispielsweise der Bereich der christlichen Frauenleitbilder – neben vielen weiteren Desideraten – ein wichtiges Forschungsfeld (Gause 2006). Verweis: Religionen
Literatur Dingel, Irene (Hrsg.) 2003: Feministische Theologie und Gender-Forschung. Bilanz – Perspektiven – Akzente. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt Gause, Ute 2006: Kirchengeschichte und Genderforschung – eine Einführung in protestantischer Perspektive. Tübingen: J. C. B. Mohr, UTB 1806 Herbrecht, Dagmar/Ilse Härter/Hannelore Erhart (Hrsg.) 1997: Der Streit um die Frauenordination in der Bekennenden Kirche. Quellentexte zu ihrer Geschichte im Zweiten Weltkrieg. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Johannes Paul II. 1994: Apostolisches Schreiben von Papst Johannes Paul II. über die nur Männern vorbehaltene Priesterweihe, 22. Mai 1994 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 117) Kirchenamt der EKD (Hrsg.) 1992: Frauenordination und Bischofsamt. Eine Stellungnahme der Kammer für Theologie. Hannover Ludolphy, Ingetraut 1983: Art. Frau. In: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 11. Berlin-New York: de Gruyter, S. 436-441 Schüssler Fiorenza, Elisabeth 1997: Jesus – Miriams Kind, Sophias Prophet. Kritische Anfragen feministischer Christologie. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Simpfendörfer, Werner 1991: Frauen im ökumenischen Aufbruch. Porträts. Stuttgart: Quell
Michiko Mae
Nation, Kultur und Gender: Leitkategorien der Moderne im Wechselbezug
Nation als politische Einheit und die Genderfrage In der neueren vergleichenden Nationenforschung wird die Nation als eine Form kollektiver Identität gesehen, die unter jeweils verschiedenen geschichtlichen Bedingungen sozial und kulturell konstruiert wird. Sie gilt nicht mehr als eine „unausweichliche Gegebenheit“, sondern als Resultat von politischen Prozessen und sozialem und kulturellem Wandel. Nationale Identität wird verstanden als eine „Konstruktion des Kollektiven im Spannungsverhältnis zwischen Kultur und Politik“ (Giesen 1991: 13). Das moderne Verständnis von Nation hat sich im Umkreis der französischen Revolution entwickelt; es entspricht in seiner politisch-voluntativ orientierten Ausrichtung der Staatsbürgernation, wie sie für Frankreich charakteristisch ist. Nation ist hier gekennzeichnet durch ein politisch ausgerichtetes Wir-Bewusstsein (in Abgrenzung zu den Anderen) und einen damit verbundenen gemeinsamen Willen, durch den Menschen zu einer Handlungsgemeinschaft integriert werden. Historisch manifestierte sich dies in der Französischen Revolution mit dem Akt der Selbstkonstitution der Repräsentanten des Dritten Standes zur Nationalversammlung. Die in ihren Vertretern (zu denen allerdings keine Frauen gehörten) repräsentierte Nation wird so zum Subjekt eines einheitlichen und souveränen Willens. Sie wird als neues Kollektivsubjekt und handelnde Kollektividentität zur einzigen Quelle von Souveränität, Legalität und Legitimität. Das Neue an der modernen Idee der Nation ist, dass sie als „oberste Legitimationsebene“ verstanden wird und den „obersten handlungsleitenden Wert in der Gesellschaft“ darstellt (Langewiesche 2000: 13). Das Verständnis von Nation als politischer Handlungs- und Willenseinheit wurde genau analog zu der Vorstellung vom männlichen Subjekt als autonom handelndem Akteur konstruiert: „Autonom konzipierte politische Subjekte, die männlichen Bürger, wollen ihre Autonomie in der Autonomie des Nationalstaats verwirklicht wissen“ (Appelt 1999: 134f.). Olympe de Gouges (1748-1793), Schriftstellerin und Verfasserin der „Déclaration des Drois de la Femme et de la Citoyenne“ (1791), definierte dagegen Nation als „Vereinigung von Frauen und Männern“. Hier wird deutlich, wie grundlegend Gender als strukturbildendes Element in der Nationbildung war. Deshalb gilt: Ohne die Einbeziehung der Kategorie Gender kann Nation als ein bestimmter Typus politischer Vergemeinschaftung („imagined political community“ nach Benedict Anderson (1996), „geglaubte Gemeinschaft“ nach Max Weber, „gedachte Ordnung“ nach Rainer Lepsius) nicht dekonstruiert werden. Mit ihrem konstruktivistischen Ansatz wurde die Nationenforschung anschlussfähig für das „Gendering-Projekt“, da beide Kategorien – Nation und Gender – als diskursiv erzeugte soziale und kulturelle Konstrukte gelten; beide Diskurse können nun auf ihre funktionalen Äquivalente und auf ihre „wechselseitigen Instrumentalisierungen“ hin untersucht werden (Loster-Schneider 2003: 13). Zudem haben beide Forschungsbereiche eine „identitäts- und alteritätstheoretische Grundorientierung“ (ebd.). Für beide Kategorien gilt – nach dem funktions- und modernisierungstheoretischen Ansatz –, dass sie als soziokulturelle Ordnungsmächte in der Orientierungskrise im Übergang zu den funktional ausdifferenzierten modernen Gesellschaften wichtige Legitimations- und Identitätsangebote machen, v.a. durch die Konstruktion von Differenz.
Nation, Kultur und Gender
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Die Konstitution von Nation beruht wesentlich auf Prozessen der Ein- und Ausschließung von Individuen und Gruppen; damit rückt die Frage der Zugehörigkeit und der Partizipationsmöglichkeiten ins Zentrum. In der für die Nationbildungsprozesse wichtigen Phase Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts war die Durchsetzung des Wahlrechts für Frauen ein Hauptziel der Frauenbewegung. Das Wahlrecht eröffnete nicht nur politische Partizipationsmöglichkeiten; als Kern des staatsbürgerlichen Mitbestimmungsrechts war es auch der wichtigste Ausdruck der Zugehörigkeit zu einer Nation. Durch dieses Recht konnten Frauen von peripheren zu zentralen Mitgliedern einer Nation werden. Die „Staatsbürgerschaft durch Stimmrecht“ (Blom 1996: 321) war zwar nicht das einzige, aber historisch gesehen das wichtigste Kriterium für die nationale Integration. Es kam nun darauf an, ob Staatsbürgerschaft so definiert wurde, dass in ihr Frauen mitgedacht wurden. Dieser Staatsbürgerbegriff entspricht dem Egalitätsansatz, nach dem Frauen prinzipiell gleichberechtigte Mitglieder einer Nation sind. Dass diese Position sich auch in demokratischen Nationen erst relativ spät durchsetzen konnte (in südeuropäischen Ländern und in Frankreich erlangten die Frauen – wie in Japan – nach dem Zweiten Weltkrieg das politische Wahlrecht, in der Schweiz sogar erst in den 1970er Jahren; vgl. Blom 1996: 325) zeigt, dass die Geschlechtszugehörigkeit Vorrang hat gegenüber der Zugehörigkeit zu einer Nation. Dies kommt noch deutlicher zum Ausdruck in Differenzansätzen, die die komplementäre Bedeutung von Frauen und Männern (im Sinne der geschlechtlichen Arbeitsteilung) für die Nation betonen. Auf dieser Grundlage kam es zu einer Konzeptualisierung der Nation nach dem Vorbild der Familie: Nation wurde verstanden als erweiterte Familie; Ute Planert spricht sogar von einer „konzeptuelle(n) Gleichsetzung von Nation und Familie“ (Planert 2000a: 40). Für Frauen bedeutete dies, dass ihre Zugehörigkeit zur Nation vorrangig über frauenspezifische Verantwortlichkeiten und Pflichten (v.a. als Mütter) und nicht nur über politische Rechte bestimmt werden konnte. Es war deshalb nahe liegend, dass sie ihre Partizipationsforderungen nicht auf der Grundlage der bürgerlichen Freiheits- und Gleichheitsrechte stellten, sondern zuerst das Ziel anstrebten, durch ihre „nationale Pflichterfüllung“ (als Mütter) die Voraussetzung für die politische und staatsbürgerliche Gleichberechtigung zu schaffen, die sie als „Belohnung“ für ihre „nationale Einsatzbereitschaft“ erhalten sollten. Die geschlechtliche Arbeitsteilung ist also ein wichtiges Strukturprinzip des bürgerlichen Nationverständnisses und es wird deutlich, dass die Art der nationalen Zugehörigkeit und Integration von der strukturbildenden Kategorie Gender abhängt.
Nation als kulturelle Einheit im Modernisierungsprozess Im Modernisierungsprozess haben sich die Kategorien Nation und Gender mit der Kategorie Kultur zu einem engen Nexus verwoben. So wie die moderne Genderidentität hat sich auch die moderne kulturelle Identität im Nationbildungsprozess entwickelt. Die Vereinheitlichung der Lebensverhältnisse und das Streben nach Einheit in einer sich immer stärker ausdifferenzierenden Gesellschaft sind Grundzüge der Modernisierung und Voraussetzung für die Nationbildung; für beide Prozesse wurde Kultur (wie auch Gender) instrumentalisiert. Kultur bildet zusammen mit Zivilisation ein Begriffspaar (als Gegenbegriffe, aber auch als Synonyme), das seit dem 18. Jahrhundert für die Herausbildung nationaler Identität eine Leitfunktion hatte. In Frankreich wurde Zivilisation seit der Aufklärung als universelles Fortschrittskonzept im Sinne einer Höherentwicklung der Menschheit verstanden und nach der Revolution mit dem nationalen Gedanken verbunden: Die französische Nation erteilte sich selbst einen zivilisatorischen Auftrag. In Deutschland wurde diesem als bloß ‚äußerlich‘ verstandenen Zivilisationsbegriff ein Kulturbegriff entgegen gestellt, der Kultur mit der (inneren) Höherentwicklung der Persönlichkeit (Bildung) verband. Dieses Kulturverständnis musste, um mit Nation als kultureller Einheit verbunden werden zu können, auf einen zeit- und raumbezogenen Kulturbegriff erweitert werden, der nicht mehr nur auf Einzelmenschen „als Teil der Menschheit insgesamt“,
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sondern auf abgrenzbare soziale Gruppen bezogen werden konnte. Kultur konnte dann verstanden werden „als Ausdruck eines einheitlichen vergangenen oder gegenwärtigen Geschichtskörpers“ (Nünning 2001: 344) und als „seelische(r) Gesamtzustand einer Zeit und einer Nation“ (ebd.). Dies ermöglichte eine „Nationalisierung“ der Kultur in dem Sinn, „dass kulturelle Produkte nicht nur ihren unmittelbaren Urhebern, sondern ihnen als Angehörigen der Nation, und damit dieser selbst zugerechnet werden“ (Estel 2002: 499). Diese kulturellen Produkte werden ideell zusammengefasst zu einem „einheitlichen Gesamtphänomen“ einer bestimmten Nationalkultur. Mit einer solchen einheitlichen und gemeinsamen Kultur konnten sich die Angehörigen einer Nation identifizieren. Damit wird das Maß an kultureller Homogenisierung möglich – durch die Entwicklung standardisierter nationaler Sprachen und Erziehungssysteme etc. –, das in hoch differenzierten Gesellschaften notwendig ist (vgl. dazu Gellner 1991): Nationbildung und kulturelle Einheitsbildung bedingen sich im Modernisierungsprozess wechselseitig. Die strukturelle Gemeinsamkeit der aufeinander bezogenen Kategorien Nation und Kultur (wie auch der Kategorie Gender) liegt in ihrer hohen Integrationsfähigkeit. Sie ermöglichen als neue Zuordnungsprinzipien ein Bewusstsein der Zugehörigkeit und die Bildung neuer Formen kollektiver Identität (nationale, kulturelle und geschlechtliche Identität), wie sie in modernen Gesellschaften notwendig wurden.
Nation und Gender in ihrer Wechselbezogenheit Auch die Kategorie Geschlecht hatte – wie die Kategorie Nation – im Modernisierungsprozess die Funktion eines „integrativen Leitbegriffs“ und „übergreifenden Ordnungsmodells“ (vgl. dazu Blättler 2000). In den grundlegenden Arbeiten zur Nationenforschung ist sie aber ein „blinder Fleck“; Yuval-Davis spricht von „gender-blind theorizations of nationalism“ (Yuval-Davis 1997: 3). Dagegen arbeiten in den letzten Jahren immer mehr Studien und Untersuchungen einer gendersensiblen Nationenforschung heraus, „dass die Vorstellung von dem, was eine Nation sei, ebenso wie die Konstruktion nationaler Identität und die Nationsbildungsprozesse selbst zutiefst von geschlechtsspezifischen Konnotationen durchdrungen und mitbestimmt waren und sind“ (Planert 2000a: 19). In ihrem Aufsatz „Vater Staat und Mutter Germania“ weist Planert darauf hin, dass das „Projekt Nation“ v.a. durch sein universales Gleichheits- und Partizipationsversprechen eine besondere Bedeutung für Frauen erhielt. Schon seit dem Ende des 18. Jahrhunderts konnten Frauen sich auf Nation (und Vaterland) berufen, wenn es für sie darum ging, „politisches Engagement und öffentliches Auftreten zu legitimieren“ (Planert 2000a: 9). Durch den Bezug auf die Nation, die im Zeitalter der Nationalstaaten zur übergeordneten Legitimationsinstanz politischen Handelns wurde, konnten sie auf gesellschaftlich anerkannte Weise ihre Handlungsspielräume vergrößern. Inwieweit aber dem Partizipationsversprechen der Nationidee bei aller Gleichheitsrhetorik eine wirkliche Erweiterung der Partizipationschancen von Frauen in der sozialen und politischen Praxis entsprach, versucht die geschlechtergeschichtliche Nationenforschung im Einzelnen zu untersuchen. Dabei wird erkennbar, in welchem Ausmaß sich aus der diskursiven Verbindung von Nation und Gender eine „nationalisierte“ Konstruktion männlicher und weiblicher Geschlechtsidentität ergab, die sich restriktiv und limitierend, aber auch angleichend und ermöglichend auf den Partizipations- und Egalitätsanspruch der Frauen auswirkte (vgl. dazu Planert 2000b). Sie manifestierte sich v.a. in der Zuordnung zu getrennten Geschlechtersphären, wobei die spezifisch weiblichen Aufgaben und Funktionen für die Reproduktion der Nation zu einer Politisierung der Privatsphäre führten. Wenn Familie zur Grundlage des nationalen Staats erklärt wird, dann kann man den familialen Innenraum nicht mehr als nur privat bestimmen. Diesen Widerspruch konnten die Frauen dazu nutzen, unter Berufung auf die Nation für sich neue, auch öffentliche Handlungsräume zu erschließen, ohne das für sie geltende Politikverbot durchbrechen zu müssen, wie Planert betont (2000a: 44).
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Seit der Zeit der antinapoleonischen Kriege führten in Deutschland die „Politisierung des Häuslich-Familialen“ und das „nationalisierte Weiblichkeitsideal“ (Planert 2000a: 28) zu einer neuen „Situierung von (bürgerlichen) Frauen im nationalen Raum“ (ebd.). Dadurch erweiterte sich zwar ihr Repertoire „legitimer politischer Partizipation unter nationalen Vorzeichen“ (ebd. 38), blieb aber auf bestimmte weiblich konnotierte Handlungsfelder beschränkt. Vor allem die nationale Erziehung der Kinder gehörte zu den wichtigsten „nationalen Frauenpflichten“. Damit wurde die Bildung der Mütter zu einer wichtigen Grundlage für die Entwicklung eines Nationalbewusstseins und einer Nationalkultur; sich auf ihre Stellung als „Kulturträgerinnen“ berufend konnten Frauen auch ihre eigenen Ansprüche auf Bildung begründen. Die Nation als „Kulturund Reproduktionsgemeinschaft“ (Planert 2000a: 49) kam – anders als der männlich bestimmte Staat – ohne die „nationalisierte Partizipation“ der Frauen nicht aus. Dadurch konnten Frauen zwar die „Legitimationskraft der Nation“ als Strategie für ihre Emanzipation nutzen, „der dem bürgerlichen Projekt Nation innewohnende Geschlechterdualismus“ (Planert 2000b: 427) verhinderte aber die Verwirklichung ihres Egalitätsanspruchs. Während Planert sich in ihren umfassenden historischen Studien v.a. auf die Entwicklung in Deutschland während des 19. Jahrhunderts und bis zum Ersten Weltkrieg konzentriert und dazu auch einen Überblick zur einschlägigen Forschungsliteratur gibt, setzt sich Yuval-Davis in einer eher systematischen Weise das „analytical project of a gendered understanding of nations and nationalisms“ (1997: 3) zum Ziel und möchte dafür den jeweiligen Bezug der Geschlechterbeziehungen zu den wichtigsten Bereichen des „nationalist project“ untersuchen. Dazu analysiert sie die verschiedenen Dimensionen, in denen „the discourse on gender and that on nation tend to intersect and to be constructed by each other“ (Yuval-Davis 1997: 4). An erster Stelle stehen dabei die Überschneidungen (intersections) zwischen den reproduktiven Rollen der Frauen und der Konstruktion der Nation; es geht hier darum, wie in nationbezogenen Diskursen Frauen als „bearers of the collectives“ konstruiert werden. Da die Vorstellung einer gemeinsamen Abstammung und der Zugehörigkeit zu einer Nation durch „HineingeborenWerden“ für nationbezogene Diskurse von zentraler Bedeutung ist, bekommen die reproduktiven Rollen und Funktionen von Frauen darin einen sehr hohen Stellenwert. Ein (kritisch zu bewertendes) Beispiel hierfür sind die eugenischen Konstruktionen der nationalen Reproduktion. Frauen sind aber nicht nur in biologischer, sondern auch in kultureller Hinsicht „reproducers of the nation“; ausgehend von ihrer zentralen (reproduktiven) Rolle als „bearers of the collectivity“ wird Frauen in nationbezogenen Diskursen die „Bürde der Repräsentation“ (Kubena Mercer, zit. bei Yuval-Davis 1997: 45) auferlegt. Sie repräsentieren die kollektive Einheit und Identität und den Geist („spirit“) einer nationalen Gemeinschaft, aber auch deren „Ehre“. Damit werden sie strikten moralischen und kulturellen Codes „of what it is to be a ‚proper woman‘“ unterworfen und als „symbolic border guards“ nationaler, ethnischer und kultureller Differenz konstruiert (Yuval-Davis 1997: 116).
Ausblick auf neue Forschungsfragen und Zukunftsvisionen: Gender Studies und Transkulturalitätsforschung Wie sehr das Geschlechterverhältnis für die kulturelle und nationale Konstruktion von Identität und Differenz von zentraler Bedeutung ist, zeigt sich in folgendem Zusammenhang: Frauen können in der Rolle der „carriers of tradition“ konstruiert werden und dies verstärkt die homogenisierende und ein- und ausschließende Konstruktion des nationalen Kollektivs; sie können aber auch als Symbole des Wandels gelten und dann können die hegemonialen kulturellen und nationbezogenen Diskurse und Grenzsetzungen eher überwunden werden. Ein essentialistisches Verständnis von Identität und Differenz führt zu einer Homogenisierung und „Naturalisierung“ soziokultureller Kategorien und sozialer Gruppierungen (wie z.B. Nation). Ein solcher „homo-
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geneous point of departure“ verkennt aber die von Stuart Hall formulierte Einsicht: „all identity is constructed across difference“ (Stuart Hall, zit. bei Yuval-Davis 1997: 126). Durch diese (auch den Gender Studies zu Grunde liegende) Einsicht können die verschiedenen Formen von einschließender und ausschließender Identitätspolitik dekonstruiert und überwunden werden. Zwischen den Polen „Universalismus“ und „Relativismus“ kann dann nach dem Prinzip „universality in diversity“ (ebd.: 125) eine Form des Dialogs entstehen, in der man seine eigene Zugehörigkeit und Identität bewahren („rooting“) und gleichzeitig in eine Situation des Austausches übergehen kann („shifting“). In diesem Prozess, den Yuval-Davis als „transversal politics“ bezeichnet, werden sowohl die „Dezentrierung des Selbst“ als auch die Homogenisierung (und Assimilierung) des Anderen vermieden; statt dessen werden durch den „Transversalismus“ die Heterogenität und die differenten Positionierungen der Beteiligten anerkannt. Es ist dann weniger wichtig, „who we are“ (auch im Sinne der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nation und Kultur und zu einem bestimmten Geschlecht), als vielmehr „what we want to achieve“ (ebd.: 126). Mit diesem Modell des „transversalen Dialogs“ könnten der weiteren Forschung über das Wechselverhältnis von Nation, Kultur und Gender ein neuer methodischer Ausgangspunkt und eine neue Fragerichtung gegeben werden: Von den Bezugsgrößen Nation und Kultur (die bestimmen, „who we are“) zur Transnationalität und Transkulturalität als neuen Paradigmen, die unseren Sinngebungs- und Handlungshorizont und unser Selbstverständnis (Identität) öffnen („what we want to achieve“). Wie kaum eine andere Disziplin haben die Gender Studies ein analytisch-kritisches Bewusstsein für Differenzerfahrung und Differenzdenken entwickelt, bei dem das Andere und das Verschiedene nicht zurückgeführt werden auf das Identische und das Gleichartige, aber auch nicht als Alterität ausgegrenzt werden. Deshalb können sie eine fruchtbare und zukunftsweisende Verbindung mit der Transkulturalitäts- (und Transnationalitäts-)forschung eingehen. Verweis: Geschichte
Literatur Anderson, Benedict 1996: Die Erfindung der Nation: Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Frankfurt/M., New York: Campus (Erweiterte Neuausgabe) Appelt, Erna 1999: Geschlecht – Staatsbürgerschaft – Nation: Politische Konstruktionen des Geschlechterverhältnisses in Europa. (Reihe „Politik der Geschlechterverhältnisse“, Bd. 10), Frankfurt/M., New York: Campus Blättler, Sidonia 2000: „Nation und Geschlecht im philosophischen Diskurs der politischen Moderne“. In: Feministische Studien – Zeitschrift für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung. Bd. 18, Nr. 2, S. 109-118 Blom, Ida 1996: Das Zusammenwirken von Nationalismus und Feminismus um die Jahrhundertwende: Ein Versuch zur vergleichenden Geschlechtergeschichte. In: Haupt, Heinz-Gerhard/Jürgen Kocka (Hrsg.): Geschichte und Vergleich. Ansätze und Ergebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung. Frankfurt/M., New York: Campus, S. 315-338 Estel, Bernd 2002: Nation und nationale Identität. Versuch einer Rekonstruktion. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag Gellner, Ernest 1991: Nationalismus und Moderne. Berlin: Rotbuch-Verlag Giesen, Bernhard (Hrsg.) 1991: Nationale und kulturelle Identität: Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit. Frankfurt/M.: Suhrkamp Langewiesche, Dieter 2000: ‚Nation‘, ‚Nationalismus‘, ‚Nationalstaat‘ in der europäischen Geschichte seit dem Mittelalter – Versuch einer Bilanz. In: Langewiesche, Dieter/Georg Schmidt (Hrsg.): Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg. München: Oldenbourg, S. 9-30 Loster-Schneider, Gudrun (Hrsg.) 2003: Geschlecht – Literatur – Geschichte II: Nation und Geschlecht. Sankt Ingbert: Röhrig Universitätsverlag (Mannheimer Studien zur Literatur- und Kulturwissenschaft, Bd. 29)
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Nünning, Ansgar (Hrsg.) 2001: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe (2., überarbeitete und erweiterte Auflage). Stuttgart, Weimar: Verlag J. B. Metzler Planert, Ute (Hrsg.) 2000a: Nation, Politik und Geschlecht. Frauenbewegungen und Nationalismus in der Moderne. Frankfurt/M., New York: Campus Planert, Ute 2000b: Zwischen Partizipation und Restriktion: Frauenemanzipation und nationales Paradigma von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg. In: Langewiesche, Dieter/Georg Schmidt (Hrsg.): Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg. München: R. Oldenbourg, S. 387-428 Yuval-Davis, Nira 1997: Gender & Nation. London, Thousand Oaks, New Delhi: Sage
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Geschichte: Geschlecht und Geschichte
Anfänge der Frauengeschichte Als randständiges Thema wurden Frauen traditionell in der ‚allgemeinen‘ Geschichtsforschung behandelt (vgl. Davis 1986). Erst im Zuge der zweiten Welle der Frauenbewegung in Nordamerika und Europa Ende der 1960er und zu Beginn der 1970er Jahre erlebte die Frauengeschichte einen beachtlichen Aufschwung (vgl. Hausen 1976, Kuhn 1983). Aus dem Bedürfnis, die Wurzeln der eigenen (feministischen) Identität sowie Ursachen und Wirkungsmechanismen geschlechtsspezifisch konnotierter gesellschaftlicher Hierarchien zu erforschen, erhielt die Frauengeschichte ihre theoretische Fundierung. Es galt, Frauen, ihre Handlungsspielräume, Leistungen und Leiden in die Geschichte hineinzuholen und die ‚allgemeine‘ Geschichtsforschung in Fragestellungen, Themen und Ergebnissen als männlich dominiert sichtbar zu machen. Charakteristisch für die frühe Frauengeschichte in der Bundesrepublik war, dass sie nahezu ausschließlich von Historikerinnen betrieben wurde, zumeist im außeruniversitären Kontext entstand und in der Regel nur über harte Platzierungskämpfe Eingang in die universitäre Forschung fand. Erste einschlägige Publikationen, wie beispielsweise die von Annette Kuhn und Jörn Rüsen herausgegebene achtbändige Reihe „Frauen in der Geschichte“ (Kuhn/Rüsen 1979-1986), liefern ein anschauliches Zeugnis von der Gemengelage feministischen Engagements, historischer Wurzelsuche und Frauengeschichtsforschung. Insbesondere die Auseinandersetzungen mit der zeitgleich das wissenschaftliche Deutungsmonopol beanspruchenden Sozialgeschichte prägten die Frauengeschichte und trugen zu ihrer schnellen Hinwendung zu kulturgeschichtlichen Ansätzen bei (vgl. Kocka 1989).
Von der Frauen- zur Geschlechtergeschichte Der Paradigmenwandel innerhalb der historischen Frauenforschung vom Untersuchungsobjekt ‚Frauen‘ hin zur Kategorie ‚Geschlecht‘ vollzog sich Ende der 1980er Jahre. Dieser ist unter anderem auf das Unbehagen vieler universitärer Forscherinnen über das konstatierte Nischendasein der Frauengeschichte zurückzuführen. Eine Diskussion um die Schnittstellen der Frauengeschichte zur ‚allgemeinen‘ Geschichte war die Folge, in der sowohl hochschulpolitisch als auch methodisch argumentiert wurde. Neben dem hochschulpolitischen Engagement, Lehrstühle für Geschlechtergeschichte in den Fakultäten zu etablieren, forderte beispielsweise Ute Frevert 1993 zweierlei: die Überprüfung der Kategorie Geschlecht auf ihre historische Deutungsfähigkeit auch und gerade anhand nicht originär oder ausschließlich frauengeschichtlicher Themen und die Anschlussfähigkeit der Frauen- und Geschlechtergeschichte an andere Bereiche der Geschichtsforschung. Die Benennung von Geschlecht als erkenntnisleitende Forschungskategorie implizierte in der Folge, Geschlechtszugehörigkeit als einen primären Aspekt sozialer Organisation zu betrachten, „der nicht aus anderen Bestimmungen, wie zum Beispiel Klasse oder Rasse abgeleitet, noch diesen untergeordnet werden kann“ (Schissler 1993: 9). Durch verschiedene
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theoretische Impulse (vgl. Scott 1986, Butler 1991, Canning 1993) vollzog sich in der Forschungslandschaft der Bundesrepublik Anfang der 1990er Jahre eine weitere Differenzierung der historischen Analysekategorie Geschlecht in soziales Geschlecht (gender) und biologisches Geschlecht (sex). Geschlechtergeschichte begreift heute das Konzept einer naturgemäßen Zweigeschlechtlichkeit als Produkt sozialer und kultureller Prozesse. Ausschlaggebend für Geschlechteranalysen sind demnach Zuschreibungen, Handlungs- und Deutungsweisen. Die historische Konstruktion des sozialen Geschlechts vollzieht sich aus dieser Perspektive auf verschiedenen Ebenen organisatorisch, institutionell, normativ, symbolisch und auf der Ebene der subjektiven Identität (vgl. Scott 1986: 1067ff.). Das jeweilige historische Wissen über die Geschlechter kommt nicht nur in Normen, Strukturen und Institutionen zum Ausdruck, sondern auch in symbolischen Interaktionsformen und im Alltagshandeln, in sämtlichen historischen Formationen, die soziale und politische Beziehungen gestalten und ordnen. Damit wird Geschlecht von der Geschlechtergeschichte als Beziehungskategorie begriffen. Dekonstruktivistische Reflexionsansätze machen darüber hinaus darauf aufmerksam, dass Geschlecht als relationale Kategorie auch vermeintlich feststehende Bedeutungen von „Mann“ und „Frau“ in Frage stellt und Identitätskategorien einer radikalen Kritik zu unterziehen sind (Butler 1991: 9f., 190ff., 2004).
Geschlechtergeschichte zur frühen Neuzeit Die Frauen- und Geschlechtergeschichtsforschung griff seit den 1980er Jahren ein breites und nahezu unüberschaubares Themenspektrum auf (vgl. Forschungsüberblicke in: Bock 1983, Frevert/Wunder/Vanja 1991, Fieseler/Schulze 1991, Bock 1991, Ulbrich 1994, Bock 2006). Die Geschlechtergeschichte zur Frühen Neuzeit begreift Geschlechtscharaktere in der Ständegesellschaft als stets neu diskursiv verhandelte Konstruktionen (vgl. Bock 2000). Es gelang ihr unter anderem, die frühneuzeitliche Variationsbreite weiblicher Handlungsspielräume im Vergleich zum bürgerlichen 19. Jahrhundert aufzuzeigen und das Wirtschaftspaar, das gemeinsam um den Erwerb der ‚Nahrung‘ ringende Paar, als konstitutives Element der Ständegesellschaft herauszuarbeiten (vgl. Wunder 1992), die Aufklärung als männliches Projekt zu deuten (vgl. Steinbrügge 1987, Weckel u.a. 1998) und die Französische Revolution als Epoche der Auseinandersetzung um den beginnenden Siegeszug des bürgerlichen Geschlechtermodells zu werten (vgl. Christadler 1990).
Geschlechtergeschichte und Gesellschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts Berührungspunkte zur sozialwissenschaftlichen Frauen- und Geschlechterforschung dürften vor allem diejenigen Ergebnisse der historischen Frauen- und Geschlechterforschung zum 19. Jahrhundert besitzen, die im Kontext der Auseinandersetzung der Geschlechtergeschichte mit der Sozialgeschichte entstanden. Waren Modernisierung, Bürgertum und Nation die zentralen Leitbegriffe der Sozialgeschichte der 1980er und 1990er Jahre, so leistete die Frauen- und Geschlechtergeschichte einen wichtigen Beitrag zur geschlechtsspezifischen Differenzierung dieser Ansätze. Impulsgebend war vor allem der Aufsatz von Karin Hausen über „Die Polarisierung der ‚Geschlechtscharaktere‘“ (1976), in dem sie die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in Familie, Erwerbsleben und politischer Sphäre im bürgerlichen Zeitalter analysierte. Parallel zur breit angelegten Urbanisierungs- und Bürgertumsforschung der 1980er und 1990er Jahre (vgl. Kocka 1988, Gall 1990, Lenger 2002) entwickelte sich die geschlechtergeschichtliche Forschung über Geschlechterrollen und Handlungsspielräume von Bürgerinnen vorzugsweise auf dem Gebiet der (städtischen) Sozialarbeit (vgl. Frevert 1988, Schröder 2001). Auch die breite
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Forschung zur bürgerlichen Frauenbewegung besitzt Anknüpfungspunkte zur sozialgeschichtlichen Bürgertumsforschung, denn sie deutet die Aktionen der bürgerlichen Frauenbewegung als Kampf um (staats)mütterliche Partizipation an der Nation (vgl. Bereswill/Wagner 1998, Schaser 2000, Planert 2000). Folge der breiten Beschäftigung mit bürgerlicher Weiblichkeit im 19. Jahrhundert war schließlich auch die neue Auseinandersetzung mit Männlichkeit im bürgerlichen Zeitalter (vgl. Frevert 1991a und 1991b). Insbesondere die geschlechtergeschichtliche Forschung zu männlicher Wehrhaftigkeit im Zuge der Militär- und Männergeschichtsschreibung arbeitete die militärische Aufladung der bürgerlichen Männlichkeitskonstruktionen heraus (vgl. Kühne 1996, Erhart/Herrmann 1997, Dinges 1998, Schmale 1998, Hagemann/Pröve 1998, Hagemann 2002). Insgesamt hat die Geschlechtergeschichte einen grundlegenden Baustein zu einer differenzierten Sichtweise des bürgerlichen Zeitalters beigetragen, und Geschlecht wird für die Deutung der bürgerlichen Gesellschaftsordnung als „Ordnungskategorie ersten Ranges“ begriffen (Medick/ Trepp 1998: 11, Frevert 1995).
Geschlechtergeschichte und Politikgeschichte des 20. Jahrhunderts Geschlechtergeschichtliche Studien mit Schnittstellen zur Politikgeschichte des 20. Jahrhunderts zeigen, wie Herrschaftsverhältnisse in Gesellschaften normativ, rechtlich und organisatorisch hergestellt werden. Aus dieser Perspektive stand die Geschichte des Nationalsozialismus seit Ende der 1980er Jahre im Zentrum der Aufmerksamkeit (vgl. Bock 1986, 1992; Heinsohn/ Vogel/Weckel 1997). Die Frage nach der Bedeutung von Frauen im Nationalsozialismus löste eine intensive Debatte um Verantwortung, Handlungsräume und Handlungsoptionen von Frauen als Opfer, Täterinnen und Mittäterinnen im „Dritten Reich“ aus (vgl. Tröger 1977, ThürmerRohr 1983, Koonz 1987, Bock 1989, Gravenhorst/Tatschmurat 1990). Neuere alltags- und geschlechtergeschichtliche Studien zur nationalsozialistischen Verfolgung von Männern und Frauen aus dem politischen Widerstand fragen nach dem Verhältnis von Gleichheit und Differenz sowie von Gleich- und Ungleichbehandlung in Geschlechterbeziehungen am Beispiel der Hochverratsprozesse vor dem Volksgerichtshof (vgl. Richter 2001). Auch aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive zeichnet sich die Nachkriegsgeschichte durch Brüche und Kontinuitäten aus. Eine Kulturgeschichte der Wochenschauen macht die führende Rolle des Films in der Bundesrepublik bei der Konstruktion einer nationalen Identität, aber auch den politischen Geschlechterdiskurs der frühen 1950er Jahre sichtbar. Krieg, Nachkrieg, Vertreibung und Evakuierung hatten nachhaltige Folgen für Familien- und Geschlechterbeziehungen (vgl. Schwarz 2002: 29). Anders als in programmatischen Stellungnahmen aus den 1950er Jahren mit ihren Plädoyers, Frauen vom Arbeitsmarkt zu verdrängen, lässt sich am gesellschaftlich zentralen Konfliktfeld Teilzeitarbeit der Zeitraum von 1955 bis 1965/67 in vielfacher Hinsicht als Umbruchphase in der Geschichte der Bundesrepublik darstellen. Denn mit „der wirtschaftlichen Prosperität seit 1955 wandelten sich Bewertungen und Zuschreibungen der Ehefrauenerwerbsarbeit ebenso grundlegend wie die Erwerbsmöglichkeit verheirateter Frauen und ihre rechtliche Situierung zwischen Arbeitsmarkt und Familie“ (von Oertzen 1999: 13). Für ausländische Frauen spielte Teilzeitarbeit dagegen keine Rolle. Migrantinnen blieben meistens auch als Mütter kleiner Kinder ganztägig, häufig auch im Schichtdienst erwerbstätig. Über das Konzept der „weiblichen Gastarbeit“ sollte auch die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung stabilisiert werden, ging es doch darum, Tätigkeiten, die schon immer von Frauen ausgeübt wurden, weiterhin mit Frauen, wenn auch mit ausländischen, zu besetzen (vgl. Mattes 1999: 304).
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Neue Themen in der Geschlechtergeschichte: Körper, Sexualität und Erfahrung Neben geschlechtergeschichtlichen Studien mit Schnittstellen zur Politikgeschichte bilden in den 1990er Jahren Arbeiten zur Geschichte der Sexualität (vgl. Czarnowski 1991, Burghartz 1999) und der Emotionen (vgl. Kessel 2001, Benthien/Fleig/Kasten 2000), zu Normierungsdiskursen in der Psychiatriegeschichte (vgl. Kaufmann 1995, Lorenz 1999) sowie zur geschlechterorientierten Körpergeschichte (vgl. Duden 1987, Labouvie 1998, Lorenz 2000, Schulte 2002) einen weiteren Schwerpunkt. Insbesondere auf dem Feld der geschlechterorientierten Körpergeschichte wird die Vielschichtigkeit der analytischen Kategorie Gender sichtbar. Denn die Frage nach der Bedeutung von Körpern in der Geschichte eröffnet sowohl Perspektiven auf symbolische Körper, auf Körper als Metapher, auf kollektive Identitäten und den Bereich der Bio-Macht als auch auf Körperpraktiken, Körperrituale und Körpererfahrung als kulturelle Praxis. Das Medium, der sinnlich erfahrene Körper, ist dabei gleichzeitig schon das Resultat von Reflexionsprozessen und Zuschreibungen, die ein sinngebendes Ordnungssystem voraussetzen. Diese Fragen nach Bedeutungen und Zusammenhängen von Materialität, Konstruktionen und Diskursen sind in der Geschlechtergeschichte in Debatten um den Erfahrungsbegriff diskutiert worden (vgl. Scott 1991 und 2001, Downs 1993, Canning 1994 und 2002, Daniel 2000). Letztlich geht es im Kontext dieser Debatte erneut um die Frage, wie über historische Wirklichkeit gedacht, gesprochen und geschrieben werden kann.
Ausblick auf Forschungsfragen und Zukunftsvisionen Eine Zwischenbilanz zum Stellenwert der Geschlechtergeschichte innerhalb der Kultur-/Geschichtsforschung zeigt unterschiedliche Resultate. Auf der einen Seite belegt eine Fülle profunder Ergebnisse die Erklärungskraft der Kategorie Geschlecht. Publikationsreihen wie die seit 1992 von Gisela Bock, Karin Hausen und Heide Wunder herausgegebene und derzeit bereits über 40 Bände umfassende Reihe „Geschichte und Geschlechter“ dokumentieren die Vielfalt angesprochener Themen, den Wandel von der Frauen- zur Geschlechtergeschichte und den Einzug männlicher Forscher (vgl. Reulecke 2001) in das bislang noch immer von Historikerinnen dominierte Forschungsfeld. Auf der anderen Seite lässt sich derzeit noch immer problemlos „allgemeine“ Kultur/Geschichte schreiben, ohne die Kategorie Geschlecht zu berücksichtigen, und die Ergebnisse der Geschlechtergeschichte werden nach wie vor von der „allgemeinen Geschichtsschreibung“ als das „Besondere“ kaum zur Kenntnis genommen. In ihrer Reflexion über das Verhältnis von „allgemeiner“ und Geschlechtergeschichte charakterisierte Karin Hausen 1998 die allgemeine (National-)Geschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts als geprägt von der Zentralperspektive weißhäutiger Männer aus der Mittelschicht, „als ein Produkt und ein Medium der Selbstverständigung über kulturelle Hegemonie“ und forderte Nicht-Einheit als Programm (Hausen 1998: 36). Die Geschlechtergeschichte trägt in der Konsequenz mit dazu bei, so genannte Meistererzählungen zu verhindern. Der Verzicht auf erkenntnisleitende Zentralperspektiven erschwert freilich auch, geschlechtergeschichtliche Synthesen zu erarbeiten. Dies mag erklären, warum bislang eine geschlechtergeschichtliche Gesamtdeutung der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts nicht vorliegt, selbst geschlechtergeschichtliche Gesamtinterpretationen einer Epoche selten sind (Gehmacher/Hauch 2007) und bislang auch nur eine allgemeine Einführung in die Geschlechtergeschichte publiziert wurde (Opitz 2005). Die große Themenvielfalt lässt keine sicheren Prognosen über Forschungsperspektiven zu. Wünschenswert wäre zweifellos ein konsequentes Gendering der Politikgeschichte. Fest steht darüber hinaus, dass Erfahrung als ein Leitbegriff, der eine Synthese unterschiedlicher Zugriffe auf Geschichte ermöglicht, auch in der Geschlechtergeschichte an Bedeutung gewinnen dürfte.
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Isabel Richter, Sylvia Schraut
In den letzten Jahren beginnt Geschlechtergeschichte zunehmend Themen aufzugreifen, die in der „allgemeinen“ Geschichte Konjuktur haben. Als Beispiele seien hier die Bereiche Historiographiegeschichte und Erinnerungskultur genannt. So führt die Auseinandersetzung mit dem genderbias der Historiographiegeschichte zur Beschäftigung mit Historikerinnen und zur Dekonstruktion der derzeit intensiv betriebenen „allgemeinen“ Historiographiegeschichte und genderAspekten (Smith 1998, Davis 1999, Epple 2004, Paletschek 2007) und die Hochkonjunktur der Erinnerungskultur in populärer Geschichte, Denkmalsdebatten und Geschichtswissenschaft findet ihren Niederschlag in geschlechtergeschichtlichen Reflexionen zum Verhältnis von Gender und Erinnerung (Leydesdorff/Passerini/Thompson 1996, Eschebach/Jacobeit/Wenk 2002, Assmann 2006, Schraut/Paletschek 2006, Paletschek/Schraut 2008). Hier belegt die deutsche Geschlechtergeschichte auch Anschlussfähigkeit an die „allgemeine“ transnationale Geschichte. Verweise: Oral history und Erinnerungsarbeit Nation, Kultur und Gender
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Jutta Röser, Ulla Wischermann
Medien- und Kommunikationsforschung: Geschlechterkritische Studien zu Medien, Rezeption und Publikum
Definitionen Der Begriff Medium/Medien geht auf das lateinische Wort medius zurück, mit dem ursprünglich das „in der Mitte Befindliche“, „das Mittlere“ bezeichnet wurde. Heute wird der Begriff zumeist im Sinne von „Vermittlung“ oder von „vermittelndes Element“ angewendet. In der fachwissenschaftlichen Terminologie werden Medien als technische Kanäle aufgefasst, aber auch als Gesamtheit aller Kommunikationsmittel. Damit sind insbesondere die Massenmedien Presse (Zeitung und Zeitschrift), Film, Radio und Fernsehen sowie Online-Medien gemeint, aber auch Buch und Brief, Theater, Tonträger und Telefon werden als Medien klassifiziert und analysiert (Faulstich 1998). Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Medienkommunikation profiliert unterschiedliche Einzelmedientheorien, wie etwa die Fernseh-, Rundfunk- und Filmtheorie bzw. Theorien zu den neueren, digitalen Medien wie dem Internet. In einer erweiterten kommunikationstheoretischen Perspektive wird diese Konzentration auf einzelne Medien bewusst überschritten. Medien werden hier als komplexe soziale Organisationen begriffen und in ihren gesellschaftlichen, politischen und psychologischen Kontexten analysiert, wobei sich der Blick der Forschung auf drei Felder richtet, die zusammengenommen den Kommunikationsprozess beinhalten: erstens die Medien selbst in ihrer inhaltlichen und ästhetischen Beschaffenheit, zweitens ihre Produktion und ProduzentInnen (Journalismus, Kunst, Medienwirtschaft und -unternehmen), drittens ihre Rezeption durch das Publikum, d.h. Mediennutzung, -aneignung und -wirkung.
Grundlegende Studien und Debatten Medien und Journalismus Angeregt durch kritische Stimmen aus der neuen Frauenbewegung nahm die medien- und kommunikationswissenschaftliche Frauenforschung im deutschsprachigen Raum während der 1970er Jahre erste Konturen an. Engagierte Journalistinnen und feministische Initiativen problematisierten das stereotype Frauenbild der Medien und der Werbung. Eine erste wissenschaftliche Basis erhielt die Kritik mit der so genannten Küchenhoff-Studie über „Die Darstellung der Frau und die Behandlung von Frauenfragen im Fernsehen“, die 1975 im „Jahr der Frau“ erschien und viel Aufsehen erregte (Küchenhoff 1975). Erich Küchenhoff und seine MitarbeiterInnen analysierten eine eklatante Unterrepräsentanz von Akteurinnen im TV-Programm, ihre Beschränkung auf zwei stereotype Rollen – die der Mutter und Hausfrau einerseits und die der jungen, attraktiven Frau andererseits – sowie das Fehlen von Programmen über Frauenfragen und Emanzipation. Quantitative und qualitative Inhaltsanalysen blieben bis in die 1980er Jahre hinein in der Forschung vorherrschend. Dabei wurde die kritische Analyse stereotyper Medientexte mit Annahmen über ihre anti-emanzipatorische Wirkung verbunden. So wie die Medien- und Kommunikationswissenschaft insgesamt folgte auch die Frauen- und Geschlechterforschung zunächst dem
Medien- und Kommunikationsforschung
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Paradigma vom Publikum als ‚Masse‘, bestehend aus passiven und durch Massenmedien manipulierbaren Individuen (vgl. van Zoonen 1994). Frauenbewegung und -forschung erhofften sich Veränderungen durch eine erhöhte Repräsentanz von Frauen in den Medienberufen. Die kritische Analyse der Unterrepräsentanz von Frauen im Journalismus stellte deshalb ein weiteres wichtiges Forschungsfeld dar (vgl. Klaus 1998). So belegten Irene Neverla und Gerda Kanzleiter bereits 1984 in einer Studie über Journalistinnen einen Frauenanteil von unter 20 Prozent; sie analysierten zudem geschlechtsspezifische Asymmetrien in der Ressortverteilung und in den hierarchischen Positionen (Neverla/ Kanzleiter 1984). Der Anteil von Frauen im Journalismus stieg zwar in den darauffolgenden Jahren kontinuierlich an, stagnierte dann aber in Deutschland ebenso wie in den USA bei rund einem Drittel. Die – letztlich essentialistische – Annahme der frühen Genderforschung, mehr Frauen im Journalismus und als Medienschaffende wären automatisch Garantinnen für emanzipatorische Medieninhalte, erwies sich als unrealistisch: Die Regeln der Profession dominieren den Journalismus, sie sorgen für die Konstanz dort gängiger Werte und Normen unabhängig vom Geschlecht der Akteure. Eine Umgestaltung professioneller Regeln durch Journalistinnen lässt sich jedoch in den Nischen frauenpolitischer Berichterstattung beobachten; auch in Phasen des Wandels journalistischer Orientierungen (z.B. zu einer stärkeren Publikumsorientierung seit den 1990er Jahren) eröffnen sich für Führungsfrauen Spielräume (vgl. Keil 2001, Klaus u.a. 2001a, Lünenborg 1997). Nachdem die Medien in den 1970er Jahren v.a. im Hinblick auf die Diskriminierung von Frauen betrachtet wurden, rückten im Verlauf der 1980er Jahre Frauen als handelnde Subjekte in und mit den Medien in den Blick. Nun wurden auch die Differenzen zwischen Frauen thematisiert. Für das Feld Frauenzeitschriften und weiblicher Lebenszusammenhang (1992) zeigte Jutta Röser, dass Frauen keine homogene Gruppe darstellen und sich keineswegs mit überholten Leitbildern gewinnen lassen. Vielmehr kreieren die Medien sozial differenzierte Angebote und greifen dabei den gesellschaftlichen Wandel auf. Die Kategorien ‚race‘ und ‚class‘ gewannen neben der Kategorie ‚gender‘ an Bedeutung – eine Entwicklung, die besonders durch die angloamerikanischen Gender Studies forciert wurde. Noch wenig erforscht ist die zunehmende altersspezifische Ausdifferenzierung der Produkte und Nutzungsweisen im Zuge der Angebotsvermehrung.
Geschichte Der Einfluss von Frauen als Produzentinnen und Rezipientinnen wurde auch historisch rekonstruiert. Die Mediengeschichte, vor allem die Entwicklung der Frauenpresse im 18., 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, belegt eine zunehmende Relevanz von Frauen auf allen Ebenen des journalistischen Handlungssystems. Der Boom an Frauenmedien – seien sie unterhaltend, belehrend und/oder politisch – über mehrere Jahrhunderte hinweg kann aber nicht als lineare Erfolgsgeschichte interpretiert werden oder gar als Indiz für einen ununterbrochenen Emanzipationsprozess. Mehr als heute hatten die Publizistinnen und Journalistinnen der Vergangenheit mit tradierten Rollenvorschriften zu kämpfen und Probleme, überhaupt am Professionalisierungsprozess im Medienbereich zu partizipieren. Geschlechterrepräsentationen in den historischen Medienprodukten waren stark beeinflusst durch soziale und ideologische Zuweisungen, die Frauen in die Rolle des ‚anderen Geschlechts‘ drängten. Aber diese Strukturen waren nie statisch und enthielten immer auch gegenläufige Prozesse, wie etwa in den bürgerlichen Familienzeitschriften des 19. Jahrhunderts, die biedermeierlich-idyllische Frauenbilder zeichneten und gleichzeitig durchaus positiv über die erstarkende Frauenbewegung berichteten (vgl. Wischermann 2001). Einen wichtigen emanzipatorischen Faktor stellten die eigenen Medien der historischen Frauenbewegungen dar: politische Frauenzeitschriften, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts die Funktion von Gegenöffentlichkeiten übernommen hatten und versuchten, die öffentliche Meinung zu beeinflussen (vgl. Wischermann 1998, 2003).
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Aktuelle Entwicklungen und Fragestellungen Rezeption und Publikum Die Hinwendung zum Medienpublikum und zur Populärkultur führte zunächst in der angloamerikanischen Forschung, später auch im deutschsprachigen Raum zu grundlegenden Paradigmenwechseln: von der Text- zur Genreanalyse, von der Wirkungs- zur Rezeptionsforschung und schließlich zu dekonstruktivistischen Perspektiven und machtkritischen Ansätzen der Cultural Studies (vgl. Dorer/Geiger 2002, Röser 2000, Bechdolf 1999, Klaus 1998, Werner/Rinsdorf 1998, Angerer/Dorer 1994). Insbesondere die überaus einflussreiche Soap-opera-Forschung belegte die aktive und manchmal widerspenstige Bedeutungsproduktion durch die Rezipientinnen und den Zusammenhang von gendered genres und gendered audiences. Waren populäre Massenmedien vom Male- und Mainstream der Forschung bislang als trivial und ‚sinnlos‘ abqualifiziert worden, wurde anhand dieses v.a. auf weibliche Publika zielenden Genres analysiert, wie Zuschauerinnen ihren sozialen und alltäglichen Erfahrungen in der Rezeption Bedeutung verleihen. Im Rahmen der Cultural Studies wurde ferner die Alltagseingebundenheit der Mediennutzung herausgearbeitet. David Morley analysierte in Family Television (1986), wie geschlechtlich markierte Alltagsroutinen und Entscheidungsprozesse im Rahmen der Familie die Mediennutzung prägen. Noch unterlegt von zweigeschlechtlichen Konstruktionen rückten diese und weitere Studien geschlechterdifferente Medienpräferenzen einerseits und differente Aneignungsweisen derselben Angebote andererseits in den Blick (vgl. Cornelißen 1998, Klaus/Röser 1996). Einen radikalen Bruch mit essentialistischen Konzepten und eine Hinwendung zum Doing Gender im Medienhandeln forderten Ien Ang und Joke Hermes (1991) ein: Es existieren keine fixen Geschlechterpositionen, denn Menschen rezipieren Medien nicht ausschließlich ‚als Männer‘ oder ‚als Frauen‘. Vielmehr werden Genderpositionen im Prozess der Rezeption und im Spannungsfeld von Text und Kontext produziert und eingenommen – oder auch verweigert und überschritten (vgl. auch Dorer/Geiger 2002). Weil Medienhandeln soziales Handeln gesellschaftlich positionierter Subjekte ist, bekommen Massenmedien ihre Bedeutung im Prozess der Aneignung zugewiesen. Dies geschieht jedoch nicht in autonomen Räumen, sondern in gesellschaftlichen, kulturellen und situativen Kontexten, die immer auch hierarchisch strukturiert und einem Gendering unterworfen sind.
Gender als kulturelles Klassifikationssystem Das Konzept der Zweigeschlechtlichkeit dient als Folie, um Medien zu beschreiben und zu bewerten (vgl. Klaus u.a. 2001b). Zentrale Kategorien zur Klassifikation der Massenmedien entspringen dem Dualismus von Hochkultur versus Trivialkultur sowie von Öffentlichkeit versus Privatheit und sind mit der Geschlechterhierarchie symbolisch verknüpft: Information und Unterhaltung, seriöser und seichter Journalismus, öffentliche und private Sender, rationales und emotionales Medienhandeln, Fakt und Fiktion. Solche Kategorien dienen der Konstruktion einer Wertehierarchie, verbunden mit der Abwertung des Populären. Der Trivialität verdächtigt werden insbesondere solche Genres, die auf weibliche Publika zielen, während für männlich konnotierte Medienangebote, wie z.B. die Sportberichterstattung, andere Maßstäbe gelten (Klaus/Röser 1996). Dieses Gendering in der Ideologie der Massenkultur veranschaulicht, dass es sich bei den ‚natürlich‘ erscheinenden Klassifikationen um implizite Setzungen im Rahmen der Dominanzkultur handelt. So ist es kein Zufall, dass speziell aus der Geschlechterforschung Impulse kommen, vorgeblich ‚objektive‘ Grundkategorien der Medien- und Kommunikationswissenschaft als normative Setzungen zu dekonstruieren und neue Ansätze zu erarbeiten (Klaus u.a. 2001b, Röser 2001, Lünenborg/Klaus 2000). Und neue Analysezugänge sind dringend er-
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forderlich, denn die Entwicklung der Massenmedien selbst hat gängige Dichotomien längst obsolet werden lassen.
Ausblick und Zukunft Neue Fragen durch Internet und Multimedia Die technische Architektur des Internet bricht mit den Strukturen herkömmlicher Massenmedien: Dezentralität, Unabgeschlossenheit, Interaktivität und damit verbunden die Aufhebung festgelegter RezipientInnen- und ProduzentInnenrollen gelten als Grundlage für Offenheit, Gestaltbarkeit und nicht-hierarchische Kommunikation über nationale und kulturelle Grenzen hinweg. Traditionelle Grenzen werden durchlässiger oder gar aufgelöst, was die Frage aufwirft, ob Multimedia die Geschlechterbeziehungen revolutioniert (Klaus 1997). So geben Fragen nach körperlicher Materialität bzw. Immaterialität oder gar der Verschmelzung von Mensch und Maschine (Haraway 1995) möglichen cyberfeministischen Transgender-Visionen Auftrieb. Doch ebenso begründet lässt sich umgekehrt fragen, ob Multimedia die Geschlechterdifferenz reorganisiert. Untersuchungen über Kommunikationsstile im Netz (Herring 1997) oder beispielsweise über Geschlechterkonstruktionen in Computerspielen (Richard 2001) enthalten viele Hinweise hierauf (vgl. a. Wischermann 2004). Die Analyse privater und beruflicher Anwendungspraxen von Frauen, die immer auch im Zusammenhang von Technik und Männlichkeit zu sehen sind (Dorer 2001), belegen die Ambivalenz. Für die Untersuchung des Internet bildet die Kritik an Dichotomisierungen einen produktiven Ausgangspunkt: Wie steht es um traditionelle Grenzziehungen, etwa zwischen Individualund Massenkommunikation, zwischen Privat und Öffentlich, zwischen alten und neuen Medien? Auch eine Kontextuierung im Spannungsfeld ‚herkömmlicher‘ Mediennutzung (Presse, Rundfunk, Fernsehen) und ‚neuer‘ Mediennutzung (via PC, Handy) steht noch weitgehend aus. Schließlich hat sich eine tiefgreifende Mediatisierung des häuslichen Alltags entwickelt: Im alltäglichen Medienhandeln entscheidet sich, welche Potenziale der digitalen Kommunikationstechnologien genutzt und welche geschlechtsgebundenen Strukturen dabei im ‚doing gender’ produziert oder unterlaufen werden. Besonders wichtig für die Geschlechterverhältnisse sind die Routinen und Praktiken im häuslichen Alltag, der sich durch neue Kommunikationstechnologien, den Trend zur Anschaffung von Zweit- und Drittgeräten und zu personalisierten Nutzungsanweisungen wandelt. Diese Entwicklung berührt in Bezug auf den häuslichen Kontext und das familiäre Zusammenleben auch die Gestaltung der Geschlechterbeziehungen, weil sich beispielsweise Raumaufteilungen verändern, Berufsarbeit in den Freizeitbereich eindringt, neue Erziehungsaufgaben zu bewältigen sind und das Familienleben fragmentierter verläuft (vgl. Morley 2001, Röser 2007).
Feministische Wissenschaftskritik Kommunikationswissenschaftliche Frauen- und Geschlechterforschung kommentiert den Mainoder Malestream des Faches und beleuchtet die Ausblendungen und blinden Flecken des Wissenschaftsdiskurses. Sie entwickelt dabei Ansatzpunkte für Wissenschaftsveränderung. Ihr wohl grundlegendster Beitrag zur Entwicklung der Kommunikations- und Medienwissenschaft liegt darin, dass sie sich mit problematischen Grenzen und Trennungen beschäftigt, durch die Machtbeziehungen fundiert werden. Weil Geschlechterforschung durch ihren Gegenstand immer die Schnittstellen zwischen Medien, Gesellschaft und Subjekt analysiert, sind ihre Befunde und
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Methoden besonders dort innovationsfähig, wo es um das Ineinandergreifen von gesellschaftlichen Strukturen, Medienkommunikation und subjektivem Handeln geht (vgl. Klaus u.a. 2006). Eine produktive Zweierbeziehung zwischen Kommunikationswissenschaft und ‚ihren‘ Gender Studies wäre somit möglich, weil die Geschlechterperspektive in vielen Teilbereichen der Kommunikationswissenschaft zu Revisionen und neuen Fragestellungen führt und dadurch zur Weiterentwicklung des Faches beitragen kann (Klaus u.a. 2001b). Dieses Potenzial wird im Fach bislang allerdings noch kaum wahrgenommen – auch aufgrund der mangelhaften Institutionalisierung der medienbezogenen Geschlechterforschung auf der Ebene von Professuren. Ob die Kommunikations- und Medienwissenschaft sich diesen Herausforderungen künftig stellt oder nicht, ist eine Frage ihres Erkenntnisinteresses wie ihres Modernisierungspotenzials. Verweise: Film Geschlechterstereotype Privatheit und Öffentlichkeit
Literatur Ang, Ien/Joke Hermes 1991: Gender and/in Media Consumption. In: Curran, James/Michael Gurevitch (Hrsg.): Mass Media and Society. London, New York, Melbourne, Auckland: Edward Arnold, S. 307-328 Angerer, Marie-Luise/Johanna Dorer (Hrsg.) 1994: Gender und Medien. Theoretische Ansätze, empirische Befunde und Praxis der Massenkommunikation. Ein Textbuch zur Einführung. Wien: Braumüller Bechdolf, Ute 1999: Puzzling Gender. Re- und Dekonstruktionen von Geschlechterverhältnissen im und beim Musikfernsehen. Weinheim: Beltz Deutscher Studien Verlag Cornelißen, Waltraud 1998: Fernsehgebrauch und Geschlecht. Zur Rolle des Fernsehens im Alltag von Frauen und Männern. Opladen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag Dorer, Johanna 2001: Internet und Geschlecht. Berufliche und private Anwendungspraxen der neuen Technologien. In: Klaus, Elisabeth/Jutta Röser/Ulla Wischermann (Hrsg.) 2001: Kommunikationswissenschaft und Gender Studies. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 241-266 Dorer, Johanna/Brigitte Geiger (Hrsg.) 2002: Feministische Kommunikations- und Medienwissenschaft. Ansätze, Befunde und Perspektiven der aktuellen Entwicklung. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag Faulstich, Werner (Hrsg.) 1998: Grundwissen Medien. 3. Aufl. München: Fink Haraway, Donna 1995: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt/M., New York: Campus Herring, Susan 1997: Geschlechtsspezifische Unterschiede in computergestützter Kommunikation. In: Feministische Studien, Nr. 1/15, S. 65-76 Keil, Susanne 2001: Medienfrauen in Führungspositionen. ‚Gibt es einen weiblichen Journalismus?‘ – revisited. In: Klaus, Elisabeth/Jutta Röser/Ulla Wischermann (Hrsg.): Kommunikationswissenschaft und Gender Studies. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 144-162 Klaus, Elisabeth 1997: Revolutioniert Multimedia die Geschlechterbeziehungen? In: Feministische Studien, Nr. 1/15, S. 7-20 Klaus, Elisabeth 1998: Kommunikationswissenschaftliche Geschlechterforschung. Zur Bedeutung der Frauen in den Massenmedien und im Journalismus. Opladen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag (2. aktualis. Auflage 2005. Münster, Hamburg: Lit Verlag) Klaus, Elisabeth/Jutta Röser/Ulla Wischermann (Hrsg.) 2001a: Kommunikationswissenschaft und Gender Studies. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag Klaus, Elisabeth/Jutta Röser/Ulla Wischermann 2001b: Kommunikationswissenschaft und Gender Studies: Anmerkungen zu einer offenen Zweierbeziehung. In: Dies. (Hrsg.): Kommunikationswissenschaft und Gender Studies. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 7-19 Klaus, Elisabeth/Jutta Röser/Ulla Wischermann 2006: Frauen- und Geschlechterforschung: Zum Gesellschaftsbezug der Publizistik und Kommunikationswissenschaft. In: Publizistik, Sonderheft 5, S. 354-369 Klaus, Elisabeth/Jutta Röser 1996: Fernsehen und Geschlecht. Geschlechtsgebundene Kommunikationsstile in der Medienrezeption und -produktion. In: Marci-Boehncke, Gudrun/Petra Werner/Ulla Wischermann (Hrsg.): BlickRichtung Frauen. Theorien und Methoden geschlechtsspezifischer Rezeptionsforschung. Weinheim: Deutscher Studien Verlag, S. 37-60
Medien- und Kommunikationsforschung
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Film: Feministische Theorie und Geschichte
Die Auseinandersetzung mit dem Film aus feministischer Sicht konzentriert sich auf die beiden Schwerpunkte Theorie und Geschichte. Einerseits geht es darum, Repräsentationen von Weiblichkeit in unterschiedlichen filmischen Formen theoretisch zu erfassen, zum anderen um die Filmarbeit von Frauen in Geschichte und Gegenwart, vom Mainstream- bis zum AvantgardeKino. Beide Interessen sind in verschiedenen Phasen feministischer Filmwissenschaft und -kritik unterschiedlich eng miteinander verzahnt; will man die Entwicklung mit oberflächlichen Schlagworten grob zusammenfassen, stellt sie sich wie folgt dar: Aus der Auseinandersetzung mit dem gegenwärtigen Frauenkino und der Kritik am Mainstreamkino löste sich ein theoretischer Diskurs, der dann wiederum Eingang in historisch orientierte Untersuchungen fand. Die gegenwärtige Situation ist durch einen Pluralismus, nicht durch eindeutige Schwerpunktsetzungen charakterisiert. Exemplarisch dokumentiert ist diese Entwicklung in den feministischen Filmzeitschriften: 1972 wurde in Los Angeles „Women and Film“ gegründet (eingestellt 1976), 1974 „Frauen und Film“ in Berlin; die Beziehungen zwischen Frauen und Kino wurden hier in den unterschiedlichsten Formen diskutiert. Es ging um die Auseinandersetzung mit dem herrschenden Kino, mit den Möglichkeiten für Frauenfilme, aber auch um die Reflexion des Schreibens über Filme. Die Wendung zur Wissenschaft, in den USA 1974 durch die Abspaltung eines Teils der „Women and Film“-Redaktion mit der Neugründung „Camera Obscura“ vollzogen, nahm „Frauen und Film“ mit einem neuen Redaktionskollektiv 1983 vor. Die Entwicklung akademischer Filmwissenschaft und feministischer Filmtheorie und -kritik gingen Hand in Hand; sowohl in den USA wie in Deutschland gehören Frauen zu den wesentlichen BegründerInnen der Filmwissenschaft. Von Anfang an gab es einen regen Austausch zwischen angloamerikanischen und deutschen Kritikerinnen und Wissenschaftlerinnen, und insbesondere die deutschsprachige Theoriebildung hat immer die Entwicklungen des angelsächsischen Raums mit einbezogen.
Semiotik und Psychoanalyse Von zentraler Bedeutung für die feministische Filmwissenschaft war Laura Mulveys (1975) Artikel „Visual Pleasure and Narrative Cinema“, der eine theoretische Entwicklung ins Rollen brachte, die etwa ein Jahrzehnt die Diskussion bestimmte. Gerade aufgrund seiner Radikalität bot dieser unendlich oft zitierte Aufsatz immer wieder neue Anreize zu Weiterführung, Widerspruch und Problemlösungsversuchen. Gemeinsam mit Claire Johnstons (1973) ebenso grundlegendem, aber längst nicht so einflussreichem Artikel „Women’s Cinema as Counter Cinema“ markiert Mulveys Text die Wende von einer Untersuchung filmischer Inhalte zur Analyse filmischer Repräsentationsformen im klassischen Kino. Beide Autorinnen arbeiten heraus, dass das Bild
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der Frau im Kino sich nicht auf „Frauen“ als Referenz bezieht, sondern eine ganze Reihe anderer Bedeutungen signifiziert; der wirkliche Gegensatz, den die filmischen Zeichen setzen, heißt nicht ‚männlich/weiblich‘, sondern ‚männlich/nicht-männlich‘. Insbesondere Mulveys Argumente, entwickelt vor dem Hintergrund der Psychoanalyse Freuds und Lacans, stellten eine Methode bereit, das Hollywood-Kino kritisch zu durchdringen und als Artikulation des patriarchalen Unbewussten zu interpretieren. Gleichzeitig gab die Rigorosität, mit der Mulvey die Möglichkeiten einer weiblichen Subjektivität aus dem Filmtext ausschloss, Anlass zur Kritik und löste eine lang andauernde Diskussion um den Ort der Frau im Kino aus. Die Geschichte der Liebe der Frauen zum Kino, die Begeisterung von Zuschauerinnen selbst für anscheinend repressivste Melodramen, ihre unbezweifelbare Lust am Kino wurden in der Nachfolge von Mulveys Artikel zum bestimmenden Thema der feministischen Filmtheorie. Wäre der Allgemeingültigkeitsanspruch von Mulveys Paradigma berechtigt, so ließe sich weibliche Zuschauerschaft nur als fehlgeleitete Identifikation mit Herrschaftsstrukturen interpretieren. Die Unzulänglichkeit dieser Position führte zu einer Vielzahl von Gegenentwürfen in der Theoretisierung sowohl von Repräsentationsstrukturen wie von weiblicher Zuschauerschaft, von denen ich nur kurz die wichtigsten benennen möchte: die Kritik der Narration als ödipaler Konstruktion (vgl. De Lauretis 1984, 1990), das Konzept der Maskerade als flexibler Performanz von Weiblichkeit (vgl. Doane 1985, 1987), die grundlegende Infragestellung der zentralen Bedeutung des Ödipalen (vgl. Studlar 1985, 1988), Konzepte alternativer Erzählformen im frühen Kino und in der feministischen Avantgarde (vgl. Mayne 1986, 1990), die Theoretisierung multipler Zuschauerpositionen und Geschlechtsrollen (vgl. Creed 1993, Clover 1992), ‚abweichender‘ Repräsentationsformen männlicher Sexualität (vgl. Hansen 1982, Silverman 1992), sowie Konstruktionen nicht-ödipaler, mütterlicher Macht im Kino (vgl. Brauerhoch 1996).
Phantasie, Gesellschaft, Geschichte Nach wie vor bildet die Zuschauertheorie einen Dreh- und Angelpunkt der feministischen Filmtheorie. Aber die Annahme, die Position der Zuschauerin vom Text her erschließen zu können, wurde zunehmend fragwürdiger, auch innerhalb des angloamerikanischen Diskurses. Nicht die empirische Zuschauerforschung war die Alternative, sondern die Entwicklung von Konzepten zur Zuschauerin (bzw. zum Zuschauer), die der scheinbar überzeitlichen universellen Macht des Textes entgegentreten konnten. Nur so war es möglich, unterschiedlichen historischen und lokalen Rezeptionsformen Rechnung zu tragen. Hatte sich die von Lacan beeinflusste feministische Filmtheorie vor allem auf das klassische Hollywood-Kino und auf ein weißes, heterosexuelles Publikum bezogen, so wurde dies erweitert, indem man sich dem Kino aus anderen Perspektiven näherte und nach anderen Rezeptionsformen fragte, etwa von homosexuellen ZuschauerInnen oder von schwarzen Frauen. Solche Perspektivierungen lassen sich nicht als Fragen nach ‚Abweichendem‘ qualifizieren; sie relativieren vielmehr den Verbund zwischen dem klassischen Hollywood-Kino und einem weißen Mittelschichtpublikum zu einer historischen Variante der Filmrezeption. Die für die feministische Filmtheorie immer bedeutender werdende Forschung auf dem Gebiet der Filmgeschichte fand wesentliche Grundlagen und Perspektiven in der Kritischen Theorie, die bereits in den 1980er Jahren neben den psychoanalytischen Ansätzen eine wichtige Rolle gespielt hatte. Während das Interesse an filmischen Alternativen zum Mainstream-Kino sich im angloamerikanischen Raum auf den Avantgarde-Film konzentriert hatte, spielte für eine Politik des Frauenfilms in der BRD die Auseinandersetzung mit der in der Tradition der Kritischen Theorie stehenden Autorenfilm-Diskussion eine wichtige Rolle. Bei aller Kritik und Ablehnung der autoritären Aspekte war die im Autorenmodell thematisierte gesellschaftliche Vermittelheit der eigenen Subjektivität auch ein zentrales Anliegen der Frauenbewegung. Der Autorenfilm
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setzte auf die Mobilisierung der „Produktivkraft Zuschauer“ (Kluge 1965), auf seine aktive Mitwirkung, womit nicht allein eine kritische Auseinandersetzung mit dem Film gemeint war, sondern vor allem der Beitrag, den die Phantasie der ZuschauerInnen zur Rezeption leistet. Aus diesem Kontext entwickelte die feministische Theorie das Konzept einer „aktiven Zuschauerin“, die im Kino immer schon eine eigene kreative Produktivität auslebt, auch wenn sie vom Film nicht ausdrücklich dazu aufgefordert wird. Für den theoretischen Entwurf einer solchen ZuschauerHaltung schlug Gertrud Koch (1984) den Rückgriff insbesondere auf die phänomenologischen Konzepte der Kritischen Theorie vor, die einen Ansatz zur Entfaltung einer vor-symbolischen „stofflichen“ Filmwahrnehmung bieten. Im Verlauf der feministischen Theoriebildung kristallisierte sich immer stärker die Bedeutung heraus, die die Frühzeit der Filmgeschichte – bis etwa 1917 – für einen positiven Bezug der Frauen zum Kino hatte. Das Kino bildete die seit Jahrhunderten erstmalige Gelegenheit für Frauen, sich außer Haus allein zu vergnügen; mit diesem eigenständigen Frauenanteil bildete sich im Kino eine gänzlich neue Publikumsstruktur, eine neue öffentliche Sphäre (vgl. Hansen 1991). Insbesondere Heide Schlüpmann (1990) arbeitete heraus, dass die Bedürfnisse des modernen Massenpublikums, in dem sich Klassen und Geschlechter mischten, mit Filmprogrammen beantwortet wurden, deren heterogene Strukturen durchlässig waren für neue Rezeptionsformen, die in der bürgerlich-patriarchalen Kultur bisher keinen Raum gefunden hatten. Für dieses Kino spielte das weibliche Publikum eine weitaus gewichtigere Rolle als für das spätere Erzählkino, dessen Strategien vor allem auf eine Einschränkung von Spontaneität abzielten.
Gegenwärtige Situation Seit dem Ende der 1980er Jahre durchmischt sich das Feld feministischer Filmtheorie immer stärker mit Problemen der Ethnizität, des Postkolonialismus und des Multikulturalismus (vgl. z.B. Hooks 1992); ein weiteres Forschungsfeld sind die ‚Queer Studies‘ bzw. die Auseinandersetzung mit lesbischem Begehren (vgl. z.B. De Lauretis 1994). Beide Gebiete teilen das Interesse an der Theoretisierung und Analyse von Differenzierungen dessen, was unter ‚weiblich‘ verstanden wurde und setzen damit die feministischen Ansätze in Bezug zu einer Vielzahl anderer psychosozialer Ausgrenzungs- und Differenzierungsstrategien. Für weitere Entwicklungen zeichnen sich zurzeit zwei Tendenzen ab: zum einen die Fortführung filmhistorischer Forschungen über die Periode des frühen Kinos hinaus, zum andern die verstärkte Bezugnahme auf philosophische Traditionen. Renate Lipperts (2002) Studie „Vom Winde verweht“, Heide Schlüpmanns (1998a, b, 2002) Publikationen zu Philosophie und Kino und Annette Brauerhochs (2006) Untersuchung zu „Fräuleins und GIs“ untersuchen den Zusammenhang zwischen weiblicher Subjektivität und Kino jeweils aus psychoanalytischer, historischer und philosophischer Perspektive – wobei sich aber immer Theorie und Geschichte verbinden. Einen neuen filmhistorischen Weg beschreitet Annette Brauerhoch (2006) in ihrer Untersuchung über das ‚Fräulein‘ als einer Figur von zentraler sexualpolitischer und kulturgeschichtlicher Bedeutung für die Nachkriegszeit. Zusammen mit einer Vielzahl von Quellen-Materialien interpretiert sie erfolgreiche, aber auch abseits des Mainstreams liegende Spielfilme mit dem Interesse, das Verdrängungspotenzial der Nachkriegszeit zu durchdringen. Brauerhoch verstößt damit gegen die (immer noch) gängige Praxis, Filme nach ihrem Wert als ‚Werke‘ zu beurteilen; ihr geht es um eine spezifische Qualität des Filmischen, nämlich die Sichtbarmachung von Materialität und Körperlichkeit. Unter dieser Perspektive besitzt die Verkrampftheit, Erstarrung, aber auch deren gelegentliche Durchbrechung in den Nachkriegsfilmen gerade für Sexualverhältnisse eine Aussagekraft auf der sinnlich-materiellen Ebene und erschließt ganz andere Bereiche als schriftliche Zeitzeugnisse. Eine weitere Tendenz der neueren feministischen Filmtheorie analysiert die philosophischen Bezüge des Kinos. Gefragt wird nach grundsätzlichen Qualitäten des Kinos, die man ‚Erkennt-
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nismöglichkeiten‘ nennen könnte, nach Formen der Erkenntnis, die durch sinnliche Wahrnehmung, Emotion und Phantasie vermittelt werden. Im Zentrum des Interesses stehen dabei nicht überzeitliche, abstrakt philosophische Konstruktionen, sondern die Bezugnahme auf den historischen Ort des Kinos, der gekennzeichnet ist durch den Zusammenbruch einer begrifflichen Welterschließung und der damit verbundenen Subjektkonstruktionen. In diesem Zusammenhang lässt sich das Kino zu den Gedächtnistheorien der letzten Jahrhundertwende in Beziehung setzen, die eine Art körperlich vermitteltes Erkennen entwerfen, das seine eigentliche Entfaltung erst für die Zuschauerin im Kino finden kann. Für Gedächtnistheorien um 1900, zur Zeit des frühen Kinos, sind nicht Probleme der Speicherung von Gedächtnisinhalten von Interesse, sondern ganz grundsätzlich das Problem, wie es überhaupt möglich sein kann, dass Körperliches (Materielles) Geistiges transportieren, wenn nicht gar produzieren könne. Das Gedächtnis wird also deshalb relevant, weil es nun nicht mehr möglich ist, die körperlichen Bedingungen bzw. Grundlagen des Geistigen außer Acht zu lassen. Die im Kino stattfindende gegenseitige Durchdringung von Technik, Öffentlichkeit und Imagination bildet eine Parallele zu den Gedächtniskonzeptionen mit ihrer Vermischung von Körper und Geist und ihrer Überschreitung des individuellen Einzelnen. Das Kino ermöglicht ein dezentriertes ,Denken‘, in dem Phantasie und Wahrnehmung sich verbünden und aus dem Material der Vergangenheit schöpfen. Für das weibliche Publikum, das in der Frühzeit des Kinos eine tragende Rolle hatte, lässt sich aus diesem Zusammenhang eine besondere epistemologische Qualität des Kinos erschließen (vgl. Klippel 1997). Eine Vorgeschichte des für das Kino spezifischen Moments der Wahrnehmung und seiner besonderen Bedeutung für die Frauen entwickelte Heide Schlüpmann (1998a) ausgehend von der philosophischen Ästhetik. Mit Nietzsche ist die Rückgewinnung einer Wahrnehmung möglich, die nicht durch die objektivierende Dominanz des („männlichen“) Blicks strukturiert ist und die sich durch eine Philosophie der Ohnmacht (bzw. durch die Ohnmacht der Philosophie) theoretisch fassen lässt – um nur auf einen Aspekt dieser vor-kinematographischen Philosophie zu verweisen. In einem zweiten Band erweitert Schlüpmann (2002) den Horizont ins 20. Jahrhundert hinein und lässt die Philosophie sich im Kino wiederfinden. Eine solche Einreihung des Kinos in die Philosophie hat für die feministische Theorie zweierlei Konsequenzen: Zum einen unterminiert sie traditionelle Auffassungen der Philosophiegeschichte und durchbricht damit einen patriarchalen Repressionszusammenhang, zum zweiten legitimiert sie das Kino als Organ der Forschung selber. Für eine feministische Wissenschaft ist das Kino weniger Objekt, sondern Quelle des Erkennens von Zusammenhängen, die auf andere Weise unzugänglich bleiben, und dies in all seinen Formen, Genres und historischen Erscheinungsweisen, in der ganzen Bandbreite zwischen Spielfilm, Dokumentar- und Experimentalfilm. Die Bedeutung des Massenmediums Kino für die Frauen führt Heide Schlüpmann im dritten Band ihrer Philosophie des Kinos (Schlüpmann 2007) fort in das digitale Zeitalter und stellt die „Frage nach dem Guten des Kinos“ (Schlüpmann 2007: 14) in einem historisch-theoretischen Kontext, der sich von Problemen der Moral glaubt verabschieden zu können.
Ausblick Die feministische Filmwissenschaft ist inzwischen in eine Vielzahl von Kontexten integriert, vor allem in den Cultural Studies, der Medienwissenschaft und den Gender Studies. Ihre Konzepte und Theorien haben diese neueren Theorien mit geprägt und entwickeln sich mit oder in Abgrenzung zu ihnen weiter. Filmwissenschaftlerinnen weisen ihre neueren Publikationen oft nicht mehr explizit als feministisch aus, sondern bringen ihre feministischen, filmkritischen Ansätze in breitere Themenstellungen ein, als selbstverständliche Vertretung einer emanzipatorischen Wissenschaft – auch wenn dies keinesfalls bedeutet, dass sie mit der gleichen Selbstverständlichkeit
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im akademischen Kontext akzeptiert würden. Die institutionelle Einbindung der Filmwissenschaft in die Medienwissenschaft ist nicht spannungsfrei, denn während Filmwissenschaft wesentlich von feministischer Theoriebildung mitbestimmt war, bildet Genderforschung – als Nachfolgerin feministischer Forschung – nur eines von vielen medienwissenschaftlichen Untersuchungsgebieten. Eine Problematisierung des Zusammenhangs von Frauen, Film und Medien bieten die Ausgaben von „Frauen und Film“ Nr. 64 und 63 (2004, 2006); hier werden film- und medienwissenschaftliche Positionen im Zusammenhang mit film- und medientechnischen Entwicklungen diskutiert. Zukünftige Forschungsansätze der feministischen Filmtheorie liegen nach wie vor im Bereich der Filmgeschichte, der Rezeptionstheorie und der Philosophie, beispielsweise der Phänomenologie, der Wahrnehmungstheorie und der Philosophie der Zeit. Die Verbindungen zwischen Zeitstrukturen und deren Reflexion im Film ist Thema einer neueren Publikation, die den Schwerpunkt auf Zeiterfahrung im Alltag von Frauen setzt (Klippel 2008b). Auch der Programmbegriff im Kino ist ein aktueller Forschungsgegenstand, denn Programmgestaltung ist sowohl in der Arbeit von Kuratorinnen wie auch für die Geschichte des weiblichen Publikums von besonderer Bedeutung (Klippel 2008). Eine filmhistorische Untersuchung von Andrea Haller zum Thema „Weibliches Publikum, Programmgestaltung und Veränderungen der Rezeptionshaltung im früheren Kino 1906 bis 1918“ wird im Frühjahr 2009 erscheinen. Ein weiteres Spannungsfeld und eine neue Herausforderung bildet der Übergang von traditioneller Filmtechnik zum Digitalen. Die 16mm-Filmtechnik, die lange Zeit von zentraler Bedeutung für ein politisches Frauenkino war, existiert seit über zehn Jahren bereits nicht mehr, und die 35mm-Filmtechnik, deren Ästhetik eine wesentliche Grundlage für die Zuschauerinnen-Theorien darstellte, wird schrittweise von digitalen Technologien abgelöst. Dies sind Herausforderungen, denen feministische Filmtheorie sich stellen muss bei der Frage nach emanzipatorischen Bildwelten und der Bedeutung des Kinos für das weibliche Publikum. Verweise: Feministische Philosophie Künstlerin/Kunstgeschichte Medien- und Kommunikationsforschung
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Kristina Reiss
Linguistik: Von Feministischer Linguistik zu Genderbewusster Sprache
„Eine neue Sprache muß eine neue Gangart haben, und diese Gangart hat sie nur, wenn ein neuer Geist sie bewohnt“ (Ingeborg Bachmann). Feministische und genderspezifische Erkenntnisinteressen im soziolinguistischen Bereich stehen in engem Zusammenhang mit aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen und bildeten sich im Kontext sozialpolitischer Transformationsprozesse heraus. Gesellschaftspolitische Entwicklungen der letzten Jahrzehnte – wie die Phase der Zweiten Frauenbewegung – bilden den Hintergrund für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Sprache und Geschlecht, zumal soziale und gesellschaftliche Geschlechterverhältnisse auf sprachlich diskursiv hergestellten Herrschaftsmechanismen beruhen, die die bestehende Ordnung weitestgehend naturalisiert erscheinen lassen. Im Zuge der Zweiten Frauenbewegung begannen in den 1970er Jahren zahlreiche – vor allem US-amerikanische Linguistinnen –, sich ‚einer Fremdheit in der Muttersprache‘ bewusst zu werden. Die Existenz und Gültigkeit binärer, hierarchischer Geschlechterdifferenzierung wie symbolische (sprachliche) Repräsentationsweisen (vgl. Cameron 1995a, b) werden grundlegend hinterfragt. Sprachwissenschaftlerinnen wie Cheris Kramerae, Robin Lakoff, Nancy Henley, Dale Spender u.a. setzten sich auf theoretischer Ebene mit dem Zusammenhang von Sprache und Geschlecht sowie mit den komplexen wie subtilen Diskriminierungsweisen von Frauen durch Sprache auseinander. Zahlreiche Publikationen feministischer Sprachkritik, wie z.B. „Language and Women’s Place“ von Robin Lakoff (1973) oder „Language and Sex: Difference and Dominance“ von Barrie Thorne und Nancy Henley (1975), erschienen in diesem Kontext und begründeten das Forschungsgebiet der „Feministischen Linguistik“. Zu den feministischen Pionierinnen zählen unter anderen die französischsprachigen Sprachphilosophinnen Luce Irigaray und Julia Kristeva. Nicht zuletzt unter Einfluss jener US-amerikanischen und französischen Sprachkritikerinnen traten Anfang der 1980er Jahre deutsche Linguistinnen wie Luise Pusch, Senta Trömel-Plötz, Marlies Hellinger, Karsta Frank, Ursula Pasero, Friederike Braun oder Gisela Schoenthal in die Auseinandersetzung um soziale Wirkungsmechanismen der Kategorie Geschlecht in Sprache und Sprachgebrauch. Schließlich wurde die Feministische Linguistik, maßgeblich von der Frauenbewegung der BRD in den 1970er und 1980er Jahren initiiert, von den Sprachwissenschaftlerinnen Luise Pusch und Senta Trömel-Plötz als Forschungsgegenstand an deutschen Universitäten eingeführt: „Feministische Linguistik entstand, als bestimmte Linguistinnen feministische Ideen auf ihre eigene Wissenschaft anwendeten“ (Trömel-Plötz 1993: 33). Feministische Linguistik bzw. Linguistische Geschlechterforschung führte die Kategorie „Geschlecht“, im Sinne von „Gender“ verwendet, als Analysekategorie in die Linguistik ein. Sie machte Zusammenhänge zwischen „Sprache“ und „Geschlecht“ bewusst und latente „Vergeschlechtlichungen“ im sprachlich-kommunikativen Bereich transparent. Die Kritik der in Deutschland etablierten feministischen Linguistik konzentrierte sich in ihren Anfängen auf Ausprägungen von Sexismus im alltäglichen Sprachgebrauch. Im Rahmen die-
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ser Kritik wurde analysiert, dass Sprache patriarchale Denkmuster widerspiegelt wie produziert. Pusch (1984) identifiziert einen latenten Androzentrismus, der unter anderem im generischen Maskulinum situiert ist, als Wesensmerkmal des deutschen Sprachsystems. Die diskriminierende Verwendung von Sprache gegenüber Frauen wird thematisiert: Eine Sprache, die Frauen in geschlechtsstereotypen Rollen zeigt, Frauen in Abhängigkeit von männlichen Personen darstellt, die Frauen und ihre Leistungen ignoriert bzw. ausschließt oder Frauen degradiert bzw. auf bestimmte Merkmale und Fähigkeiten reduziert, wird aus Sicht feministischer Linguistik als sexistisch eingeschätzt (vgl. Guentherodt u.a. 1980). Transformationen von Sprachgebrauchsweisen gelten als Option, negativen Machtwirkungen die Angriffsflächen zu entziehen (vgl. Pusch 1984). Feministische Linguistik zielt auf einen Wandel von Sprache und implizit auf einen veränderten Umgang mit Macht (vgl. Arendt 1970). Intention ist die Schaffung von Optionen zur sprachlichen Definition weiblicher Personen und zugleich die Möglichkeit der Selbstdefinition innerhalb von Sprache und ihren Strukturen (vgl. Schräpel 1985). Nichtsexistisches im Sinne nichthierarchischen Sprachverhaltens soll in bestehende Sprachnormen intervenieren: Feministische Linguistik intendiert somit die Etablierung einer Sprache, die nichtsexistisch kodiert ist. In den 1970er Jahren festigte sich die Erkenntnis, dass die Kategorie „Geschlecht“ weniger biologischer Parameter, sondern eine weitgehend sozial determinierte Kategorie ist. Diese Erkenntnis gewann in der öffentlichen Diskussion um die Gleichstellung der Geschlechter zunehmend an Bedeutung und schlug sich insbesondere in offiziellen Richtlinien zu geschlechtergerechtem Sprachgebrauch nieder. Da Sprachverhalten als konstitutiv für Geschlechterrollenverhalten verstanden wurde, erhielt das Verhältnis von Sprache und Geschlecht gesellschaftliche und politische Relevanz. Sprache beinhaltet und prägt sprachliche Denkmuster, die männliche Werte als Norm setzen und somit die Dominanz des Männlichen als soziale Kategorie fördern (vgl. Spender 1980). Die Manifestation des Status quo der Genderhierarchie wird auf der Ebene von Sprache vollzogen, insofern Sprache als wirklichkeitskonstruierende Instanz verstanden wird. Die Linguistinnen Luise F. Pusch und Senta Trömel-Plötz arbeiteten Anfang der 1980er Jahre heraus, dass vermittels Sprache, bestehender Sprachstrukturen und Sprachverhaltensweisen Herrschaft über Frauen ausgeübt wird. Die Anfänge feministischer Linguistik sind – wie die feministische Bewegung insgesamt – durch eine „ ,Frau als Opfer‘-Perspektive“ geprägt (vgl. Pusch 1984, Trömel-Plötz 1985), deren Minderwertigkeit und Abhängigkeit sich in sprachlicher Unsicherheit, Submission und Anpassung und Abhängigkeit vom männlichen Geschlecht manifestiert. Kennzeichnend für diese Phase Feministischer Linguistik sind jedoch auch methodische Mängel und einseitige Generalisierungen. So gehen die Forderungen, das Geschlecht einer Person eindeutig zu benennen, zumeist von einer Gleichsetzung von Genus und Sexus aus, wenn sie einfordern, das Geschlecht einer Person eindeutig zu benennen. Entsprechend lautet die von Pusch (1984) favorisierte und propagierte feministische Kongruenzregel, dass auf weibliche Personen nur mittels femininer Personen- und Berufsbezeichnungen referiert werden soll. Wiederum findet eine Vermischung der grammatikalischen und außersprachlichen Ebene statt – sofern sich diese Ebenen überhaupt klar voneinander abgrenzen lassen –, ohne die Vorstellung eines „natürlichen“ Geschlechts zu hinterfragen. Sprache ist niemals neutral, sondern stets ein Politikum. Was und wie gesprochen wird, ist von besonderer Bedeutung, da Sprache stets gesellschaftspolitisches Handeln ist. Sprachkritik und Empathie, d.h. ein zunehmend kritisch-intensives Wahrnehmen und bewusst-reflektiertes ‚Erleben‘ von Sprache und Sprachhandlungen, werden zu Strategien der Infragestellung gesellschaftlicher wie genderspezifischer Hierarchien. Feministische Linguistik intendiert vielfältigere offene Handlungsmöglichkeiten weiblicher Personen durch das Infragestellen und die Auflösung dichotomer stigmatisierender Genderattribuierungen. Günthner/Kotthoff (1992) beschreiben das Anliegen feministischer Linguistik als Kritik und Überwindung rigider und ungleicher Macht-
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verhältnisse zur Transparenz kommunikativer Strukturen. Irigaray (1993) betont die Veränderung und Vervielfältigung von Sprachmöglichkeiten, in denen weibliche Personen sich als agierende Subjekte situieren können.
Diskursiv produzierte Subjektivität Genderspezifische Theoriedebatten der 1980er und 1990er Jahre haben sowohl die Schaffung als auch die Sensibilisierung eines Bewusstseins bewirkt, in dem Geschlecht nicht als „natürliches“ Phänomen, sondern als in und von gesellschaftlichen Strukturen und Diskursen produzierte Kategorie betrachtet wird. Pam Gilbert (1989) betont, dass Subjekte durch Sprache nicht bloße Ausdrucksfähigkeit erhalten, sondern Sprache und Sprachverwendung Subjektivität erst produzieren. Das bedeutet: Sprache spricht das Subjekt. Ausschließungspraxen funktionieren auf subtile und implizite Weise, wenn „auf verschiedenen Ebenen des Diskurses, der Sprache, in der Metaphorik des wissenschaftlichen Vokabulars, in einem Bereich von Bedeutungen, die konnotativ informell, unbewusst oder als selbstverständlich vorausgesetzt“ (List 1993: 8), genderspezifische Hierarchien vermittels sprachlicher Ausschlussmechanismen reproduziert werden. Die Feministische Linguistik kritisiert, dass Sprache in ihrem aktuellen Entwicklungsstand aufgrund sprachstruktureller Merkmale weibliche Lebensentwürfe und -erfahrungen systematisch inadäquat bzw. verzerrt kommuniziert. In der Konsequenz werden umfangreiche Richtlinien für einen nichtsexistischen, „politisch korrekten“ Sprachgebrauch erstellt und im öffentlichen Sprachgebrauch größtenteils auch sprachpraktisch vollzogen. Diese reduzieren sich jedoch zumeist auf Personen- und Berufsbezeichnungsformen. Ohne deren hohe Bedeutung zu vernachlässigen, gilt es die Aufmerksamkeit gleichfalls auf die Inhalte der aktuellen verschiedenen Diskurse zu konzentrieren, gilt es genderspezifische, -hierarchisierende und -exkludierende, aber auch altersspezifische, kulturell-ethnische, soziale, religiöse und weitere Attributionen als bedeutungsvolle und einflussreiche Größen kritisch in die Analyse zu implementieren. Das erfordert, sowohl die diskursiv produzierte inhaltsbezogene Ebene als auch sprachlich-formale Ebene kritisch zu reflektieren (vgl. Irigaray 1993). Diskursiv erzeugte Geschlechterdifferenzen dienen der Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung, nicht zuletzt aufgrund ihrer engen Verknüpfung mit weiteren Kategorien wie Ethnie, sozialer Schicht oder Alter, die sich durch ihre Verankerung in Sprachstrukturen Veränderungen entziehen. Die soziale Konstitution des weiblichen Subjekts durch die Problematisierung von „Frau“ als diskursiv konstituierter Kategorie gerät verstärkt in das Blickfeld kritischer Betrachtung. Sylvester/Bleiker (1997) verweisen auf die sprachliche Double-bind-Situation von Frauen, wenn sie sich der „gültigen“ Sprache, die auf Strukturen von sozialen Ausschlussmechanismen basiert, bedienen (müssen), die zugleich jedoch Gegenstand ihrer Kritik ist. Dies erfordert von Frauen permanent eine höchst komplexe soziosprachliche Pendelbewegung zwischen Identifikation mit dominierenden Strukturen bei gleichzeitiger Abgrenzung von denselben (vgl. Nadig 1992: 165). Denn dazu müssen sie den Ort einnehmen, von dem aus gesprochen wird, und dort sind sie immer schon die Beschriebenen. Implizit ist andererseits die Chance für einen reflexivexperimentellen Umgang mit Sprache eröffnet.
Kritik an feministischer Linguistik Nach fast drei Jahrzehnten feministischer Linguistik in den alten Bundesländern, resümiert Gorny (1995), sei der Diskussionsstand festgefahren, wiederholten sich die Argumente und Gegenargumente in fast ritualisierter Weise (vgl. Reiss 2007).
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Die Linguistin Antje Hornscheidt stellt rückblickend fest: „Die Feministische Linguistik war zu großen Teilen in der paradoxen Situation verfangen, linguistische Analysen von innen heraus, das heißt von einem strukturalistischen Standpunkt aus, auf eine Art und Weise zu kritisieren, die eine solche Herangehensweise gleichzeitig jedoch in Frage stellt: Die Feministische Linguistik strebt eine Veränderung des Sprachsystems an in ihren Bemühungen um eine nichtsexistische Sprache und geht in ihren Argumentationen gleichzeitig über die sprachsystematische Ebene hinaus, ohne damit die notwendige grundsätzliche Kritik an einer strukturalistischen Linguistik zu formulieren.“ (Hornscheidt 1998: 169)
Die Infragestellung eines „natürlichen“ Geschlechts und die Frage der sprachlichen Benennung von Geschlecht(ern) legen nahe, postmoderne feministische Theorien, die sich mit der De-Konstruktion von Geschlecht und Geschlechterverhältnissen auseinandersetzen, in die feministischlinguistische Diskussion um das Verhältnis von Genus und Sexus einzubeziehen. Poststrukturalistische Ansätze von Butler (1991, 1997), Hirschauer (1993) oder Maihofer (1995), die insbesondere seit den 1990er Jahren zunehmend die sozialwissenschaftliche Gender- bzw. Geschlechterforschung prägen, gehen davon aus, dass soziale Strukturen und gesellschaftliche Konventionen in der sozialen Praxis durch Handlungen der Subjekte „produziert“, konstruiert und reproduziert werden. Die Diversität dieser Ansätze fordert zu neuer Reflexion heraus, Geschlecht und Geschlechterverhältnisse nicht nur als historisch Entstandenes, sondern gleichzeitig als etwas in alltäglichen Handlungspraxen fortwährend Konstruiertes und performativ Erzeugtes zu begreifen (vgl. Reiss 2007). Die US-amerikanische Sprachphilosophin Judith Butler (1991, 1997) hat Anfang der 1990er Jahre in ihren Forschungsarbeiten darauf verwiesen, dass Genderkategorien keineswegs naturgegeben oder statisch sind, sondern kulturell produzierte Systeme repräsentieren und von herrschenden Diskursen re/produziert werden. Butler betont, dass die Voraussetzung eines vordiskursiven, biologischen Geschlechts selbst einen Machteffekt des Diskurses reproduziere. Diese diskurstheoretisch-dekonstruktivistische Position Butlers, Geschlecht als rein diskursives Konstrukt zu betrachten, rief zahlreiche Gegenreaktionen hervor, da mit der Auflösung der Kategorie „Geschlecht“ das Verschwinden des Subjekts „Frau“ befürchtet wurde (vgl. u.a. Duden 1993). Auch Margret Jäger (2000) hinterfragt die enge Sprachauffassung feministischer Linguistik, wenn diese die Benachteiligung von Frauen primär an Wörtern und Sätzen festzumachen versucht. Dass neben Dominanzen und hierarchischen Strukturen zwischen Männern und Frauen Ungleichheiten zwischen Schichten, Generationen, Angehörigen verschiedener Ethnien etc. gleichermaßen Determinanten hinsichtlich der Positionierungen von Frauen im Diskurs sind, sei von feministisch-linguistischer Forschung ausgeblendet worden. Frauen würden vielmehr als homogene Gruppe und zum Kollektivsubjekt „Frau“ stilisiert, das sie eben keinesfalls sind. Den vielfältigen komplexen und auch widersprüchlichen Positionierungen von Frauen kann Jäger zufolge damit nicht gerecht geworden werden. Jäger (2000) resümiert, feministische Sprachkritik würde sich in das Gegenteil verkehren, wenn sie sich auf die Ebene des Sprachgebrauchs und die bloße Verwendung femininer Suffixe und Endungen reduziere. Irigaray (1993) verweist auf die paradoxe Situation, in die sich Frauen selbst hineinbegeben, und betont, dass die bloße Veränderung einzelner Lexeme und Lexemendungen Frauen keineswegs mehr Gesprächsraum, Sichtbarkeit oder Anerkennung garantiere. So kritisiert Zimmermann (1991) unter anderem, dass sich die Forderungen Feministischer Linguistik im Wesentlichen auf „Bezeichnungsasymmetrien“ sowie das Suffix „-in“ bei Berufsbezeichnungen konzentrieren, „die Möglichkeiten, den systembedingten männlichen Blickwinkel auszugleichen, [damit aber] begrenzt“ sind. Aus Perspektive einer der wichtigsten feministischen Philosophinnen der Gegenwart wie Judith Butler im Kontext des „Third Wave Feminism“ wird nunmehr die Tatsache problematisch ins Auge gefasst, dass feministische Sprachkritik gleichermaßen eine biologische sowie soziale Geschlechterbinarität voraussetzt und zugleich rekonstruiert. Während Hornscheidt (2002) die „Nichtrezeption poststrukturalistischer Gender- und Sprachtheorien der Feministischen Linguistik im deutschsprachigen Raum“ kritisiert, weitet Butler ihre grundlegende Kritik radikal und
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provozierend auf die Grunddichotomie der Kategorie Geschlecht aus, welche als Grundstruktur des Sprachsystems fungiert und ausschließlich geschlechterdichotome Identifizierungsmöglichkeiten offeriert. Körper materialisieren sich Butler zufolge immer in Abhängigkeit von ihrer kulturellen Form, denn der scheinbare Grund der Geschlechtsidentität, das biologische Geschlecht und der Körper als Oberfläche kultureller Einschreibungen, ist nach Butler schon immer der performative Effekt einer diskursiven sprachlichen Praxis. Sprachhandeln als Teil sozialen Handelns wird als aufführendes, wiederholendes kulturelles Handeln verstanden. Performativität wird nicht mehr nur als Möglichkeit eines intentionalen Subjekts verstanden, mit sprachlichen Äußerungen Handlungen zu vollziehen. Vielmehr ist soziale Geschlechtsidentität (gender) gerade in dem Sinne performativ, indem sie das Subjekt, das diese nur auszudrücken scheint, als seinen Effekt konstituiert. Folglich gibt es weder eine eindeutig (weibliche oder männliche) Geschlechtsidentität ‚hinter‘ den Äußerungen und Ausdrucksformen von Geschlecht, auf deren Existenz sich berufen werden kann. Anregende genderlinguistische Perspektiven bietet die kritisch fragende und zugleich optimistische Herangehensweise Rachel Mattson’s (1999): „Das Geschlecht ist möglicherweise nichts als eine sprachliche Hilfe, die wir erfunden haben, damit die Menschen vollständige Sätze bilden können. Nur leider weiß ich, bis diese Denkerinnen, Künstlerinnen und Barfrauen sich ein neues System überlegt haben, nicht, welche Pronomen ich benutzen muss, wenn ich [...] meine eigene Identität begreifen soll. Dennoch tut er mir schon gut, zu wissen, dass sie daran arbeiten ...“
Durchaus zukunftsweisend erscheint die in „Boygirl, Boygirl“ (Mattson 1999) geäußerte Vision: „Das System, das nur männlich und weiblich kennt, hat ausgedient“. In dieser Hinsicht beinhalten auch die Ansätze des „Third Wave Feminism“ (vgl. Bergvall 1996, Bucholtz 1999, Mills 2003, Swann 2002) interessante perspektivische Aspekte für die künftige linguistische Genderforschung, z.B. dass in der Analyse nicht vordergründig homogene Gendergruppen, sondern individuelle Verhaltens- und Handlungsweisen in ihrer Beziehung, Vielschichtig- und Widersprüchlichkeit im Kontext sozialer, ethnischer, religiöser, kultureller und weiterer diverser Einbindungen als (un)gleichheitsgenerierende Kategorien Mittelpunkt des wissenschaftstheoretischen Erkenntnisinteresses sind: „Third Wave feminist analysis makes it possible to analyse the language use of women and men, without assuming that all women are powerless, all males are powerful, or that gender always makes a difference. Third Wave feminist linguistics is therefore concerned with moving the analysis of gender and language away from the individual alone towards an analysis of the individual in relation to social groups who judge their linguistic behaviour and also in relation to hypothesised gendered stereotypes. […] Rather than seeing Second and Third Wave feminist linguistics as chronological, they need to be seen more as approaches which may be more or less appropriate depending on the context and social situation” (Mills 2003).
Verweise: Französischer Feminismus Sprache
Literatur Arendt, Hannah 1970: Macht und Gewalt. München: Piper Thorne, Barrie/Nancy Henley 1975: Language and Sex: Rowley: Newbury House Pub Bergvall, Victoria/Janet Mueller Bing/Alice F. Freed: 1996: Rethinking Language and Gender Research: Theory and Practice. London: Longman Bucholtz, Mary 1999: ‘Bad examples: transgression and progress in language and gender studies’. In: Bucholtz, Mary/A. C. Liang/Laurel A. Sutton: Reinventing Identities: The gendered Self in Discourse. Oxford, New York: Oxford University Press, S. 3-20
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Senta Trömel-Plötz
Sprache: Von Frauensprache zu frauengerechter Sprache
Zur Geschichte des Gebiets und der Konzepte In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre tauchte das Thema Sprache und Geschlecht an den Universitäten Osnabrück, Trier, Berlin und Konstanz in einzelnen Veranstaltungen zum ersten Mal auf. Fast zeitgleich erschienen im Herbst 1978 der erste Band zu Sprache und Geschlecht herausgegeben von Helga Andresen et al. in den Osnabrücker Beiträgen zur Sprachtheorie 8 und mein Artikel „Linguistik und Frauensprache“ in den Linguistischen Berichten 57. Mit dem Artikel von Luise Pusch „Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, doch weiter kommt man ohne ihr“. 1979 war das Thema Frauensprache, wie wir es – Robin Lakoffs Terminus Women’s Language folgend – anfangs nannten, in die Linguistik eingeführt. Zusammen gaben Luise Pusch und ich 1980 und 1981 in den Linguistischen Berichten 69 und 71 zwei Themenbände zu Sprache, Geschlecht und Macht heraus, zusammen leiteten wir immer größere Arbeitsgruppen bei den Jahrestagungen der Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft (Universität Regensburg, Unversität Passau). 1980 erschienen die ersten Richtlinien zur Vermeidung sexistischen Sprachgebrauchs für das Deutsche in den Linguistischen Berichten. Ich definierte dort frauenfeindliche, sexistische Sprache so: „Sprache ist sexistisch, wenn sie Frauen und ihre Leistung ignoriert, wenn sie Frauen nur in Abhängigkeit von und Unterordnung zu Männern beschreibt, wenn sie Frauen nur in stereotypen Rollen zeigt und ihnen so über das Stereotyp hinausgehende Interessen und Fähigkeiten abspricht, und wenn sie Frauen durch herablassende Sprache demütigt und lächerlich macht“ (Trömel-Plötz et al. 1980: 15).
Anfang der 1980er Jahre war nicht nur das Thema Frauensprache versus Männersprache fest in der Linguistik installiert – Luise Pusch prägte später den Terminus feministische Linguistik für unser Forschungsgebiet – sondern es fand auch großes Interesse außerhalb der Sprachwissenschaft in den Medien, Schulen, Kirchen und in der Politik. Als erste griffen Schweizer Frauen an der katholischen Paulus-Akademie in Zürich die Thematik auf (vgl. Trömel-Plötz 1982: 101144); Martin Walder, Radio DRS 1 Zürich lud mich zu einem Interview in die Sendung Reflexe ein (vgl. Trömel-Plötz 1982: 15-26), Radio DRS 2, Studio Basel folgte mit einer dreiteiligen Sendereihe „Frauen, Männer und Sprache“ die mehrere Male ausgestrahlt wurde (vgl. TrömelPlötz 1982: 197-211). In Deutschland war die Reaktion, von EMMA und einer feministisch aktiven Marburger Studentinnengruppe abgesehen, zögerlich, um nicht zu sagen lahm. Die erste Reaktion, die weitreichende Folgen haben sollte, kam aus dem Hessischen Landtag, wo Marita Haibach, damals Grüne Landtagsabgeordnete, später Staatssekretärin, das Thema Diskriminierung von Frauen im öffentlichen Diskurs (vgl. Trömel-Plötz 1982: 171-195) in eine Landtagsrede einbrachte und damit politischen Inhalt änderte. Marita Haibach und ihren Kolleginnen und Kollegen ist es zu verdanken, dass auch die Ungleichbehandlung von Frauen und Männern auf der sprachsystematischen Ebene zum politischen Thema wurde. Im Hessischen Landtag fand dann 1985 die erste Anhörung zur Gleichbehandlung von Frauen und Männern in Gesetzestexten statt, andere Bundesländer folgten bis hin zum Bundestag. Neben Journalistinnen und Politikerinnen waren vor allem
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Juristinnen des Deutschen Juristinnenbundes wichtig und trieben das Thema gleiche Benennung von Frauen und Männern in der Verwaltungs- und Gesetzessprache voran mit dem Ergebnis, dass heute in der kleinsten Gemeinde Frauenförderpläne eine Umsetzung unserer akademischen sprachlichen Vorschläge in die Praxis vorsehen. So gibt es zahlreiche, von Frauenbeauftragten verfasste informative Broschüren zum fairen Sprachgebrauch und zahlreiche Leitfäden von offizieller Seite. So heißt es im Gesetz zur Gleichstellung von Frauen und Männern für das Land Nordrhein-Westfalen vom 9. November 1999 unter „Sprache“: „Gesetze und andere Rechtsvorschriften sollen sprachlich der Gleichstellung von Frauen und Männern Rechnung tragen. Im dienstlichen Schriftverkehr ist auf die sprachliche Gleichbehandlung von Frauen und Männern zu achten. In Vordrucken sind geschlechtsneutrale Personenbezeichnungen zu verwenden. Sofern diese nicht gefunden werden können, sind die weibliche und die männliche Sprachform zu verwenden.“
Diese eindeutigen politischen Erfolge und die konkreten sprachlichen Änderungen in der öffentlichen Sprache basieren auf ernsthaften sprachlichen Bemühungen um faire, gerechte Benennung bei vielen Frauen und Männern, auf einem erhöhten feministischen Bewusstsein und größerer sprachlicher Sensibilität bei Frauen sowohl wie bei Männern. In der heutigen Diskussion um die sprachliche Sichtbarmachung von Frauen ist der Begriff geschlechtergerechte Sprache üblich geworden. Ich ziehe den Begriff frauengerechte Sprache vor (so wie ich Frauenstudien den Geschlechterstudien vorziehe – verfrühte Neutralisierungen und Generalisierungen, die von unserem zentralen Anliegen Frauen wegführen, ehe wir die Tiefe der Problematik überhaupt verstanden und Änderungen bewerkstelligt haben) und gebe hier die wichtige Definition der evangelischen Frauen wieder: „Frauengerecht ist eine Sprache, die Frauen und Männer gleichwertig und gleichberechtigt benennt. Sie macht die Existenz und die Bedeutung von Frauen sprachlich sichtbar und wird den Bedürfnissen von Frauen nach Selbstachtung, Identität und Ermutigung gerecht. Frauengerechtes Sprechen deckt Ungerechtigkeit auf und motiviert Frauen, ihre Rechte und die Rechte anderer Menschen wahrzunehmen und Gesellschaft und Kirche aktiv mitzugestalten“ (Evangelische Frauenarbeit in Deutschland, nicht datiert: 2).
Widerstand und Debatten Frauengerechte Sprache so verstanden ist ein Politikum. Frauen sprachlich sichtbar zu machen verändert unsere Perspektive: Die kulturelle Leistung sowie die Arbeit von Frauen wird sichtbar, wir sehen die ungleiche Bewertung und ungleiche Bezahlung von Frauen und Männern. Wir fordern gleiche Rechte. Aus der linguistischen Analyse sprachlicher Asymmetrien entsprangen politische Forderungen für gleiche Benennung, aber darüber hinaus führte uns die Sprachkritik zur Kritik unserer patriarchalen Institutionen. Auch die Abwendung von männlich definierten Forschungsinteressen und die Zuwendung zu frauenzentrierten Fragen ist ein Politikum. Kein Wunder, dass feministische Linguistik rasch als unwissenschaftlich abgetan und Luise Pusch und ich aus der Sprachwissenschaft hinausdefiniert wurden (vgl. Trömel-Plötz 1992: 21-44). Außerhalb der Akademie gingen wir ganz neue widerständige Wege. Für Luise Pusch war es nur konsequent, ihre scharfe Kritik der Männersprache auszuweiten und ihren scharfen Witz genereller auf die Männerwelt zu richten (siehe ihre Glossen in Pusch 1984, 1990 und 1998). Ähnlich weitete sie die sprachliche Sichtbarmachung von Frauen zur Sichtbarmachung von weiblicher kultureller Leistung aus – in ihrer exquisiten Biografieforschung (vgl. die Kalender Berühmte Frauen, ferner Pusch 1985, 1988 und 1994). Und sie ging in den Bänden WahnsinnsFrauen der Verhinderung der Leistung und der Lebensmöglichkeit einzelner Frauen nach (vgl. Duda/Pusch 1992, 1995 und 1999). Mich führte die Analyse gemischtgeschlechtlicher Gespräche (vgl. Trömel-Plötz 1984) zu konversationellen Gewaltmechanismen, vor allem zu dem Konzept dominanter Sprechhandlun-
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gen (korrigieren, kritisieren, belehren, bevormunden etc.), die mehr von Männern gegenüber Frauen ausgeführt werden als umgekehrt, auch unabhängig vom Status. Der Übergang zu gewaltsamen Sprechhandlungen (als dumm oder psychisch krank definieren, verspotten, demütigen, anpöbeln etc.) und nonverbalen, physischen Gewaltakten ist fließend. Ich war also von einfachen linguistischen Anfängen bei psychischer Gewalt, die meistens verbaler Natur ist, und bei physischer Gewalt, die bis zur Zerstörung von Leben gehen kann (vgl. Trömel-Plötz 1992: 181195), angelangt. Auf der anderen Seite führte mich die Analyse zu Eigenschaften weiblichen Redens und der konversationellen Kompetenz von Frauen im beruflichen und öffentlichen Diskurs (vgl. Trömel-Plötz 1996). Die Beschäftigung mit feministischer Linguistik hat weitreichende Konsequenzen – politische und gesellschaftliche Veränderungen, aber auch Konsequenzen für jede einzelne Frau im persönlichen und beruflichen Leben. Der Widerstand auf vielen Ebenen, nicht nur auf der sprachlichen und sprachpolitischen, sondern auch auf der universitären war vorprogrammiert und ist verständlich. An der Oberfläche richtet sich der Widerstand schlicht gegen den eindeutigen politischen Erfolg der feministischen Sprachkritik, der sich in offiziellen sprachlichen Änderungen auf eine fairere und gerechtere Sprache hin niederschlug. Zu diesem Widerstand gehört das Ignorieren, die Verzögerung, die systematische Trivialisierung unseres politischen Anliegens. Im Gegensatz zu den USA und der deutschsprachigen Schweiz siegt in Deutschland noch häufig die Rechthaber- und Deutschlehrermentalität der professionellen Sprachbeherrscher gegenüber dem Gebot der Fairness, das männliche Vorherrschaftsdenken gegenüber dem Gebot der Gleichheit, das Bestehen auf männlichen Privilegien gegenüber dem Gebot sozialer Gerechtigkeit. Ein Vergleich mit der Schweiz zeigt, dass sich dort die akademischen Männer mit Kritik zurückhielten und sich nicht als Arbiter in die behördliche Sprachregelung einmischten. Vor allem Schweizer Medien-Männer nahmen den neuen Sprachgebrauch sofort bereitwillig auf und propagierten ihn in ihrer Arbeit. Er bürgerte sich so gut ein, dass er heute am Schweizer Radio und Fernsehen selbstverständlich ist. Deutsche JournalistInnen in Printmedien und im Radio und Fernsehen dagegen haben noch nicht gelernt – oder schon wieder verlernt – dass frauengerechte Sprache „ein politisches Gesinnungszeichen setzt“ (Albrecht 2000: 30). Denn schließlich kann – um mit Albrecht zu sprechen – die Akzeptanz sprachlicher Änderungen, die mehr Gerechtigkeit zwischen Frauen und Männern herstellen, als ein Maß der Demokratie gesehen werden.
Aktuelle Entwicklungen In Deutschland muss heute die Notwendigkeit sprachlicher Gleichbenennung nicht mehr diskutiert werden; die praktische Umsetzung sprachlicher Gleichheit geht in den Kommunen ihren natürlichen Gang. In der Schweiz und im deutschsprachigen Südtirol haben wir einen zusätzlichen, unvorhergesehenen Erfolg zu verzeichnen: Dort nimmt das geänderte Sprachbewusstsein in der deutschen Sprache langsam Einfluss auf das Französische und Italienische. Die Diskussion geht um die öffentliche politische und administrative Sprache und wird von da Auswirkungen in andere Bereiche wie Schule, Medien, Werbung haben.
Zukunft der frauengerechten Sprache In den deutschen Medien – im Gegensatz zu den Kommunen – ist ein Rückschritt zu bemerken: Es scheint, als wollten sich die Frauen mit den männlichen Formen wieder den höheren männlichen Status aneignen; den Männern kann das nur recht sein – sie wissen um den sicheren Miss-
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erfolg dieses Unternehmens. So ist das große I, das von der TAZ vor Jahren so offen propagiert wurde, inzwischen bei der TAZ eingegangen. Dabei ist das große I eine höchstkreative Schöpfung, übrigens eines Schweizer Journalisten, der in seinen Notizen einfach die Doppelbenennung Schülerinnen und Schüler, Politikerinnen und Politiker, die in der Schweiz gang und gäbe ist, auf diese gelungene Weise abkürzte. Das Ergebnis war beim Lesen und Sprechen die weibliche Form. Das große I ist also keineswegs trivial, denn mit jeder expliziten Nennung von Frauen setzen wir ein politisches Gesinnungszeichen. Verweis: Geschlechterstereotype Linguistik
Literatur Albrecht, Urs 2000: „Unsere Sprache ist verbildet durch einen Maskulinismus.“ Die deutsche Schweiz auf dem Weg zu einer geschlechtergerechten Sprache. In: Elmiger, Daniel/Eva Lia Wyss (Hrsg.): Bulletin VALS-ASLA 72. Neuchatel Andresen, Helga/Helmut Glueck (Hrsg.) 1978: Sprache und Geschlecht I. In: Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 8 Duda, Sibylle/Luise F. Pusch (Hrsg.) 1992/1995/1999: WahnsinnsFrauen. Bd.1-3. Frankfurt/M.: Suhrkamp Evangelische Frauenarbeit in Deutschland (Hrsg.) nicht datiert: Gerechte Sprache in Gottesdienst und Kirche. Frankfurt/M. Pusch, Luise F. 1979: Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, doch weiter kommt man ohne ihr. Eine Antwort auf Kalverkaempers Kritik an Trömel-Plötz’ Artikel über „Linguistik und Frauensprache.“ In: Linguistische Berichte 63, S. 84-102 Pusch, Luise F. 1988-2004: Kalender Berühmte Frauen. Frankfurt/M.: Suhrkamp Pusch, Luise F. 1984: Das Deutsche als Männersprache. Aufsätze und Glossen zur feministischen Linguistik. Frankfurt/M.: Suhrkamp Pusch, Luise F. 1990: Alle Menschen werden Schwestern. Feministische Sprachkritik. Frankfurt/M.: Suhrkamp Pusch, Luise F. 1998: Die Frau ist nicht der Rede wert. Aufsätze, Reden und Glossen. Frankfurt/M.: Suhrkamp Pusch, Luise F. (Hrsg.) 1985: Schwestern berühmter Männer. Frankfurt/M.: Insel Pusch, Luise F. (Hrsg.) 1988: Töchter berühmter Männer. Frankfurt/M.: Insel Pusch, Luise F. (Hrsg.) 1994: Mütter berühmter Männer. Frankfurt/M.: Insel Trömel-Plötz, Senta/Luise F. Pusch/Marlis Hellinger/Ingrid Guentherodt 1980: Richtlinien zur Vermeidung sexistischen Sprachgebrauchs. In: Linguistische Berichte 71, S. 1-7 Trömel-Plötz, Senta 1978: Linguistik und Frauensprache. In: Linguistische Berichte 57, S. 49-68 Trömel-Plötz, Senta 1982: Frauensprache. Sprache der Veränderung. Frankfurt/M.: Fischer, Neuauflage 2007. München: Frauenoffensive Trömel-Plötz, Senta (Hrsg.) 1984: Gewalt durch Sprache. Die Vergewaltigung von Frauen in Gesprächen. Frankfurt/M.: Fischer, Neuausgabe 2004. Wien: Milena Trömel-Plötz, Senta 1992: Vatersprache Mutterland. Beobachtungen zu Sprache und Politik. München: Frauenoffensive Trömel-Plötz, Senta (Hrsg.) 1996: Frauengespräche. Sprache der Verständigung. Frankfurt/M.: Fischer
Carola Muysers
Künstlerin/Kunstgeschichte: Zur Konzeption der Künstlerin in der kunsthistorischen Geschlechterforschung
Die Frage nach dem Geschlecht begann in der Kunstgeschichte und -wissenschaft mit dem Thema der Künstlerin. Linda Nochlins (1971) Aufsatz „Why have there been no Great Women Artists“ führte diese Forschungsrichtung ein. Im Mittelpunkt standen Kanon, Ideologie und Mythos des genialen männlichen Künstlers, die den kunsthistorischen Ausschluss von Künstlerinnen und ihrer Kunst zu verantworten hatten. Nochlins Ansatz, die Kunstgeschichte institutionell zu befragen, prägte die nachfolgende Forschung maßgeblich. Der vorliegende Beitrag beleuchtet dieses Themenfeld und betrachtet es als ein theoretisches Konzept, das bis heute weiterentwickelt wird.
Anfänge Die Konstitutierung des Themas der kunstausübenden Frauen erfolgte mit Gründung der kunsthistorischen Disziplin, ja trug zu deren Formierung bei. Gleich die ersten Lehrstuhlinhaber, Ernst Karl Guhl an der Berliner Kunstakademie und Wilhelm Lübke am Zürcher Polytechnikum, eröffneten eine Diskussion über Künstlerinnen. In seiner Monografie „Die Frauen in der Kunstgeschichte“ entwarf Guhl (1858, zit. in Muysers 1999: 41-45) das Bild einer zunehmenden Präsenz kunstausübender Frauen seit der Renaissance, der er eine Bilanz unterlegte. Bei Wahrung ihrer weiblichen Tugenden könnten talentierte Künstlerinnen nun in den Wettstreit mit männlichen Kollegen treten. Unter gleichnamigem Titel erwiderte Lübke (1862, zit. in Muysers 1999: 45-49), dass kunsttätige Frauen von Natur aus nur begrenzte Leistungen erbringen könnten. Erfolgreiche Vertreterinnen wie Elisabeth Vigée-Lebrun, Angelika Kauffmann oder Artemisia Gentileschi seien nur im Rahmen eines allgemein niedrigen Kunstniveaus denkbar. Während damit vor allem die Kunstausübung von Frauen gemeint war, rückte die Künstlerin selbst mit der Streitschrift von Karl Scheffler (1908, zit. in Muysers 1999: 104-110) „Die Frau und die Kunst“ in den Mittelpunkt. Der bekannte Kunstkritiker und -schriftsteller wollte sie auf die Wirkungsfelder einer darwinistischen Geschlechterordnung, d.h. auf das Objekthafte, Erlernbare und Reproduktive, zurückverweisen. Seine Befürchtung einer „Vermännlichung“ der Künstlerin und einer „Verweiblichung“ des Künstlers rekurrierte ganz offensichtlich auf die zeitgenössischen Verschiebungen der Geschlechterrollen. So wurden Frauen 1908, im Erscheinungsjahr des Buches, offiziell zum universitären Studium zugelassen, eine Entwicklung, der zahlreiche Debatten um die Funktion und Aufgabe der Geschlechter vorausgegangen waren. Den drohenden Geschlechtershift suchte Hans Hildebrandt (1928, zit. in Muysers 1999: 186195), Professor für Kunstgeschichte der TU Stuttgart, in seiner Untersuchung „Die Frau als Künstlerin“ wieder zu korrigieren. Er gab zwar vor, die schöpferische Frau als männlich und den männlichen Künstler als weiblich zu akzeptieren. Tatsächlich aber billigte er das nur historischen Vertreterinnen zu, wie z.B. Artemisia Gentileschi. Seine Zeitgenossinnen hingegen stellte er an die Seite männlicher Vorbilder, Lehrer und Kollegen – als „zweite Stimme im Orchester“.
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Die Überzeugungen von Guhl und Hildebrandt, die den Künstlerinnen einen den Männern untergeordneten Rang zuwiesen, standen dem Argument von Lübke und Scheffler gegenüber, die die „wahre Aufgabe“ der kunstausübenden Frauen als Ehefrau und Mutter sahen. Beide Positionen sollten bis zur nächsten Emanzipationswelle relevant bleiben.
Emanzipation In den 1970er Jahren initiierte Nochlin eine entscheidende Neubestimmung des Themas, was auf der Grundlage ihres oben genannten Aufsatzes und ihrer Ausstellung „Women Artists 15501950“ (1976) geschah. In Ausstellung und Katalog erbrachten sie und ihre Koautorin Ann Sutherland Harris den Beweis, dass es seit dem Spätmittelalter Künstlerinnen gegeben hat, die jedoch vom Mainstream der Kunstgeschichte unterschlagen wurden. Beide Autorinnen distanzierten sich von der biologischen Geschlechtszuweisung. Sutherland Harris verortete die Gemeinsamkeiten der neuzeitlichen Künstlerinnen in der Kunstproduktion und deren Bedingungen (Ausst.-Kat. 1976: 13-44). Sie umriss ein Künstlerinnenbild, das sich durch eine starke Präsenz im Kunstgeschehen, die Herkunft aus einer Künstlerfamilie, die Beschränkung auf bestimmte Gattungen unter Verzicht auf das Aktstudium, ein sehr frühes Debüt, ein großes soziales Netzwerk und oftmals eine künstlerische Besonderheit auszeichnete. Für die Künstlerinnen der Moderne wies Linda Nochlin jegliche weibliche Ästhetik und Ikonographie zurück (Ausst.-Kat. 1976: 45-67). Frauen hätten auch in der „männlichen“ Historienmalerei und Schlachtenmalerei reüssieren können. Auf die unerwünschte Konkurrenz von Künstlerinnenverbänden, -akademien und -schulen hätte der männliche Kunstbetrieb dann mit dem Entwurf des männlichen „Genies“ reagiert und sich ein machtvolles Korrektiv geschaffen. Den Weg der Künstlerinnen ins 20. Jahrhundert sah Nochlin in der gesellschaftspolitischen Gleichstellung der Geschlechter gegründet: in den dekorativen Künsten, wie der Bauhausbewegung und der russischen Avantgarde, und bei Staatsaufträgen des postrevolutionären Russland oder den USA in den 1930er Jahren. Nochlins Ambition, Künstlerinnen in die kunsthistorische Sozialgeschichte zu integrieren, verstand sich in Anbindung an die damalige Frauenbewegung. In ihrem eingangs erwähnten Aufsatz nahm Nochlin (1971) eine strukturelle Analyse der sozialen Verhältnisse im Kunstbetrieb vor, die für das Fehlen von den Männern ebenbürtigen „Meisterinnen“ verantwortlich waren. Hier ging es ihr um künstlerische, ausbildungstechnische und karrieristische Ausschlussmechanismen. Genau diese, so Nochlin, hätten den Mythos des „genialen Künstlers“ hervorgebracht. Vor dem Hintergrund wollte sie die Strukturen der männlichen Kunst und Kunstgeschichte grundsätzlich in Frage gestellt wissen. Ein „anderes“ Institutionendenken könne die Ideologie des biologischen Diskurses sichtbar machen. Damit löste Nochlin eine regelrechte Forschungswelle auf dem Gebiet der Künstlerinnen aus. Während die Suche nach vergessenen kunstausübenden Frauen durch Künstlerinnen selbst, die, wie bei Gisela Breitling (1986) oder Judy Chicago (1984), der eigenen künstlerischen Identitätsfindung diente, erbrachten deutschsprachige Wissenschaftlerinnen aufschlussreiche Rezeptionsanalysen. So wies Ruth Nobs-Greter (1984) auf die Verknüpfung der Künstlerinnenrezeption mit der klassischen Kunsttheorie hin. Darin sei die professionelle Künstlerin als Widerpart angelegt und entsprechend in misogynen Schriften aus der Zeit um 1900 konkretisiert. Als Gegenmodelle führte die Autorin die Forderungen der Kunsthistorikerin Lu Märten und der Schriftstellerin Virginia Woolf nach Berücksichtigung der sozialen und wirtschaftlichen Umstände von Künstlerinnen und nach einer geschlechtsunabhängigen Genialität an. Beleuchtete Nobs-Greter die Herausbildung einer Geschlechterideologie der Künstlerautorschaft, bearbeitete Marina Sauer (1986) frauenfeindliche Prinzipien der Jahrhundertwende. Philosophen, Kunst- und Kulturtheoretiker jener Zeit hätten eine negative Kunstgeschichte der Frau schreiben wollen, da die Künstlerinnen gegen die Geschlechterordnung verstoßen hätten. Sauers
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Denkmodell beschränkte sich auf das Prinzip der herrschenden Männer und beherrschten Frauen. Renate Berger (1982) legte dagegen eine Kulturgeschichte der Künstlerin vor, die inner- wie außeruniversitär weitreichend rezipiert wurde. Sie verortete das künstlerische Schaffen von Frauen zwischen Dilettantismus und Profession. Daran knüpfte sie eine Sozialgeschichte der künstlerischen Ausbildung von Frauen, die die Überwindung des Dilettantismus beabsichtigte und Frauenkunsthandwerksschulen, Damenakademien, Zeichenlehrerinnenseminare bis hin zu den Akademien umfasste. Sie erschloss die geschlechtsspezifische Struktur des Aktstudiums, das ausschlaggebend für den Ausschluss der Künstlerinnen von den akademischen Institutionen war (Berger 1982: 103-149). Berger zeigte auch Grenzgänge und Lebensentwürfe der betreffenden Frauen auf der Grundlage literarischer und autobiografischer Texte.
Dekonstruktionen In der kulturwissenschaftlich ausgerichteten britischen Kunstwissenschaft wurde Gegenteiliges zum Thema. Leitfigur war Griselda Pollock, die die Geschlechtskategorie des Weiblichen grundlegend hinterfragte (vgl. Pollock/Parker 1981). Sie argumentierte gegen die sozialhistorische Wertung kunstausübender Frauen. Pollock ging es um die Künsterlin als (soziales) Konstrukt, das allein dem männlichen Pendant dienlich sein sollte. Zur Dekonstruktion dessen müsse man die dazugehörigen Weiblichkeitsstereotypen und deren gesellschaftliche und soziale Instrumentalisierung ermitteln. Anstelle des Ausschlussprinzips sprach Pollock von der Künstlerin als dem „Anderen“. Im Aufsatz „Women, Art and Ideology: Questions for Feminist Art Historians“ (Pollock 1983) führte sie ihre Thesen gegen den bürgerlichen Kunstgeschichtsdiskurs an, der das einsam schöpferische, männliche Genie, den unantastbaren, klassenlosen Künstler und die dazu passenden weiblichen Stereotypen zelebrierte. Frauen würden dabei zu „Zeichen und Symbolen“. Pollocks neuartiger Ansatz fand weite Verbreitung, wurde aber aufgrund seiner Verneinung des Künstlerinnensubjekts auch vielfach kritisiert (vgl. Muysers 2006). Zu einer moderaten und damit überzeugenderen Auslegung gelangte Lisa Tickner (1988). Zwar unterstützte sie Pollocks Forderung einer feministischen Intervention der bürgerlichen Kunstgeschichte. Doch sollten die Künstlerin und die Betrachterin Mittelpunkt der Forschung bleiben. Tickner schlug zudem sozialhistorische, postkoloniale, religiöse und berufsgeschichtliche Interpretationsansätze vor, mit denen man der Künstlerin beide Geschlechtskategorien, männlich und weiblich, zuweisen könne. Das wollten Silke Wenk und Katrin Hoffmann-Curtius (1997) in ihrer Publikation zur 6. Kunsthistorikerinnentagung „Mythen von Autorschaft und Weiblichkeit im 20. Jahrhundert“ erneut in Frage stellen. Die Machtstrukturen des Kulturbetriebs würden alte und neue Mythen des männlichen Autors hervorbringen, derer man sich nun auch bei Gegenwartskünstlerinnen bediene.
Subversion und Eigensinn Die Künstlerinnenforschung berücksichtigte mehr und mehr Fragen des Geschlechterverhältnisses. Einer der ersten deutschsprachigen Vertreter war Peter Gorsen (1980), der die Konzeption der Künstlerin als eine außerinstitutionelle betrachtete. Er setzte die feministische Kunst seiner Gegenwart in historischen Rückbezug zu kulturwissenschaftlichen, psychologischen, politischen, philosophischen und kunsthistorischen Definitionen der Inferiorität von Frauen um 1900. Erst im 20. Jahrhundert und in der Gegenwart hätten Künstlerinnen subversiv wirken und das
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Andere, Disproportionale zur männlichen Wahrnehmung und Kreativität sichtbar machen können – allen voran in der Body-Art. Diese wurde in der Wiener Ausstellung „Kunst mit Eigen-Sinn. Aktuelle Kunst von Frauen“ (1985) sogleich erprobt. Der Katalog mit Beiträgen von Valie Export, Julia Kristeva, Luce Irigaray, Silvia Bovenschen, Eva Meyer, Gertrud Koch, Craig Owens und Peter Gorsen hatte zum Prinzip, die Gegenwartskünstlerinnen auf hohem theoretischen Niveau und jenseits traditioneller akademischer Strukturen zu betrachten. Im Mittelpunkt stand der „Eigen-Sinn“, in dem z.B. Gorsen und Eiblmayr ein subversives Vorgehen gegen männliche Leitbilder sahen, wobei erster die Authentizität der Mittel als Gestaltungsgrundlagen des weiblichen Subjekts deutete (Ausst.Kat. 1985: 7-10), letzte eine autonome Ästhetik des „Anderen“ in einem eigenen geistigen Kreativitätsraum verorten wollte (Ausst.-Kat. 1985: 99-110). „Kunst mit Eigen-Sinn“ strahlte in zwei Richtungen aus. In die eine wiesen die Künstlerinnen selbst, die ihren Status des kreativen, eigenständigen und handelnden Subjekts nicht aufzugeben gedachten. In die andere ging eine Fraktion der feministischen Kunstgeschichte, die die Dekonstruktion als subversiv innovatives Potenzial für sich entdeckte. Forschungsfeld wurde die Gegenwartskunst von Frauen, Forschungsort der Kunstbetrieb mit seinen Galerien, Ateliers, modernen Sammlungen und Kunsthochschulen. Dort erwuchs ein zeitweise intensiver Diskurs zwischen Kunsthistorikerinnen und Künstlerinnen. Inneruniversitär zeichnete sich die zunehmende Distanz zur traditionellen, patriarchalen Kunstgeschichte ab, die Ellen Spickernagel (1985) beispielhaft vertrat. Sie stellte die feministische Kunstgeschichte im Kontext der Frauenbewegung vor und plädierte für eine weibliche Ästhetik und eine Sozialgeschichte weiblicher Kunst in Anlehnung an Nochlin. Das wollte sie auf die feministische Gegenwartskunst übertragen wissen, in der Themen aus dem Alltag, den Stilen, den Hierarchien hoher und populärer Kunst und dem kulturell aufgefassten Körper Anwendung finden sollten. Das Interesse richtete sich nun auch verstärkt auf die Künstlerinnen des frühen 20. Jahrhunderts. Hanna Gagel (1988) zog ebenfalls das Modell der weiblichen Ästhetik heran, um das Verhältnis der Künstlerinnen zur Avantgarde zu erhellen. Die Vorstellung einer spezifischen weiblichen Avantgardeprägung erläuterte sie am Beispiel Natalia Gontscharovas. Mit dem Verweis auf die Konstruktion des männlichen „Eigenen“ und „Autonomen“ auf Basis einer marginalisierten weiblichen Kreativität sprach sich Sigrid Schade (1996) gegen dieses Avantgardeverständnis aus. Es würde nur die traditionelle Rollenaufteilung für die Avantgarde retten, und zudem bestünde die Gefahr einer „Heldinnenverehrung“ seitens der feministischen Kunstwissenschaften. Eine solche Betrachtungsweise wird dem komplexen Verhältnis von Avantgarde und Künstlerinnen jedoch nicht ganz gerecht. Seit nunmehr 30 Jahren halten besonders die russischen Avantgardistinnen und ihre ungewöhnlichen Karrieren eine lebendige Diskussion in Gang. Nach ihrer Entdeckung und Aufarbeitung feierte man sie als künstlerische „Ikonen“ der Emanzipation und der Gleichberechtigung. Wie Ada Raev in ihrer Untersuchung zu russischen Künstlerinnen nachzeichnet, setzte bald darauf die Frage nach der Geschlechterdifferenz der russischen Avantgarde ein (Raev 2003:15-21). Raev selbst deutet die Leistungen der Künstlerinnen im Spannungsfeld zum westlichen und russischen Kunsterbe aus (Raev 2003: 269-272). Die Ausstellung „Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts“ (1990) im Kunstmuseum Wiesbaden ging in eben diese Forschungsrichtung. Im Katalog richtete Barbara Gaethgens das Augenmerk auf die freien kreativen Fähigkeiten anerkannter Künstlerinnen Anfang jenes Jahrhunderts, das sie nicht mehr als Kontinuum vorangegangener Epochen, sondern als Komplex mit eigenen Charakteristiken, Fragestellungen und Problemen auffasste. 1900 sei ein turning point gewesen, an dem Frauen erstmals ideologische und künstlerische Grenzen hätten überwinden können. Von Relevanz sei, sich jenseits akademischer Konventionen und in informellen Gruppierungen entfalten zu können, wie Modersohn-Becker in Worpswede, Münter im Blauen Reiter oder Höch unter den Dadaisten. Als erste hätten sie Kunsttraditionen und Vorbilder überwinden und zu einer richtungsweisenden, eigenen Handschrift gelangen können.
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Outside/Inside Seitdem Nochlin die Ausgrenzung der Frauen aus den Institutionen der Kunst und Kunstgeschichte beim Namen nannte, steht ihre außerinstitutionelle Betrachtung im Mittelpunkt. Seit den 1990er Jahren zeichnen sich aber auch Tendenzen einer institutionellen Deutung ab. Sie lassen sich im Kontext von Pierre Bourdieus Theorie des Handelns verstehen, nach der Denkkategorien stets institutionellen Charakter haben (vgl. Bourdieu 1998). Grundlagen für eine solche Künstlerinnentheorie erarbeiteten Charlotte Yeldham (1984) und Edith Krull (1984). Widney Chadwick (1990) machte dann explizit, dass es auch für die Künstlerinnen kein Außerhalb der Geschichte der Künste geben könne. Sie befasste sich mit kunstausübenden Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart im Kontext des gesellschaftlichen Umfeldes, der künstlerischen Produktion, des Kunstmarkts und -betriebs, der eigenen Werkentwicklung sowie der Rezeption, wobei sie sie als handelnde und repräsentierende weibliche Subjekte entwarf. Für das 19. Jahrhundert führte sie die separate Künstlerinnenausbildung an, die neue Möglichkeiten der Gemeinschaft und Freundschaft unter den Frauen eröffnet hätte. Auch äußerte sie sich über das Phänomen der Vermännlichung und das Modell der Neuen Frau und der „Garçonne“. Daraus hätten sich neue Freiheiten, aber keine neuen Rechte für Künstlerinnen ergeben. Tamar Garb (1994) ermittelte die weibliche Künstlerkultur in Paris. Ihr Thema, die „Union des Femmes Peintres et Sculpteurs“, war einem künstlerischen und gesellschaftspolitischen Separatismus verpflichtet, von dem aus man für den Künstlerinnenberuf kämpfte. Ziel der Union war die Zulassung zur Académie Royale. 1889 wurde der damit verknüpfte Wunsch eines Anteils an der „großen Kunst“ mit einer akademischen Damenklasse erfüllt. Die Bestrebungen der Union waren zwar nicht emanzipatorisch gedacht, sondern zielten auf eine sogenannte „Art féminine“ ab. Doch entstanden dabei höchst professionelle Modelle zum weiblichen Genie, zum weiblichen Blick und der weiblichen Künstlerrolle. In eine vergleichbare Richtung wies das Forschungs- und Ausstellungsprojekt „Profession ohne Tradition“ (1992). Thema war der erste Berufsverband bildender Künstlerinnen in Deutschland, der ein soziales und künstlerisches Netzwerk für Frauen aus ganz Europa schuf. In diesem umfangreichen Projekt wurden für den Zeitraum der Moderne die Möglichkeiten und Grenzen von Künstlerinnenkarrieren ermittelt (vgl. Muysers 1992: 21-34): In Ermangelung offizieller institutioneller Förderungen erfolgte die oft sehr frühe Entscheidung zu einer künstlerischen Karriere im familiären Kontext. Ein aufgeschlossenes Lehrer-Schülerinnenverhältnis und Mentoring durch erfolgreiche Kollegen bestimmten die private Ausbildung und die Selbständigkeit. Stilistisch entfalteten sich die Künstlerinnen in den Peripherien der Moderne. Sie bedienten sich auch männlicher Verhaltens- und Karrieremuster, insbesondere dann, wenn es um die Durchsetzung auf dem Kunstmarkt und die eigene Popularität ging. Ebenso bereicherten sie ihre Biografien mit Stückwerken aus dem Mythos des männlichen Künstlers. Dieses Bild lässt sich anhand der Analyse einer 100jährigen Rezeptionsgeschichte von Künstlerinnen nachweisen und vervollständigen (vgl. Muysers 1999). Der Blick auf 86 Texte von Journalisten, KünstlerInnen, LiteratInnen, KunsthistorikerInnen, Museumsfachleuten, Philosophen, Literatur- und KulturwissenschaftlerInnen legt die komplexen Definitionsmuster der Künstlerin als Konkurrenz zu den männlichen Kollegen Ende des 19. Jahrhunderts, als Repräsentantinnen einer weiblichen Kultur Anfang des 20. Jahrhunderts, einer weiblichen Kunst in den 1920er Jahren, einer weiblichen Genialität Ende dieses Jahrzehnts und als „Dienerinnen“ des nationalsozialistischen Volkes offen. Die Frage nach der Institutionalisierung der Künstlerin ist damit nicht erschöpft. So bietet Isabelle Graw (2003) eine Phänomenologie des Künstlerinnensubjekts der letzten 70 Jahre. Die Autorin richtet den Blick gerade auf solche Künstlerinnen, die sich in bewusster Aneignung, im Image der Ausnahme und der Adaption feministischer „Traditionen“ als aktiv handelnde, kreative Subjekte zu verstehen geben. Dazu führt sie u.a. Beispiele aus den „Appropiation Arts“ der 1980er und 1990er Jahre an, die aus geschlechtsbezogenen Aneignungsprozessen bestanden.
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Graws Hinweise machen noch einmal deutlich, wie sehr der künstlerische Prozess – auch in performativer und parodistischer Weise – des Subjekts und der Authentizität bedarf.
Ausblick Aus den Konzeptionen zur Positionierung von Künstlerinnen lassen sich mehrere Grundprinzipien herausfiltern. Erstens bestehen bis heute besondere Produktionsbedingungen, eine besondere Rezeption und besondere Institutionalisierungen kunsttätiger Frauen. Von daher sind Künstlerinnen weiter als eigenes Forschungsthema zu behandeln und können nur in dieser Form angemessen konzeptualisiert werden. Das schließt zweitens Ansätze, wie z.B. die Queer-Studies oder traditionellere kunsthistorischen Analysen, nicht aus. Schließlich ist die Theorie von der Künstlerin zum Korrektiv gereift, hinterfragt sie ganz konkret die männlichen Klischees und Ideologien, denen die Kunstgeschichtsschreibung immer wieder aufsitzt. So wirkt sie als kritische Instanz innerhalb der kunstwissenschaftlichen Disziplin. Dabei hat sie keines ihrer innovativen, eigensinnigen und subversiven Potenziale verloren, Potenziale, auf die die gegenwärtige und zukünftige Kunstgeschichte und Kunstwissenschaft nicht verzichten können. Verweise: Film Literatur Musik
Literatur Ausst.-Kat. 1976: Women Artists 1550-1950. Los Angeles: County Museum Ausst.-Kat 1985: Kunst mit Eigensinn. Aktuelle Kunst von Frauen. In: Eiblmair, Sylvia Export Valie/Monika Prischl-Maier (Hrsg.): Museum für Moderne Kunst. Wien, München: Löcker Verlag Ausst.-Kat. 1990: Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts. Hg. v. Volker Rattemeyer. Wiesbaden: Museum Wiesbaden Ausst.-Kat. 1992: Profession ohne Tradition. 125 Jahre Verein der Berliner Künstlerinnen 1867-1992. Hg. v. Berlinische Galerie. Berlin: Kupfergraben Verlag Berger, Renate 1982: Malerinnen auf dem Weg in die Moderne. Kunstgeschichte als Sozialgeschichte. Köln: DuMont Verlag Bourdieu, Pierre 1998: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag Breitling, Gisela 1986: Die Spuren des Schiffs in den Wellen. Eine autobiographische Suche nach Frauen in der Kunstgeschichte. Frankfurt/M.: Fischer Verlag Chadwick, Whitney 1990: Women, Art and Society. London: Thames & Hudson Chicago, Judy 1984: Durch die Blume. Meine Kämpfe als Künstlerin. Hamburg: Rowohlt Verlag (zuerst 1982: Through the Flowers) Gagel, Hanna 1988: Natalia Gontscharova – „die inneren und äußeren Substanzen zu erfassen“. In: kritische berichte 1, S. 46-56 Garb, Tamar 1994: Sisters of the Brush. Women’s Artistic Culture in Late Ninteenth-Century Paris. London, New York: Yale University Press Gorsen, Peter/Gislind Nabakowski/Helke Sander (Hrsg.) 1980: Frauen in der Kunst. 2 Bde. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag Graw, Isabelle 2003: Die bessere Hälfte.Künstlerinnen des 20. und 21. Jahrhunderts. Köln: DuMont Verlag Krull, Edith 1984: Kunst von Frauen. Das Berufsbild der Bildenden Künstlerinnen in vier Jahrhunderten. Frankfurt/M.: Verlag Weidlich Muysers, Carola 1992: Warum gab es berühmte Künstlerinnen? Erfolge bildender Künstlerinnen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Ausst.-Kat.: Profession ohne Tradition. 125 Jahre Verein der Berliner Künstlerinnen. Hg. v. Berlinische Galerie. Berlin: Kupfergraben Verlag, S. 21-34
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Muysers, Carola (Hrsg.) 1999: Die bildende Künstlerin. Wertung und Wandel in deutschsprachigen Quellentexten 1855-1945. Dresden, Amsterdam: Verlag der Kunst Muysers, Carola 2006: Institution und Geschlecht: Die Kunstgeschichte der Künstlerin als Theoriebildung. In: Zimmermann, Anja (Hrsg.): Kunstgeschichte und Gender. Eine Einführung. Berlin: Dietrich Reimer Verlag, S.181-214 Nochlin, Linda 1971: Why Have There Been No Great Women Artists (1971). In: Nochlin, Linda (Hrsg.): Women, Art and Power and Other Essays. Deutsche Übersetzung in: Söntgen, Beate (Hrsg.) 1996: Rahmenwechsel, Kunstgeschichte als feministische Kulturwissenschaft. Berlin: Akademie Verlag, S. 27-56 Nobs-Greter, Ruth 1984: Die Künstlerin und ihr Wirken in der deutschsprachigen Kunstgeschichtsschreibung. Zürich: Typoskript Pollock, Griselda 1983: Women, Art and Ideology: Questions for Feminist Art Historians. In: Women’s Art Journal 4 (1), S. 39-47 Pollock, Griselda/Rozika Parker 1981: Old Mistresses. Women, Art and Ideology. London: Pandora Press Raev, Ada 2003: Russische Künstlerinnen der Moderne (1870-1930). Historische Studien. Kunstkonzepte. Weiblichkeitsentwürfe. München: Wilhelm Fink Sauer, Marina 1986: Gesellschaftliches Umfeld der Künstlerinnen um die Jahrhundertwende. In: Sauer, Marina: Die Bildhauerin Clara Rilke-Westhoff 1878-1954. Leben und Werk mit Oeuvre-Katalog, Bremen: Verlag Hauschild, S. 456-667 Schade, Sigrid 1996: Künstlerinnen und „Abstraktion“. Anmerkungen zu einer „unmöglichen“ Beziehung in den Konstruktionen der Kunstgeschichte. In: Krempel, Ulrich/Susanne Meier-Büser: Garten der Frauen. Wegbereiterinnen der Moderne in Deutschland 1900-1914. (Ausst.-Kat.) Berlin: Nicolai Verlag, S. 37-45 Spickernagel, Ellen 1985: Geschichte und Geschlecht: der feministische Ansatz. In Belting, Hans/Heinrich Dilly/Wolfgang Kemp/Willibald Sauerländer/Martin Warnke (Hrsg.): Kunstgeschichte. Eine Einführung. 1. Auflage. Berlin: Dietrich Reimer Verlag, S. 264-282 Tickner, Lisa 1988: Feminism, Art History and Sexual Difference. Deutsche Übersetzung: Feminismus, Kunstgeschichte und der geschlechtsspezifische Unterschied. In: kritische berichte 1990. Zeitschrift für Kunst- und Kunstwissenschaften, Heft 2, S. 5-36 Wenk Silke/Katrin Hoffmann-Curtius (Hrsg.) 1997: Mythen von Autorschaft und Weiblichkeit im 20. Jahrhundert. Marburg: Jonas Verlag Yeldham, Charlotte 1984: Women Artists in Nineteenth-Century France and England. Their Art Education, Exhibition Opportunities and Membership of Exhibition Societies and Academies. 2 Bände. New York, London: Garland Publishing
Birgit Dahlke
Literatur und Geschlecht: Von Frauenliteratur und weiblichem Schreiben zu Kanonkorrektur und Wissenschaftskritik
Gibt es eine weibliche Ästhetik? Diese Frage wurde 1976 in der Zeitschrift „Ästhetik und Kommunikation“ lebhaft diskutiert. Bereits zum Zeitpunkt seines Aufkommens im Zuge der zweiten Frauenbewegung nach 1968 war der Begriff umstritten. Dass weder die Rezeption (vgl. Garbe 1993, Klüger 1996) noch die Produktion von Kunst und Literatur geschlechtsneutrale Tätigkeiten sind, ist keine neue Einsicht der Gender Studies. In den Debatten um 1800, in denen es um Kunstautonomie und Autorschaft gegangen war, hatte die Frage des Geschlechts – oft verdeckt – bereits eine zentrale Rolle gespielt (vgl. Schabert/Schaff 1994). ‚Männlich‘ und ‚weiblich‘ wurden zu Variablen des ästhetischen Diskurses (vgl. Stephan 2000: 290), wobei der Status des Autors ‚männlich‘ konnotiert war. Schreibende Frauen machten sich auf einen „langen Weg zur Mündigkeit“ (Becker-Cantarino 1987), der von der feministisch-orientierten Literaturwissenschaft mühsam rekonstruiert worden ist (vgl. Friedrichs 1981, Gnüg/Möhrmann 1985, BrinkerGabler 1988, Bürger 2001, Becker-Cantarino 2000). Ulrike Prokop (1991) unterzog die Mechanismen der Marginalisierung des ,Weiblichen‘ und Heroisierung des ,Männlichen‘ am Beispiel des Geschwisterpaars Cornelia und Johann Wolfgang Goethe einer psychoanalytisch-historischen Untersuchung.
Debatten um weibliche Ästhetik als Ausweg Um eben dieser patriarchalischen Geschlechterdramaturgie zu entkommen, entwickelten Autorinnen in den 1970er und 1980er Jahren das feministisch-politische Programm einer weiblichen Ästhetik, in der die „Spezifika der weiblichen Erfahrung und Wahrnehmung selbst formbestimmend“ würden (Bovenschen 1979a). Die Suche führte jedoch, genau wie die nach einer écriture féminine, die sich aus der weiblichen, auf Verausgabung basierenden Triebökonomie speiste (vgl. Cixous 1980), in neue Dilemmata, auch wenn versucht wurde, ‚weibliche Identität‘ vom biologischen Geschlecht loszulösen. Um sich gegen marginalisierende Kanonisierung, z.B. als „Frauenliteratur“, zu wehren, argumentierten und argumentieren Künstlerinnen und Autorinnen selbst, das Geschlecht spiele für die Kunstproduktion keine Rolle, ja Kunst und Künstler seien androgyn. Wichtiger als die Postulierung einer weiblichen Ästhetik war demnach die Frage danach. In der Rezeption angloamerikanischer (vgl. Showalter 1977, 1985; Felman 1983, Gilbert/Gubar 1984), englischer (Moi 1989) und französischer Ansätze (vgl. Irigaray 1979, 1980; Cixous 1980, Kristeva 1978) und in der Auseinandersetzung mit Psychoanalyse und Poststrukturalismus (nach Freud, Lacan, Foucault, Derrida) differenzierte sich die Ausgangsfrage. Internationale Tagungen zu Themen wie „Frauen – Weiblichkeit – Schrift“ (1984) oder „Frauenkunstgeschichte. Zur Korrektur des herrschenden Blicks“ (1984) gaben wichtige Anregungen für die Herausbildung einer feministisch orientierten Literatur- und Kunstwissenschaft in Deutschland. Ab Mitte der 1970er Jahre entstanden Frauenzeitschriften wie „Frauen und Film“, „Frauen Of-
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fensive Journal“, „Mamas Pfirsiche“, „Die Schwarze Botin“, „Schreiben“, „Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis“, „Die Eule“ oder „Feministische Studien“ und Frauenverlage wie Frauenoffensive, Courage, Frauenbuchverlag, Frauenselbstverlag, sub rosa oder OrlandaFrauenverlag. Es folgten Frauenbuchläden, Frauencafés, Frauenfestivals und Sommeruniversitäten für Frauen. In verschiedenen Verlagen etablierten sich Frauenliteraturreihen, es wurden Frauenstudienprogramme erkämpft und im Zuge der Frauenforschung auch feministisch orientierte Literaturwissenschaften institutionalisiert (vgl. Frauen in der Literaturwissenschaft 19831997). In den 1990er Jahren traten auch hier Geschlechterstudien an die Seite der Frauenforschung. Erforscht werden nun Zusammenhänge zwischen Geschlechterdiskursen und kolonialen Diskursen, zwischen Sexualbildern und Antisemitismus, Antisemitismus und Antifeminismus u.Ä., wie die seit 1992 im Böhlauverlag erscheinende Reihe „Literatur – Kultur – Geschlecht“ zeigt.
Theorien- und Methodenpluralismus Literatur wie auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Literatur war von Anfang an ein wichtiger Bestandteil der sich entwickelnden umfassenderen Frauenforschung und feministische Literaturkritik Teil der Frauenbewegung. Dabei herrscht bis heute ein Theorien- und Methodenpluralismus, eine „feministische Literaturwissenschaft“ als Einheit existiert nicht. Aus der Vielzahl unterschiedlicher sozialpsychologisch, sozialgeschichtlich oder ideologiekritisch vorgehender Ansätze lässt sich keine in sich geschlossene textanalytische Methode herleiten. In der Einbeziehung der Kategorie Geschlecht in die Analyse von Produktion und Rezeption literarischer Texte besteht das besondere Verdienst feministischer Ansätze im Rahmen der Literaturwissenschaften überhaupt. Über Phasen der Ideologiekritik in den 1970er Jahren, der Öffnung zu breiter kulturgeschichtlich angelegten Ansätzen in Verbindung mit Diskursanalyse, Psychoanalyse, Mentalitätsgeschichte und Ethnologie in den 1980er Jahren und einer Hinwendung zu Verfahren der Dekonstruktion in den 1990er Jahren hat sich heute ein internationaler Forschungszusammenhang formiert. War zunächst vor allem von Männern geschriebene Literatur gegen den Strich auf die darin enthaltenen Weiblichkeitsstereotypen und Männerphantasien gelesen worden (vgl. Millett 1971, Theweleit 1977), dem eine (später problematisierte) „authentische“ Erfahrung realer Frauen gegenübergestellt wurde, so verwandelte Silvia Bovenschen die Frage nach „Frauenbildern“ bereits 1979 in eine nach „kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen“ (Bovenschen 1979b). Wesentlich von der kritischen Theorie der Frankfurter Schule und deren Auseinandersetzung mit dem Marxismus beeinflusst, gingen ihre kulturgeschichtlichen Analysen der Diskrepanz zwischen der Inflation philosophischer und kultureller Weiblichkeitsbilder und dem konstituierenden Anteil von Frauen an der ästhetischen Produktion in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert nach. Die ‚Geschichtslosigkeit‘ der Frauen, so ihre These, liege in deren strukturellem Ausschluss aus dem Entwicklungsprozess der abendländischen Zivilisation begründet. Der realen Machtlosigkeit von Frauen stehe die Macht der allgegenwärtigen (Vor-)Bilder, der „imaginierten Weiblichkeit“ (Bovenschen 1979b) gegenüber. Die Freilegung verschütteter Traditionslinien weiblicher Kulturgeschichte, die Wiederentdeckung und Neubewertung von Autorinnen führte zu einer Korrektur des herrschenden Kanons, zur Erweiterung des Literaturbegriffs, zur Kritik des Genie-Mythos und zu einer Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen und Methoden der Literaturwissenschaften. Die Kanonerweiterung ließ sich am Vordringen der Kategorie „Frauenliteratur“ in den allgemeinen literaturwissenschaftlichen Diskurs ablesen (vgl. Weigel 1989: 19-25).
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Weibliche Subjektposition als Problem Es bildeten sich u.a. dekonstruktivistische Konzepte heraus, die durch die Infragestellung autonomer Subjektkonzeptionen feste Vorstellungen von ‚Weiblichkeit‘ und ‚Männlichkeit‘ unterlaufen. Obwohl also mit ‚Identität‘ die Voraussetzung der Kategorie weibliche Ästhetik unwiderruflich problematisiert worden ist, blieb die Frage nach feministischer Literatur und Ästhetik auch in den 1990er Jahren unter Kunst-, Literatur-, Medien- und (eingeschränkter) Musikwissenschaftlerinnen ungebrochen virulent. Es wurde nach geschlechtsspezifischen Affinitäten zu bestimmten Themen, Motiven, Formen und Gattungen gefragt, wobei sich zeigte, in welchem Maße solche Affinitäten Resultat sozialer Zuschreibungen waren. Insbesondere die Vor- und Darstellbarkeit einer weiblichen Subjektposition trat als Problem hervor und führte zur Thematisierung der unmöglichen Autorposition der Frau (vgl. Hahn 1991, Kord 1996, HoffmannCurtius/Wenk 1997). Da Autorschaft kulturhistorisch an die männliche Subjektposition gebunden war, zeigte sich in der Analyse von Texten Sophie La Roches, Rahel Varnhagens, Ingeborg Bachmanns u.a. die Eroberung der Autorposition durch Frauen als überaus schwieriger und literaturhistorisch vielschichtiger Prozess. Hatte sich die Etablierung des männlichen Autors und Künstlers vor dem Hintergrund der Festschreibung der Geschlechtscharaktere vollzogen, welche in der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben Frauen aus der öffentlichen Sphäre ausschloss, so gerieten weibliche Autorinnen in die paradoxe Situation einer „unmöglichen Autorposition“ (Weigel 1990: 102ff.). Wo sich der männliche Autor über die Tötung des Weiblichen als Schöpfer konstituiert (vgl. Berger/Stephan 1987, Bronfen 1994), müsste die Autorin diesen Vorgang am eigenen Geschlecht vornehmen. Sie gerät damit in eine fundamentale Widersprüchlichkeit weiblicher Schöpfung im Symbolischen, in eine Spaltung, deren Perspektive Luce Irigaray 1979 als doppelten Ort der Frauen gegenüber der Sprache beschrieben hat. Die Autorin trifft auf das von Bovenschen beschriebene Missverhältnis zwischen „Bilderreichtum und Schattenexistenz“ (Bovenschen 1979b: 17, vgl. Schuller 1990: 47-65), zwischen der Übermacht an künstlerischen Weiblichkeitsbildern einerseits und dem Ausschluss realer Frauen aus dem Kanon der Literatur- und Kunstgeschichte andererseits. Angesichts der universellen Bildfunktion des Weiblichen (vgl. Weigel 1990: 246) und ihrer Funktionszuweisung als Muse und Modell ist die Autorin gezwungen, sich aus dieser ,symbolischen Verstrickung‘ immer wieder neu zu befreien. Die Frage nach Bedingungen und Widersprüchen künstlerischer Kreativität von Frauen brachte eine Fülle von Einzeluntersuchungen (Bettinger/Funke 1995, Lehnert 1997, 1996; Öhlschläger 1996, Runte 2005, 2006; Schabert 1997, Stephan 1997, 2004), vor allem aber eine kritische Auseinandersetzung mit scheinbar geschlechtsneutralen Kriterien ästhetischer Wertung hervor. Die machtgestützten Prozesse der Kanonbildung und Auswahl wurden einer ideologiekritischen Revision unterzogen (vgl. Heydebrand/Winko 1994) und der literaturgschichtliche Kanon selbst wurde entscheidend erweitert (vgl. Hechtfischer/Hof/Veit-Wild 1998, Schabert 1997). Dem Kanon als Korpus von Überlieferungen – von Werken, AutorInnen und Deutungen –, der eine Gemeinschaft als besonders wertvoll und deshalb tradierenswert anerkennt, wohnt eine Tendenz zur Universalisierung inne. Die Funktion des Kanons besteht darin, einer konkreten Gesellschaft Legitimation zu verschaffen. Das geschieht durch Verankerung in der Vergangenheit, also Traditionsbildung, durch Identitätsstiftung (über Abgrenzung) und durch Handlungsorientierung (im Kanon sind Normen und Werte formuliert und festgeschrieben). Die Geschlechterdifferenz manifestiert sich auf verschiedene Weise in Prozessen der Kanonisierung von Literatur und in ihrem Vorfeld, dem Lesen und Werten literarischer Texte. Frauen trafen lange auf die von Virginia Woolf schon 1928 (Woolf 1928) beschriebenen praktischen Behinderungen ihres Schreibens sowie auf eine irrationale Voreingenommenheit gegenüber der Fähigkeit zum Schreiben überhaupt, wie Goethes Rede vom „Dilettantismus der Weiber“ (Bürger 2001: 33ff.) erkennen lässt. Andere Mechanismen der Abwertung betrafen und betreffen die Gegenstände ihrer Texte, die von ihnen bevorzugten Gattungen z.B. den Brief (vgl. Hahn 1988, French 1996) immer wieder aber auch ihre öffentliche Person.
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Noch im 21. Jahrhundert treffen wir etwa im Verständnis der literarischen Moderne auf ein Miss-Verhältnis zwischen der Anerkennung und wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Texten von Autoren und Autorinnen der Moderne, das bereits 1992 von Johanna Bossinade u.a. kritisch analysiert worden war. Das Moderne-Verständnis ist geprägt von einer AutonomieÄsthetik, die an Texten ausschließlich männlicher Autoren entwickelt wurde. Längst überholte Deutungen und Maßstäbe werden so etabliert und erneut befestigt. Versuche der Kanonkritik geraten ebenso wie feministische Gegenkanones fast zwangsläufig in die Defensive, müssen sie doch das Argument des Geschlechts benutzen, um auf Ausgrenzungen, Blindheiten, Marginalisierungen hinzuweisen, wo Herausgeber von Anthologien und Verfasser von Literaturgeschichten scheinneutrale Maßstäbe literarischer Qualität in Anschlag bringen. Ästhetische Diskurse sind somit auch in der Gegenwart stets daraufhin zu analysieren, in welcher Weise sich darin – offen oder versteckt – Geschlechterdramaturgien manifestieren.
Produktive Synthesen In den 1990er Jahren, als die Kategorie Geschlecht nicht zuletzt dank der feministischen Literaturwissenschaften längst theoriefähig geworden war, wurden in Deutschland vor allem US-amerikanische dekonstruktivistische Ansätze produktiv aufgegriffen (vgl. Vinken 1992). Die Literaturwissenschaften unterzogen nun nicht mehr nur Weiblichkeitsstereotypen der kritischen Analyse, sondern öffneten sich auch der in den 1970er Jahren entstandenen Männerforschung. Zudem setzte sich die Auffassung durch, die Geschlechterdifferenz sei in der Sprache verankert und werde nicht zuletzt mit Hilfe literarischer Narrative produziert und reproduziert. Mit Judith Butler wurde Identität zunehmend als Effekt von Diskursen verstanden, als Praxis der Bezeichnung im regulierten und veränderten Wiederholungsprozess (Butler 1991: 212). Die literaturwissenschaftliche Geschlechterforschung ging produktive Synthesen ein, ob mit der Erzähl- und Gattungstheorie (Nünning/Nünning 2004), der Gedächtnis-, Alteritäts- und Interkulturalitätsforschung (Veit-Wild 2006, Dietze 2007), der historischen Anthropologie (Dornhof 2005b) oder der Diskursanalyse. Das ausgeprägte Differenzdenken und gewachsene Bewusstsein für Praktiken der Dominanz und Unterwerfung unter LiteraturwissenschaftlerInnen führte zur Erkenntnis der Interdependenzen von race, class und gender und u.a. zur Herausbildung der transdisziplinären Postcolonial Studies (Spivak/Landry 1996, Bhabha 2000, Said 2000), des Black Feminist Literary Criticism und der Lesbian and Gay bzw. Queer Studies. Weiblichkeit und Männlichkeit, so wurde deutlich, sind kulturelle Konstruktionen, die nie als rein binäre Figuren auftreten, sondern immer durch andere Hierarchisierungskategorien der Differenz gebrochen sind und vielfältige Subjektpositionen bezeichnen (vgl. Dornhof 1993, 2005a: 486). Durch ihre kulturwissenschaftliche Öffnung erweiterten die genderorientierten Literaturwissenschaften in den letzten Jahren ihre Themenfelder entscheidend (vgl. Hof 1995, Erhart/Herrmann 1996). Neuere Forschungen widmen sich den Interdependenzen von Geschlecht und Ethnie (vgl. Breger 1998), Geschlecht und Genealogie (vgl. Erhart 2001, Schnurbein 2001), Geschlecht und Mythos (vgl. Stephan 2006), Geschlecht und Wissen oder Geschlecht und Alter (vgl. Dahlke 2006). Literaturwissenschaftliche Analyseverfahren werden zunehmend auch auf außerliterarische Diskurse angewandt (vgl. Siebenpfeiffer 2005, Nieberle/Strowick 2006), Repräsentationsfiguren der Macht ebenso unter dem Blickwinkel der Vergeschlechtlichung analysiert (vgl. Breger 2004) wie bündische Rituale und Organisationsstrukturen (vgl. Brunotte 2004). Inzwischen stellt auch innerhalb der Mediavistik das Geschlecht eine unter anderen Analysekategorien dar (vgl. Wieland 1998, Klinger 2002, Maierhofer 2005). Die Komplexität und Vielfalt der Fragestellungen und Gegenstände erzwingt ein Überschreiten disziplinärer Grenzen und lässt rückwirkend auch die Literaturwissenschaften nicht unverändert.
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Verweise: Französischer Feminismus Künstlerin/Kunstgeschichte Linguistik
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Musik: Frauen- und Geschlechterforschung in der Musikwissenschaft
Fachspezifische Bedingungen Die Etablierung der Frauen- und Geschlechterforschung in der Musikwissenschaft ist zwei entscheidenden fachspezifischen Bedingungen unterworfen. Erstens hat die traditionelle und nach wie vor institutionell verankerte Dreiteilung des Faches in die – dominante – Historische Musikwissenschaft, die Systematische Musikwissenschaft (mit den Teilgebieten Musiksoziologie, Musikpsychologie und Musikästhetik) und die Musikethnologie zur Folge, dass die Diskurse teilweise parallel und unabhängig voneinander geführt werden, so dass der Stand der Geschlechterforschung in den Teildisziplinen kaum vergleichbar ist. Zweitens steht insbesondere die historische Musikwissenschaft in enger Beziehung zum öffentlichen Musikleben, das auf wissenschaftliche Arbeit (Recherche von Werken, Notenausgaben, Aufführungsweisen) unmittelbar angewiesen ist, dabei jedoch selbst Fragestellungen und Arbeitsgebiete der Musikwissenschaft mit prägt und aufgrund seines stark auf westliche Kunstmusik ausgerichteten Repertoires die Neuausrichtung der historischen Musikwissenschaft sowohl auf Geschlechteraspekte als auch allgemein auf kulturhistorische Themen erschwert. Dass die musikwissenschaftliche Frauen- und Geschlechterforschung bis heute ihre Arbeitsfelder überwiegend in der historischen Musikwissenschaft findet, erklärt sich nicht zuletzt durch ihre eigene Geschichte: Die feministische Frauenforschung seit den 1970er Jahren war von traditionskritischen Ansätzen geprägt, die sich zunächst vor allem im Hinterfragen der das Musikleben und die Repertoires prägenden Machtstrukturen äußerten. Sie muss als Voraussetzung der späteren Genderforschung angesehen werden, die die Grundannahmen und zentralen Kategorien der Musikhistoriographie (Werk und Oeuvre, Kanon, Autor, Geniebegriff etc.) auf ihre geschlechtergeschichtlichen Implikationen hin analysiert und als gegenderte Phänomene erkennt (vgl. Citron 1993).
Frauenforschung und Genderforschung in den musikwissenschaftlichen Teildisziplinen In der historischen Musikwissenschaft herrschte lange Zeit eine selbstverständliche Konzentration auf die ‚Meisterwerke‘ der Musikgeschichte, die in Carl Dahlhaus’ (1977) „Grundlagen der Musikgeschichte“ geschichtstheoretisch untermauert wurde und bis heute die Themenstellungen für die Forschung prägt. Dabei gerieten weibliche Akteure aus mehreren Gründen aus dem Blick. Erstens finden sich Komponistinnen mit ihren Werken nicht im Kanon der Meisterwerke, da Frauen in allen musikhistorischen Epochen nur eingeschränkten Zugang sowohl zu fundierter Musikausbildung als auch zu professioneller Musikausübung hatten. Zweitens sind die Urteilsprozesse, auf denen die Einschätzungen von Werken als musikhistorisch relevant beruhen, noch immer von Vorurteilen im Hinblick auf weibliche Leistungen beeinflusst, aufgrund derer Kompositionen von Frauen abgewertet oder ganz verschwiegen werden. Von erheblicher Bedeutung
Musik
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ist drittens die mit der Werkorientierung der Musikwissenschaft verbundene Marginalisierung des praktischen Musizierens und der Musikrezeption. Wenn Aufführung bzw. Interpretation und Rezeption von Musik als untergeordnete Funktionen des Komponierten aufgefasst werden, wird ein großer Bereich der Musikgeschichte aus dem Spektrum der Forschungsthemen ausgeblendet, und zwar einer, in dem Frauen historisch eine weit wichtigere Rolle spielen konnten als im Feld der Komposition. Aber selbst wenn – wie in den letzten Jahrzehnten zunehmend – die Musikausübung und das praktische Umgehen mit Musik thematisiert werden, finden Handlungen, die mit männlich dominierten Berufsfeldern verbunden sind, eine stärkere Aufmerksamkeit als etwa das Singen, das bis heute ein ausgesprochener ‚Frauenberuf‘ ist, ungeachtet der tatsächlichen Bedeutung etwa von weiblichen Gesangsstars im Musikleben ihrer Zeit. Derzeit bestehen in der historischen Musikwissenschaft mehrere Ansätze nebeneinander (vgl. Rieger/Nieberle 2005). Zur Frauen- und Geschlechterforschung werden üblicherweise auch Studien gezählt, die sich der Erforschung der Musik von Komponistinnen widmen, wenngleich sie oft mit den traditionellen Ansätzen der Philologie und Kompositionsgeschichte arbeiten: Arbeiten über Werke etwa von Fanny Hensel, Clara Schumann, Louise Farrenc oder Emilie Mayer sind in ihren Fragestellungen nicht notwendig stärker von gendertheoretischen Überlegungen geprägt als solche z.B. über Joseph Haydn oder Johannes Brahms, wenn sie auch ohne die durch die Frauenforschung ausgelöste Kanonkritik kaum entstanden wären. Das Arbeitsgebiet der musikgeschichtlichen Geschlechterforschung ließe sich allgemein definieren als die Untersuchung musikbezogenen Handelns unter Geschlechteraspekten. Komponieren lässt sich dabei als soziale Praxis im geschlechtergeschichtlichen Kontext auffassen, aber auch als künstlerische Konstruktion von Gender bzw. als Partitur für die Performanz von Geschlecht. Es stellt jedoch nur eines unter zahlreichen anderen musikbezogenen Handlungsfeldern dar, dem nicht a priori eine wichtigere Bedeutung für die Erkenntnis zukommt als etwa der Musikausübung, dem Musikhören, dem Musikmarkt, dem Nachdenken über Musik etc. Umstritten – und vielleicht gar nicht endgültig entscheidbar – ist die Frage, ob die Geschlechterforschung ein eigenes Teilgebiet oder eine eigene Methode der Musikwissenschaft darstellt. Auf der einen Seite kann Geschlecht als eine universale, sich in unterschiedlichsten methodologischen Ansätzen manifestierende Perspektive aufgefasst werden, die sich für das Verständnis musikalischer Phänomene stets als mehr oder weniger ergiebig, aber kaum jemals als vollkommen irrelevant erweist. Einer solchen in erster Linie auf die Musik zielenden Argumentation kann ein Ansatz gegenübergestellt werden, der die Musik im Kontext allgemeinhistorischer – und hier insbesondere geschlechtergeschichtlicher – Erkenntnis sieht. Hier profitiert weniger die Erklärung musikhistorischer Phänomene durch die Anwendung der Geschlechterperspektive als umgekehrt die geschlechtergeschichtliche Erkenntnis dadurch, dass Musik bzw. musikbezogenes Handeln als Gegenstand einbezogen wird. Auch in der Musiksoziologie wird Geschlecht als Kriterium der Analyse bevorzugt auf historische Phänomene angewandt, wobei sich die Trennlinie zwischen historischer und systematischer Musikwissenschaft immer mehr verwischt. Empirische Untersuchungen zu Geschlechteraspekten etwa des aktuellen Musiklebens mit Methoden der quantitativen und qualitativen Sozialforschung (vgl. Vogt 2005) hingegen sind noch selten, ebenso solche zur Musikpsychologie und zu musikpädagogischen Fragestellungen (vgl. Green 1997). Ein immer wichtiger werdendes Arbeitsgebiet ist der Bereich der Popularmusikforschung (vgl. Whiteley 2000). Werden deren von Geschlechterverhältnissen geprägte Strukturen auch zunehmend zum Gegenstand musiksoziologischer Forschung, so ist doch gleichzeitig zu beobachten, dass die erst entstehende Historiografie der populären Musik ebenso wie die der ‚Kunstmusik‘ dazu neigt, traditionelle Mechanismen der Geschichtsschreibung zu reproduzieren und weibliche Akteure wie auch Geschlechteraspekte bei der Analyse von Texten, Musik und sozialen Funktionen zu vernachlässigen. In der Musikethnologie gehört die Untersuchung der sozialen Kontexte und Funktionen des Musizieren auch unter Berücksichtigung des Geschlechts seit Langem zu den etablierten Arbeitsgebieten, wenn auch Theorien über Geschlechterverhältnis-
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Rebecca Grotjahn
se und zur sozialen Konstruktion von Gender erst in jüngeren Studien fruchtbar gemacht werden (vgl. Herndon/Ziegler 1990).
Geschichte und zentrale Debatten der musikhistorischen Frauenund Geschlechterforschung Das Fehlen weiblicher Namen in den seit Beginn des 19. Jahrhunderts entstehenden Darstellungen der Musikgeschichte hat schon in der Zeit um 1900 einige Bücher oder Aufsätze über Komponistinnen bzw. zum früher gern so genannten Themengebiet ‚Frau und Musik‘ motiviert. Darunter finden sich neben überblicksartigen Darstellungen (vgl. La Mara 1882/83, Morsch 1893) einige fundierte Spezialstudien, etwa Berthold Litzmanns (1902-1908) dreibändiges Werk über Clara Schumann oder Heinrich Stümckes (1913) Arbeit über Henriette Sontag, die sich nicht nur durch sorgfältige Quellenstudien auszeichnen, sondern auch durch ihr Interesse an sozial- und aufführungsgeschichtlichen Aspekten, die im Zuge der kulturwissenschaftlichen Neuorientierung des Faches heute als überraschend innovativ erscheinen. Wenn der Beginn der musikwissenschaftlichen Frauenforschung heute zuweilen mit Sophie Drinkers (1948) „Music and Women“ angesetzt wird, so ist dies nicht nur aus dem Grunde schwer nachvollziehbar, dass dieses zwar anregende, aber über weite Strecken spekulative und Quellenkritik vernachlässigende Werk kaum als wissenschaftliche Arbeit zu bezeichnen ist; hinzu kommt, dass bereits vor Beginn des Zweiten Weltkrieges mehrere Arbeiten zur Sozialgeschichte der Musik von Frauen publiziert wurden, etwa von Kathi Meyer-Baer (1917), Margarete Högg (1931) oder Annemarie Krille (1938). Im Zuge der ‚Zweiten Frauenbewegung‘ setzte in den 1970er Jahren eine Phase des Wiederentdeckens der Musik von Frauen ein, die sich – im Sinne des HerStory-Konzepts – von vornherein stark mit historischen Interessen verband. Hier ging es zunächst vor allem um das Recherchieren von Noten wie auch von biografischen Informationen zu Komponistinnen, deren Werke in Konzerten und speziellen Festivals dargeboten wurden. Die seit dieser Zeit entstandenen Überblickswerke und editorischen Aktivitäten schufen eine unschätzbare Grundlage für die Forschung (z.B. Weissweiler 1981, Bowers/Tick 1986, Pendle 1991, Hoffmann/Rieger 1992, Sadie/ Samuel 1994, Roster 1998, Rebmann/Nägele 2004). Zugleich entstanden einschlägige Fachorganisationen, die zum Teil eigene Archive unterhalten (z.B. Arbeitskreis Frau und Musik mit Archiv Frau und Musik seit 1978, heute in Frankfurt am Main) und eigene Publikationen herausgeben. Als Durchbruch zu einer feministischen Musikwissenschaft gilt international Eva Riegers (1981) „Frau, Musik und Männerherrschaft“, die als erste Monografie die Zusammenhänge von Geschlecht und Musikgeschichtsschreibung systematisch hinterfragte. In der Folge kam es zu einer stetigen Intensivierung der musikwissenschaftlichen Frauenforschung, die sich in Deutschland insbesondere nach der Gründung der Fachgruppe Frauen- und Geschlechterforschung (heute: Frauen- und Genderstudien) in der Gesellschaft für Musikforschung im Jahre 1994 im Fach zu etablieren begann; inzwischen sind mehrere Professuren mit spezieller Denomination versehen. In der Forschung liegt ein Schwerpunkt bis heute im Bereich der Komponistinnenbiografik, die zuweilen als Reproduktion der traditionellen Heroengeschichte unter feministischen Vorzeichen verkannt wird. Das Interesse an ‚großen Namen‘ war zunächst von der Aufbruchstimmung der Anfangszeit getragen und hatte nicht zuletzt wichtige Auswirkungen auf das künstlerische Selbstverständnis der in diesem Bereich aktiven Musikerinnen, die in Komponistinnen auch Identifikationsfiguren sahen. Inzwischen hat gerade im Bereich Biografik eine intensive methodologische Reflexion stattgefunden. Viele der biografischen Studien zu Musikerinnen folgen nicht mehr traditionellen heroen- bzw. geniebiografischen Modellen, sondern thematisieren
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kultur- und sozialgeschichtliche Bedingungen musikalischen Handelns, wobei zugleich neue Erzählweisen entwickelt wurden, die sich als wegweisend für die gesamte Musikerbiografik erwiesen haben. Hier sind vor allem die Arbeiten Beatrix Borchards (1985, 2005) zu nennen. Dabei wurde das Spektrum der behandelten Persönlichkeiten mittlerweile erheblich ausgeweitet; zahlreiche Komponistinnen, Instrumentalistinnen und Sängerinnen vom Mittelalter bis zur Gegenwart sind inzwischen durch Monografien, aber auch durch Editionen von Briefen und anderen Dokumenten wissenschaftlich erschlossen (vgl. z.B. Kreutziger-Herr/Unseld 2005ff.). Unterschiedliche Auffassungen gibt es im Hinblick auf die Möglichkeit, Geschlechteraspekte in musikalische Analysen einzubringen. In weiten Kreisen der traditionellen Musikwissenschaft wurde die Frauen- bzw. Genderforschung eben aus dem Grunde lange als irrelevant betrachtet, dass man das Geschlecht des Komponisten für die – im Zusammenhang mit der werkorientierten Ausrichtung des Faches als zentrales Arbeitsfeld betrachteten – Werkanalyse als unerheblich betrachtete: Musikalische Formen und Strukturen seien geschlechtsneutral. Hier setzen verschiedene Stränge der Geschlechterforschung kritisch an. Als veraltet gelten inzwischen die auf der Basis eines essenzialistischen Geschlechterbegriffs vorgenommenen Versuche, geschlechtstypische Weisen des Komponierens bzw. der musikalisch ausgedrückten Emotionalität zu belegen. Hingegen arbeiten VertreterInnen der New Musicology, oft auf der Basis von Theoriekonzepten der queer bzw. lesbian studies, aus Kompositionen narrative Strukturen – insbesondere Begehrensstrukturen – heraus, die Gender-Konstruktionen abbilden, reproduzieren oder dekonstruieren (vgl. z.B. McClary 1991). Diese Perspektive führt zu neuen Interpretationen nicht zuletzt auch der ‚Meisterwerke‘ männlicher Komponisten, die sich allerdings zuweilen der Kritik ausgesetzt sehen, unhistorisch zu argumentieren. Kulturgeschichtlich orientierte Analysen setzen an der Erkenntnis an, dass sozial- bzw. geschlechtergeschichtliche Bedingungen die konkreten kompositorischen Handlungen mit prägen. Die sozialen Kontexte des Komponierens – das Vorhandensein einer Öffentlichkeit oder eines Marktes, die Zusammensetzung der Musizierenden und der Hörerschaft, lokale und räumliche Bedingungen usw. – sind in der Regel auch geschlechtsspezifisch bestimmt und wirken sich nicht nur auf die Wahl der musikalischen Gattungen aus, sondern auch auf musikalische Strukturen. Zu neuen Erkenntnissen führt die geschlechtergeschichtliche Kontextualisierung vor allem im Bereich der Opernforschung. Viele Werke lassen sich als musikalisch-szenische Inszenierung von Geschlechterverhältnissen beschreiben, die erst im Kontext zeitgenössischer geschlechtertheoretischer Debatten verständlich werden (vgl. Herr 2000, Unseld 2001). Als fruchtbar erweist sich in diesem Zusammenhang nicht zuletzt die Begrifflichkeit Performanz/Performativität. Sie liefert nicht nur für die Analyse musikbezogener künstlerischer Handlungen (Singen, Aufführen, szenische Realisation) ein Vokabular, sondern ermöglicht auch einen neuen Blick auf Werke als Partituren für die Performanz von Geschlecht im Sinne des ‚doing‘ bzw. ‚undoing gender‘ (vgl. Oster/Ernst/Gerads 2008). Vor allem das ‚Gendering‘ der Singstimme hat sich in den letzten Jahren zu einem zentralen Forschungsthema entwickelt (vgl. Grotjahn 2005). Insbesondere deutschsprachige ForscherInnen mahnen in jüngster Zeit eine stärkere empirisch-kulturhistorische Fundierung der musikwissenschaftlichen Geschlechterforschung an, die – wie die Musikwissenschaft insgesamt – sozialgeschichtliche Themen weitgehend vernachlässigt (vgl. Knaus 2002). Dadurch fehlt für die geschlechtergeschichtliche Kontextualisierung von Musik vielfach eine sichere Grundlage. So ist die Musikerinnen-Ausbildung erst ansatzweise wenig erforscht, ebenso Arbeitsbedingungen, Bezahlung oder Sozialstatus von Musikerinnen, die erst in wenigen Arbeiten systematisch thematisiert wurden (vgl. Hoffmann 1991, Koldau 2005). Auch mentalitäts- und alltagsgeschichtliche Perspektiven werden bislang kaum in die Forschung einbezogen. Die wenigen Beispiele – etwa der Sammelband „Puppen Huren Roboter“ (vgl. Meine/Hottmann 2005), der Körperkonzepte des frühen 20. Jahrhunderts untersucht – zeigen jedoch, welches Potenzial gerade in diesen Ansätzen liegt, in denen sich Musik als Quelle für Mentalitäten und Geschlechterverhältnisse erweist.
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Verweise: Biografieforschung Dekonstruktion und Diskurs-Genealogie Doing gender Forschungsmethodologien Frauenbewegungen „Frühe“ Frauenforschung Geschichte Konstruktion von Geschlecht Lesbenforschung und Queer Theorie Psychologie
Literatur Borchard, Beatrix 1985: Robert Schumann und Clara Wieck. Bedingungen künstlerischer Arbeit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Weinheim, Basel: Beltz (Ergebnisse der Frauenforschung, Bd. 4), 2. Auflage 1991 u. d. T. Clara Wieck und Robert Schumann. Bedingungen künstlerischer Arbeit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Kassel: Furore Borchard, Beatrix 2005: Stimme und Geige: Amalie und Joseph Joachim – Biographie und Interpretationsgeschichte. Wien etc.: Böhlau (Wiener Veröffentlichungen zur Musikgeschichte, Bd. 5). 2. Aufl. 2007 Bowers, Jane/Judith Tick (Hrsg.) 1986: Women Making Music. The Western Art Tradition, 1150–1950. Urbana: University of Illinois Press Citron, Marcia 1993: Gender and the Musical Caono. Cambridge: University Press Dahlhaus, Carl 1977: Grundlagen der Musikgeschichte. Köln: Gerig Drinker, Sophie 1948: Music and Women. The Story of Women in their Relation to Music. New York: Coward/McCann. (Dt. 1955 u. d. T.: Die Frau in der Musik. Eine soziologische Studie. Zürich: Atlantis) Grotjahn, Rebecca: „‚Die Singstimmen scheiden sich ihrer Natur nach in zwei große Kategorien‘. Die Konstruktion des Stimmgeschlechts als historischer Prozess“. In: Meine, Sabine/Katharina Hottmann (Hrsg.): Puppen, Huren, Roboter. Körper der Moderne in der Musik 1900–1930. Schliengen: Edition Argus, S. 34-57 Herndon, Marcia/Susanne Ziegler (Hrsg.) 1990: Music, Gender, and Culture. Wilhelmshaven: Noetzel (Intercultural music studies, 1) Herr, Corinna 2000: Medeas Zorn. Eine „starke Frau“ in Opern des 17. und 18. Jahrhunderts. Herbolzheim: Centaurus Högg, Margarete 1931: Die Gesangskunst der Faustina Hasse und das Sängerinnenwesen ihrer Zeit in Deutschland. Königsbrück: Pabst Hoffmann, Freia 1991: Instrument und Körper. Die musizierende Frau in der bürgerlichen Kultur. Frankfurt/M.: Leipzig: Insel Hoffmann, Freia/Eva Rieger (Hrsg.) 1992: Von der Spielfrau zur Performance-Künstlerin. Auf der Suche nach einer Musikgeschichte der Frau. Kassel: Furore Knaus, Kordula 2002: Einige Überlegungen zur Geschlechterforschung in der Musikwissenschaft. In: Archiv für Musikwissenschaft 59, S. 319-329 Koldau, Linda Maria 2005: Frauen – Musik – Kultur. Ein Handbuch zum deutschen Sprachgebiet der Frühen Neuzeit. Köln, Weimar, Wien: Böhlau Kreutziger-Herr, Annette/Melanie Unseld (Hrsg.) seit 2005: Europäische Komponistinnen. Köln, Weimar, Wien: Böhlau [auf 24 Bände angelegte Biographienreihe] Krille, Annemarie 1938: Beiträge zur Geschichte der Musikerziehung und Musikübung der deutschen Frau (von 1750 bis 1820). Berlin: Triltsch und Huther La Mara [Lipsius, Marie] 1882/83: Die Frauen im Tonleben der Gegenwart. Leipzig: Breitkopf und Härtel (Musikalische Studienköpfe, Bd. 5) Litzmann, Berthold 1902–1908: Clara Schumann – Ein Künstlerleben. Nach Tagebüchern und Briefen, 3 Bände. Leipzig: Breitkopf und Härtel (div. Neuauflagen und Nachdrucke) McClary, Susan 1991: Feminine Endings: Music, Gender, and Sexuality. Minneapolis u.a.: University of Minnesota Press (div. Neuauflagen) Meine, Sabine/Katharina Hottmann (Hrsg.) 2005: Puppen, Huren, Roboter: Körper der Moderne in der Musik zwischen 1900 und 1930. Schliengen: Edition Argus Meyer[-Baer], Kathi 1917: Der chorische Gesang der Frauen. Mit besonderer Bezugnahme seiner Betätigung auf geistlichem Gebiet. Leipzig: Breitkopf und Härtel Morsch, Anna 1893: Deutschlands Tonkünstlerinnen. Biographische Skizzen aus der Gegenwart. Berlin: Stern und Ollendorf
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Oster, Martina/Waltraud Ernst/Marion Gerads (Hrsg.) 2008: Performativität und Performance. Geschlecht in Musik, Theater und Medienkunst. Hamburg: Lit Rebmann, Martina/Raimer Nägele (Hrsg.) 2004: klangwelten: lebenswelten. komponistinnen in süddeutschland. Stuttgart: Württembergische Landesbibliothek Pendle, Karin (Hrsg.) 1991: Women & Music. A History. Bloomington: Indiana University Press Rieger, Eva 1981: Frau, Musik und Männerherrschaft. Zum Ausschluß der Frau aus der deutschen Musikpädagogik, Musikwissenschaft und Musikausübung. Frankfurt/M. u.a.: Ullstein (2. Auflage 1988: Kassel: Furore) Rieger, Eva/Sigrid Nieberle 2005: Frauenforschung, Geschlechterforschung und (post-)feministische Erkenntnisinteressen: Entwicklungen in der Musikwissenschaft. In: Bußmann, Hadumod/Renate Hof: Genus. Geschlechterforschung/Gender Studies in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Ein Handbuch, Stuttgart: Kröner, S.263-294 Roster, Danielle 1998: Die großen Komponistinnen, Lebensberichte. Frankfurt/M., Leipzig: Insel. (Rev. Neuauflage von Roster, Danielle 1995: Allein mit meiner Musik. Komponistinnen in der Musikgeschichte vom Mittelalter bis ins frühe 20. Jahrhundert. Echternach: Éditions phi. Sadie, Julie/Samuel Rhian (Hrsg.) 1994: The New Grove Dictionary of Women Composers, London: Macmillan Stümcke, Heinrich 1913: Henriette Sontag. Ein Lebens- und Zeitbild. Berlin: Selbstverlag der Gesellschaft für Theatergeschichte Unseld, Melanie 2001: „Man töte dieses Weib“. Weiblichkeit und Tod in der Musik der Jahrhundertwende. Stuttgart: Metzler Vogt, Sabine 2005: Clubräume – Freiräume. Musikalische Lebenswelten in den Jugendkulturen Berlins. Kassel: Bärenreiter Weissweiler, Eva 1981: Komponistinnen aus 500 Jahren. Eine Kultur- und Wirkungsgeschichte in Biographien und Werkbeispielen. Frankfurt/M.: Fischer Whiteley, Sheila 2000: Women and Popular Music. Sexuality, Identity, and Subjectivity. London u.a.: Routledge
Gabriele Mentges
Mode: Modellierung und Medialisierung der Geschlechterkörper in der Kleidung
Zum Zusammenhang zwischen Mode und Geschlecht seit dem 18. Jahrhundert Die Bedeutung der Mode bei der Konstruktion von z.T. bis heute gültigen Weiblichkeitsbildern ist nicht nur als Beitrag zu einer „Kultur der äußeren Erscheinung“ zu begreifen, sondern bildet eine wichtige Strategie zur Herausbildung spezifischer Arten von geschlechtlichem Körperhabitus und körperlichen Techniken. Durch die Konstruktion eines visible self hat die Mode maßgeblich zur geschlechtlichen Identitätsbildung in der Moderne und Spätmoderne beigetragen (vgl. Barnes/Eicher 1993, Davies 1992, De la Haye/Wilson 1990, Wilson 1990, Eicher/Lutz/Evenson 2000, Mentges 2005). Allerdings ist diese Verbindung erst selbst Resultat eines historisch langwierigen Prozesses und eingelagert in die Konstellationen der bürgerlichen Gesellschaft seit ihrer politischen Formierung gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Die etymologische Herkunft des Begriffs Mode verweist auf die französische Sprache des 15. Jahrhunderts, in der die Bezeichnung „à la mode“ einen Modus oder eine bestimmte „Art und Weise“ bezeichnet (Böth/Mentges 1989, Devoucoux 1999). Von da aus hat sich der Begriff während des 17. Jahrhunderts im Sprachgebrauch als allgemeine Bezeichnung für Kleidungsweisen eingebürgert. Mode bezeichnet heute nicht das kulturelle Phänomen von Bekleidung überhaupt, sondern ein komplexes ökonomisches und kulturelles Gebilde, das an zeitliche wie kulturelle Kontexte gebunden ist. Unter dem westlichen Konzept von Mode wird ein an der Dynamik des Marktes orientiertes Kleidungsverhalten verstanden, dessen Folgen und zugleich Voraussetzungen die industriell massenhaft angefertigte Kleidung, die Konfektion (vgl. Krause 1965, Deneke 1969, Mentges 1993) bildet. Sowohl auf gesellschaftlicher als auf individueller Ebene bildet die kulturell erlernbare Fähigkeit zur geschmacklichen Kompetenz das maßgebliche Muster der gesellschaftlichen Distinktion heraus (Perrot 1981, Bourdieu 1995). Es ist sinnvoll, diese an den westlichen Gesellschaften orientierte sozioökonomische Definition von Mode durch die Einbeziehung des Körpers als Basiskategorie kulturanthropologisch zu erweitern und zu vertiefen. Mode kann so als eine spezifische kulturelle Form von Körpertechnologie verstanden werden (vgl. Craik 1994), die den Körper mittels einer spezifischen Gestaltung über Kleidung in eine besondere Beziehung zu seiner materiell-räumlichen wie imaginären Umgebung stellt. Die kulturanthropologische Sicht beinhaltet als weiteren Schritt die Berücksichtigung des Blickregimes: Denn die Kleidung, speziell die Mode, ist zwar einerseits Bestandteil des immer wieder aufs Neue entstehenden visuellen Prozesses, andererseits trägt sie mit dazu bei, ihn zu erzeugen. Wenn Hans Belting (2001: 12) vom Körper behauptet, er sei der Ort der Bilder, so ist damit zugleich der bekleidete Körper gemeint. Denn Kleidung macht den Körper erst kulturell kommunizierbar. Die kulturelle Kommunizierbarkeit des Körpers durch Kleidung betrifft zwar die sinnliche Wahrnehmung auf allen Ebenen, aber in besonderem Maße den visuellen Sinn (vgl. Hollander 1995). Mit der Mode ist daher zugleich ein bestimmtes kulturelles Blickregime intendiert, das den Blick der anderen im visible self spiegelt und zurückspiegelt. Im Prozess der Identitätsbildung und der Geschlechterbeziehungen funktioniert Kleidung daher vergleichbar zu einem „Bildschirm“ (Lacan), der als Medium zwischen BetrachterIn und betrachtetem Subjekt geschaltet ist und in dem beide Blicke aufgenommen und zurückgegeben werden (vgl. Silverman 1994, Silverman 1997: 49).
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Einerseits medialisiert Mode als Bild die Beziehung zwischen den Menschen, daher auch die zwischen den Geschlechtern, andererseits bedarf sie zusätzlicher Bild- (Gemälde, Foto, Film) und Textträger um ihre Bedeutung herzustellen und zu verbreiten. Die kulturelle Bedeutungsmacht der Mode ist daher insbesondere erklärbar über ihre Visualisierung in Bildmedien und über ihre sprachliche Repräsentation (vgl. Barthes 1985). Die Verknüpfung der verschiedenen Definitionsmerkmale lässt erkennen, wie sich der bekleidete Körper in den westlichen Kulturen als wichtiges Scharnier zwischen Ökonomie und Kultur herausgebildet hat. Die Mode erlaubt den unmittelbaren Zugriff von Ökonomie und Technologie auf den individuellen Körper. Mittels neuer Kleidungstechnologien und -konzepte (Vermaßung, Standardisierung, Konfektion, Unterwäsche usw.) wurden die die Industrialisierung begleitenden Prozesse der Rationalisierung, Hygienisierung, Mobilisierung am männlichen wie weiblichen Körper konkretisiert, allerdings mit klaren geschlechtlichen Akzentuierungen.
Mode im 19. Jahrhundert Ende des 18. Jh. hat sich die Mode als wirtschaftliches und kulturelles Bekleidungssystem gegen die traditionelle ständische Kleidungshierarchie durchgesetzt. Damit konnte Kleidung aus ihrer primären Bestimmung durch sozialpolitische Bindungen gelöst werden. In der Verbindung von ökonomisch orientiertem Konsummuster mit einem kommunikativ-medialen Kleidungsverhalten artikuliert sich die Besonderheit des westlichen Modephänomens (vgl. Kleinert 1980, Purdy 1998). Insofern die Mode die soziale Kommunikation strukturiert und medialisiert, lieferte sie den Schauplatz für die Auseinandersetzung von Geschlechterbildern und -konfigurationen. Die extreme Akzeleration von Moden einschließlich ihrer stilistisch-ästhetischen Vielfalt bestimmte das öffentliche Leben im 19. Jahrhundert (vgl. Sennett 1983). Der extremen Betonung von sekundären Geschlechtsmerkmalen in der Frauenmode durch Krinoline, Tournüre und S-Linie und den unbeweglich machenden Kleiderkonstruktionen wie Korsett, Kleiderfülle usw. stand die nüchtern-spröde, praktischfunktionale Bekleidung des Mannes gegenüber. In beiden kam die ideelle gesellschaftliche Vorstellung der Arbeits- und Aufgabenteilung der Geschlechter zum Ausdruck, die der Frau die Arena von Häuslichkeit und gesellschaftlicher Repräsentation zuwies, dem Mann aber die Arena der ökonomischen Produktivität (vgl. Perrot 1981). Die kulturelle Zuschreibung des textilen Feldes (textiles Material, Mode, textile Hausarbeit usw.) als Sphäre von Weiblichkeit steht zugleich in engem Zusammenhang mit der Feminisierung des Konsums und der Zunahme weiblicher Arbeitskräfte im textilen Vertriebs- wie Produktionsbereich seit dem 18. Jahrhundert (vgl. Roche 1989, Grazia/Furlough 1996).
Diskurse über Mode und Geschlecht im 19. und 20. Jahrhundert Gegen Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts kumulieren daher die Versuche, das Phänomen Mode soziologisch, philosophisch und ökonomisch fassbar zu machen (vgl. Bovenschen 1986). Alle kreisen um das Dilemma, wie das modische Diktat kulturell zu erklären sei und welche Gefahren davon für die Freiheit des Individuums ausgehen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie der Frau eine besondere Anfälligkeit für modisches Verhalten zuschreiben und mittels der Mode Weiblichkeit „naturalisieren“. Sie haben so dazu beigetragen, bis heute wirksame Geschlechterstereotypen herauszubilden. Ein weiterer zentraler Diskursstrang entwickelt sich um das Verhältnis von Körper und Mode im 19. Jahrhundert, weil die materielle wie ideelle Formung des weiblichen Körpers im engen Zusammenhang mit der Bekleidungsfrage diskutiert wurde. Im Zentrum der Auseinandersetzung steht der Streit um das Korsett, d.h. die Formung der weiblichen anatomischen Gestalt.
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Die europäische weibliche Mode des ausgehenden 18., des gesamten 19. bis einschließlich der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts kann daher als integrativer Bestandteil jener weiblichen Sonderanthropologie betrachtet werden, die Claudia Honegger (1996: 126ff.) für die Medizingeschichte beschrieben hat. Bereits mit dem Kampf gegen die Schnürbrust gegen Ende des 18. Jahrhunderts setzt die Auseinandersetzung um die Neumodellierung des weiblichen Körpers mittels Bekleidung an. Den Auftakt bilden medizinische Diskurse, denen sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts künstlerische und naturwissenschaftliche Diskurse zur Seite stellen, um den Frauenkörper nach Kriterien der Modernität neu zu kartieren und zu organisieren (vgl. Montague 1994). Auf der politischen Ebene hat vor allem die Frauenbewegung für die Durchsetzung der Reformideen gesorgt, indem sie den sozialen und kulturellen Aktionsraum der Frau neu definierte. Damit wird der Körper in den modernen westlichen Industrie-Gesellschaften zur Grundlage für soziale, kulturelle und geschlechtliche Differenzierung gemacht (vgl. allgemein zur Reform: Stamm 1978, Welsch 1996) Der männliche Körper und seine Bekleidung bildeten zwar Gegenstand von Reformbemühungen, wie z.B. bei dem Stuttgarter Zoologen und Arzt Gustav Jäger (1832-1917), im Zentrum der Bemühungen jedoch stand der Frauenkörper mit seiner als unmodern empfundenen Bekleidung (vgl. Köhle-Hezinger/Mentges 1993, Wagner 1984). Die männliche Kleidung mit körpernahem Anzug samt den dazu gehörigen Hosen schien bereits die Ansprüche an Modernität weitgehend erfüllt zu haben (vgl. Hollander 1995), wenngleich historische Untersuchungen differenzierter argumentieren (vgl. Brändli 1998).
Mode im 20. Jahrhundert: Mode, Modernität, Weiblichkeit Diese Dichotomie ändert auch nicht das „neue Bild der Frau“ in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts, indem sich ein neuer Frauentypus offenbart. Ihr neuer vestimentärer Habitus zeigt eine modern gestaltete Form von Weiblichkeit, die im Sinne rationaler Zweckmäßigkeit und Praktikabilität eine neue Kleidungs- und Körpersilhouette definiert: Beinfreiheit durch kurze Röcke, taillenloser Schnitt der Kleidung und kurzgeschnittene Haarfrisuren („Bubikopf“). Die Frauen sind nicht nur in der Öffentlichkeit stark präsent, sondern sie geraten selbst ins Visier des öffentlichen Blicks von neuen Bildmedien wie (Frauen)Zeitschriften, Film, Modefotografie und Werbung. Wie es der mittlerweile wissenschaftlich etablierte Topos vom „Bild der neuen Frau“ bezeugt, wird Weiblichkeit und damit der vestimentäre Habitus untrennbar von seiner medialen Vermittlung und Inszenierung (vgl. Sykora u.a. 1993). Das bedeutet, dass Mode, vor allem die weibliche, als fester Bestandteil zu der sich entfaltenden medialen Kultur gehört und deren Bilddiskurse mit gestaltet (Mode: Richard 1998, Film: „Frauen und Film“ 1985, Gaines/Herzog 1990, Devoucoux 2000). Der über lange Zeit geltenden Auffassung, über Mode werde die Frau für männliche Blicke instrumentalisiert oder – siehe die klassischen Modediskurse – Frauen seien willfährige Opfer der Mode, wird seit den 1980er Jahren aus feministischer Sicht insbesondere im Rahmen der Cultural Studies entschieden widersprochen. Mode wird vielmehr als Mittel zur bewussten Inszenierung des weiblichen und männlichen Selbst betrachtet (vgl. Wilson 1990, Ash/Wilson 1992, Lehnert 1998) und Instrument zu seiner Positionierung in kulturellen oder sozialen Milieus. Mode wird in den Cultural Studies explizit als ein Schauplatz der Modernität begriffen, auf dem sich in der Vielfalt von Modeszenen und -milieus exemplarisch die Fragmentierung der Moderne zeige sowie der Bruch mit den „großen Erzählungen“ (Wilson 1990). Der moderne Umgang mit Mode erzeugt das selbstreflexive Spiel mit der Modegeschichte als Mittel zur Distanzierung von modisch erzeugten historischen Geschlechterbildern und wird in jugendkulturellen Szenen seit den 1970er Jahren als Mittel für neue modische Stilfindungen (Retrostile) eingesetzt. Dies gestattet, die traditionellen Weiblichkeitsbilder der Mode gewissermaßen als „Maskerade“ (Weissberg 1994) zu entlarven und für neue Kontexte zu instrumentalisieren (vgl. Richard 1999). Insbesondere das Phänomen des sog. Crossdressing beschreibt eine Praxis, in der die binäre Geschlechterkonstruktion
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durch Mode gezielt destabilisiert und damit dekonstruiert wird (vgl. Garber 1993, Benedek/Binder 1996, Griggs 1998). Das Konzept der diskursiven Performativität (vgl. Butler 1991) kann daher insbesondere für das aktuelle Modeverhalten fruchtbar eingesetzt werden, weil die Mode den Raum bietet, Geschlechterkonzepte und -bilder zu verhandeln. Die emanzipatorische Wirkung des modischen Geschehens darf jedoch nicht einseitig positiv gelesen werden, sondern sollte im Zusammenhang mit der sog. Postmoderne betrachtet werden. Denn die ästhetischen Strategien und Techniken in der Mode unterstützen die ausgesprochen „postmoderne Tendenz zur Codierung von Milieus und Szenen über die Waren“ (Lash/Urry 1994). Von daher ist der Hinweis ernst zu nehmen, dass es sich bei der selbstbewussten Modeakteurin zumeist um Angehörige urbaner Mittelschichten handelt (vgl. McRobbie 1998). Vor allem bleiben diese kulturellen Modepraktiken ausschließlich der Ebene des Konsums verhaftet. Eine seit den 1980er Jahren bemerkbare Tendenz macht in jugendkulturellen Szenen den Körper zum unmittelbaren Objekt der modischen Gestaltung: durch Tätowierung, Piercing, Branding, Scarification und Implantate wird die Körperoberfläche dekoriert, durchbrochen und verändert, um damit möglicherweise ein neues Verständnis des Körperraums und -erlebens in Beziehung zu einer technisierten Lebenswelt zu erproben (vgl. MacKendrick 1998). Im Kontext der neoliberalen Globalisierung lassen sich im außereuropäischen Kontexten mittlerweile neue Modepraktiken beobachten, die zur selbstbewussten „Orientalisierung“ führen. So wird Mode als öffentliche Bühne genutzt, lokale, nationale Tendenzen zu betonen oder eine bewusste Retraditionalisierung der Mode zu betreiben, um einen eigenen Weg im Modernisierungsprozess zu behaupten (vgl. Niessen u.a. 2003). Unter anderem hat dazu auch die aktuelle Kopftuchdebatte beigetragen. Ein „eigener islamischer Modekonsum“ mit einem anderen Verständnis von Sichtbarkeit scheint sich vor allem in der Türkei zu etablieren (vgl. Sandikci/Ger 2005).
Zum Forschungsstand Die Mode stellt ein Feld dar, mit dem sich zahlreiche, vor allem kulturwissenschaftliche Disziplinen unter verschiedenen Aspekten wie Perspektiven befassen. Die Frage des Geschlechts stellt sich jedoch nicht nur in Bezug auf die Konsumentin, sondern heute mehr denn je im Hinblick auf die Produzentinnen von Mode. Das Geschlecht ist hier insofern von größter Brisanz, als die Frauen weltweit die größte Gruppe an Mode- bzw. Textilproduzentinnen stellen, die Kleidung für die Frauen der Industrieländer unter weitgehend frühindustriellen Arbeitsbedingungen produzieren („Feminisierung der Beschäftigung“: vgl. Südwind 1999, Ross 1997). Die Geschlechterforschung sollte daher diese sich neu artikulierenden sozialen Differenzierungen innerhalb der Kategorie des weiblichen Geschlechts in Bezug auf die Mode verstärkt berücksichtigen, die durch eine transnationale weibliche Arbeitsteilung im Kontext der Globalisierung produziert werden. Kulturwissenschaftliche Untersuchungen widmen sich der Mode vor allem unter semiotischkommunikativen (vgl. Barthes 1952, 1985), psychologischen (vgl. Lemoine-Luccioni 1983, Kaiser 1990), soziologischen (vgl. z.B. König 1971, Bourdieu 1985), philosophischen (vgl. Bovenschen 1986), historischen/volkskundlichen (vgl. Perrot 1981, Deneke 1969, Breward 1995, Brückner 2000) und – seit ca. zwei Jahrzehnten – literaturwissenschaftlichen (vgl. Vinken 1993, Lehnert 1997, 1998) Aspekten. Als grundlegend gilt vor allem R. Barthes (1985) semiotisch-strukturalistische Studie zur Sprache der Mode, in der er in Anlehnung an de Saussures Zeichenbegriff das komplexe Beziehungsgefüge der Modesprache analysiert und ein bis heute brauchbares theoretisches Analysekonzept entwickelt. Zwar ist bei den meisten Untersuchungen der Aspekt Geschlecht implizit enthalten, jedoch ist es erst in den letzten Jahrzehnten explizit als Forschungskategorie für Mode fruchtbar gemacht worden. Abgesehen von dem Grundlagentext Georg Simmels (1911) haben zuerst literaturwissenschaftliche Studien die Genderdiskussion mit Mode verknüpft. Vor allem jedoch aus dem Umfeld
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der feministisch orientierten Kunstgeschichte, der Europäischen Ethnologie/Volkskunde (vgl. Ellwanger 1994, Gaugele 2002), der Cultural Studies und der Kulturanthropologie (vgl. z.B. Barnes/Eicher 1993) stammen seit ca. zwei Jahrzehnten viele Untersuchungen zu diesem Zusammenhang. Vonseiten der Cultural Studies wird ebenfalls Kritik geübt an dem reduktionistischen Verständnis von Mode als Kommunikationsmodell. Anhand von Forschungskategorien wie einem erweiterten Konsumptionsbegriff und einem kulturanthropologisch fundierten Begriff von materieller Kultur (vgl. Miller 1995, Mentges/Mohrmann/Foerster 2000) wird ein begriffliches Instrumentarium bereitgestellt, das es erlaubt, Kleidung als Scharnier zwischen Ökonomie und Kultur im Kontext der materiellen Kultur insgesamt zu situieren und damit zugleich eine Neusicht des Phänomens Mode vorzunehmen (vgl. MacRobbie 1994, 1998; Benstock/Ferriss 1994, Bruzzi/Gibson 2000). Geschlecht wird hier als Basiskategorie eingeführt und sowohl im Bereich der Modeproduktion (vgl. Burman 1999) als auch insbesondere im Bereich des Modekonsums auf seine Relevanz überprüft. Zahlreiche Monografien gehen auf die Konstruktion des männlichen bzw. weiblichen Konsumenten ein (vgl. Nixon 1996, Guy u.a. 2001) oder stellen Mode und Geschlecht in den Zusammenhang der nationalen Entgrenzung durch Globalisierung (vgl. Lynch 1999, Howes 1996). Ein sich neu abzeichnender Forschungszweig thematisiert den Zusammenhang von Geschlecht und Mode neuerdings verstärkt unter dem kulturanthropologischen Blickwinkel von textiler Materialität, Raum, Zeit und Weiblichkeit, in der auch die sachkulturellen Konzepte der Europäischen Ethnologie ihren Platz finden (vgl. Weiner/Schneider 1989, Mentges/Nixdorff 2001). In welcher Weise bei den neuesten ästhetischen Körperpraktiken wie Piercing, Branding, Tattoo, Implantate die Geschlechterproblematik von Bedeutung ist, ist bislang noch kaum untersucht (vgl. Mifflin 1997). Es scheint, als ob bei der darin demonstrierten Veränderbarkeit der Körper als Referenzbasis für Mode und der mit ihr verbundenen Geschlechterkonstruktion zunehmend in Frage gestellt wird. Die zunehmende Technisierung der Kleidung und ihre Ausstattung als Hightechobjekt, z.B. als „wearables“ (tragbare Computer), wirft die Frage auf, inwieweit Kleidung und Geschlecht zukünftig noch an dem visuellen Entwurf des Selbst beteiligt werden. Verweise: Androgynie Film Frauen-„Körper“ Geschlechterstereotype Globalisierung
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E Technik und Naturwissenschaften Tanja Paulitz
Technikwissenschaften: Geschlecht in Strukturen, Praxen und Wissensformationen der Ingenieurdisziplinen und technischen Fachkulturen Emergenz und Transformationen des Feldes Technikwissenschaften – statt einer Definition Die Bezeichnung „Technikwissenschaften“ (engl. engineering bzw. engineering science, franz. Sciences techniques, ingénierie) erscheint im Kontext der Frauen- und Geschlechterforschung (und nicht nur hier) zumeist als Teil des Sammelbegriffs „Natur- und Technikwissenschaften“ bzw. „Naturwissenschaften und Technik“. Von der „Zwei Kulturen“-These (Snow [1959] 1987; vgl. auch Bachmair/Fischer 1991; zur Soziologie vgl. Lepenies 1985) bis hin zu den jüngeren Debatten der „science wars“ (vgl. Scharping 2001, Osietzki 1998) werden die Technikwissenschaften in der Regel unter die Naturwissenschaften und deren epistemologisches und methodologisches Selbstverständnis subsumiert und als Gegenüber der sozial-, geistes- bzw. kulturwissenschaftlichen Fächergruppen begriffen. Innerhalb der Frauen- und Geschlechterforschung gehört die Beschäftigung mit den Technikwissenschaften bis heute tendenziell zu den Randgebieten. Geschlechterforschung zum Ingenieurbereich ist außerdem in ihren Zielen und Fragestellungen stark von gleichstellungspolitischen Anliegen geprägt und zeichnet sich verstärkt durch interdisziplinäre Zugänge, Kooperationen und Initiativen aus. Die im deutschsprachigen Raum seit 1977 jährlich stattfindenden Kongresse der „Frauen in Naturwissenschaft und Technik (FINUT)“ haben dabei ganz wesentlich zur Emergenz dieses Forschungsfeldes beigetragen. Einträge zum Stichwort „Technik“ bzw. „Technikwissenschaften“ fehlen bislang allerdings weitgehend in einschlägigen neueren Lexika und Handbüchern zur (deutschsprachigen) Geschlechterforschung. Die hier gewählte Bezeichnung „Technikwissenschaften“ ist indessen in sich selbst unscharf und erläuterungsbedürftig. Das Verhältnis zwischen Natur- und Technikwissenschaften wird aus wissenschaftstheoretischer Perspektive seit langem kontrovers diskutiert (vgl. Janich 1996). Differenzierungen zwischen beiden sind insbesondere aus den historischen Entstehungsbedingungen heraus angezeigt. Die traditionellen Fachgebiete des Ingenieurbereichs wie Maschinenbau, Bergbau, Elektrotechnik und Bauingenieurwesen haben sich in Europa im Zuge der Industrialisierung bis zum späten 19. Jahrhundert (bzw. bis zur Jahrhundertwende) zunehmend professionalisiert und insbesondere in Deutschland als Teil des wissenschaftlichen Feldes etabliert (vgl. König 1999). Im Kontext dieser Professionalisierung des Ingenieurwesens erfolgte zum einen eine starke Anlehnung an das moderne naturwissenschaftliche Wissenschaftsideal. Zum anderen kam es mit dem Ziel, die Gleichrangigkeit mit den Naturwissenschaften zu erreichen, auch zu Abgrenzungsbewegungen: Grenzlinien verliefen (und verlaufen bis heute) entlang der Unterscheidung zwischen zweckfreier Naturforschung versus zweckgerichteter Technik oder auch zwischen der ‚Entdeckung‘ von Naturgesetzen versus dem ‚Erfinden‘ bzw. ‚Entwickeln‘ von technischen Artefakten (vgl. Janich 1996). In der jüngeren technikhistorischen Forschung zielt der Begriff Technikwissenschaften auf die Kennzeichnung einer besonderen Hybridstellung, und zwar zwischen den handwerklichtechnischen Gewerben einerseits und den eher theoretischen (Natur-)Wissenschaften anderer-
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seits (vgl. Buchheim/Sonnemann 1990). Damit ist auch die Auffassung verbunden, dass die Technikwissenschaften das Potenzial haben, Wissenschaft und Praxis zu einer neuen Einheit zusammenzuführen (vgl. kritisch dazu Heymann 2005: 24). Ein solches Begriffsverständnis ist historisch kontextualisiert: Es meint das konkrete Phänomen der „Verwissenschaftlichung“ der polytechnischen Schulen bis zum späten 19. Jahrhundert sowie ihren Anspruch, dem wissenschaftlichen Wissen und der institutionalisierten akademischen Ausbildung den Vorzug zu geben gegenüber dem erfahrungsgeleiteten technologischen Wissen und seinen Formen des Wissenstransfers in gewerblichen Arbeitskontexten. Technikwissenschaften sind also von Beginn an immer wieder von AkteurInnen aus dem Feld selbst (vgl. Braun 1977), aber auch heute von technikhistorischen Arbeiten als eigenständige Wissenschaften („engineering science“) mit eigener Theorie- und Methodenentwicklung verstanden worden (vgl. Layton 1988). Technik ist im Zuge der sich seit den 1970er Jahren vorrangig im anglophonen Sprachraum entwickelnden Wissenschaftsforschung vielfach zum Thema sozial- und kulturwissenschaftlicher Untersuchungen gemacht worden. Im Verlauf der 1980er Jahre haben verschiedene Ansätze der Frage nach den sozialen Faktoren in der Technikentwicklung zu einer größeren Aufmerksamkeit in den Sozialwissenschaften verholfen und die These von der „social construction of facts and artifacts“ (Pinch/Bijker 1987) zur Diskussion gestellt (zum Überblick vgl. Felt/Nowotny/Taschwer 1995: 187ff., vgl. auch MacKenzie/Wajcman [1985] 1999, für die deutschsprachige Forschung vgl. Rammert 2002, Schulz-Schaeffer 2000). Im Kontext der Wissenschaftsforschung konstituiert sich in der jüngeren Vergangenheit unter der Bezeichnung „engineering studies“ ein Diskussionszusammenhang als zunehmend eigenständiges Feld, das eher auf die kritische interdisziplinäre Auseinandersetzung mit den Ausbildungssystemen, den historischen Traditionslinien und Fachkulturen der Technikwissenschaften fokussiert und so die Disziplinenfrage stärker in den Vordergrund rückt (vgl. Downey/Lucena 1995). In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist das Feld der Technikwissenschaften zunehmend durch neue Formen der Ausdifferenzierung und der Konvergenz mit naturwissenschaftlichen Teilgebieten geprägt. Wenig trennscharf zu ziehen sind die Grenzen zum ebenfalls jungen Fach Informatik, das seine Wurzeln im Ingenieurbereich und in der Kybernetik hat. Umgekehrt haben technologische Entwicklungen von der Moderne bis heute die Forschung in naturwissenschaftlichen Laboren erst ermöglicht (vgl. Rheinberger 1999, Knorr Cetina [1981] 1991). Insbesondere in der Zeit nach 1945 sind Forschungsbereiche zwischen Naturwissenschaften und Technik entwickelt worden, deren Objekte sowohl ‚organisch‘ als auch technisch sind und so hybride Formationen zwischen Natur und Kultur bilden. Diskursprägend hierfür ist die Bezeichnung „Technoscience“ der amerikanischen Wissenschaftsforscherin Donna Haraway (1985) geworden, die für die Postmoderne grundsätzlich von der Ununterscheidbarkeit zwischen Naturund Technikwissenschaften ausgeht (vgl. Lucht 2003) und die Grenzüberschreitungen zwischen Natur und Kultur, aber auch zwischen Wissenschaft, Technik, Politik, sozialen Verhältnissen und gesellschaftlichen Visionen aus Perspektive der Geschlechterforschung in kritischer Weise zum Thema gemacht hat. Das kürzlich in dritter Auflage erschienene „Handbook of Science and Technology Studies“ (Hackett u.a. 2008) widmet den „Emergent Technosciences“ den fünften und letzten Teil des Bandes. Jüngere prominente Beispiele sind die Lebenswissenschaften (vgl. Palm 2005), aber auch die Nanotechnologie, deren Betrachtung aus Geschlechterperspektive noch am Anfang steht (vgl. Lucht 2006, Lucht/Erlemann/Ruiz Ben 2008). Mit der Bezeichnung „Technikwissenschaften“ ist für die Frauen- und Geschlechterforschung folglich ein äußerst breites Gegenstands- und Handlungsfeld gegenwärtiger und künftiger (Forschungs-)Initiativen umrissen. Die im vorliegenden Artikel dargestellte Forschungslage sowie der abschließend formulierte Forschungsbedarf beziehen sich schwerpunktmäßig auf die bislang in der deutschsprachigen Frauen- und Geschlechterforschung wenig beachteten klassischen Ingenieurdisziplinen. Für dieses Feld sind gerade aus Perspektive der feministischen Wissenschafts- und Technikforschung, die Geschlecht als Analysekategorie konsequent mitführt bzw. ins Zentrum stellt, noch einige Leerstellen zu verzeichnen.
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Vom Frauenanteil in der Technik zur Fachkultur- und Hochschulforschung Heute haben politische EntscheidungsträgerInnen und Teile der bundesdeutschen (Hochschul-) Öffentlichkeit – die natur- und technikwissenschaftlichen Fächergruppen eingeschlossen – längst begonnen, den geringen Frauenanteil im technischen Bereich als Problem wahrzunehmen. Jüngere Messungen der Hochschulforschung sprechen von „geschlechtsspezifischen Präferenzen“ (Heine u.a. 2006: 8) bei der Studienfachwahl und benennen als Spitzenreiter der so genannten „männerdominierten“ Fächer an Universitäten Elektrotechnik, Verkehrstechnik und Maschinenbau (vgl. Multrus/Bargel/Ramm 2005: 10, Egeln/Heine 2006). Kehrseite dieser durchgängig beobachtbaren Thematisierung der Geschlechterdimension ist allerdings, dass dabei vor allem die Studienfachwahl der weiblichen Studierenden eine Problematisierung erfährt. So werden die Zahlen dahingehend interpretiert, dass Frauen technikwissenschaftlichen Fächern „sehr skeptisch gegenüberstehen“ und somit deren Rekrutierungsproblem mit erzeugen bzw. verstärken (Heine u.a. 2006: 6). Das bedeutet, dass mit dieser erhöhten Aufmerksamkeit für die horizontale Segregation zugleich die stereotype Deutung von der Zurückhaltung der Frauen gegenüber Technik reproduziert wird. Die frühen wissenschaftlichen Thematisierungsweisen des Phänomens horizontaler Segregation in den Technikwissenschaften sind in der deutschsprachigen Frauen- und Geschlechterforschung schwerpunktmäßig durch zwei Blickrichtungen geprägt (zum Überblick über diese Ansätze vgl. Collmer 1997: 48-63): Sie orientierten sich zum einen an einem „Differenzmodell“, das von der fundamentalen Wesensverschiedenheit von Männern und Frauen ausgeht und dies auf Unterschiede im Technikverhältnis überträgt. Zum anderen wurde das „Defizit-/Distanzmodell“ entwickelt, das v.a. auch den Begriff der „weiblichen Technikdistanz“ prägte und das Technikverhältnis in den Kontext sozialer Rollen und ‚weiblicher‘ Sozialisation rückte. Während spätestens seit den 1980er Jahren von frauenpolitischen Akteurinnen eine Vielzahl an Initiativen angestoßen wurde, um den Zugang für Frauen zu technischen Studiengängen und Berufen zu verbessern, unterstützen heute zunehmend auch AkteurInnen im technikwissenschaftlichen Bereich solche Chancengleichheitsmaßnahmen. Insbesondere neuere Konzepte wie Coachingund Mentoringprogramme für Frauen wurden in den letzten Jahren zunehmend erprobt und weiterentwickelt (vgl. Löther 2003). 1983 hat Cynthia Cockburn dafür plädiert, in der Betrachtung des Verhältnisses von Technik und Geschlecht die auf Chancengleichheit reduzierte Zielperspektive zu überschreiten (Cockburn [1983] 1999; vgl. auch Degele 2002: 95f.). Untersuchungen zur (Arbeits-)Situation und Sozialisation von Ingenieurinnen haben seit den 1980er Jahren die Geschlechterverhältnisse im Ingenieurbereich selbst und ihre gesellschaftlichen Voraussetzungen in den Blick genommen (vgl. Janshen/Rudolph 1987, Roloff/Evertz 1992, McIlwee/Robinson 1992, Rudolph 1994, Dryburgh 1999, Erlemann 2002). Die Geschichte der Ingenieurinnen untersucht im internationalen Vergleich der von Oldenziel, Canel und Zachmann (2000) herausgegebene Band; die Arbeit von Marry (2004) ist ebenfalls zu den historischen Analysen zu zählen und beschäftigt sich mit der Geschichte der Ingenieurinnen in den französischen Grandes Ecoles. Empirische Untersuchungen zu Strategien der Identitätskonstruktion, die Ingenieurinnen verfolgen, wurden von Jorgenson (2002) und Kvande (1999) vorgelegt. Aktuelle wissenschaftssoziologische Studien zum Thema Geschlecht haben eine weitere Perspektivverschiebung vollzogen, weg von der Fokussierung auf die Frauen (bzw. die Ingenieurinnen) und hin zur Analyse der Strukturen und Kulturen der Wissenschaften, dem „doing science“, selbst (vgl. Beaufaÿs/Krais 2005). So belegt die Studie „Arbeitswelt in Bewegung“ (Haffner/Könekamp/Krais 2006) im Fächervergleich, dass v.a. die in Arbeitskulturen des Ingenieurberufs herrschenden strukturellen Bedingungen, wie etwa die ausgedehnten Arbeitszeiten, mit dem Anliegen kollidieren, Berufs- und Familienarbeit zu vereinbaren (vgl. auch Matthies u.a. 2001, Könekamp 2007). Arbeiten zur Geschlechterrelevanz von Wissenschaftskulturen su-
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chen die Gründe für die vertikale Segregation (und die damit verbundene Unterrepräsentanz der Frauen in höheren Statusgruppen) in den komplexen, auch informellen, Mechanismen des „Innenlebens“ der Wissenschaft selbst. Sie analysieren die geschlechterrelevanten ‚Stolpersteine‘ und Funktionsweisen, die bestehende Hierarchisierungen bzw. Ausschlüsse reproduzieren (vgl. Rossiter [1993] 2003, Hasenjürgen 1996, Schaeper 1997, Engler 1993, 2001; Blättel-Mink 2002, Matthies 2007). Wissenschaft wird von Beate Krais (2000) im Anschluss an Bourdieu als ‚soziales Feld‘ verstanden, in dem gesellschaftliche Geschlechterverhältnisse reproduziert werden. Sandra Beaufaÿs (2003) argumentiert dafür, dass die Wissenschaft (unter Berücksichtigung disziplinärer Varianzen) bestimmte feldspezifische Logiken und Praxisformen aufweist, die Frauen den Weg zur Professur deutlich erschweren. Mit solchen feldspezifischen Logiken gerade auch im Hinblick auf den Ingenieurbereich hat sich die – ebenfalls theoretisch an Bourdieu anschließende – quantitative fächervergleichende Studie von Steffani Engler (1993) beschäftigt. In dieser Studie wird die horizontale Segregation nach Geschlecht in verschiedenen Fachdisziplinen kontrastiv untersucht und mit Hilfe außerfachlicher und somit außertechnischer Faktoren erklärt: entweder mit sozialen interkorporierten Dispositionen, die sich zusätzlich zur kognitiven Vermittlung von Fachwissen auf der Ebene der Alltagskultur in die Fächer einlagern und so ‚feine Unterschiede‘ zwischen den Geschlechtern reproduzieren, oder mit Hilfe der Annahme, dass sozialen Bedingungen in bestimmten Fächern geschlechtliche „Eigenschaften“ zugeschrieben werden (vgl. Blättel-Mink 2002). Geschlecht wirkt aus dieser Perspektive als soziale Strukturkategorie in die Hochschule hinein, mehr oder weniger parallel zu fachlichen Prägungen oder als implizite geschlechtliche Codierung fachlicher Kompetenzen. Eine etwas andere Blickrichtung nehmen Untersuchungen zur Organisation und fachlichen Schwerpunktbildung von ingenieurtechnischen Ausbildungsinstitutionen ein. Vorliegende Forschungsarbeiten zum Thema „Technik-Bildung und Geschlecht“ (Wächter 2003, vgl. auch Wolffram 2003, Thaler 2006, Gilbert/Crettaz von Roten/Alvarez 2006) argumentieren mehrheitlich in die Richtung, dass politische Maßnahmen und Reformansätze dann zu kurz greifen, wenn sie sich vorwiegend auf die Mobilisierung der Frauen richten und die spezifischen fachkulturellen Charakteristika im Sinne implizit tradierter und institutionell verankerter Relevanzen, Standards und informeller Praxisformen (vgl. Gilbert 2004a: 19) in ihrer Bedeutung für die geschlechtsspezifische Studienwahl außer Acht lassen. So zielen die Reformansätze auf einer inhaltlichen Ebene v.a. darauf ab, das Curriculum und die Lernziele interdisziplinärer zu gestalten, d.h. etwa durch nicht technische Aspekte wie „Schlüsselqualifikationen“ zu ergänzen und didaktische Alternativen zum bisher gängigen Lehrstil zu stärken (vgl. Wiesner u.a. 2004, Ihsen 1999, für die Informatik vgl. Schelhowe 2005). Auf diese Weise sollen technische Ausbildungsgänge ,ganzheitlicher‘ und (nicht nur im Hinblick auf Frauen) integrativer gestaltet werden (vgl. Wächter 2003, zum Erfolgsmodell der Integration von Frauen in die bestehende Ingenieurausbildung an der Carnegie Mellon University in den USA, vgl. Margolis/Fischer 2002). Reformdiskussionen im Hochschulbereich sowie Erfahrungen aus bestehenden Modellversuchen haben seit den 1990er Jahren auch dazu geführt, neu kreierte Frauenstudiengänge in natur- und ingenieurwissenschaftlichen Disziplinen aufzubauen (vgl. Metz-Göckel/Steck 1997, Gransee 2003, Kahlert/Mischau 2000, Knapp/Gransee 2003, zur Internationalen Frauenuniversität (ifu) vgl. Metz-Göckel 2002, Neusel/Poppenhusen 2002).
Identitätsbildung in der Ingenieurpraxis, historische Berufsbilder und epistemische Formationen Mit der Frage nach der Konstituierung deutungsmächtiger Bilder in den Technikwissenschaften und damit verbunden den Vergeschlechtlichungen von technikwissenschaftlichem Wissen haben sich in jüngerer Zeit vorwiegend sozial- und geschichtswissenschaftliche Forschungen beschäf-
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tigt. Sie konzentrieren sich verstärkt auf symbolische Ordnungen, Identitätskonstruktionen und diskursive Formationen, die sich dem Fachlichen nicht mehr oder weniger äußerlich anlagern, sondern im wissenssoziologischen, ethnografischen oder wissensgeschichtlichen Sinne auch dem fachlichen Wissen, den Wissenskulturen und den alltagskulturellen Deutungen des Technischen bzw. den Technikwissenschaften inhärent sind. „Gender“ gerade auch in natur- und technikwissenschaftlichen anwendungsorientierten Forschungsvorhaben ausfindig zu machen und hier – im Sinne einer Gender-MainstreamingStrategie – zu geschlechtergerechteren Forschungsdesigns zu kommen, ist das Anliegen des „discover-gender“-Ansatzes, der jüngst innerhalb der Fraunhofer-Gesellschaft entwickelt worden ist (vgl. Bührer/Schraudner 2006, kritsch dazu vgl. Bath 2007). Allerdings greift dieser Ansatz nicht die bereits eingangs genannte sozialkonstruktivistische Theorietradition in der sozialwissenschaftlichen Technikforschung auf. Ebenso wenig finden sich theoretische Anschlüsse an internationale Debatten der feministischen Technikforschung. Diese hat insbesondere seit Ende der 1980er Jahre Geschlechterverhältnisse in verschiedenen Technologiebereichen und gesellschaftlichen Einsatzfeldern untersucht und die mittlerweile breit rezipierte These von der KoKonstruktion von Technik und Geschlecht entwickelt. „Weitgehender Konsens ist gegenwärtig“, schreibt die australische Technikforscherin Judy Wajcman in einer aktuelleren Übersicht über den Stand der Debatte, „dass weder Männlichkeit, Weiblichkeit noch Technologie feststehende, einheitliche Kategorien sind; vielmehr enthalten sie vielfältige Möglichkeiten und werden in Relation zueinander konstruiert“ (Wajcman 2002: 285, zu dieser anglo-amerikanischen Diskussionstradition vgl. auch u.a. Cockburn 1986, Cockburn/Ormrod 1993, zum Überblick vgl. Berg/Lie 1995, Lerman/Mohun/Oldenziel 1997, Wajcman 1991, 2004, 2008; Lohan 2000, Saupe 2002). Die Betrachtung von Geschlecht im alltäglichen Handeln und im Alltagswissen von IngenieurInnen stellt eine der zentralen Blickrichtungen neuerer empirischer, teilweise noch laufender Forschungsarbeiten dar (vgl. Mellström 1995, Erlemann 2002, Faulkner 2000, 2006, 2007, 2008; Gilbert 2008, Tonso 2007). Methodisch betrachtet handelt es sich um qualitative Interview- bzw. ethnographische Feldstudien, in denen nach den interaktiven Konstruktionsweisen von Geschlecht und insbesondere auch von Männlichkeit im Handeln von Ingenieuren gefragt wird. So geht Wendy Faulkner (2000, 2001) in einer Studie über die Berufskultur dem Wechselspiel zwischen der Konstruktion von Identitäten in den Alltagspraktiken einerseits und der Vergeschlechtlichung der AkteurInnen und ihrer Arbeit andererseits nach. Ihre Ergebnisse zeigen, dass der Dualismus zwischen dem „Technischen“ und dem „Sozialen“ ein grundlegendes Muster für geschlechterrelevante Unterscheidungen in den herrschenden Vorstellungen der Ingenieurkultur ist. Nach Faulkner (2000) ist es von zentraler Bedeutung, wie und wo die Grenzen zwischen beidem gezogen werden, wenn man annimmt, dass das Soziale kulturell weiblich markiert ist und das Technische männlich. Wenngleich ihre Feldforschung auch Widersprüche zwischen herrschenden Bildern und alltäglicher Praxis herausarbeiten kann, die gängigen Stereotypen entgegenstehen, erscheint das stereotype Bild des Ingenieurs als nerd dennoch regelmäßig als Hintergrundfolie und Maßstab, wenn die Befragten über sich selbst sprechen. Ingenieurinnen müssen sich, so ihr Fazit, in ihrer Identitätsbildung zu dieser nach wie vor diskursmächtigen Figur in Beziehung setzen (vgl. Faulkner 2006). Betrachtet man jedoch die Ebene der konkreten Anforderungsprofile an den Beruf, so müsste Faulkner zufolge die Kategorie Geschlecht in gewisser Weise an Relevanz verlieren, weil dualistische Zuschreibungen von Kompetenzen an Frauen und Männer in der konkreten Ingenieurpraxis faktisch zu kurz greifen. In empirischen Fallstudien arbeitet sie allerdings heraus, wie in den alltäglichen Interaktionen beständig feingliedrige situativ wechselnde Grenzziehungen zwischen technischen und nicht-technischen Anteilen der Ingenieurarbeit vorgenommen werden (vgl. Faulkner 2007, 2008). Mit der symbolischen Ebene der Technikwissenschaften haben sich auch historisch orientierte Arbeiten beschäftigt. Während sich die Untersuchungen von Ruth Oldenziel (1999) und Lisa Frehill (2004) mit dem US-amerikanischen Ingenieurwesen in der Zeit des ausgehenden 19.
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bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts beschäftigen, haben sich Karin Hausen ([1993] 1995) und Karin Zachmann (2004) der Ingenieurtradition in Deutschland und ihren geschlechtlich codierten Wissensformen zugewendet. Die Studie von Zachmann spannt den Bogen vom Beginn der Verwissenschaftlichung des Ingenieurberufs in Deutschland bis in die DDR als Geschichte der Mobilisierung von Frauen für technische Berufe. Insbesondere ihre Beleuchtung der Vorgeschichte dieser auf dem Gebiet des heutigen deutschen Staates einzigartig gebliebenen Integration von Frauen in dieses Berufsfeld zeigt auch die verschiedenen historischen Spielarten der symbolischen Konstitution des männlichen Ingenieurs und der Ausgrenzung des „Weiblichen“ aus der Wissenstradition des akademisierten Ingenieurwesens. Alle genannten Arbeiten weisen auf die historische Verankerung der kulturellen Bilder des Ingenieurs in der bipolaren Geschlechterordnung hin, die den Ausschluss bzw. die marginalisierte Integration von Frauen bewirken. Die Ebene der epistemischen Formationen der Technikwissenschaften und damit die wissenssoziologische Analyse der fachlichen Wissensbestände selbst sind erst in jüngster Zeit stärker in den Fokus gerückt worden. Eine noch laufende Studie arbeitet in der Analyse technikwissenschaftlicher Fachdebatten in Zeitschriften und anderen Fachpublikationen am Beispiel von Konstruktionstheorien im Maschinenbau in der Zeit um 1900 vielfältige, miteinander konkurrierende Konstruktionsweisen von Männlichkeit heraus (zur theoretischen Begründung vgl. Paulitz 2004, 2006). Erste Ergebnisse zeigen nicht nur verschiedene implizite und explizite Formen der Maskulinisierung von Wissen, die mit den professionspolitischen Bemühungen um die Institutionalisierung eines neuen akademischen Berufsbildes verknüpft waren. Sie verdeutlichen auch, dass Geschlecht als „interdependente Kategorie“ (vgl. Walgenbach u.a. 2007) zu begreifen ist (vgl. Paulitz 2008a, b). So gehen implizite Formen der Maskulinisierung des ‚Maschinenwissenschaftlers‘ etwa mit expliziten Formen der Ethnisierung und sozialen Hierarchisierung einher und dokumentieren, wie stark Denkmuster sozial und geopolitisch situiert sind. In der Konsequenz zielt die dabei favorisierte Untersuchungsperspektive darauf ab, das stereotype monolithische Bild der Technik der Moderne, das auf scheinbar stabilen Grundlagen technikwissenschaftlichen Wissens basiert, aufzubrechen und ein diskontinuierliches, sozial umkämpftes Wissensfeld sichtbar werden zu lassen, in dem gesellschaftliche Hegemonieansprüche mit Hilfe vielfältiger, ineinander verschränkter Abgrenzungsstrategien formuliert werden (vgl. Paulitz 2008a).
Ausblick auf Herausforderungen und Forschungsperspektiven Angesichts der Tatsache, dass sich trotz zahlreicher Maßnahmen und Initiativen zur Integration von Frauen in die Technikwissenschaften die Frauenanteile hartnäckig auf niedrigem Niveau bewegen, erscheint es unerlässlich, die Erforschung der Grundlagen und Grundvoraussetzungen für diese Situation weiterzuentwickeln und auch neue Forschungsfragen zu generieren. Die eingangs beschriebene besondere Stellung der Technikwissenschaften weist außerdem auf die besonderen Logiken dieses Bereichs hin, die nicht jenen der Naturwissenschaften gleichgesetzt werden können. Das Selbstverständnis der Technikwissenschaften pendelt vielmehr zwischen Wissenschaft und Praxis. Diese Grenzziehung bzw. die damit verbundenen Pendelbewegungen (vgl. Banse u.a. 2006) sind daher zukünftig genauer auf ihre Verwobenheit mit Vergeschlechtlichungen zu untersuchen. Eine der zentralen methodologischen Herausforderungen im Gegenstandsfeld der Technikwissenschaften besteht darin, den impliziten geschlechtlichen Codierungen auf die Spur zu kommen, ohne selbst vorab gesetzte Konzeptionen von Geschlecht erneut zu zementieren (vgl. u.a. Gilbert 2004b). Zu beachten ist dabei insbesondere auch, dass Geschlecht als Analysekategorie hochgradig flexibel funktioniert und historische sowie kontextabhängige „Recodierungen des Wissens“ zu berücksichtigen sind, die als komplexe Prozesse der „Verschiebung und erneu-
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ten Stabilisierung vergeschlechtlichter Codes“ in natur- bzw. technikwissenschaftlichen Wissensbeständen (Lucht/Paulitz 2008: 13) verstanden werden können. Will man Geschlechterforschung zu Technikwissenschaften betreiben, so muss der Blick über die Frage nach der Exklusion bzw. (marginalisierten) Integration von Frauen hinausgehen, um die sozialen Funktionsmechanismen in den Technikwissenschaften differenzierter zu analysieren. Ausgehend davon sollten sich Forschungsinteressen zunehmend auch auf die Untersuchung der spezifischen Formen der Inklusion von Männern in diese Domäne des wissenschaftliches Feldes richten sowie auf ein vertiefteres Verständnis von Formierungsprozessen ,technischer‘ Männlichkeiten. Folglich stellt die produktive Verschränkung mit der kritischen Männlichkeitenforschung eine aussichtsreiche Erweiterung der Geschlechterforschung zu Technikwissenschaften dar, um mehr darüber zu erfahren, wie (möglicherweise auch widersprüchliche und heterogene) Berufsbilder und -kulturen im Ingenieurbereich funktionieren (vgl. Lohan/Faulkner 2004). Ebenso besteht dringender Bedarf, neuere theoretische Diskussionen der Geschlechterforschung in den Fragehorizont zu integrieren. Perspektiven, die auf die Überschneidung verschiedener gesellschaftlicher Differenzlinien fokussieren (vgl. Knapp 2005, Dietze 2006, Kerner 2008) sind bislang in der feministischen Technikforschung im Allgemeinen und in der Untersuchung des Ingenieurbereichs im Besonderen weitgehend unterbelichtet geblieben, könnten jedoch fruchtbare Ansatzpunkte zur Verbreiterung des analytischen Blicks bieten. Schließlich ist es erforderlich, mehr Erkenntnisse über das Zusammenspiel zwischen der symbolischen Ebene der Bilder und des Wissens einerseits und den konkreten strukturellen Ausschlüssen im Ingenieurbereich andererseits zu gewinnen, d.h. zwischen der epistemischen und der institutionellen Dimension (vgl. Hark 2005: 145ff.). Hier ist von komplexen Wirkungsverhältnissen auszugehen, die in der kontrastierenden und vergleichenden Diskussion verschiedener empirischer Untersuchungsergebnisse längerfristig genauer zu beschreiben wären. Ebenso ist ein komparativer Zugang vielversprechend, wenn es um die Frage der Ingenieurkulturen und ihrer spezifischen Verbindungen mit Geschlecht geht, und zwar sowohl im Disziplinenvergleich als auch im internationalen Vergleich. Solche Erweiterungslinien bieten perspektivisch auch die Möglichkeit, ein komplexeres Theorie- und Methodenverständnis für die Untersuchung der Technikwissenschaften fruchtbar zu machen. Sie würden aber auch dazu beitragen können, dieses Forschungsgebiet besser in die aktuellen Debatten der Geschlechterforschung zu integrieren, indem sie dieses auf ein theoretisch und methodologisch anschlussfähiges Fundament stellen. Gleichwohl sollte sich eine an gesellschaftlichen Veränderungen orientierte Geschlechterforschung in diesem Teilgebiet keineswegs davon verabschieden, die gewonnenen Einsichten on the long run wieder in konkrete politische Handlungsräume rückzuführen. Verweise: Feministische Wissenschaftskritik und Epistemologie Hochschule und Wissenschaft Informatik Ingenieurinnen Männlichkeitsforschung Wissenschafts- und Technikforschung
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Susanne Ihsen
Ingenieurinnen: Frauen in einer Männerdomäne
Vor über 20 Jahren begannen in Deutschland die wissenschaftliche Analyse der technischen Fachkultur und die systematische Befassung mit dem beruflichen Umfeld von Ingenieurinnen. Doris Janshen, Hedwig Rudolph legten mit „Ingenieurinnen. Frauen für die Zukunft“ (1987) eine Studie vor, die anhand einer chronologischen Befragung hinsichtlich Ausbildungs- und Berufsverlauf systematische Einblicke in die Konsistenzen und Ambivalenzen von Frauen bei der Integration in einen technischen Beruf gewährten. Das Berufsbild von Ingenieurinnen und Ingenieuren hat sich im Vergleich zur damaligen Studie modernisiert. Dennoch ist die Anzahl der Ingenieurinnen, bei allen Bemühungen und Projekten der letzten Jahre, mit ca. 10% Anteil an der Gesamtberufsgruppe sehr gering (vgl. Ihsen 1999). Aufgrund der aktuellen Diskussionen über den zu erwartenden demografischen Wandel und einen Fachkräftemangel in technischen Berufen erlangt das Thema „Frauen im Ingenieurberuf“ ökonomisch und politisch immer mehr Bedeutung. Insbesondere der „Diversity“-Ansatz, bei dem davon ausgegangen wird, dass sich Produkte und Prozesse von der Entwicklung bis zur Vermarktung verändern, wenn sich statt der bisherigen relativ alters- und kulturhomogenen Männergruppen gemischte Teams mit den Wünschen von Kundinnen und Kunden befassen, bezieht sich auf die Erschließung zusätzlicher Fachkräfte. Diese Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Tendenzen weist auf eine aktuelle Umbruchsituation in der Technikkultur hin, deren erfolgreiche Bewältigung daran zu messen sein wird, ob es gelingt, die technische Fachkultur gegenüber neuen Zielgruppen und innovativen Denkmodellen zu öffnen.
Wie alles anfing: Ilse Knott-ter Meer, die erste deutsche Ingenieurin Technik- und Ingenieurwissenschaften wurden kurze Zeit vor der Öffnung der Hochschulen für Frauen (in Bayern ab 1905, in Gesamt-Preußen ab 1908) zu einer „Wissenschaft unter Vorbehalt“. Erst die Gründung expliziter „technischer Hochschulen“ konnte den heftigen Widerstand der bis dahin etablierten Wissenschaftsdisziplinen überwinden. Das Promotionsrecht erhielten die technischen Hochschulen 1899/1900, wobei die Titel „Dipl.-Ing.“ und „Dr.-Ing.“ in Abgrenzung zu den „echten Wissenschaften“ verliehen werden mussten. Als Motor für die Weiterentwicklung der Ingenieurwissenschaften gilt noch immer hauptsächlich der stark ausgeprägte naturwissenschaftliche Bezug. Demgegenüber konnte sich das Selbstverständnis der eigenständigen, generalistischen Wissenschaft, das auf die wissenschaftliche Optimierung und Förderung des Handwerks, der Manufakturen und Fabriken abzielt (vgl. Ropohl 1997: 12), nicht etablieren und erlangte erst mit der Diskussion über moderne Technikgestaltung in der heutigen Dienstleistungsgesellschaft wieder Bedeutung (vgl. Ropohl 1997: 15).
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Als Ilse Knott-ter Meer 1925 als erste Frau nach Klärung der Frage, ob die Vereinssatzung denn Frauen „als Ingenieur“ zulasse, dem Verein Deutscher Ingenieure (VDI) beitrat, konnte sie bereits auf Erfolge im Umgang mit unflexiblen Strukturen und uneinsichtigen Kollegen zurückblicken. Schon in ihrem Maschinenbaustudium an der Universität Hannover (1919-1922) und an der damaligen Technischen Hochschule München (1922-1924, heute: Technische Universität) hatte sie gelernt, dass die Anwesenheit einer einzigen Frau in einem Hörsaal Hunderte von Männern in helle Aufregung versetzen und zu schlechtem Betragen verleiten konnte. Um zu ihrem Beruf zu kommen, ging die Schülerin für die letzten Schuljahre bis zum Abitur in das Realgymnasium für Knaben in Hannover. In Schule und Studium erlebte sie sowohl Ausgrenzung und Ablehnung als auch Unterstützung und Anerkennung von ihrer männlichen Umwelt. 1924 schloss sie ihr Maschinenbaustudium mit der Note „gut“ ab. Ilse Knott-ter Meer traf erst 1930 auf der Weltkraftkonferenz in Berlin auf andere Ingenieurinnen. Zusammen entwickelten sie die Idee eines Vereins, der Frauen Technik näher bringen sollte. Doch aufgrund der politischen Entwicklung in Deutschland wurde zunächst nichts daraus. Erst 30 Jahre später gründeten sechs Ingenieurinnen einen Fachausschuss im VDI, den späteren Bereich „Frauen im Ingenieurberuf“. Eine davon war Ilse Knott-ter Meer. 1964 beteiligte sie sich als Vertreterin der Bundesrepublik an der ersten internationalen Konferenz von Ingenieurinnen in New York. Sie blieb erwerbstätig und bis ins hohe Alter technikbegeistert.
Ingenieurinnen im Spannungsfeld zwischen Technik und Gesellschaft Die ingenieurwissenschaftliche Berufskultur galt aufgrund ihrer historischen Entwicklung im Spannungsfeld von Naturwissenschaft und handwerklich-technischen Berufen lange als besonders resistent gegenüber Maßnahmen und Konzepten zur Steigerung des Frauenanteils, da auch inhaltliche und kulturelle Veränderungen in der eigenen fachlich-beruflichen Umwelt befürchtet wurden. Die aktuellen Diskussionen über den zu erwartenden demografischen Wandel und einen Fachkräftemangel verleihen dem Thema „Frauen im Ingenieurberuf“ – auch im Berufstand selbst – immer mehr Bedeutung. Bereits seit den 1950er Jahren gab es zahlreiche Ansätze, Frauen in technische Berufe zu integrieren und technische Berufe für Frauen zu erschließen. Diese basierten – ausgelöst durch den „Sputnik-Schock“ und die damit verbundene Feststellung, dass die damalige UdSSR mit ihrem technischen Potenzial beim Wettkampf um die Positionen im All zunächst gewonnen hatte, – auf rein bildungsökonomischen Ansätzen (mehr Studierende in die Hochschulen, mehr Frauen in technische Berufe). Wie am Beispiel von Ilse Knott-ter Meer beschrieben, bildeten sich ab Mitte der 1960er Jahre erste Gruppen von Ingenieurinnen mit dem Ziel, sich gegenseitig kennen zu lernen und zu unterstützen; außerdem wollten sie erste Ansprechpartnerinnen für technikinteressierte Mädchen sein. Gleichzeitig nahm mit dem Aufkommen der Frauen-, Öko- und Friedensbewegung die Schwierigkeit für Ingenieurinnen zu sich zu verorten. In der Frauenbewegung z.B. wurde Technik, wenn überhaupt, als „männerdominiert“ thematisiert und mit „Kriegstechnik“ gleichgesetzt (vgl. u.a. Janshen 1990). Entsprechend wurden Ingenieurinnen schnell als „angepasst“ stigmatisiert. 1987 erschien dann die bis heute einzige bildungs- und berufsbiografische Untersuchung zu „Ingenieurinnen. Frauen für die Zukunft“, die verdeutlicht, dass der Grad beruflicher Identität und Integration für Ingenieurinnen das entscheidende Element ist, sie langfristig und erfolgreich an den Beruf zu binden. Janshen/Rudolph belegten durch ihre Gespräche mit Studentinnen und Ingenieurinnen eindrucksvoll, dass sich, um Ingenieurinnen gleichberechtigt im Beruf zu integrieren, die technische Berufskultur wandeln muss.
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Habituskonsistenzen und -ambivalenzen von Ingenieurinnen im beruflichen Umfeld Der „Habitus“ als Ergebnis einer berufsspezifischen Identitätsentwicklung drückt sich u.a. durch eine spezifische Sprach- und Denkstruktur aus, die weit über das eigentlich Fachliche hinausgeht. Gelingt bei Individuen die Ausbildung eines konformen Habitus’ (Habituskonsistenz, vgl. Janshen/Rudolph 1987), ist die Chance einer erfolgreichen beruflichen Laufbahn deutlich höher als bei Diskrepanzen zwischen Person und Rolle (Habitusambivalenz, vgl. Janshen/Rudolph 1987). Gleichzeitig führt die formale Gleichbehandlung von unterschiedlichen Personen und Gruppen (z.B. Frauen und Männern) dazu, dass ungleiche Chancen zur Habitusentwicklung geschaffen werden. Dies gilt für Schulen, Hochschulen, Unternehmen und Verbände (vgl. Ihsen 2005). Als „Habitus“ wird ein im Studium erworbenes Instrumentarium berufsfeldtypischer „dos and don’ts“ verstanden, das die berufliche Identität der späteren Ingenieurinnen und Ingenieure prägt (vgl. Engler 1993, Bourdieu 1982). Das Individuum entwickelt systemkonforme Einstellungen, um die Integration von Person, Studium und Berufsentscheidung zu erzielen (vgl. Kosuch 1994, Ihsen 1996). Die Entwicklung eines systemkonformen Habitus’ entsteht durch unreflektierte Reproduktion der offiziellen und inoffiziellen Regeln. Diese Regeln („heimliche Lehrpläne“) selektieren potenzielle Mitglieder, z.B. die gewünschte Zielgruppe eines Berufsstandes (vgl. Ihsen 2005). Frauen in den Ingenieurwissenschaften starten in die Ausbildung häufig mit dem Anspruch, dass sie selbstverständlich mit den männlichen Kommilitonen gleichberechtigt behandelt werden. Bereits im Studium sammeln sie aber erste Erfahrungen darin, „aus dem Rahmen zu fallen”. Sie entwickeln individuelle Lösungsansätze, sich kulturell zu integrieren, können damit aber den Konflikt zwischen Geschlechts- und Berufsrolle nur begrenzen. Da sie einen Teil der Fachkultur für sich adaptieren, entwickeln sie häufig zunächst individuelle Strategien („Ich bin schuld, wenn ich nicht akzeptiert werde, also kann ich es auch ändern”, vgl. Ihsen 1996), die dem allgemeinen ingenieurwissenschaftlichen Habitus entsprechen. Im Anschluss an die Erkenntnis, dass auch noch so genaue Anpassung nicht zu der gewünschten Normalität führt, werden strukturelle Erklärungsansätze herangezogen („Ich werde ausgegrenzt, weil ich eine Frau bin”, vgl. Ihsen 1996). Diese Erkenntnis kann zu verschiedenen Ergebnissen führen: zum Verlassen dieser Kultur, zu weiteren individuellen Anpassungsbemühungen, zur inneren Emigration innerhalb der Kultur und zur konstruktiven Auseinandersetzung mit dem System. Erlemann (2002) diskutiert, dass Berufsaussteigerinnen vor allem ein persönliches Scheitern in der technischen Fachkultur erleben. Begründet wird diese „Erfolgsangst“ (Janshen/Rudolph 1987) damit, dass Frauen in Rollenkonflikte geraten, wenn sie leistungsorientiert denken. Innere Rollenkonflikte sind also vorprogrammiert, auch wenn Ingenieurinnen sonst eher die klassische Frauenrolle für sich ablehnen: Sie geraten aufgrund ihrer Umwelt immer wieder in Rollenkonflikte und erhalten von ihrer männlichen Umwelt erhöhte Aufmerksamkeit. In fachlichen Diskussionen werden sie nicht gehört, ihre Argumente nicht berücksichtigt. Um Akzeptanz zu erhalten, erklären sie sich in Arbeits- und Gruppenprozessen bereit, soziale Verantwortung zu übernehmen, und erhalten – rollenstereotyp – die Verantwortung für ein angenehmes Arbeitsklima zugewiesen (vgl. Ihsen 1996). Zwischen dem fachlich gewünschten Habitus, den tradierten Berufsstrukturen und der geschlechtsspezifischen Rollenzuweisung gibt es also widersprüchliche Anforderungen, die dazu führen, dass Ingenieurinnen regelmäßigen Verunsicherungen ausgesetzt sind. Es zeigt sich aber auch, dass – können die Frauen eine Auseinandersetzung innerhalb der Berufskultur über die sie umgebende, aber ausgrenzende Struktur führen – sie diejenigen sind, die Veränderungen in der Kultur bewirken können (vgl. Ihsen 2005). Zum Beispiel wirken sie über Abteilungs- und Fachgrenzen hinweg in Netzwerken darauf hin, dass sich ihre Unternehmen an Programmen wie dem Girl’s Day beteiligen und sich damit teilweise zum ersten Mal mit der Frage befassen, warum so
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wenige Frauen sich von technischen Berufen ansprechen lassen. Nach wie vor werden aber als persönlich empfundene Unsicherheiten eher individuell ausgetragen als in diesen Netzwerken (vgl. Haffner/Könekamp/Krais 2006). Eine fachbezogene Habitusentwicklung kann aber nur dann erfolgen, wenn eine Rollenkonsistenz gegeben ist. Das institutionelle und gesellschaftlich vermittelte Bild „des Ingenieurs“ und „der Technik“ tragen wesentlich zur Habitusambivalenz der Ingenieurinnen bei. Es ändern sich lediglich die Funktionen und Aufgaben und es entsteht eine zunehmende Vielfalt in der Berufskultur (vgl. Faulkner 2006). Insbesondere Unternehmen aus dem technisch relevanten Konsumgüterbereich setzen seit ein paar Jahren auf „Diversity“ bei der Zusammensetzung ihrer Entwicklungsteams (hinsichtlich beider Geschlechter, Generationen, kultureller Hintergründe). Diese Vorgehensweise ermöglicht erstmals eine differenzierte Betrachtung des Entwicklungsprozesses im Hinblick auf die Entwicklerinnen und Entwickler und weist nach, dass neben Geschlechterdifferenzen auch Differenzen im Bildungshintergrund bzw. Gemeinsamkeiten der Geschlechter, z.B. in der Technikfaszination, Arbeitsprozesse prägen (vgl. Bührer/Schraudner 2006).
Zur beruflichen Situation von Ingenieurinnen Obwohl gerade in den letzten Jahren die Fragen nach der Vereinbarkeit von Beruf und Familie oder nach flexiblen Arbeitszeitmodellen viele betriebliche Veränderungsprozesse befördern, zeigt sich, dass Frauen im Ingenieurberuf trotz guter bis sehr guter Einstiegsvoraussetzungen weiterhin einen geringeren Grad der beruflichen Identifikation entwickeln als ihre männlichen Kollegen. Ursache ist eine bislang nur gebrochen mögliche Identifizierung mit der Berufskultur und den dazugehörigen Berufsbildern. Dies wird deutlich, wenn Frauen sich nach dem Studium nicht um einen beruflichen Einstieg bemühen, fachfremd tätig werden oder im Laufe der ersten ein bis zwei Karriereschritte den Beruf verlassen (vgl. Erlemann 2002). Die Arbeitslosenquote von Ingenieurinnen liegt aktuell bei 9,7%, wobei die Gesamtquote weiter sinkt und für ihre männlichen Kollegen zurzeit noch 3% ausmacht (vgl. VDI 2007). Sie sind damit mehr als doppelt so häufig von Arbeitslosigkeit betroffen wie Fachkollegen und sogar mehr als doppelt so häufig wie andere Akademikerinnen (vgl. Schreyer 2006). Trotz besserer Abschlüsse und steigender Studentinnenzahlen in ingenieurwissenschaftlichen Fächern wird in vielen Fachdiskussionen immer wieder deutlich, dass Frauen nach wie vor länger brauchen, um beruflich erfolgreich zu sein und in ihrem Beruf zufrieden zu arbeiten (vgl. Buhr 2006). Die Analyse zur Situation von Ingenieurinnen in der Wissenschaft ergibt differenzierte Ergebnisse: Zwar sind sie auch hier unterrepräsentiert, halten aber anders als Wissenschaftlerinnen aus anderen Disziplinen an Universitäten und außerhochschulischen Forschungseinrichtungen ihren niedrigen Durchschnittsanteil an Promotionen und Professuren (vgl. Löther 2004). Auch in der industriellen Forschung sind Frauen deutlich unterrepräsentiert. Dies zeigte eine EU-Studie von 2002, „Women in Industrial Research“, die als Alarmsignal für alle europäischen Mitgliedsstaaten verstanden wurde. Auch in Deutschland fanden daraufhin Konferenzen statt. Das Thema „Frauen in der Forschung“ wurde inzwischen auch von den einschlägigen Wissenschaftsinstitutionen aufgegriffen und im Rahmen von Selbstverpflichtungen und Zielvereinbarungen als Problem definiert. Kernthema aller Anstrengungen ist es, erfolgreiche Konzepte zu entwickeln, Frauen langfristig in Industrie und Wissenschaft zu halten. Mehr Frauen in der Forschung sind auch als Reaktion auf den gesellschaftlichen Wandel nötig: Sie leisten einen Beitrag zur Sicherung von Innovationskraft, Kreativität und Exzellenz (vgl. Ebeling 2006). Die Vereinbarung, bis zum Jahre 2010 in allen EU-Ländern den Anteil für Forschung und Entwicklung auf (mindestens) 3% des Bruttoinlandproduktes festzulegen, könnte dazu führen, dass in den nächsten Jahren deutlich mehr WissenschaftlerInnen und ForscherInnen benötigt werden, um dieses Ziel zu erfüllen. Auch da-
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durch wird sich der Arbeitsmarkt für Frauen und Männer, die in der Forschung arbeiten, entspannen und bessere Chancen für Frauen bieten. In etlichen Unternehmen ist bereits ein Aufwärtstrend für die Beteiligung von Frauen in industrieller Forschung zu verzeichnen; klare Programme und Zielvereinbarungen mit Führungskräften führen zu einem stärkeren Fokus auf die bislang nicht ausgeschöpften Potenziale, zu denen nicht nur Frauen, sondern z.B. auch Personen mit Migrationshintergrund gehören (vgl. Ihsen 2007). Der drohende Fachkräftemangel könnte eine zunehmende Integration von Frauen auf die entsprechenden Positionen nach sich ziehen. Untersuchungen aus der Vergangenheit haben gezeigt, dass Frauen immer dann besonders in den Arbeitsmarkt integriert werden, wenn männliche Arbeitskräfte fehlen (vgl. Schreyer 2006). Aufgrund der aktuellen Kombination aus Fachkräftemangel und demografischem Wandel wird sich der Anteil von Frauen in höher qualifizierten Berufen, und damit auch in den Ingenieurwissenschaften, in absehbarer Zeit steigern.
Perspektiven eines modernen Berufsverständnisses: Mehr Chancen für Ingenieurinnen? Die Ansätze, mehr Frauen in technische Berufe zu integrieren, sind in der Gesellschaft und in den Unternehmen angekommen. Es geht dabei nicht mehr ausschließlich um Gleichberechtigung und Chancengleichheit, sondern auch um klar bezifferbare volks- und betriebswirtschaftliche Größen: Seit Langem ist unstrittig, dass immer komplexer werdende Anforderungen durch eine Veränderung der Märkte und der Organisationsstrukturen in Betrieben von allen Fach- und Führungskräften überfachliche Kompetenzen erfordern (vgl. Brödner 1996, VDI 2004, Ihsen 2006). In den letzten Jahren wurden bereits auf Unternehmensseite Konzepte eingeführt und umgesetzt, die sich speziell an Frauen wenden und technische Berufe für sie besonders attraktiv werden lassen sollen. Die Situation von Frauen im Ingenieurberuf rückt deshalb immer wieder ins Zentrum berufspolitischer Diskussionen, in denen das traditionelle Berufsbild „des Ingenieurs“, vor dem Hintergrund der gesellschaftspolitischen Entwicklung, kritisiert wird (vgl. u.a. Haffner/Könekamp/Krais 2006). Diversity-Management-Strategien gehen davon aus, dass durch eine zunehmende Vielfalt innerhalb der Unternehmen u.a. die Produktivität erhöht wird. Dazu gehört auch eine zunehmende Integration von Ingenieurinnen in Forschungs- und Entwicklungsteams. Diese könnte einen „Modernisierungsimpuls für das deutsche Innovationssystem“ (Buhr 2006) bewirken. Während in großen Unternehmen Diversity-Konzepte und Ansätze zur Frauenförderung bereits erfolgreich eingeführt sind, tun sich besonders Klein- und mittelständische Unternehmen nach wie vor schwer, Konzepte zur Frauenförderung oder zur Steigerung des Studentinnenanteils beizutragen. Oberstes Ziel solcher Managementeinführungen ist es, keine Vorurteile und Diskriminierungen, sondern vollständige Integration aller Beschäftigtengruppen im Unternehmen zu erreichen. Dies führt zu einem unmittelbaren Perspektivenwechsel, weg vom Blick auf Mehrheiten und ihre Bedürfnisse hin zur Berücksichtigung von Frauen und Männern, Menschen unterschiedlicher Hautfarben, Nationalitäten und Herkunftskulturen, aus verschiedenen Generationen, versehen mit unterschiedlichen Kompetenzen (vgl. Vedder 2003, Bührer/Schraudner 2006, Krell/Wächter 2006). Verweise: Beruf Managing Diversity Technikwissenschaften
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Literatur Bourdieu, Pierre 1982: Die feinen Unterschiede. Frankfurt/M.: Suhrkamp Brödner, Peter 1997: Innovationsstrategien im Wandel: die Rolle der Ingenieure; Podiumsdiskussion: Zukunftsaufgaben von Ingenieurinnen und Ingenieuren, Eingangsstatement. In: Neff, Wolfgang/Thomas Pelz, Thomas (Hrsg.): Ingenieurinnen und Ingenieure für die Zukunft: aktuelle Entwicklungen von Ingenieurarbeit und Ingenieurausbildung. Berlin: Zentraleinrichtung Kooperation der TU Berlin, S. 190199 Buhr, Regina 2006: Plädoyer für technische Ausbildung und Berufsarbeit als verzahnte Einheit. In: Buhr, Regina (Hrsg.): Innovationen – Technikwelten, Frauenwelten. Chancen für einen geschlechtergerechten Wandel des Innovationssystems in Deutschland. Berlin: Wostok Verlag, S. 5-16 Bührer, Susanne/Martina Schraudner 2006: Gender-Aspekte in der Forschung. Wie können GenderAspekte in Forschungsvorhaben erkannt und bewertet werden? Karlsruhe: Fraunhofer Irb Verlag Ebeling, Helga 2006: Frauen in der industriellen Forschung und Entwicklung in Europa. In: Buhr, Regina (Hrsg.): Innovationen – Technikwelten, Frauenwelten. Chancen für einen geschlechtergerechten Wandel des Innovationssystems in Deutschland. Berlin: Wostok Verlag, S. 57-65 Engler, Stefanie 1993: Fachkultur, Geschlecht und soziale Reproduktion. Eine Untersuchung über Studentinnen und Studenten der Erziehungswissenschaft, Rechtswissenschaft, Elektrotechnik und des Maschinenbaus. Weinheim: Deutscher Studien-Verlag Erlemann, Christine 2002: Ich trauer meinem Ingenieurdasein nicht mehr nach. Warum Ingenieurinnen den Beruf wechseln. Bielefeld: Kleine Europäische Kommission 2002: Women in Industrial Research. Brüssel Europäische Kommission 2004: Gender and Excellence in the Making. Brüssel Faulkner, Wendy 2006: Läuft alles, Frau Ingenieur? (Online-Ressource verfügbar unter www.freitag.de/ 2006/35/06351701.php ) Haffner, Yvonne/Bärbel Könekamp/Beate Krais 2006: Arbeitswelt in Bewegung. Chancengleichheit in technischen und naturwissenschaftlichen Berufen als Impuls für Unternehmen. Herausgegeben vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Berlin Ihsen, Susanne 1996: Studentinnen an einer Technischen Hochschule. Zur Situation von MaschinenbauStudentinnen an der RWTH Aachen. In: Münch, Dörte/Evi Thelen (Hrsg.): FORUM Frauenforschung – Vorträge aus fünf Jahren. Darmstadt, S. 107-130 Ihsen, Susanne 1999: Zur Entwicklung einer neuen Qualitätskultur in ingenieurwissenschaftlichen Studiengängen. Ein prozeßbegleitendes Interventionskonzept. VDI-Fortschritt-Berichte, Reihe 16, Nr. 112 Ihsen, Susanne 2005: Engineering Culture in Changing Processes – Gender Studies as one Cross Road. In: Simsek, Cagdas/Yavuz Yaman (Hrsg.): SEFI 2005 Proceedings. SEFI Conference 2005 ANKARA, Ankara 2005, S. 317-322 Ihsen, Susanne 2006: Technische Fachkultur und Frauenbilder – warum sich die Technik mit den Fachfrauen so schwer tut. In: Buhr, Regina (Hrsg.): Innovationen – Technikwelten, Frauenwelten. Berlin: Wostok Verlag, S. 103-114 Ihsen, Susanne 2007: „Technik ist doch neutral“ – Genderorientierte Veränderungsansätze in den Ingenieurwissenschaften. In: Dudeck, Anne/Bettina Jansen-Schulz (Hrsg.): Zukunft Bologna!? Gender und Nachhaltigkeit als Leitideen für eine neue Hochschulkultur. Frankfurt/M. (u.a.): Lang, S. 235-246 Janshen, Doris 1990: Hat die Zukunft ein Geschlecht? Denkschrift für eine andere technische Zivilisation. Berlin: Orlanda Frauenverlag Janshen, Doris/Hedwig Rudolph et al. 1987: Ingenieurinnen. Frauen für die Zukunft. Berlin, New York: de Gruyter Kosuch, Renate 1994: Beruflicher Alltag in Naturwissenschaft und Ingenieurwesen. Eine geschlechtervergleichende Untersuchung des Konflikterlebens in einer Männerdomäne. Weinheim: Deutscher Studienverlag Krell, Gertraude/Hartmut Wächter 2006: Diversity Management. Impulse aus der Personalforschung. München/Mering: Hampp Löther, Andrea 2004: Erfolg und Wirksamkeit von Gleichstellungsmaßnahmen an Hochschulen. Bielefeld: Kleine Ropohl, Günter 1997: Das neue Paradigma in den Technikwissenschaften. In: Neef, Wolfgang/Thomas Pelz (Hrsg.): Ingenieurinnen und Ingenieure für die Zukunft. Aktuelle Entwicklungen von Ingenieurarbeit und Ingenieurausbildung. TU Berlin: S. 11-16
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Schreyer, Franziska 2006: Hoch qualifizierte Technikfrauen – Studium, Arbeitsmarkt, Zukunft. In: Buhr, Regina (Hrsg.): Innovationen – Technikwelten, Frauenwelten. Chancen für einen geschlechtergerechten Wandel des Innovationssystems in Deutschland. Berlin: Wostock Verlag, S. 43-56 Vedder, Günther (2003): Vielfältige Personalstrukturen und Diversity Management, in: Wächter, Hartmut/Günther Vedder/Meik Führing (Hrsg.): Personelle Vielfalt in Organisationen, München/Mering: Hampp, S. 13-27 Verein Deutscher Ingenieure (VDI) 2004: Stellungnahme zur Weiterentwicklung der Ingenieurausbildung in Deutschland. Düsseldorf Verein Deutscher Ingenieure (VDI) 2007: www.vdi.de/monitoring
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Raum: Feministische Kritik an Stadt und Raum
„Das gesellschaftliche Geschlechterverhältnis ist in die räumlichen Strukturen eingeschrieben, Räume sind vergeschlechtlicht.“ Diese These über die Wechselwirkungen von Geschlecht und Raum ist Ausgangspunkt der feministischen Stadt- und Raumforschung. Die Wechselbeziehung zwischen Geschlecht und Raum gilt nicht nur für Gesellschaften mit einer klar definierten räumlichen Geschlechtertrennung, sondern auch und gerade für westliche Industriegesellschaften wie der Bundesrepublik Deutschland, in denen nur noch wenige im strengen Sinn monogeschlechtliche Räume existieren. Raum wird dabei nicht als vorgegeben, sondern als „in gesellschaftlichen Prozessen konstruiert“ verstanden (Sturm 2000: 200). Für diese gesellschaftlichen Prozesse spielen sowohl die natürlichen Gegebenheiten und die gebaute Umwelt als auch Regulationen (wie zum Beispiel Eigentums- oder Zugangsrechte), menschliche Handlungen (z.B. wirtschaftliche Tätigkeiten) in Vergangenheit und Gegenwart sowie kulturelle Prägungen, Symbole und Zeichen eine Rolle. Martina Löw betrachtet Raum als „relationale (An)Ordnung sozialer Güter und Menschen“, die erst durch das Handeln vom Menschen konstituiert wird (Löw 2001: 158). Raum wird also nicht als bloßes physikalisches, sondern als soziales Phänomen verstanden. Diesem Raumverständnis entsprechend bezieht sich die feministische Forschung sowohl auf die Wechselwirkungen zwischen Raumstrukturen und Geschlechterverhältnis als auch auf die Bedeutung kultureller Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit für die Konstitutionsprozesse von Raum. Analog zu Entwicklungen der feministischen Theoriebildung haben sich dabei die Schwerpunkte und Sichtweisen sukzessive verlagert: Von den räumlichen Aspekten der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und den Möglichkeiten und Hindernissen der Raumaneignung durch Frauen über die Ausdifferenzierung dieser Prozesse durch das Ineinandergreifen von ‚class‘, ‚race‘ und ‚gender‘ bis zu den räumlichen Aspekten der symbolischen Ordnung und des „doing gender“. In allen Phasen sind neben der Kritik immer auch emanzipatorische Gegenentwürfe entwickelt und partiell auch umgesetzt worden.
Fehlende Alltagstauglichkeit von Stadt und Raum: Keine Berücksichtigung der Reproduktionsarbeit in räumlichen Strukturen Die Wohnung als Arbeitsort Die US-Amerikanerin Melusina Fay Peirce hat bereits Mitte des 19. Jahrhunderts die mit der Industrialisierung einhergehende räumliche Trennung von Produktions- und Reproduktions- bzw. Versorgungsarbeit und die (zumindest in der bürgerlichen Schicht) damit verbundene Herausbildung der isoliert in ihrem Haushalt unbezahlt wirtschaftenden Hausfrau als eine wesentliche Ur-
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sache für das asymmetrische, hierarchische Geschlechterverhältnis herausgearbeitet (Peirce 1869, zitiert nach Hayden 1980: 66ff.). Rund 100 Jahre vor der „Lohn für Hausarbeit-Debatte“ der zweiten (deutschen) Frauenbewegung entwickelte Peirce ihr Konzept zur Neuorganisation der Haus- und Versorgungsarbeit als „cooperative housekeeping“ in einer mit allen technischen Hilfsmitteln ausgestatteten „Hausarbeitszentrale“, in der eine Gruppe von Hausfrauen die vormals isoliert geleistete Hausarbeit, gegebenenfalls mit Unterstützung von Dienstboten, gegen Löhne verrichtet, die in der Wirtschaft für qualifizierte Männerarbeit bezahlt wird. Finanziert werden sollte die Arbeit durch die diese Dienstleistungen in Anspruch nehmenden Ehemänner nach dem Prinzip „cash on delivery“ (Hayden 1981: 68). Die Wohnungen der durch die Kooperative versorgten Familien sollten dagegen keine Küchen enthalten – eine Idee, die Lily Braun zu Beginn des 20. Jahrhunderts in ihrem (auf Vorstellungen der utopischen Sozialisten Fourier und Owen aufbauenden) Konzept des „Einküchenhauses“ in die Debatten der proletarischen Frauenbewegung einbrachte (Braun 1901, Terlinden/von Oertzen 2006). Bei beiden Konzepten ging es darum, die Hausarbeit durch Zentralisierung zu rationalisieren, Frauen ein Einkommen oder aber freie Zeit für Erwerbsarbeit oder andere Aktivitäten zu schaffen und dadurch die geschlechtshierarchische Arbeitsteilung zu verändern. Beide Konzepte setzen hierzu vor allem auf veränderte räumliche Konzeptionen. Die Vorschläge lösten allerdings auch in Frauenbewegung heftige Debatten aus. Eine der prominentesten Gegnerinnen war Clara Zetkin (Terlinden/von Oertzen 2006: 140). In der Ende der 1970er Jahre in der Bundesrepublik einsetzenden feministischen Diskussion über Stadt- und Raumplanung sind die Konzepte zur Kommerzialisierung der Hausarbeit zwar nicht wieder aufgegriffen worden, trotzdem war die unbezahlte, in der Wohnung unsichtbar gemachte, von Frauen verrichtete Reproduktionsarbeit ein wesentlicher Ansatzpunkt für die feministische Architektur-, Planungs- und Stadtkritik. Weder die Wohnungsgrundrisse noch die Siedlungs- und Verkehrsinfrastrukturen seien auf die Reproduktionsarbeit ausgerichtet, sondern behinderten diese, so die Analysen der frühen Kritikerinnen (vgl. Terlinden 1980, 1990; Dörhöfer/Terlinden 1985). Myra Wahrhaftig (1985) sprach vom „Emanzipationshindernis Wohnung“, weil die (nicht nur) im sozialen Wohnungsbau vorherrschenden Grundrisse mit einer kleinen Funktionsküche die für die Haus- und Reproduktionsarbeit typische Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Arbeiten, insbesondere der Haus- und der Betreuungsarbeit, ebenso erschwerten wie die partnerschaftliche Teilung der Hausarbeit. Erst später wurde darauf hingewiesen, dass die Erfinderin der der Funktionsküche zugrunde liegenden „Frankfurter Küche“, die Wiener Architektin Grete Schütte-Lihotzky, mit ihrem Konzept durchaus emanzipatorische Vorstellungen verband. Die Rationalisierung der Hausarbeit in einer kleinen, mit vielen Hilfsmitteln (z.B. einer Kochkiste, die das Warmhalten von Speisen über mehrere Stunden ermöglichte) ausgestatteten Funktionsküche sollte es auch verheirateten Frauen ermöglichen, trotz ihrer Hausarbeitspflichten (die in dem Konzept nicht in Frage gestellt wurden) erwerbstätig zu sein. Inzwischen hat diese Kritik bei einer Reihe von Projekten des „frauenfreundlichen Wohnungsbaus“ zu einer Renaissance der multifunktionalen Wohnküche geführt (vgl. Dessai 1996, Becker 2009), wenngleich die Meinungen hierzu bei den Nutzerinnen geteilt zu sein scheinen. Eine systematische Evaluation dieser Konzepte steht bisher noch aus. Unbestritten ist jedoch, dass die auch bzgl. Lage, Besonnung und Belichtung oft vernachlässigte Küche deutlicher Ausdruck des geringen gesellschaftlichen Stellenwertes der Haus- und Reproduktionsarbeit in Architektur und Gesellschaft ist. Insofern kann die in der feministischen Architektur- und Planungskritik erhobene Forderung nach „Raum für Hausarbeit“ als räumliche Variante der „Lohnfür-Hausarbeit-Debatte“ angesehen werden. Eine aktuelle Übersicht über die Debatten zum „geschlechtergerechten“ Bauen bietet der von Christina Altenstraßer u.a. herausgegebene Sammelband gender housing (2007).
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Reproduktionsarbeit, Siedlungsstruktur und räumliche Mobilität Bereits in den 1970er Jahren wurden auch die Siedlungsstrukturen als materialisierter Ausdruck des hierarchischen Geschlechterverhältnisses, dem die „In-Wert-Setzung“ von Haus- und Reproduktionsarbeit fehle, kritisiert. Die Kritik richtet sich vor allem gegen die in der „Charta von Athen“ (ein dem vierten Kongress für das Neue Bauen von 1931 zugeschriebener, tatsächlich von Le Corbusier im Alleingang formulierter Text) kodifizierte „Funktionstrennung“, die die Stadtentwicklung der Nachkriegszeit nicht nur in der Bundesrepublik dominierte. Den „Funktionen“ „Wohnen“, „Arbeiten“, „Erholung“ und „Verkehr“ wurden jeweils spezifische, getrennte Räume zugewiesen, um gegenseitige Störungen zu vermeiden. Unbeachtet blieb dabei, dass die „Wohnung“ für Frauen (als denjenigen, die immer noch ganz überwiegend die Reproduktionsarbeit erledigen) nicht nur Erholungs-, sondern auch Arbeitsort ist. Für diese Arbeit sind allerdings insbesondere die neu gebauten Siedlungen an der Peripherie der Städte nicht konzipiert. Es fehlt ihnen vielfach noch heute an der auf Reproduktionsarbeit bezogenen Infrastruktur und an einer bequemen und schnellen Anbindung durch den öffentlichen Nahverkehr. Besonders belastend sind die mangelnden Verkehrsanbindungen für die stetig wachsende Zahl (Teilzeit-)erwerbstätiger Mütter, die wegen der schlechten Mobilitätsbedingungen (und der zu kurzen Öffnungszeiten der Kinderbetreuungseinrichtungen, soweit vorhanden) auf einen möglichst schnell erreichbaren, d.h. wohnungsnahen Arbeitsplatz angewiesen sind (Bock/Heeg/Rodenstein 1997). Solche Arbeitsplätze aber sind nicht vorgesehen, was Erwerbsarbeit suchende Mütter vielfach zwingt, schlechtbezahlte, unter ihrem Qualifikationsniveau liegende Jobs anzunehmen. „Männer suchen ihren Arbeitsplatz nach Qualitäts-, Frauen nach Erreichbarkeitskriterien aus“ fasst Susanne Frank die diesbezügliche Diskussion zusammen (Frank 1999: 59). Darüber hinaus hat die feministische Verkehrsforschung in einer Vielzahl von Studien die unterschiedlichen Mobilitätsstrukturen und das unterschiedliche Verkehrsverhalten von Männern und Frauen untersucht (vgl. Buschkühl 1985, Rau 1991, Flade 1992, Klamp 1993, Bauhardt 1995a, Flade/Limbourg 1999) und dargelegt, dass für Frauen sog. ‚Wegeketten‘, auf denen sie mehrere Dinge hintereinander erledigen (von der Wohnung über den Kindergarten zur Erwerbsarbeit und danach über einige Läden zurück zur Wohnung) typisch sind, während der männliche Durchschnittserwerbstätige im Vergleich dazu einfache Wegestrukturen aufweist: Von der Wohnung zur Arbeit und zurück (mit einem gelegentlichen Umweg über Bordell oder Kneipe, der aber nicht weiter thematisiert wurde). Obwohl der in aller Regel radial auf das Zentrum ausgerichtete öffentliche Nahverkehr für die Mobilitätsstrukturen erwerbstätiger Männer geradezu prädestiniert ist, während die komplexen Mobilitätsstrukturen doppelt belasteter Frauen ein flächenerschließendes Verkehrsmittel erfordern, das der ÖPNV nur sehr unzureichend bietet, folgt die PKW-Nutzung nicht dieser Logik, sondern dem auch aus anderen Bereichen bekannten Muster: Männer nutzen weit häufiger einen PKW als Frauen. Männer stecken, plakativ gesprochen, über den unter die Erde gelegten öffentlichen Verkehrsmitteln im Stau, während Frauen zu Fuß oder mit U-Bahn und Bus quer durch die Stadt hetzen. Inzwischen allerdings holen Frauen bei Führerscheinbesitz und PKW-Verfügbarkeit stark auf, was zu der paradoxen Situation führt, dass jene Betreuungsaufgabe, die erst durch die rasante Zunahme des AutoVerkehrs notwendig geworden ist, das Bringen und Holen von Kindern, nicht selten mit dem PKW erledigt und damit die Ursache verstärkt wird, die erst zu der Notwendigkeit des Begleitens geführt hat: Gingen dreijährige Kinder in den 1950er Jahren noch selbstverständlich alleine zum Kindergarten, werden heute zunehmend auch Grundschulkinder bis zum Eintritt in die Sekundarstufe von ihren Eltern, meist den Müttern, zur Schule gebracht (Deutscher Städtetag 1995: 19). Daraus jedoch den Schluss zu ziehen, die Mütter seien selbst für diese Entwicklung verantwortlich, greift entschieden zu kurz: Denn immer noch ist der motorisierte Individualverkehr überwiegend „männlich“ (vgl. Becker 1994). Vor allem aber liegt die Ursache in der einseitig auf die Interessen von erwachsenen erwerbstätigen Männern ausgerichteten Siedlungs-
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und Verkehrspolitik, welche die „Funktionen“ trennt und gleichzeitig dem Fetisch Auto immer mehr Flächen opfert. „Stadtplaner sind autofahrende Männer“ fasste Petra Rau (1987) diese Erkenntnis plakativ zusammen. Eine quantitativ-statistische Bestätigung dieser Thesen lieferte jüngst das Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (2007) mit seiner Veröffentlichung „Frauen, Männer, Räume“, in der nachgewiesen wird, wie sehr Raumstrukturen die Möglichkeiten von Frauen (und Männern) befördern oder hemmen können. Die Chance, dass ein Mädchen Zugang zu höherer Bildung erhält, die Möglichkeit für Frauen, Familie und Beruf zu vereinbaren, ihre Möglichkeiten, ein auskömmliches Einkommen zu erzielen, hängen in der Bundesrepublik Deutschland ganz wesentlich davon ab, wo frau lebt. Differenzen bestehen nicht nur zwischen Ost und West, sondern auch zwischen Stadt und Land, Kernstadt und Umland, Zentrum und Peripherie. Feministische Analysen haben dies alles seit vielen Jahren thematisiert – nun sind diese Analysen auf einer breiten statistischen Basis zumindest teilweise quantitativ belegt worden.
(Strukturelle) Gewalt gegen das Raumnehmen von Frauen Raum als ungleich verteilte Ressource Ebenfalls bereits Ende der 1970er Jahre wurden auch die vielfältigen Beschränkungen der „Raumnahme“ von Frauen kritisiert und dagegen „Raum nehmen und Platz greifen“ empfohlen (FOPA 1993). Die Kritik richtete sich gegen die ungleiche Verteilung privater Räume (nicht nur) im sozialen Wohnungsbau, dessen hierarchische Grundrisse mit einem großen, repräsentativen Wohnzimmer (als dem, wie damals argumentiert wurde, „Erholungsort des Mannes“), seinen viel zu kleinen Kinderzimmern und Funktionsräumen und einer über das Belegungsrecht gesteuerten Raumzuteilung, Frauen kein eigenes Zimmer in der Wohnung zubilligen (vgl. Terlinden 1980, Warhaftig 1985). Aus diesen Gründen wurde der „room of one’s own“ von Virginia Woolf (1981) nicht nur zum viel zitierten Motto der feministischen Planungskritik, sondern, zusammen mit der Forderung nach „enthierarchisierten“ Grundrissen mit möglichst gleich großen Räumen, zu einem der wichtigsten Kriterien des „frauenfreundlichen Wohnungsbaus“ (Becker 2009). Die Kritik richtete sich aber auch gegen die ungleiche Verteilung des öffentlichen Raums, die Frauen schon als Mädchen auf wenig platzgreifende Spiele verweist (vgl. Flade/Kustor 1996, Flade/Kustor-Hüttl 1993, Muchow/Muchow 1935, Ahrend 2002, Studer 2002) und ihnen als häufigere Fußgängerinnen und Benutzerinnen öffentlicher Verkehrsmittel weniger Anteile an der immer weiter raumfressenden Verkehrsinfrastruktur, die vor allem dem motorisierten Individualverkehr zugute kommt, überlässt. Raum wurde in diesen Arbeiten als eine gesellschaftliche Ressource begriffen, die wie andere Ressourcen, insbesondere Geld und Vermögen, extrem ungleich zwischen den Geschlechtern verteilt ist. So wies Maria Spitthöver (1990, 1989) durch den Vergleich eines Fußballfeldes mit einem Gymnastikraum in plakativer Weise auf die unterschiedliche quantitative Inanspruchnahme von Flächen durch Frauen und Männer hin und entwickelte damit bereits vor fast 20 Jahren einen dem heute im Rahmen von Gender Mainstreaming diskutierten „gender budgeting“ vergleichbaren Ansatz auf räumlicher Ebene. Fortgeführt worden sind die Arbeiten über die Inanspruchnahme von Freiräumen von Ursula Paravicini u.a. (2002, 2003), die durch den Vergleich öffentlicher Räume in Barcelona, Paris und Hannover zeigen, wie Planung geschlechtsspezifische Differenzen in der Inanspruchnahme von Freiflächen beeinflussen kann.
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„Angsträume“ – Gewalt gegen Frauen im öffentlichen und privaten Raum Dominiert wurde die Diskussion um den Zugang von Frauen zum öffentlichen Raum allerdings von der Frage nach den unterschiedlichen Formen von Gewalt gegen Frauen. Analysiert wurden die raumgreifende Körpersprache von Männern (Wex 1979), die vielfachen Formen verbaler und körperlicher sexistischer Übergriffe und vor allem die sexualisierte Gewalt. Der Versuch, die Prävalenz der (sexualisierten) Gewalt im öffentlichen Raum mit spezifischen Ausprägungen des Ortes der Gewalt zu korrelieren mit dem Ergebnis, dass sexualisierte Gewalt gegen Frauen vor allem an unübersichtlichen bzw. nicht einsehbaren Orten vorkomme (erstmals Gensch/Zimmer 1981), führte zur Entwicklung des Konzepts „Angstraum“, der sich durch spezifische baulich-räumliche Gegebenheiten auszeichne und dem demzufolge mit spezifischen baulichen Mitteln beizukommen sei (vgl. Siemonsen/Zauke 1991). Wenn es ein Begriff aus der feministischen Architektur- und Planungskritik geschafft hat, in den allgemeinen Sprachgebrauch einzugehen, dann ist es zweifellos der Begriff des „Angstraumes“. Dazu beigetragen haben Frauenbeauftragte in Kommunen und Institutionen, die Frauenparkplätze, zurückgestutzte Hecken und hellere Beleuchtungskörper in manchen Unterführungen und Straßenzügen durchsetzten (ebd.). Innerhalb der feministischen Planungsdebatte wird dieser Erfolg inzwischen allerdings eher kritisch bewertet. Eingewandt wird, dass der Begriff das eigentliche Problem, die Männergewalt gegen Frauen, unsichtbar mache und den vorherrschenden Diskurs, Männergewalt sei eine gesellschaftlich geächtete Tat eines „Fremden“, unterstütze. Damit werde das Ausmaß der Gewalt gegen Frauen verdeckt und von den für Frauen wirklich gefährlichen Räumen, dem persönlichen Nahfeld und der Wohnung, abgelenkt (vgl. Becker 2000b, 2008). Zudem werde mit der Rede vom Angstraum der zunehmenden staatlichen Kontrolle des öffentlichen Raumes ein Vorwand geliefert, ohne tatsächlich die Sicherheit von Frauen gegen sexualisierte Gewalt zu erhöhen. Renate Ruhne (2003) hat mit ihrer Arbeit „Raum Macht Geschlecht“ sehr präzise die gesellschaftlichen Machstrukturen herausgearbeitet, die hinter dieser Gewalt stehen und die mit planerischen Maßnahmen nicht behoben werden können. Ähnlich Rachel Kallus (2003), die von einer „sozialen Produktion der Angst“ und einer von sozialen Faktoren abhängigen differenten subjektiven Wahrnehmung öffentlicher Räume spricht, die eben gerade nicht (nur) von „objektiven“ baulichen Gegebenheiten abhänge (ebd: 123).
Reflexive Kritik und Weiterentwicklungen Seit Ende der 1980er Jahre wurden die frühen Arbeiten der feministischen Architektur- und Planungskritik innerhalb des feministischen Diskurses zunehmend kritisiert: Die Arbeiten beschränkten sich auf theoretisch nicht fundierte bzw. nicht reflektierte „Situationsanalysen“ ohne Bezug auf gesellschaftliche Verhältnisse, die die kritisierten räumlichen Strukturen hervorbringen (Rodenstein 1990) und reduzierten Frauen auf „Mütter kleiner Kinder“, ohne ökonomische, soziale, kulturelle und rechtliche Unterschiede zwischen Frauen sowie die Vielfalt ihrer Lebensentwürfe zu beachten. Die Debatte über die Differenzen zwischen Frauen war damit auch im feministischen Planungsdiskurs angekommen.
Sozioökonomische und kulturelle Differenzierungen Eine der ersten Arbeiten, die in Deutschland empirisch die sehr unterschiedlichen raumbezogenen Interessen von Frauen belegte, war die Analyse von Monika Alisch (1993) zur Gentrifizierung, jenem Prozess der Aufwertung (wörtlich: „Veradelung“) innerstädtischer Altbaugebiete,
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die zur Verdrängung alteingesessener ärmerer Bevölkerungsschichten, darunter auch vieler marginalisierter Frauen (Alleinerziehende, Rentnerinnen, Migrantinnen), führt. Alisch belegte – analog zu US-amerikanischen und britischen Studien (vgl. Borst 1990, Bondi 1991) – die aktive Rolle gut ausgebildeter, berufsorientierter, vollerwerbstätiger Frauen in diesem Prozess, in dem die Strukturkategorie „Klasse/Schicht“ offenbar stärker wirkt als die Kategorie „Geschlecht“. Saskia Sassen (1998, 1996) zeigt die enge räumliche Verwobenheit der in einer komplexen Beziehung stehenden formellen und informellen Ökonomie in der „global city“, in der sich die Zentralen transnationaler Konzerne ansiedeln. Deren glitzernde Bürowelt (in die einzudringen auch weibliche „young urban professionals“ sich anschicken) kommt nicht ohne die in erbärmlichen Verhältnissen lebenden, schlecht bezahlt in sog. Sweatshops schuftenden marginalisierten Frauen aus. Aysegul Baykan (2003) zeigt am Beispiel von Istanbul die widersprüchlichen Folgen der Globalisierung für Frauen in einer Metropole der Dritten Welt, die sich insbesondere auch in unterschiedlichen Formen der räumlichen Inklusion oder Exklusion ausdrücken. Mit der Herausgabe des FreiRäume-Heftes „Ortswechsel-Blickwechsel“ (1996) thematisiert die FOPA die Lebenslagen und spezifischen räumlichen Bedingungen von Migrantinnen (vgl. auch Waltz 1997). Ingrid Breckner und Gabriele Sturm beschreiben, wie sich „geschlechtshierarchische Nutzungstypologien“ der Nutzung zentraler Plätze mit „klassenspezifischen sowie ethnischen und generationellen Differenzierungen verweben“ (2002: 175f.), wodurch sich nicht nur die Präsenz von Frauen unterschiedlicher Gruppen auf öffentlichen Plätzen, sondern auch die Art der Nutzung dieser Plätze unterscheidet. Während „Arbeiterinnen, Angestellte und Jobberinnen ... möglichst unauffällig durch ihn hindurchhuschen“, nutzen, den beiden Autorinnen zufolge, Mittelschichtfrauen die öffentlichen Plätze für soziale Kontakte, wobei sie allerdings „stets ein waches Auge für ihre Verpflichtungen“ behalten, sich also im Gegensatz zu Männern sowohl der „Underclass“ als auch der Mittelschicht keine zweckfreie Nutzung des öffentlichen Raumes erlauben (ebd.). Den starken Einfluss kultureller Prägungen auf räumliche Geschlechterarrangements verdeutlicht ein von Marianne Rodenstein (2006) herausgegebener Sammelband, in dem an sehr unterschiedlichen Beispielen aus Syrien, Israel, Mexiko, Deutschland und der Schweiz gezeigt wird, wie sich die Konzepte von Öffentlichkeit und Privatheit und deren geschlechtliche Konnotationen in unterschiedlichen Kulturen, aber auch in unterschiedlichen Milieus (z.B. traditionelle dörfliche versus modernisierte städtische Milieus) ausdifferenzieren und welche Strategien Frauen unter diesen Umständen anwenden, sich Räume anzueignen, die ihnen durch starke Normen mehr oder weniger verschlossen sind.
Feministische Wissenschaftskritik: Weibliche und männliche Prinzipien in der Planung Rund oder eckig – unter diesem Motto begann Ende der 1970er Jahre die Suche nach den „weiblichen Prinzipien“ in Architektur und Planung (Bauwelt 1979), eine Suche, die allerdings relativ bald aufgegeben wurde, denn, „die Formensprache an sich ... ist nicht herrschaftlich“, sie wird es erst durch Zuschreibungen, z.B. durch die in der abendländischen Philosophie verankerten Konnotation von strengen orthogonalen Rastern als Symbole von Rationalität und Geist mit Männlichkeit (Dörhöfer 2002: 139). Neu gestellt wurde die Frage nach den männlichen und weiblichen Prinzipien in der Planung auf der Basis der feministischen Wissenschaftskritik und deren Infragestellung der vorgeblichen universellen Rationalität der Natur- (und der in deren Schlepptau schwimmenden Ingenieur-)wissenschaften. „Schneller, weiter, Männer“ betitelte z.B. Christine Bauhardt (1995b) einen ihrer Artikel gegen das in der Verkehrspolitik herrschende Prinzip der Beschleunigung, dem die feministischen Verkehrsplanerinnen das Ideal der „Entschleunigung“, der Rückkehr zu einem menschlichen, alltagstauglichen Maß der Mobilität entgegensetzten (FOPA 1994) und dabei schlüssig bewiesen, dass eine Verlangsamung der einzel-
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nen Verkehrsmittel nicht zu einer Verlängerung der Gesamtreisezeiten oder zu einer Reduktion von Mobilität führen muss. Im Gegenteil: Die Beschleunigung der Verkehrsmittel bei gleichzeitigem Rückzug aus der Fläche (z.B. durch Reduktion der Haltpunkte) ist das beste Mittel, um trotz schneller gewordener Verkehrsmittel mehr Zeit von Haus zu Haus zu benötigen. Vertieft wurde der Gedanke einer Entschleunigung im Kontext der Debatte um feministische Konzepte zur Nachhaltigkeit. Richtungweisend hierzu die Veröffentlichung über „Zeitlandschaften. Perspektiven ökosozialer Zeitpolitik“ (Hofmeister/Spitzner 1999).
Geschlechterbilder in Architektur und Stadtplanung In einer der ersten deutschsprachigen Arbeiten zur feministischen Architekturkritik zeigte Kerstin Dörhöfer (1987) an Hand eines sehr verbreiteten Lehrbuchs über den Bauentwurf, wie durchgängig bereits in der Ausbildung der Studierenden Geschlechterstereotypen eingesetzt werden (Frauen in der Küche, Männer im Chefsessel) – in Fortsetzung einer Tradition der Architekturlehre, die durch direkte Raumzuweisungen, aber auch durch symbolische Zeichen Geschlecht und Raum verbunden hat (Kuhlmann 2003). Diese Verbindung findet sich auch heute noch, nicht nur in realen Raumzuweisungen, sondern vor allem in geschlechtlich konnotierten Bildern und Konzepten der (Groß-)Stadt. Die Kulturwissenschaftlerin Elizabeth Wilson (1993) verdeutlicht in „Begegnung mit der Sphinx“, wie eng die Großstadtkritik des 19. und 20. Jahrhunderts mit unterschiedlichen Weiblichkeitsmythen (‚Heilige‘ und ‚Hure‘) verknüpft ist. Vertieft hat diesen Gedanken Susanne Frank (2003) in ihrer Arbeit „Stadtplanung im Geschlechterkampf“, in der sie an einer Fülle von Beispielen zeigt, wie eng nicht nur die Wahrnehmung der Stadt und ihrer Probleme, sondern auch die von der Stadtplanung entwickelten Lösungsansätze mit gesellschaftlichen Konzepten der Geschlechterordnung verbunden sind. Die Krise der Stadt wird ungeachtet lokaler Unterschiede in westlichen Großstädten als Geschlechterkrise wahrgenommen, so die Quintessenz der Autorin. „Es gilt, das Verhältnis von Stadt und Geschlecht real wie symbolisch wieder in Ordnung zu bringen“ (ebd.: 17). Denn in den im Zuge der Industrialisierung rasch wachsenden Großstädten des 19. Jahrhunderts war die Geschlechterordnung durch die „Neuen Frauen“, die „den Schritt in die neue Welt städtischer Beschäftigungsverhältnisse“ wagten (ebd.: 90) sowie durch Promiskuität und Prostitution aus den Fugen geraten. Gegen dieses, eng mit der Vorstellung ungebändigter, Gefahr bringender weiblicher Sexualität verbundene Chaos der Großstadt setzten Stadtreinigung und Stadtplanung ihre Ordnungskonzepte. Mehr als die von den „Meisterplanern“ entworfenen Neuen Städte ist allerdings der ungeplant durch eine Fülle von Einzelentscheidungen entstandene suburbane Raum, insbesondere in Form vorstädtischer Einfamilienhausgebiete, Ort gezähmter Weiblichkeit, jenes Weiblichkeitswahns, den Betty Friedan 1963 (deutsch 1970) in ihrem vielbeachteten Buch kritisierte. Hier entstand, zumindest in den USA, jene „suburban womanhood“ (ebd.: 330) gut ausgebildeter, angepasster, an einem wohnortnahen Teilzeitjob interessierter, ihre Aufgaben an Heim und Herd priorisierender weißer Mittelstandsfrauen mit hoher Arbeitsmoral und geringen Verdienstansprüchen, die seit den 1970er Jahren Unternehmen veranlasst, insbesondere ihre back-offices mit einfachen Büro- und Verwaltungstätigkeiten in die Vorstädte zu verlagern, um nicht mehr auf die meist schwarzen, oft allein erziehenden und gelegentlich renitenten Innenstadtbewohnerinnen angewiesen zu sein. Auch wenn Suburbanisierung und innerstädtische Segregation in Europa und insbesondere in Deutschland längst nicht das US-amerikanische Ausmaß erreicht haben, zeigt schon der in den 1970er Jahren geprägte Begriff der „Grünen Witwe“ die enge Verbindung bestimmter Weiblichkeitskonzepte mit spezifischen städtischen Strukturen auch in der europäischen Stadt. Zwar hatten die „Grünen Witwen“ ohne jeden Zweifel anderes zu tun, als Tag für Tag vereinsamt auf den von der Erwerbsarbeit heimkehrenden Gatten zu warten, doch sind solche Bilder mehr als
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feuilletonistische Versuche, gesellschaftliche Wirklichkeit zu beschreiben. Sie sind wirkmächtige Grundlagen einer Planungspolitik, die bspw. Gebiete mit einem überdurchschnittlichen Anteil an alleinerziehenden Frauen als problematisch definiert und deshalb durch planerische Maßnahmen „sozial stabile Bewohnerstrukturen“ (Baugesetzbuch § 1) herzustellen versucht. Das Bild der „grünen Witwe“ ist zwar inzwischen passé, da sich die Trennung zwischen Hausfrau und erwerbstätiger Frau – insbesondere durch den hohen Anteil teilzeitbeschäftigter Mütter – nicht mehr aufrecht erhalten lässt, dennoch zeigt dieses Bild, wie sehr gesellschaftliche Geschlechterverhältnisse und Vorstellungen von Weiblichkeit in Stadtstrukturen eingeschrieben sind.
Heterosexualisierte Räume Heteronormativität ist – so Judith Butler (1991) – ein konstituierendes Merkmal der gesellschaftlichen Konstruktionen von Zweigeschlechtlichkeit. Mit dem gesellschaftlichen Geschlechterverhältnis ist daher auch die Heteronormativität in den Raum eingeschrieben, wie Gil Valentine (1993) auf der Grundlage qualitativer Interviews mit Lesben in Großbritannien zeigt. Räume sind durch ihre physische wie soziale Organisation „heterosexualisiert“ – von der Wohnung bis zum Arbeitsplatz, von Restaurants bis zu Versicherungsunternehmen. Lesben fühlen sich, so die Schlussfolgerungen der Autorin, oft „out of place“, nicht nur durch offene Diskriminierung lesbischer Lebensweisen, sondern auch durch die fraglose Unterstellung einer heterosexuellen Orientierung oder durch die zunehmende Auflösung der Trennung privater und öffentlicher Verhaltensweisen, die jedoch nur in der heterosexuellen Version gilt. Lesben vermeiden, ihre Sexualität und ihre Lebensweisen öffentlich zu zeigen, während heterosexuelle Männer und Frauen, so betont Valentine, dies in vielfältiger Weise tun. Die feministische Kritik an der Vergeschlechtlichung von Räumen muss deshalb die heterosexuelle Aufladung von Räumen mit einbeziehen (vgl. Becker 1998).
Visionen und widerständige Praktiken Als handlungsorientierte Wissenschaft hat feministische Architektur und Planung es nicht bei der Kritik belassen, sondern immer auch Gegenkonzepte entwickelt. Die in den USA entwickelten Visionen des 19. sowie die Konzepte zum Einküchenhaus zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden bereits erwähnt. Mit Interesse aufgegriffen wurde das Konzept der US-Amerikanerin Dolores Hayden (1981) für eine nicht-sexistische Stadt. Marianne Rodenstein (1994) suchte – ebenfalls in Rezeption der US-amerikanischen Erfahrungen und Vorstellungen – „Wege zu einer nicht-sexistischen Stadt“ und Sabine Baumgart und Elke Pahl-Weber (1993) entwarfen „Visionen für Hamburg“, in der selbstbewusste, mit oder ohne Kinder erwerbstätige Frauen ohne Doppelbelastungssyndrom sich mit Hilfe eines phantastisch ausgebauten, mit technischen Errungenschaften ausgestatteten öffentlichen Nahverkehrs durch Hamburg bewegen. Diese Visionen sind allerdings Visionen geblieben. Andere Konzepte konnten – zumindest modellhaft – umgesetzt werden. Dazu gehören insbesondere die Wohnungsbauprojekte im Rahmen der Internationalen Bauausstellung Berlin, die von der damals neu gegründeten FOPA (Feministische Organisation von Planerinnen und Architektinnen) durch einen faux pas der (männlichen) IBALeitung abgerungen wurden (vgl. Dörhöfer/Terlinden 1998). Dazu gehört auch der mehr als 10 Jahre später in Bergkamen im Rahmen der Internationalen Bauausstellung Emscherpark durchgeführte Wettbewerb für ein Wohnungsbauprojekt, der sich ausschließlich an Architektinnen richtete und von einer ausschließlich weiblich besetzten Jury bewertet wurde (vgl. Reumke 1991). Dazu gehören aber auch die inzwischen sehr zahlreichen „Beginen- und autonomen Frauenwohnprojekten“ (Becker 2009).
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Aktuelle Untersuchungen widmen sich vor allem den widerständigen Praktiken, die den (sozial immer wieder hergestellten) Raum verändern. Yvonne P. Doderer (2003) zeichnete die „urbanen Praktiken“ der (zweiten) feministischen Frauenöffentlichkeit in Westdeutschland nach, Agnes Senganata Münst (1998, 2004) widmet sich dem Beitrag der Lesben zur feministischen Frauenöffentlichkeit. Christine Bauhardt wiederum weist am Beispiel der muslimischen Frauen in der französischen Banlieu auf die Brüchigkeit der Eroberung männlich besetzter öffentlicher Räume hin: „Frauen, die in diese Räume eindringen, stellen dadurch einerseits diese männliche Inbesitznahme in Frage, andererseits begeben sie sich damit in die Kontrolle der Männer“ (Bauhardt 2004a: 249). Nach Horia Kebabza können „die verschiedenen Formen von Gewalt, mit denen die jungen Frauen in ihren Stadtvierteln (in der Peripherie französischer Städte, Anmerkung R.B.) konfrontiert sind, als Resultat ihrer Emanzipation sowohl in der Privatsphäre als auch in der Öffentlichkeit verstanden werden“ (zitiert nach Bauhardt 2004a: 250, siehe auch Bauhardt 2004b). Auch dies belegt den engen (und oftmals konflikthaften) Zusammenhang von Emanzipation und Raumaneignung. Nach Sabine Hark (2004) können die unterschiedlichen Formen temporärer (und permanenter) „queerer“ Räume wie die jährlichen Christopher Street-Day-Paraden sowie die alle vier Jahre stattfindenden Gay Games (eine Art schwul-lesbischer Olympiade) als ein Prozess der Raumaneignung verstanden werden, durch die Lesben (und Schwule) zumindest für kurze Zeit einmal nicht „in der Fremde“ sind, sondern dem „physischen Raum den ‚eigenen Stempel’ aufdrücken (und) die im Raum sedimentierte Heteronormativität wenigstens zeitweise herausfordern“ (Hark 2004: 223). Hark kritisiert jedoch gleichzeitig die zunehmende Kommerzialisierung lesbisch-schwuler Infrastruktur, die zu geschlechts- und klassenbezogenen Exklusionen führt, weil sich vor allem viele Lesben diese kommerzialisierten öffentlichen Räume nicht mehr leisten können – ein Problem, das im übrigen nicht auf Lesben (und Schwule) beschränkt ist. In den USA erschienen mehrere Publikationen und Sammelbände zur aktuellen Raumproduktion von Lesben und Schwulen (vgl. Ingram/Bouthillette/Retter 1997, Bell/Valentine 1995, Valentine 1996, Kenney 1998). Gemeinsam ist diesen (sehr unterschiedlichen) Veröffentlichungen die Umkehrung der Blickrichtung: Nicht räumliche Behinderung und Ausgrenzung von marginalisierten Gruppen, sondern die aktive Herstellung des Raumes in einem oft widerständigen sozialen Prozess wird thematisiert, etwa die Aufhebung der heterosoexuellen Matrix durch Schaffung lesbischer Räume, seien es Wohnungen, Bars oder Zentren (vgl. Retter 1997). Ulla Terlinden weist auf die „Grenzgängerinnen“ verschiedener Epochen hin, die den herrschenden Diskurs des „public man“ und „private woman“ durchbrochen und dazu beigetragen haben, die „manifesten räumlichen Zuschreibungen“ zu verflüssigen (2002: 155). Weitere (historische) Beispiele widerständiger Raumaneignungsstrategien von Frauen finden sind in Imboden/Meister/Kurz (2000), Ankum (1997, deutsch 1999) und Duncan (1996).
Ausblick Die Geschichte der feministischen Kritik an Stadt und Raum(planung) kann als eine Erfolgsgeschichte gelesen werden. Eine Reihe von Forderungen sind in den Planungsdiskurs eingegangen, wenn auch ohne Referenz zu den feministischen Ursprüngen. Funktionstrennung ist out – Nutzungsmischung ist in, zumindest im wissenschaftlichen Diskurs, wenn auch nicht immer im stadtplanerischen Alltag. Auch stoßen Konzepte zur „frauenfreundlichen Planung“ (die leider immer noch notwendig sind (Dörhöfer/Terlinden 1998)) nicht mehr nur auf taube Ohren, werden allerdings noch viel zu häufig auf die Vermeidung von Angsträumen oder das Absenken von Bordsteinen beschränkt. Inzwischen ist auch Gender Mainstreaming zumindest rhetorisch in der Planungspraxis angekommen (vgl. Kail 2003), die Umsetzung vor Ort scheitert dann allerdings oft schon an den fehlenden Ressourcen zur Durchführung einer qualifizierten „Gender-Analyse“, die nicht selten
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den schlecht ausgestatteten und dadurch hoffungslos überlasteten kommunalen Frauenbeauftragten überlassen bleibt. Doch selbst wenn ausreichend Gelder zur Verfügung stehen, wie in dem Projekt „Gender Mainstreaming im Städtebau“, mit dem das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung die Anwendung der Gender-Mainstreaming-Strategie exemplarisch erproben wollte, sind die Ergebnisse recht dürftig und beschränken sich im Wesentlichen auf die partielle Veränderung einer Parkumgestaltung und auf einen Beteiligungsprozess in Dessau mit wenigen greifbaren Ergebnissen. Von einem nachhaltig wirksamen Experiment des im Rahmen des „Experimentellen Wohnungs- und Städtebaus“ durchgeführten Projekts kann keine Rede sein, was, dies sei ausdrücklich betont, nicht Projektbearbeiterinnen, sondern den sehr zähen Strukturen des räumlichen Planungssystems anzulasten ist (vgl. Bundesministerium für Städtebau 2006). Trotz partieller Erfolge bleibt ein Unbehagen: Denn Theorie und Praxis der Stadt-, Raumund Planungskritik haben sich weit auseinanderentwickelt. Während sich Protagonistinnen des theoretischen Diskurses darum sorgen, durch die Benennung von Geschlechterunterschieden in Raumzugang und Raumnutzung zu jenem „doing gender“ beizutragen, das das hierarchische System der Zweigeschlechtlichkeit immer wieder von neuem reproduziert, werden in den Kommunen „frauenfreundliche“ Planungen auf der Grundlage der Analysen der 1970er und 1980er Jahre ohne jeden Rekurs auf neuere theoretische Erkenntnisse entwickelt. An den im Mainstream derzeit meistdiskutierten zentralen Entwicklungen und Programmen, etwa dem Stadtumbau oder der Sozialen Stadt, gehen Theorie wie Praxis der feministischen Stadt- und Planungskritik weitgehend vorbei. Dabei sind mit diesen Planungskonzepten zur Restrukturierung unserer Städte unter veränderten (demografischen) Bedingungen – ganz im Sinne der Analysen von Susanne Frank – klare Vorstellungen zur Herstellung einer spezifischen Geschlechterordnung und zur Durchsetzung anerkannter Formen von Weiblichkeit verbunden. Wenn zum Beispiel zur „Schaffung stabiler Bevölkerungsstrukturen“ in den Gebieten der „sozialen Stadt“ versucht wird, mit Hilfe von Eigentumsprogrammen der dort überdurchschnittlich häufig anzutreffenden Lebensform des Alleinerziehens das Idealbild der heterosexuellen „vollständigen“ jungen Familie entgegenzusetzen, dann kann das durchaus als deutsche Version der Idealisierung der „suburban womanhood“ interpretiert werden, die für die Stadtentwicklung in den USA derzeit so bedeutend ist. Analysen und Kritik solcher Retraditionalisierungsprozesse sind jedoch, mit wenigen Ausnahmen (vgl. Becker 2000a) für die feministische Stadt- und Planungskritik bisher kein Thema, könnten m.E. jedoch helfen, die derzeitige Stagnation in der Entwicklung praxisrelevanter, theoretisch fundierter feministischer Stadt- bzw. Raumentwicklungskonzepte zu überwinden. Verweise: Doing gender Gender Mainstreaming Gleichstellungspolitiken Lebens- und Wohnformen
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Mathematik: Genderforschung auf schwierigem Terrain
Die Mathematik ist eine derjenigen Wissenschaftsdisziplinen, die der Frauen- und Geschlechterforschung schwer zugänglich sind. Die Kategorie Geschlecht scheint keine Rolle zu spielen. Die Gegenstände mathematischer Forschung sind abstrakte Objekte, die allein mit Hilfe logischer Schlüsse untersucht werden. Somit ist Geschlecht weder unmittelbarer noch mittelbarer Forschungsgegenstand, und die Methoden erscheinen derart objektiv, dass ein Einfluss der Forschenden nicht ersichtlich ist. Im vorliegenden Beitrag geben wir einen Einblick in verschiedene in den letzten Jahrzehnten entstandene Forschungsrichtungen zu Mathematik und Geschlecht. Wir beschreiben diese aus dem Blickwinkel zweier wissenschaftlich tätiger Mathematikerinnen. Um NichtmathematikerInnen das Fach Mathematik und seine auch im Hinblick auf Genderfragen relevanten Spezifika näher zu bringen, beginnen wir unsere Darstellung mit einer Beschreibung der Mathematik als Wissenschaftsdisziplin aus unserer Innenperspektive. Anschließend zeigen wir anhand einiger statistischer Daten, dass das Thema „Frauen in der Mathematik“ noch immer ein wichtiges ist. Erst nach diesen einführenden Abschnitten werden dann die Entwicklungslinien und ausgewählte Resultate der verschiedenen Bereiche der Genderforschung zur Mathematik vorgestellt.
Mathematik als Wissenschaftsdisziplin Das Bild von der Mathematik wird vom Schulunterricht geprägt. Dass es noch eine Mathematik jenseits der Schulmathematik gibt, ist wenig bekannt. Wissenschaftlich tätige MathematikerInnen beschäftigen sich mit mathematischen Strukturen, ihren Eigenschaften und Beziehungen untereinander. Über die Jahrhunderte hat sich die Mathematik immer weiter spezialisiert, so listet die American Mathematical Society zurzeit 63 Haupt-Forschungsgebiete auf. Mathematische Forschung findet in der Regel an Universitäten oder Forschungsinstituten statt; sowohl der Austausch innerhalb einer Arbeitsgruppe als auch der Zugang zu Büchern und Fachzeitschriften ist unerlässlich. Zwischen dem Forschungsprozess und der veröffentlichten mathematischen Forschung besteht eine große Diskrepanz. Mathematische Forschung beginnt oft damit, dass die zu untersuchenden Strukturen aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden. Dann werden Vermutungen aufgestellt; um diese schließlich zu beweisen, werden verschiedene Ansätze ausprobiert. Die ForscherInnen benötigen hierfür Erfahrung und Kreativität, wichtig sind auch Durchhaltevermögen, Zeit zum Eintauchen in das Forschungsthema und seine Begriffswelt, Gespräche mit anderen, Offenheit für Neues. Wenn der Forschungsprozess abgeschlossen ist, werden die Resultate in einer standardisierten, allgemein akzeptierten Form „aufgeschrieben“. Scheinbar wird dabei der deduktiven Methode gefolgt, es ist jedoch aufgrund der großen Spezialisierung gar nicht möglich, jeden Beweis im Detail auszuführen und jedes Theorem auf die zugrunde liegen-
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den Axiome zurückzuführen. Viele mathematische Publikationen werden nur noch von ganz wenigen Personen vollständig verstanden. Die anderen lassen sich von der Richtigkeit der Resultate „überzeugen“, durch den Text selbst, durch die Autorität der AutorInnen oder durch „glaubhafte Zeugen“ (vgl. auch Heintz 2000).
Frauenanteile in der Mathematik Statistiken, wie sie z.B. in Abele/Neunzert/Tobies 2004 zu finden sind, belegen, dass in Deutschland zwar relativ viele Frauen ein Mathematikstudium aufnehmen (ca. 50% der AnfängerInnen sind weiblich, wenn man Diplomstudiengang und Höheres Lehramt gemeinsam betrachtet), dass der Frauenanteil jedoch mit jeder Hierarchiestufe abnimmt. Im Jahr 2005 waren 7% der Mathematikprofessuren an deutschen Universitäten mit Frauen besetzt (vgl. Stat. Bundesamt 2006). Die Geschlechterverteilung in der Mathematik ist abhängig vom Ort und von der Zeit. So lag der Frauenanteil bei den Promotionen in der Fächergruppe Mathematik/Statistik im Jahr 2003 in Deutschland bei 27,9%, in Italien bei 42,4%, in Portugal bei 58,3% und in Schweden bei 16% (vgl. European Commission 2006). Nach der Öffnung der deutschen Universitäten für Frauen um 1900 war Mathematik zunächst ein bei Frauen überproportional beliebtes Studienfach. Im Jahr 1934 waren 16% aller Studierenden weiblich, jedoch 22% aller Mathematikstudierenden (Abele/Neunzert/Tobies 2004: 7).
Fragestellungen der Frauen- und Geschlechterforschung zur Mathematik Die Mathematik ist wie jede andere Wissenschaft von Menschen in einem historischen Prozess entwickelt worden und damit in ihrer Begriffsbildung und ihren leitenden Fragestellungen nicht allein aus den Gesetzen der Logik abzuleiten. Es kann also nicht ausgeschlossen werden, dass das Geschlechterverhältnis in der Mathematik Spuren hinterlassen hat. Das Lernen von Mathematik ist ein Prozess, der nicht nur von den mathematischen Inhalten, sondern auch von subjektiven Voraussetzungen der Lernenden und von sozialen Bedingungen abhängt. Die Anwendung von Mathematik wird auch durch gesellschaftliche Verhältnisse beeinflusst. Wenn zur Mathematik diejenigen Bereiche hinzugerechnet werden, die das Fach reflektieren, d.h. sich mit den wissenschaftstheoretischen Grundlagen, der Geschichte und der Didaktik der Mathematik und ihrem Verhältnis zu den Anwendungen befassen, ergeben sich also Ansatzpunkte für Frauenund Geschlechterforschung zur Mathematik. Die von Evelyn Fox Keller 1995 vorgeschlagenen Analyseebenen „Women in Science“, „Science of Gender“ und „Gender in Science“ sind zurzeit für die Strukturierung von Forschungsthemen und -ergebnissen mit Bezug zur Mathematik wenig geeignet, da nahezu alle vorliegenden Forschungsergebnisse in die Kategorie „Women in Science“ gehören. Wir werden deshalb folgende Gliederung benutzen: – Geschichte der Mathematik – Didaktik der Mathematik – Mathematik als Studien- und Arbeitsfeld von Frauen – Wissenschaftskritische Genderforschung zur Mathematik Gegenüber der Ausgangssituation der Frauen- und Geschlechterforschung zur Mathematik, wie sie z.B. in Sarges (1983), Grabosch/Zwölfer (1992) oder Pieper-Seier (1996, 1997c) beschrieben ist, sind in den letzten Jahren auch in Deutschland wesentliche Erkenntnisfortschritte durch neue
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Studien erreicht worden. Beiträge zum feministischen Theoriediskurs und zur Wissenschaftskritik sind aber bisher nur wenige geleistet worden; diese werden im letzten der genannten Abschnitte dargestellt.
Geschichte der Mathematik Die Mathematik als beweisende Wissenschaft gibt es seit mehr als 2.500 Jahren. Sie ist überwiegend von Männern entwickelt worden. Zu den ersten Aufgaben der Frauen- und Geschlechterforschung zur Mathematik gehörte es daher, Frauen, die zur Entwicklung der Mathematik beigetragen haben, sichtbar zu machen und die Barrieren, die sie in ihrer Ausbildung und ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit überwinden mussten, herauszuarbeiten. Die biografische Forschung zu Mathematikerinnen hat zunächst Einzelstudien erbracht, die sich u.a. mit Emmy Noether (1882-1935), der bisher wohl bedeutendsten Mathematikerin (vgl. Brewer/Smith 1981, Dick 1981, Tollmien 1991), Sonya Kovalevskaya (1850-1891), der ersten Doktorin der Mathematik (vgl. Koblitz 1983, Cooke 1984, Tuschmann/Hawig 1993, Tollmien 1995), Ruth Moufang (1905-1977), der ersten Mathematik-Professorin in Deutschland (vgl. Pieper-Seier 1997a, 1997b), Maria Agnesi (1718-1799), Emilie DuChâtelet (1706-1749) und Sophie Germain (1776-1831) (vgl. Klens 1994) befassen. Darüber hinaus entstanden Sammelbiografien (vgl. z.B. Grinstein/Campbell 1987, Osen 1974). Über biografische Lebenslaufforschung gehen solche Studien hinaus, die – häufig anhand einzelner Beispiele – vor allem den Kampf um das Frauenstudium oder gegen die Ausgrenzung von Frauen aus mathematisch-akademischen Berufen, den schwierigen Zugang von Frauen zum Fach Mathematik thematisieren. So wurden in den USA die Promotionen von Frauen in Mathematik bis Ende der 1950er Jahre dokumentiert und die Karrieren dieser Frauen ausgewertet (vgl. Green/LaDuke 1987, 1988; Murray 2001). In einer Interviewstudie wurde der Mythos widerlegt, dass Mathematik eine Disziplin junger weißer Männer sei (vgl. Henrion 1997). In Deutschland sind entsprechende Forschungen seit den 1990er Jahren intensiv von Renate Tobies betrieben worden. Sie untersuchte die Anfänge des mathematischen Frauenstudiums in Preußen, das besonders in Göttingen von Felix Klein gefördert wurde (Tobies 1991/92), die Promotionen von Mathematikerinnen in Deutschland bis 1933 und die Rolle der Doktorväter (Tobies 1997a, b) und geschlechtsvergleichend die Berufsverläufe von LehramtsabsolventInnen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowie die Bedeutung ausländischer PromovendInnen (vgl. Abele/ Neunzert/Tobies 2004: 19-37, 133-147).
Didaktik der Mathematik Ausgangspunkt für die Forschungen zu Mathematik und Gender in Psychologie, Pädagogik und Mathematik-Didaktik waren Befunde zu geschlechtsspezifischen Leistungsunterschieden und zur Distanz zur Mathematik, die sich u.a. im Kurs-, Studienfach- und Berufswahlverhalten ausdrücken. Das Erkenntnisinteresse zielte darauf ab, die Unterschiede möglichst detailliert zu beschreiben, Ursachen zu erforschen und daraus Vorschläge für Veränderungen insbesondere des Mathematikunterrichts zu entwickeln, die zu mehr Chancengleichheit in Bezug auf Mathematik führen sollen. Leistungsunterschiede zwischen Mädchen und Jungen wurden in den empirischen Studien festgestellt, die seit den 1960er Jahren vor allem in den USA, in Kanada, Australien und Großbritannien durchgeführt wurden, wobei sie zwischen den Individuen stärker ausfielen als zwischen den Genus-Gruppen. Auch die Ergebnisse der neueren großen internationalen Vergleichsuntersuchungen TIMSS, PISA und IGLU weisen Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen nach – meist zugunsten der Jungen –, die aber in verschiedenen Ländern unterschiedlich ausge-
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prägt sind (vgl. Keller 1998, Jahnke-Klein 2007). In der Partizipation der Frauen in der Mathematik sind zwar Fortschritte erreicht worden, aber von Chancengleichheit kann noch keine Rede sein (vgl. Fennema/Leder 1990). Auch hier gibt es ausgeprägte nationale und kulturelle Unterschiede (vgl. Grevholm/Hanna 1995, Hanna 1996, Rogers/Kaiser 1995). Geschlechtsspezifische Unterschiede im Verhalten zur Mathematik werden heute fast nur noch auf Erziehung und gesellschaftliche Bedingungen zurückgeführt. In empirischen Studien werden vor allem Konzepte aus der Entwicklungs- und der Sozialpsychologie und der Pädagogik eingesetzt. Als Ursachen für die relative Distanz von Mädchen und Frauen zur Mathematik gelten vor allem das geringere fachbezogene Selbstvertrauen, ungünstige Attributionsstile, Geschlechtsrollenklischees in Schulbüchern, Stereotypisierung der Mathematik als männliche Domäne, Erwartungen und Einstellungen von peer-group, Eltern und Lehrpersonen sowie die Interaktionsmuster im Mathematikunterricht (vgl. u.a. Beerman/Heller/Menacher 1992, Keller 1998, Horstkemper 1987, Köller u.a. 2000, Jungwirth 1991). Nachhaltige Verbesserungen der Situation werden vor allem dadurch erwartet, dass Lehrerinnen und Lehrer für das Thema Mathematik und Gender sensibilisiert werden (vgl. Krahn/ Niederdrenk-Felgner 1999). Schulbücher und weitere Materialien müssten so überarbeitet werden, dass sie Jungen und Mädchen gerecht werden. Und in der Tat werden die Rollenklischees in den Schulbüchern weniger. Auch von einer Veränderung der Unterrichtsformen – weg vom fragend-entwickelnden Unterricht – verspricht man sich positive Veränderungen. Die meisten Forschungen legen einen Ansatz zugrunde, nach dem gewisse Faktoren auf die Jungen und Mädchen einwirken und dabei ihr unterschiedliches Verhalten gegenüber der Mathematik hervorbringen. Lange Zeit herrschte die Vorstellung, dass die Mädchen mit den Jungen gleichziehen müssten, also ein Gleichheitspostulat, das implizit von der Vorstellung von Defiziten bei den Mädchen ausgeht. Jungwirth 1994 enthält eine sehr gründliche und umfassende Kritik der gängigen Forschungspraxis dieser Zeit und ihrer vielen offen gelassenen Fragen. Im Jahr 1993 fand in Schweden eine Internationale Tagung der International Commission on Mathematical Instruction (ICMI) zum Thema „Gender and Mathematics Education“ statt, auf der einerseits die sehr unterschiedlichen nationalen Befunde und Forschungsergebnisse zusammengetragen und andererseits Perspektiven für neue Konzepte in der Forschung vorgestellt wurden (vgl. Grevholm/Hanna 1995, Hanna 1996). Rogers/Kaiser (1995) legen in ihrem Buch einen theoretischen Rahmen vor, in dem der Defizitansatz vom Differenzansatz abgelöst wird, bei dem Frauen und Männern, Mädchen und Jungen spezifische Zugänge zur Mathematik unterstellt werden, die nicht hierarchisch gewichtet werden. Die Beachtung von Differenzen nicht nur in Bezug auf Gender, sondern auch mit Blick auf soziale Herkunft und Ethnizität ist das Anliegen von Keitel (1998). Leone Burton (1995) begründet, dass mit der Entwicklung einer feministischen Perspektive für den epistemologischen Kontext der Mathematik eine Öffnung für Mitglieder vieler verschiedener sozialer Gruppen erreicht werden kann, die zugleich auch die Disziplin bereichert. Ihre Interviewstudie mit 70 mathematischen ForscherInnen (Burton 2004) diente ihr als Grundlage für ein Modell mathematischen Wissens und Wissenserwerbs (knowing). In der empirischen Studie von Jahnke-Klein (2001) wurden die Wünsche von Mädchen und Jungen an den Mathematikunterricht erforscht. Dabei stellte sich heraus, dass die Mehrheit der Mädchen und ein Teil der Jungen ein gründliches Vorgehen ohne Zeitdruck bevorzugen, während eine Teilgruppe der Jungen sich mehr Abwechslung, z.B. durch höheres Unterrichtstempo, wünscht. Die Ergebnisse dieser Studie deuten darauf hin, dass die Mädchen an der Herstellung ihrer „Weiblichkeit“ im Mathematikunterricht aktiv beteiligt sind, indem sie sich verhalten, als ob sie leistungsschwach sind, z.B. durch andauerndes Nachfragen. Die oben benannte Grundannahme, dass Mädchen und Jungen sich unter dem Einfluss äußerer Faktoren so entwickeln, dass sie unterschiedliche Positionen zur Mathematik einnehmen, wird dadurch in Frage gestellt. Weitere Forschungen müssten also auch Prozesse des Doing Gender einbeziehen. Nahezu alle bisher vorgelegten Forschungen beziehen sich auf ein Alltagsverständnis von Geschlecht und Geschlechterdifferenz, insbesondere auf Zweigeschlechtlichkeit, und diese
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Grundlage wird meist nicht reflektiert. Die entsprechende Diskussion in der Soziologie und Genderforschung ist bisher in der Mathematik-Didaktik kaum aufgenommen worden. Eine der wenigen Ausnahmen bildet Helga Jungwirth, die bereits 1996 ein theoretisches Konzept auf der Grundlage des Symbolischen Interaktionismus mit Einschluss einer entsprechenden Methodologie vorgeschlagen hat. Diese Konzeption wurde zur Fundierung des Schwerpunktprogramms „Geschlechtssensibilität – Zur Individualisierung des Lehrens und Lernens“ eines großen empirischen Projekts in Österreich (IMST²) gemacht und praktisch erprobt (Jungwirth 2002, 2003). Gender Mainstreaming als Leitlinie hochschuldidaktischer Praxis ist das Thema von Curdes u.a. (2007), das mit interessanten Erfahrungen und Anregungen aufwartet.
Mathematik als Studien- und Arbeitsfeld von Frauen In den letzten Jahren wurden in Deutschland mehrere empirische Studien zu den Erfahrungen und Einstellungen von Studierenden, AbsolventInnen und Professorinnen der Mathematik vorgelegt. Die in Oldenburg durchgeführte Studie von Curdes u.a. (2003) hatte das Ziel, Gründe für den niedrigen Frauenanteil bei den Promotionen in Mathematik zu identifizieren. Es zeigte sich, dass die für die positive Einstellung zur Promotion wesentlichen Voraussetzungen, wie Freude an der intellektuellen Herausforderung durch offene mathematische Probleme und fachbezogenes Selbstvertrauen, bei den Lehramtsstudierenden deutlich schwächer ausgeprägt sind als bei den Diplomstudierenden. Das gilt für Frauen wie Männer gleichermaßen. Bei den Diplomstudierenden zeigen zudem Frauen die für eine positive Haltung zur Promotion förderlichen Voraussetzungen deutlich schwächer als Männer. In Bielefeld wurde eine Studie mit Studierenden der Studiengänge Mathematik (Diplom), Wirtschaftsmathematik und Höheres Lehramt Mathematik durchgeführt, die an die Diskurse über Fachkulturforschung und Doing Gender anknüpfte. Die Studierenden wurden u.a. zu Studienmotivation und Studienzufriedenheit, zur Einstellung zur Mathematik und zu Zukunftsplänen befragt. Es ergaben sich stärkere Unterschiede zwischen den Studiengängen als zwischen den Geschlechtern (vgl. Mischau u.a. 2004, Mischau/Blunck 2006). Eine sozialpsychologisch angelegte Studie mit AbsolventInnen der Mathematik zeigte, dass drei Jahre nach dem Examen zwischen den Geschlechtern zwar Unterschiede im Gehalt, aber kaum Differenzen hinsichtlich der Zufriedenheit mit dem eingeschlagenen Weg bestehen (vgl. Abele/Neunzert/Tobies 2004). In einem weiteren Oldenburger Projekt wurde das Ziel verfolgt, aus den Erzählungen von Mathematikerinnen, die in Deutschland eine Professur oder eine dauerhafte Stelle als (habilitierte) Dozentin innehaben, die Berufsbiografien zu rekonstruieren und ihre jeweilige Selbstwahrnehmung und -verortung innerhalb der Disziplin zu ermitteln (vgl. Flaake u.a. 2006). Von 76 zur Zielgruppe gehörenden Frauen wurden 65 interviewt. Fast alle berichten, dass sie in ihrem mathematischen Interesse schon früh und dann immer wieder bestärkt und gefördert wurden. Eine wichtige Rolle spielen die Tätigkeit als studentische Hilfskraft sowie alle Situationen, die den Zugang zur Community eröffnen. Mit jedem Karriereschritt nehmen allerdings auch die geschlechtsspezifischen Diskriminierungen zu. In einer weiteren Studie, für die die Habitusforschung den theoretischen Rahmen bildete, wurden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Mathematik und Sozialwissenschaften aus allen Statusgruppen befragt. Dabei stellte sich u.a. heraus, dass die Förderung wissenschaftlichen Nachwuchses in der Mathematik stärker als z.B. in den Sozialwissenschaften ausgeprägt ist (vgl. Vogel/Hinz 2004). In einer internationalen Vergleichsstudie werden Erklärungsversuche für die unterschiedliche Teilhabe von Frauen an Mathematik in verschiedenen Kulturen angeboten (vgl. Lenzner 2006).
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Wissenschaftskritische Genderforschung zur Mathematik Forschung zu Mathematik und Gender, die sich verorten lässt in den Feminist Science Studies (Feministische Naturwissenschaftskritik/Wissenschaftsforschung, vgl. Ebeling/Schmitz 2006, darin insbes. Bauer 2006, Ebeling u.a. 2006) gibt es bisher nur wenig. Die vorhandenen Arbeiten nehmen hierbei relativ wenig Bezug auf Konzepte der feministischen Theorie. Es wird gefragt nach dem Einfluss von Mathematik auf Geschlechterkonstruktionen und nach dem Einfluss von Geschlechterverhältnissen oder Geschlechtervorstellungen auf die Mathematik, die Arbeiten lassen sich also den Bereichen „Science of Gender“ bzw. „Gender in Science“ zuordnen. Im deutschsprachigen Raum und auch darüber hinaus wurde und wird die Mathematik als männliche Disziplin wahrgenommen, wie z.B. Niederdrenk-Felgner (1997) oder (für den englischen Sprachraum) Ernest (1995) konstatieren. Eine naheliegende Forschungsfrage ist, ob und wie die Mathematik, insbesondere der Mathematikunterricht an Schulen und Universitäten, selbst beiträgt zur Konstituierung dieses männlichen Images und somit zur Konstruktion von Geschlecht. So beschreibt z.B. Ernest (1995) die gegenseitige Beeinflussung von geringem Frauenanteil in der Mathematik und genderstereotypen Vorstellungen wie die von der Männlichkeit der Mathematik als einen Teufelskreis. Auch Mendick (2006), die den Mathematikunterricht in Großbritannien studiert und dabei auf poststrukturalistische Theorien rekurriert, beschäftigt sich mit dieser Fragestellung (vgl. in diesem Zusammenhang auch Walshaw 2004). Wenn man untersucht, wie sich Geschlechterkonstellationen in die Inhalte der Mathematik einschreiben bzw. eingeschrieben haben, liegt es nahe, nach einer „weiblichen Mathematik“ zu fragen, also danach, ob Frauen an einigen Stellen auf spezifische Weise ihre Spuren in der Mathematik hinterlassen haben oder ob eine von Frauen dominierte Mathematik anders aussähe. Einen ersten Ansatz für die Suche nach Androzentrismen in der Mathematik lieferten Frougny/Peiffer (1985), dieser wurde jedoch nicht wieder aufgegriffen. Harlizius-Klück (2004) stellt die These auf, dass die scheinbar anwendungsfreien Definitionen und Sätze zur Arithmetik in den Elementen des Euklid (um 300 v. Chr.) ihren Ausgangspunkt in der von Frauen praktizierten Musterweberei habe. Im Zusammenhang mit „weiblicher Mathematik“ sei auch die Ethnomathematik erwähnt: Sie befasst sich mit Mathematik nichtwestlicher Kulturen, wobei sie Mathematik weit fasst und z.B. auch implizit mathematisches Handeln in Handwerk, Kunst, Architektur untersucht, welches oft von Frauen ausgeführt und tradiert wurde und wird (siehe z.B. Gerdes 1998). Wegen der ihr zugrunde liegenden streng deduktiven Methode wird der Mathematik Objektivität und damit auch Autorität zugeschrieben, und zwar nicht nur im Kontext der mit ihrer Hilfe betriebenen exakten Naturwissenschaften, sondern auch allgemeiner in der öffentlichen Wahrnehmung. Nicht die Mathematik selbst, aber die Verwendung mathematiknaher Darstellungsformen (wie Zahlen, Messdaten, Statistiken) trägt somit bei zur Konstruktion von „Fakten“, z.B. auch bezogen auf Geschlechterunterschiede. Die Objektitivätskritik der Feminist Science Studies (vgl. Bauer 2006: 265ff.) greift Ortlieb (1998) für die Mathematik bzw. die von ihm so bezeichnete „mathematische Naturwissenschaft“ auf. Nimmt man weniger die Inhalte der Mathematik als vielmehr ihre Arbeitsprozesse, ihre Organisationsformen und ihre Fachkultur in den Fokus, so ist ein feministisch wissenschaftskritischer Blick ins „Innere der Mathematik“ leichter denkbar, z.B. im Rahmen von Laborstudien (vgl. Bauer 2006: 258f., Knorr-Cetina 1984), bei denen heute tätige MathematikerInnen in ihrem Arbeitsumfeld beforscht werden. Die auf Feldforschung am Max-Planck-Institut für Mathematik beruhende wissenschaftssoziologische Studie von Heintz (2000) gibt viele Aufschlüsse über heutige Praxen der Mathematik, lässt jedoch die Kategorie Geschlecht weitgehend unberücksichtigt. Auch historische Fallstudien sind hier möglich. So studieren Koreuber/Krause (2003) die Praxis des „Aufschreibens“ von Mathematik anhand der mathematischen Texte Emmy Noethers. Zukünftige Studien in diesem Kontext könnten z.B. das Entstehen innermathematischer Modeströmungen, die Entscheidungsfindungen bei fachlichen Kontroversen, die Bewertung und Akzeptanz neuer Forschungsrichtungen, neuer Methoden oder neuer Konzepte untersuchen und
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nach dem Einfluss der Kategorie Geschlecht bzw. den unterliegenden Prozessen des Doing Gender fragen. Verweise: Informatik
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Corinna Bath, Heidi Schelhowe, Heike Wiesner
Informatik: Geschlechteraspekte einer technischen Disziplin
Die Informatik ist eine relativ junge Disziplin, die ab 1968 als Studienfach an deutschen Universitäten eingerichtet wurde. Definiert wird sie meist als Wissenschaft, Technik und Anwendung der automatischen Verarbeitung, Speicherung und Übermittlung von Daten und Informationen mit Hilfe von Computern. Die Informatik wird in der Regel untergliedert in Technische (auf hardwarenahe Fragen bezogene), Theoretische (primär mathematische und formale), Praktische und Angewandte Informatik, wobei letztere auch das Gebiet „Informatik und Gesellschaft“ umfasst. Bereits in den 1980er Jahren wurde deutlich, dass InformatikerInnen nicht nur technische Systeme, sondern darüber vermittelt auch Arbeit gestalten. Spätestens seit Computer mit der Verbreitung des Internet immer mehr Lebensbereiche durchdringen, stellt sich jedoch die Frage nach dem Umfang und den Grenzen der Disziplin. Wurde sie zunächst verstanden als Ingenieurwissenschaft oder als Struktur- und Formalwissenschaft, so beanstandeten kritische VertreterInnen seit den 1990er Jahren die damit verbundene Maschinenfixierung oder die mangelnde Einbettung in Anwendungskontexte. Sie forderten eine Reflexion philosophischer Voraussetzungen, ökonomisch-rechtlicher Aspekte und gesellschaftlich-kultureller Kontexte und charakterisierten Informatik als Arbeitswissenschaft, als Gestaltungswissenschaft, als moderne Wissenstechnik, als Brücke zwischen den Natur- und Gesellschaftswissenschaften oder als neue Grundlagenwissenschaft, die mit der Mathematik und Philosophie vergleichbar sei (vgl. Coy u.a. 1992). Angesichts der dynamischen Entwicklung des Faches und der ihr zugrunde liegenden Technik sind dessen Inhalte, Teilgebiete sowie Einordnung in die Wissenschaftssystematik bis heute ebenso umstritten wie der Charakter des Computers als Rechenmaschine, als Werkzeug oder als Medium (vgl. Schelhowe 1997, Coy 2004, Hellige 2004). Genau die Fragen jedoch, was als Informatik definiert wird, welche wissenschaftstheoretischen Grundlagen und welche Methoden als legitim anerkannt werden, inwieweit Anwendungen, Mensch-Maschine-Interaktion und gesellschaftliche, soziale und kulturelle Auswirkungen zur Informatik gezählt werden, entscheiden wesentlich darüber, ob und in welchem Maße Frauen- und Geschlechterforschung innerhalb der Disziplin thematisiert werden kann oder nicht (vgl. Schelhowe 2004, Grundy 1998, 2000a, 2000b, 2001; Crutzen 2000, Suchman 2002, Björkman/Trojer 2006, Bath 2006).
Frauen- und Geschlechterforschung in der Informatik Im Feld der Frauen- und Geschlechterforschung in der Informatik können wir in Deutschland mittlerweile auf zwei Dekaden engagierter Aktivitäten und wissenschaftlicher Forschung zurückblicken, angefangen von der wissenschaftlichen Tagung „Frauenwelt – Computerräume“ (Schelhowe 1989) bis hin zur Sommeruniversität für Frauen in der Informatik, der „Informatica Feminale“, die jährlich seit 1998 in Bremen und seit 2001 in Baden-Württemberg stattfindet.
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2006 feierte die Fachgruppe „Frauenarbeit und Informatik“ der Gesellschaft für Informatik e.V. ihr 20-jähriges Bestehen (vgl. Frauenarbeit 2006). An der Hochschule Bremen gibt es einen eigens für Frauen konzeptionierten und exklusiv für Frauen zugelassenen Studiengang (vgl. Mischau 2004). An Universitäten wurden erste Professuren zur Geschlechterforschung in der Informatik eingerichtet (1998 an der Universität Bremen, 2004 an der Universität Hamburg), andere tragen diese Thematik als Teil ihrer Denomination (z.B. an der Universität Freiburg). Über den deutschsprachigen Raum hinaus bekannt sind insbesondere die internationalen Tagungen „Women, Work, and Computerization“ (seit 1985) und die „European Gender and ICT Symposia“ (seit 2003). Aufgrund dieses vielfältigen Engagements hat sich der Bereich Geschlecht und Informatik inzwischen ausdifferenziert und umfasst ein breites Themenspektrum (vgl. etwa Oechtering/Winker 1998, Kreutzner/Schelhowe 2003, Schmitz/Schinzel 2004, Zorn u.a. 2007). Die vorliegenden Ansätze werden in der feministischen Technikforschung zumeist entlang ihrer theoretischen Geschlechterkonzeption geordnet in a) liberalfeministische Ansätze, deren Intervention sich vornehmlich gegen die Unterrepräsentanz von Frauen richtet, b) standpunkttheoretische Ansätze, die das Weibliche der Technik gegenüberstellen oder – und dies kennzeichnet gerade technische Disziplinen – darauf zielen, Technologien von und für Frauen zu gestalten und c) konstruktivistische Ansätze, die das Geschlechter-Technik-Verhältnis als KoKonstruktion bzw. Ko-Produktion analytisch rekonstruieren (vgl. Gill/Grint 1995, Saupe 2002, Wajcman 2004, Maaß u.a. 2007, Wiesner-Steiner u.a. 2008). Es haben sich heute verschiedene Facetten konstruktivistischer Positionen ausdifferenziert, die oft mit dem Ziel stärkerer Partizipation von Frauen kombiniert werden und eine eindeutige Klassifizierung entlang von Kategorien schwer zulassen. Ein anderer Versuch, Gebiete der Geschlechterforschung zu kategorisieren, geht auf Evelyn Fox Keller (1994) zurück. In Anlehnung an ihre Dreiteilung women in science, science of gender und gender in science, die wir um Untersuchungen zu Entwicklungen rund um das Internet ergänzen, wollen wir das Feld anhand des Gegenstands der Untersuchung nach vier Forschungsperspektiven differenzieren: – Frauen in der Informatik – Vergeschlechtlichung des öffentlichen Bildes, der Fachkultur und Curricula der Informatik – Vergeschlechtlichung von Software und Informationstechnologien – Internet, Cyberfeminismus und feministische Technikforschung Dabei sind die analytischen Ansätze aus der Informatik häufig zugleich auf Gegenmaßnahmen und Alternativstrategien ausgerichtet, in denen sich die starke Problem- bzw. Lösungsorientierung der Disziplin widerspiegelt.
Frauen in der Informatik Die erste Dimension Frauen in der Informatik, die in der Öffentlichkeit die größte Aufmerksamkeit findet, bezieht sich auf den geringen Anteil von Frauen in sämtlichen Zweigen der Informatik, im schulischen Informatikunterricht, im Studium, in der Forschung und im Beruf. Zu den ersten Fragen, die in diesem Feld behandelt wurden, gehörte das Anliegen, auf die Leistungen von Frauen in der Informatik aufmerksam zu machen, die in der Geschichtsschreibung verkannt oder ignoriert wurden: angefangen mit Ada Lovelace im 19. Jahrhundert, deren Rolle zwischen der der „Übersetzerin“ und der der „Erfinderin der Software“ changiert (vgl. Hoffmann 1987) bis zu bedeutenden Frauen in der aktuellen Informatikforschung (vgl. Oechtering 2001) oder weiblichen Vorbildern an deutschen Universitäten (vgl. etwa Kompetenzzentrum 2007). Über diese Einzelbiografien hinausgehend werden vor allem empirische und statistische Daten von Schülerinnen, Studentinnen, Professorinnen und Berufstätigen erhoben. Im Jahr 2005 betrug beispielsweise der Studienanfängerinnenanteil 15%, 17,4% Frauen sind es insgesamt im Infor-
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matikstudium (vgl. Kompetenzzentrum 2006). Dieser geringe und aktuell sogar noch sinkende Frauenanteil unter den Studierenden ist und war immer wieder Anlass, nach den Gründen und nach Maßnahmen für eine Erhöhung zu fragen. Von sozialwissenschaftlicher Seite gilt das besondere Interesse am schwierigen Zugang von Frauen zur Informatik generell den biografischen Faktoren, Einstiegsbarrieren und Diskriminierungserfahrungen in den unterschiedlichen gesellschaftlichen (Sozialisations-)Instanzen Familie, Schule, Studium und Beruf. Zahlreiche empirische Studien in Deutschland belegen hier geschlechtsspezifische Unterschiede. Für den Zugang zum Studium geben Männer beispielsweise eher an, dass sie aufgrund ihres außerschulischen Umgangs mit Computern umfangreiche Vorerfahrungen haben und aus Interesse und Begabung Informatik studierten, während Frauen durch Elternhaus und Schule weniger unterstützt werden und selbst noch im Studium ein geringeres fachliches Selbstbewusstsein besitzen als ihre männlichen Mitstudierenden (vgl. etwa Schinzel u.a. 1998, 2000). Eine andere Studie verdeutlicht, dass Frauen primär über die Mathematik einen Zugang zur Informatik bekommen (vgl. Erb 1996). Auch in Bezug auf die berufliche Situation setzen sich geschlechtspezifische Muster fort, wie insbesondere Studien über strukturelle Bedingungen in der Softwarebranche zeigen (vgl. hierzu Henninger 2001, Ruiz Ben 2004). Darüber hinaus erklären klassische Gründe (wie Noten, Studiendauer, Auslandsaufenthalt) den beruflichen Erfolg von Männern, nicht aber den von Frauen (vgl. Haffner 2005, Haffner/Könekamp/Krais 2006). Das Phänomen, dass der Frauenanteil über die verschiedenen Stufen der Hochschulhierarchie abnimmt, ist nicht nur in der Informatik zu beobachten, sondern ist ein wesentliches Strukturelement in wissenschaftlichen Institutionen und Forschungseinrichtungen (vgl. u.a. Allmendinger/Fuchs/von Stebut 1998, Rossiter 1982, Wiesner 2002). Studien über die Berufsgeschichte und Vernetzungen von NaturwissenschaftlerInnen und TechnikerInnen erweitern den Blick und geben Einblick in die bedeutsame Rolle von Netzwerken für Frauen (Rossiter 1982, 1993; Allmendinger/Fuchs/von Stebut 1998). Auf der Grundlage solcher Untersuchungsergebnisse ist eine Vielzahl von Maßnahmen entstanden, mit denen das Interesse von Mädchen und Frauen am Computer und an der Informatik gefördert werden soll. Dazu gehören z.B. Frauencomputerschulen, Internetkurse für Frauen oder Mädchen und Schnupperstudien. Auf der Ebene solcher Initiativen und Maßnahmen scheinen sich durchaus Erfolge erzielen zu lassen. So gelang es der renommierten Carnegie Mellon Universität in den USA mit einem Bündel speziell an die Situation vor Ort angepasster Maßnahmen, den Frauenanteil in der Informatik innerhalb von sechs Jahren von 7% auf 42% zu erhöhen (vgl. Margolis/Fisher 2002). Dabei wurde allerdings deutlich, dass die Interventionen nicht ausschließlich auf die Frauen und ihre Motivation, sondern in besonderem Maße auch auf die Bedingungen (z.B. der Zulassung), die Fachkultur und das öffentliche Bild gerichtet werden müssen und bereits in der Schule beginnen sollten, um eine nachhaltige Veränderung zu erreichen.
Vergeschlechtlichung des öffentlichen Bildes, der Fachkultur und Curricula der Informatik Ansätze, die auf die Gleichstellung von Frauen in der Informatik zielen, problematisieren nicht nur den Zugang zur Technik, sondern das öffentliche Bild, die Fachkultur und das Selbstverständnis der Disziplin. Solche Studien hinterfragen die Korrelation von Informatik als Technischem und dem Ausschluss des Sozialen, d.h. eine Dichotomie, die in der westlichen Kultur zutiefst vergeschlechtlicht ist (vgl. Faulkner 2000, Bath 2005, 2006; Schelhowe 2005). So wurde etwa empirisch gezeigt, dass Informatik mit dem Erlernen von Programmierfertigkeiten gleichgesetzt und eine starke Begeisterung für den PC als Voraussetzung für das Studium angenommen wird (vgl. Maaß/Wiesner 2006). InformatikerInnen gelten als körperlich unattraktiv, sozial inkompetent und vorwiegend männlich, sie werden entsprechend ihrer medialen Inszenierung als
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Hacker imaginiert (vgl. Schinzel 1992, Klawe 2001). Ferner sei das Berufsbild davon geprägt, primär mit dem Gerät Computer zu arbeiten, statt mit Menschen zu interagieren (vgl. Rasmussen 1997). Solche Vorstellungen über die Informatik sind angesichts der tatsächlichen Anforderungen kaum berechtigt, klagen doch Wirtschaft und Industrie insbesondere die sozialen Kompetenzen bei InformatikerInnen ein (vgl. Funken 1998). Die genannten Zuschreibungen wirken jedoch mit an der Trennung von Technischem und Sozialem, die im Effekt Zugangsbarrieren für Frauen darstellen. Dass Frauen technische Kompetenz nicht in ihr Selbstkonzept integrieren, zeigte Erb (1996) anhand von Interviews mit promovierten Informatikerinnen. Selbst diejenigen, die im Bereich Betriebssysteme arbeiteten, sahen sich eher „am Rand“ und „nicht wirklich in“ einem technischen Bereich. Mystifizierungen des Technischen unter Ausgrenzung des als „sozial“ Definierten finden nicht nur auf der symbolischen Ebene statt, sondern manifestieren sich in den von Lehrenden geprägten Anerkennungsstrukturen und der gelebten Fachkultur (vgl. Håpnes/Rasmussen 1991), einer technischen Fachsprache, die als Ausschluss- und Machtfaktor genutzt wird, und in der auf das „Technische“ verengten Ausrichtung der Disziplin, die sich zugleich in ihren Curricula widerspiegelt (vgl. etwa Bath 2005, Maaß/Wiesner 2006). Bis in die 1990er Jahre hinein wurden vor diesem Hintergrund noch intensive Debatten um das disziplinäre Selbstverständnis der Informatik geführt (vgl. Coy u.a. 1992, Floyd/Züllighoven/Budde 1992), in der einzelne VertreterInnen eine sozial- und geisteswissenschaftliche Reflexion der Tätigkeiten und der produzierten Artefakte proklamierten. Darüber hinausgehend plädierten Forscherinnen auf Basis wissenschaftstheoretischer Analysen für einen „epistemologischen Pluralismus“ in der Informatik (vgl. etwa Turkle/Papert 1990, Wagner 1994, Björkman/Trojer 2006). Um die Informatik insbesondere für Frauen einladender zu gestalten, zielen einige Ansätze und Initiativen auf ein adäquateres Bild der Informatik (vgl. Maaß/Wiesner 2006), andere betonen die für eine informatische Tätigkeit erforderlichen kommunikativen Kompetenzen (vgl. Mahn 1997, Schinzel/Papart/Westermayer 1999: 74ff.) oder schlagen neue Lehrmethoden für die Programmierung bzw. allgemeiner eine geschlechtersensible Didaktik vor (vgl. Stein 1999, Weber-Wulff 2000, Curdes u.a. 2007, Wiesner-Steiner/Wiesner/Schelhowe 2006). Weiter wird dafür plädiert, Übungsaufgaben im Studium in den Zusammenhang gesellschaftlicher Problemlagen zu stellen sowie die Lehrpläne interdisziplinärer auszurichten und in Kontexte einzubinden (vgl. Wächter 2003). Insbesondere feministische Konstruktivistinnen üben jedoch auch Kritik an denjenigen Ansätzen, die unter dem Vorzeichen der Geschlechtergleichstellung auf die Integration eines weiblich konnotierten Sozialen, Kommunikativen etc. in die Informatik zielen, da diese die strukturell-symbolische Geschlechterordnung wieder herstellten. Ein Beispiel, wie die Informatik als eine spannende und nicht nur auf Bildschirm, Tastatur und Computer bezogene Disziplin gezeigt werden kann, ist das bundesweite, vom BMBF geförderte Projekt „Roberta – Mädchen erobern Roboter“ (wissenschaftlich begleitet durch die Universität Bremen, Digitale Medien in der Bildung/DiMeB und dem Institut der Didaktik der Naturwissenschaften/IDN). Roberta war mit der Zielsetzung angetreten, Begeisterung für Naturwissenschaft, Mathematik und Technik entwickeln zu helfen und bei Mädchen Neugier auf Technik zu fördern (vgl. Müllerburg/Petersen/Theidig 2004). In diesem Projekt wurden mit Hilfe der LegoMindstorms-Technologie, die speziell für Kinder und Jugendliche entwickelt worden ist, Roboter gebaut und programmiert. Die quantitativen Ergebnisse zeigten, dass sich nach den Kursen signifikant mehr Mädchen vorstellen können, „Computerexpertin zu werden, wenn sie es nur wollten“ (Hartmann/Schecker/Rethfeld 2005). Eine große Rolle für den Erfolg dieser Kurse spielte die spezifisch entwickelte gendersensitive Didaktik, die zur Veränderung von Selbstkonzept und Berufsorientierung einen Beitrag leistete (vgl. Hartmann/Schecker/Rethfeld 2005). In der qualitativen Begleitstudie wurde ferner herausgearbeitet, dass das verwendete LegoMindstorms-Material keineswegs „geschlechtsneutral“ ist, sondern dass es bewusst didaktischer Interventionen brauchte, um für beide Geschlechter eine angenehme Lernumgebung zu schaffen (vgl. Wiesner 2004a). Dies weist darauf hin, dass die Informatik mit ihren Konzepten und Anwendungen selbst zu einem „Doing Gender“ beiträgt.
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Vergeschlechtlichung von Software und Informationstechnologien Ein dritter Strang von Forschungen fokussiert stärker darauf, wie die in der Informatik produzierten Artefakte die Kategorie Geschlecht und deren dichotomen Charakter produzieren. Dazu erwies sich das Konzept des „Genderskripts“ (Rommes 2002, Oudshoorn 1996), das auf die impliziten und expliziten Bilder der TechnikgestalterInnen von den NutzerInnen (vgl. Akrich 1992) rekurriert, als produktiv. Genderskripte sind problematisch, weil sie Frauen und Männern verschiedene Kompetenzen und Verantwortlichkeiten zuschreiben, geschlechtsspezifische Arbeitsteilung verstärken, geschlechtsstereotypes Verhalten normalisieren oder Barrieren im Zugang zu Technologie herstellen. Andere Ansätze aus der Informatik ergänzten epistemologische und ontologische Dimensionen der Vergeschlechtlichung von Artefakten, die speziell aufgrund des hybriden Charakters von Informationstechnologien zwischen dem Symbolischen und dem Materialen (vgl. Siefkes u.a. 1998, Stach 2001) und wegen ihrer enormen Bedeutung bei der Wissensproduktion zu berücksichtigen seien (vgl. etwa Adam 2000, Bowker/Star 2000). Als einen Mechanismus des Gendering von Technologien identifizierte Rommes die „IMethodology“ (Rommes 2000), nach der TechnikgestalterInnen sich selbst unhinterfragt als NutzerInnen der Produkte imaginieren und dadurch ihre eigenen Selbstverständnisse, Werte, Vorlieben etc. in Technologie vergegenständlichen. So zeigte Anne-Jorunn Berg (1999), dass körperlich-materielle Hausarbeit, so wie sie traditionell von Frauen ausgeübt wurde, bereits in der Problemdefinition „intelligenter“ Häuser nicht repräsentiert war, weil die (ausschließlich männlichen) Entwickler von technikaffinen Kunden, d.h. letztendlich von sich selbst, als Käufer dieser Artefakte ausgegangen waren. Ähnliche Prozesse, die strukturelle Ausschlüsse von der Nutzung produzieren, ließen sich bei der technischen Gestaltung so genannter „digitaler Städte“ beobachten, obwohl diese explizit mit dem Ziel des „design for all“ angetreten waren (vgl. Rommes 2002, Oudshoorn/Rommes/Stienstra 2004). Artefakte werden auch dann vergeschlechtlicht, wenn diese explizit für weibliche NutzerInnengruppen entwickelt werden. So führte etwa das Bild technisch inkompetenter Sekretärinnen, wie Hofmann (1997, 1999) anhand historischer Studien nachwies, zu einem frühen Textverarbeitungsprogramm, das zwar jede denkbare Fehlbedienung verhinderte, aber den Schreibprozess extrem behinderte. Unreflektierte Annahmen über die Geschlechter verbergen sich auch in wissenschaftlichen Erkenntnissen, die einer Technologie eingeschrieben werden. Aktuelle Avatare und menschenähnliche Softwareagenten sind beispielsweise häufig nicht nur geschlechtsstereotyp verkörpert, sondern auch ihr „Verhalten“ folgt auf der Basis von Kognitionswissenschaften oder simplifizierter Empirie dichotomen Geschlechterschemata (vgl. Weber/Bath 2005, Lübke 2004, John 2006). Eine weitere Ebene der Vergeschlechtlichung von Artefakten besteht in Objektivitätsund Neutralitätsmythen, die eine Abwesenheit von Geschlechterverhältnissen suggerieren und damit von der (Geschlechter-) Politik des „Formalen im Gebrauch“ ablenken. Beispiele sind hier Klassifikationen (vgl. Bowker/Star 2000) oder die Repräsentation von Wissen im Wissensmanagement, die implizit ein männliches, weißes, gebildetes, europäisches Subjekt des Wissens voraussetzen (vgl. Adam 1998) – Erkenntnisse, die sich auf aktuelle Wikis, Ontologien und Suchmaschinen extrapolieren lassen. Die in der Softwareentwicklung vorherrschende Modellierungsmethode der Objektorientierung gilt als neutral, sie vermag jedoch diejenigen Bereiche, die traditionell dem Weiblichen zugeschrieben sind (wie beispielsweise das Körperliche, Soziale, Emotionale), nicht zu erfassen (vgl. Crutzen/Gerrissen 2000, Crutzen 2003). Generell merkte der feministische Technikdiskurs an, dass das jeweils als weiblich Konnotierte und Situierte nicht formalisierbar sei (vgl. Star 1991, Suchman 1987). Insbesondere in der Künstlichen Intelligenzforschung und Robotik lässt sich jedoch neuerdings der Trend beobachten, Körper, Soziales oder Emotionen als Daten zu redefinieren und dadurch der Berechnung zugänglich zu machen (vgl. Hayles 1999, Weber 2005). Diese Neuformulierungen des zuvor von der Formalisierung Ausge-
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schlossenen werfen jedoch altbekannte, von feministischer Theorie kritisierte Probleme auf, da sie auf geschlechtsbeladenen Mustern basieren wie beispielsweise der Cartesianischen SubjektObjekt-Relation (vgl. Suchman 2007, Bath 2008b). Den Einschreibungen geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung, sozialer Ausschlüsse bei der Nutzung sowie unreflektierter Annahmen über die Geschlechter in IT lässt sich teils dadurch begegnen, dass Methoden der Softwareentwicklung, z.B. Arbeitsanalysen, sozio-technische Systemgestaltung, Usability, Softwareergonomie, qualitative Anforderungsanalysen (vgl. Beyer/ Holtzblatt 1998, Winker 1995, Maaß 1993), geschlechterkritisch angewendet werden. Eine Methodik, ansonsten ausgeschlossene Perspektiven in die Technikgestaltung zu integrieren, besteht in der partizipativen Softwareentwicklung (vgl. Greenbaum/Kyng 1991, Schuler/Namioka 1993, Schelhowe 2001). Die Partizipation von NutzerInnen und speziell die Konstruktion von Technik von und für Frauen (vgl. Kreutzner/Schelhowe 2003) hat sich insbesondere beim Einsatz von IT an typischen Frauenarbeitsplätzen als erfolgreich erwiesen (vgl. Hammel 2003), etwa im Sekretariatsbereich (vgl. Vehviläinen 1991, Webster 1995, Winker 1995, Schelhowe/Büschenfeld/ Zorn 2005), in der Krankenpflege (vgl. Bjerkes/Bratteteig 1987, Wagner 1993) oder Bibliotheken (vgl. Green/Owen/Pain 1993). Interventionen, die auf ein De-Gendering der Artefakte zielen und an epistemologischen und ontologischen Ebenen der Vergeschlechtlichung, an sozialen oder technologischen Konzepten (wie dem Paradigma der Objektorientierung) ansetzen, sind jedoch noch zu entwickeln bzw. zu erproben (vgl. Draude 2006). Angesichts der Komplexität der Vergeschlechtlichungsprozesse wird deutlich, dass unter dem Paradigma des Gender Mainstreaming entstandene Gender-Leitfäden für InformatikerInnen (vgl. Bührer/Schraudner 2006) und für bestimmte Bereiche der Anwendungsentwicklung, z.B. zum eLearning (vgl. Wiesner u.a. 2004b) zwar den Diskurs einleiten können, aber nicht ausreichen, um ein „De-Gendering informatischer Artefakte“ zu erzielen (vgl. Bath 2007, 2008a).
Internet, Cyberfeminismus und feministische Technikforschung Die Debatte um Nutzung und Wirkung des Internets war in den Anfängen aus feministischer Perspektive äußerst umstritten, die Einschätzungen schwankten zwischen technikeuphorischen und (kultur-)pessimistischen Positionen (vgl. Bath/Kleinen 1997). Beklagten die einen zunächst die geringe Beteiligung von Frauen (vgl. Dickel 1997, Paulitz 1997, Winker 2005), so sahen die anderen im Netz ein emanzipatorisches Potenzial und setzten große Hoffnungen auf mögliche enthierarchisierende Wirkungen der computervermittelten Kommunikation. Häufig wurde dabei von der Annahme ausgegangen, dass der gelebte und der repräsentierte Körper auseinanderfielen und die textbasierte Onlineverständigung nicht notwendigerweise auf geschlechtlich markierte Körper verweise. Das neue Medium wurde als Befreiungstechnologie sowie als „Identitätswerkstatt“ (Bruckman 1992) gefeiert, in dem das Erproben neuer sozialer Rollen möglich geworden sei. Die technologisch gestützte Selbstgestaltung machte vor den ansonsten streng gehüteten Geschlechtergrenzen nicht halt, wie die Option des virtuellen Geschlechtertauschs bzw. Geschlechtsrollenwechsels belegt. Mit der Aussage, dass das reale Leben nur ein Fenster unter vielen sei (vgl. Turkle 1998), avancierte das Bildschirmfenster zur Metapher für die postmoderne Subjektkonstitution. Insgesamt wurde das Internet somit in den 1990er Jahren als ein idealer Raum beschworen, in dem überkommene Geschlechter- und Subjektkonzeptionen endgültig überwunden, Körper und Geschlechtlichkeit re-inszeniert werden könnten und das Doing Gender erprobbar werde (vgl. Bruckman 1993, Reid 1994, Stone 1995). Sämtliche dieser für neue Technologien typischen Hoffnungen und Befürchtungen haben sich seither jedoch als übertrieben bzw. falsch erwiesen – sei es am Beispiel textbasierter computervermittelter Kommunikation, verteilter Online-Spiele (so genannter MUDs) oder von Ava-
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taren. Sozialwissenschaftlichen Studien zufolge entsteht an der instabil gewordenen Grenze zwischen Mensch und Maschine eher ein Raum, in dem eindeutige Geschlechtszuordnungen relevanter sind denn je und eine Verfestigung traditioneller Muster stattfindet (vgl. etwa Funken 1999, 2000; Herring 2000, Eisenrieder 2003, Lübke 2005). Im Vergleich zu diesen empirischen Ansätzen griffen Cyberfeministinnen die frühen Verheißungen des Mediums Internet aus kulturwissenschaftlich-theoretischer Perspektive sowie von Seiten künstlerischer Praxis auf. Cyberfeministische Interventionen zielten darauf, die Verbindung von Technologien und Männlichkeit, die Frauen lange Zeit von Technik und ihrer kulturellen Produktion ferngehalten hatte, ebenso zu durchbrechen wie den Diskurs von Macht und Kontrolle, der die High-Tech-Kultur umgibt (vgl. VNS Matrix 1991). Der Cyberfeminismus grenzt sich dezidiert gegen den Essentialismus und die Technikfeindlichkeit des traditionellen Feminismus der 1970er Jahre ab (vgl. Wilding o.J.). Dabei sollte jedoch kein neuer „-ismus“ kreiert werden. Statt Identität(en) festzuschreiben sind Vielfalt, Uneindeutigkeit und Widersprüchlichkeit zugelassen. Umstritten diskutiert wurde insbesondere Plants (1998) Neuerzählung über die enge Verbindung zwischen Frauen und Technik. In Deutschland machten vor allem Mitglieder des „Old Boys Network“ mit systemimmanenten Störaktionen und symbolischen Umschreibungen auf sich aufmerksam (vgl. obn o.J., Sollfrank 1999, Reiche/Sick 2002). Mit dem Ziel der ironischen Redefinition des Geschlechter-Technik-Verhältnisses beruft sich der Cyberfeminismus wesentlich auf Donna Haraway (1995) und ihr „Cyborg“-Manifest. Dabei steht Cyborg für die Abkürzung „cybernetic organism“ (Haraway 1995: 33) und bezeichnet technologisch-organische Objekte, die im Rahmen der gesellschaftlich-technischen (Wissenschafts-) Verhältnisse hervorgebracht werden. Zugleich fungiert die Cyborg in den Schriften Haraways als oppositionelle feministische Erzählfigur, die direkt an den postmodernen Diskurs angeschlossen ist (vgl. Gransee 1998, Schelhowe 2002, Wiesner 2002). Mittlerweile sind die hitzigen Debatten zwar abgeklungen, doch kann konstatiert werden, dass die Entwicklungen um das Internet und cyberfeministische Interventionen dazu beigetragen haben, dass es heutzutage legitim erscheint, dass Frauen lustvoll mit Technik umgehen. Neuere Untersuchungen zu diesem Bereich liefern fundierte Erkenntnisse über die interpretative Herstellung des Internet, die Herausbildung virtueller Frauengemeinschaften und über die Frage, welche Funktionalitäten insbesondere feministische Netzwerke nutzen (vgl. Carstensen 2007, Carstensen/Winker 2005, Schachtner/Winker 2005). Andere Studien deuten die Internet- und Kommunikationstechnologien im Anschluss an Foucault als „Technologien des vernetzten Selbst“ und verstehen sie als Subjektivierungsformen im Rahmen soziotechnischer Machtverhältnisse (vgl. Paulitz 2005). Der Großteil aktueller Forschungen bleibt dabei weiterhin auf das Internet und die Nutzung von Technologien beschränkt, ohne „hinter den Bildschirm“ zu schauen oder gesellschaftspolitisch-feministisch Position zu beziehen. Sie rekurrieren damit implizit auf die frühen feministischen Technikkritiken, welche die Ignoranz von Nutzungsperspektiven in der Forschung beklagten, tendieren aber gleichzeitig dazu, die geschlechtliche Konnotation der Dichotomie von Nutzung und Gestaltung zu reproduzieren. Nur wenige erforschen bisher die Konzeption entstehender Technologien, beziehen sich auf Ansätze der internationalen Technikforschung (STS) oder nehmen den Aufruf Haraways ernst, in den Zentren der Technologieproduktion zu intervenieren. Auf analytischer Ebene bilden etwa die Studien zur Artificial-LifeForschung (vgl. Kember 2003), zu Softwareagenten in der Dienstleistungsökonomie und zu menschähnlichen Maschinen (vgl. Suchman 2007, Weber/Bath 2005) oder zur Ambient Intelligence (vgl. Crutzen 2005) hierzu Ausnahmen. Es fehlen noch fundierte feministische Analysen der Technologie der Suchmaschinen, des Web 2.0 bzw. von Social Software, des Semantic Web und vieler weiterer aktueller Informatikentwicklungen.
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Ausblick Im Bereich der Geschlechterforschung in der Informatik wurde in den letzten 15 Jahre einiges erreicht. Insgesamt bleiben jedoch viele Fragen offen oder bedürfen der weitergehenden Untersuchung, z.B. wie lässt sich die Vergeschlechtlichung der Informatik und ihrer Technologien theoretisch fundiert fassen? Wie können gesellschaftlich-kulturelle Effekte von Informationstechnologien im Kontext von Globalisierung und Wissensgesellschaft begriffen und untersucht werden? Auf welche Weise lässt sich IT-Forschung und -Entwicklung, die sich im Stadium der Entstehung befindet, adäquat auf Geschlechterdimensionen bezogen analysieren? Welche Methoden der Technikgestaltung erscheinen für ein De-Gendering informatischer Artefakte aussichtsreich? Hier ist in Zukunft ebenso umfangreiche Grundlagenforschung wie sorgfältige Analyse der sich ständig wandelnden Verhältnisse von Technik und Geschlecht zu leisten. Verweise: Mathematik Physik Technikwissenschaften
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Helene Götschel
Physik: Gender goes Physical – Geschlechterverhältnisse, Geschlechtervorstellungen und die Erscheinungen der unbelebten Natur
Die neuzeitliche Physik untersucht alle experimentell und messend erfahrbaren Vorgänge sowie mathematisch beschreibbaren Erscheinungen in der unbelebten und zunehmend auch belebten Natur, beispielsweise durch Mitgestaltung des Forschungsdesigns der Hirnforschung. Eine wesentliche Aufgabe von PhysikerInnen ist es, unter Rückgriff auf bestehende Wissenssysteme und eigene Erfahrungen sowie unter Zuhilfenahme von Kreativität und Intuition aus der Fülle der Naturerscheinungen und Phänomene geeignete messbare Größen auszuwählen und diese in mathematische Beziehungen zu setzen, also mit sogenannten Naturgesetzen „objektiv“ zu beschreiben. Die AkteurInnen dieses Forschungsfeldes bezeichne ich im Folgenden auch als Physiktreibende. Erst der transdisziplinäre Standpunktwechsel, d.h. eine die Disziplingrenzen überschreitende Herangehensweise an die Physik, und die Betrachtung der Entstehungszusammenhänge und Anwendungskontexte der Physik machen die Geschlechterperspektive sichtbar. Genderforschung in der Physik ist daher untrennbar verbunden mit einer Erweiterung des Wissenschaftsverständnisses der Physik. Das Forschungsfeld dieser transdisziplinären Herangehensweise an Physik bezeichne ich im Folgenden als Physikforschung. Der Wechsel des Blickwinkels zwischen Physiktreiben und Physikforschung lässt sich mit den Worten Potters skizzieren als: „The Intersection of Gender and Science. Now we see it. Now we don’t.“ (Potter 2001: 1)
Analyseebenen der Frauen- und Geschlechterforschung zur Physik Frauen- und Geschlechterforschung zu Naturwissenschaft und Technik wird seit den 1970er Jahren entwickelt (vgl. Götschel 2001a, 2001b; Keller 1995). Bereits in der ersten Hälfte der 1980er Jahre entstanden in der Bundesrepublik Deutschland wegweisende Arbeiten, in denen sich Physikerinnen speziell mit ihren Disziplinen auseinandersetzten (vgl. Rübsamen 1983, Scheich 1985). Inzwischen haben sich eine Reihe von WissenschaftlerInnen aus Physik, Philosophie, Soziologie, Wissenschaftsforschung, Geschichte, Literaturwissenschaft und weiteren Disziplinen aus einer Geschlechterperspektive mit den AkteurInnen und Organisationsstrukturen, den Wissensobjekten und Theorien, den Vermittlungen und Popularisierungen der physikalischen Wissenschaften beschäftigt. Sie überprüfen die in anderen Disziplinen und transdisziplinären Forschungsfeldern entwickelten Forschungsansätze, Methoden und Theorien auf ihre Anwendbarkeit für die Physikforschung. Eine Systematisierung der Frauen- und Geschlechterforschung zur Physik erfolgt daher sinnvoller Weise nach den jeweiligen Erkenntnisinteressen und untersuchten Gegenständen. In Auseinandersetzung mit der Systematik von Keller (1995) für die Naturwissenschaften und deren Weiterentwicklungen durch Heinsohn (1998) und Bauer (2006) schlage ich für die physikalischen Wissenschaften eine Systematik vor, die folgende drei Analyseebenen umfasst:
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– AkteurInnen und Organisationen der Physik – Geschlechteranalyse physikalischen Wissens – Geschlechtergerechte Physikproduktion und Physikvermittlung Diese drei Ebenen werde ich am Beispiel grundlegender Studien der Physikforschung näher erläutern. Ähnliche Systematiken entwickelten auch Rübsamen (1993, 1995) und Lucht (1997, 1999).
AkteurInnen und Organisationen der Physik Will man Physik und Geschlecht zueinander in Beziehung setzen, ist es naheliegend, sich mit dem Arbeitsalltag und den Arbeitsbedingungen der Physiker und wenigen Physikerinnen in Wissenschaft, Industrie und Bildungssystemen zu beschäftigen. Diese Untersuchungen wurden zum Teil angestoßen von Physikerinnen, die sich in den letzten Jahren auf nationaler Ebene im Arbeitskreis Chancengleichheit in der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG) und international als Working Group on Women in Physics in der International Union of Pure and Applied Physics (IUPAP) zusammenschlossen und sich für eine zeitgemäße Physik in ihren gesellschaftlichen und kulturellen Bezügen engagieren (vgl. Bargstädt-Franke 2002, Zilles 1999). Historische und soziologische Studien erforschen die Situation von Frauen (und Männern) in der Physik. Statistiken zeigen auf, dass die Frauenanteile in Industrie, universitären und außeruniversitären Forschungseinrichtungen sowie in den unterschiedlichen Teilgebieten der Physik variieren (vgl. Bessenrodt-Weberpals 2003, Könekamp u.a. 2002). Internationale Vergleiche machen deutlich, dass der geringe Frauenanteil in westlichen Industrienationen nicht als natürlich angesehen werden darf. 1990 z.B. variierte die Zahl der Hochschuldozentinnen in Physik weltweit von weniger als 5% bis über 30%. Während etwa in Japan, Kanada, Norwegen und der alten Bundesrepublik kaum Frauen als Physikprofessorinnen tätig waren, betrug der Frauenanteil an Hochschullehrern der Physik in Portugal, Ungarn, auf den Philippinen und in der früheren Sowjetunion rund ein Drittel oder mehr (vgl. Megaw 1992). Über Physikerinnen wird in Geschichte und Biografieforschung gearbeitet. Über die erste Professorin Europas, die Physikerin Laura Bassi (Ceranski 1996), über die erste Physikerin Preußens, Elsa Neumann (Vogt/Pussert 1999) und über die drei vor 1945 in Deutschland habilitierten Physikerinnen Lise Meitner (Sime 2001), Hertha Sponer (Tobies 1996, Maushart 1997) und Hedwig Kohn (Winnewisser 1999, 2003) liegen interessante Arbeiten vor. Doch nicht nur Einzelbiografien wurden angefertigt. Geforscht wurde auch zu historischen Paaren in der Physik wie etwa Albert Einstein und Mileva Mari (Pycior/Slack/Abir-Am 1996), zur Berufsgruppe der Physikerinnen (Rossiter 1982, 1995, Sandner 1999), zu einzelnen Forschungsinstituten wie dem Wiener Institut für Radiumforschung (Bischof 2003) und zu persönlichen und politischen Netzwerken von Physikerinnen (Götschel 2001a, 2003b; Scheich 1997). Interviews, qualitative sozialwissenschaftliche und biografische Studien geben Einblicke in die Faszination des Physiktreibens, aber auch in die diskriminierenden Strukturen, denen Physikerinnen während ihrer Ausbildungszeit oder im Berufsalltag ausgesetzt sind (vgl. Bessenrodt-Weberpals 2003, Keller 2001, Könekamp et al. 2002, Lucht 2004, Traweek 1988), oft zugleich wie bei Rosalind Franklin verbunden mit antisemitischen (Wiesner 2002: 125-181) oder wie bei Evelynn Hammonds mit rassistischen Vorurteilen (Sands 2001).
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Geschlechteranalyse physikalischen Wissens Auf den ersten Blick gibt es zwischen physikalischem Wissen und Geschlecht keine Schnittmenge (vgl. Potter 2001, Rübsamen 1993). Den Untersuchungsobjekten der Physik kann ebenso wenig wie ihren mathematischen Formeln und Gesetzen ein Geschlecht zugeordnet werden. Zwar wird von den Physiktreibenden zugestanden, dass sich in der Sprache und in der Theorieentwicklung soziokulturelle Einflüsse zeigen können, z.B. wenn ein Planet mit ‚Venus’ bezeichnet wird oder im Magnetismus ‚jungfräuliche’ Zustände der Materie beschrieben werden. Jedoch werden diese Begriffe in der physikalischen Logik lediglich als inspirierende Gedankenanstöße oder bedeutungslose Namen physikalischer Fakten angesehen und nicht zu den zentralen Kernaussagen ihrer Disziplin gezählt. Der transdiziplinäre Blickwinkel macht jedoch sichtbar, dass physikalisches Wissen Aussagen über Geschlechter trifft, gesellschaftliche Vorstellungen von Geschlecht in die mathematisch-physikalische Beschreibung der Welt einfließen und erkenntnistheoretische Reflexionen über Physik Genderbezüge besitzen. Physik trifft Aussagen über Männer und Frauen, über Männlichkeit und Weiblichkeit. Zum Beispiel wurde um 1900 aus thermodynamischen Gesetzen abgeleitet, dass Frauen nicht in akademischen Berufen tätig sein könnten (Heinsohn 2000, 2005), und die Präsentation der Physikgeschichte als männliche Genealogie, Lehrer-Schüler-Beziehung bzw. als religiöser Männerbund macht deutlich, welches Geschlecht das kulturelle Erbe antreten darf (vgl. Erlemann 2004, Lucht 2001, 2004; Wertheim 1998). Sehr deutlich werden diese Zuschreibungen in populärwissenschaftlichen Darstellungen der Physik, etwa wenn das Proton „Protoni“ als „poor lonesome cowboy“ dargestellt wird (Gisler 2001). Da Physik von Menschen gemacht wird, ist es letztlich nicht verwunderlich, wenn gesellschaftliche Geschlechterverhältnisse in physikalisches Wissen eingeschrieben werden. So spiegeln sich die Missachtung der weiblichen Reproduktionsarbeit in den Theorien der frühneuzeitlichen mechanischen Bewegungslehre (Scheich 1985, 1993), englische Klassen- und Geschlechtervorstellungen des 17. Jahrhunderts im Boyleschen Gasgesetz (Potter 2001), Vorstellungen von Heteronormativität und patriarchaler Kernfamilie im Standardmodell der Elementarteilchen (Götschel 2006) und patriarchale Hierarchievorstellungen im Wissenschafts- und Theorieverständnis der theoretischen Elementarteilchenphysik (Rübsamen 1983, Whitten 1996). Auch erkenntnistheoretische Reflexionen, z.B. über die Eigenschaften experimentell hergestellter Natur (Götschel/Strowick 2002) können aus einer Geschlechterperspektive in den Blick genommen werden. Hervorzuheben sind hier für die Physik insbesondere die theoretischen Arbeiten von Karen Barad (1998, 1999, 2001, 2005, 2007). Barad, promovierte theoretische Physikerin und Professorin für Feministische Studien an der University of California, Santa Cruz, untersucht, u.a. am Beispiel piezoelektrischer Vorgänge in Ultraschallmessgeräten bei der Untersuchung von Föten, „how matter comes to matter“ (Barad 2001). Ihr Anliegen ist es, eine feministische Theorie des „agential realism“ zu entwickeln, die die Trennung in Erkenntnis/Subjekt/ Kultur (Epistemologie) und Sein/Objekt/Materie (Ontologie) und zu einer „epistem-onto-logy“ hin überwindet. Ihre komplexe Theorie, die sich stark an Butlers Vorstellungen von Materialität und Performativität sowie an US-amerikanische philosophische Diskurse anlehnt, soll im Folgenden kurz skizziert werden. Barads Meinung nach beschäftigen sich postmoderne feministische Theorien zu einseitig mit den kulturellen Repräsentationen der Dinge und zu wenig mit den Dingen selbst. Als Physikerin kann sie nicht an der sprachtheoretischen Vorstellung anknüpfen, dass Worte physikalische Körper hervorbringen, denn nicht jedes postulierte Ereignis kann im physikalischen Experiment verwirklicht werden. Physikalische Körper können aber im Sinne Haraways (1995) als widerständig und aktiv handelnde Körper aufgefasst werden, mit denen Menschen eine Interaktion eingehen können. Barad greift den Gedanken auf und spricht von Intra-Aktionen, um deutlich zu machen, dass Forschungssubjekt und Forschungsobjekt in diesem Prozess entstehen. Dabei knüpft sie an die physikalisch-philosophischen Interpretation der Quantenmechanik durch Bohr (1931, 1985) an. In der sogenannten Kopenhagener Deutung kann
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das im Vergleich zur Makrophysik ungewöhnliche Verhalten kleinster Teilchen damit erklärt werden, dass die beobachteten Eigenschaften erst im Prozess der Beobachtung entstehen. Barad sieht hier Parallelen zum performativen Verständnis diskursiver Praxis postmoderner feministischer Theorien. Physikalische Messinstrumente bringen, ähnlich wie diskursive Praxen, Materialität hervor. Diese Intra-Aktion mit den Dingen muss nach Ansicht Barads ebenso in der feministischen Theorie berücksichtigt werden wie die Hervorbringung von Materialität durch Diskurse und Performativität (Barad 2007).
Geschlechtergerechte Physikproduktion und Physikvermittlung Viele feministische ForscherInnen zweifeln, ob es möglich ist, eine andere Physik zu entwickeln (vgl. Keller 1987, Harding 1994: 92-118, Schiebinger 2000: 213-239). Denn aus der Analyse des physikalischen Wissens ergeben sich noch keine Anhaltspunkte für seine Veränderung. Besonders Physiker fragen daher oft polemisch, „ob der Stein bei Frauen anders fällt?“ Aber ForscherInnen können, unabhängig von ihrem Geschlecht, Physik nicht außerhalb ihres sozialen und kulturellen Kontextes entwickeln (vgl. Bug 2000, Rübsamen 1991, Whitten 1996). Die Erhöhung des Frauenanteils in der Physik, z.B. durch die Veränderung der oft als abschreckend erlebten Fachkultur (vgl. Erlemann 2004, Lucht 2004, Münst 2002, Seymour/Hewitt 1997: 88-183), ist im Sinne von Diversity eine notwendige, jedoch nicht hinreichende Bedingung für eine geschlechtergerechte Physikproduktion. In der Literatur werden besonders zwei Strategien als hoffnungsvoll diskutiert: Genderaspekte in die Forschung über Physik, etwa in die Physikgeschichte oder Physikdidaktik, zu integrieren und damit längerfristig auf die Physik selbst wirken zu können (Rübsamen 1991) oder mit transdisziplinären Forschungsfragen bzw. Forschungsteams Physik- und Genderkompetenzen zu bündeln (Schiebinger 2000: 241-259, Whitten 1996). Aufgabe dieser Teams könnte es sein, Physik im Prozess des Entstehens unter Genderaspekten kritisch zu begleiten, etwa im Hinblick auf die ausgewählten Forschungsfragen oder die sprachliche Beschreibung der Forschungsergebnisse, denn „Women’s studies and feminist theory have insights to offer physics – if physicists would only permit it!“ (Bug 2003: 893). Bei der Vermittlung physikalischen Wissens hat ein erstes Umdenken stattgefunden und es wurden für Schulen und Hochschulen curriculare und fachdidaktische Ansätze entwickelt, die alle Lerntypen und alle Geschlechter einbeziehen wollen. Geschlechtergerechter Physikunterricht in der Schule wird sowohl in der erziehungswissenschaftlichen Forschung (z.B. Häußler/ Hoffmann 1999, Hoffmann 1990, Hoffmann/Häußler/Peters-Haft 1997, Kessels 2002, Stadler 2005) als auch aus der Praxiserfahrung der Physiklehrenden heraus entwickelt (Cavicchi/ Hughes-McDonnel/Lucht 2001, Frank 2003, Lucht/Rübsamen 1990, Sandner/Walz 2004). Zentrale Forderungen nach geschlechtergerechtem Physikunterricht umfassen u.a. stärker an den Interessen von Mädchen orientierte Lehrinhalte und Arbeitsformen. Die Gefahr einer Reifizierung traditioneller Geschlechterrollen muss dabei selbstverständlich reflektiert werden (McCullough 2004). Eine Steigerung der Attraktivität der Physik durch neue Lehr-Lern-Formen und innovative Studieninhalte ist auch an den Hochschulen möglich (vgl. Bessenrodt-Weberpals 2005, 2006, 2007; Götschel 2009, Münst 2002, 2009, Whitten/Burciaga 2000). An der University of California, Los Angeles z.B. konzipierte Byers eine „Einführung in die Kernphysik durch Biografien von Physikerinnen“ (Byers 2006, Wertheim 1998: 332). Barad erweiterte ihre „Einführung in die Quantenmechanik“ an den Claremont Colleges (Kalifornien) um feministische und philosophische Fragestellungen zur Quantenrealität (Barad 1995). Beispiele für transdisziplinäre Kurse für Studierende der Physik, der Gender Studies und der Science Studies bzw. Erziehungswissenschaft sind „Situated Knowledges: Cultural Studies of 20th Century Physics“ von Barad (Barad 2000, Musil 2001) an den Claremont Colleges sowie Lehrveranstaltungen aus dem Modul
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„Gender Studies und Naturwissenschaften“ von Bauer, Götschel und Heinsohn an der Universität Hamburg (Bauer/Götschel 2006, Götschel 2003a, Heinsohn 2003).
Gender goes Physical – aktuelle Entwicklungen und offene Forschungsfragen Auf der Ebene der AkteurInnen und Organisationen der Physik sind in den letzten Jahren international zahlreiche Arbeiten angefertigt worden. Literatur, die nicht in Deutsch oder Englisch verfasst ist, wie etwa die auf Ukrainisch und Russisch erschienene Biografie über die kosmopolitische Physikerin Tatiana Afanaseva-Ehrenfest (Litvinko 2002, 2003), ist jedoch in Deutschland wenig bekannt. Dabei beschränken sich die Arbeiten auf dieser Ebene zumeist auf Frauenforschung zu Physikerinnen. Männerforschung zu Physikern, etwa eine kritische Betrachtung der Physikidole Feynman und Newton (Barad 1995, Fara 2002), gibt es dagegen kaum. Die geschlechtergerechte Physikvermittlung wird in der Physikdidaktik thematisiert, oft in Verbindung mit Fragen zu technischer oder beruflicher Bildung. Auf den Ebenen des physikalischen Wissens und der Wissensproduktion forschen hingegen weltweit nur wenige Personen im Umfeld der Women’s Studies, Gender Studies, Wissenschaftsforschung, Physikgeschichte, Philosophie, Physikdidaktik, Psychologie und Physik selbst. Die systematische Analyse der verwendeten Theorien und Methodologien (Scheich 2004) sowie die Einbeziehung physikalischer Denkansätze in die Entwicklung neuer Konzepte stehen dabei noch ganz am Anfang (Barad 2001, 2005, 2007). Viele mögliche Fragestellungen sind von der Physikforschung noch nicht bearbeitet worden, z.B. ist zu wenig verstanden, unter welchen Bedingungen und in welchen Kontexten innovative Gedanken entwickelt und ins physikalische Wissenschaftssystem integriert werden konnten und welche Rolle dabei kulturelle Kontexte und ihre Geschlechterordnungen spielen. Warum etwa wurde das die Fachwelt schockierende Konzept der Paritätsverletzung, d.h. die Vorstellung, dass sich physikalische Prozesse in Atomkernen auch asymmetrisch abspielen können, von Lee, Yang und Wu (Cooperman 2004, Wertheim 1998: 304-307), also von drei PhysikerInnen chinesischer Abstammung postuliert bzw. experimentell bestätigt? Ebenfalls müssten, gerade im Vergleich mit internationalen Standards, in der deutschsprachigen Physikforschung Genderanalysen noch stärker mit anderen Kategorien sozialer Ungleichheit verknüpft werden. Zugleich sollten sich Physiktreibende mit ihren Kompetenzen in physikalischem Wissen und ihren Erfahrungen aus der physikalischen Praxis aktiver in die transdiziplinären Debatten zur Physikforschung einbringen. Verweise: Chemie Feministische Wissenschaftskritik und Epistemologie Wissenschafts- und Technikforschung
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Kerstin Palm
Biologie: Geschlechterforschung zwischen Reflexion und Intervention
Mit der Entstehung der Biologie als eigenständiger Wissenschaft vom Leben im 18. Jahrhundert im Zuge tiefgreifender konzeptioneller Umgestaltungen der Naturwissenschaften war zugleich ihr Anspruch formuliert, exaktes empirisches Tatsachenwissen über geschlechtliche Körper und sexuelle Vorgänge bereitzustellen und neben der Medizin als die zentrale Definitionsmacht für sex im Sinne einer biologischen Geschlechtlichkeit aufzutreten. Die auf Biologie bezogene Geschlechterforschung nimmt zwei Perspektiven ein: Auf der biologieimmanenten Ebene wird die biologische Praxis und Theoriebildung daraufhin überprüft, ob durch einen androzentrischen Bias wissenschaftliche Standards derart verletzt werden, dass nach einer sorgfältigen Revision des bisherigen Kenntnisstandes eine Neuformulierung von biologischen Hypothesen und Theorien oder auch ganz neue Forschungsarbeiten nötig werden. Auf der Ebene der in den Sozial- oder Kulturwissenschaften durchgeführten Wissenschaftsforschung wird die biologische Theoriebildung und Praxis einer epistemologischen und historischen Analyse unterzogen, um die bedeutungszuweisenden Prozesse bei der Entstehung von Körpertheorien in ihrem Zusammenhang mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen kenntlich zu machen. Zwischen beiden Ebenen stößt eine Verständigung, eine Vermittlung oder gar ein konstruktiver Dialog aufgrund der unterschiedlichen fachlichen Zugänge und insbesondere auch der divergierenden Wissenschaftsverständnisse nach wie vor auf große Schwierigkeiten. Denn der in der Genderforschung geläufige dekonstruktivistische Zugriff, der auf die kulturelle und soziale Verfertigung auch naturwissenschaftlicher Gegenstände verweist, erscheint zwar zunächst als der konsequentere Ansatz, da er die ontologische Basis biologischer Erkenntnisse und damit das Fundament ihrer Wirkmächtigkeit in Frage stellt. Zugleich verbleibt er aber auf einer metatheoretischen Reflexionsebene, deren epistemologische Prämissen und damit auch Ergebnisse in der Biologie häufig unverständlich bleiben und vor allem wenig konkrete Handlungsperspektiven eröffnen. Die in der Biologie selbst agierende Geschlechterforschung hingegen – die kritische Sexforschung (vgl. Palm 2004, 2006) – erscheint aufgrund ihrer weitgehend affirmativen Haltung gegenüber dem empirischen Realismus und der Verpflichtung auf die naturwissenschaftlichen Standards in Experiment und Theoriebildung zunächst weniger tiefgreifend, ist aber in der Lage, die Prämissen, Methoden und die Theoriebildung der Biologie umfassend zu verändern und wirkungsvoll eine nichtsexistische biologische Praxis vorzuschlagen oder auch selbst umzusetzen. Wie sich eine sozial- und kulturwissenschaftliche Reflexion, d.h. eine elaborierte theoretische Metaebene, mit einer biologischen Intervention, d.h. einer handlungsorientierten empirischen Forschung, ertragreich verbinden könnte, ist bis heute eine noch weitgehend ungelöste Frage.
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Im Bauch des Monsters – die emanzipative Kraft von ‚good science’ Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre riefen drei Biologinnen des Radcliffe College in zwei Sammelbänden mit den programmatischen Titeln „Women look at Biology looking at Women“ (Hubbard u.a. 1979) und „Biological Woman – the Convenient Myth“ (Hubbart u.a. 1982) eine biologieimmanente Forschungsperspektive aus, die die Biologin und Wissenschaftshistorikerin Donna Haraway als Arbeit „inside the belly of the monster“ beschreibt (vgl. Penley/Ross 1991) und der sich seither viele weitere Studien angeschlossen haben (vgl. z.B. Spanier 1995, FaustoSterling 1985, 2000; Rosser 1992, Birke 1986, 1999; Bleier 1984, 1986; Hubbard 1990, Weasel 2004, Schmitz/Schinzel 2002, Schmitz 2003, Tuana 1989, Gowaty 1997, Vandermassen 2005, vgl. außerdem die Zeitschriftensonderbände: z.B. Hypatia 1987, 2004; Signs 2003; Women’s Studies International Forum 1989). Die Neurobiologin Ruth Bleier (1984) stellte als eine der Hauptvertreterinnen der ersten Generation feministischer Biologinnen fest, dass die Biologie schon immer in den Dienst der Ausarbeitung eines Mythos weiblicher Inferiorität und männlicher Superiorität gestellt wurde und damit eine naturalisierende Erklärung für die untergeordnete gesellschaftliche Position von Frauen in der westlichen Zivilisation lieferte. Deshalb sei es an der Zeit, die ideologischen Fundamente bedeutender biologischer Theorien zu untersuchen, die vorgäben, natürliche Geschlechterdifferenzen wissenschaftlich nachgewiesen zu haben, und der Illusion einer wertfreien und objektiven Wissenschaft eine Absage zu erteilen. Geschlechterideologien würden auf verschiedenen Ebenen des naturwissenschaftlichen Forschungsprozesses eingearbeitet: z.B. durch eine inadäquate Gegenstandswahl oder einseitige Formulierung des Erkenntnisinteresses, eine ungenaue oder sogar schlampige Datenerhebung und -aufbereitung und schließlich unangemessene bzw. unbegründete Schlussfolgerungen und Hypothesenbildungen. Diese Sichtweise repräsentiert wesentliche Züge des von Sandra Harding (1986) treffend als ‚feminist empirism‘ bezeichneten Ansatzes, dem sich die meisten kritischen BiologInnen zugehörig fühlen. Die VertreterInnen dieser Forschungsperspektive beschäftigen sich zum einen mit der kritischen Sichtung biologischer Begriffe, die auf ihre wissenschaftliche Präzision und Geschlechterneutralität hin überprüft werden. Darüber hinaus zeigen sie bestimmte auf die Geschlechterordnung verweisende Konzepte und strukturierende Paradigmen auf, die stereotyp allen erdenklichen biologischen Phänomenen aufgeprägt werden und damit biologische Sachverhalte tendenziös darstellen, z.B. bipolare Oppositionen, hierarchische Prinzipien oder Aktiv-Passiv-Schemata. Einen zentralen Kritikpunkt des feministischen Empirismus stellt schließlich der biologische Determinismus dar. Indem er alle körperlichen Phänomene auf biologisch festgelegte Ursachen zurückführe, ignoriere er die dynamischen Wechselbeziehungen zwischen Körpern und ihrer sozialen bzw. materiellen Umwelt. Auf diese Weise würden die komplexen Kausalzusammenhänge und auch die Plastizität und Entwicklungsoffenheit vieler physiologischer und entwicklungsbiologischer Prozesse reduktionistisch verfehlt. Ziel der feministischen Kritik innerhalb der Biologie ist letztlich eine genauere und ideologiefreiere Beschreibung von Natur, indem wissenschaftliche Standards strenger befolgt und die eigenen Vorannahmen einer kritischen Selbstreflexion unterzogen werden, d.h. durch eine Praxis von ‚good science‘. Kritische BiologInnen weisen darauf hin, dass nur eine solche Perspektive eine gleichermaßen wissenschaftlich seriöse wie politisch emanzipative Wissenschaft garantiert. Dabei ist die standpunkttheoretische These verbreitet, dass insbesondere Frauen aufgrund ihres Status als Außenseiterinnen mit spezifischen Diskriminierungserfahrungen häufig eine besonders kritische Perspektive einnehmen. Es lassen sich vereinfacht zwei wesentliche Positionen in diesem Forschungsfeld unterscheiden. Die liberale Position fordert eine geschlechterneutrale Biologie ein und geht davon aus, dass eine wertfreie Erkenntnis möglich ist auf der Grundlage einer Distanzierung vom Forschungsobjekt und präzise angewandter empirischer Methoden, die einem strengen intersubjek-
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tiven Prüfverfahren ausgesetzt wird (z.B. Gowaty, Vandermassen). Die einer materialistischen Gesellschaftskritik nahe stehende Position hält hingegen jegliche wissenschaftliche Forschung für interessen- und wertegeleitet und fordert neben größerer methodischer Sorgfalt eine aktiv an emanzipativen Werten ausgerichtete ‚Science for the people‘ ein. Eine Ausblendung der immer vorhandenen dynamischen und komplexen Wechselwirkungen zwischen Forschungssubjekt und Forschungsobjekt und auch zwischen Natur und Kultur führten nämlich zu reduktionistischen und letztlich falschen Annahmen über Natur, die ideologisch ausgerichtet seien und gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse legitimierten (z.B. Bleier, Fausto-Sterling, Spanier). Brenn- und Streitpunkte der kritischen biologischen Forschung konzentrierten sich zunächst auf solche fachlichen Bereiche, die für die gesellschaftliche Rollenzuweisung der Geschlechter entscheidend sind: Verhaltensforschung/Soziobiologie, Evolutionsbiologie, Gehirnforschung, Endokrinologie (Hormonbiologie) und Entwicklungsbiologie. Bald erweiterte sich das Spektrum und umfasste auch Bereiche wie Zellbiologie und Molekularbiologie, in denen geschlechtliche Zuschreibungen und ideologische Interessen zunächst nicht so offensichtlich erschienen. Eine zentrale kontroverse Debatte ist dabei bis heute, ob die Evolutionstheorie als Lehre von der Entstehung der Arten und ihrer Merkmale geeignet sind, Ungleichheitsverhältnisse aufzuklären und Argumente zu ihrer Beseitigung zu liefern oder insbesondere die Soziobiologie als Evolutionsbiologie des sozialen Verhaltens inhärent misogyn, rassistisch und Teil einer ideologischen Selbstaffirmation der vorherrschenden sozialen und ökonomischen Ordnung ist. Während diejenigen, die die Soziobiologie als reaktionäre Ideologieproduktion verwerfen und für nicht reformierbar halten, vor allem einen inhärenten Determinismus und massive Untersuchungs- und Argumentationsfehler konstatieren (z.B. Hubbard 1989, Bleier 1984, Fausto-Sterling 1985, Rosser 1992), argumentieren die feministischen SoziobiologInnen dagegen, dass mit einer nicht androzentrisch ausgerichteten Aufklärung über die natürlichen Grundlagen des Menschen und der Geschlechterdifferenz Ansatzpunkte für emanzipatorische Veränderungen lieferbar wären (z.B. Hrdy 1981, Gowaty 1997, Vandermassen 2005). Evolutionsbiologische und soziobiologische Studien seien dabei nicht per se deterministisch, sondern könnten auch umweltkontextualisierend vorgehen, wie es ihre eigenen Studien vorführten (vgl. für alternative differenz- bzw. egalitätstheoretische Menschwerdungsgeschichten auch Tanner/Zihlmann 1976, Zihlman 1978, Dahlberg 1981, Fedigan 1982). Relativ unstrittige Beispiele dafür, wie biologische Inhalte auf problematische Weise vergeschlechtlicht werden, bietet die Hormonforschung, wie z.B. die Molekularbiologin Bonnie Spanier (1995) feststellt. Dies beginnt schon bei der Bezeichnung Sexualhormone und deren Aufspaltung in weibliche und männliche Hormone (Östrogene und Androgene). Dadurch wird verdeckt, dass beide Hormongruppen in beiden Geschlechtern aufzufinden und ineinander umwandelbar sind und viele weitere Funktionen jenseits von Sexualität und Reproduktion ausüben. Durch die inkorrekte Terminologie entstehe der falsche Eindruck einer scharf geschiedenen molekularbiologisch fundierten Geschlechterdifferenz, an der sich zugleich zahlreiche fragwürdige medizinische Therapien und kritikwürdige Untersuchungen über mögliche biologische Grundlagen der Homosexualität orientierten (vgl. auch Birke 1982). Gegenstand weiterer kritischer Untersuchungen in diesem Bereich war auch die These, die Sexualhormone führten zu charakteristischen männlichen bzw. weiblichen Verhaltensweisen. Fausto-Sterling (1985) zeigt am Beispiel männliche Aggression ausführlich, dass alle bisherigen Untersuchungen aufgrund deterministischer Prämissen oder Tier-Mensch-Parallelisierungen widersprüchlich oder nicht stichhaltig sind (in ähnlicher Weise und mit vielen weiteren Beispielen vgl. Bleier 1984). Fausto-Sterling, Spanier und viele andere AutorInnen rückten des Weiteren auch geschlechtsspezifische Konnotationen von Aktivität und Passivität in den Blick. Sie unterzogen z.B. die verbreitete Ansicht von der Geschlechtsdetermination als Vorgang, der bei Anwesenheit eines Y-Chromosoms aktiv einen männlichen, bei dessen Mangel automatisch einen weiblichen Organismus hervorbringt, einer differenzierten methodischen Kritik und wiesen dabei zugleich auf die Hartnäkkigkeit aristotelischer Geschlechterstereotype hin.
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In der Neurobiologie widmete sich Susan Leigh Star schon 1979 der Lokalisation kognitiver Fähigkeiten im Gehirn und ihrer Vergeschlechtlichung. Seither sind viele Untersuchungen erschienen, die ähnliche Schwerpunkte wählen (vor allem Bleier in zahlreichen Publikationen, z.B. 1984, 1988, aber auch Fausto-Sterling 1985, 2000) oder sich z.B. auf androzentrische Einschreibungen durch neue bildgebende Verfahren in der Gehirnforschung konzentrieren (vgl. Schmitz/ Schinzel 2002, Schmitz 2003). Dass sogar die Beschreibungen einzelner Zellen und deren Komponenten durch Geschlechterstereotype strukturiert sein können, zeigten weitere Studien auf (The Biology and Gender Study Group 1989, Spanier 1995, Martin 1991, Rosser 1992). So wird beschrieben, wie der Befruchtungsvorgang noch in den 1970er Jahren strukturell als dramatische Sperm saga und Dornröschennarrativ inszeniert wurde, bei dem ein heroisches Spermium sich durch die feindliche Umgebung des Uterus kämpft, dabei in einem mörderischen Wettlauf zahlreiche Konkurrenten hinter sich lässt und schließlich die schlafende Schönheit wachküsst (penetriert), um eine neue Generation ins Leben zu rufen. Seit den 1980er Jahren verschieben sich dann die Szenarios langsam: Es häufen sich Beschreibungen, in denen ein Spermium seine Befruchtungsfähigkeit und zielgerichtete Beweglichkeit erst durch Prozesse im weiblichen Genitaltrakt erlangt und Eier und Spermium zunehmend als gleichermaßen aktiv und als wechselseitig aufeinander bezogene Agierende erscheinen. Weitere Beispiele aus dem Bereich der Zell-, Mikro- und Molekularbiologie, z.B. auch bezüglich Sexualisierungen von Bakterienzellen, beschreibt z.B. Spanier (1995), eine feministische Untersuchung verschiedener physiologischer Vorgänge liefert Birke (1999). Während die beschriebene biologieimmanente feministische Perspektive auf eine angemessene Beschreibung der materiellen Welt selbst, auf Neudefinitionen von sex zielt und dabei ihre theoretischen und methodischen Interventionen auf der Ebene der naturwissenschaftlichen Kausalanalyse platziert, operiert die im Folgenden vorgestellte Perspektive mit sozial- und kulturwissenschaftlichen Mitteln, um das Wissen von der materiellen Welt in seinem epistemologischen Status machtkritisch zu reflektieren und dabei Mechanismen genderstrukturierter Bedeutungszuweisungen zu erkunden.
Geschichte(n) und Diskurse – Biologie als Macht-Wissenskomplex Die sozial- und kulturwissenschaftliche Genderforschung über Biologie ist Teil einer heterogenen Debatte über die sozialen und kulturellen Implikationen der Naturwissenschaften, die sich in dem neuen metatheoretischen Forschungsfeld der Wissenschaftsforschung etabliert hat. Historische, sprachanalytische sowie diskurs- und narrationsanalytische Studien vermitteln maßgebliche Einsichten davon, dass das gesamte Wissen über Geschlecht, Körper und Leben sowie die biologische Praxis grundlegend durch kontextspezifische Auffassungen von Gender strukturiert wird und gleichzeitig entscheidend an gesellschaftlichen Formierungsprozessen teilhat. Die Biologie erscheint aus dieser Perspektive als ein durch gesellschaftliche Machtverhältnisse strukturierter Diskurs über zentrale metaphysische und politische Fragen der westlichen Gesellschaften, die gleichermaßen den Ursprung und die Konstitution des Menschen wie der gesamten sozialen und symbolischen Ordnung betreffen. Verschiedene historische Studien beschreiben die zentrale Rolle der frühen Biologie bei der Herausbildung einer neuen bürgerlichen Ordnung der Geschlechter. Ende des 18. Jahrhunderts wurde im Lichte der neuen biologischen Organismustheorie eine rigorose psycho-physiologische Differenz zwischen den Geschlechtern direkt an den Körpern abgelesen und als Naturbasis für die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung bereitgestellt (Schiebinger 1993, Laqueur 1996, Honegger 1996). Im Anschluss an diese Arbeiten zeigt z.B. Mariane van den Wijngaard (1997), in welchem Ausmaß die Lebenswissenschaften auf der Grundlage der organismisch-holistischen Organisationstheorie bis heute dualistische Imaginationen von Weiblichkeit und Männlichkeit
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befördern. Die neuen Geschlechtervorstellungen wurden, wie Schiebinger darstellt, nicht nur in anatomische und physiologische Bereiche, sondern auch in taxonomische Systeme eingelesen (vgl. Schiebinger 1995). In einer zwischen Sprach- und Diskursanalyse angesiedelten Studie kann des Weiteren Evelyn Fox Keller zeigen, dass auch Veränderungen in der Auffassung von genetischen Prozessen in den 1970er Jahren aufgrund vergeschlechtlichter zellbiologischer Konzepte auf veränderte Geschlechtervorstellungen zurückgeführt werden können (Keller 1998). Donna Haraway schließlich entwickelt in ihrer zentralen Studie „Primate Visions“ (1989) am Beispiel der Primatologie eine narrationsanalytische Lesart eines bedeutenden biologischen Forschungsfeldes, dessen reichhaltigen politischen wie psychologischen Untergrund sie durch die Parallellektüre wissenschaftlicher Argumentationen der Primatenforschung mit popkulturellen Erzählungen wie z.B. ‚Tarzan‘ und ‚King Kong‘ offen legt.
Aktuelle Themen und Debatten Neben der Weiterführung der vorgestellten Ansätze und Untersuchungsfelder prägen vor allem drei neuere Themen die aktuelle Debatte in der feministischen Forschung in und über Biologie: die Einarbeitung der Kategorie Race in die Genderdebatte, Bilanzierungen möglicher Erfolge der Genderforschung in der Biologie und Überlegungen zur Institutionalisierung der Genderforschung in Wissenschaft und vor allem Lehre.
Interdependenzen von Gender und Race Die Kritik der ‚Women of color‘ an der eurozentrischen weißen Perspektive der Genderforschung der 1970er und 1980er Jahre hat inzwischen auch die feministische Debatte um die Biologie erreicht, wie sich anhand der biologischen Taxonomie, der Genetik und der Zellbiologie beispielhaft zeigen lässt. Fausto-Sterling (1995) beschreibt am Beispiel der wissenschaftlichen Untersuchung einer nach Paris verschleppten südafrikanischen Frau durch französische Biologen im 19. Jahrhundert, in welcher Weise die biologische Taxonomie und vergleichende Anatomie in dieser Zeit zu einer Rekonzeption von Race/Whiteness, Gender und Sexualität führte, die sowohl die rassistischen Grundlagen der kolonialen Expansion Europas als auch ein sich formierendes weißes bürgerliches Patriarchat absichern half (ähnlich Schiebinger 1995). Dass auch die Entwicklung und Akzeptanz genetischer Konzepte der 1920er und 1930er Jahre durch aufeinander bezogene rassen- und geschlechterpolitische Prämissen bestimmt waren, zeigt Helga Satzinger (2004) anhand der Kontroverse zwischen den Genetikern Richard Goldschmidt und Fritz Lenz, die sich in einem politisch höchst aufgeladenen Forschungsfeld wissenschaftlich unterschiedlich positionierten. Lisa Weasel (2004) schließlich untersuchte die mit der Zellkultur eines menschlichen Gebärmutterhalskrebstumors verbundenen auffälligen Bezeichnungsweisen, die sich assoziativ um ‚aggressive Migration‘, ‚fremde Spezies‘ und ‚ausschweifende weibliche Sexualität‘ gruppieren, und arbeitet komplexe Projektionen miteinander verquickter Gender- und Race-Klischees heraus.
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Effekte feministischer Kritik auf die Biologie Angesichts der Fülle an kritischen Ansätzen in der Biologie und aus den Sozial- und Kulturwissenschaften über Biologie wird inzwischen zunehmend die Frage diskutiert, ob sich irgendwelche Effekte dieser Kritik in der Biologie zeigen. Zweifellos gehört die feministische Kritik der Primatologie mit ihren einflussreichen Neubewertungen der sozialen Positionen weiblicher und männlicher Tiere (und Menschen) noch zu den erfolgreichsten Interventionen innerhalb der Biologie, auch wenn der Umfang des Einflusses unterschiedlich eingeschätzt wird (vgl. z.B. Schiebinger 1999, Haraway 1989). Im Gegensatz zur Primatologie haben sich die Deutungsperspektiven der Evolutionsbiologie und Soziobiologie nicht in gleichem Maße feministisch verändert, wie verschiedene Bilanzen, Analysen und Rückblicke zeigen. Dort wird die feministische Kritik entweder nicht zur Kenntnis genommen oder von neuen Theorien vereinnahmt und in ihr Gegenteil verkehrt (vgl. zusammenfassend Schiebinger 1999). In noch anderer Weise hat die Zellbiologie auf feministische Kritik reagiert, wie z.B. Emily Martin (1991) ausführt. Die in den 1980er Jahren einsetzenden Aktivitätszuschreibungen zum Ei während des Befruchtungsvorganges setzten nämlich zugleich antifeministische Tendenzen frei, die das Ei plötzlich sprachlich im Assoziationsfeld einer aggressiven Femme fatale ansiedelten. Wie Schiebinger (1999) feststellt, sind immerhin die Sexualisierungen von Bakterienzellen aus den meisten Lehrbüchern der 1990er Jahre verschwunden und einer neutraleren Bezeichnung gewichen. Auch in der Entwicklungsbiologie ist es zu – wenn auch noch zögerlichen – Revisionen der Perspektive auf die weibliche Individualentwicklung als Mangelprozess gekommen und eine Suche nach den aktiven Vorgängen bei der Ausbildung der weiblichen Geschlechtsorgane hat eingesetzt. Abgesehen von diesen wenigen Beispielen fallen die Bilanzierungen des feministischen Einflusses auf die Biologie eher sehr ernüchternd aus und haben noch einmal die Notwendigkeit vor Augen geführt, eine feministische Perspektive auch verstärkt über curriculare Anteile in den Wissenskorpus des Faches einzuarbeiten.
Curriculum und biologische Praxis Schon früh versuchten vereinzelt Biologinnen wie Anne Fausto-Sterling und Sue Rosser, feministische Kritik am sexistischen Bias von Methoden und Theorien der Biologie in ihr persönliches Biologiecurriculum aufzunehmen (z.B. Fausto-Sterling 1982, Rosser 1986). In Anlehnung an Fausto-Sterlings (1992) neues Konzept der Two-Way-Street schlagen mittlerweise immer mehr BiologInnen vor, sowohl Kurse der Genderforschung und kritischen Sexforschung in die biologischen Curricula einzutragen als auch biologische Seminare in den Gender Studies zu etablieren, um die Biologie in die feministischen Diskussionen zu integrieren und zugleich den schwierigen Dialog zwischen intervenierenden und reflektierenden Fächern zu eröffnen (vgl. dazu vor allem zahlreiche Aufsätze und Erfahrungsberichte in Mayberry u.a. 2001). Wie schließlich auch die Ergebnisse der epistemologischen Genderreflexionen in die biologische Praxis der Sex-Konstruktionen eingearbeitet werden können, hat bisher nur wenige BiologInnen eingehender beschäftigt. Angeregt durch die Frage, wie der Hierarchisierung von Natur und Kultur anders zu begegnen ist als durch eine konstruktivistische Subsumtion von Natur unter Kultur, die in patriarchaler Tradition weiterhin ein passives Wissensobjekt als anzueignende Ressource des menschlichen Geistes annehme, versucht beispielsweise die Biologin Banu Subramaniam in Anlehnung an Haraways Erkenntnistheorie eine Forschungshaltung zu entwickeln, die Natur und Kultur als Koproduzentinnen in einem wissenschaftlichen Prozess versteht (Subramaniam 2001). Biologisches Wissen über einen so verstandenen Gegenstand, den sie als ‚naturecultures‘ bezeichnet, sei einerseits immer durch den gesellschaftlichen Kontext der For-
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schungssubjekte geprägt, aber zugleich auch durch die Materialität des Ko-Akteurs Forschungsobjekt bestimmt und begrenzt, so dass keine völlige Beliebigkeit des Interpretationsprozesses gegeben sei. Ein solcher standpunkttheoretisch informierter reflexiver Empirismus wird z.B. auch von der Zellbiologin Lisa Weasel geteilt (Weasel 2004). Diese Haltung verlange, so Subramaniam, aber letztlich ein ganz neues naturwissenschaftliches Arbeiten, für das die methodischen und theoretischen Instrumente erst noch gefunden werden müssten.
Zentrales Desiderat: Der transdisziplinäre Dialog Mit der Feststellung, dass „feminism was constructed as a ‚world without science‘ “, brachte die Biologin Subramaniam (2001: 58) das Problem der Kluft zwischen der sozial- und kulturwissenschaftlichen Geschlechtertheorie einerseits und den Naturwissenschaften andererseits auf den Punkt. Und die Biologin Ingrid Bartsch stellt angesichts der Abwanderungen kritischer BiologInnen aus der Biologie ergänzend fest: „It is very hard to simultaneously practice and deconstruct science, which is perhaps why many natural scientists who engage in feminist science studies eventually leave the sciences.” (Bartsch 2001: 34)
Die zentrale Frage im Bereich der Geschlechterforschung in und über Biologie ist nach wie vor, wie ein Dialog zwischen einer metatheoretischen und essentialismuskritischen sozial- und kulturwissenschaftlichen Genderforschung und einer empirisch arbeitenden biologischen Sexforschung, die notwendigerweise naturalisierende Bestimmungen vornimmt und Körperauffassungen normiert, stattfinden kann. Da eine Reflexion über bedeutungszuweisende Mechanismen noch keine Anleitung zu kausalanalytischen Interventionen, sondern zunächst nur eine mögliche Orientierung für die biologische Praxis bietet, ist hier noch eine umfangreiche Ausarbeitung einer Anwendungsperspektive der Genderforschung auf der Grundlage einer transdisziplinären Zusammenarbeit zwischen reflektierender und intervenierender Ebene zu leisten. Die feministischen BiologInnen geben dabei zunehmend gegenüber der metatheoretischen Genderforschung ihrem Wunsch Ausdruck, die im ‚Bauch des Monsters‘ agierenden FeministInnen weder als KollaborateurInnen noch als inakzeptable NaturalistInnen zu diskreditieren. Vielmehr ist es geboten, sie als kritische BiologInnen anzuerkennen und darin zu unterstützen, sich im Rahmen des empirischen Paradigmas der Naturwissenschaften einen Teil der Definitionsmacht zu ergattern, um auf diese Weise einen emanzipatorisch ausgerichteten Transformationsprozess biologischer Inhalte und Methoden zu erreichen. Verweise: Feministische Wissenschaftskritik und Epistemologie Institutionalisierung der Frauen-/Geschlechterforschung Konstruktion von Geschlecht Ökologiekritik Sexualität Wissenschafts- und Technikforschung
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Chemie: Das Geschlecht des Labors – Geschlechterverhältnisse und -vorstellungen in chemischen Verbindungen und Reaktionen
Chemie ist die Naturwissenschaft, die Eigenschaften der chemischen Elemente und Verbindungen sowie ihre Reaktionen untersucht. Als chemische Reaktionen werden all diejenigen Vorgänge bezeichnet, bei denen Stoffe in andere umgewandelt werden. Dabei werden die Bindungen zwischen Atomen aufgebrochen und neu zusammengesetzt. Die grundlegende Methodik der Chemie ist das naturwissenschaftliche Experiment. Die Chemie entwickelte sich historisch aus der Alchemie und bleibt bis heute anwendungs- und kontextorientiert. Innerhalb der Chemie findet daher keine einheitliche Theoriebildung statt. Die Abgrenzung zu anderen Naturwissenschaften ist fließend. Im Teilbereich der physikalischen Chemie etwa wird versucht, chemische Reaktionen auch quantitativ zu bestimmen (also mathematisch-physikalisch zu erfassen) und somit den Ablauf von Reaktionen vorherzusagen. Ebenfalls unscharf ist die Abgrenzung der Chemie zur Biochemie oder Molekularbiologie hin. In der Regel beschränkt sich der Zuständigkeitsbereich der Chemie auf die Ebene der Reaktion von Molekülen miteinander, während Vorgänge in der Größenordnung der Zelle als biologische definiert werden. In meinem Beitrag werde ich die Geschlechterforschung zum „Kernbereich“ der Chemie behandeln.
Eine flüchtige Verbindung: Chemie innerhalb der Gender & Science Studies Innerhalb der Geschlechterforschung zu den Naturwissenschaften nimmt die Chemie eine Sonderrolle ein: Einerseits gehört sie zu den Naturwissenschaften, für die sich Frauen von Beginn an interessierten, was sich auch heute in dem relativ hohen Anteil an weiblichen Studierenden widerspiegelt. Andererseits liegen bedeutend weniger Untersuchungen aus der Geschlechterperspektive über die Fachinhalte und Methoden der Chemie vor als über die Physik und Informatik, Fächer, die von der Personalstruktur her viel stärker von Männern dominiert werden. Die Chemie ist bisher nicht systematisch aus einer Geschlechterperspektive erforscht worden, und die meisten vorliegenden Studien befassen sich mit der physikalischen Chemie, der Biochemie oder der Umweltchemie. Sie weisen allerdings eine große Vielfalt an Herangehensweisen auf (vgl. Heinsohn 2001). Ein Blick auf bestehende Vorschläge zur Systematik der Gender & Science Studies (vgl. Keller 1995, Heinsohn 1998, Bauer 2006) macht deutlich, dass die vorliegenden Studien zur Chemie den Einfluss von Geschlecht als Strukturkategorie exemplarisch belegen können. Der Forschungsstand lässt sich anhand folgender Ebenen des analytischen Zusammenhangs von Geschlecht und Chemie ordnen: – –
Geschlechter(-verhältnisse) in der Chemie, Geschlechter(-vorstellungen) in Fachinhalten und Fachsprache der Chemie und die Konstruktion von Geschlecht durch chemisches Wissen, – die Rolle von Geschlecht in der Vermittlung und Anwendung chemischen Wissens.
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Geschlechter(-verhältnisse) in der Chemie Auf der Ebene der Geschlechter(-verhältnisse) in der Chemie unterscheidet Weller (2006) den Aspekt der Partizipation von Frauen, im Sinne ihrer Beiträge zum Fach Chemie, von der Frage der Chancengleichheit. Zu Letzterem stellt sie fest, dass der hohe Anteil von Studienanfängerinnen in der Chemie von bis zu 50% bereits beim Abschluss des Studiums abfällt und noch weniger Frauen (Führungs-)Positionen in den diversen Tätigkeitsfeldern besetzen. Durch die Implementierung von Gender Mainstreaming liegen erstmals systematische Statistiken vor, die die Benachteiligung von Frauen bei Stellenbesetzungen eindeutig belegen und somit ein Problembewusstsein schaffen (vgl. Weller 2006: 122-126). Dieses ist jedoch u.a. darauf zurückzuführen, dass die Studierendenzahlen in der Chemie abgenommen haben und daher Frauen als neues Potenzial entdeckt wurden. Einige wissenschaftshistorische Studien kombinieren die Frage des Beitrags von Frauen zur Chemie mit den Mechanismen ihres gleichzeitigen Ausschlusses (vgl. Wiemeler 2001). Ildikó Szász’ (1996, 1997) Analyse von chemischen Lehrbüchern, die im 16. bis 19. Jahrhundert speziell für Frauen geschrieben wurden, belegt, dass sich Frauen von Anfang an für die Chemie interessierten. Das erste Lehrbuch dieser Art wurde sogar selbst von einer Frau, der Französin Marie Meurdrac, verfasst. Mit der zunehmenden „Wissenschaftlichkeit“ und großindustriellen Bedeutung der Chemie jedoch gingen die später männlichen Autoren solcher Frauenchemiebücher zunehmend davon aus, dass Frauen nur bestimmte, für die Anwendung im Haushalt relevante Aspekte der Chemie zugänglich seien und auch diese einer besonderen, geschlechterspezifischen Didaktik bedürften. Dennoch gibt es, zumindest in der deutschsprachigen Forschung, bisher kaum ausführliche wissenschaftliche Biografien zu Chemikerinnen. Neben einer Arbeit über die erste in Deutschland promovierte Chemikerin Julia Lermontowa (vgl. Roussanova 2003) existiert lediglich eine Monografie über Clara Immerwahr (vgl. Leitner 1993), die als erste deutsche Frau an einer deutschen Universität in der Chemie promovierte. Lermontowa studierte in Heidelberg und Berlin und promovierte in Göttingen. Durch ihre Arbeiten zur organischen Chemie in Moskau und Petersburg knüpfte sie Verbindungen zwischen den deutschen und russischen Chemieschulen. Immerwahrs Hoffnung, nach der Heirat mit dem berühmten Chemiker Fritz Haber Ehe und Beruf vereinbaren zu können, wurde enttäuscht. Einige BiografInnen sowohl Habers als auch Immerwahrs führen ihren Suizid auf Habers Engagement bei Giftgaseinsätzen im Ersten Weltkrieg zurück und sehen darin den tragischen Höhepunkt der unterschiedlichen wissenschaftsethischen Auffassungen der Eheleute (vgl. Roloff 1992). Darüber hinaus finden sich nur kurze Abhandlungen über Chemikerinnen (vgl. Beisswanger 1991, Roloff 1992, Grinstein 1993, Fölsing 1999). Löchel und Weller (1985) diskutieren am Beispiel der Ehefrau des berühmten Chemikers Lavoisier, Marie Paulze Lavoisier, die unsichtbare fachliche Zuarbeit von Frauen. Als belegt gilt, dass sie wichtige chemische Arbeiten für ihren Mann ins Französische übersetzte und nicht nur die Ergebnisse seiner Versuche protokollierte, sondern mitdiskutierte; allerdings ist umstritten, ob sie als Assistentin oder gleichberechtigte Forschungspartnerin gelten kann. Die Studien von Roloff (1989, 1992), Engel (1996), Wiemeler (1996) und Johnson (1998a, 1998b) enthalten ebenfalls kurze biografische Exkurse über Chemikerinnen, rekonstruieren aber vor allem, wie Frauen in der Entwicklung unterschiedlicher chemischer Professionen und Tätigkeitsfelder ein- und ausgeschlossen wurden. Frauen ohne akademischen Abschluss arbeiteten in der chemischen Industrie insbesondere als Laborantinnen, einem technischen Beruf. Hingegen wurden die besser bezahlten Tätigkeiten in der Forschung und Lehre als Männerberuf etabliert, um das Prestige der Chemie zu erhöhen, und Frauen systematisch ausgeschlossen. So wurden Frauen, die ein chemisches Studium erfolgreich abgeschlossen hatten, in der Industrie häufig in Randbereiche, beispielsweise als chemische Bibliothekarin, gedrängt (vgl. Rossiter 1996, Wiemeler 1996). Diese Konstruktion des Chemikers als männlich bleibt bis heute folgenreich, wie die Studie von Barbara Nägele (1998, 1999) eindrucksvoll vor Augen führt. Nägele untersuchte
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exemplarisch an einem Fachbereich Chemie einer Hochschule Deutschlands, warum Mitte der 1990er Jahre keine einzige Frau eine Professur innehatte, obwohl Frauen unter den Studierenden und Promovierenden recht gut vertreten waren, und wie dieser Ausschluss reproduziert wird. Die Ergebnisse von Nägeles Studie tragen ebenfalls zur Ebene der Geschlechter(vorstellungen) in Fachinhalten und Sprache der Chemie bei.
Geschlechter(-vorstellungen) in Fachinhalten und Fachsprache der Chemie und die Konstruktion von Geschlecht durch chemisches Wissen Nägeles Analyse des Selbstverständnisses und Habitus der Chemieprofessoren ergab, dass das Idealbild des Chemikers durch ihm zugeschriebene geschlechtsspezifische Eigenschaften indirekt als männlich konstruiert wird: Die Eigenschaften, die einen (guten) Chemiker ausmachen, wurden als nicht erlernbar dargestellt, man werde quasi damit geboren (Talent, Genialität, Intuition). Während Eigenschaften, die die Professoren als typisch weiblich empfanden, auf den ersten Blick als positiv bewertet werden könnten (wie mehr Geduld, Fleiß, Durchhaltevermögen), waren es allesamt Fähigkeiten, die nicht zum Berufsbild des Chemikers passten. Beispielsweise wird die Arbeit im Labor mit giftigen oder explosiven Substanzen als gefährlich dargestellt, so dass Nägele von einem Risikodiskurs spricht. Risiko und Gefahr sind dabei (nicht nur) in der Chemie ein eindeutig männlich besetztes Territorium. Nägeles Studie ist die einzige, die den Kernbereich der Chemie auf diese Fragestellung hin untersucht hat. Ossietzky (2001) untersuchte die historischen Entstehungskontexte der Thermodynamik, einem Teilbereich der physikalischen Chemie. Sie sieht in der Bedeutung von Kraft und Energie für das bürgerliche Männlichkeitsideal der Zeit einen Faktor, der die wissenschaftliche Kontroverse um Energietheorien gegen die (romantische) Naturphilosophie zugunsten der aus der Mechanik entwickelten Thermodynamik entschied. Im 19. Jahrhundert war Männlichkeit vor allem mit dem Konzept von Kraft verbunden worden. Das Selbstbild der bürgerlich-männlichen Kräfteökonomie geriet so in die Krise, als das Phänomen der Reibungsverluste in der Mechanik als Problem erkannt wurde. Die Vorstellung der romantischen Naturphilosophie, diese Verluste würden durch die ‚Lebenskraft‘ ausgeglichen, konnte sich nach Ossietzky nicht durchsetzen, weil der zeitgenössischen, männlich geprägten Auffassung, alles Lebendige sei mechanistisch zu fassen, widersprachen. Durch den Energieerhaltungssatz der Thermodynamik hingegen konnte das männliche Prinzip der Kraft und Fokussierung auf Leistung und Fortschritt schließlich „gerettet“ werden: durch Reibung wurde kein Energieverlust, sondern nur eine Umwandlung mechanischer in Wärmeenergie verursacht. Dorit Heinsohn (2005) legte eine weitere Studie zur Thermodynamik vor, in der diskursanalytisch untersucht wird, inwiefern physikalisch-chemisches Wissen in die Debatte um die Einführung des Frauenstudiums um 1900 in Deutschland eingeflossen ist. Heinsohn identifiziert in den Argumentationen von Hochschullehrern für oder gegen die Zulassung von Frauen zu akademischen Berufsfeldern thermodynamisches Wissen. So argumentierten Physik- und andere Professoren, dass Frauen (in Anlehnung an den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik) nur ein begrenzter Energievorrat zur Verfügung stehe, der vor allem für die Reproduktion benötigt werde. Würden Frauen einen Teil dieser Energie in geistige Arbeit stecken, leide darunter folglich die Reproduktionsfähigkeit, und letztendlich gefährde das den Fortbestand der deutschen Nation.
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Die Rolle von Geschlecht in der Vermittlung und Anwendung chemischen Wissens Die Vermittlung chemischen Wissens findet sowohl in Schule, Ausbildung und Studium statt wie auch populärwissenschaftlich durch Medien. Die bereits erwähnten Frauenchemiebücher, die vor allem für den Haushalt nützliches chemisches Wissen vermitteln wollten, gibt es heute nicht mehr. Im Schulunterricht und in der Hochschullehre wird die Chemie – wie andere Naturwissenschaften auch – zumeist nach wie vor innerhalb des Dogmas der wertneutralen Objektivität vermittelt. Es wird von sozialen Aspekten wie der Bedeutung von Geschlecht in der Wissensproduktion abstrahiert und somit die Chemie dekontexualisiert dargestellt. Das führt u.a. dazu, dass SchülerInnen und Studierende nicht lernen, chemisches Wissen kritisch zu hinterfragen, da der Charakter chemischen Wissens als Produkt komplexer Aushandlungsprozesse und somit als sozialer Praxis nicht vermittelt wird. Diese Darstellung der Chemie als „objektiv“ (im Gegensatz zu auf alltäglicher Erfahrung basierenden Wissens als „subjektiv“) konstruiert ein hierarchisches Gefälle zwischen zumeist männlichen „Experten“ einerseits und Laien/Laiinnen oder KonsumentInnen chemischen Fachwissens und chemischer Produkte und Technologien andererseits. Feministisch inspirierte Versuche der Umsetzung alternativer Fachdidaktiken im Sinne einer „Inclusive Chemistry“, nicht nur bezogen auf Gender, sondern auch auf ethnische und kulturelle Differenz, existieren bezogen auf Schulunterricht (vgl. Meier/Molitor-Schworm/Reis 1998) und Hochschullehre (vgl. Barton 1998, Middlecamp 1995, Middlecamp/Subramaniam 1999, Wenzel 2001). Dabei werden nicht nur Erkenntnisse aus der allgemeinen feministischen Pädagogik wie eine stärkere Einbeziehung von Lebenskontexten und interaktiven Methoden auf die Chemie angewandt, sondern in ersten Schritten auch die Fachinhalte in die didaktischen Überlegungen miteinbezogen (vgl. Bowen 1992). Geschlechterspezifische Konsequenzen der (technologischen) Anwendung chemischen Wissens wurden bisher vor allem innerhalb der Umweltforschung diskutiert (vgl. Weller 1995, 2003, 2004). Weller weist auf das Ungleichgewicht zwischen den Belastungen und der Partizipation von Frauen in umweltpolitischen Fragestellungen hin: Da Frauen nach wie vor den Hauptanteil an reproduktiver Arbeit leisten, wird ihnen eine besondere Verantwortung und Arbeitsbelastung beispielsweise hinsichtlich des Recyclings aufgebürdet. Hingegen sind sie auf der Ebene der EntscheidungsträgerInnen in Technologieentwicklung und Politik weiterhin unterrepräsentiert. Für die Chemikalienpolitik konstatiert Buchholz (2006) erhebliche Wissensdefizite über die Wirkungen von Stoffen in der Umwelt, vor allem jedoch im Reproduktionsbereich, da nur der als männlich konnotierte Bereich der chemischen Produktion auf die gesundheitliche Belastung am Arbeitsplatz hin beforscht wird. Somit werden „Restrisiken“ privatisiert, und es sind vor allem Frauen, die unbekannten Gefährdungen durch Chemikalien im Haushalt ausgesetzt sind. Aus der Genderperspektive ergibt sich so die Forderung nach einem grundlegenden Paradigmenwechsel der Chemikalienpolitik: statt Gefahrstoffe einzeln zu evaluieren, müssen reale Nutzungskontexte berücksichtigt werden und Gesamtbelastungssituationen von Haushalten in den Blick genommen werden. Alltagswissen z.B. über gesundheitliche Folgen von Chemikalien bedarf dabei mehr Anerkennung, etwa als Ausgangspunkt für Forschung zu Gefahrstoffen und Forschungsergebnisse mehr Transparenz für die VerbraucherInnen, damit diese risikobewusster über ihren Umgang mit chemischen Produkten entscheiden können. Denkbar wären ähnliche Untersuchungen im Bereich der Technikfolgenabschätzung bezogen auf die Chemie, beispielsweise der Agrarchemie oder Pharmazeutik.
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Analysen sind noch zu kochen! Ausblick auf zukünftige Forschungsfragen Erste Studien haben aufzeigen können, dass die Kategorie Geschlecht sowohl in der Personalstruktur der Chemie als auch in der Wissensproduktion, -anwendung und -vermittlung eine Rolle spielt. Diese Ergebnisse bedürfen weiterer Untersuchungen, vor allem im Kernbereich der Chemie, der Beforschung von chemischen Reaktionen im Labor. Ein viel versprechender methodischer Ansatz läge hier in der Anwendung der Laborstudien (vgl. Knorr-Cetina 1995) auf die Chemie unter Berücksichtigung von Geschlechteraspekten. Der von Nägele (1999) konstatierte Risikodiskurs könnte beispielsweise auf seinen Beitrag zur Konstruktion von Geschlecht im Laboralltag mit ethnomethodologischen Forschungsmethoden untersucht werden. Einige Aspekte der Chemie weisen explizite Ansatzpunkte für eine Geschlechteranalyse auf. So ist es Frauen im Studium nicht erlaubt, mit bestimmten Substanzen zu arbeiten, die potenziell die Fruchtbarkeit einschränken; die Fachsprache ist durchzogen mit kriegerischen und anderen kulturell besetzten Metaphern, auch außerhalb der Biochemie (Moleküle „greifen“ andere „an“, Orbitale sind „entartet“, Synthesen ergeben eine „Ausbeute“); die Ähnlichkeit der Arbeitsvorgänge im chemischen Labor, wo sie als prestigereiche „Männerarbeit“ konstruiert werden, und im Haushalt, wo sie als „Frauenarbeit“ eine Abwertung erfahren, ist frappierend, was sich auch in der Sprache niederschlägt (Analysen werden „gekocht“). Der mögliche Zusammenhang von Männlichkeitsbildern von Chemikern und der Forschung für chemische Waffen ist bisher nicht untersucht worden. Untersuchungen zu Ausschlüssen von Frauen und Vorstellungen, die mit Weiblichkeit assoziiert wurden, beim Übergang der Alchemie zur Chemie als moderne Naturwissenschaft der Neuzeit könnten die Geschichte der Chemie bereichern. Einige Untersuchungen arbeiten ansatzweise bereits mit einer intersektionalen Analyseperspektive. Heinsohn (2005) bezieht in ihre Analyse den Diskurs um Nation mit ein; Middlecamps (1995) hochschuldidaktischer Ansatz arbeitet mit dem Begriff „kultureller Inklusion“, der alle Kategorien sozialer Ungleichheit oder Differenz mitdenken will. Generell sollten die Verschränkungen der Kategorie Geschlecht mit anderen Kategorien sozialer Ungleichheit jedoch stärker in die Forschung zur Chemie einbezogen werden. Auch stellt sich die Frage, was es für Gleichstellungsmaßnahmen bedeutet, dass Mädchen und Frauen sich durchaus von sich aus für ein Studium der Chemie interessieren, und ob vor diesem Hintergrund manche Programme, die Mädchen fördern sollen, bestimmte Geschlechterstereotype eher reifizieren als in Frage stellen. Momentan werden Mädchen, die chemiebegeistert sind, implizit sowohl im koedukativen Schulunterricht als auch in monoedukativen feministischen Förderungsmaßnahmen als „abweichend“ vom „normalen“ Mädchen behandelt, wenn solche Programme an stereotype Vorstellungen von „Mädcheninteressen“ wie Kosmetik oder Designs in rosa anknüpfen. Angesichts des Trends, den Weller (2006) aufzeigt, scheint die vordringlichere Frage nicht zu sein, wie man bei Mädchen und jungen Frauen das Interesse für die Chemie weckt, sondern warum diese Begeisterung nachlässt und wie die Bevorzugung von Männern in Karrierefragen weiterhin reproduziert wird. Beide Fragen weisen auf die Notwendigkeit hin, die Fachkultur aus einer Geschlechterperspektive zu beforschen und zu reformieren. Solch ein Projekt stünde in engem Zusammenhang mit einer weiteren zu schließenden Forschungslücke: Entwürfe feministischer Erkenntnistheorien zur Chemie sowie alternative Methoden und Forschungsdesigns innerhalb der Chemie selbst, die Geschlecht mit einbeziehen. Erste Versuche von Forschung dieser Art in der Biologie sollten auf ihre Anwendbarkeit in der Chemie überprüft werden (vgl. Roughgarden 2004). Da für die Chemie, die kein einheitliches, abstraktes Theoriegebäude besitzt, Gesetzmäßigkeiten und Vorraussagen immer im Kontext, z.B. der chemischen Lösung, in der eine Reaktion stattfindet, betrachtet werden müssen, ist die Chemie für die feministische Erkenntnistheorie ein äußerst interessanter Sonderfall der Naturwissenschaften.
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F Frauenbewegungen und Gleichstellungspolitiken Ilse Lenz
Frauenbewegungen: Zu den Anliegen und Verlaufsformen von Frauenbewegungen als sozialen Bewegungen
Frauenbewegungen haben zur Entwicklung und Demokratisierung in der Moderne wesentlich beigetragen. Wenn Frauen heute selbstverständlich ein eigenes Konto führen, ein interessantes Studium oder einen guten Beruf wählen, über Sexualität und Verhütung reden oder zur Wahl gehen können und wenn sie ihre Fähigkeiten in Gesellschaft und Politik einbringen können, ist das auch den Frauenbewegungen zu verdanken. Diese kritisieren den Ausschluss, die Abwertung und die Unterordnung von Frauen und anderen Gruppen (ArbeiterInnen, SklavInnen in den USA) in der Moderne. Ihre Forderungen und Diskurse bewegen sich auf einem breiten Spektrum zwischen Forderungen nach Gleichheit wie dem Wahlrecht und dem Recht auf Arbeit und nach der Anerkennung von Differenzen, wie etwa beim Mutterschutz, oder bei der Vorstellung einer weiblichen Friedfertigkeit. Frauenbewegungen ‚entwickeln sich im Plural‘, denn sie bilden sich in verschiedenen Klassen-, ethnischen und kulturellen Milieus heraus, wie die bürgerlichen und die proletarischen Frauenbewegungen, aber auch die antikolonialen Frauenbewegungen in Afrika, Asien und Lateinamerika (vgl. die Bibliografie von Lenz u.a. 1996). Neben diesen säkularen Strömungen haben sich auch wichtige religiöse Gruppierungen formiert, wie buddhistische, evangelische, jüdische, islamische oder katholische Verbände. In den Neuen Frauenbewegungen nach 1965 gewinnen die Lesbenbewegungen sowie die Migrantinnenbewegungen eine wichtige Stimme. Die Frauenbewegungen haben sich von Beginn an international ausgetauscht und vernetzt, aber bis zum späten 20. Jahrhundert v.a. auf die nationale und lokale Ebene orientiert (vgl. Offen 2000, Rupp 1997, Planert 2000). Die ersten Wellen konzentrierten sich vornehmlich auf den Nationalstaat und die Durchsetzung von Gleichheit und Bürgerrechten (citizenship) in der modernen Nation. Seit den 1970er Jahren haben sich globale Frauenöffentlichkeiten und Netzwerke herausgebildet. Sie stützten sich auf die Globalisierung in Kultur und Kommunikation sowie auf die UN-Dekaden der Frau und in Europa auf die EU-Genderpolitik (vgl. Lenz/Mae 2000, Lenz/Schwenken 2001, Ferree/Mueller 2004, Kramerae/Spender 2000).
Zum Begriff der Frauenbewegung Was sind Frauenbewegungen und was tun sie? Eine Definition von Frauenbewegungen hat sowohl ihre kulturelle und soziale Variationsbreite als auch den Forschungsstand zu sozialen Bewegungen zu berücksichtigen. Sie sollte nicht auf eine spezifische Kultur oder historische Phase zentriert sein, sondern sowohl der Universalität von Frauenbewegungen in der Moderne als auch ihren spezifischen Kontexten gerecht werden. Ferner sollte sie nicht normativ werten, sondern empirisch offen sein. Eine neuere Arbeitsdefinition lautet:
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Frauenbewegungen sind mobilisierende kollektive AkteurInnen, die sich in verschiedenen sozialhistorischen Milieus entwickeln. In ihnen setzen sich Personen unter maßgeblicher Beteiligung von Frauen für einen grundlegenderen Wandel der Geschlechterverhältnisse und damit verbundener gesellschaftlicher Ungleichheit und Abwertung ein. Sie kritisieren die herrschenden geschlechtlichen Leitbilder, Normen und Diskurse und entwerfen Alternativen, die zu neuen Normierungen führen können. Frauenbewegungen artikulieren sich in und zu Modernisierungsprozessen und tragen auf vielfältige Weise zu ihnen bei – indem sie sie fördern, beeinflussen oder auch hemmen und kanalisieren (vgl. Lenz 2001, 2008). In dieser Definition ist die handlungstheoretische Orientierung wichtig, d.h. es geht um die Praxis (d.h. Mobilisierung und kollektives Handeln) und nicht ausschließlich nur um die Texte der Frauenbewegung. Wenn Personen als die Subjekte der kollektiven Mobilisierung genannt werden, wird auf das Wechselverhältnis von Individualisierung und Frauenbewegung hingewiesen. Wenn Frauen sich in der Frauenbewegung engagieren, setzen sie sich persönlich mit der kollektiven Weiblichkeitsnorm auseinander und eröffnen individuelle und kollektive Optionen. Die Bezeichnung von Personen ist zudem empirisch offen und ermöglicht zu untersuchen, welche Erfahrungen und Anliegen beispielweise Berufsfrauen, Mütter, Lesben, Migrantinnen oder auch Männer im Kontext ihrer sozialen Positionierung einbringen. Zum Beispiel waren Männer in der Neuen Frauenbewegung in Großbritannien, in Japan und in den USA (u.a. in der National Organization for Women) aktiv. Frauen werden nicht von vornherein als homogene Trägerinnen der Bewegung gesehen und somit der Geschlechtsdualismus der Moderne für die Frauenbewegung fortgeschrieben. Anstatt per se von einer ‚fortschrittlichen Rolle‘ der Frauenbewegungen auszugehen, wird nach ihren Forderungen und ihrer Bedeutung für den Wandel der Geschlechterverhältnisse gefragt; damit wird die normative Sicht durch eine kritisch-analytische Perspektive abgelöst, die ihre Beiträge, Ambivalenzen und Probleme im Modernisierungsprozess untersucht. Wichtig ist schließlich die These, dass die Frauenbewegungen reflexiv auf ihre inneren Veränderungen und auf den sozialen Wandel Bezug nehmen, der auch auf ihre Einflüsse und Erfolge zurückgeht. Das gegenwärtige Bild der neuen Frauenbewegungen in den Medien erscheint oft statisch auf ihren Beginn in den 1960er Jahren ‚festgefroren‘. Dynamische Forschungsperspektiven sollten Lernprozesse und Transformationen von Frauenbewegungen untersuchen.
Langfristige Anliegen und Transformationen von Frauenbewegungen Frauenbewegungen sind keine ‚neue‘ soziale Bewegung, sondern ihre Anliegen entspringen den Grundgedanken der Moderne wie Freiheit, Selbstbestimmung, Gleichheit und Solidarität. Sie haben aber auch die Postmoderne mit angestoßen (vgl. Flax 1991), da sie die ‚großen Theorien‘ der Moderne wie den Marxismus kritisierten und auf der individuellen Autonomie der Subjekte und den Fragen von Differenz und den ‚Anderen‘ – den MigrantInnen, den Kolonialisierten, den sexuellen Minderheiten – beharren. Die Frauenbewegungen entwickeln sich in einer Reihe von ‚Wellen‘ oder ‚Spiralen‘, sie wirken in „langen Wellen“, worauf Ute Gerhard (1995) hingewiesen hat. Für Deutschland kann man von zwei Wellen der Mobilisierung, also der bürgerlichen und proletarischen Frauenbewegung im Kaiserreich (erste Welle) und der Neuen Frauenbewegung nach 1968 (zweite Welle) sprechen. Zum Beispiel in den USA und Japan besteht eine deutlichere Kontinuität der Wellen (vgl. Davis 1999, Ferree/Yancey 1995, Ferree/Hess 1997, Nave-Herz 1997, Mackie 2003, Mae/Lenz/Klose 2005). Eine ‚dritte Welle‘ wird im Zusammenhang mit den globalen Netzwerken nach 1990 aufgeführt (vgl. Dackweiler 2000). Die Anliegen der Frauenbewegungen haben eine grundlegende Kontinuität in der Moderne, auch wenn sie aufgrund des sozialen Wandels zu verschiedenen Phasen unterschiedlich formu-
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liert werden. Ihre wesentlichen ‚Streitpunkte‘ und Forderungen beziehen sich auf die folgenden Bereiche (vgl. u.a. Gerhard 1990, 1995; Holland-Cunz 2003, Offen 2000, Wobbe 1989):
Rechtsgleichheit und Autonomie Der Ausgangspunkt der „neuzeitlichen Frauenbewegungen und der Emanzipation aus traditionellen Bindungen seit der Französischen Revolution war die Forderung nach gleichen Rechten, die Inanspruchnahme der Menschenrechte auch für Frauen“ (Gerhard 1995: 262). In der Herausbildung der modernen nationalen Geschlechterordnung wurden Frauen in Europa der Privatheit der Familie zugeordnet, die rechtlich und sozial der Autorität des Vaters/Ehemanns unterstellt wurde. Die Sphäre der Öffentlichkeit, der Politik und des Rechts wurde demgegenüber als männlicher Bereich definiert. Deswegen bedeutete die Forderung nach individuellen Rechten als Bürgerin (citizenship) für Frauen einerseits Gleichheit als Teil der Nation, andererseits aber auch individuelle Emanzipation aus der häuslichen Ein- und Unterordnung. Allerdings lag darin auch eine exklusive Ausgrenzung der Personen von citizenship-Rechten, die nicht als Mitglieder der Nation galten, wie MigrantInnen, Kolonisierte und im 19. Jahrhundert die ArbeiterInnen. Seit der Aufklärung forderten Frauen immer wieder das Recht auf höhere Bildung und berufliche Qualifikation, worin Gleichheits- und individuelle Emanzipationsansprüche zusammenkamen. Wahlrecht und politische Beteiligung verlangten Frauen im Kontext der demokratischen Revolutions- und Emanzipationsbewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts. Politische Beteiligung erschien in den ersten Wellen als der Schlüssel zur Gleichberechtigung in der modernen Nation und der Griff danach wurde teils mit der Gleichheit der Frauen als Bürgerinnen, teils auch differenztheoretisch mit ihren besonderen Fähigkeiten als Mütter, also einer sozialen Mütterlichkeit, begründet.
Arbeit Frauen haben in vormodernen Gesellschaften immer gearbeitet – in der häuslichen Wirtschaft, als Dienstboten oder in manchen Handwerken. Die Frauenbewegungen wollten also nicht einfach ‚Arbeit für Frauen‘, sondern es ging ihnen um Gleichheit und Anerkennung in der Lohnarbeit und in der Familien- und Versorgungsarbeit. Vor allem in den Neuen Frauenbewegungen kam dazu eine grundlegende Kritik an der ungleichen geschlechtlichen Arbeitsteilung. Für die Lohnarbeit bedeutete dies zunächst das Recht auf eigenständige und menschenwürdige Arbeit zu gleichem Lohn. Bereits in den ersten Wellen wurde gefordert, die häusliche oder Versorgungsarbeit in die gesellschaftlichen Leitvorstellungen und wissenschaftlichen Konzepte von Arbeit und Ökonomie einzubeziehen, um den wirtschaftlichen Beitrag der Frauen gerecht zu bemessen (vgl. Gilman 1994). Die Neuen Frauenbewegungen und die Geschlechterforschung ab den 1960er Jahren entwickelte auf internationaler Ebene das Konzept der Reproduktionsarbeit oder ‚Versorgungsarbeit‘ (care work), d.h. der Reproduktion von Menschen durch ihre Geburt, Erziehung und Versorgung. Sie verbanden dies mit einer Weiterführung der Gesellschaftstheorie des Kapitalismus: Er beruhe nicht nur auf freier Lohnarbeit, sondern auch auf der unsichtbaren Reproduktionsarbeit, mit der die LohnarbeiterInnen geschaffen/geboren und versorgt werden. Da diese Reproduktionsarbeit nicht entlohnt, nicht anerkannt und feminisiert wäre, d.h. v.a. den Frauen als ‚natürliche Geschlechtsrolle‘ aufgebürdet würde, seien Kapitalismus und Neopatriarchalismus in der Moderne eng miteinander verbunden. Vor allem die Neuen Frauenbewegungen haben die Erweiterung des Arbeitsbegriffs in eine umfassende Kritik der ungleichen geschlechtlichen Arbeitsteilung fortgeführt. Die Frauenbewegungen haben im Zusammenhang mit der UN-Dekade der Frau erreicht, dass die unentlohnten und entlohnten Arbeiten statistisch erfasst werden und ihr Beitrag für die
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Volkswirtschaften sichtbar wird. So stellte eine leider immer noch aktuelle UN-Statistik 1985 fest, dass bei Berücksichtigung der Lohn- und Versorgungsarbeit Frauen zwei Drittel der Arbeit auf der Welt leisten, aber nur 10% des Einkommens erhalten und nur über 1% der produktiven Ressourcen verfügen. Das gewandelte Bewusstsein junger Frauen für einen guten lebenslangen Beruf und qualifizierte Ausbildung in den postindustriellen Gesellschaften geht u.a. auf die Frauenbewegungen zurück – ebenso wie die berufliche Gleichstellung von Frauen, die nun auch mittlere qualifizierte Tätigkeiten erreicht haben. Auch die gesellschaftliche Anerkennung von Versorgungsarbeit wurde grundsätzlich durch Gesetze eingeführt, wie das Bundeserziehungsgeldgesetz 1986, nach dem Mütter oder Väter, die ihr Kind selbst betreuen und erziehen, eine Vergütung erhalten, oder die rechtliche Berücksichtigung bei der Rente. Doch wird die ungleiche geschlechtliche Arbeitsteilung eher flexibilisiert als abgeschafft und die Forderung der Frauenbewegungen nach ihrer Aufhebung ist weiter ein dringendes Zukunftsanliegen.
Liebe und Sexualität In den Forderungen nach Selbstbestimmung in Liebe und Sexualität zeigt sich, dass die Frauenbewegungen an dem individuell-demokratischen Denken der Moderne ansetzten und es in den Raum der Familie und Beziehungen einführten, indem sie die Mauer der ‚patriarchalen Privatverhältnisse‘ durchbrachen. Schon die radikalen Flügel der ersten Wellen forderten ‚freie Ehe‘ und sexuelle Subjektwerdung der Frau (vgl. Offen 2000, Janssen-Jurreit 1986). Diese Forderungen standen im Gegensatz zu den traditionellen kirchlichen Vorstellungen von Sexualität als der durch ‚Eva und das Weib‘ verschuldeten Erbsünde, zur neopatriarchalen Familienrechtsgesetzgebung der modernen Nationen und zur gesellschaftlichen Doppelmoral. In diesem Kontext formulierten die ersten Wellen den Wunsch nach selbstbestimmter Liebe und Sexualität vornehmlich in drei Thematisierungen (vgl. Offen 2000, Bell/Offen 1983): Sie forderten die Abschaffung des Abtreibungsverbots und die Selbstbestimmung der Frau über die Mutterschaft. Parallel verlangte die Mutterschutzbewegung Anerkennung der freien Ehe und Mutterschaft, auch der ledigen Mütter, was allerdings vom gemäßigten bürgerlichen Flügel als ‚sexuelle Anarchie‘ angegriffen wurde. Schließlich kämpften sie gegen die staatlich kontrollierte Prostitution, in der die Prostituierten kontrolliert und stigmatisiert wurden, wodurch Frauen, die in der Öffentlichkeit frei auftraten (z.B. alleine ausgingen oder reisten), zum Objekt polizeilicher Kontrolle wurden. Im Klima der sexuellen Revolution der 1960er verlangten die Neuen Frauenbewegungen im Westen (und Japan) offensiv die Befreiung von Erotik und Sexualität für Frauen. Kate Millett (1974) prägte das Wort von Sexual Politics, d.h. der Vorstellung, dass Sexualität zum Schauplatz von Macht und Hegemonie von Männern wird und somit politischen Charakter für die Unterdrückung der Frau in der Moderne hat. Daraus leitete sich die These her: „Das Private ist politisch.“ Auf der Suche nach Subjektwerdung und sexueller Selbstbestimmung mussten Frauen die Trennung zwischen Öffentlich und Privat und ihre Unterordnung in beiden Bereichen angreifen (vgl. u.a. Rosen 2000, Ferree/Hess 1997). Sexuelle Selbstbestimmung bezog sich zunächst auf die Entscheidungsfreiheit über die Gebärfähigkeit der Frau. Die Bewegung für die Abschaffung der gesetzlichen Abtreibungsverbote wurde international zur Massenbewegung von Frauen (und Männern). Daraus entwickelten die Frauenbewegungen allgemeine Forderungen nach reproduktiver Selbstbestimmung und Rechten, die in den UN-Konferenzen zur Bevölkerung 1992 und der Weltfrauenkonferenz 1995 von der UN verabschiedet wurden (vgl. UN 1996). Erotik aus der Sicht von Frauen bedeutete auch die Verabschiedung der Kanonisierung der vaginalen Sexualität, die in der Psychoanalyse als einzig ‚reife Form‘ festgeschrieben war und in penetranten Formen der ‚sexuellen Revolution‘ um 1970 Urstände feierte. Nach aggressiven Auseinandersetzungen in den 1970er und 1980er Jahren wurde das Spektrum der legitimen Sexualität um
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klitorale, orale und andere Formen erweitert. Mit ihrer von Aufregung und Gelächter begleiteten Bundestagsrede sprach die grüne Abgeordnete Waltraud Schoppe 1983 vermutlich für eine breite Gruppe: „Wir fordern Maßnahmen, die es Frauen ermöglichen, selbst zu entscheiden, wie sie ihr Leben gestalten wollen […] Dazu gehört die Entscheidung der Frau, ob sie ein Kind möchte oder nicht […] [Es] sollte einmal darüber nachgedacht werden, wie Schwangerschaftsverhütung betrieben werden könnte. Eine wirkliche Wende wäre es, wenn hier oben z.B. ein Kanzler stehen und die Menschen darauf hinweisen würde, dass es Formen des Liebesspiels gibt, die lustvoll sind und die Möglichkeiten einer Schwangerschaft gänzlich ausschließen.“ Schließlich verbanden viele Frauen mit eigenständiger Erotik auch das Engagement in der Lesbenbewegung gegen die Diskriminierung lesbischer oder homosexueller Sexualität. Erstmals erhoben Lesben auch international ihre Stimmen und konnten zahlreiche Veränderungen durchsetzen.
Frieden und Gewaltfreiheit Die ersten Wellen der Frauenbewegungen setzten sich für den Frieden ein. Ihr Engagement während des Ersten Weltkriegs beeinflusste den folgenden Pazifismus und Woodrow Wilsons Vorstellungen vom Völkerbund. Aus den internationalen Verbänden bildete sich dann die Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit (Women’s International League for Peace and Freedom) heraus, die sich seit 1919 zwischen den Systemen stehend, für Frieden, internationale Konfliktlösungen und Entspannung einsetzte (vgl. Alonso 1993, Rupp 1997). Frauen erschienen als friedfertig oder als liebende Mütter, die gegen den Tod ihrer Söhne und die Männergewalt und den Massenmord auf dem Schlachtfeld aufstehen. Dieser Geschlechtsdualismus, der den Müttern die Friedfertigkeit und den Männern die Gewalt zuschrieb, wurde in den Neuen Frauenbewegungen angezweifelt. Denn die Opfer-TäterInnen-Debatte (1985) verdeutlichte, dass Frauen im Krieg auch zu Täterinnen werden. Überdies forderte ein Teil der Frauen die Gleichheit im Militär und den Dienst an der Waffe. Die Friedensfrauen stützen sich dagegen auf die Frauen- und Menschenrechte, die im Krieg und in militärischen Konflikten grundlegend missachtet werden. Dabei greifen sie sowohl die militärischen und zivilen Todesopfer als auch die sexuelle Gewalt im Krieg an. In der UN-Menschenrechtskonferenz 1993 in Wien wurden Vergewaltigungen als Kriegsverbrechen geächtet und eine UN Sonderberichterstatterin für Frauen- und Menschenrechte eingesetzt. Besonders die Neuen Frauenbewegungen zeigten die Zusammenhänge zwischen häuslicher ‚privater‘ Gewalt zwischen den Geschlechtern und Krieg und Gewalt auf. Die Vorstellung, Konflikte durch Gewalteinsatz zu lösen, ist ein tief verwurzeltes patriarchales Muster, das nach außen und nach innen wirkungsmächtig ist und in der Sozialisation erworben wird. Während früher Gewalt in Beziehungen oder Vergewaltigung als Schande für die Frau galten, die sie mit Scham und Schweigen aufnehmen sollte, durchbrachen die Neuen Frauenbewegungen international die Tabuisierung und faktische Straflosigkeit sexueller Gewalt (vgl. Hagemann-White u.a. 1997).
Nationale Unabhängigkeit und Antikolonialismus Speziell die ersten Wellen der Frauenbewegungen bildeten sich im Zusammenhang mit nationalen und antikolonialen Unabhängigkeitsbewegungen heraus; bei letzteren traten Konflikte, aber auch Allianzen mit den Frauenbewegungen der Kolonialherrscher auf (vgl. Planert 2000, Pierson/Chaudhuri 1998). Auch in der Gegenwart hängen die nationale Frage und die Frauenfrage in vielen Ländern zusammen.
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Internationale und globale Frauennetzwerke Die dritte oder neue Welle der Frauenbewegungen zeigt sich in den globalen und transnationalen Netzwerken, die mit den UN-Dekaden der Frau ihren Aufschwung nahmen. Das wichtigste Resultat ist, dass die Frauenbewegungen nun universale Diskurse entwickelt haben, in denen sie die gemeinsamen Anliegen nach Freiheit, Gleichheit, Frieden und Entwicklung mit ihren jeweiligen Kontexten verbinden (vgl. UN 1996). Sie können ihre Differenzen respektieren und für Gleichheit arbeiten.
Aufbrüche, Ausweitungen, Atempausen – die Neuen Frauenbewegungen in Deutschland Oft wird angenommen, dass die neuen Frauenbewegungen in den 1970er Jahren aktiv wurden, auf die Straßen gingen und die öffentliche Diskussion beeinflussten. Auf diese Welle folge dann eine Phase der institutionellen Integration: Die Parteien, Verbände und Verwaltung öffneten sich für Frauenpolitik. Ab den 1990er Jahren wird ein Rückgang angenommen und die Frauenbewegung immer wieder totgesagt. Abbildung: Die Entwicklung der Ereignisse in den Feldern: Sexualität; Gesundheit und Körper; sexuelle Gewalt und Politik und Demokratisierung. 110 100 90
Ereignisse
80 70 60 50 40 30 20 10 0 1977 1979 1981 1983 1985 1987 1989 1991 1993 1995 1997 1999 Jahre Sexuelle Autonomie; Selbsterfahrung; Körper; Frauengesundheitsbewegung Frau und Politik; Parteifrauen; Demokratie; Gleichstellungspolitik Gewaltbeziehungen; Frauenhäuser; Sexueller Missbrauch
Quelle: Lenz 2004: 24
Die erste Auswertung einer Ereignisdatenbank der Neuen Frauenbewegung (vgl. Lenz 2004) ergibt demgegenüber überraschende Ergebnisse: Auf die ersten Aufbrüche in den 1970ern folgen weitere Mobilisierungen, die nun Frauen in Kirche, Schule, Gewerkschaft, Parteien und Wirtschaft ansprechen. Das Niveau der Mobilisierung steigt in den 1980ern und nochmals um 1990-
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1995 deutlich an. Zugleich zeigt sich, dass sich autonome Netzwerke v.a. in den 1970er und frühen 1980er Jahren herausbilden und sich ab 1980 die institutionalisierte Frauenbewegung in Parteien, Verbänden und Kirchen ausweitet. Aber autonome und institutionelle Gruppen und Netzwerke bleiben vital und mischen sich um die Vereinigung nach 1990 heftig ein, engagieren sich 1994 sogar in einem nationalen ‚Frauenstreik‘ gegen deren negative Auswirkungen auf Frauen. Diese Dynamik hängt v.a. von drei Faktoren ab: 1. Bedeutung der Thematisierungen: Können Themen wie die Frage des gesetzlichen Abtreibungsverbots, der sexuellen Gewalt oder der Ungleichheit in Beruf und Politik die TrägerInnen der Frauenbewegung motivieren aktiv zu werden und sich einzusetzen? Beziehen sie sich auf wesentliche Werte der Moderne wie Freiheit und Selbstbestimmung, Gleichheit, Gerechtigkeit oder Solidarität und konkretisieren sie sie für die Beteiligten? In welcher Form werden diese Themen von der Öffentlichkeit, den Medien und den Institutionen aufgenommen? Welche Reaktionen und Veränderungen werden kurz- und mittelfristig ausgelöst und wie wirken sie auf die Bewegung zurück? 2. Organisationsfähigkeit der neuen Frauenbewegungen in diesen Feldern: Inwiefern sind die TrägerInnen motiviert, sich zu diesen Fragen zu organisieren? Welche Mobilisierungsfähigkeit haben diese Organisationen, d.h. welche Ressourcen (Geld, Zeit, Öffentlichkeit) können sie beschaffen und wen können sie ansprechen und einbeziehen? Gerade die Kleingruppen und Netzwerke der neuen Frauenbewegungen bildeten in den 1970er Jahren eine neue effektive Form außerhalb der hierarchischen Verbände. 3. Gelegenheitsstruktur im politischen System und den sozialen Verbänden: Inwiefern gelingt es den Frauenbewegungen, Bündnispartner im politischen System und bei sozialen Interessengruppen, bei Parteien und Verbänden zu finden? Dabei sind sowohl die nationalen als auch die internationalen Ebenen wichtig. Denn die neuen Frauenbewegungen konnten sich auf die umfassende Erweiterung der Chancenstruktur durch die UN-Dekaden der Frau beziehen und bildeten rasch internationale Netzwerke heraus, um diese neuen Arenen zu nutzen. Die Neuen Frauenbewegungen durchliefen mehrere Phasen, die dadurch abzugrenzen sind, dass sie sich in ihren Thematisierungen, in ihren Organisationen oder in ihrer Trägerschaft grundlegend veränderten (vgl. Lenz 2008). Für die Entwicklung der Neuen Frauenbewegungen in Deutschland lassen sich als Hypothese drei Phasen festhalten: Bewusstwerdungs- und Artikulationsphase (1968-1976), Phase der thematischen Differenzierung, Projektbildung und institutionellen Integration (1976-1988) und die Phase der Internationalisierung und Neuorientierung (1989-2000) (vgl. Lenz 2004).
Die Bewusstwerdungs- und Artikulationsphase (1968-1976) Die Neue Frauenbewegung formierte sich auch in Deutschland im Zusammenhang der großen antiautoritären StudentInnen- und Jugendbewegung nach 1965. Insbesondere Zirkel von sozialistischen Studentinnen begannen die ersten Diskussionen und Aktionen. Sie hatten durch die ‚Bildungsrevolution‘ und die StudentInnenbewegung einen gestiegenen Anspruch auf gesellschaftliche Partizipation und individuelle Selbstbestimmung. Aber sie fanden sich mit einer kollektiven Unterordnung und Fremdbestimmung als ‚Geschlechtswesen Frau‘ konfrontiert, die den Alltag, sowie konservative und ‚progressive‘ politische Richtungen prägten. Eine Massenbewegung, die über die ersten feministischen Diskussionsgruppen hinausging, formierte sich 1971 in dem Protest gegen den § 218 (vgl. Schultz 2002). Daraus entstanden zahlreiche regionale Netzwerke und Gruppen, die in Bildungseinrichtungen, in Verbänden wie Kirchen und Gewerkschaften feministisch aktiv wurden. Die Trägerschichten hatten sich differenziert und ausgeweitet: Berufstätige Frauen (auch aus dem Medienoder dem Bildungssektor), Hausfrauen, Mütter, Studentinnen trafen sich in den neuen Zentren
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und tauschten sich aus. Männer waren in ersten Ansätzen Ende der 1960er Jahre beteiligt, doch führten Erfahrungen mit dem teils autoritären Politikstil von Männern der Neuen Linken mehrheitlich zur Selbstorganisation ‚als Frauen‘. Leitend war der Ansatz der Selbsterfahrung oder Bewusstseinsbildung (consciousness raising), der ca. 1972 aus der Womens' Lib-Bewegung aus den USA kam. Die internationalen Einflüsse aus den USA, Westeuropa und der Dritten Welt und die ersten Bewegungstexte waren mit den Ergebnissen der Selbsterfahrungsgruppen verwoben. Sie entstanden also in einer neuen Öffentlichkeit, die zugleich durch globale Wahrnehmung und faceto-face-Kommunikation in Kleingruppen geprägt war. Die Verbindung von individueller partizipativer Bewusstseinsbildung und gleichheitlicher Netzwerkorganisation prägte Politikstil und Bildungsformen der Neuen Frauenbewegung. Bei allen Defiziten erwies sie sich als offenes und attraktives Forum der ‚politischen Bildung‘ für mehrere Frauengenerationen, die so Erfahrungen in gesellschaftspolitischer Aktivität sammelten und die bisherige politische Ausgrenzung von ‚ganz normalen Frauen‘ überwinden konnten.
Die Phase der thematischen Differenzierung, Projektbildung und institutionellen Integration (1976-1988) Die Frauengruppen und ihre neuen kommunikativen Netzwerke differenzierten sich nach 1975 nach Richtungen, Themen und Praxisfeldern. Es formierten sich eine Reihe von Frauenprojekten zunächst in den Bereichen Gesundheit/Körper/Sexualität, Gewalt gegen Frauen, Frauenkultur und Bildung. Sie waren spezialisierte, aber flexible und in der Frauenöffentlichkeit verankerte Organisationen, die einzelne Fragen bearbeiteten (vgl. Brückner 2000). Bis Mitte oder Ende der 1970er Jahre bildete sich in Deutschland rasch eine lange wirkende Struktur des feministischen Denkens heraus (vgl. ausführlich Lenz 2001): Das Geschlechterverhältnis in der Moderne sei durch ungleiche Arbeitsteilung und Gewalt gekennzeichnet. Durch die Ideologie der Privatheit und der natürlichen Geschlechterrollen sei die Geschlechterherrschaft in Lebenswelt, Medien und Wissenschaft legitimiert worden. Die Frauenunterdrückung sei also ein grundlegender Widerspruch moderner Gesellschaften; sie müsse allerdings mit anderen Spaltungen nach Klasse und Ethnie und mit der Ausbeutung der Natur vermittelt werden.
Internationalisierung und Neuorientierung (1989-2000) Die deutsche Vereinigung einerseits und die zunehmende Globalisierung andererseits haben neue Mobilisierungswellen der Neuen Frauenbewegungen ab 1990 begünstigt. Die Ereignisse der Frauenbewegungen vervielfachte sich plötzlich nach 1990; am höchsten steigt die Kurve im Feld Politik und Demokratisierung, aber auch im Feld Sexualität, Gesundheit und Körper findet eine rasche Zunahme statt; die Ereignisse im Feld sexuelle Gewalt steigen ebenfalls an, aber liegen an dritter Stelle darunter (vgl. Abb.). Die Neuen Frauenbewegungen reagieren einerseits auf die Veränderung der politischen Gelegenheitsstruktur in der deutschen Vereinigung: Die Transformation in Ostdeutschland erforderte angesichts der paternalistischen Gleichstellung in der DDR neue geschlechterpolitische Verhandlungen, in die sich die Frauenbewegungen in Ost- und Westdeutschland intensiv einmischten. Andererseits brachte die Internationalisierung der Geschlechterpolitik insbesondere im Zusammenhang mit den UN-Dekaden der Frau eine Erweiterung der internationalen politischen Gelegenheitsstruktur. Die IV. Weltfrauenkonferenz 1995 in Peking verabschiedete eine Aktionsplattform mit weitreichenden zukunftsorientierten Maßnahmen in zwölf zentralen Bereichen (u.a. Bildung, Arbeit, sexuelle Gewalt, Mädchen, Armutsbekämpfung, Ökologie, politische Par-
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tizipation, vgl. UN 1996, Wichterich 2000). Sie kann als transnationale Charta der Frauen- und Menschenrechte gelesen werden. Doch die Frauenbewegungen thematisierten auch die Zunahme internationaler Menschenrechtsverletzungen gerade im Feld von Sexualität und Körpern, wie die Ausweitung des Frauenhandels aus der Dritten Welt und Osteuropa und die systematischen Vergewaltigungen in bewaffneten Konflikten wie in Jugoslawien und Ruanda. Die nach 1990 ansteigenden Mobilisierungswellen konnten sich auf das ‚samtene Dreieck‘ von Frauenbewegungen, Gleichstellungspolitikerinnen und WissenschaftlerInnen stützen, das sich seit 1980 herausbildete: Der neu gegründete Unabhängige Frauenverband in Ostdeutschland formulierte ein frauenpolitisches Programm, das die widersprüchlichen Erfahrungen der Emanzipation in der DDR mit aufnahm. Westdeutsche Frauennetzwerke brachten ihre Perspektiven in die Vereinigung ein. Mit diesen Netzwerken in Ost und West kooperierten die PolitikerInnen und ‚Gleichstellungsfeministinnen‘, die nun öffentliche und Entscheidungspositionen gewonnen hatten. In dieser Konstellation wurden zentrale Themen der Neuen Frauenbewegungen in die Politik und politische Öffentlichkeit eingebracht. In dieser dritten Phase der Neuen Frauenbewegungen kann man also von einer Reifezeit sprechen, in der die institutionelle Frauenbewegung eine führende Rolle erhält und die Ernte rechtlicher Reformen eingefahren wird: die Gleichstellung als Staatsaufgabe in der Verfassung 1994, Verbesserung des Aufenthaltsschutzes für misshandelte Migrantinnen 1993, Vergewaltigung in der Ehe als Straftat 1997, Lebenspartnerschaftsgesetz 2001, Gewaltschutzgesetz 2002, Gesetz zur Verbesserung der rechtlichen und sozialen Situation der Prostituierten um 2002. Wenn damit die Geschlechterungleichheit auch keineswegs aufgehoben ist, haben sich doch ihre Kontexte grundlegend verändert. Die Diskussionen um die soziale Konstruktion von Geschlecht und die Kritik der Zweigeschlechtlichkeit in der Frauenforschung wirkten auch auf die Frauenbewegungen ein. In der Sexualitätsdebatte griff die Queer Theory aus den USA die feministischen politischen Konzepte an, die auf sexuellen Identitäten wie Lesbianismus eine stabile Identität als Grundlage gemeinsamen politischen Handelns aufbauen wollten. Sie thematisierten die fluiden Formen des Begehrens in einem flexiblen Queer-Spektrum. Während die vorige Bewegung die gemeinsame sexuelle Identität zur Grundlage der Mobilisierung machte, fordern die Queer-Ansätze Gleichheit aufgrund eines inklusiven Ansatzes von Bürgerschaft (citizenship). Diese neue demokratietheoretische Begründung durch umfassende soziale, ökonomische und politische BürgerInnenrechte will auch andere unterdrückte Gruppen einbeziehen – unter allen Gendergruppen und Einheimischen wie MigrantInnnen – und bildet also einen Ausgangspunkt für eine offene Bündnispolitik (vgl. Beger 2000, Hark 1996). Die dekonstruktivistischen Ansätze, die wie Judith Butler die Formierung der Körper auf Diskurse und Sprache zurückführen, wirken auf eine Verflüssigung von Geschlecht und Körpern hin. Geschlecht wird tendenziell von einer dualen Naturgegebenheit zu einer letztlich wandelbaren und gestaltbaren Pluralität. Nicht mehr Anerkennung von Verschiedenheit sondern gender-free, die Aufhebung des Geschlechtes als kollektive Zwangszuschreibung, wird an den Horizont geschrieben. Vor allem die institutionalisierte Frauenbewegung und die Frauenforschung reagierte auf den Wandel des Wohlfahrtsstaats in der Globalisierung, auf den sich die Neue Frauenbewegung der 1970er und 1980er Jahre bezogen hatte. Neue Steuerungsmodelle und der „aktivierende Staat“ setzen weniger auf zentrale rechtliche oder bürokratische Vorgaben als auf Anreize und Sanktionen, die dezentral wirken sollen. Damit wird auch Gleichstellung flexibilisiert und tendenziell zur permanenten Verhandlungssache. Der Ansatz der Geschlechterdemokratie will ein feministisches Zukunftskonzept entwerfen, das Frauen und Männer anspricht und mobilisieren kann. Es verbindet Gleichstellung mit einer generellen gesellschaftlichen Demokratisierung und gibt Ansatzpunkte für Bündnisse zwischen Frauen und Männern, die für Gleichheit eintreten. Die Trägerinnen der Neuen Frauenbewegungen haben berufliche und institutionelle Positionen erworben und sie sind in die Jahre gekommen. Aber der institutionelle Erfolg lässt die „Frauenfrage“ als selbstverständlich erscheinen und sie wird weniger mit kritischem Potenzial und eigenständigen Aufbrüchen verbunden. Jüngere Frauen betonen die Notwendigkeit, unter
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veränderten Rahmenbedingungen Feminismus und Frauenbewegung für sich neu zu definieren (vgl. Weingarten/Wellershof 1999). Da sie unter erneutem Druck stehen, Karriere und Kinder in einem ‚Modell schwereloser Emanzipation‘ (Ursula Müller) individuell zu kombinieren, spielt die Vereinbarkeitsfrage eine neue zentrale Rolle. Die institutionelle Integration bedeutet auch, dass Frauenbewegung weniger auf der Straße stattfindet als in zahlreichen dezentralen Veranstaltungen, Verhandlungen und Veränderungen in kleinen oder großen Schritten. Das Fehlen einer übergreifenden feministischen Öffentlichkeit, in der Kontroversen ausgetragen und Strategien entwickelt werden könnten, erweist sich als großes Defizit. Kurz gesagt: Es geschieht sehr viel, aber niemand weiß das noch. Die Frauenbewegungen stehen vor einer Reihe grundlegender Probleme: 1. die Rolle der jüngeren Generation, 2. der Einbezug und das Bündnis mit Männern, das auf der Grundlage von Konzepten wie Geschlechterdemokratie oder gemeinsamer Emanzipation angestrebt wird, 3. die Globalisierung und Regionalisierung von Politik und die Weiterentwicklung globaler feministischer Strategien, 4. die gestiegene Bedeutung von Kriegen, ethnischen Konflikten und Fundamentalismus, die mit männlichen Machtansprüchen und einer Stärkung der hegemonialen Männlichkeit verbunden sind, 5. die Herstellung von Öffentlichkeiten in den Frauenbewegungen, die auf die globale und nationale Öffentlichkeit einwirken können und 6. die Durchsetzung des institutionellen Wandels in Fragen wie Vereinbarkeit und öffentliche Kinderbetreuung, Gleichheit im Beruf und in der Politik und Anerkennung der Frauen- und Menschenrechte weltweit. Verweise: Arbeit FrauenMenschenrechte Frauennetzwerke Frauenprojekte Lesbenbewegung Migrantinnenorganisationen Mittäterschaft Recht Sexualität
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Stephanie Bock
Frauennetzwerke: Geschlechterpolitische Strategie oder exklusive Expertinnennetze?
Definition Seit Mitte der 1980er Jahre herrscht Hochkonjunktur für Netzwerke sowohl in der lokalen, regionalen, nationalen als auch in der internationalen Politik. Dies zeigt sich auch in der zunehmenden Bedeutung von Frauennetzwerken als politische Bündnisstrukturen, die nicht nur geografische Grenzen sondern auch politische, soziale und kulturelle Differenzen überwinden. Die seit Mitte der 1990er Jahre feststellbare quantitative Zunahme von Frauennetzwerken geht einher mit ihrer themenspezifischen Spezialisierung und führt zu einer großen Bandbreite von Organisationsformen und -bezeichnungen (vgl. Maurer 1996, Ruf 1998). Frauennetzwerke sind eine Ausprägung von Politiknetzwerken, die auf der Basis informeller Beziehungen neue Verbindungen zwischen Individuen, Gruppen, Organisationen und Institutionen herstellen. Trotz ihrer Vielfalt können sie anhand dreier Merkmale definiert und von anderen Organisationsformen abgegrenzt werden: Netzwerke werden erstens von spezifischen AkteurInnen (Knoten) gebildet, zwischen denen sich zweitens besondere Beziehungen entwickeln. Die als drittes Merkmal bedeutsame jeweilige Grenze des Netzwerks bestimmt sich aus dem Politikprozess, der behandelten Thematik oder anderen festgelegten Zugangskriterien. Daraus leitet sich eine weder geschlossene noch unbegrenzte Zugänglichkeit von Netzwerken ab. Frauennetzwerke beruhen demnach auf freiwilliger Kooperation frauen- und geschlechterpolitischer Akteurinnen, die lockere und dennoch miteinander verbundene Beziehungsstrukturen aufbauen. Frauennetzwerke überbrücken, so zumindest der Anspruch, weltanschauliche und soziale Unterschiede. Diese Differenzen begründen sich sowohl aus unterschiedlichen Identitätskonzepten als auch aus verschiedenen (frauen-)politischen Orientierungen. Die beteiligten Akteurinnen engagieren sich entweder beruflich oder privat, bezahlt oder unbezahlt, professionell oder als Laiinnen. Inhaltlich strategisch agieren Frauennetzwerke auf der Grundlage eines frauenpolitischen Politikverständnisses. Dazu dient ihnen als „starke“ Bindung eine gemeinsame frauenpolitische Orientierung. Als politische Bündnisse greifen sie spezifische Themen auf und verfolgen frauen- und geschlechterpolitische Ziele. Frauennetzwerke sind gleichzeitig soziale Netze, die in ihrer sozialen Dimension den Aufbau anerkennender, wertschätzender und emotionaler Beziehungen ermöglichen und fördern. Diese in der Netzwerkforschung als „schwache Bindungen“ definierten Beziehungen (Granovetter 1982) bilden gleichzeitig die Basis informeller Vernetzungsstrukturen. Stärken und Schwächen politischer Netzwerke, nicht nur von Frauen, resultieren aus den sich überschneidenden Erwartungen an eine soziale (nach innen gerichtet) und an eine politisch strategische Vernetzung (nach außen gerichtet). Diese Überlagerung grenzt politische Frauennetzwerke auf der einen Seite von sozialen Netzwerken ab, deren Ziele sich aus den individuellen Orientierungen der Akteurinnen ableiten. Auf der anderen Seite verschiebt sich die Zielformulierung politischer Bündnisse stärker in Richtung gesellschaftspolitischer Ziele und einer Außenperspektive (vgl. Abb.). Auffallend ist eine uneingeschränkt positive Einschätzung der in Netzwerken ausgebildeten offenen Beziehungsstrukturen. Dies betrifft sowohl die Bedeutung sozial unterstützend wirken-
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der Vernetzungen als auch die politische Durchsetzungsfähigkeit vernetzter Organisationsstrukturen. Dabei steht einer positiven Bewertung von Netzwerken als Kooperations- und Bündnisform ihre nicht zu vernachlässigende Bedeutung als informelle Klüngel und machtpolitische Seilschaften gegenüber.
Überblick über unterschiedliche Netzwerkformen Soziales Netzwerk
Politisches Frauennetzwerk
Politisches Bündnis
Interessen
Individuelle Unterstützung
Individuelle Unterstützung und gesellschafts-politische Ziele
Gesellschafts-politische Ziele
Zielsetzung
Unterstützung und Verbesserung der persönlichen Situation
Verbesserung der persönlichen Situation und der gesellschaftlichen Situation von Frauen
Verbesserung der gesellschaftlichen Situation von Frauen
Beziehung
Persönlich-emotionales Beziehungsnetz
Persönlich-emotionales und strategisches Beziehungsnetz
Strategisches Beziehungsnetz
Zielrichtung
Innenwirkung
Innen- und Außenwirkung
Außenwirkung
Themen
Persönliche Themen
Berufs- und politikorientiert
Politikorientiert
Zeitrahmen
Zeitlich unbefristet
Zeitlich unbefristet
Zeitlich befristet
Quelle: Bock 2002
Frauennetzwerke im Kontext der Frauenbewegung: Von der Schwesterlichkeit zur Differenz in Netzwerken Politische Kooperationsformen und -modelle von Frauen stehen in einem Bezug zur Geschichte der Frauenbewegung und den dort entwickelten und im Laufe der Jahrzehnte veränderten Formen der Zusammenarbeit und ihren politischen Strategien. Der Wandel von „schwesterlich“ verbundenen, auf Gemeinsamkeiten beruhenden Beziehungen hin zur Betonung der Differenzen untereinander veränderte die Kooperationsformen. Mit der Abkehr von dem Postulat „Wir Frauen“ und einem zunächst zaghaften Infragestellen einer „weiblichen Identität“ wurde der Diskurs um kulturelle Differenzen und multiple Machtverhältnisse bedeutsam. Die zunehmende Bewusstwerdung, Sichtbarmachung und Thematisierung dieser Differenzen vor allem durch die Kritik der bisher nicht Mitgedachten legte die Gleichzeitigkeit und Überschneidungen verschiedener Erfahrungen, Positionen und Entwürfe offen. Solidarität trat zunehmend an die Stelle gemeinsamer Betroffenheit, locker geknüpfte Netzwerke ersetzten enge verbindliche Kooperationen. Diese offen und flexibel konzipierten Formen der Zusammenarbeit weisen eine Perspektive des undogmatischen Miteinanders auf. Sie werden mit der Chance verbunden, vorhandene Differenzen (unter Frauen) offenzulegen und dennoch weiterhin gemeinsam politisch zu agieren. Kennzeichnend für Vernetzungen unter Frauen ist nicht eine Verneinung der Gemeinsamkeit, sondern eine Bejahung der Unterschiede (vgl. Ruf 1998: 77). Hieran knüpfen Überlegungen zu zukünftigen Formen feministischer Bündnispolitik als einer Strategie gesellschaftlicher Demokratisierung und praktischer Herrschaftskritik an: „All diese Überlegungen zu feministischen Netzwerken, Bündnissen und Koalitionen rufen, gleichsam als Hintergrund oder Untergrund, die Frage nach den Vorstellungen einer demokratischen Gesellschaft hervor“ (Holland-Cunz 1996: 9).
Nicht zu vernachlässigen ist mittlerweile die Bedeutung von Informationstechnologien für die Bildung politischer und berufbezogener Frauen-Netzwerke. „Dass die Computervernetzung wichtige Potenziale gerade für dezentrale und internationale Zusammenschlüsse auch von Frau-
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Stephanie Bock
en birgt und ein wichtiges Element des Informationsaustausches darstellen sollte, scheint insbesondere für Akteurinnen in wissenschaftlichen sowie in politikbezogenen Handlungsfeldern selbstverständlich geworden zu sein“ (Paulitz 2004: 194).
Vernetzung als feministische Bündnispolitik Das wissenschaftliche Interesse an frauenpolitischen Netzwerken wächst vor allem im Kontext einer Beschäftigung mit institutionalisierten Formen der Frauen- und Geschlechterpolitik auf der nationalen und internationalen Ebene (u.a. Lenz/Schwenken 2001, Chen 2001). Zurückgegriffen wird auf politikwissenschaftliche Netzwerkkonzepte, mit denen komplexe Beziehungen und Interaktionen zwischen einer Vielzahl von AkteurInnen in Politikfeldern beschrieben werden, um die qualitativen Veränderungen politischer Entscheidungsprozesse zu erfassen (vgl. Héritier 1993, Mayntz 1993, Messner 1995). Das Miteinander-Agieren in Netzwerken, die Kooperation verschiedener institutioneller und individueller Akteurinnen und die Konstitution der Netzwerke als kollektive Akteure sind dabei nur am Rande im Blick feministischer Forschung, die sich bisher auf Untersuchungen einzelner Gruppen (Kommunalpolitikerinnen, Gleichstellungsbeauftragte etc.) konzentriert. Eine Ausnahme bilden einzelne Studien zu politischen Netzwerkstrukturen von Frauen. So befassen sich Iris Bednarz-Braun und Kirsten Bruhns (1995) mit Kooperationsformen von kommunalen Frauenbeauftragten, Gewerkschafterinnen und Personalvertretungen. Auch wenn sie nicht Netzwerke im engeren Sinne, sondern bilaterale kommunale Kooperationen untersuchen, liefert ihre Untersuchung wichtige Ergebnisse zur Kooperation unterschiedlicher Berufsgruppen. Die Autorinnen kommen zu dem Ergebnis, dass die Überwindung bestehender Organisationsgrenzen für die Untersuchungsgruppen eine wichtige Rolle spielt. Netzwerkbeziehungen ermöglichen, so ihr Fazit, kommunalen Frauenbeauftragten und Gewerkschafterinnen, ihren Handlungs- und auch Einflussraum zu vergrößern, ohne neue Strukturen aufbauen zu müssen. Kooperationen „bieten zum einen die Chance, Ziele gemeinsam zu diskutieren und zu verfolgen und so die jeweiligen Handlungsmöglichkeiten für eine arbeitnehmerinnenorientierte Frauenpolitik in der Kommune bzw. Region zu erweitern. Zum anderen enthalten sie aber auch das Risiko, über Abgrenzungen und Rivalitäten frauenpolitische Energien zu zersplittern und zu schwächen“ (ebd.: 15). Eine Form der Netzwerke, zu denen im deutschsprachigen Raum Veröffentlichungen vorliegen (wenn auch zumeist populärwissenschaftlich), stellen, als eine im weiteren Sinne politische Vernetzung, berufliche Netzwerke von Frauen dar. In diesen sind spezifische Berufsgruppen (z.B. Juristinnen, Architektinnen, Managerinnen) organisiert. Mit beruflichen Netzwerken beschäftigt sich u.a. Ulla Dicks Handbuch „Netzwerke und Berufsverbände für Frauen“ (1994), das ca. 90 Organisationen vorstellt, ohne diese in ihren jeweiligen Bedeutungen und Reichweiten näher zu fassen. Ähnlich angelegt ist das „Handbuch Frauen-Netzwerke“ (Büchner 1993). Konkrete Hinweise und Tipps für die praktische Arbeit in Frauenprojekten und für eine politische Vernetzung dieser Aktivitäten enthält ein Ratgeber von Lenette Schujit (1995). Schließlich ist auf eine 1998 erstmals herausgegebene CD-ROM zu Frauennetzen zu verweisen, die über „5.000 Adressen und Informationen aus Beruf, Weiterbildung, Politik, Kultur und Frauenbewegung“ enthält und in regelmäßigen Abständen aktualisiert wird (Dickel/Brauckmann 1998). Ein Teil der Literatur zur Karriereförderung von und für Frauen knüpft an spezifische „selbstlose“ Vernetzungskompetenzen von Frauen an. Dabei wird Bezug genommen auf die traditionelle Frauenrolle, die aufbauend auf einer spezifischen Sozialkompetenz die Herstellung und Pflege von Kontakten beinhaltet. „Netzwerke sind für uns Frauen eigentlich gar nichts Neues. Genaugenommen nutzen Frauen schon seit langer Zeit Netzwerkstrukturen, sie nennen sie nur nicht so. Stattdessen werden ihre Aktivitäten
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einfach unter dem Begriff der ‚Nächstenliebe‘ subsumiert, wie sie bisher hauptsächlich Kontakte geknüpft haben, um etwas für andere Menschen zu tun, nicht aber für sich selbst. Dabei sind Frauen für Netzwerke geradezu prädestiniert.“ (Segermann-Peck 1994: 41)
Die hier anklingenden Motive zur Kooperation in Frauennetzwerken, die als „professionelles Networking“ bezeichnet werden können, werden in mehreren empirischen Untersuchungen geklärt. Explizit mit beruflichen Frauennetzwerken beschäftigt sich das Forschungsprojekt „Frauennetzwerke und Solidarität“, das von Petra Frerichs und Heike Wiemer durchgeführt wurde. Sie konzentrieren sich am Beispiel von Frauennetzwerken in der Region Köln auf die Frage nach den Voraussetzungen der Netzwerkbildung und den Formen der in beruflichen Vernetzungen herausgebildeten Solidarität (Frerichs/Wiemer 2002). Eingeschätzt wird der sozialintegrative Stellenwert von Frauennetzwerken vor dem Hintergrund der Vervielfältigung der Lebensformen einerseits und vermehrter Ausgrenzung andererseits. Dazu werden die Entscheidungsgründe für den Aufbau von Netzwerken innerhalb spezifischer Berufsgruppen von Frauen analysiert. Über die Bildung bestimmter Netzwerktypen und -formen werden unterschiedliche Handlungsorientierungen und zu Grunde liegende Ziele und Interessen herausgearbeitet. Die Autorinnen gehen dabei der Frage nach, inwieweit Netzwerke möglicherweise ein „historisch-konkreter Aggregatzustand der Frauenbewegung (von der ‚spontanen‘ Bewegung über die Ausdifferenzierung in Frauenprojekte hin zur Vernetzung)“ sind oder ob es sich bei ihnen eher um eine „Form korporatistischer, eher verbandsförmiger Interessensvertretung“ handelt (Franzke/Frerichs 1998: 91). Die Studie „Vernetze Frauen. Netzwerke als Beitrag zur beruflichen Förderung von Frauen“ verdeutlicht die Ambivalenz beruflicher Netzwerke. Sie tragen zwar in der Einschätzung der Mitwirkenden zur beruflichen Förderung bei, stellen jedoch gleichzeitig äußerst fragile Gebilde dar, die selten in der Lange sind, konfrontative, herausfordernde Prozesse zu gestalten (Goy 2004). Mit regionalen Frauennetzwerken als einer Ausprägung feministischer Bündnisse befasst sich eine weitere Untersuchung, in der am Beispiel von Fallstudien in den Regionen RheinMain, Stuttgart und Südostniedersachsen die Spezifika politischer Frauennetzwerke analysiert werden. Diese werden aus dem Spannungsfeld zwischen Erwartungen an das informelle Beziehungsnetz einerseits und an eine gemeinsame regionalpolitische Strategie andererseits abgeleitet (vgl. Bock 2002). Bezug genommen wird auf eine notwendige Erweiterung und Verknüpfung des sozialen mit dem politischen Netzwerkansatz, da die Konzentration des politikwissenschaftlichen Zugangs auf Aspekte der kollektiven Strategiebildung zu einer Vernachlässigung der Motive einzelner Beteiligter und der Bedeutung des informellen Beziehungsnetzes führt. Die individuellen Zielvorstellungen der einzelnen Netzwerkakteurinnen stellen jedoch einen wichtigen Baustein zur Erklärung der (Miss-)Erfolge von Vernetzungen dar, so dass diese Untersuchung das Modell „Frauennetzwerke“ hinsichtlich ihrer Erfolgschancen auf verschiedenen Ebenen beleuchtet. Eine erweiterte Perspektive nehmen Studien über internationale Frauennetzwerke ein, die sich mit der im Kontext von Globalisierungsprozessen und unterstützt durch die zunehmende Verbreitung neuer Kommunikationstechnologien steigenden Anzahl internationaler Vernetzungen befassen. Aufgebaut werden diese Frauennetzwerke als bewusste Bewegungsstrategie (vgl. Chen 2001). Verbunden mit Erwartungen an die Koordination von Aktionen und einer Stärkung des politischen Einflusses der Frauenbewegungen werden Netzwerke „als die der Globalisierung adäquate Organisationsform betrachtet“ und als „Knochengerüst der internationalen Frauenbewegungen“ bewertet (Wichterich 2000). Yin-Zu Chen hebt in ihrer empirischen Untersuchung eines Frauengesundheitsnetzwerks in Lateinamerika und der Karibik die Bedeutung von Vernetzungen hervor. Gleichzeitig weist sie den Stellenwert netzwerkinterner Veränderungen nach und zeigt, „dass das Handlungspotenzial einer Vernetzung nicht nur von ihren Umweltbedingungen bestimmt ist, sondern auch mit der internen Struktur zusammenhängt“ (Chen 2001: 160).
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Netzwerke statt fester Bündnisse: Ergebnisse empirischer Untersuchungen Die genannten empirischen Untersuchungen weisen nach, dass Frauennetzwerke vielfältigen Anforderungen und Erwartungen gegenüberstehen, die sich auf den ersten Blick auszuschließen scheinen. Als offene Zusammenkunft frauenpolitischer Interessentinnen sollen sie gleichzeitig hoch qualifizierte Ergebnisse produzieren. Ihrer verbindlichen Mitwirkung an möglichst vielen politischen Prozessen steht eine freiwillige und unverbindliche Mitarbeit wechselnder Akteurinnen gegenüber. Flexible, gleichberechtigte und nicht-institutionalisierte Arbeitsstrukturen werden von der Einbindung in Expertenrunden herausgefordert. Die Förderung von Weiterbildung und Informationsaustausch kollidiert mit fehlenden Finanzen und Geschäftsstellen. Die Anforderungen an eine kontinuierliche Weiterentwicklung frauen- und geschlechterpolitischer Inhalte sind mit den offenen oder nur geringfügig institutionalisierten Arbeitsstrukturen nicht zu erfüllen. Inwieweit in diesen widersprüchlichen Anforderungen nicht nur eine Schwäche der Vernetzung, sondern auch ihre Stärke liegt, wird an den Ergebnissen der vorliegenden Studien sichtbar.
Frauennetzwerke als gleichstellungspolitische Strategie Frauennetzwerke verfügen über die Zugangsvoraussetzung „Geschlecht“ und setzen politischstrategisch an Ungleichheit und Diskriminierung an. Als zeitgemäße Form politischer Einmischung formulieren sie frauen- und geschlechterpolitische Zielsetzungen, um gemeinsam Ergebnisse zu erreichen, die individuell oder als einzelne Organisation nicht oder nur schwer realisierbar sind. Maximaler individueller und kollektiver Nutzen gehen in Netzwerken überein. Um dieses fragile Gleichgewicht zwischen Eigeninteressen und gemeinsamer Netzwerkstrategie nicht zu gefährden, bewegen sich die erarbeiteten Inhalte auf einem relativ abstrakten Niveau. Konkrete Anforderungen und politische Interessen Einzelner sollen nicht berührt werden: „Damit ist impliziert, dass zielgerichtete Bündnisse in der Regel nur dort aufgebaut werden, wo von vorneherein entweder ein niedriger Spannungslevel besteht bzw. vermutet wird oder wo aufgrund des großen Interesses an der Zusammenarbeit eine hohe Bereitschaft besteht, Spannungsverhältnisse zu unterdrücken bzw. zu ignorieren.“ (Bednarz-Braun/Bruhns 1995: 62)
Als punktuell, freiwillig und vor allem ohne formale Zugangkriterien eingegangene Bündnisse besteht in Netzwerken im Unterschied zu anderen Kooperationsmodellen die Möglichkeit, aufbrechende Konflikte zu vermeiden. Die professionellen Kontakte und Bindungen sowie die freiwillig eingegangenen Beziehungen erleichtern eine jederzeit mögliche Entscheidung für oder gegen eine Mitarbeit. Hierin unterscheiden sie sich von politischen Bündnissen, die sich zumeist zeitlich befristet und thematisch eng bezogen auf ein definiertes Thema zusammenschließen. Durch die Vielfalt der kooperierenden Expertinnen und ihre differenten Zugänge zu frauenpolitischen Fragestellungen zeigt sich zudem, dass in Frauennetzwerken keine einheitliche Frauenund Geschlechterpolitik verfolgt werden kann, sondern von Politiken gesprochen werden muss (vgl. Bock 2002, Frerichs/Wiemert 2002). Dabei bieten Frauennetzwerke auf Grund ihrer inhaltlichen Offenheit und Unbestimmtheit keinen Ersatz für eine institutionalisierte Frauen- und Geschlechterpolitik, sondern stellen vielmehr eine notwendige Ergänzung dar.
Frauennetzwerke als „Seilschaften“ und „Klüngel“ Wesentliche Merkmale der Kooperation in politischen Frauennetzwerken sind Reziprozität, Austausch und Solidarität. Frauennetzwerke können dabei als machtpolitische Instrumente eine
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Antwort auf männerbündische Seilschaften sein und als Reaktion auf korporatistische Strukturen interpretiert werden. In jüngerer Zeit zeichnen sich bezüglich einer zurückhaltenden oder ablehnenden Bewertung informeller „Seilschaften“ Veränderungen ab, die an dem Wandel des Umgangs mit „Klüngeln“ und „Seilschaften bilden“ in der Ratgeberliteratur für Frauen sichtbar werden (vgl. Hausladen/Laufenberg 2000). Die an „Männerbünden“ geübte Kritik des Undemokratischen verschiebt sich mit Blick auf die erwarteten Vorteile informeller Vernetzungen: „Klüngeln – so wie wir es verstehen und verstanden haben wollen – ist ein feines Netzwerk, eine kluge Verknüpfung von Kompetenzen, Möglichkeiten und Verbindungen“ (Hausladen/Laufenberg 2000: 21).
Das bedeutet, dass Vernetzung nicht nur auf den Aufbau eines Rahmenwerks gegenseitiger Unterstützung und Ermutigung zielt, sondern von den beteiligten institutionellen oder individuellen Akteurinnen direkte Vorteile wie Positionsverbesserungen und Statusgewinn erwartet werden. Diesen berufs- und karriereorientierten Charakter der Netzwerke weisen einzelne Untersuchungen nach (vgl. Bock 2002, Frerichs/Wiemert 2002). Individuelle Interessen werden durch punktuelle Kooperationen in ein gemeinsames Ziel überführt oder durch die Unterstützung des Netzwerks forciert. Diese Bedeutung der Vernetzung ist eine besondere Erfolgsdimension von Frauennetzwerken, die von und nach außen kaum sichtbar wird. Innerhalb von Netzwerken wirken spezifische Machtkonstellationen, so dass von der Dynamik ungleicher Handlungsmacht gesprochen werden muss. Angesichts der Ergebnisse empirischer Studien zu Arbeitsstrukturen und Kooperationsformen von Frauen, die auf den Stellenwert von Konkurrenzen, Hierarchien und von unterschiedlichen Machtpositionen hinweisen (vgl. Koppert/Lindberg 1993, Modelmog/Gräßel 1995), erstaunt dieses Ergebnis kaum. Macht und Hierarchie werden bedeutsam bei Kooperationen von Akteurinnen, die über unterschiedliche Ressourcen verfügen (vgl. Chen 2001). Ausgegangen werden kann demnach von einer Gleichzeitigkeit horizontaler und vertikaler Beziehungsstrukturen und einer Einbettung von Netzwerkbeziehungen in ein möglicherweise asymmetrisches Macht- und Abhängigkeitsgefüge. Dies deckt sich mit den Ergebnissen von Frerichs: „Ein Knotenpunkt zu sein bzw. Knotenpunkte im Netz zu haben, setzt nicht zwangsläufig Hierarchie voraus, wohl aber Differenz und (Macht-)Ungleichheit.“ (Frerichs 2000: 124)
Netzwerkbeziehungen sind demnach nicht mit harmonischen, hierarchiefreien und durchgängig horizontalen Beziehungen gleichzusetzen. Vielmehr zeigt sich in Abhängigkeit der Ressourcen und des sozialen Kapitals ein Geflecht unterschiedlich machtvoller und einflussreicher Knoten. Ob unflexible und hierarchische Vernetzungsformen die Problemlösungskapazität der Netzwerke einschränken (vgl. Chen 2001), kann bisher nicht eindeutig beantwortet werden.
Frauennetzwerke als neue feministische Bündnisse Für Frauennetzwerke als eine Weiterentwicklung der Organisationsformen der Frauenbewegung spricht die zunehmende Thematisierung und Sichtbarmachung der Differenzen unter Frauen – hier vor allem bezogen auf die ausgebildeten (frauen-)politischen Positionen – und der Versuch, Foren der Diskussion aber auch der Kooperation zu entwickeln, die diese nicht beseitigen. Frauennetzwerke bauen Verbindungen zwischen Akteurinnen aus Frauenprojekten und Vertreterinnen der institutionalisierten Frauenpolitik auf und bieten gegenseitige Kontaktmöglichkeiten. Dabei kommt den Differenzen zwischen den Netzwerkbeteiligten in der Wertschätzung des aufgebauten Beziehungsnetzes erhebliche Bedeutung zu und hebt diese Organisationsform von anderen ab (vgl. Ruf 1998). Diese Offenheit für „Andere“ wird gefördert durch die lockere Kooperationsstruktur. Das „Netzwerken“ bedeutet demnach, Unterschiede auszuhalten und zu akzeptieren. Wie schwierig dieser Anspruch umsetzbar ist, weist die Untersuchung zu „Weiblichen Zusammenschlüssen – Zwischen Solidarität und Interessehandeln“ nach (Hack/Liebold 2004). Nachgegan-
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gen wurde der Frage, weshalb sich Frauen aktuell und immer noch interessen- und themenbezogen zusammenschließen. Gemeinsamer Nenner, so ein Ergebnis, wird unreflektiert in der Geschlechtlichkeit bzw. Geschlechtszuweisung gesehen, die jedoch gleichzeitig wieder diversifizierend aufgebrochen werden muss. Nicht aufgelöst werden kann das Dilemma zwischen einerseits unterstellter Gleichheit und andererseits der Unzuverlässigkeit der Kategorie Geschlecht als genügend aussagekräftiges Distinktionsmerkmal. Mit hohem Aufwand wird deshalb „Gleichheit qua Geschlecht“ hergestellt, wenn Differenzen offensichtlich werden und Konflikte aufbrechen. Frauennetzwerke vereinen Aspekte beruflicher Netzwerke und strategisch frauenpolitischer Bündnisse. Dies führt zu einer kontextabhängigen Form politischer Partizipation und Kooperation, vor allem motiviert durch den Stellenwert eigener beruflicher oder politischer Interessen. Im Unterschied zu diesen beiden verfolgen Netzwerkakteurinnen zwei Ziele: ihre eigenen beruflich motivierten Interessen und die Veränderung der gesellschaftlichen Situation von Frauen verbunden mit einer Erweiterung des Einflusses von Frauen. Es zeigt sich, dass das Potenzial von Vernetzungen, Kommunikation zu initiieren und zu fördern und dabei dogmatische Trennungen und Berührungsängste zu überwinden und konstruktiv zu kooperieren, nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Verabschiedet werden muss dabei aber das gleichzeitig gemeinsam verfolgte und erkämpfte Ziel. Die Zielsetzungen konzentrieren sich nicht auf ein gemeinsames feministisches Projekt, sondern orientieren sich pragmatisch an dem gemeinsamen Austausch von Kontakten und Informationen sowie auf punktuelle Kooperationen. Auf der einen Seite kann so von einem „radikaldemokratischen Projekt“ gesprochen werden, das Räume für eine Neuartikulation von Identitäten und Differenzen eröffnet (Butler 1998: 238). Auf der anderen Seite weisen Netzwerke die Möglichkeit auf, exklusive Netze machtvoller Akteurinnen aufzubauen, in deren Mittelpunkt auf der Grundlage gebündelter Ressourcen die verstärkte Durchsetzung eigener Projekte steht.
Forschungsfragen Die wissenschaftliche Perspektive bei der Beschäftigung mit Frauennetzwerken liegt bisher entweder auf sozial unterstützenden Netzwerkbeziehungen in Nachbarschaft und Familie oder in einer politikwissenschaftlichen Ausrichtung, bei der Fragen der Handlungsfähigkeit und Politikproduktion in Netzwerken im Vordergrund stehen. Einzelne theoretische Reflexionen und empirische Studien zu regionalen, nationalen und internationalen Politiknetzwerken verweisen auf noch offene Fragen und verdeutlichen den weitergehenden Forschungsbedarf. So wird zwar die Bedeutung von Differenzen in einem Konzept von Netzwerken als „offenen Bündnissen“ hervorgehoben, ungeklärt bleibt aber der empirisch feststellbare Widerspruch zwischen einer Vernetzung „Gleicher mit Gleichen“ einerseits, die Frauennetzwerke zu exklusiven Zirkeln einflussreicher Akteurinnen werden lässt, und andererseits dem deutlich artikulierten Anspruch, Netzwerke als Bündnisse differenter Akteurinnen aufzubauen: Worin bestehen die Gemeinsamkeiten und Differenzen der Netzwerkakteurinnen und welche Potenziale können daraus erschlossen werden? Dient bspw. Solidarität in Frauennetzwerken als Integration und Auflösung von Differenzen oder als Brücke von Differenzen? Weitergehende Untersuchungen erfordert auch die schwierige Konstitution der Netzwerke als kollektive Akteure, die sich aus unterschiedlichen Beziehungs- und Kommunikationsmustern zwischen den einzelnen beteiligten Akteurinnen bilden müssen, um vor dem Hintergrund vorhandener Differenzen politisch agieren zu können. Ein weiterer noch offener Aspekt betrifft die Dauerhaftigkeit der Netzwerkstrukturen. Angesichts des „Kommens und Gehens“ von Netzwerken ist bisher ungeklärt, ob es sich bei Netzwerken um einen Übergang zwischen offenen Strukturen und Institutionalisierung oder um ein dauerhaftes Phänomen handelt, das institutionelle Formen wirkungsvoll ergänzt.
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Noch wichtiger erscheint das Defizit politikwissenschaftlicher Forschung hinsichtlich der Bedeutung von Netzwerken nicht nur als Kooperationsformen sondern als Organisationsformen, die im Kontext von Macht, Hierarchie und Exklusion zu betrachten sind. Deutlich ablesbar ist vor allem der Forschungsbedarf, der sich stärker mit den „Schattenseiten“ und damit der empirischen Realität von Netzwerken befasst. Verweise: Frauenbewegungen Frauenprojekte Netzwerkforschung
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aber. Frauen als Gleiche, Frauen als Verschiedene. Perspektiven feministischer Bündnispolitik. Frauenkongreß. Hannover, S. 60-70 Mayntz, Renate 1993: Policy-Netzwerke und die Logik von Verhandlungssystemen. In: Héritier, Adrienne (Hrsg.): Policy-Analyse. Elemente der Kritik und Perspektiven der Neuorientierung, Sonderheft der Politischen Vierteljahresschrift. Opladen: Leske + Budrich, S. 39-56 Messner, Dirk 1995: Die Netzwerkgesellschaft. Wirtschaftliche Entwicklung und internationale Wettbewerbsfähigkeit als Probleme gesellschaftlicher Steuerung. Köln: Weltforum Modelmog, Ilse/Ulrike Gräßel (Hrsg.) 1995: Konkurrenz & Kooperation: Frauen im Zwiespalt? Münster: LIT Paulitz, Tanja 2004: Das Ich als dezentrierte Verweisstruktur. Zu Subjetivitätsentwürfen in der computervermittelten, internationalen Frauenvernetzung. In: Feltz, Nina/Julia Koppke (Hrsg.): netzwerke. formen, wissen. Vernetzungs- und Abgrenzungsdynamiken der Frauen- und Geschlechterforschung. Münster: LIT, S. 194-205 Ruf, Anja 1998: Frauennetzwerke im Spannungsfeld von Globalisierung und Vielfalt. In: Klingbiel, Ruth/ Shalina Randeria (Hrsg.): Globalisierung aus Frauensicht. Bilanzen und Visionen. Bonn: Dietz, S. 66-84 Schujit, Lenette 1995: Frauen organisieren. Ein Handbuch für die praktische Arbeit in Frauenorganisationen und sozialen Frauenberufen. Weinheim, Basel: Beltz Segerman-Peck, Lily M. 1994: Frauen fördern Frauen: Netzwerke und Mentorinnen; ein Leitfaden für den Weg nach oben. Frankfurt/M.: Campus Wichterich, Christa 2000: Strategische Verschwisterung, multiple Feminismen und die Globalisierung von Frauenbewegungen: In: Lenz, Ilse/Michiko Mae/Karin Klose (Hrsg.): Frauenbewegungen weltweit. Aufbrüche; Kontinuitäten; Veränderungen. Opladen: Leske + Budrich, S. 257-280
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Frauenprojekte: Handlungs- und Entwicklungsräume feministischer Frauenbewegungen
Definition Unter dem Begriff „Frauenprojekt“ wird eine selbstorganisierte Einrichtung von und für Frauen verstanden, die im Kontext der Neuen Frauenbewegung ab den 1970er Jahren entstanden ist. Die Schaffung dieser selbst organisierten und „autonomen“ Räume dient vorwiegend einer Realisierung emanzipatorischer Praxis- und Handlungsfelder. Die Frauenprojekte situieren sich vor dem Hintergrund der Grundsätze feministischer Theorie und Praxis in unterschiedlichen Bereichen und arbeiten zu verschiedenen Themenschwerpunkten wie Gewalt, Gesundheit und Körper oder Kultur. Die Entstehungsgeschichte der Frauenprojekte beginnt im deutschsprachigen Raum mit den Frauenzentren als den ersten autonomen und ausschließlich Frauen vorbehaltenen Räumlichkeiten. Seit diesen Anfängen hat sich die Zahl der Frauenprojekte ebenso wie ihr Themenspektrum und ihre Angebotsstruktur vervielfältigt. Die Frauenprojekte sind wesentlicher Bestandteil einer feministischen Öffentlichkeit, die sich meist in größeren Städten etabliert hat.
Geschichte und Genese Der historische Blick zeigt, dass bereits zu Zeiten der Alten Frauenbewegung etliche Frauenvereine und -projekte gegründet wurden. Politische Ziele dieser Frauenvereine waren das Recht auf Bildung, Erwerbsarbeit und freie Berufswahl, das Frauenwahlrecht und die gesellschaftliche Gleichberechtigung von Frauen. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts, hervorgerufen durch neue Notlagen von Frauen, trat allerdings eine sozial und pädagogisch ausgerichtete Frauenarbeit unter dem Vorzeichen der „Mütterlichkeit als Beruf“ (vgl. Sachße 1994) zusehends in den Vordergrund. Nach dem Prinzip der Fürsorge wurden Projekte für Frauen als öffentliche Institutionen der Wohlfahrtspflege eingerichtet (z.B. Mutter-Kind-Heime, Frauenobdächer oder Mädchenheime). Diese Einrichtungen, die teilweise noch heute bestehen, boten Frauen sowohl Schutz als auch Unterstützung. Dennoch waren diese Projekte auch durch die Doppelfunktion von Hilfe und Kontrolle sowie normative Frauenbilder geprägt: „Gefährdete“ oder „gefallene“ Mädchen und Frauen sollten auf den richtigen Weg (zurück) geführt werden. In Abgrenzung zu traditionell hierarchisch strukturierten Frauenprojekten definieren sich die durch die Neue Frauenbewegung entstandenen, feministisch ausgerichteten Frauenprojekte als autonome, egalitäre und geschlechtshomogene Projekte von Frauen für Frauen. Die Neue Frauenbewegung konstituierte sich in Westdeutschland in den späten 1960er Jahren im Zusammenhang mit der Studentenbewegung und entlang einer Kritik an deren Politikverständnis (vgl. Lenz 2008). Die Zeit von 1968 bis 1975 lässt sich deshalb als „Bewusstwerdungsund Artikulationsphase“ (Lenz 2002: 66) beschreiben. Die autonome Frauenbewegung formiert sich nicht nur über die Gründung von autonomen Frauengruppen, öffentlichen Tribunalen und aktionistischen Praktiken wie Demonstrationen gegen den damaligen Abtreibungsparagraphen
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218 (vgl. Dackweiler 1995, Schwarzer 1983), sondern sie beginnt sich in basisdemokratisch aufgebauten Frauenzentren zu organisieren. Diese autonomen Frauenzentren sind die Vorläufer der späteren Frauenprojekte; sie sind die zentralen Orte, in denen sich unterschiedliche Frauengruppen treffen, diskutieren und ihre Aktionen vorbereiten. Die autonomen Frauenzentren wurden v.a. in westdeutschen Großstädten wie München, Berlin, Hamburg oder Frankfurt und in kleineren Universitätsstädten wie Tübingen, Marburg oder Heidelberg gegründet. Die eigentlichen Frauenprojekte entwickelten sich in der Bundesrepublik mit einer ab 1977 verstärkt einsetzenden Gründungswelle als Initiativen, Netzwerke und Vereine „von Frauen für Frauen“ in der „Projekte- und Konsolidierungsphase“ der neuen Frauenbewegung (vgl. Lenz 2002) bzw. der „Phase der feministischen Projekte“ (Nave-Herz 1993: 78ff.). Ab dieser Zeit erweitert sich das Spektrum autonomer Frauenräume erheblich. Es entwickelt sich eine insbesondere in den innenstadtnahen Stadtvierteln der Groß- und Mittelstädte verortete Frauenprojektekultur, die mit ihren vielfältigen Angeboten eine feministisch-urbane (Teil-)Öffentlichkeit herstellt (vgl. Doderer 2003). Diese feministische Frauenöffentlichkeit (vgl. Sturm 1997) konstituiert sich über Projekte im Kulturbereich, wie zum Beispiel Frauenverlage, Frauenzeitschriften, Frauenbuchläden und -vertriebe, Archive zur Frauen- und Lesbenbewegung, Medien-, Film- und Kunstprojekte, Frauenkultur- und Stadtteilzentren bis hin zu Projekten des sozialen Raumes wie beispielsweise Frauencafés und -kneipen, feministische Frauengesundheits- und Therapiezentren, Projekte zum Thema physische und psychische Gewalt gegen Frauen, Notrufe, Selbsthilfegruppen, Beratungsstellen, autonome Frauenhäuser sowie Erwerbs-, Selbsthilfe- und Wohnprojekte (vgl. Becker 2002). Auf dem Land siedelten sich insbesondere Frauenferienhäuser und Frauenbildungszentren (z.B. Zülpich, Charlottenberg) an, während der überwiegende Teil der Frauenprojekte in den großen bis mittleren Städten lokalisiert war. Ende der 1980er und mit den 1990er Jahren differenziert sich die Angebotspalette der Frauenprojekte weiter aus (vgl. FFBIZ 2000): Es kommen beispielsweise Projekte zu neuen Medien, Technikprojekte, Wohnungsbaugenossenschaften, Hotels, Musikprojekte, Sportprojekte, Lesbenberatungsprojekte, Projekte von und für Migrantinnen, Projekte zur beruflichen Weiterbildung und Erwerbsarbeit sowie zahlreiche Netzwerke, auch an Universitäten, hinzu. In dieser Zeit, verstärkt seit 1986 (vgl. Brückner/Rose 2002: 16), werden zudem eigenständige Mädchenprojekte gegründet, die „als kleine Schwester der Frauenbewegung“ (Hörmann/Reinbold 1996) somit eine jüngere Entwicklungsgeschichte aufweisen. Eigenständige Projekte für Mädchen bzw. junge Frauen konzentrieren sich auf Freizeitgestaltung und Lebensplanung oder bieten als Schutzräume insbesondere Hilfe bei sexualisierter Gewalt. Wenngleich die ostdeutsche Frauenbewegung (vgl. Kenawi 1995) einen anderen Verlauf als die westdeutsche genommen hat, formieren sich nach der Wiedervereinigung auch in größeren ostdeutschen Städten, wie z.B. in Leipzig, selbst organisierte Frauenprojekte (vgl. Kahlau 1990). Seit der politischen Wende im Jahr 1989 findet zudem eine Übertragung der Konzepte und Hilfesysteme von West nach Ost statt (vgl. Miethe 2000). Dies trifft auch auf Frauenprojekte zu, so wurde 1990 in Leipzig das erste Frauenhaus in den neuen Bundesländern eröffnet (vgl. Brückner 2002: 98). Mit der Wende mussten Frauen aktiv eine neue „Infrastruktur des Alltags“ schaffen, da Arbeitsplätze vernichtet oder staatliche Einrichtungen wie Kindertageseinrichtungen geschlossen wurden (vgl. Beck-Gernsheim 1994). Zu dieser neuen „Infrastruktur des Alltags“ zählen auch Frauenprojekte, wie Frauenwohnprojekte, Frauen- und Mütterzentren oder Frauenhäuser. Bei der Analyse der Entwicklung der Frauenprojekte ist der Aspekt der Internationalität nicht zu vernachlässigen (vgl. Dackweiler/Schäfer 1999). Der internationale Austausch hat einen erheblichen Einfluss nicht nur auf die Entwicklung und die Diskurse innerhalb der Frauenbewegung im deutschsprachigen Raum, sondern hat gleichermaßen die Gründung diverser Gruppen und Projekte mit beeinflusst. Bereits in den Anfängen der neuen Frauenbewegung in Westdeutschland wurde beispielsweise das Prinzip der „Consciousness-Raising“-Gruppen der USamerikanischen „Women's Liberation Movement“ übernommen ebenso wie die Gründung des ersten Frauenhauses in Europa, hervorgegangen aus dem 1971 gegründeten Londoner Frauen-
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zentrum, die Frauenhausbewegung prägte (vgl. Brückner 2002: 98, Verein Autonome Österreichische Frauenhäuser 2004).
Grundsätze und Konzepte Den autonomen, d.h. außerhalb bestehender institutioneller Organisationen situierten, Frauenprojekten gemeinsam ist eine inhaltliche Ausrichtung an den Grundsätzen feministischer Theorie und Praxis. Diese Grundsätze lassen sich mit folgenden Stichworten zusammenfassen: parteilicher und frauenzentrierter Ansatz, Arbeit von und für Frauen, Selbstbestimmung, Selbsthilfe und Selbstorganisation sowie antihierarchische und basisdemokratische Organisationsformen. Auch die Verschränkung von Öffentlichem und Privatem, von politischem Kampf und alltäglicher Praxis gehören mit zu den Grundsätzen feministischer Frauenprojekte. Diese Grundsätze haben im Laufe der Zeit gewisse Modifikationen erfahren. So haben etliche Frauenprojekte das basisdemokratische Prinzip zugunsten von hierarchischen Organisationsmodellen verabschiedet. Auch das Prinzip der Betroffenheit, ursprünglich ein wichtiges Kriterium für die Legitimation projektbezogenen Handelns, wurde teilweise zugunsten eines höheren Professionalisierungsgrades der aktiven Projektfrauen aufgegeben. Dennoch blieben diese feministischen Grundsätze nicht ohne Folgen auch für nicht autonome Frauenprojekte, die von kirchlichen Trägern, Wohlfahrtsverbänden oder Kommunen getragen werden und die heute teilweise nach den Ansätzen von Parteilichkeit (vgl. Kavemann 1997: 179ff.), Ganzheitlichkeit und Betroffenheit arbeiten. Die bevorzugte formale Organisationsform der Frauenprojekte im deutschsprachigen Raum ist die des gemeinnützigen Vereins. Diese Rechtsform erlaubt und erleichtert den Zugang zu staatlichen oder/und kommunalen Finanzierungsmitteln sowie Förderungen. Die kommunale bzw. staatliche Finanzierung macht neben Mitfrauenbeiträgen, Spenden und sonstigen Einnahmen allerdings meist nur einen geringen Teil der Finanzierung der Projekte aus. Ein Teil insbesondere der im sozialen Bereich arbeitenden Projekte kann sich inzwischen jedoch durch eine überwiegend staatlich-kommunale Förderung finanzieren. Die Inanspruchnahme staatlich-kommunaler Unterstützung („Staatsknete“) war zu Beginn nicht unumstritten, da von den aktiven Frauen ein Verlust des autonomen Status der Frauenprojekte befürchtet wurde. Allerdings wird im Zuge der Diskussionen deutlich, dass Frauenprojekte auf Dauer nur mit einer finanziellen Absicherung aufrechterhalten werden können. Zudem kann die Arbeit in Anbetracht zunehmender Professionalisierungsanforderungen, die intern wie extern an die Frauenprojekte herangetragen werden, nicht mehr länger unbezahlt bleiben. Dies hat in der Folge insbesondere in den sozialarbeitenden, aber auch in anderen Frauenprojekten, zur Einrichtung von festen Erwerbsarbeitsplätzen geführt, da nur so eine kontinuierliche Arbeit, zum Beispiel in Form eines Beratungs- oder auch Kulturangebotes, gewährleistet werden kann (vgl. Simmel-Joachim/Schäfer 2005). Die Forderung nach einer finanziellen Absicherung durch Staat und Kommunen (vgl. Chrysanthou 1993: 100ff.) geht mit einem langwierigen Kampf um öffentliche Mittel einher, der bis heute nicht abgeschlossen ist. Etliche Fraueninitiativen und Frauenprojekte blieben in diesem Kampf auf der Strecke oder bezahlten die Förderung durch die öffentliche Hand mit Planungsunsicherheit sowie einer Abhängigkeit von den jeweiligen parteipolitischen Machtverhältnissen in Gremien, Gemeinderäten oder Ministerien. Die gestiegenen Ansprüche an die Arbeit der Frauenprojekte (u.a. regelmäßige Angebote, Öffnungszeiten, Erreichbarkeit, gleiche Ansprechpartnerinnen) führen auch dazu, dass das System basisdemokratischer Organisation in vielen Frauenprojekten durch die Einführung angestellter Mitarbeiterinnenteams modifiziert wird, wobei die Vereinsstruktur als Dachorganisation meist beibehalten wird. Im Zuge der Weiterentwicklung der Frauenbewegung hat sich zudem eine nicht unerhebliche Zahl an kommerziellen und von einzelnen Frauen oder Frauenteams ge-
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leiteten Frauenunternehmen in unterschiedlichen Dienstleistungs- und Arbeitsbereichen herausgebildet, die z.T. in eigenen „Frauenbranchenbüchern“ geführt werden. Ein weiterer zentraler Grundsatz feministischer Projektarbeit ist die Vernetzung. Ein Großteil der lokalen feministischen Frauenprojekte hat sich lokal mit anderen Frauenprojekten sowie auf Landes- und Bundesebene in eigenen Zusammenschlüssen (Landes- bzw. Bundesarbeitsgemeinschaften) vernetzt und organisiert. Zunehmende Bedeutung gewinnt, neben der Zusammenarbeit mit kommunalen Gleichstellungs- und Frauenbeauftragten, die Kooperation mit anderen, nicht-feministischen Einrichtungen bzw. Institutionen auf lokaler Ebene. Darüber hinaus sind rund 430 Frauen- und Mädchenprojekte Mitglied im Paritätischen Wohlfahrtsverband. Frauenprojekte verfügen damit sowohl auf lokaler, regionaler, nationaler als auch zunehmend auf internationaler Ebene über eigenständige Netzwerke und politische Einflussmöglichkeiten (vgl. Kortendiek 2001).
Strukturierung und Erschließung Frauenprojekte lassen sich neben Unterschieden in Politikverständnis (vgl. Lenz 2002, Brückner 1997, Hagel/Schuhmann 1994, Hagemann-White/Kavemann/Ohl 1997, Rieger 1993), Organisationsstruktur und -entwicklung (vgl. Clausen 1993) und Verberuflichung (vgl. Kortendiek/Cottmann 2000, Simmel-Joachim/Schäfer 2005) insbesondere unter drei Aspekten beschreiben und analysieren. Eine personenbezogene Analyse umfasst sowohl unterschiedliche Nutzerinnen und Zielgruppen als auch die Initiatorinnen und Trägerinnen der Projekte, u.a. Migrantinnen (vgl. Mussel/Schöning-Kalender 1996, Kök/Stolze 1996, Duscha/Howe/Joo-Schauen 2005), Lesben (vgl. Münst 1998), Mädchen (vgl. Klees/Marburger/Schumacher 1997, Heiliger/Kuhne 1993) und Mütter (vgl. Kortendiek 1999). Die themenbezogene Analyse orientiert sich an Fragestellungen wie Gewalt (vgl. Brückner 2002), Gesundheit, Beruf oder Sozialleben. Die Mehrzahl heutiger Frauenprojekte handelt im Schnittfeld von unbezahlter Selbsthilfe und bezahlter Arbeit, feministischer Politik und Veralltäglichung (vgl. Kortendiek 2002), professioneller sozial- und gesellschaftspolitischer sowie kultureller Arbeit insbesondere in und zu sechs Praxisschwerpunkten: Beratung, Lebensformen, -zeiten und -weisen, Zuflucht, Bildung, Kultur und Politik. Neben den Frauenprojekten, die Frauenöffentlichkeiten herstellen, die zugleich feministische Öffentlichkeiten als alternative und politische Öffentlichkeiten darstellen können (vgl. Klaus 1998: 110ff.), entwickelten sich Frauenprojekte auch als nicht-öffentliche Räume, die Frauen Schutz bieten und deshalb ihre Adressen nicht bekannt geben. Einen Großteil dieser anonym bleibenden Frauenorte machen die Frauenhäuser aus. Rund 435 Frauenhäuser bieten diesen Schutzraum in der Bundesrepublik und nehmen jährlich schätzungsweise 45.000 Frauen und deren Kinder auf (vgl. Deutscher Bundestag 2001). In einer organisationsbezogenen Analyse lassen sich die Frauenprojekte als „Bewegungsmodelle“ oder „Professionalitätsmodelle“ (Brückner 1997: 467) differenzieren, die sich durch unterschiedliche Strukturen und Einstellungen wie z.B. Betonung von Professionalität, Betroffenheit, Einbindung in Frauenbewegungen oder persönliche Kompetenzen, auszeichnen. Jedoch haben sich beide Modelle zwischenzeitlich durchaus produktiv vermischt, so dass eine Trennung zwischen professionellem und politischem Handeln, zwischen Selbstorganisation und Professionalisierung für die Frauenprojekteszene nicht zutreffend ist.
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Praxen und Alltagsarbeit Die Betrachtung des Verlaufs der Neuen Frauenbewegung im deutschsprachigen Raum zeigt, dass die Frauenbewegung eine Entwicklung hin zu einer Frauenprojektebewegung durchlaufen hat. Mit ihrer inzwischen erreichten Vielfalt an Angeboten und Themenstellungen trägt die Frauenprojektekultur nicht unerheblich zur städtischen Dienstleistungsökonomie, zur Fortentwicklung sozialpolitischer Inhalte und Angebote, zur urbanen Kultur und städtischem Alltagsleben sowie nicht zuletzt zur Schaffung von Erwerbsarbeitsplätzen bei. Im Zuge dieser Etablierung und vor dem Hintergrund gesamtgesellschaftlicher Veränderungen hat sich auch die Praxis in den Frauenprojekten verändert. Im Vordergrund der Frauenprojektekultur steht zwischenzeitlich v.a. eine alltags- und lebensweltliche Ausrichtung an den Bedürfnissen unterschiedlicher Gruppen von Frauen sowie das Ziel, deren individuelle Lebensverhältnisse unter Berücksichtigung struktureller Dimensionen des Geschlechterverhältnisses zu verbessern. Frauenkulturzentren bieten Raum für kulturelle und künstlerische Aktivitäten, Beratungseinrichtungen offerieren unterstützende Begleitung für Frauen zu unterschiedlichen Problemen und Projekte zu Erwerbsarbeit bieten weiterqualifizierende Kurse an, um hier nur einige, wenige Beispiele anzuführen.
Aktuelle Situation und Perspektiven Die überwiegende Zahl an Frauenprojekten sieht sich nach wie vor in der Tradition der Neuen Frauenbewegung verortet, so dass auch in Zukunft damit zu rechnen ist, dass ein feministisch ausgerichtetes Angebot an Frauen- und Lesbenräumen weiterbestehen wird. Allerdings werden die Paradigmen feministischer Projektearbeit im Spannungsfeld zwischen eigenem Anspruch und Realität in der täglichen Arbeit sowie auf Grund der von außen gestellten Anforderungen, z.B. seitens Finanzgebern, zunehmend in Frage gestellt. Gerade im Praxisfeld von sozialer Arbeit (vgl. Gruber/Fröschl 2001, Miller/Tatschmurat 1996) und im Alltag sozialer Frauenprojekte ergeben sich Widersprüche zwischen dem Anspruch an solidarische Parteilichkeit und den Lebensrealitäten der zu unterstützenden Frauen: Da gibt es die Frauenhausbewohnerinnen, die nicht am basisdemokratischen Plenum teilnehmen (vgl. Brückner 1990: 147), oder die Frauen, die über ein geringes Selbsthilfepotenzial verfügen, so dass sie zunächst ausschließlich professionell begleitet werden müssen. Oder die Gewalt, die von Müttern gegenüber ihren Kindern ausgeht, lässt die Solidarität unter Frauen brüchig werden. In den Projekten geraten deshalb gerade die Differenzen zwischen Frauen und der daraus resultierende, notwendige „Umgang mit Enttäuschung“ (Brückner 1990, 1996; Brückner/Holler 1990) besonders in den Blick. In diesen Konfliktlinien treten gleichermaßen strukturelle Machtgefälle, wie beispielsweise zwischen Majoritären und Migrantinnnen, und Konflikte innerhalb von Projektteams zu Tage, in denen Fragen von Macht und Hierarchien zum Tragen kommen. Dies führt innerhalb der Projekte zu Auseinandersetzungen, die zunehmend thematisiert und teilweise durch eine professionelle Supervision begleitet werden. Gleichzeitig wird die Schaffung neuer Zusammenschlüsse und Projekte durch diese Konflikte befördert. So resultieren aus den Diskussionen um Rassismus und westlichen Zentrismus eine ganze Zahl an feministischen Migrantinnenorganisationen, aus den Diskussionen um Heterozentrismus eigenständige Lesbenprojekte. Da die (Teil-)Finanzierung vieler Frauenprojekte durch die schwankenden Finanzlagen der öffentlichen Haushalte bedroht ist, wird eine weitere zentrale Aufgabe der Frauenprojekte nach wie vor darin bestehen, sich finanziell abzusichern. Auch im Hinblick auf die Anerkennung von außen, die sich nicht zuletzt in finanzieller Förderung ausdrückt, und in Bezug auf die Herstellung von Öffentlichkeit für die eigene Arbeit wird in den Frauenprojekten um die Frage nach sozialer und politischer Integration vs. gesellschaftsverändernder feministischer Politik gerungen.
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Denn mit dem Abbau des Sozialstaats und der Durchsetzung einer neoliberalistischen Sozialpolitik („New Public Management“) sehen sich insbesondere die feministischen Frauenprojekte, die im sozialen Bereich arbeiten, zunehmend mit den Anforderungen eines freien Wettbewerbs konfrontiert. Das von Geldgebern inzwischen verlangte „Qualitätsmanagement“ in Form von Qualitätsnachweisen, Zertifizierungen und Leistungsverträgen hat neben der höheren gesellschaftlichen Anerkennung und Integration in die soziale Dienstleistungsökonomie auch einen Spagat zwischen der Durchsetzung eines feministisch-politischem Anspruchs gegenüber diesen Anforderungen zur Folge. Denn die Kriterien feministischer Sozialarbeit, wie beispielsweise Parteilichkeit für Frauen, Bearbeitung frauenspezifischer Problematiken oder Öffentlichkeitsarbeit für das jeweilige Frauenprojekt sind mit Mehrarbeit und Mehraufwand verbunden, die in den Leistungskatalogen des „Qualitätsmanagement“ keinen Raum haben und deren Anerkennung demnach mühsam erkämpft werden muss. Auch die mit diesen neuen Anforderungen einhergehenden Umstrukturierungen auf Länder- und Kommunalebene, zum Beispiel in Form von Leitungsgremien, haben Auswirkungen auf die Strukturen der betroffenen Frauenprojekte, da nun „Leiterinnen“ bestimmt werden müssen und das Prinzip der Basisdemokratie teilweise oder ganz aufgegeben wird. Zudem, auf dem Hintergrund angespannter öffentlicher Haushaltslagen und aus finanzieller Not heraus, müssen sich heute insbesondere sozialarbeitende Frauenprojekte immer häufiger unter die ‚Vormundschaft‘ anderer Träger begeben. Selbstorganisierte Frauenprojekte, die in kulturellen Bereichen arbeiten, wie z.B. Frauenstadtteilzentren, Archive oder Medienprojekte, haben weiterhin mit finanziellen Kürzungen zu kämpfen. Sie sind zudem besonders auf das Engagement einzelner, aktiver Frauen angewiesen. Nach einer erfolgreichen Phase der Etablierung stellt sich für die Frauenprojekte heute das Problem, dass viele Frauen diese als reine Serviceeinrichtungen nutzen. Eine wesentliche Aufgabe wird es in Zukunft deshalb sein, das persönliche Engagement von Frauen in den Projekten zu fördern bzw. neue Frauen zu gewinnen. Hinzu kommt, dass sich die durch die Frauenbewegung und ihre Projekte initiierten Diskurse und Themenstellungen in bestehende gesellschaftliche Organisationen und Institutionen, wie beispielsweise Gewerkschaften oder kommunale Verwaltungen, hinein vervielfältigt haben, so dass ein weiterer Schwerpunkt in der Arbeit der Frauenprojekte darin bestehen wird, ihren spezifisch-feministischen Ansatz weiter auszubauen, zu veröffentlichen und nachhaltig einzufordern. Gerade hier kommt den nicht klientenzentrierten Frauenprojekten, wie beispielsweise Frauenkulturzentren, als Räumen des Austauschs, der Begegnung und der Diskussion zwischen unterschiedlichen Frauen bzw. Frauengruppen und in ihrer Rolle als Plattformen der Vermittlung von feministischer Theorie und Praxis eine wachsende Bedeutung zu. In der internationalen Vernetzung mit Frauenprojekten und -initiativen (vgl. Lenz/Mae/Klose 2000) zeichnet sich ein weiteres, wichtiges Aufgabengebiet ab, um verstärkt über lokale und nationale Grenzen hinaus zu operieren und Interessen unterschiedlicher Frauengruppen z.B. auf EU-Ebene durchzusetzen. Verweise: Frauenbewegungen Frauennetzwerke Mädchen Migrantinnenorganisationen Lesbenbewegung Öffentlichkeit und Privatheit
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Yvonne P. Doderer, Beate Kortendiek
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Sigrid Metz-Göckel
Institutionalisierung der Frauen-/Geschlechterforschung: Geschichte und Formen
Die Frauen- und Geschlechterforschung ist als neues Wissenschaftsgebiet im Kontext der neuen Frauenbewegung entstanden. Die Pionierinnen und weitere Akteurinnen konnten sich nach zum Teil heftigen Auseinandersetzungen in einzelnen Disziplinen positionieren und einen kleinen Teil der Ressourcen umwidmen. Die Institutionen des Wissenschaftssystems zeigen sich damit nicht als starres Gehäuse, sondern als Regelsystem, das durch das Handeln ‚mächtiger Gruppen‘ modifiziert werden kann (vgl. Maurer/Schmid 2002). Fast alle Hochschulen in Deutschland bieten ihren Studierenden inzwischen die Möglichkeit, sich mit Geschlechterthemen auseinanderzusetzen, Forschungskontexte sind etabliert, und die Nachwuchsförderung von Frauen gehört zu den anerkannten wissenschaftspolitischen Desideraten. Bei der Frauen- und Geschlechterforschung handelt es sich um eine inhaltliche Erneuerung der Wissenschaften, die mit der personellen Integration von Frauen zusammenhängt. Mit ihrer Institutionalisierung geht eine Anpassung an die etablierten Strukturen einher, die ambivalent zu sehen ist, da die Frauen- und Geschlechterforschung aus einer Kritikposition entstanden ist und etablierte Denkschemata zu sprengen beabsichtigte. Wie viel kritische Differenz sie bewahren kann, und wie sich das Hochschulsystem durch die Inklusion einer Geschlechterperspektive verändert, sind Fragen, die sich mit ihrer Institutionalisierung im Wissenschaftssystem verbinden. Während die einen von einer marginalisierten Integration sprechen (vgl. Wetterer 2002), sehen sie andere als Erfolgsgeschichte (vgl. Metz-Göckel 2002). Institutionalisierung betrifft die Verstetigung, Sichtbarmachung und Absicherung der Frauenund Geschlechterforschung als Lehr- und Forschungsgebiet im Wissenschaftssystem. Die Modi der Institutionalisierung im akademischen Umfeld können exklusiv oder inklusiv sein. Bei der exklusiven Form handelt es sich um eine curriculare Verankerung von Frauen- und Geschlechterthemen als eigenständigem Ausbildungs- bzw. Forschungszusammenhang, bei der inklusiven Form handelt es sich um die Integration der Geschlechterperspektive in bestehende Ausbildungs- und Forschungszusammenhänge. Hierbei können Genderkompetenz und Genderwissen die Bedeutung einer studiengangsübergreifenden Schlüsselqualifikation erhalten. Die Einführung der gestuften Studienstruktur bietet dabei eine Chance (vgl. Bührmann 2008), in die Module Geschlechterthemen zu integrieren oder auch eigene Module oder Studiengängen einzurichten. Die Frauen- und Geschlechterforschung ist von Frauenstudien, Frauenstudiengängen und Gender Studies nicht scharf abzugrenzen. Im ersten Falle sind primär Forschungszusammenhänge, im zweiten Fall Ausbildungszusammenhänge angesprochen. Beide können sich überschneiden, unterscheiden sich aber in ihren Zielsetzungen, Zielgruppen und ihrer Fristigkeit. Die neueren Institutionalisierungen transportieren den Begriff Frauenforschung nicht mehr, sondern verwenden die Geschlechter- bzw. Genderterminologie, womit beide Geschlechter in ihrer sozialen Differenzierung einbezogen sind. Zwischen der Institutionalisierung der Frauenförderung bzw. der Gleichstellungspolitik und der Institutionalisierung der Frauen- und Geschlechterforschung ist zwar zu unterscheiden, aber beide überschneiden sich inhaltlich und auch personell, wobei das Konzept des Gender Mainstreaming beide umfasst.
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Sigrid Metz-Göckel
Die Phasen der Institutionalisierung der Frauen- und Geschlechterforschung lassen sich in Aufbruch, Ausbreitung und Professionalisierung einteilen (vgl. Hagemann-White 1995, Bock 1998). Ab Mitte der 1990er Jahre zeichnet sich eine zunehmende Normalisierung (vgl. Lenz 2002), interne Differenzierung und Akademisierung, insgesamt jedoch eine eher prekäre als eine stabile Integration ins Wissenschaftssystem ab.
Der Institutionalisierungsprozess: Von der Kritik an der Wissenschaft zur Normalisierung von Differenz Der Institutionalisierungsprozess begann Mitte der 1970er Jahre mit der ersten Berliner Sommeruniversität der Frauen (vgl. Frauen und Wissenschaft 1977), einer ausdrücklichen Separierung und exklusiven Beteiligung von Frauen, mit häufig von Studentinnen initiierten Lehrveranstaltungen (Frauenseminaren) und Ringvorlesungen, mit vereinzelten Forschungsprojekten und spontanen Vernetzungen. Die feministische Startphase fiel zusammen mit dem Aufbruch der neuen sozialen Bewegungen und ihrer radikalen Kritik an Wissenschaft und Gesellschaft. Als engagierte Feministinnen waren die Pionierinnen sowohl unter den Frauen umstritten als auch in den wissenschaftlichen Communities und Hochschulen. Eine gemeinsame Zielvorstellung gab es ebenso wenig wie eine einheitliche Strategie (vgl. Planungsgruppe 1980). In den 1980er Jahren organisierten sich die Frauengruppen noch weitgehend ohne institutionelle Unterstützung in kreativer Auseinandersetzung mit den Institutionen vor Ort. Einfallsreiche Projektgründungen außerhalb und innerhalb der Hochschulen prägten eine zweigleisige Vorgehensweise: einerseits eine außerhochschulische Projektebewegung (vgl. Meyer 1989), die sich in regen Tagungs- und hochschulpolitischen Aktivitäten sowie rasch wachsenden Akteurinnengruppen äußerte, und andererseits Auseinandersetzungen von Studentinnen und vereinzelten Wissenschaftlerinnen, die in den Hochschulen um mehr Raum und Ressourcen kämpften. Die ersten Verstetigungen von Initiativen der Frauen- und Geschlechterforschung an Hochschulen erfolgten als Koordinierungsstelle, als Lehreinheit Frauenstudien, vereinzelt als Professuren und Weiterbildungsangebote und generell zugunsten dezentraler Formen, wie es das Netzwerk Frauenforschung NRW weiterhin darstellt (vgl. Kortendiek 2005). Zentrale Institutionalisierungen wurden mit negativen Konnotationen, mit dem Stigma der Isolierung und Marginalisierung belegt, von einzelnen Ausnahmen wie der Interdisziplinären Forschungsgruppe Frauenforschung an der Universität Bielefeld abgesehen (vgl. Bock 1998: 105). Eine zunehmende Qualifizierung und Professionalisierung der Akteurinnen beschleunigte in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre den Institutionalisierungsprozess, unterstützt durch rechtliche Vorgaben (Hochschulrahmengesetz, Novellierungen der Universitätsgesetze der Länder, Institutionalisierung der Hochschulfrauenbeauftragten) und einen anhaltenden politischen Druck von Studentinnen und Wissenschaftlerinnen, so dass sich schließlich eine Bewegung von der „Gegen- zur Interventionskultur“, von der Peripherie ins Zentrum der Wissenschaft abzuzeichnen begann (vgl. Müller 1997). Die neue Frauenbewegung und mit ihr die Frauenforschung waren in den Hochschulen angekommen und damit stabilere Formen der Institutionalisierung erreicht. Das Auffälligste an der Institutionalisierungswelle der 1990er Jahre ist, dass die Bewegung ‚von unten‘ Reaktionen an der Spitze der Wissenschaftsorganisationen in Gang setzte und neue Koalitionen zwischen Wissenschaftlerinnen und politischen Akteuren und Akteurinnen ermöglichte. Alle großen Wissenschaftsorganisationen (Wissenschaftsrat, Hochschulrektorenkonferenz (HRK), Bund-Länderkommission (BLK), Großforschungseinrichtungen u.a.m.) fühlten sich herausgefordert, über die Geschlechterdimension ihrer institutionellen Kultur, über ihre Auslesemechanismen und Förderkriterien nachzudenken. Zum Beispiel wurden zwei folgenreiche Kommissionen in Niedersachsen eingerichtet (Niedersächsisches Ministerium für Wissenschaft und
Institutionalisierung der Frauen-/Geschlechterforschung
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Kultur 19942, 1997) sowie die Kommission „Institutionalisierung der Frauen- und Geschlechterforschung an den Hochschulen des Landes Baden-Württemberg 2000“ (Ministerium für Wissenschaft und Forschung und Kunst des Landes Baden-Württemberg 2000), hier auf Druck des Verbandes Baden-Württembergischer Wissenschaftlerinnen (VBWW). Der Wissenschaftsrat (1998) problematisierte das Missverhältnis zwischen dem Qualifikationsanstieg der Frauen und ihrer marginalen Beteiligung an der Wissenschaft und drohte schärfere Maßnahmen an. Eine erneute Stellungnahme aller Spitzen der Wissenschaftsorganisationen zehn Jahre später stieß auf den gleichen Sachverhalt, noch verschärft durch die „Exzellenzinitiative“ und internationale Konkurrenzsituation. Ihre als ‚Bildungsoffensive‘ formulierte Stellungnahme hat im Wesentlichen appellativen Charakter und ist an die Hochschulleitungen und Förderinstitutionen der Wissenschaft gerichtet (vgl. Wissenschaftsrat 2007). Das zunehmende Problembewusstsein der etablierten Institutionen über den Ausschluss von Frauen aus dem deutschen Wissenschaftssystem steht im Kontext einer vorsichtigen akademischen Akzeptanz der Frauen- und Geschlechterforschung. Dies drückt sich v.a. in der Senatskommission für Frauenforschung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (1994) und im Schwerpunktprogramm „Profession, Organisation und Geschlecht. Zur Reproduktion und Veränderung von Geschlechterverhältnissen in Prozessen sozialen Wandels“ aus. Dieses Schwerpunktprogramm konnten Wissenschaftlerinnen 1997 erfolgreich initiieren (vgl. Rudolph 1998, Gildemeister/Wetterer 2007). Ebenso wurde eine Fülle von policy-orientierten Forschungsprojekten der Ministerien, Stiftungen, Verbände etc. in Auftrag gegeben. Auf europäischer Ebene sieht das Abschlusscommuniqué der Berliner Konferenz der europäischen Bildungsminister/innen von 2003 vor, dass zur Qualitätssicherung von Hochschulen auch die Aufgabe gehört, Ungleichheiten aufgrund von Geschlecht und anderer sozialer Kriterien zu reduzieren (vgl. Dudeck/Jansen-Schulz 2007).
Formen der Institutionalisierung im Überblick Seit Ende der 1990er Jahre bestehen unterschiedliche Institutionalisierungsformen parallel nebeneinander: Forschungszentren, Forschungsschwerpunkte, interdisziplinäre Forschungsgruppen (vgl. Brandes u.a. 2002) und als ‚qualitativer Sprung‘ Studiengänge, Wahl/Nebenfächer sowie Studienschwerpunkte. Daneben gibt es vielfältige (extracurriculare) Weiterbildungsprogramme wie Sommeruniversitäten, z.B. die Informatica Feminale für Studentinnen der Informatik bis 2008 (vgl. Oechtering/Rügge/Vossberg 1998) und unzählige Tagungsaktivitäten. Besondere Formen eines Forschungs- und Lehrkontextes sind das Geschlechterkolleg der Universität Duisburg-Essen (Leitung Doris Janshen), die Internationale Frauenuniversität „Technik und Kultur“ während der Weltausstellung 2000 (vgl. Neusel 2002, 2003; Neusel/Poppenhusen 2002), das Projekt Virtual International Gender Studies (VINGS) u.a.m. Die Orientierung an den akademischen Standards war eine Bedingung für den Institutionalisierungserfolg der Frauen- und Geschlechterforschung. Das wachsende Interesse von Frauen an einer wissenschaftlichen Berufstätigkeit war eine seiner Voraussetzungen. Mit der vorrangigen Orientierung an der Wissenschaft und an einer individuellen Karriere vollzogen sich ein Bezugswechsel der Akteurinnen und eine Distanzierung von den frauenbewegten Aktionen. Diese Entwicklung ist als Normalisierung zu sehen, denn mit der Institutionalisierung der Frauen- und Geschlechterforschung eröffnete sich ein neues qualifiziertes Berufs- und Karrierefeld für Frauen. Frauen finden zu Beginn dieses Jahrtausends ein breites Spektrum an Institutionalisierungsformen vor, das Studienangebote, Forschungskontexte und Nachwuchsförderung umfasst. Das heißt konkret: –
Lehrangebote zu Frauen- und Geschlechterthemen (mit Abschlussmöglichkeiten) an den allermeisten Hochschulen, häufig als interdisziplinäre Studienschwerpunkte, z.B. an den
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Sigrid Metz-Göckel
Universitäten Hannover, Hamburg, Regensburg, Bielefeld, Frankfurt, Trier, Marburg, Bremen, Kassel, TU Berlin u.a.m. Die Beteiligung von Männern ist gering, aber willkommen (vgl. Kahlert 1996, Faulstich-Wieland 2003); Grundständige Studiengänge, z.B. Gender Studies an der Humboldt-Universität Berlin, Magister Studiengang Geschlechterforschung an der Universität Freiburg, ein Aufbaustudiengang zur kulturwissenschaftlichen Geschlechterforschung an der Universität Oldenburg (vgl. Bock 1998, Faulstich-Wieland 2003, Pache/Jähnert 2004), als Magisterstudiengänge mit Haupt- oder Nebenfach an einzelnen Universitäten wie Oldenburg, Humboldt-Universität zu Berlin, Göttingen, Hamburg u.a.m.; Die Einführung der gestuften modularisierten Studienstruktur bot eine Chance, Geschlechterthemen in die Module zu integrieren oder der Einrichtung von Bachelor und MasterStudiengängen (in Hamburg Gender und Arbeit; in Bochum Gender Studies – Kultur, Kommunikation, Gesellschaft, in Bielefeld MA-Studiegang Gender Studies- Interdisziplinäre Forschung und Anwendung u.a.m. (siehe auch Datenbank www.gender-in-gestufte-studiengaenge.de, Rubrik: Gender Studies); Aufbaustudiengänge als Promotionsstudiengang „Kulturwissenschaftliche Geschlechterstudien“ an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Zürich und als Aufbaustudiengang „Gender Kompetenz“ an der FU-Berlin (vgl. Lüdke/Runge/Koreuther 2004); Weiterbildende Studienangebote zur bildungsbiografischen Korrektur für Frauen ohne Hochschulzugangsberechtigung (Universitäten Dortmund, Bielefeld, Koblenz, Saarbrücken u.a.m.) sowie Weiterbildungsprogramme und Sommeruniversitäten; Parallele oder exklusive Studiengänge für Frauen in ingenieurwissenschaftlichen Fachgebieten mit Bezug auf die Frauen- und Geschlechterforschung (vgl. Metz-Göckel/Belinszki/Schmalzhaf-Larsen 2000, Granse/Knapp 2003) sowie die Internationale Frauenuniversität „Technik und Kultur“ während der Weltausstellung 2000 in Hannover (vgl. Neusel 2000, 2002); Mehr als 100 Professuren der Frauen- und Geschlechterforschung an Universitäten und Fachhochschulen mit Voll- oder Teildenomination und jeweiliger Verankerung in einer Herkunftsdisziplin (vgl. Bock 1996), darunter die Etablierung des Netzwerks Frauenforschung NRW mit einer Koordinierungsstelle (vgl. Kortendiek 1999, 2005); Forschungszentren und Forschungsschwerpunkte an vielen Hochschulen der Bundesrepublik (vgl. Brandes u.a. 2002, Faulstich-Wieland 2003, Pache/Jähnert 2004); „Zentrum für medizinische Geschlechterforschung“, Charité Berlin, an der Universität Bremen das „Zentrum für feministische Studien – Gender Studies“ (ZfG), an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg das „Zentrum für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung“ (ZFG) u.a.m.; Zwei Kompetenzzentren wie „Frauen in der Informationsgesellschaft und Technologie“ in Bielefeld und „Frauen in Wissenschaft und Forschung“ (CEWS) in Bonn (vom Bund finanziert); Eine institutionalisierte Förderung des weiblichen wissenschaftlichen Nachwuchses durch Graduiertenkollegs, z.B. „Geschlechterverhältnis und sozialer Wandel. Handlungsspielräume und Definitionsmacht von Frauen“ (vgl. Schäfer/Fritzsche/Nagode 2002); und „Öffentlichkeiten und Geschlechterverhältnis. Dimensionen von Erfahrung“ (Frankfurt/Kassel), „Geschlecht als Wissenskategorie“ (Humboldt Universität Berlin) u.a.m. Promotionskollegs der Heinrich-Böll-Stiftung und der Hans-Böckler-Stiftung; Programme zur Habilitationsförderung von Wissenschaftlerinnen in einigen Bundesländern wie Berlin, Niedersachsen (Dorothea-Erxleben-Programm) und Nordrhein-Westfalen (Lise-Meitner-Programm).
Dank der Aktivität von Gleichstellungsbeauftragen gibt es erste Ansätze, Genderaspekte auch bei den Akkreditierungsverfahren für neue Studiengänge zu berücksichtigen (vgl. Becker u.a. 2006).
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Diese Institutionalisierungswelle ist erstens durch die Kritik an der bisher weitgehend geschlechtsblinden Forschung entstanden. Sie ist zweitens durch das Interesse von Wissenschaftlerinnen an einer Ressourcensicherung motiviert und ein Zeichen für die Normalisierung und Integration der Frauen- und Geschlechterforschung in die wissenschaftliche Community. Und drittens versuchen die Wissenschaftlerinnen, sich operativ in die aktuellen Reformprozesse einzumischen und diese mitzusteuern (vgl. Roloff/Selent 2003). Weder der Institutionalisierungs- noch der Vernetzungsprozess sind abgeschlossen. In den USA übernimmt der „National Council for Research on Women“ als Dachorganisation für national operierende Frauenorganisationen sowie für die universitären und unabhängigen Frauenforschungszentren die Funktion, die Mitgliedszentren zu vernetzen. Etwas Vergleichbares entwickelt sich zurzeit auch in der Bundesrepublik Deutschland. Durch die Gründung der „Konferenz der Einrichtungen für Frauen- und Geschlechterstudien im deutschsprachigen Raum (KEG) im Sommer 2006 wurde erstmalig ein Dachverband im Bereich der deutschsprachigen Gender Studies gegründet (siehe http://www.genderkonferenz.eu/).
Kontroverse Auseinandersetzungen zur Institutionalisierung innerhalb der Frauen- und Geschlechterforschung Bei den kritischen Kommentierungen des Institutionalisierungsprozesses sind die Reaktionen des Wissenschaftssystems und die internen Kontroversen der Frauen- und Geschlechterforschung zu unterscheiden. Die Frauenforschung war dem Wissenschaftssystem nicht willkommen, da sie Tabuthemen wie Gewalt gegen Frauen, Diskriminierung und sexuellen Missbrauch ebenso wie Formen von Ausgrenzung und Diskriminierung zum wissenschaftlichen Untersuchungsgegenstand machte, an denen die Wissenschaft nicht unbeteiligt war. Die mangelnde Abgrenzung zur Politik und eine wissenschaftskritische Grundhaltung machten sie dem Wissenschaftssystem verdächtig, während intern Debatten um den richtigen Weg, die Einbeziehung von Männern, die Reichweite von Systemkritik und das ‚richtige Selbstverständnis‘ die Initiativen begleiteten. Kontroversen entzündeten sich um drei Problemzonen: Das Verhältnis der Frauenund Geschlechterforschung zur Frauenbewegung, die Integration der Frauen und Inklusion der Geschlechterperspektive in das Wissenschaftssystem und die Gefährdungen ihrer Institutionalisierung sowie das grundsätzliche Verständnis von Hochschule und Wissenschaft. In der Formel „Feminismus ist die Theorie der Frauenbewegung“ (Pusch 1983: 13) schien eine feministische Haltung für alle Frauenforschungsprojekte verbindlich zu sein und ebenso die Möglichkeit, Erkenntnisse direkt in Aktion umzusetzen. Der politisch motivierte feministische Impuls rührte aus dem Ausschluss der Frauen aus der Wissenschaft, der ihre Minderbewertung zur Folge hatte und die kritische Haltung der Akteurinnen der Frauenbewegung zur Hochschule und Wissenschaft begründete. Die Beziehung zwischen der Frauenbewegung und Frauenforschung wurde mit dem Ende skandalöser Politikformen distanzierter, während die Frauen- und Geschlechterforschung sich ausdifferenzierte und akademischer wurde. Einige Frauenforscherinnen sehen die neue Frauenbewegung in Deutschland bereits als historisches Projekt (vgl. Gerhard 1995), während in den internationalen Globalisierungsdiskursen die Bezugnahme auf die sozialen Frauenbewegungen sehr präsent ist. Lenz (2002) unterscheidet die Trias Feminismus als Haltung, Frauen- und Geschlechterforschung als wissenschaftliche Reflexionsform von den Aktivitäten der Frauenbewegungen, auch wenn sie vielfältige Wechselbeziehungen zwischen ihnen sieht. Diese sind mit den internationalen Debatten, der Ausweitung von Vernetzungen und neuen Politikstrategien verbunden und konstituieren eine weltpolitische Ebene, auf der Frauen Akteurinnenpositionen einnehmen. Um das Verhältnis von Wissenschaft und politischer Bewegung ging es auch bei der Frage, ob mit der Institutionalisierung der Frauenforschung das Ziel erreicht und ihre kritische Kraft
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bereits erschöpft sei (vgl. Meyer 1989). Die Frage ist, woran Erfolg zu messen ist, mit welchen Maßen und Zeiträumen. Zu den Erfolgen zählt, dass die Berechtigung von Frauen, Wissenschaft zu betreiben, als kulturelle Selbstverständlichkeit in der offiziellen Wissenschaftskultur explizit anerkannt ist. Die Inklusion der Geschlechterperspektive in einen veränderten Wissenschaftskanon ist ein größeres, noch ungelöstes Problem. Obwohl Nunner-Winkler bereits 1994 der Frauenforschung im Weberschen Sinne einen hohen Kulturwert attestierte, ist von ihrer breiten Rezeption im Mainstream der Disziplinen oder gar einer „Erneuerung der Wissenschaft“ (noch) nicht zu reden (vgl. Müller 2008). Auch die Proklamation der Gender-Mainstreaming-Strategie hat daran wenig geändert, obwohl diese auf das Genderwissen angewiesen ist, das die Frauenund Geschlechterforschung generiert (vgl. Metz-Göckel/Kamphans 2004, Dölling 2007). Ein institutioneller Konflikt besteht zwischen der interdisziplinären Ausrichtung der Frauenund Geschlechterforschung und der disziplinär strukturierten Wissenschaft. Bei der Berufung auf Professuren der Frauen- und Geschlechterforschung wird eine disziplinäre Profilierung und Anbindung vorausgesetzt. Die häufig als Teildenomination hinzugefügte Geschlechterforschung ist dann ein Kompromiss, der für die betreffenden Personen zu Zerreißproben und eigenwilligen Desintegrationsprozessen führen kann (vgl. Griffin 2002). Obwohl die Frauen- und Geschlechterforschung ein Modell für inter- bzw. transdisziplinäres wissenschaftliches Arbeiten sein könnte, nämlich dafür, wie problemorientiert statt disziplingebunden geforscht und gelehrt wird, hat sie diese Vorbildfunktion bisher nicht errungen. Vielmehr könnte die Interdisziplinarität der Frauen- und Geschlechterforschung deshalb willkommen sein, weil sie sich damit jenseits der Disziplinstrukturen ansiedelt und diese damit wenig berührt und in Frage stellt. Die neue Institutionalisierungsphase ist ein weiterer Indikator für einen Orientierungswechsel der Akteurinnen auf das Wissenschaftssystem und die wissenschaftliche Community (vgl. Kahlert/Mischau 2000).
Perspektiven: Integration oder selbständige Disziplin? Im Kontext der betriebswirtschaftlichen Wende der Hochschulpolitik wurden Frauen als unausgeschöpfte Ressource und Innovationspotenzial entdeckt. Das hat die Institutionalisierung der Frauen- und Geschlechterforschung beschleunigt, sie aber auch ‚entzaubert‘. Nicht nur ist die Illusion abhanden gekommen, mit der Integration von Frauen würde sich die Wissenschaft selbst verändern und Wissenschaftlerinnen sich anders verhalten als bisherige Wissenschaftlergenerationen. In dem Maße, wie Wissenschaft zu einer beruflichen Karriere wird, gewinnen individuelle Karriereinteressen Vorrang, und die Kohäsion lässt nach, die sich in der Anfangsphase zwischen den Akteurinnen fast zwangsläufig herausgebildet hatte. Die Ablösung von gesellschaftsbezogenen Motiven hin zu individuellen Karrieren ist aber letztlich notwendig, wenn sich das System von innen heraus verändern soll. In England konnten sich die Programme der Women’s Studies rasch und breit etablieren, da die modulare Struktur des Studiums und eine geringe Inanspruchnahme weiterer Ressourcen keine größeren Umverteilungen erforderten. Bei der Evaluierung der Hochschulen blieben sie jedoch weitgehend unberücksichtigt. Griffin stellt sich angesichts eines Rückwanderungsprozesses engagierter Feministinnen in ihre Herkunftsfächer die Frage, ob eine institutionelle Lösung als selbständige Disziplin mit eigenen Ressourcen diesen Prozess verhindern und die Sichtbarkeit und Verstetigung der Women’s Studies erhalten könnte (vgl. Griffin 1998, 2002). Die Etablierung der Frauen- und Geschlechterforschung bzw. der Gender Studies (vgl. Hirschhauer 2003, Bührmann 2008) als eigene transdisziplinäre Disziplin wäre ein konsequenter Schritt, der ihre dauerhafte Verstetigung sichern könnte und an die frühe Exklusivitätsdebatte anknüpft, in der die Akteurinnen größere Freiheitsräume für sich in Anspruch nahmen, als die Institutionen ihnen gewähren wollten. Dieser Vorschlag widerspricht zwar dem integrativen
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Mainstreaming-Konzept, entspricht aber dem Pluralitätsmodell, das sich bisher ebenfalls abzeichnet. Geschlechterforschung und Gender Studies stoßen auf anhaltendes Interesse, schließen Frauen wie Männer ein und integrieren den systemkritischen Aspekt auf dezente wissenschaftliche Weise. Eine exklusive Institutionalisierungsform wäre die Gründung einer Universität der Frauen; sie ist aber an eine größere Umverteilung von Ressourcen und inhaltliche Reformen geknüpft. Die Internationale Frauenuniversität „Technik und Kultur“ während der Expo 2000 war erstmalig eine solche Hochschulgründung (auf Zeit), die von Frauen- und Geschlechterforscherinnen und Hochschulplanerinnen durchgesetzt wurde. Als Alternative innerhalb des deutschen Hochschulsystems bündelte sie inhaltliche, institutionelle und personalrechtliche Reformvorstellungen in einem Modell, das prinzipiell für beide Geschlechter offen ist. Im Rückblick auf die letzten drei Jahrzehnte ist der langsame Institutionalisierungsprozess der Frauen- und Geschlechterforschung einerseits eine Anpassungsleistung an das Wissenschaftssystem, mit dem es gelungen ist, der Geschlechterthematik erfolgreich einen Platz einzuräumen, andererseits ist die Reichweite einer kulturellen Gegensteuerung äußerst begrenzt geblieben. Verweise: Frauenbewegungen Gender Mainstreaming Wissenschaft und Hochschule
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Agnes Senganata Münst
Lesbenbewegung: Feministische Räume positiver Selbstverortung und gesellschaftlicher Kritik
Die feministische Lesbenbewegung existiert durch Akteurinnen, die lesbische Lebensweisen in ihrer kollektiven und gesellschaftlichen Dimension in eigens dafür geschaffenen Netzwerken und sozialen Räumen verorten. Die feministische Lesbenbewegung der alten und neuen BRD, ihre inhaltliche Entwicklung und ihre Organisationsformen, steht im Mittelpunkt dieses Beitrags. Lesbische Frauen tragen jedoch zur Existenz und Gestaltung zweier weiterer ‚sozialen Bewegungen‘ bei, durch die lesbische Lebensweisen partiell thematisiert werden: zur Existenz der zweiten Frauenbewegung und der Schwul-Lesbischen Bewegung. Das Engagement in drei verschiedenen sozialen Bewegungen spiegelt die plurale Identitäts- und Interessenskonstruktion lesbischer Frauen und die variierende Priorisierung der als zentral definierten Themen. Diese Realität ist kein spezifisches Phänomen der Gegenwart. Bereits in der Kaiserzeit (1871-1918) und während der Weimarer Republik (1919-1933) engagierten sich lesbische Frauen in drei sozialen Bewegungen.
Historischer Exkurs In der ersten Frauenbewegung kämpften lesbische Frauen für Frauenrechte, ein prominentes Paar war Lida Gustava Heymann (1869-1943) und Anita Augspurg (1857-1943), die dem radikalen Flügel der bürgerlichen Frauenbewegung zugeordnet werden. Anna Rüling (Lebensdaten unbekannt) wies in ihrer Rede auf der Jahresversammlung des ‚Wissenschaftlich-Humanitären Komitees‘ im Jahr 1904 auf das starke Engagement lesbischer Frauen in der ersten Frauenbewegung hin und forderte eine stärkere Thematisierung weiblicher Homosexualität in ihr. Die Ursache für die Zurückhaltung der Frauenbewegung, die Menschenrechte ‚der Uranier‘ (homosexuelle Frauen und Männer) zu thematisieren, führte Anna Rüling auf die Furcht der Frauenrechtlerinnen zurück, damit dem Ansehen der eigenen Bewegung zu schaden (vgl. Kokula 1981). Lesbische Frauen organisierten zur Zeit der ersten Frauenbewegung informelle Netzwerke, die nach der Jahrhundertwende und insbesondere während der Weimarer Republik als Damenclub eine formelle Struktur erhielten. Für Berlin ist der Damenclub ‚Goldene Kugel‘ schon ab 1905 belegt. Weitere Damenclubs waren im Berlin der Weimarer Republik u.a. Violetta, Monbijou, Harmonie, Skorpion, Tatjana und Treue Hoffnung. Diese Damenclubs organisierten gesellige und bildende Veranstaltungen für lesbische Frauen. Der Damenclub ‚Violetta‘ gab von 1923 bis 1932 die Zeitschrift ‚Die Freundin. Wochenblatt für ideale Frauenfreundschaft‘ heraus, die in Berlin vielerorts käuflich erworben werden konnte. Eine weitere Zeitschrift für lesbische Frauen war ab 1926 die ‚Frauenliebe‘. Eine formelle Organisation in der schwule Männer und lesbische Frauen zusammen arbeiteten, war die im Jahr 1919 gegründete ‚Vereinigung der Freunde und Freundinnen‘, die bereits 1920 in den ‚Freundschaftsbund‘ aufging. Im Jahr 1922 wurde diese Organisation in den ‚Bund
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für Menschenrechte‘ umbenannt, dem neben Privatpersonen auch einige Damenclubs, wie ‚Violetta‘ und ‚Monbijou‘, als Mitglieder angehörten. Ab 1928 existierte im ‚Bund für Menschenrechte‘ eine separate ‚Damenabteilung‘. Anfang der 1930er Jahre kam es zur Spaltung zwischen lesbischen Frauen und schwulen Männern. Das Organ des Bundes für Menschenrechte waren die ‚Blätter für Menschenrechte‘ (vgl. Kokula 1981, Kokula/Böhmer 1991). Die Kontinuität dieser drei sozialen Bewegungen, ihrer Organisationsformen und Inhalte, wurde durch die Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus‘ unmöglich gemacht (vgl. Kokula 1986, Schenk 1980, Schoppmann 1991, 1994). In der Nachkriegszeit existierten in unterschiedlichen Großstädten im Rotlichtmilieu Lokale, die von lesbischen Frauen besucht wurden, und die Zeitschrift ‚Wir Freundinnen. Monatszeitschrift für Frauenfreundschaft‘ wurde ab 1951 verlegt. Die Lokale, die lediglich durch informelle Beziehungen bekannt gemacht wurden, aufzusuchen, war für Interessierte nur unter Risiken möglich. Es erforderte den Mut, Personen, die über diese Informationen verfügen könnten, zu identifizieren nach deren Existenz zu fragen, und nicht zuletzt den Mut, sich dann auch ins Rotlichtmilieu zu wagen.
Ein neuer Anfang In den frühen 1970er Jahre bildeten lesbische Frauen in der BRD erneut öffentliche Netzwerke. Der Entstehungskontext, der sich zunächst in lokalen Netzwerken formierenden feministischen Lesbenbewegung, variiert entsprechend den jeweils spezifischen Voraussetzungen. Während sich in West-Berlin im Jahr 1972 Lesben aus der im Jahr zuvor gegründeten ‚Homosexuellen Aktion Westberlin‘ lösten und eine ‚Frauengruppe der Homosexuellen Aktion Westberlin‘ gründeten, die sich im Jahr 1975 auch ideologisch von den homosexuellen Männern trennte und das ‚Lesbische Aktionszentrum‘ gründete (vgl. Kokula 1983), bildeten sich Lesbengruppen in anderen Groß- und Kleinstädten überwiegend innerhalb der Infrastruktur der Autonomen Frauenbewegung.
Positive gesellschaftliche Verortung und die sozialstrukturelle Heterogenität lesbischer Frauen Bis Anfang der 1970er Jahre existierte im deutschsprachigen Raum keine positive Besetzung des Begriffs ‚Lesbe‘. Wenn Lesben öffentlich erwähnt wurden, ging dies mit einer Pathologisierung, Kriminalisierung und Stereotypisierung einher. Die im Jahr 1973 in der Bild-Zeitung publizierte Serie ‚Die Verbrechen der lesbischen Frauen‘ ist hierfür ein Beispiel. Die frühen 1970er Jahre markieren jedoch einen Wendepunkt, denn die Akteurinnen der neuen Frauenbewegung machten die umfassende Selbstbestimmung von Frauen, insbesondere über den eigenen Körper und die eigene Sexualität, zu einem öffentlichen Diskursthema (vgl. Laps 1994, 1995).
Modelle positiver Selbstverortung und Selbstdefinition In Lesbengruppen, die sich aus und in den Netzwerken der zweiten Frauenbewegung bildeten, entwickelten lesbische Frauen im Kontext der Patriarchats- und Kapitalismusanalyse die These ihrer doppelten Unterdrückung als Frauen und als Lesben. Die gesellschaftliche und individuelle Unterdrückung von Lesben definierten sie als Instrument, mit dem sichergestellt wurde, dass Frauen für Männer individuell und kollektiv verfügbar sind. Diese Analyse der Ursachen der Unterdrückung lesbischer Frauen wurde in eine Handlungsoption umformuliert: Lesben entzie-
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hen sich durch ihre ganzheitliche Hinwendung zu Frauen dem Patriarchat und den patriarchalen heterosozialen und -sexuellen Beziehungsstrukturen. Der Begriff ‚Lesbe‘ wurde neu gedeutet und aus feministischer Perspektive positiv belegt: Lesben sind frauenidentifizierte Frauen. Die Akteurinnen vollzogen mit dieser Definition einen Bruch mit den bisherigen Deutungen von Homo- und Heterosexualität. Sie verorteten Sexualität nicht in den Kontext von Trieb und Natur, sondern in den Kontext individueller Entscheidung und sozialen Handelns. Dieser analytische Prozess beinhaltete einen radikalen Bruch mit den in allen gesellschaftlichen Feldern (z.B. Wissenschaft, Rechtssprechung, Kirchen u.a.) akzeptierten essentialistischen, biologistischen und dualistischen Konzeptionen von ‚Sexualität‘. Dieser radikale Bruch erfolgte nicht nur auf der analytisch-theoretischen, sondern auch auf der lebenspraktischen Ebene, denn viele Feministinnen entschieden sich, lesbisch zu leben. In der Retrospektive wurde der Beginn dieser positiven Verortung lesbischer Frauen auch als Zeit der ‚Lesben-Hetera-Diskussionen‘ bezeichnet, in der das Private politisiert wurde. Lesbische Feministinnen stellten mit dem Veweis auf die in heterosexuell-sozialen Beziehungen reproduzierten patriarchalen Beziehungs- und Familienstrukturen die Beziehungspraxis heterosexuell-sozial lebender Feministinnen in Frage.
Sozialstrukturelle Heterogenität und das Konzept der Mehrfachidentitäten Die durch diese Analyse- und Deutungsprozesse hergestellte kollektive ‚lesbische Identität‘ war Teil des Formierungs- und Entwicklungsprozesses der feministischen Lesbenbewegung. Diese kollektive Identität blieb nur kurze Zeit unhinterfragt. In den 1980er Jahren wurde die Analyse der variationsreichen Verwobenheit unterschiedlicher Hierarchiestrukturen (Geschlecht, Klasse, Zwangs-Heterosexualität, ethnische Herkunft, Nationalität, normative Körper) zunehmend zentraler Inhalt der feministischen Lesbenbewegung. Die sozialstrukturelle Heterogenität der Akteurinnen und die damit verbundene Diversität der Unterdrückungsstrukturen, die sich im Leben unterschiedlich positionierter Lesben auswirken, wurden thematisiert. Die Analysen afrodeutscher Lesben, lesbischer Migrantinnen, jüdisch-deutscher Lesben und lesbischer Frauen, deren selbständige Lebensgestaltung durch in Handlungsabläufe und Raumplanung eingeschriebene Normalitätskonstruktionen behindert wird, deckten strukturelle Unterschiede zwischen Lesben und die situative Bedeutung von Unterdrückungsstrukturen auf. Das Konzept der Mehrfachidentität ersetzte die auf einen Aspekt reduzierte kollektive Identität ‚lesbischer‘ Frauen. In den 1990er Jahren wurde das Konzept der Mehrfachidentitäten weiter differenziert. Ein neues und umstrittenes Thema war die Auseinandersetzung über die Beteiligung und Zugehörigkeit von Transsexuellen oder Transgender-Personen zur feministischen Lesbenbewegung: Die Dissoziation von biologischem und sozialem Geschlecht, die Geschlechtsidentitäten, die Dekonstruktion und Neukonstruktion von Geschlecht, ethische Fragen über das medizinisch und technisch Machbare und die aus den eigenen Erfahrungen des ‚Ausgeschlossenseins‘ abgeleitete Norm, nicht auszuschließen, waren Themen, die kontrovers diskutiert wurden (vgl. Kronauer 1993). Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass sich die Denkbewegungen der feministischen Lesbenbewegung immer auf (mindestens) zwei Gegenstände beziehen: auf gesellschaftliche Hierarchiestrukturen und auf die Bewegung selbst, die daraufhin hinterfragt wird, inwieweit in ihr gesellschaftliche Hierarchien reproduziert werden. Die Themen der feministischen Lesbenbewegung reflektieren die sozialstrukturelle Heterogenität der Akteurinnen und das Ziel, Unterdrückungsstrukturen zu skandalisieren und (insbesondere in der eigenen Bewegung) abzubauen. Die kurzfristig hergestellte kollektive Identität lesbischer Frauen, die entsprechend den Analysen von Bewegungsforschern ‚die kollektive Handlungsfähigkeit einer Bewegung bewerkstelligt und gewährleistet‘ (vgl. Hellmann 1999: 100), wurde schon nach kurzer Zeit durch das
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Konzept der Mehrfachidentitäten ersetzt, dem entsprechend Lesbisch-Sein nur ein Teil der Identität ausmacht, dessen Bedeutung situativ stark variiert.
Organisationsstrukturen der feministischen Lesbenbewegung: lokal/regional, national, international Schon seit Beginn der frühen 1970er Jahre existieren Netzwerke, soziale Räume und Organisationsstrukturen der feministischen Lesbenbewegung auf unterschiedlichen räumlichen Ebenen: lokal-regional, national, international. Sie existieren jenseits eines expliziten Organisationskonzepts und einer übergeordneten Organisationsstrategie. Das Bild eines Netzes, das Knotenpunkte hinzugewinnt, aus dem sich Knotenpunkte herauslösen und in andere gesellschaftliche Kontexte wie christliche Kirchen, Gewerkschaften und Parteien hineinbewegen, bei dem sich einzelne Knotenpunkte nach einigen Jahren wieder auflösen und andere sich neu bilden, ist geeignet, um die flexiblen, kurz- und längerfristigen Organisationsformen zu beschreiben. Die räumlich und zeitlich dichteste Organisationsform sind Lesbengruppen, die sich auf lokal-regionaler Ebene organisieren. In West-Berlin führte die Gruppenbildung bereits in der Anfangsphase zur Aneignung eigener Räume mit der Gründung des Berliner ‚Lesbenarchivs Spinnboden‘ im Jahr 1973 und des ‚Lesbischen Aktionszentrums‘ im Januar 1975, das bis ins Jahr 1982 existierte. In anderen Groß- und Kleinstädten nutzten und nutzen Lesben die Infrastruktur der zweiten Frauenbewegung oder Privaträume, um Gruppen zu bilden und sich zu organisieren. Diese Gruppen haben unterschiedliche Funktionen: Mit der Gruppenbildung wird LesbischWerden und Lesbisch-Sein in einer relativ dichten Raum-Zeit-Struktur zu einer kollektiven und gesellschaftlichen Realität. In den Gruppen werden Bedürfnisse definiert, Deutungskontexte und Lösungsstrategien entwickelt, die in größere soziale Kontexte hineingetragen werden. Dies kann dadurch geschehen, dass eine einmalige Veranstaltung durchgeführt wird, ein auf Dauer ausgerichtetes Projekt initiiert und weitergeführt wird (Lesbenarchiv, Lesbenzeitschrift, Lesbentelefon, Lesbenfilmwoche etc.) oder die Rolle der Interessensvertretung in einem konkreten politischen Gremium der dominanten Gesellschaft übernommen wird (z.B. runder Tisch in der Kommune, Gemeinderat, Landtag) (vgl. Münst 1998, 2000). Lokal-regional organisierte Lesbengruppen ermöglichen auch den überregionalen, bundesweiten und internationalen inhaltlichen Austausch. Ein Beispiel hierfür ist das jährliche bundesweite Treffen, das im Jahr 1974 erstmalig mit der Bezeichnung ‚Lesbenpfingsttreffen‘ in Berlin stattfand. Die Praxis, dieses bundesweite Treffen, das seit 1992 den Namen ‚Lesbenfrühlingstreffen‘ trägt, alternierend in unterschiedlichen Städten durchzuführen, dokumentiert, dass potenziell alle Lesben für dessen Kontinuität zuständig sind, denn bis zur Gegenwart wurde keine Struktur implementiert, durch die wiederkehrende Koordinations- und Organisationsaufgaben geregelt und die Finanzierung dieses organisatorischen Großprojekts gewährleistet werden. Vielmehr erklären sich auch gegenwärtig während eines Treffens Lesben dafür zuständig, in ihrer Stadt eine Gruppe zu bilden, die sich der Aufgabe stellt, die Organisation und inhaltliche Gestaltung eines weiteren Treffens zu übernehmen, an dem zwischen 2.000 und 5.000 Lesben teilnehmen werden. Ein weiteres Beispiel für die bundesweite Vernetzung lesbischer Frauen ist die zwischen 1985 und 1995 jährlich organisierte ‚Berliner Lesbenwoche‘, die aus den Berliner SommerUniversitäten für Frauen entstand. Referentinnen und Teilnehmerinnen kamen aus der gesamten Bundesrepublik, in geringerer Zahl auch aus dem Ausland. Auch hier erklärte sich eine Gruppe für die Organisation verantwortlich, deren Zusammensetzung sich veränderte. Während der siebten Berliner Lesbenwoche im Jahr 1991 fand in diesem Kontext mit eigenen Veranstaltungen die erste ‚Lesbenwoche for Wimin of Colour‘ statt.
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Ein mit Blick auf die Organisationsstruktur stabiler bundesweiter Zusammenschluss ist der seit 1982 bestehende Verein ‚Lesbenring e.V.‘, dessen Mitglieder sich aus einzelnen Lesben, Regionalgruppen und anderen Vereinen zusammensetzen. Der Zweck des Vereins ist, die Emanzipation der lesbischen Lebensweise in allen Gesellschaftsbereichen zu fördern und der Diskriminierung von Lesben entgegenzuwirken. Mit der Vereinsstruktur sind formale Funktionen definiert (Vorstand, Info-Redaktion), wiederkehrende Abläufe (Mitfrauenversammlung) und die Vereinsmitgliedschaft geregelt. Der lokale Sitz des Vereins änderte sich in der Vergangenheit mehrmals. Die internationale Dimension der bundesrepublikanischen feministischen Lesbenbewegung wurde zuerst durch die Teilnahme Einzelner an Veranstaltungen in europäischen Nachbarländern hergestellt, z.B. an den Mitte bis Ende der 1970er Jahre stattfindenden Lesben-SommerCamps auf den dänischen Inseln Femø und Sejerø. Sie erhielt eine neue Qualität und verstetigte sich durch deutschsprachige Publikationen theoretischer, literarischer und belletristischer Texte und Bücher, die in anderen europäischen Ländern, in den USA und Kanada zuvor in der jeweiligen Originalsprache publiziert worden waren. Feministische Verlage, die Lesbenpresse und feministische Zeitschriften ermöglichten und ermöglichen die Rezeption und Diskussion der im Ausland entwickelten Analysen, Theorien und politischen Aktionsstrategien. Eine explizit auf die internationale Vernetzung ausgerichtete Organisationsstruktur lesbischer Frauen entstand Anfang der 1980er Jahre mit dem ‚International Lesbian Information Service‘. Die schriftlichen Medien der feministischen Lesbenbewegung haben eine regionale oder bundesweite Verbreitung. Auf regionaler Ebene entstanden ab Mitte der 1970er Jahre unterschiedliche Lesbenzeitschriften, die einige Jahre publiziert und wieder aufgelöst wurden. Sechsundzwanzig Jahre, von Februar 1974 bis Januar 2001 erschien in Berlin monatlich die Zeitschrift UKZ (Unsere Kleine Zeitung), die bundesweit abonniert werden konnte. Von 1980 bis 1993 erschien ebenfalls in Berlin der ‚Lesbenstich‘ – eine Zeitung der Lesbenbewegung (Berlin). Von 1990 bis 2004 konnte bundesweit über den Buchhandel oder ein Abonnement die zwei Mal jährlich herausgegebene Zeitschrift ‚Ihrsinn‘, erworben werden. Die Herausgeberinnen dieser im wissenschaftlichen Zeitschriftenformat publizierten radikalfeministischen Lesbenzeitschrift (Bochum), griffen aktuelle Themen auf, die in der Lesbenbewegung besonders virulent diskutiert wurden, oder initiierten selbst neue Themen. Die Zusammensetzung der Redaktion zeichnete sich durch Kontinuität und Wechsel aus, einige der sechs bis acht unbezahlt arbeitenden Lesben waren von 1990-2004 beteiligt, andere arbeiteten jeweils für einen bestimmten Zeitraum in der Redaktion mit. Mit dem 15. Jahrgang und der 29. Nummer setzten die Herausgeberinnen 2004 ihren „Schlussakkord“. Die lokal-regionalen, nationalen und internationalen Organisationsformen der feministischen Lesbenbewegung weisen eine schwach formalisierte Struktur auf. Diese korrespondiert mit den Inhalten der Bewegung, denn sie produziert, wie die zweite Frauenbewegung, „kontinuierlich radikale Analysen und formuliert Kritik an den Strukturprinzipien der sekundärpatriarchalischen, bürgerlich-industriekapitalistischen Moderne“ (Dackweiler/Schäfer 1999: 215). Da diese Strukturprinzipien lesbische Frauen ganz unterschiedlich positionieren, steht in der feministischen Lesbenbewegung seit den 1980er Jahren nicht die Etablierung und Reinszenierung eines ‚kollektiven Subjekts‘ im Mittelpunkt der inhaltlichen Auseinandersetzungen, sondern die Analyse dieser Strukturprinzipien aus einer lesbisch-feministischen Perspektive. Die entwickelten Organisationsformen sind Orte, an denen lesbische Lebensweisen als selbstverständliche Realität vorausgesetzt werden, und soziale Räume, in denen lesbische Frauen kontinuierlich Deutungsmacht entwickeln und wahrnehmen. Verweise: Frauenbewegungen Frauennetzwerke Lesbenforschung und Queer Theorie
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Literatur Dackweiler, Regina/Reinhild Schäfer 1999: Lokal – national – international. Frauenbewegungspolitik im Rück- und Ausblick. In: Klein, Ansgar/Hans-Josef Legrand/Thomas Leif (Hrsg.): Neue soziale Bewegungen. Opladen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 199-224 Hellmann, Kai-Uwe 1999: Paradigmen der Bewegungsforschung. Eine Fachdisziplin auf dem Weg zur normalen Wissenschaft. In: Klein, Ansgar/Hans-Josef Legrand/Thomas Leif (Hrsg.): Neue soziale Bewegungen. Opladen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 91-113 Ihrsinn – eine radikalfeministische Lesbenzeitschrift. 15. Jg., Nr. 29. „Schlussakkord.“ Bochum Kokula, Ilse 1981: Weibliche Homosexualität um 1900 in zeitgenössischen Dokumenten. München: Frauenoffensive Kokula, Ilse 1983: Formen lesbischer Subkultur. Vergesellschaftung und soziale Bewegung. Berlin: Verlag rosa Winkel Kokula, Ilse 1986: Jahre des Glücks, Jahre des Leids. Gespräche mit älteren lesbischen Frauen. Dokumente. Kiel: Frühlings Erwachen Kokula, Ilse/Ulrike Böhmer 1991: Die Welt gehört uns doch! Zusammenschluss lesbischer Frauen in der Schweiz der 30er Jahre. Zürich: eFeF-Verlag Kronauer, Rita 1993: Transsexualität. In: Ihrsinn – eine radikalfeministische Lesbenzeitschrift. 4. Jg., Nr. 7. Bochum, S. 78-99 Münst, Agnes Senganata 1998: Der Beitrag lesbischer Frauen zur Öffentlichkeit der Autonomen Frauenbewegung am Beispiel einer Großstadt. Pfaffenweiler: Centaurus Münst, Agnes Senganata 2000: Lesbians’ Contribution to the Autonomous Women’s Movement in (West-) Germany, Exemplified by a State Capital City. In: Women’s Studies International Forum, Jg. 23, Nr. 5, S. 601-612 Laps, Lena 1994: Lesbischsein allein genügt nicht. Teil 1. In: Ihrsinn – eine radikalfeministische Lesbenzeitschrift. 5. Jg., Nr. 10. Bochum, S. 30-43 Laps, Lena 1995: Lesbischsein allein genügt nicht. Ein Blick zurück nach vorn auf politisches Denken und Handeln in der Lesbenbewegung/West. Teil 2: Die 80er und 90er. In: Ihrsinn – eine radikalfeministische Lesbenzeitschrift. 6. Jg., Nr. 11. Bochum, S. 51-67 Schenk, Herrad 1980: Die feministische Herausforderung. 150 Jahre Frauenbewegung in Deutschland. München: Beck Schoppmann, Claudia 1991: Nationalsozialistische Sexualpolitik und weibliche Homosexualität. Pfaffenweiler: Centaurus Schoppmann, Claudia 1994: Es begann die Zeit der Maskierung – Zur Situation lesbischer Frauen im „Dritten Reich“. In: Marti, Madeleine/Angelika Schneider/Irena Sgier/Anita Wymann (Hrsg.): Querfeldein. Beiträge zur Lesbenforschung. Bern, Zürich, Dortmund: eFeF-Verlag, S. 119-135
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Migrantinnenorganisationen: Zur Selbstorganisierung von Migrantinnen
Begrifflichkeiten „Aquí Nosotras – Wir hier“ so lautet der Name des 1992 gegründeten europäisch-lateinamerikanischen Frauen-Netzwerkes (Red Europea Latinoamericana de Mujeres) mit Gruppen und Mitgliedern in den meisten europäischen Ländern. Unter der Selbstorganisierung von Migrantinnen werden alle Gruppen, Projekte, Netzwerke und Organisationen von Migrantinnen verstanden, die mit einer gewissen Kontinuität mittels variabler Organisations- und Aktionsformen Ziele sozialen Wandels verfolgen. Bislang gibt es keine Auseinandersetzung um die Begrifflichkeit, es wird häufig von ‚Migrantinnenbewegung‘ gesprochen. Hier findet der vorsichtigere Begriff der ‚Selbstorganisierung von Migrantinnen‘ Verwendung. Wendet man strikte Kriterien aus der sozialen Bewegungsforschung an (allg. Definitionen bei Raschke 1985: 76ff., Rucht 1994: 76f.), so treffen die Kriterien nicht immer auf die Selbstorganisierung von Migrantinnen zu. Die personelle wie inhaltliche Heterogenität und Überlappung mit anderen (Teil-)Bewegungen wie der Frauenbewegung, der Flüchtlings- und MigrantInnenorganisierung und der Antirassismusbewegung ist charakteristisch.
Das Verhältnis von Migrantinnen und ‚deutscher‘ Frauenbewegung Untersuchungen zur Entwicklung der Selbstorganisierung von Migrantinnen stehen noch aus; für die gemischtgeschlechtlichen Organisierungen von MigrantInnen in der BRD gibt es erste Arbeiten (bspw. Bojadžijev 2002). Die folgende Darstellung beruht auf der Analyse von Zeitschriften (insbes. Courage, iza, Rundbrief Sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis für Frauen e.V. sowie beiträge zur feministischen theorie und praxis) und grauen Materialien (vgl. Schwenken 2000). In den 1970er Jahren gab es erste zaghafte wie auch konfliktbehaftete Begegnungen zwischen deutschen Feministinnen und ausländischen Frauen. In den Frauenzentren, die sich ab 1972 gründeten, waren Migrantinnen kaum – bis auf einige Studentinnen – engagiert. Nevâl Gültekin, als junge Migrantin aktiv in der Frauenbewegung, kritisierte, dass ausschließlich diejenigen Migrantinnen akzeptiert würden, die sich ‚emanzipierten‘ und sich „oft genug an den besonderen Formen unserer Unterdrückung abgearbeitet wurde, um sich die eigene Emanzipation zu versichern“ (Gültekin 1986: 92). Ausländische Frauen führten erfolgreiche Streiks durch (z.B. 1973 bei der Pierburg KG Neuss), beteiligten sich an Hausbesetzungen durch MigrantInnen, waren in den griechischen, italienischen oder türkischen Gemeinden aktiv und gründeten z.T. eigene Frauengruppen in den Gemeinden. Migrantinnen waren also auch in anderen sozialen Bewegungen sowie in gemischtgeschlechtlichen Selbstorganisationen aktiv. Im Folgenden steht das Verhältnis von Migrantinnen und deutschen Frauen sowie der Frauenbewegung im Mittelpunkt. Im September 1977 fand in Oberwesel/Rhein die erste Tagung zur Situation ausländischer Frauen statt, es beteiligten sich Frauen aus der Türkei, Griechenland, Spanien, Jugoslawien, den
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Niederlanden und der Bundesrepublik. Im Vordergrund stand die Schilderung von Schicksalen ausländischer Frauen und die Darstellung ihrer Lebenssituation in der Bundesrepublik, auch ermutigende Beispiele der Selbstorganisierung wurden vorgestellt. Gefordert wurde die rechtliche und soziale Gleichstellung von ausländischen und deutschen Frauen (gleiches Kindergeld, Anspruch auf Sozialhilfe, von der Ehe unabhängige Aufenthaltserlaubnis). Die Forderung nach Gleichstellung von ausländischen und deutschen Frauen ist insofern bemerkenswert, als sie über die Forderung der Gleichstellung von ausländischen Männern und Frauen hinausgeht. Viele deutsche Frauen aus der Frauenbewegung waren im sozialen Bereich tätig, so dass sie dort am ehesten mit Migrantinnen zusammentrafen. Migrantinnen sahen sich zumeist in der Rolle ,defizitärer‘ Klientinnen bzw. von Sprachmittlerinnen, forderten die deutschen Frauen aber auch auf, Selbstorganisationsprozesse zu respektiven. Ein Teil der aktiven ausländischen Frauen war eher in traditionellen Exil- und Ausländerorganisationen als in autonomen Frauengruppen organisiert. In diesen Organisationen stießen Begriffe wie Feminismus und Frauenunterdrückung zumeist auf starke Ablehnung. Auch die Kommunikation zwischen deutscher Frauenbewegung und den Frauen aus Exilorganisationen war oft durch Vorbehalte und unterschiedliche Interessen geprägt: „Die deutschen Frauen wollten über spezifische Frauenfragen reden und wir Chileninnen redeten über ‚die Bewegung‘, ‚die Partei‘ – wir waren fast alle parteipolitisch engagiert – und ‚Massenmobilisierungen‘. Wir hatten, noch, kein Frauenbewusstsein. Woher auch? In Chile war ich in einer Studentengruppe aktiv und die einzige Frau“ (Interview mit Isabel Cárcamo am 14.9.1998 durch die Autorin. Cárcamo lebte von 1973 bis 1989 im Ruhrgebiet im Exil und ist heute tätig in der chilenischen Frauenbehörde SERNAM). Des Weiteren war es für die Frauenbewegung schwierig, Zugang zu ‚normalen‘ ausländischen Frauen zu bekommen. „Für viele Ausländerinnen bleiben die Bewegungsfrauen ‚komisch‘, ‚chaotisch‘, ‚nicht normal‘, ‚Huren‘. Ein Zugang zu ihnen ist noch schwieriger als der Zugang zu den deutschen Arbeiterinnen“ (Courage 4/1980: 13), war die Einschätzung. Aus den Texten von Migrantinnen geht hervor, dass das Verhältnis zu den deutschen Frauen aus der Frauenbewegung als nicht-gleichberechtigt und oft als abwertend und diskriminierend empfunden wurde. Es wird vor allem die Kritik vorgebracht, dass ausländische Frauen neue Arbeitsobjekte der Frauenbewegung wurden. Der Dialog ging trotz Differenzen weiter. Im Februar 1980 fand mit etwa 50 Teilnehmerinnen in Frankfurt die Tagung „Arbeitsemigrantinnen und Deutsche Frauenbewegung“ statt (Berichte in iza 2/1980; Courage 4/1980). 1984 erfolgte ein Mordanschlag auf das autonome türkische Frauenberatungsprojekt TIO in Berlin. Nach dem Anschlag gab es Reaktionen und Solidarisierungen aus der Frauenbewegung, dennoch zeigten sich die Mitarbeiterinnen von TIO enttäuscht über einige Reaktionen, aus denen sie Rechtfertigungs- und Rationalisierungsversuche heraus hörten und in denen ihnen Respektlosigkeit vor der türkischen Kultur vorgeworfen wurde (vgl. iza 4/1984, 4/1985). Im März 1984 kamen 1.000 Teilnehmerinnen zum „Ersten gemeinsamen Frauenkongreß ausländischer und deutscher Frauen“ nach Frankfurt. Dieser Kongress war der Ausgangspunkt von neuen Kooperationen und Netzwerken sowie der Kontroversen um Rassismus in der Frauenbewegung (Dokumentation in iza 3/1984).
Migrantinnen in der DDR In die DDR kamen Migrantinnen vor allem als Vertragsarbeiterinnen, mit z.T. akademischer Ausbildung, oder lebten in bi-nationalen Ehen. Es gab vor allem auf den Herkunftsstaat bezogene Selbstorganisationen. Ende der 1980er Jahre gab es Veränderungen in der Ausrichtung der Organisierung von MigrantInnen; Diskriminierungen und Rassismus wurden verstärkt thematisiert. Es gründete sich im Herbst 1989 bspw. eine Selbsthilfegruppe von Eltern, deren Kinder „nicht ganz deutsch aussehen“ (Krüger-Potratz 1991: 85), die sich dem Unabhängigen Frauen-
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verband der DDR anschloss. Ebenfalls 1989 wurde die Idee zum interkulturellen Frauenzentrum S.U.S.I. im Ostteil Berlins geboren. 1990 gründete sich die Berliner Initiative Binationaler Familien BINA e.V. Nach dem Fall der Mauer wurden viele weitere Initiativen und (Beratungs-) Projekte von und für MigrantInnen ins Leben gerufen, die z.T. an kirchliche und entwicklungspolitische Arbeit anschließen konnten. Einige (offizielle) Solidaritäts-, Kultur- und Freundschaftsgesellschaften sowie Aktive aus der Bürgerbewegung beschlossen im Rahmen einer Umorientierung, sich mit dem Zusammenleben von In- und AusländerInnen zu befassen (vgl. Senatsverwaltung 1993, Krüger-Potratz 1991: 11f.). Die in der DDR lebenden Polinnen, Ungarinnen, BürgerInnen der Sowjetunion etc. wurden nach 1989 plötzlich zu „AusländerInnen“, deren Situation sich schlagartig änderte, einige Projekte befassen sich besonders mit ihrer Situation (vgl. Senatsverwaltung 1993: 50ff.).
Zu den Entwicklungen nach 1990 Die Zeit nach dem Fall der Mauer 1989 bedeutete eine deutliche Zunahme der Beschäftigung mit Migration und Antirassismus, sowohl im Westen wie im Osten und in der ‚deutschen‘ Frauenbewegung wie auch unter Migrantinnengruppen, die sich zuvor z.T. eher mit anderen Themen befassten. Es engagierten sich zahlreiche Gruppen aus der Frauenbewegung in Bündnissen gegen rassistische Übergriffe und die Einschränkung des Art. 16 GG (Asylrecht) im Mai 1993. Unter Migrantinnen wurden ebenfalls die Folgen der deutschen Vereinigung und das Erstarken des Nationalismus diskutiert (bspw. Autonome Iranische Frauenbewegung 1993). Die Initiative für eine nicht-rassistische Verfassung (1992) machte Vorschläge für die Verfassungskommission zur Änderung des auf dem Blutsrecht basierenden Staatsbürgerschaftsmodells (Art. 116). Gefordert wurde nicht die „doppelte Staatsbürgerschaft“, sondern die Trennung von Nationalität und BürgerInnenrechten. Letztere sollten bereits ab einer ständigen Aufenthaltsdauer von zwei Jahren erteilt werden und nicht zur Vorraussetzung haben, Deutsche zu werden. Im November 1990 fand in Köln der Kongress „Frauen gegen Nationalismus – Rassismus/Antisemitismus – Sexismus“ statt, auf dem – neben Themen wie Frauen/-bewegung in der DDR, Asyl, neues AusländerInnengesetz – die Kontroversen um den ‚eigenen Rassismus‘ mit aller Vehemenz ausgetragen wurden (Dokumentation: Verein f. sozialwiss. Forschung u. Praxis f. Frauen 1991). Seit 1990 fanden – auch als Konsequenz der vorangegangenen Auseinandersetzungen – regelmäßig Kongresse von und für Migrantinnen und für Schwarze Frauen statt (eine Übersicht bei: Kaynar/Suda 2002: 176ff.). „Die Tatsache, daß wir in unserer jeweiligen Community (z.B. afro-deutsche, iranische etc.) keine gesicherte Nische haben, ist jedoch nicht nur Nachteil, sondern auch eine positive Herausforderung, Koalitionen einzugehen und Bündnisse zu entwickeln. Der Anfang ist bereits gemacht!“ (Ayim/Prasad 1992: 4). Am 25.11.1992 begann die Arbeit der Kampagne Südströmungen – Frauen aus Afrika, Asien und Lateinamerika, in der alle Frauen in der BRD aufgerufen wurden, sich öffentlich gegen Gewalt und Diskriminierung von Migrantinnen zu positionieren. Das Verhältnis von selbstorganisierten Migrantinnen zur Frauenbewegung bleibt jedoch spannungsgeladen (vgl. FeMigra 1994). Sevim Türkolu benennt als einen der Gründe, warum es nicht gelänge, eine gemeinsame feministische Frauenbewegung aufzubauen, das „StufenDenken“. Es werde „angenommen, daß die Frauen aus anderen Kulturen mehr unterdrückt werden, als die deutschen Frauen, daher kann es keine gemeinsame Forderung und Widerstandsstrategien geben“ (Türkolu 1991: 19).
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Die Selbstorganisierung von Migrantinnen in der BRD Die folgenden empirischen Ergebnisse beruhen auf einer Studie, in der die Selbstorganisierung von Migrantinnen in der Bundesrepublik Deutschland quantitativ und qualitativ analysiert wurde (Schwenken 2000). Die Selbstorganisierung von Migrantinnen verfügt entgegen der publizistischen und wissenschaftlichen Nichtwahrnehmung über eine organisatorisch ausdifferenzierte Infrastruktur (vgl. bspw. für Köln Franken/Jazaeri/Staudenmeyer 2001) in nahezu allen westlichen Bundesländern und Berlin (mit Schwerpunkten in Berlin, NRW, Hessen, Hamburg); die östlichen Bundesländer, Rheinland-Pfalz, das Saarland und Schleswig-Holstein sind nahezu weiße Flecken. Gegründet wurden die Gruppen vor allem seit 1980. Nur wenige Projekte, die Migrantinnen in den 1970er Jahren gründeten, haben bis heute Bestand. Die Rechtsform ist in der Mehrzahl der ‚eingetragene Verein‘. Zwei Drittel der Projekte verfügten zum Zeitpunkt der Untersuchung über Personalstellen, fast alle mit zeitlicher Befristung und abhängig von öffentlichen Geldern. Die Haupttätigkeiten liegen in der Ermöglichung von Kommunikation, der Selbsthilfe und Beratung sowie der politischen Einmischung. Die in der bewegungswissenschaftlichen Literatur verbreitete analytische Trennung zwischen Selbsthilfegruppen und politischen Organisationen trifft für die Selbstorganisierung von Migrantinnen nicht zu, vielmehr ist die enge Verknüpfung von politischen und sozialen Aspekten kennzeichnend. Die Themenpalette ist sehr breit und umfasst beispielweise folgende Inhalte: Asyl-/Ausländerrecht, antirassistische Arbeit, Antidiskriminierungsgesetzgebung, Existenzgründung, Gewalt gegen Frauen im Migrationsprozess, Frauenhandel, Anerkennung im Ausland erworbener Bildungsabschlüsse und Berufsausbildungen, empowerment, politische Arbeit zum Herkunftsland, (Homo-)Sexualität oder bi-nationale Partnerschaft. Die Bestimmung der inhaltlichen und politischen Ausrichtung ist aufgrund der Heterogenität und unterschiedlichen Herkunftskontexte schwierig, Begriffe wie ‚politisch‘ oder ‚feministisch‘ werden z.T. sehr unterschiedlich gefüllt oder abgelehnt. Viele der Migrantinnen-Projekte beschreiben sich als interkulturell und parteilich für die Frauen, bemühen sich aber, politische und religiöse Konflikte außen vor zu lassen, und bezeichnen sich daher als „unpolitisch“ oder „neutral“. Es ist – wie auch bei der Frauenbewegung – bei der Selbstorganisierung von Migrantinnen zwischen Trägerinnen bzw. Aktiven und den Nutzerinnen bzw. Klientinnen zu unterscheiden. Zu den Trägerinnen gehören vor allem Migrantinnen mit einem relativ gesicherten Aufenthaltstitel sowie Frauen, die schon vor der Migration in politische oder frauenbewegte Kontexte – z.B. im Iran – eingebunden waren. Nur wenige Mädchen und junge Frauen sowie wenige ältere Frauen engagieren sich. Einige Asylantragstellerinnen sind in der Flüchtlingsorganisierung (z.B. Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen, The Voice) tätig, undokumentierte Migrantinnen in der in einigen Ländern aktiven Bewegung der „Sans-Papiers“ (vgl. für Frankreich: Cissé 2002, europäischer Überblick: AutorInnenkollektiv 2000) aktiv. In etwa der Hälfte der für die BRD analysierten Gruppen und Organisationen sind Migrantinnen eines Herkunftslandes bzw. einer Herkunftsregion (bes. Afrika, Lateinamerika) aktiv, die andere Hälfte ist multinational. Am stärksten sind Frauen türkischer Herkunft organisiert, gefolgt von Kurdinnen, Iranerinnen und Filipinas. Vor dem Hintergrund der starken multinationalen Organisierung ist die Alltagsthese der Selbstgettoisierung ausländischer Frauen nach nationalstaatlicher Herkunft zu hinterfragen. Die Migrantinnenselbstorganisation zeigt eine starke internationale Orientierung und Vernetzung (vgl. Lenz/Schwenken 2002). Um zwei Beispiele zu nennen: Frauen aus Mittel- und Lateinamerika verfügen über transnationale Publikationsorgane und politisch-feministische Netzwerke wie Aquí Nosotras, deren gemeinsamer Kontext in den lateinamerikanischen Frauenbewegungen und z.T. in den Erfahrungen mit lateinamerikanischen Diktaturen und Exil liegen. Filipinas – die Mehrzahl der MigrantInnen von den Philippinen ist weiblich – sind europa- und weltweit organisiert. Ihre Aktivitäten sind kulturell-sozial sowie politisch ausgerichtet; sie setzen sich insbesondere für die Verbesserung von Erwerbsarbeitsbedingungen und die Beziehungen zum Herkunftsland ein.
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Die Europäischen Union hat sich in den letzten Jahren auch für Migrantinnen zu einem politischen Terrain entwickelt, auf dem Interessen und Forderungen vertreten werden (vgl. Hoskyns 1996). Dabei sind Migrantinnen in eigenen Netzwerken wie auch in feministischen und antirassistischen Netzwerken präsent. Im European Migrant’s Forum, der einzigen institutionalisierten und vergleichsweise breiten Interessenvertretung von Drittstaatsangehörigen in der EU, gab es bis zu seiner Auflösung im Jahr 2001 ein Frauenkomitee. In der European Women’s Lobby (EWL) sind Migrantinnenorganisationen zwar nur sehr schwach vertreten, jedoch findet kontinuierlich eine Befassung mit den Belangen von Migrantinnen und asylsuchenden Frauen statt. Die EWL ließ zwei wichtige Studien durchführen, die zur Sichtbarkeit von Migrantinnen und ihrer Selbstorganisierung beitrugen (EWL 1995, EWL 1999). In den großen europäischen antirassistischen Netzwerken, dem European Network Against Racism (ENAR) und UNITED for Intercultural Action, sind Migrantinnen ebenfalls nicht als eigene Gruppe vertreten, jedoch präsent. Im RESPECT-Netzwerk sind Gruppen und Organisationen von in Haushalten arbeitenden Migrantinnen, zumeist ohne Papiere, sowie Unterstützungsorganisationen europaweit vernetzt und legen den Fokus auf die Verbesserung von Arbeitsbedingungen und europäisches Lobbying (vgl. Schwenken 2003).
Ausblick Unter den sich verändernden Bedingungen von Migration und Migrationspolitik – beispielsweise der Zunahme irregulärer Migration, prekärer Beschäftigungsverhältnisse, dem Älterwerden der ‚Gastarbeiterinnen‘-Generation und dem Abbau öffentlicher Mittel für Beratungsprojekte – wird sich die Selbstorganisierung von Migrantinnen weiter wandeln. Die Ende der 1990er Jahre in der BRD existierende vergleichsweise breite Infrastruktur zur Beratung, Kommunikation und Selbstorganisierung von und für Migrantinnen ist in ihrem Bestand gefährdet. Gleichzeitig kristallisieren sich auf europäischer und internationaler Ebene neue Möglichkeiten und Foren der Artikulation und Organisierung heraus. Es handelt sich dabei allerdings um andere Trägerinnen und Formen der Interessenvertretung als auf lokaler Ebene. Trotz repressiver und selektiver Einwanderungspolitiken werden MigrantInnen auf regulärem wie irregulärem Weg weiterhin nach Europa kommen und sich an neuen und bestehenden Formen der Selbstorganisierung beteiligen. Verweise: Migrationsforschung Rassismustheorien
Literatur Autonome Iranische Frauenbewegung im Ausland 1993: „Wir haben keine Heimat.“ Migrantinnen im vereinigten Deutschland. Eine Sammlung von fünf Aufsätzen aus den Jahren 1989 bis 1993. Berlin: Eigenverlag AutorInnenkollektiv (Hrsg.) 2000: Ohne Papiere in Europa. Illegalisierung der Migration – Selbstorganisation und Unterstützungsprojekte in Europa. Berlin, Hamburg: Verlag der Buchläden Schwarze Risse – Rote Straße, Verlag Libertäre Assoziation Ayim, May/Nivedita Prasad, in Kooperation mit der Frauenanstiftung (Hrsg.) 1992: Dokumentation. Wege zu Bündnissen. Tagung von und für ethnische und afro-deutsche Minderheiten. Bremen, 8.-11. Juni 1990. Zweiter bundesweiter Kongreß von und für Immigrantinnen, Schwarze deutsche, jüdische und im Exil lebende Frauen. Berlin Bojadžijev, Manuela 2002: Antirassistischer Widerstand von Migrantinnen und Migranten in der Bundesrepublik: Fragen der Geschichtsschreibung. In: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, 17, 1, S. 125-152 Cissé, Madjiguène 2002: Papiere für alle. Die Bewegung der Sans Papiers in Frankreich. Berlin, Hamburg, Göttingen: Assoziation A (Titel der französischen Ausgabe: Parole de sans-papiers. Paris 1999)
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EWL (European Women’s Lobby) 1995: Confronting the Fortress. Black and Migrant Women in the European Union. External Study, European Parliament, Directorate General for Research, Working Papers, Women’s Rights Series. Luxembourg, Brussels EWL (European Women’s Lobby) 1999: Overcoming Discrimination. Selected Strategies Empowering Black, Ethnic Minority and Migrant Women. Report drafted by Jyostna Patel. Brussels FeMigra (Feminstische Migrantinnen, Frankfurt) 1994: Wir, die Seiltänzerinnen. Politische Strategien von Migrantinnen gegen Ethnisierung und Assimilation. In: Eichhorn, Cornelia/Sabine Grimm (Hrsg.): Gender Killer. Texte zu Feminismus und Politik. Berlin, Amsterdam: Edition ID-Archiv, S. 49-63 Franken, Irene/Shirin Jazaeri/Renate Staudemeyer (Hrsg.) 2001: Was erreicht? Frauenbewegte Lebensgeschichten aus der Sicht unterschiedlicher Kulturen. Hrsg. vom Kölner Frauengeschichtsverein. Köln: Schmidt von Schwind Verlag Gültekin, Nevâl 1986: Anpassung zur Emanzipation? In: Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis, 18, S. 92-94 Hoskyns, Catherine 1996: Integrating Gender: Women, Law and Politics in the European Union. London, New York: Verso Initiative für eine nicht-rassistische Verfassung 1992: Vorschlag für eine Neufassung der Artikel 116, 16 und 3 für eine nicht-rassistische Verfassung. Berlin Kaynar, Erdal/Kimiko Suda 2002: Aspekte migrantischer Selbstorganisation in Deutschland. In: Bratic, Ljubomir (Hrsg.): Landschaften der Tat. Vermessung, Transformation und Ambivalenzen des Antirassismus in Europa. St. Pölten: SozAktiv, S. 167-185 Krüger-Potratz, Marianne 1991: Anderssein gab es nicht: Ausländer und Minderheiten in der DDR. Münster, New York: Waxmann Lenz, Ilse/Helen Schwenken 2002: Feminist and Migrant Networking in a Globalising World. Migration, Gender and Globalisation. In: Lenz, Ilse/Helma Lutz/Mirjana Morokvasic/Claudia Schöning-Kalender/Helen Schwenken (Hrsg.): Crossing Borders and Shifting Boundaries, Vol. 2: Gender, Networks and Identities. Opladen: Leske + Budrich, S. 147-178 Raschke, Joachim 1985: Soziale Bewegungen. Ein historisch-systematischer Grundriß. Frankfurt/M., New York: Campus Rucht, Dieter 1994: Modernisierung und neue soziale Bewegungen. Deutschland, Frankreich und USA im Vergleich. Frankfurt/M., New York: Campus Schwenken, Helen 2000: Frauen-Bewegungen in der Migration. Zur Selbstorganisierung von Migrantinnen in der Bundesrepublik Deutschland. In: Lenz, Ilse/Michiko Mae/Karin Klose (Hrsg.): Frauenbewegungen weltweit. Aufbrüche, Kontinuitäten, Veränderungen. Opladen: Leske + Budrich, S. 133-166 Schwenken, Helen 2003: Weltwirtschaft im trauten Heim. Arbeitsmigrantinnen in deutschen Haushalten und der Kampf um Arbeits- und Aufenthaltsrechte. In: Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis, 63/64, S. 139-151 Senatsverwaltung für Arbeit und Frauen Berlin (Hrsg.) 1993: Migrantinnen im Ostteil der Stadt. Dokumentation der Fachtagung am 19. und 20. November 1992. Berlin Türkolu, Sevim 1991: Bilanz der Zusammenarbeit zwischen Immigrantinnen und deutschen Frauen. In: Verein für Sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis für Frauen (Hrsg.): Dokumentation des Kongresses „Frauen gegen Nationalismus – Rassismus/Antisemitismus – Sexismus“ am 16.-18.11.1990 in Köln. Köln, S. 16-19 Verein für sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis für Frauen (Hrsg.) 1991: Dokumentation des Kongresses „Frauen gegen Nationalismus – Rassismus/Antisemitismus – Sexismus“ am 16.-18.11.1990 in Köln. Köln
Uta Ruppert
FrauenMenschenrechte: Konzepte und Strategien im Kontext transnationaler Frauenbewegungspolitik
Definition „Frauen haben gleichberechtigten Anspruch auf den Genuss und den Schutz aller politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, bürgerlichen, und sonstigen Menschenrechte und Grundfreiheiten. Dazu gehören unter anderem die folgenden Rechte: das Recht auf Leben; das Recht auf Gleichberechtigung; das Recht auf Freiheit und persönliche Sicherheit; das Recht auf gleichen Schutz durch das Gesetz; das Recht auf Freiheit von jeder Form von Diskriminierung; das Recht auf das erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit; das Recht auf gerechte und befriedigende Arbeitsbedingungen; das Recht, nicht der Folter oder anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen zu werden.“ (Menschenrechte 1999: 180)
Mit diesen Worten charakterisierte die Generalversammlung der Vereinten Nationen in Artikel 3 der am 20. Dezember 1993 verabschiedeten „Erklärung über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen“, was unter Menschenrechten von Frauen zu verstehen ist. In den darauffolgenden Jahren wurde dieses Verständnis von FrauenMenschenrechten sukzessive erweitert. Insbesondere die reproduktiven Rechte, die das Recht auf Selbstbestimmung über Sexualität und Fortpflanzung und damit auch das Recht auf reproduktive und sexuelle Gesundheit beinhalten, stellen eine wichtige Vervollständigung des zitierten Rechtekanons von 1993 dar. Entgegen der Wortlaute der UN-Resolutionen, die präzisieren, was unter FrauenMenschenrechten zu verstehen ist, ist die Rechtspraxis in vielen Ländern der Welt weiterhin von Frauen diskriminierenden Rechtsvorschriften bestimmt. Darüber hinaus führen Lücken in den Gesetzen und die mangelnde Umsetzung bestehender Vorschriften zur Fortschreibung von Ungleichheit und Diskriminierung. In vielen Ländern bleibt Frauen der Zugang zum Recht weitgehend verschlossen, weil ihnen grundlegende Rechtskenntnisse, Informationen und Ressourcen fehlen und weil Polizei und Justiz FrauenMenschenrechte missachten (vgl. z.B. Wölte 2008, Zwingel 2005).
Menschenrechte aus feministischer Sicht Allgemeine Menschenrechte stellen bis heute für Frauen in vielen Ländern der Welt eher ein theoretisches Versprechen denn eine ausgeübte Praxis dar. Gleichwohl bilden die Menschenrechte einen wichtigen Maßstab nationaler und transnationaler Frauenpolitik. Der historische Beginn frauenpolitischer Inanspruchnahme der Menschenrechte datiert auf das Jahr 1791, als Olympe de Gouges mit der „Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin“ die erste frauenrechtliche Antwort auf die französische Menschenrechtserklärung von 1789 verfasste (vgl. Gerhard 1987). Von diesem Zeitpunkt an bezogen sich Frauenbewegungen mit ihren Kämpfen für
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Gleichheit und Gerechtigkeit immer wieder und in immer mehr Regionen dieser Welt auf das Prinzip der Menschenrechte. Die Beispiele dafür reichen von den Frauenstimmrechtskämpfen im Europa, den USA und Japan des 19. und 20. Jahrhunderts über die Antikriegspolitik europäischer und amerikanischer Frauenrechtlerinnen im frühen 20. Jahrhundert bis zur internationalen feministischen Globalisierungskritik (vgl. z.B. Gerhard 1990, Wichterich 1998a, Lenz/Mae/Klose 2000, Holland-Cunz 2003, Gould 2004, Ferre/Tripp 2006). In all diesen politischen Auseinandersetzungen zeigte sich aber auch, wie schwierig die Aneignung der „Rechte der Menschen“ durch „die andere Hälfte der Menschheit“ tatsächlich ist (Gerhard 2003: 86). De facto galten die als universell proklamierten Menschenrechte zunächst ausschließlich für männliche Besitzbürger. Die sukzessive Verallgemeinerung der Menschenrechte auf zuvor ausgeschlossene Bevölkerungsgruppen musste dagegen von der ArbeiterInnenbewegung, den Frauenbewegungen, den antikolonialen Befreiungsbewegungen und der USamerikanischen Bürgerrechtsbewegung in langen politischen Kämpfen erstritten werden (vgl. Schmidt-Häuer 1998: 132). Für Frauen ist dieser Prozess der Aneignung der Menschenrechte längst nicht abgeschlossen. „Women’s Rights are Human Rights“, dieser Grundsatz der internationalen Frauenpolitik, der in den 1990er Jahren zum Slogan wurde, ist auch im Menschenrechtsregime der Vereinten Nationen noch nicht hinreichend verwirklicht (vgl. z.B. The Future of Women’s Human Rights 2004).
Verletzungen der Menschenrechte von Frauen Rechtsverletzungen, denen Frauen hauptsächlich oder ausschließlich aufgrund ihres Geschlechtes ausgesetzt sind, wie insbesondere sexuelle Folter in Haft oder sexuelle Gewalt in Familie und Gesellschaft, wurden im Rahmen des Menschenrechtskonzept bis vor wenigen Jahren gar nicht und werden auch heute oftmals noch nicht ausreichend berücksichtigt. Die Praxis der deutschen und europäischen Asylpolitik gibt ein beredtes Beispiel hiervon (vgl. Kubisch/Ruppert/Friebertshäuser 2007). Ebenso wenig wurden Einschränkungen politischer und sozialer Rechte von Frauen, wie etwa die Rechte auf Mobilität, politische Partizipation und Ressourcenzugang, als Menschenrechtsverletzungen behandelt. Übereinstimmend sieht die Frauen- und Geschlechterforschung die wesentliche Ursache für diese Ausschlüsse von Frauen aus dem Menschenrechtsparadigma in den gesellschaftstheoretischen Annahmen über die Trennung der Sphären von Öffentlichkeit und Privatheit, wie sie auch den Strukturen und Funktionsweisen von Nationalstaaten und dem modernen Völkerrecht zu Grunde liegen (vgl. z.B. Cook 2004, Charlesworth/Chinkin 2000, Schmidt-Häuer 2000). So werden einerseits Verletzungen der Rechte von Frauen, die in der so genannten Privatsphäre stattfinden, nicht ausreichend erfasst und geahndet. Andererseits werden Einschränkungen der öffentlichen Teilhaberechte von Frauen oft erst gar nicht als solche wahrgenommen, weil Frauen nicht als selbstbestimmte Akteurinnen in öffentlichen wie privaten Sphären gesehen werden, sondern immer noch als kulturell und familiär bestimmte Wesen gelten (vgl. z.B. Peters/Wolper 1995, Chinkin 1998).
Frauenrechte sind Menschenrechte: Erfolge transnationaler Frauen(bewegungs)politik Der Menschenrechtsgipfel 1993 in Wien Erst den energischen Interventionen der transnationalen Frauenbewegungen der 1990er Jahre ist es zu verdanken, dass in jüngerer Zeit weltweit ein verstärktes öffentliches Bewusstsein über die
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Schutzwürdigkeit der Menschenrechte von Frauen entstanden ist. Im Zusammenhang der Serie von UN-Weltkonferenzen der 1990er Jahre haben Frauenbewegungen und Frauenorganisationen rund um den Globus die Verwirklichung der Menschenrechte von Frauen zunehmend in den Mittelpunkt ihrer transnationalen und nationalen Politikansätze gerückt (vgl. Holthaus/Klingebiel 1998, Wichterich 1998b, Ruppert 2001, 2004). Den Ausgangspunkt dieser Entwicklung bildete der Menschenrechtsgipfel 1993 in Wien. Bei dieser Weltkonferenz erzielten frauenbewegte Akteurinnen aus zahlreichen Ländern aller Kontinente einen der entscheidenden frauenpolitischen Erfolge in der Geschichte der Vereinten Nationen. Mit Hilfe einer breit angelegten internationalen Kampagne zu Menschenrechtsverletzungen an Frauen, die von der US-Frauenorganisation „Center for Women’s Global Leadership“ mit initiiert und koordiniert wurde und während des Regierungsgipfels in einem öffentlichkeitswirksamen Welttribunal über Gewalt gegen Frauen mündete (vgl. Bunch/Reilly 1994), gelang es in Wien, Gewalt gegen Frauen als Menschenrechtsverletzung zu definieren. Damit wurde die Unverletzbarkeit der Würde von Frauen endlich als Bestand der internationalen Menschenrechtsnorm anerkannt. In direkter Folge der Wiener Konferenz verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen am 20. Dezember 1993 die oben zitierte Resolution 48/104 über die „Beseitigung der Gewalt gegen Frauen“ (vgl. Menschenrechte 1999: 169ff.) und 1994 nahm die erste Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen zu Gewalt gegen Frauen ihre Arbeit auf. Die Sonderberichterstatterin sammelt und veröffentlicht systematisch Informationen über Menschenrechtsverletzungen an Frauen, kritisiert Regierungen, die Verletzungen der Menschenrechte von Frauen dulden oder selbst begehen, und gibt Empfehlungen für die Entwicklung von Mechanismen und Gesetzen zur Beseitigung von Gewalt (vgl. z.B. BMFSFJ 1995, 1997). Damit war ein Meilenstein in der transnationalen Frauenpolitik der Nachkriegszeit gesetzt, der einen entscheidenden Durchbruch der Frauenbewegung(en) in das Normengefüge internationaler Politik markiert (vgl. z.B. Keck/Sikkink 1998, Ruppert 2002). Frauenbewegungspolitik hat mit dem Einschreiben von Gewalt gegen Frauen in den Kanon der engeren Menschenrechtsverletzungen die konstitutiven Normen internationaler Politik verändert und den Schutz vor vermeintlich privaten Verbrechen zum Gegenstand zwischenstaatlicher Verhandlungen und Politikmaßnahmen gemacht. Dadurch wurde nicht zuletzt eine der zentralen Grundlagen frauenpolitischen Handelns, die über die Frage der FrauenMenschenrechte hinaus für alle Bereiche transnationaler Frauenbewegungspolitik maßgeblich ist, UN-öffentlich anerkannt: Das Private ist nicht nur auf lokaler und nationaler, sondern auch auf internationaler Ebene politisch. Umgekehrt betrachtet heißt dies auch, dass seit Wien kein Zweifel mehr daran bestehen kann, dass internationale Politik und Völkerrecht in die Sphäre des Privaten hineinwirken und die ganz konkreten Bedingungen des Lebens und Arbeitens von Frauen bzw. die so genannten privaten Seiten der Geschlechterverhältnisse prägen (vgl. Ruppert 2001, 2004). Um so höher ist ihre Verantwortung für die Verwirklichung menschenrechtlicher Gleichheit für Frauen.
Von Kairo bis heute Viele der Inhalte und Strategien von Frauenpolitik im UN-Kontext knüpften im Verlauf der 1990er Jahre an diesen Erfolg von Wien an. Eines der wichtigsten Ziele transnationaler Frauenbewegungen war nach 1993 die sukzessive Erweiterung des Begriffs der Gewalt gegen Frauen und die positive Präzisierung der Menschenrechte von Frauen. Ein Jahr nach Wien, bei der Weltkonferenz über Bevölkerung und Entwicklung 1994 in Kairo, gelang es internationalen Frauenorganisationen, das Konzept der reproduktiven Rechte, das Frauen die freie und selbstbestimmte Entscheidung über Sexualität und Fortpflanzung zusichert, in der internationalen Politik zu etablieren. Damit wurde zugleich der inhaltliche Zusammenhang von Armutsbekämpfung, Frauenbildung, Frauenrechten und Geburtenplanung auf die internationale Tagesordnung der Debatten über Bevölkerung und Entwicklung gesetzt. Frauenbewegungsintern war (und ist) die
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Beteiligung von Frauenbewegungen an Bevölkerungspolitik v.a. aufgrund des repressiven und selektierenden Charakters vieler bevölkerungspolitischer Maßnahmen umstritten (vgl. Mertens 1998). Politisch bekämpft wird das Konzept der reproduktiven Rechte von konservativen, christlich oder islamisch argumentierenden Gruppierungen und Staaten. Sowohl bei der 4. Weltfrauenkonferenz der UN 1995 in Peking als auch bei der Peking + 5-Konferenz im Sommer 2000 in New York stellten Allianzen aus Staaten wie Algerien, Libyen, Polen und Nicaragua, angeführt vom Vatikan, das Recht auf reproduktive und sexuelle Selbstbestimmung von Frauen massiv in Frage (vgl. Ruppert 2004). In vielen Nationalstaaten sind diese Frauenrechte bis heute nicht gewährleistet. Gleichwohl konnten in Peking wie in New York die Erfolge der zurückliegenden Jahre gesichert und konsolidiert werden. Die Weltfrauenkonferenz in Peking verlieh beiden der im Terminus „FrauenMenschenrechte“ ausgedrückten Aspekte weltweiten Nachdruck: Sowohl die uneingeschränkte Gültigkeit der Menschenrechte für Frauen als auch die Anerkennung der Rechte von Frauen auf Freiheit von Diskriminierung – oder allgemeiner formuliert die Anerkennung von Differenz als Bedingung menschenrechtlicher Gleichheit – wurden von der internationalen Staatengemeinschaft bestätigt. Außerdem konnten in Peking konkrete Fortschritte hinsichtlich der sexuellen Rechte und der Erbrechte von Frauen und in New York weitere Konkretisierungen des Gewaltbegriffs erzielt werden (vgl. Charlesworth/Chinkin 2000). Nach Peking haben Frauenbewegungen in vielen Ländern einen Schwerpunkt ihrer Politik darauf gelegt, die internationalen FrauenMenschenrechte-Normen in nationales Recht umzusetzen (vgl. Pansieri 2000, Kuenyehia 2002, Wölte 2008). Zusätzlich trat Ende 2000 das Fakultativprotokoll zu CEDAW („Convention On The Elemination Of All Forms Of Discrimination Against Women“) in Kraft (vgl. Menschenrechte 1999: 155ff.). Der so genannten Frauenkonvention aus dem Jahr 1979 gehörten im April 2007 185 Vertragsstaaten an, 90 Staaten hatten das Fakultativprotokoll ratifiziert. Damit gehört CEDAW zu den UN-Konventionen mit den meisten Vertragsstaaten, von denen viele jedoch zugleich Vorbehalte gegen einzelne Artikel formuliert haben. CEDAW ist das am weitesten gehende internationale Rechtsdokument zur Gleichberechtigung und verpflichtet alle Vertragsstaaten, Geschlechtergleichheit in allen Bereichen des politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens festzuschreiben und die Umsetzung dieser Rechtsetzung zu gewährleisten (vgl. Zwingel 2007). Während die Konvention in den 1980er Jahren als Instrument der internationalen Frauenrechtspolitik eher selten genutzt wurde, erlangte sie im Zusammenhang mit der Politik der FrauenMenschenrechte der 1990er Jahre eine deutlich größere Bedeutung. Im Verfassungsprozess Südafrikas lieferte CEDAW beispielsweise die Basis für die Formulierung pro-aktiver Gleichberechtigungspolitik (vgl. Pansieri 2000). Zu Beginn des neuen Jahrtausends eröffnete dann das neu beschlossene Fakultativprotokoll den Weg, beim Verstoß eines Landes gegen CEDAW eine Individualbeschwerde zu führen. Dadurch wurden nicht zuletzt die Handlungsmöglichkeiten nationaler FrauenMenschenrechte-Organisationen gestärkt, da einzelne Frauen nun grundsätzlich die Möglichkeit haben, gemeinsam mit entsprechenden Frauenorganisationen den CEDAWAusschuss der UN anzurufen, um Untersuchungen gegen ihre Regierungen einzuleiten. Damit spiegelt der frauenpolitische Bezug auf CEDAW nicht zuletzt eine der wesentlichen Entwicklungen internationaler Frauenpolitik, die seit Peking von einer tatsächlich „inter-national“, an der UN-Ebene orientierten Bewegungspolitik immer stärker zu einer Politik der „Lokalisierung“ und Institutionalisierung, d.h. der Übertragung und Übersetzung internationaler Normen in lokale, nationale und regionale Kontexte geworden ist.
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Die Bedeutung der FrauenMenschenrechte für die transnationale Frauenpolitik Seit dem Wiener Gipfel von 1993 bilden FrauenMenschenrechte sowohl inhaltlich als auch strategisch einen Knotenpunkt der Politik von Frauenbewegungen und Frauenorganisationen weltweit. Ausschlaggebend für diese Entwicklung waren vor allem zwei Faktoren (vgl. Ruppert 2004): Erstens ist Frauenpolitik gegen Unterdrückung und Diskriminierung in vielen Ländern der Welt immer auch Rechtspolitik gewesen. Zugleich gehört der Kampf gegen Gewalt gegen Frauen seit langem zu den wichtigsten Anliegen von Frauenbewegungen rund um den Globus. In dem Maße, wie sich im Verlauf der Weltkonferenzen der 1990er Jahre die Strukturen transnationaler Frauenpolitik verbreiterten und vervielfältigten, lag es nahe, auf das verbindende Potenzial des gemeinsamen Nenners „Anti-Gewalt-Politik“ zu setzen. Zweitens hatte mit dem Ende des Ost-West-Konflikts die Menschenrechtspolitik im Rahmen der UN insgesamt eine deutliche Aufwertung erfahren (vgl. Hamm 1999, Miller 1999, Joachim 2007). Gezielt an diese Entwicklung anzuknüpfen versprach den transnationalen Frauenbewegungen die Eröffnung neuer politischer Handlungs- und Durchsetzungsmöglichkeiten. Somit stellte die Wiener Menschenrechtskonferenz eine einmalige politische Gelegenheit dar, die volle Gewährung der Menschenrechte von Frauen zu erreichen.
Vernetzung und Dialog Profitiert hat von dieser Fokussierung auf FrauenMenschenrechte auch der Prozess der transnationalen, alle Ebenen frauenpolitischen Handelns überspannenden Vernetzung von Akteurinnen. Mit dem Ansatz der FrauenMenschenrechte haben Frauenbewegungen weltweit ihre politische Praxis weiterentwickelt, entsprechend dem Konzept „transversaler Politik“ (Yuval-Davis 1996) auf durchaus kontroverse, aber dialogische Weise politische Bündnisse von Frauen unterschiedlichster Herkunft und Erfahrung zu erarbeiten (vgl. Braunmühl 2001). Eine der wesentlichen Voraussetzungen solcher transnationalen Verständigungsprozesse über Inhalte und Ziele politischer Strategien war und ist die vorbehaltlose politische Auseinandersetzung über kulturelle und soziale Differenzen zwischen Frauen. In diesem Sinne thematisiert und bearbeitet die jüngere transnationale FrauenMenschenrechte-Politik nicht nur konkrete Verletzungen der Rechte von Frauen, sondern auch die vielfältigen, auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelten, kulturellen, sozialen und politischen Verhältnisse, die diese Rechtsverletzungen jeweils kontextspezifisch produzieren und reproduzieren. Damit ist der Frauenbewegungsdiskurs über Menschenrechte insgesamt deutlich offener für kulturelle, ethnische und klassenspezifische Differenzen als das traditionelle, westliche geprägte Verständnis der Universalität von Menschenrechten (vgl. Buntig 1996, Waller/Marcos 2005). Insbesondere Frauenbewegungen und Frauenorganisationen aus den südlichen Kontinenten haben erfolgreich auf der Unteilbarkeit der verschiedenen Generationen von Menschenrechten bestanden und sich einer hierarchischen Betrachtung von politischen, sozialen und wirtschaftlichen Rechten ebenso widersetzt (vgl. z.B. Kuenyehia 2002) wie einer relativistischen Aufspaltung der Sphären des Rechts in politisch-öffentlich und kulturell-privat (vgl. z.B. Rao 1995). So sind die reproduktiven Rechte von Frauen auch deshalb derart umkämpft, weil darin die Komplexität und Mehrdimensionalität des Ansatzes der FrauenMenschenrechte deutlich wird: Reproduktive Rechte setzen die unterschiedlichen Menschenrechtskategorien ins Verhältnis zueinander, indem sie auf die Zusammenhänge zwischen dem Recht auf Selbstbestimmung über Körper, Fortpflanzung, Sexualität und Gesundheit und den Rechten von Frauen auf Bildung, Besitz und politische Partizipation verweisen. Damit wird zugleich kulturellen Relativierungen individueller Gleichheit von Frauen eine deutliche Absage erteilt. Diese Zurückweisung kulturrelativis-
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tischer Argumente wird frauenbewegungsintern zwar nicht einheitlich, aber mit differenten Begründungen mehrheitlich geteilt (vgl. Braunmühl 2001), wie insbesondere die Prozesse transnationaler Frauen(bewegungs)politik von Wien bis heute zeigen.
Potenziale der Transformation Auch wenn die Spannungen zwischen Universalismuskritik und Universalismusreferenz, zwischen Ablehnung relativistischer Argumente und Bezug auf kulturelle Differenz im FrauenMenschenrechte-Diskurs nicht aufgelöst sind (vgl. Mihçiyazgan 2001), so hat die Praxis der FrauenMenschenrechte aus genau diesen Spannungen heraus zukunftweisende Potenziale politischer Transformation entwickelt. Über die breit geführte Auseinandersetzung um die prinzipielle Gleichwertigkeit von politischen, sozialen und wirtschaftlichen Rechten konnte der FrauenMenschenrechte-Ansatz nicht nur als einer der Schwerpunkte, sondern darüber hinaus als verbindendes Bezugssystem für die einzelnen Themenfelder transnationaler Frauenbewegungspolitik tauglich werden. Von Weltentwicklung über internationale Handels- und Finanzpolitik bis hin zu ziviler Konfliktbearbeitung und Friedenspolitik finden nahezu alle Anliegen transnationaler Frauenpolitik hier ein normatives Dach. Unter Bezug auf die FrauenMenschenrechte werden Unrechtserfahrungen, für die es zuvor oft gar keine gesellschaftlich anerkannten Ausdrucksformen gab, grundsätzlich thematisierbar (vgl. Braig 1999). Darüber hinaus lässt sich die Herstellung von Gerechtigkeit im Rahmen der Menschenrechte als Anliegen gesamtgesellschaftlicher Entwicklungsprozesse – und nicht nur als quasi nachholende Entwicklung für Frauen – sichtbar machen. Mithin stiftet der Ansatz der FrauenMenschenrechte einen normativen Rahmen, der sich durch die Bündelung und Verschränkung von Diskursen und politischen Strategien gleichsam selbst verstärkt und dabei zugleich institutionell anschlussfähig ist (vgl. Ruppert 2004).
Ausblick Diese Entwicklung wurde allerdings in dem Maße gebrochen, wie im Kontext des Krieges gegen den Irak ab 2003 die Schwächung der UN und der allgemeinen Menschenrechtsnorm weltpolitisch zum Tragen kamen. In Zeiten internationaler (Re-)Militarisierung und unilateraler machtpolitischer Zuspitzungen stehen die Erfolgssaussichten für Geschlechtergleichheit und Geschlechtergerechtigkeit bekanntlich nicht zum Besten. Wenn Kriegsrhetoriken und Machtrituale politisch wichtiger werden, treten mit den alten Geschlechterstereotypen auch andere überholt geglaubte Wertemuster wieder stärker hervor. Mit Bildern militärischer Stärke und Kampfbereitschaft korrespondieren Ideen des Freund-Feind-Denkens und eines nationalen Interesses, das sich im Kampf gegen andere verwirklicht. Damit geraten nicht zuletzt Ansätze globaler Politik, die sich an Werten wie Gerechtigkeit, Gleichheit und Solidarität orientieren, unter verstärkten Druck. Auch wenn die Politik der FrauenMenschenrechte in den letzten Jahren in vielen Nationalstaaten und unter neuen und jüngeren Akteurinnen, etwa bei den Weltsozialforen, neue Bedeutung erlangt hat, ist mittelfristig kaum damit zu rechnen, dass sich die internationalen Spielräume für die Verwirklichung von FrauenMenschenrechten erneut ausdehnen werden. Dies spricht allerdings kaum gegen das Konzept an sich, sondern umso mehr für eine transversale Politik der Aneignung der „Rechte der Menschen“ durch die „andere Hälfte der Menschheit“. Verweise: Frauenbewegungen Gewalt Gewalt- und Interventionsforschung Krieg und Frieden Nation, Kultur und Gender
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Mechthild Cordes
Gleichstellungspolitiken: Von der Frauenförderung zum Gender Mainstreaming
Ziele der Gleichstellungspolitik Gleichstellungspolitik verfolgt im Wesentlichen zwei Ziele: Zum einen soll die Diskriminierung von Frauen als Ursache der ungleichen Lebensverhältnisse von Frauen und Männern beseitigt werden; zum anderen sollen die sozialen Folgen dieser Ungleichheit beseitigt und gleiche Lebenschancen wie gleiche Teilhabe von Frauen an den gesellschaftlichen Ressourcen erreicht werden. Diskriminierung von Frauen tritt in drei verschiedenen Formen auf (vgl. Berghahn 2002): als unmittelbare Diskriminierung: Das bedeutet, dass einzelne (Rechts)Normen direkt und unmittelbar eine Gruppe von Personen (Frauen) benachteiligen (z.B. der früher existierende Lohnabschlag für Frauen); – als mittelbare Diskriminierung: Das bedeutet, dass eine Norm, die im Prinzip geschlechtsneutral formuliert ist, das eine Geschlecht im Vergleich zum anderen in besonderer Weise negativ betrifft (z.B. rechtliche Nachteile für Teilzeit- im Vergleich zu Vollzeitbeschäftigten, die in der Folge aber zu 90% Frauen betreffen); – als strukturelle Diskriminierung: Das bedeutet, dass die praktische Nutzung von Regelsystemen im Ergebnis soziale Ungleichheit und Benachteiligung von Frauen bewirkt. Dabei ist es unerheblich, ob die Benachteiligung intendiert ist oder nicht – sie ist als Ergebnis statistisch nachweisbar (z.B. beeinflussen die sozialen Normen und rechtlichen Rahmenbedingungen massiv die Chance von Frauen für eine erfolgreiche Berufskarriere; im Ergebnis ist die Zahl der Frauen in Führungspositionen erheblich geringer als die der Männer). –
Aufhebung von Diskriminierung Auf die Beseitigung der unmittelbaren und mittelbaren Diskriminierung von Frauen zielt die Forderung nach Gleichberechtigung von Frauen und Männern. Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland von 1949 ist dank des erfolgreichen Einsatzes der Juristin Elisabeth Selbert (SPD) in Art. 3 Abs. 2 des Grundgesetzes (GG) der Grundsatz der Gleichberechtigung „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ und in Abs. 3 das Diskriminierungsverbot „Niemand darf wegen seines Geschlechts (...) benachteiligt oder bevorzugt werden“ festgeschrieben. Für die Rechtspolitik folgte aus Art. 3 die Verpflichtung, das gesamte Recht vor dem Hintergrund des Gleichberechtigungsgrundsatzes zu überprüfen und zu reformieren. Inzwischen ist – wenn auch mit erheblicher zeitlicher Verzögerung – die unmittelbare Diskriminierung von Frauen weitestgehend aus dem Rechtssystem verschwunden. Diskriminierende Normen wurden durch geschlechtsneutrale Normen ersetzt, auch wenn die sprachliche Formulierung noch immer der männlichen Rechtssprache folgt. Unmittelbare und mittelbare Diskriminierung von Frauen sind zudem durch EU-Recht untersagt. Eine Gleichbehandlungsrichtlinie (in der Novellierung von 2002), die für alle Mitglied-
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staaten rechtsverbindlich ist, stellt aber nicht nur ein Diskriminierungsverbot auf, sondern formuliert auch positiv das Recht auf Chancengleichheit für beide Geschlechter.
Herstellung gleicher Lebensmöglichkeiten Auf die Beseitigung der strukturellen Diskriminierung richtet sich das zweite Ziel der Gleichstellungspolitik, nämlich auf die Herstellung gleicher Lebenschancen und gleicher Teilhabe von Frauen an den gesellschaftlichen Ressourcen. Dieses Ziel lässt sich aber nicht ausschließlich über Gleichberechtigung und formale Gleichbehandlung verwirklichen, solange die Voraussetzungen für Frauen und Männer so unterschiedlich sind, wie es aufgrund der strukturellen Diskriminierung der Fall ist. Wird nämlich Gleichberechtigung und Gleichbehandlung auf wesentlich ungleiche Ausgangsbedingungen angewendet, so reproduziert sie im Ergebnis zwangsläufig die bestehende Ungleichheit. Es muss also zunächst die materielle Gleichheit in den Ausgangsbedingungen für Frauen und Männer geschaffen werden, damit auf dieser Grundlage Maßnahmen zur Chancengleichheit überhaupt erst greifen können. Gleichstellungspolitik bezeichnet die Gesamtheit der Mittel, mit denen das Ziel der gleichen Teilhabe von Frauen und Männern erreicht werden soll. Formale und materielle Gleichstellung werden hierbei gleichzeitig thematisiert. Gleichstellungspolitik setzt formale Gleichberechtigung voraus. Darüber hinaus muss aber in Teilen auch ein ungleiches, d.h. ausgleichendes oder kompensatorisches, Recht angewendet werden, um für beide Geschlechter die gleichen Ergebnisse oder zumindest gleiche Chancen zu schaffen. Als kompensatorisches Recht gelten Regelungen, die dazu beitragen sollen, die Ergebnisse der Benachteiligung von Frauen aufzufangen, wie z.B. Quotenregelungen zur Erhöhung des Frauenanteils an Führungspositionen. Kompensatorisches Recht strebt letztlich eine Umverteilung von gesellschaftlichen Ressourcen an. Die rechtliche Zulässigkeit solcher kompensatorischer Normen ist unstrittig, solange es sich um Maßnahmen zur Aufhebung der strukturellen Benachteiligung von Frauen handelt (vgl. Benda 1986). Es wird aber problematisch, wenn eine solche ausgleichende Maßnahme mit dem individuellen Grundrecht (eines Mannes) auf Gleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 3 GG kollidiert (vgl. Hohmann-Dennhard 1988). Die rechtliche Grundlage für die Beseitigung der strukturellen Diskriminierung liefert das Grundgesetz in seiner Novellierung von 1994. Art. 3 Abs. 2 GG „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ wurde um einen Satz erweitert, der die Herstellung von Gleichstellung als Staatsziel festschreibt: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ Diese Verfassungsnorm legt allerdings keine Maßnahmen fest, wie dieses Staatsziel zu erreichen sei. Daher ist die Umsetzung nicht individuell einklagbar, sondern lässt sich nur auf politischem Wege einfordern. Um diesen Prozess der politischen Umsetzung zu unterstützen, wurde Gleichstellungspolitik institutionalisiert und in den Rahmen des politischen Systems eingefügt. Dabei bedeutet Institutionalisierung, dass bisher losere Verhaltensformen verfestigt und auf Dauer gestellt werden, indem verbindliche Regeln festgelegt und spezifische Organisationsformen entwickelt werden. Als eine zentrale Organisationsform der institutionalisierten Gleichstellungspolitik wurden auf allen Ebenen Gleichstellungsstellen als spezifische frauenpolitische Institutionen geschaffen. Institutionalisierte Gleichstellungspolitik bezeichnet also die Gesamtheit aller politischen Strategien (Entwürfe, Programme, Gesetze, Maßnahmen), ihre Evaluation und die Verarbeitung der mit ihnen gemachten Erfahrungen, die den Frauen eine gleiche Teilhabe an den gesellschaftlichen Ressourcen (Geld, Positionen, Repräsentation) sichern will (vgl. Kontos 1994: 44). Das Ziel institutioneller Gleichstellungspolitik ist die tatsächliche Gleichstellung von Männern und Frauen und der Abbau sozialer Ungleichheit.
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Institutionalisierte Gleichstellungspolitik Die Institutionalisierung der Gleichstellungspolitik geht auf die Initiative und den politischen Druck von Parteifrauen (besonders der SPD) zurück, die der Frauenbewegung nahe standen. Die Einrichtung von Gleichstellungsstellen war letztlich ein Zugeständnis von Seiten der männlich dominierten Politik an ihre Forderungen. In der Frauenbewegung wurde dagegen die Frage der Institutionalisierung vor allem in den 1980er Jahren sehr kritisch diskutiert (vgl. Cordes 1996: 28f.): Die autonome Frauenbewegung plädierte für die Strategie der autonomen Politik. Dadurch sollte die Unabhängigkeit von den etablierten politischen und finanziellen Strukturen gewahrt bleiben und die Selbstbestimmung in der Organisation und Durchführung der eigenen Projekte ermöglicht werden. Der integrative Flügel der Frauenbewegung wollte Frauenpolitik im Rahmen der gesellschaftlichen Institutionen betreiben mit dem Argument, dass sich das patriarchale Gesellschaftssystem nur mit seinen eigenen Mitteln von innen her verändern lässt. Nur durch die Teilhabe an Macht und Einfluss und durch eine Verschiebung der politischen Mehrheiten zu ihren Gunsten könnten die Frauen Zugang zu den wichtigen finanziellen Ressourcen erhalten und ihre Interessen gesellschaftlich zur Geltung bringen.
Institutionen der Gleichstellungspolitik Die institutionalisierte Gleichstellungspolitik verfolgt im Wesentlichen drei Wege: 1. Frauen engagieren sich in Parteien, Verbänden, Gewerkschaften und anderen gesellschaftlichen Institutionen und bemühen sich auf allen Ebenen um Mandate, Positionen, Macht und Einfluss im Willenbildungs- und Entscheidungsprozess. 2. Gleichstellungspolitik wird als eigener Politikbereich auf Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene etabliert. 3. In vielen Bereichen werden Gleichstellungsstellen als eigene Institutionen zur Durchsetzung einer gezielten Gleichstellungspolitik und Frauenförderung eingerichtet. Der Prozess der Institutionalisierung begann Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre. 1986 erhielt das Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit „Frauen“ als viertes Aufgabengebiet. Hamburg hatte bereits 1979 eine „Leitstelle für die Gleichberechtigung der Frau“ als eigenständige Behörde eingerichtet. Auf kommunaler Ebene wurde 1982 in Köln die erste Gleichstellungsstelle eröffnet. Gleichstellungsinstitutionen sind inzwischen in allen gesellschaftlichen Bereichen fest verankert: Auf Bundesebene liegt die Zuständigkeit für Gleichstellungspolitik gegenwärtig im Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Daneben existieren in den einzelnen Bundesministerien eigene Frauenreferate, die sich mit Fragen der Gleichstellung im Rahmen ihrer jeweiligen Ressorts befassen. Auch in den Bundesländern ist Gleichstellungs- und Frauenpolitik zumeist nicht in einem eigenen Frauenministerium, sondern in einem sog. Mischministerium angesiedelt, das mehrere Fachbereiche umfasst. Die Kommunen sind durch die Landesgleichstellungsgesetze sowie die Gemeinde- und Landkreisordnungen zur Einrichtung von Gleichstellungsstellen verpflichtet. Gegenwärtig gibt es ca. 1.900 kommunale Gleichstellungsstellen. Im öffentlichen Dienst von Bund, Ländern und Gemeinden besteht ebenfalls die Pflicht zur Frauenförderung und zur Bestellung von behördeninternen Gleichstellungsbeauftragten. Auf Bundesebene liefert das Gleichstellungsgesetz vom 05.12.01 (Nachfolgegesetz zum Frauenfördergesetz von 1994) die rechtliche Grundlage. Für den öffentlichen Dienst von Ländern und Kommunen ist das jeweilige Landesgleichstellungsgesetz maßgeblich.
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In den Hochschulen der Bundesrepublik ist die Pflicht zur Bestellung von Gleichstellungsbeauftragten und zur Frauenförderung in das Hochschulrahmengesetz aufgenommen worden. Dessen Novellierung verpflichtet die Hochschulen, vor ihren Entscheidungen die geschlechtsspezifischen Auswirkungen zu beachten und dann so zu handeln, dass die tatsächliche Gleichstellung erreicht wird (vgl. Plöger/Riegraf 1998). Die Privatwirtschaft ist bislang zur Frauenförderung nicht gesetzlich verpflichtet. Freiwillige Initiativen gibt es vor allem in Großbetrieben, die maßgeblich durch die Entwicklung neuer Unternehmens- und Managementkonzepte forciert sind (vgl. Krell 2001). Auch wenn sie rechtlich vorgeschrieben sind, sind die Gleichstellungsstellen in ihrer konkreten Ausgestaltung zumeist das Ergebnis von Parteikompromissen und politischen Aushandlungsprozessen vor Ort. Männliche Mehrheiten, die an einer konsequenten Chancengleichheit kaum Interesse haben, entscheiden auch über die Ausgestaltung dieser Stellen. Je nachdem, in welchem Bereich und in welcher politischen Konstellation die Gleichstellungsstellen angesiedelt sind, unterscheiden sie sich erheblich in ihrer Organisationsstruktur, ihrer Einbindung in die Gesamtorganisation, im Status der Gleichstellungsbeauftragten, in der personellen und finanziellen Ausstattung, in ihren Aufgaben und den zugestandenen Kompetenzen (vgl. Begander/Schwertberger 1994). Allen ist aber gemeinsam, dass sie in ihren Rechten und Möglichkeiten zumeist so ausgestaltet sind, dass sie nicht allzu viel an Veränderungen bewirken können.
Gleichstellungspolitik als Frauenförderpolitik Die Strategien der Gleichstellungspolitik richten sich im Wesentlichen auf Frauenförderung und setzen an drei Problembereichen an: 1. Vereinbarkeit von Beruf und Familie: Hierzu gehören Maßnahmen wie etwa Verbesserungen der Kinderbetreuung oder Möglichkeiten zu Teilzeitarbeit, Elternzeit und Berufsrückkehr. 2. Unterstützung beim Zugang zu männerdominierten Bereichen: Solche Maßnahmen betreffen vor allem den Erwerb von „fehlenden“ Qualifikationen etwa über Programme zur Fort- und Weiterbildung von Frauen, Mentoringprogramme oder auch die Aufhebung von organisatorischen Barrieren (Fristen oder Altersgrenzen), von denen speziell Frauen wegen ihres Familienengagements betroffen sind. 3. Erhöhung des Frauenanteils in Führungspositionen: Hier geht es um Maßnahmen, die die männlich bestimmten Regeln der Zuweisung zu Führungspositionen beeinflussen sollen. Die schärfste und wohl auch wirksamste Maßnahme zur Frauenförderung ist die Quotierung. Hierbei werden Ziele und Zeitvorgaben für eine systematische Erhöhung des Frauenanteils in einem bestimmten Bereich verbindlich vorgegeben. Gerade diese Form trifft aber auf den härtesten Widerstand bei den direkt und indirekt betroffenen Männern (und auch bei vielen Frauen), da hierdurch deren eigenen Karriereinteressen in Frage stehen (vgl. zusammenfassend zu den verschiedenen Quotenmodellen, starre Quote, leistungsbezogene Quote, Ergebnisquote, Cordes 1996: 130ff.). Gleichstellungspolitik als Frauenförderung ist in verschiedener Hinsicht problematisch: – Die Forderung nach konsequenter Gleichstellung von Frauen und Männern hat nach wie vor nur eine relativ geringe gesellschaftliche und betriebliche Akzeptanz. Frauenförderung wird von Männern eher als eine „good-will-Aktion“ für gute Zeiten betrachtet, während bei schlechter Wirtschaftslage andere Probleme im Vordergrund stehen (vgl. u.a. Hadler 2001, Jüngling 2001, Riegraf 1996). – Die Maßnahmen zur Erhöhung des Frauenanteils in Führungspositionen haben letztlich eine Umverteilung von Ressourcen zum Ziel. Damit Frauen „dazugewinnen“ können, müssen
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Männer „verlieren“. Es fehlen positive Anreize, die Frauenförderung auch für Männer akzeptabel und interessant machen. – Die Fördermaßnahmen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie sind zumeist explizit für Frauen und nicht für beide Geschlechter konzipiert. Damit wird die traditionale Verantwortung der Frauen für den Familienbereich zementiert und entsprechend sind sie auch die Leidtragenden der damit verbundenen Karrierenachteile. – Die Idee der Frauenförderung basiert implizit auf einem Defizitmodell, d.h. sie setzt bei Frauen individuelle qualifikations- und Motivationsdefizite voraus, die durch die Förderprogramme behoben werden sollen. Ausgeklammert bleiben die strukturellen Ursachen für die geringeren Berufschancen von Frauen (vgl. Jüngling 2001: 110). Die frauenpolitische Wirksamkeit der institutionalisierten Gleichstellungspolitik wird allgemein skeptisch beurteilt. Im Hinblick auf die gesellschaftlichen Veränderungen, die sie bewirken sollte, sind nur wenige messbare Erfolge zu verzeichnen. Gleichzeitig aber hat sie einen erheblichen Beitrag zur Bewusstseinsbildung und zur Sensibilisierung für Frauenfragen geleistet (vgl. u.a. Biester u.a. 1994, Jansen 1994, Wetterer 1998). Für das etablierte politisch-administrative System erfüllen die Gleichstellungsstellen zudem noch andere wichtige Funktionen. Zum einen helfen sie, dem Auftrag des Grundgesetzes zu entsprechen, wobei sich die politischen Entscheidungsträger durch die Einrichtung von Gleichstellungsstellen von Verantwortung entlasten, indem sie die Gleichstellungspolitik an die Person der Gleichstellungsbeauftragten delegieren. Gleichzeitig dienen die Gleichstellungsstellen zur notwendigen Modernisierung des Systems, um es an die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen anzupassen, ohne dass grundsätzliche Veränderungen der patriarchalen Gesellschaftsstruktur die Folge wären. In der feministischen Diskussion, die Anfang der 1990er Jahre geführt wurde, wurde dieser „reformorientierten“ Gleichstellungspolitik daher die Forderung nach einer „radikalen“ Gleichstellungspolitik gegenübergestellt, die darauf abzielt, die Verhältnisse selbst zu verändern und neu zu gestalten (vgl. Jansen 1994: 142).
Neue Konzepte der Gleichstellungspolitik Seit Mitte der 1990er Jahre werden neue Konzepte für die Gleichstellungspolitik entwickelt und implementiert. Der Gedanke, dass diese neuen Konzepte einen „Paradigmenwechsel“ in der Gleichstellungspolitik einleiten, beurteilt Angelika Wetterer allerdings äußerst kritisch (Wetterer 2002).
Gender Mainstreaming Für den Bereich der Politik und der öffentlichen Verwaltung ist vor allem das Konzept des Gender Mainstreaming von Bedeutung. Gender Mainstreaming bedeutet, dass die Geschlechterfrage als zentraler Aspekt in den „Hauptstrom“ der Politik einbezogen wird (vgl. hierzu u.a. Bothfeld u.a. 2002, Nohr/Veth 2002, Zeitschrift für Frauen- und Geschlechterforschung, Schwerpunkthefte Jg. 20, 2002, H. 1+2, 3). Die Geschlechterperspektive soll zur Leitlinie des politischen Handelns und politischer Entscheidungen werden. Sämtliche Aktionsprogramme und politischen Konzepte auf allen Ebenen und ressortübergreifend sollen unter dem Aspekt analysiert, evaluiert und notfalls revidiert werden, inwieweit sie die Geschlechterfrage tangieren. Dabei werden auch die verborgenen Geschlechterbezüge im Handeln von Politik und Verwaltung aufgedeckt und berücksichtigt. Gender Mainstreaming ist also eine Art „Gleichstellungsverträglichkeitsprüfung“ für politisches
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Handeln (MBFJ 2001). Zur Unterstützung des Prozesses gewinnt auch die Evaluation der Maßnahmen, also ein „Gleichstellungs-Controlling“ einen zentralen Stellenwert. Im Konzept des Gender Mainstreaming ist die Frauenpolitik (als spezifische Politik nur für Frauen) aufgelöst in Richtung einer umfassenden Geschlechterpolitik, um für beide Geschlechter gleiche Chancen und bessere Lebensbedingungen zu erreichen. Diese Geschlechterpolitik ist als Gemeinschaftsaufgabe konzipiert, d.h. nicht nur die Frauenbeauftragten sind für die Umsetzung verantwortlich, sondern auch die politisch-administrative Ebene und die Politiker sind in die Pflicht genommen. Vor allem die Führungskräfte müssen im Sinne einer „top-down“-Strategie zu Initiatoren bei der Realisierung des Konzeptes werden. Gender Mainstreaming ist vornehmlich ein europäisches Konzept, das für die Europäische Union und damit auch für alle Mitgliedstaaten im Amsterdamer Vertrag von 1999 verbindlich festgeschrieben wurde. Auch die Bundesregierung hat sich auf Gender Mainstreaming als Querschnittsaufgabe und Leitprinzip verpflichtet (vgl. Krell/Mückenberger/Tondorf 2001: 65f., Metz-Göckel 2002: 12ff.). Aber auch wenn Geschlechterpolitik zur Gemeinschaftsaufgabe wird, bleibt nach wie vor die Motivation und das Engagement einzelner Personen zentral. Eine Grundvoraussetzung für ein funktionierendes Gender Mainstreaming liegt in der „Gender-Kompetenz“ der politischen Akteure (vgl. Stiegler 2000), d.h. bei ihnen muss überhaupt Interesse und Sensibilität für die Gender-Problematik vorhanden sein. Bislang ist allerdings eher ein erhebliches Desinteresse und Unwissen über die Gendering-Prozesse und über die verborgenen Mechanismen der geschlechtsspezifischen Diskriminierung festzustellen. Und es ist auch kaum anzunehmen, dass die bisherigen Verhinderer von Gleichstellung sich unter dem neuen Mainstreaming-Konzept plötzlich zu ihren Befürwortern wandeln (Höying 2002: 199). Solange aber die Voraussetzung einer allgemeinen Gender-Sensibilität nicht gegeben ist, liegen Zweifel an der Wirksamkeit des Konzepts nahe. Feministische Kritikerinnen argwöhnen, dass das Gender-Mainstreaming-Konzept dazu beitragen könnte, die realen Machtverhältnisse und soziale Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern zu verschleiern. Denn es könnte den Eindruck vermitteln, dass für gesellschaftliche Veränderungen lediglich ein Konsens zwischen den Geschlechtern nötig sei, ohne dass die patriarchalen Strukturen und die männliche Interessenpolitik in Frage gestellt würden (vgl. Notz 2002, Wetterer 2002).
Diversity Management In der Privatwirtschaft wird die Geschlechterproblematik vor allem im Zusammenhang mit dem neuen amerikanischen Managementkonzept des Diversity Management aufgegriffen. Das Konzept basiert auf der Überlegung, dass die Diversität der Beschäftigten aktiv gefördert und genutzt werden kann, um den ökonomischen Erfolg des Unternehmens zu verbessern (vgl. Krell 2001). Diversity Management ist ein Konzept der Organisations- und Personalentwicklung und bezieht sich auf „alle Merkmale, die Einfluss auf die Selbst- und vor allem auch auf die Fremdwahrnehmung einer Person oder Gruppe haben und deshalb Quellen von Diskriminierungen und Quellen von Reibungen oder Spannungen in der Zusammenarbeit unterschiedlicher Beschäftigter sein können“ (Krell 2001: 19). Über ein entsprechendes Management und Maßnahmen zur Personalentwicklung sollen Bedingungen geschaffen werden, unter denen alle Beschäftigten ihre Leistungsfähigkeit und -bereitschaft uneingeschränkt entwickeln können. Denn qualifiziertes und motiviertes Personal ist der Schlüsselfaktor für den ökonomischen Unternehmenserfolg. Diversity Management bezieht sich zwar nicht speziell auf Frauen, aber die Chancengleichheit der Geschlechter ist ein zentraler Aspekt im Rahmen des Konzepts und wird zum verbindlichen Teilziel in der Organisationsentwicklung gemacht. Frauen werden dabei nicht als Problemgruppe gesehen, deren Defizite aufgearbeitet werden müssen. Vielmehr sollen die Fördermaßnahmen im Rahmen der Personalentwicklung beide Geschlechter ansprechen und die individu-
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elle Qualifikation von Frauen und Männern verbessern. Ansatzpunkte sind hier z.B. Strukturveränderungen zur besseren Nutzung von Qualifikationen und damit auch zur Erhöhung des Frauenanteils in Führungspositionen oder aber die Entwicklung persönlichkeitsfördernder Arbeitsund Arbeitszeitstrukturen. Ebenso wird die Vereinbarkeit von Beruf und Familie nicht als Frauen- sondern als Elternproblem begriffen, für dessen Lösung etwa „Aus-Zeiten“ für beide angeboten werden. Mit der Umverteilung der Familienverantwortung auf beide Geschlechter würden gleichzeitig die karrierehemmenden Konsequenzen einer Erziehungszeit abgemildert, weil sie Männer und Frauen gleichermaßen betreffen. Diversity Management schafft so eine Situation, bei der letztlich beide Geschlechter gewinnen können und das zahlt sich für das Unternehmen selbst aus (vgl. hierzu kritisch Krell 1996). Auch hier ist aber die weitere Entwicklung davon abhängig, dass männliche Führungskräfte ihre Haltung gegenüber Frauen in hochqualifizierten Positionen auf allen Hierarchieebenen im Sinne der neuen Managementkonzepte revidieren (vgl. Hadler 2001: 414f., Wetterer 2002: 137).
Veränderungen im Verständnis von Gleichstellungspolitik Frauenförderung erschöpfte sich bislang zumeist in Einzelmaßnahmen ohne Gesamtkonzept und wurde häufig nur als Störfaktor erlebt, der Widerstand erzeugte. Die Konzepte des Gender Mainstreaming und des Diversity Management sind dagegen in eine übergreifende Gesamtidee eingebettet und basieren auf veränderten Begründungen für die Gleichstellung der Geschlechter. Im Konzept des Gender Mainstreaming besteht für Politik und Verwaltung die rechtliche Verpflichtung zur Herstellung von Chancengleichheit. Die Begründung der Gleichstellungspolitik wandelt sich damit von der Frauenfrage als Ausdruck eines Macht- und Gewaltverhältnisses hin zu einem Rechtsverhältnis, das nach festen Verfahrensregeln abgewickelt wird (vgl. Giebhard 1998: 52). Diversity Management basiert auf einem ökonomischen Nutzenkonzept. Dadurch wird die Herstellung von Chancengleichheit nicht über Recht oder Moral begründet, sondern es geht vor allem um ökonomische Vorteile für das Unternehmen oder die Institution (vgl. Krell 2001: 21f.). Zudem wird in beiden Konzeptionen eine veränderte Zuständigkeit für Chancengleichheit formuliert. Allein verantwortlich ist nicht mehr die Gleichstellungsbeauftragte, sondern Chancengleichheit wird zur Gemeinschaftsaufgabe, bei der vor allem die Führungskräfte gefragt sind. Beide Konzepte sind verstehen sich also als „top-down-Strategien“. Dieser Wandel hat auch Konsequenzen für die Position und das Selbstverständnis der Gleichstellungsbeauftragten. Sie sind mit ihren Erfolgen nicht länger allein vom Wohlwollen der beteiligten Männer abhängig. Vielmehr werden ihre Bemühungen um Chancengleichheit durch Rechtspositionen gestützt und ihre Aufgaben wandeln sich zunehmend in Richtung eines Gleichstellungsmanagement (vgl. Michel 2001). Die Gleichstellungsbeauftragte wird zur Expertin in Gleichstellungsfragen und zur spezialisierten Beraterin der Führungskräfte. Zudem übernimmt sie die Aufgaben einer Gleichstellungscontrollerin, die überprüfen muss, inwieweit die vielversprechenden Konzepte tatsächlich umgesetzt werden (vgl. hierzu auch kritisch Wetterer 2002). Andererseits aber bleiben auch bei den neuen Konzepten die Beteiligten die gleichen, die sie vorher waren. Daher wäre zu überlegen, ob die Zeit bereits reif ist für eine Integrationspolitik und für die Suspendierung einer Frauenpolitik mit ihren spezifischen Frauenprojekten. Vielmehr dürfte diese nach wie vor notwendig sein angesichts eines verschärften Verteilungskampfes in Zeiten knapper Mittel (vgl. Notz 2002: 9).
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Ausblick Die institutionelle Gleichstellungspolitik zielt auf die gleiche Teilhabe von Frauen an den gesellschaftlichen Ressourcen ab. Damit ist aber auch das Maß dieser Gleichstellung vorgegeben: Es geht um eine Angleichung an die Position der Männer. Durch Gleichstellungspolitik soll also eine Modernisierung der Gesellschaft erreicht werden, während das patriarchale System selbst, das diese Ungleichheit zwischen den Geschlechtern aufgrund seiner männlichen Strukturierung aufrecht erhält, unberührt bleibt. Eine gleiche Teilhabe von Frauen in allen gesellschaftlichen Bereichen erweitert im Prinzip nur die traditionelle Frauenrolle, lässt aber die privilegierte männliche Geschlechterrolle unberührt. Risiken und Kosten dieser Modernisierung werden dabei v.a. den Frauen aufgebürdet (vgl. Kontos 1994: 48). Um hier eine Strukturveränderung zu erreichen, müssten über die rechtliche Gleichbehandlung der Geschlechter und kompensatorisches Recht hinaus Maßnahmen ergriffen werden, die explizit auf eine Veränderung der Ursachen der gesellschaftlichen Ungleichheit abzielen. Ansatzpunkt wäre vor allem die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, die die bezahlte und die unbezahlte Arbeit asymmetrisch auf Frauen und Männer verteilt. Denn solange patriarchale Normen die private Reproduktions- und Familienarbeit mitsamt allen verbundenen beruflichen Nachteilen einseitig den Frauen zuweisen, solange sorgt das System selbst für den Fortbestand der Ungleichheit. Derartige Systemveränderungen dürften starke politische Widerstände erzeugen, denn geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und Geschlechterrollen bilden die sozialen und kulturellen Grundlagen des patriarchalen Gesellschaftssystems. Wenn also Feministinnen eine solche radikale Gleichstellungspolitik einfordern, wollen sie mehr als eine „Gleichbehandlung auf der Basis von Ungleichheit“ (Jansen 1994: 142). Vielmehr sollen die gesellschaftlichen Verhältnisse selbst verändert und neu gestaltet werden. Reformorientierte Gleichstellungspolitik hat in diesem radikalen Konzept jedoch ihren wichtigen strategischen Stellenwert. Da gesellschaftliche Veränderungen daran geknüpft sind, dass Frauen die Macht haben, sie durchzusetzen, sind Gleichberechtigung und gleiche Teilhabe die notwendigen Voraussetzungen zur Veränderung der Gesellschaftsstrukturen. Radikale Gleichstellungspolitik arbeitet dabei mit einem Gleichheitsbegriff, der für beide Geschlechter zwar gleiche, vor allem aber andere und bessere Lebensbedingungen anstrebt (vgl. Jansen 1994: 144). Am Ende könnte die Utopie einer Gesellschaft stehen, in der die Geschlechtszugehörigkeit eines Menschen nicht mehr über Herrschaft und Unterworfensein und seine/ihre Lebenschancen bestimmt. Verweise: Gender Mainstreaming Managing Diversity Recht Sprache
Literatur Begander, Elke/Sybille Schwertberger 1994: Kommunalpolitik und Verwaltung, Gleichstellungsarbeit in der Kommune, Bd. 2, Studienbrief zur berufsbezogenen Weiterbildung: Gleichstellungsarbeit für Frauen, Deutsches Institut für Fernstudien (Hrsg.). Tübingen Benda, Ernst 1986: Notwendigkeiten und Möglichkeiten positiver Aktionen zugunsten von Frauen im öffentlichen Dienst. Rechtsgutachten. Hamburg Berghahn, Sabine 2002: Frauenrechte und Defizite: Die Entwicklung der Rechtsinstrumente zur Gleichstellung. Berlin (Ms.) Biester, Elke/Barbara Holland-Cunz/Eva Maleck-Levy Eva et al. (Hrsg.) 1994: Gleichstellungspolitik – Totem und Tabus. Eine feministische Revision. Frankfurt/M., NewYork: Campus Bothfeld, Silke/Sigrid Gronbach/Barbara Riedmüller (Hrsg.) 2002: Gender Mainstreaming – eine Innovation in der Gleichstellungspolitik. Frankfurt/M., NewYork: Campus
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Cordes, Mechthild 1996: Frauenpolitik – Gleichstellung oder Gesellschaftsveränderung? Opladen: Leske + Budrich Giebhardt, Ute 1998: Macht Hochschulpolitik einen Unterschied? In: Roloff, Christine (Hrsg.): Reformpotential an Hochschulen. Berlin: Edition Sigma, S. 39-62 Hadler, Antje 2001: Personalpolitik für weibliche und männliche Führungskräfte. In: Krell, Gertraude (Hrsg.): Chancengleichheit durch Personalpolitik. Wiesbaden: Gabler, S. 401-420 Hohmann-Dennhardt, Christine 1988: Gleichberechtigung via Rechtsnorm? Zur Frage eines Antidiskriminierungsgesetzes in der Bundesrepublik: In: Gerhard, Ute/Yvonne Schütze (Hrsg.): Frauensituation. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 166-188 Höying, Stephan 2002: Gleichstellungspolitik als Klientelpolitik greift zu kurz. Die Möglichkeiten von Gender Mainstreaming aus der Sicht von Männern. In: Bothfeld, Silke/Sigrid Gronbach/Barbara Riedmüller (Hrsg.): Gender Mainstreaming – eine Innovation in der Gleichstellungspolitik. Frankfurt/M., NewYork: Campus Jansen, Mechthild 1994: Nicht mehr Totem, nicht neues Tabu: Gleichstellung weiterdenken. In: Biester, Elke/Barbara Holland-Cunz/Eva Maleck-Levy/Anja Ruf/Birgit Sauer (Hrsg.): Gleichstellungspolitik – Totem und Tabus. Eine feministische Revision. Frankfurt/M., New York: Campus, S. 141-157 Jüngling, Christiane 2001: Strategien der Implementierung von Gleichstellungsmaßnahmen. In: Krell, Gertraude (Hrsg.): Chancengleichheit durch Personalpolitik. Wiesbaden: Gabler, S. 107-117 Kontos, Silvia 1994: Jenseits patriarchaler Alternativen – Grenzen der Gleichstellungspolitik. In: Biester Elke/Barbara Holland-Cunz/Eva Maleck-Levy/Anja Ruf/Birgit Sauer (Hrsg.): Gleichstellungspolitik – Totem und Tabus. Eine feministische Revision. Frankfurt/M., New York: Campus, S. 36-53 Krell, Gertraude 2001: Chancengleichheit durch Personalpolitik – von „Frauenförderung“ zu „Diversity Management“. In: Krell, Gertraude (Hrsg.): Chancengleichheit durch Personalpolitik. Wiesbaden: Gabler, S. 17-37 Krell, Gertraude/Ulrich Mückenberger/Karin Tondorf 2001: Gender Mainstreaming: Chancengleichheit (nicht nur) für Politik und Verwaltung. In: Krell, Gertraude (Hrsg.): Chancengleichheit durch Personalpolitik. Wiesbaden: Gabler, S. 59-75 Metz-Göckel, Sigrid 2002: Etikettenschwindel oder der neue Schritt im Geschlechter- und Generationenverhältnis? Zur Karriere des Gender Mainstreaming in Politik und Wissenschaft. In: Zeitschrift für Frauen- und Geschlechterforschung, Jg. 20, H. 1+2, S. 11-25 Michel, Sigrid 2001: Die Frauenbeauftragte als Gleichstellungsmanagerin. Dortmund (Ms.) Ministerium für Bildung, Frauen und Jugend des Landes Rheinland-Pfalz 2001: Gender Mainstreaming – eine praktische Einführung. Mainz Nohr, Barbara/Silke Veth (Hrsg) 2002: Gender Mainstreaming. Kritische Reflexionen einer neuen Strategie. Berlin: Dietz Plöger, Lydia/Birgit Riegraf (Hrsg.) 1998: Gleichstellungspolitik als Element innovativer Hochschulreform. Bielefeld: Kleine Notz, Gisela 2002: Von der Gleichstellungspolitik zum Gender Mainstreaming. Bonn (Ms.) Riegraf, Birgit 1996: Geschlecht und Mikropolitik am Beispiel betrieblicher Gleichstellung. Opladen: Leske + Budrich Stiegler, Barbara 2000: Wie Gender in den Mainstream kommt. FES Arbeitspapier. Bonn Wetterer, Angelika 2002: Strategien rhetorischer Modernisierung. Gender Mainstreaming, Managing Diversity und die Professionalisierung der Gender-Expertinnen. In: Zeitschrift für Frauen- und Geschlechterforschung, Jg. 20, H. 3, S. 129-148
Barbara Stiegler
Gender Mainstreaming: Fortschritt oder Rückschritt in der Geschlechterpolitik?
Das Konzept Gender Mainstreaming (GM) GM ist eine geschlechterpolitische Strategie, die aus den Erfahrungen der Frauen mit der internationalen Entwicklungspolitik entstand und die Frauen von der Position der Bittstellerinnen, die an ihre Regierungen Forderungen stellen, befreit und die eine Strategie, gleichzeitig immer auch in der Kritik stand und steht. Schon die Herkunft ist umstritten. Während einige Autorinnen die Wurzeln in dem unternehmensbezogenen Human Ressource Management sehen (Schunter-Kleemann 2001, Wetterer 2002), verweisen Frey und Kuhl (2003) darauf, dass im internationalen Diskurs diese Verbindung erst sehr spät auftaucht und in den 1990er Jahren die Herkunft in der internationalen Frauenpolitik selbstverständlich war. GM entstand demnach in den Auseinandersetzungen um die Effektivität und Zielgenauigkeit der Entwicklungshilfe. Bereits in den 1980er Jahren forderten die Frauen, dass die großen entwicklungspolitischen Akteure, wie die Weltbank und die Vereinten Nationen, geschlechtersensible Konzepte in ihren Entwicklungsprogrammen einsetzen. Zum einen setzten sie mit dem Gender Budgeting der neoliberalen Strukturpolitik und insbesondere den Strukturanpassungsmaßnahmen ein vielfältiges analytisches Methodenset entgegen (vgl. Budlender u.a. 1998). Zum anderen konnten sie durch die Verankerung von GM in dem Abschlussdokument der Weltfrauenkonferenz 1995 erstmals die Regierungen verpflichten, die frauenpolitische Agenda auch in einer bestimmten Weise umzusetzen. Auf europäischer Ebene wurde das GM Prinzip in den Amsterdamer Vertrag 1996 aufgenommen. Damit verpflichten sich alle Staaten der Europäischen Union, dieses Prinzip bei ihrer Politik anzuwenden. Der Europarat (1998) gibt dazu folgende Definition: „GM besteht in der (Re-)Organisation, Verbesserung, Entwicklung und Evaluation von Entscheidungsprozessen mit dem Ziel, dass die an politischer Gestaltung beteiligten Akteure und Akteurinnen den Blickwinkel der Gleichstellung zwischen Frauen und Männern in allen Bereichen und auf allen Ebenen einnehmen.“
Gender bezeichnet dabei den sozial und politisch gestalteten und gestaltbaren Aspekt von Geschlecht. Durch den Gebrauch der Kategorie „Gender“ wird anerkannt, dass alle politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Strukturen die Handlungsmöglichkeiten von Männern und Frauen beeinflussen. GM soll geschlechtsspezifische Sichtweisen berücksichtigen und deren Hemmnisse gleichzeitig überwinden. Wetterer spricht von einer „Redramatisierung der Geschlechterunterscheidung“ (2005), die nicht dazu tauge, die bestehenden Unterschiede und Ungleichheiten aufzuheben, sondern diese womöglich festschreibe. Aus diesem Grund wird GM ein Potenzial der Stereotypisierung und Homogenisierung vorgeworfen. Da gesellschaftliche Ungleichheit auch über die Geschlechtszugehörigkeit hergestellt wird, sind aber beispielsweise Analysen betrieblicher Lohnsysteme nach Geschlecht zunächst einmal dringend erforderlich, da sie die Lohndiskriminierung aufgrund des Geschlechts überhaupt erst aufzeigen. GM als Gleichstellungsstrategie ist für Organisationen geeignet, die im weitesten Sinne politisch handeln, seien es Ministerien, Behörden, kommunale Verwaltungseinheiten, Verbände,
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Vereine oder Gewerkschaften, aber auch Bildungsinstitutionen wie Schulen, Hochschulen oder Volkshochschulen, d.h. für Organisationen, die demokratisch legitimiert sind und die Lebensbedingungen allgemein und damit direkt oder indirekt auch die Geschlechterverhältnisse regeln und gestalten. Beim GM handelt es sich also um ein konzeptionelles Instrument zur Veränderung von Entscheidungsprozessen, um eine systematisierende Verfahrensweise, die innerhalb der Entscheidungsprozesse von Organisationen von oben nach unten (Top down) implementiert, aber von unten nach oben vollzogen wird. Die Anwendung von GM ist als Organisationsentwicklungsprozess zu gestalten, der auch auf die Veränderung der Organisationskultur sowie auf Neuzuschnitte von Problembearbeitungen zielt (vgl. Höying/Lange 2004). Die Umsetzung von GM dient allgemein der Herstellung der Chancengleichheit, verlangt aber eine genaue Zieldefinition für das jeweilige Arbeitsfeld. Die Operationalisierung von geschlechterpolitischen Zielsetzungen ist dabei eine der herausragenden Implikationen von GM. Mit anderen Worten: GM ist nicht das Ziel, sondern ein Verfahren, um ein bestimmtes, definiertes Ziel zu erreichen. Dabei werden verschiedene Methoden genutzt; damit ist das Konzept offen für verschiedene geschlechterpolitische Optionen. Es wird unterschieden zwischen analytischen Methoden, z.B. 3-R-Methode (Analyse von Repräsentation, Ressourcen, Realitäten); GIA (Gender Impact Assessment); Budgetanalysen; Checklisten; – pädagogischen Methoden (Gendertraining, Genderworkshop) und – partizipatorischen Methoden, wie bspw. Think-tanks, Zukunftswerkstätten, Hearings (vgl. Meuser/Neusüß 2004). –
Verhältnis zu anderen geschlechterpolitischen Strategien GM ist eine neue geschlechterpolitische Strategie, die an den vorhandenen ansetzt und diese ergänzt (vgl. Stiegler 2005b). Die rechtliche Gleichstellungspolitik (Antidiskriminierung) bleibt eine Basisstrategie, mit der jede Form von Benachteiligung, von Nichtbeachtung, von Ausschluss oder von Ungleichbehandlung einzelner Menschen oder Gruppen auf Grund des Geschlechts beseitigt werden soll. Die bisher dominante Strategie der Frauenförderung setzt dagegen an einer anderen Stelle an. Sie geht durch die kollektive Förderung von Frauen als Zielgruppe gegen strukturelle Defizite an, entwickelt korrigierende Programme und ist eine direkte Intervention kompensatorischer Art im Interesse einer Gruppe von Frauen. Beim GM werden Analysen in allen Bereichen zur Frage der Geschlechterverhältnisse vorgenommen und alle Strukturen und geplanten Maßnahmen auf ihre Auswirkungen untersucht, auch ohne dass bereits eine konkrete Ungleichbehandlung oder ein Defiziterlebnis von einer bestimmten Person oder Personengruppe vorliegt. GM wirkt daher im Vorfeld von Entscheidungen gestaltend auf Rahmenbedingungen für die Geschlechterverhältnisse. Seit der Einführung von GM gibt es Diskussionen um den Stellenwert der verschiedenen geschlechterpolitischen Strategien (vgl. Stiegler 2005a). Frauenpolitik, so wird befürchtet, würde durch GM geschwächt, als alt und unmodern gekennzeichnet und letztlich überflüssig. Dies ist ein konzeptionelles Missverständnis: GM ersetzt nicht als expertokratischer Ansatz die Frauenpolitik, sondern ist im Gegenteil ein Ergebnis von erfolgreicher Frauenpolitik. Aus der Einsicht in die langsamen Veränderungen in den Geschlechterverhältnissen bzw. in Kenntnisnahme auch von Rückschritten ermächtigen sich die Frauen, die Männer endlich „zum Zuhören zu zwingen“ (Hagemann-White 2001: 38). Beispielsweise zeigen Auswertungen der internationalen Anwendung von Gender-Budget-Analysen, dass es durchaus zu einer Stärkung der Position der Frauen kommen kann, wenn eindeutige Daten vorliegen, die die finanziellen Benachteiligungen von Frauen und frauendominierten Bereichen nachweisen (vgl. Madörin 2003). Zu solchen Daten muss eine Regierung oder Organisation sich verhalten, und sie werden zum Frühwarnsystem bei Einsparungen.
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In der Debatte um die Abgrenzung vom Diversity Management wird GM als zu eng angesehen, weil hier nur die Geschlechterfragen und nicht andere Diskriminierungsfaktoren wie Alter, ethnische Herkunft, Behinderung oder Religion berücksichtigt werden (vgl. Döge 2004). GM als Strategie zielt in der Tat nur auf die Ungleichheiten, die in der Geschlechtszugehörigkeit gründen. Bei den Analysen der Geschlechterverhältnisse wird das Geschlecht jedoch immer mit anderen Merkmalen verbunden. Daher machen Genderanalysen deutlich, dass die herrschende Orientierung an dem weißen, jungen, heterosexuellen und erwerbstätigen Mann der Mittelschicht nicht nur die meisten Frauen, sondern auch viele Männer benachteiligt. Managing Diversity ist demgegenüber eine Antidiskriminierungsstrategie, die bisher v.a. in Unternehmen angewandt wird und ihre Grenzen an der Profitorientierung dieser Unternehmen findet. Gender erscheint hier als eine Humanressource zur Gewinnmaximierung und nicht als Strukturmerkmal für Analysen von Ungleichheit.
Umsetzung von Gender Mainstreaming Seit 1995 werden im Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP), in der Weltbank und in der Internationalen Labor Organisation Schritte zur Umsetzung von GM unternommen (Frey 2003: 75ff.). In der Europäischen Union beschreibt das Vierte Aktionsprogramm zur Chancengleichheit 1995 die Grundlagen für GM. Bisher gilt GM allerdings hauptsächlich als beschäftigungspolitische Strategie und beschränkt sich auf die Vergabe von Mitteln aus den Sozialfonds. In Deutschland ist GM mittlerweile in fast allen Geschäftsordnungen der Länder und des Bundes implementiert (vgl. Döge/Stiegler 2004). Der Deutsche Städtetag empfiehlt die Umsetzung, und viele Kommunen und Landkreise haben entsprechende Parlamentsbeschlüsse gefasst. In einigen Gesetzen und Verordnungen wird GM verbindlich vorgeschrieben (z.B. im Hochschulrahmengesetz) und in manchen Förderplänen die Umsetzung der Strategie zur Pflicht für die Mittelempfänger (z.B. im Kinder- und Jugendplan des Bundes oder in den Richtlinien zur Forschungsförderung). Auch in zivilgesellschaftlichen Organisationen wie Gewerkschaften oder Verbänden wurde GM in die Satzungen aufgenommen (z.B. ver.di, Deutscher Jugendring, Deutscher Sportbund). Die vielfältigen Anwendungen von GM bieten ein neues professionelles Betätigungsfeld für GleichstellungsexpertInnen. Neue Institutionen beraten und begleiten die Umsetzung (z.B. die Genderkompetenzzentren der Humboldt-Universität in Berlin und der Universität Bonn und das Gender Institut Sachsen Anhalt). Studien- und Ausbildungsangebote zur Genderberatung und zum Gendertraining (z.B. der Zusatzstudiengang GenderKompetenz an der FU Berlin oder das Projekt Genderkompetenz an der Universität Lüneburg) schaffen Möglichkeiten, sich in diesem Gebiet professionell zu qualifizieren. Und in verschiedenen Netzwerken (GenderNetzwerk NRW und GMEI (GM Experten International) und dem ersten Berufsverband (Fachverband Gender Diversity) bilden sich bundesweite Kooperationen. Bis heute liegt jedoch keine systematische Untersuchung über das Ausmaß der Aktivitäten zur Implementierung von GM auf den unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlichen Organisationen vor. Ebenso wenig gibt es wissenschaftliche Prozessbegleitungen. Die Einführung von GM in der Bundesregierung (vgl. Sellach u.a. 2004) und in Sachsen-Anhalt (vgl. Hoffmann u.a. 2003) wurde zwar wissenschaftlich begleitet. Diese ersten wissenschaftlichen Untersuchungen dienten aber v.a. als Umsetzungshilfen im Prozess der Einführung von GM, wobei die ForscherInnen die Ergebnisse anwendungsorientiert aufarbeiteten. Erste Evaluationen der Strukturförderungsmassnahmen (vgl. Englert 2002, Pimminger 1999) ergaben dabei eine höchst mangelhafte Umsetzung von geschlechterpolitischen Zielsetzungen. Auch empirische Studien zum Verständnis von GM bei Hochschulleitungen (vgl. MetzGöckel/Kamphans 2002) und in der Europäischen Kommission (vgl. Schmidt 2005) zeigen, wie
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unklar und vage das Verständnis von Gender ist. Demgegenüber gibt es im Bereich der Kinderund Jugendhilfe viele innovative Ansätze, die auf der Einführung von GM basieren und die zu einer Aufwertung der mädchen- und jungenspezifischen Ansätze in der Jugendarbeit führen (vgl. Richter 2004).
Gender Mainstreaming als neoliberale Modernisierung? Gegenüber GM als Gleichstellungsstrategie werden verschiedene Kritikpunkte angeführt, die zum einen das Konzept an sich und zum anderen seine Umsetzung betreffen. Wetterer (2002) sieht im GM in erster Linie eine „rhetorische Modernisierung“. Dadurch, dass in der Sprache der Verwaltungsreform über Geschlechterverhältnisse geredet werde, seien frauenpolitische Zielsetzungen kaum noch in ihrem transformatorischen und Paradigmen wechselnden Charakter denkbar. Gender werde mit Effizienz und Wirtschaftlichkeit als Kriterien bürokratischer Entscheidungen verbunden und gleichgestellt. In den Organisationen werde von den feministischen Forderungen nur so viel übrig bleiben, wie in das Denken nach Effizienzkriterien passt und unter ökonomischen Gesichtspunkten machbar ist (vgl. Pühl 2003). Hofbauer u.a. (2005) analysierten Dokumente der europäischen Kommission. Für sie ist GM Teil von neoliberaler Politik, Ungleichheiten werden privatisiert und Chancengleichheit in der Rhetorik des Wettbewerbs verhandelt. Demgegenüber sieht Woodward (2001) GM als trojanisches Pferd, das mit dem Gebrauch der Sprache der Macht Gleichstellungsziele erreichen will. Woodward befürwortet es, nach den Master-Instrumenten zu suchen, die den Master entblößen. Ein weiterer Kritikpunkt an dem Konzept lautet: GM sei eine technokratische Herangehensweise und blende die Machtfrage in der Gesellschaft und in Organisationen aus. Stattdessen setze die Strategie auf Sensibilisierung, Beratung und Training (vgl. Weinbach 2001). Diese Position stimmt, wenn das Konzept isoliert betrachtet wird: Da GM voraussetzt, dass die „Machtfrage“ entschieden ist, müssen die geschlechterpolitischen Ziele bereits vor der Anwendung genau bestimmt sein. GM wird auch als Alibiveranstaltung bezeichnet, wenn in der politischen Realität Marginales gegendert wird, kleine Projekte zu Randthemen beispielsweise als Prototypen charakterisiert werden, während große politische Konzepte unberührt bleiben und sich dadurch der Kritik entziehen (vgl. Weg 2003). Diese Beobachtung ist richtig, wenn man z.B. die Pilotprojekte in den Bundesministerien mit den großen Reformkonzepten der Regierung vergleicht. Der hier im Großen, z.B. bei den Hartz-Gesetzen, nicht eingelöste Anspruch des GM könnte aber zur Politisierung führen. Denn immer mehr Stimmen fordern genau diese Geschlechteranalysen, zu denen der Staat sich verpflichtet hat, in den Reformkonzepten. Da die systematische Berücksichtigung der Geschlechterperspektive bisher nicht einklagbar ist (vgl. Schunter-Kleemann 2001), wird in der Debatte um die Perspektiven für das Konzept GM die stärkere rechtliche Verbindlichkeit auch als ein wichtiger Faktor diskutiert (vgl. Weg 2003). Während in diesen Kritikpunkten v.a. Mängel auf dem im Prinzip richtigen Weg aufgezeigt werden, existieren auch Beispiele für den Missbrauch des Konzepts. Die Abschaffung von Gleichstellungsausschüssen, die Infragestellung von Gleichstellungsbeauftragten, die Mittelkürzung für Frauenprojekte oder die Umwidmung von Mitteln, die bisher für Frauenprojekte zur Verfügung standen, zu Jungen- oder Männerprojekten, diese Maßnahmen im Namen von GM sind Realität. Damit wird dessen Ziel ins Gegenteil gekehrt: GM führt dann nicht zur Abschaffung von Strukturen, die traditionelle Geschlechterrollen aufrechterhalten, zur Stärkung der Positionen der Frauen und Veränderung der Positionen von Männern, sondern zur Vermeidung jeder Art von Geschlechterpolitik oder zur Schwächung (autonomer) frauenpolitischer Aktivitäten. Solche Beispiele sprechen jedoch nicht gegen das Konzept GM als solches, sondern vielmehr für eine verstärkte Kontrolle und ein frauenpolitisches Monitoring.
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Ausblick für die Frauen und Geschlechterforschung In GM-Prozessen entsteht ein enormer Bedarf an Wissen über Geschlechterverhältnisse für alle Bereiche: in Ökonomie, Arbeit, Politik, Gesundheit, Bildung und Kultur, Raumplanung und Ökologie. Theorien und Erkenntnisse über die Herstellung von Geschlechterverhältnissen in den verschiedenen Bereichen können das nötige kritische Bewusstsein vermitteln. Es ist eine Herausforderung für die Frauen- und Geschlechterforschung, mit den wachsenden Ansprüchen der Praxis distanziert aber produktiv umzugehen. Ohne eine starke Frauenpolitik wäre GM nie entwickelt worden. GM ist aber kein Zaubermittel zur Herstellung der Chancengleichheit oder zur Veränderung patriarchaler Strukturen. Es ist ein anspruchsvolles Konzept und setzt einen Lernprozess für Organisationen und einen Lernprozess für Männer und Frauen voraus. Um die geschlechterpolitischenpolitischen Ziele der Prozesse muss es eine demokratische Auseinandersetzung geben. Verweise: FrauenMenschenrechte Gleichstellungspolitiken Managing Diversity
Literatur Budlender, Debbi/Ronda Sharp/Kerri Allen 1998: How to Do a Gender-Sensitive Budgets Analysis. Contemporary Research and Practise. Commonwealth Secretariat. Übersetzung von Regina Frey unter http://www.gender-budgeting.de “Instrumente” Döge, Peter/Barbara Stiegler 2004: Gender Mainstreaming in Deutschland. In: Meuser, Michael/Claudia Neusüß (Hrsg.) Gender Mainstreaming. Konzepte, Handlungsfelder, Instrumente. Bundeszentrale für politische Bildung. Bonn, S. 135-158 Englert, Dietrich/Mechthild Kopel/Astrid Ziegler 2002: Gender Mainstreaming im europäischen Sozialfond – das Beispiel Deutschland. In: WSI Mitteilungen, 8, S. 451-458 Europarat 1998: Gender Mainstreaming. Konzeptioneller Rahmen, Methodologie und Beschreibung bewährter Praktiken. Strassburg: Europarat Frey, Regina/Mara Kuhl 2003: Wohin mit Gender Mainstreaming? Zum Für und Wider einer geschlechterpolitischen Strategie. In: gender...politik...online, http://web.fu-berlin.de/gpo/pdf/frey_kuhl/freykuhl. pdf aufgerufen am 01.02.2006 Frey, Regina 2003: Gender im Mainstreaming. Geschlechtertheorie und – Praxis im internationalen Diskurs. Königstein/Ts.: Ulrike Helmer Verlag Hagemann-White, Carol 2001: Von der Gleichstellung zur Geschlechtergerechtigkeit: das paradoxe Unterfangen, sozialen Wandel durch strategisches Handeln in der Verwaltung herbeizuführen. In: FORUM BzgA (Hrsg.) 4, S. 33-38 Hofbauer, Ines/Gundula Ludwig 2005: Gender Mainstreaming – Geschlechtergerechtigkeit limited? Eine politische Strategie auf dem Prüfstand. In: femina politica 2/2005, S. 32-42 Höyng, Stephan/Ralf Lange 2004: Gender Mainstreaming – ein Ansatz zur Auflösung männerbündischer Arbeits – und Organisationskultur? In: Meuser, Michael/Claudia Neusüß (Hrsg.): Gender Mainstreaming. Konzepte, Handlungsfelder, Instrumente. Bundeszentrale für politische Bildung. Bonn, S. 103-122 Hofmann, Isolde/Kristin Körner/Christine Färber/Jochen Geppert/Anne Rösgen/Ute Wanzek 2003: Gender Mainstreaming in Sachsen-Anhalt. Konzepte und Erfahrungen. Hrsg. v. Ministerium für Gesundheit und Soziales des Landes Sachsen-Anhalt. Opladen/Farmington Hills: Barbara Budrich Publishers Madörin, Mascha 2003: Gender Budget. Erfahrungen mit einer Methode des Gender Mainstreaming. In: Widersprüche, 44, 23. Jg. 1. Halbjahr, S. 35-51 Metz-Göckel, Sigrid/Marion Kamphans 2002: GM in Hochschulleitungen von NRW. Mit gebremstem Schwung und alter Skepsis. Gespräche mit der Hochschulleitung. Forschungsbericht im Auftrag des Ministeriums für Schule, Wissenschaft und Forschung des Landes NRW. Dortmund Meuser, Michael/Claudia Neusüß (Hrsg.) 2004: Gender Mainstreaming. Konzepte, Handlungsfelder, Instrumente. Bundeszentrale für politische Bildung. Bonn
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Pimminger, Irene 1999: Chancengleichheit im ESF. Qualitative Analyse. L&R Sozialforschung/social research Wien Pühl, Katharina 2003: Geschlechterpolitik im Neoliberalismus. In: Widerspruch, 44, 23. Jg. 1. Halbjahr, S. 61-84 Richter, Ulrike (Hrsg.) 2004: Jugendsozialarbeit im Gender Mainstream. Gute Beispiele aus der Praxis. München: DJI Verlag Schmidt, Verena 2005: Gender Mainstreaming. An Innovation in Europe? The Institutionalisation of Gender Mainstreaming in the European Commission. Opladen/Farmington Hills: Barbara Budrich Publishers Schunter-Kleemann, Susanne 2001: Gender Mainstreaming – neoliberale Horizonte eines neuen Gleichstellungskonzeptes. In: Kurswechsel, Heft 3/2001, S. 15-25 Sellach, Brigitte/Uta Enders-Dragässer/Mara Kuhl/Susanne Baer/Brigitte Kress 2004: Implementierung von Gender Mainstreaming innerhalb der Bundesregierung. http://www.gender-mainstreaming.net/gm/ wissensnetz.html, aufgerufen am 1.3.2006 Stiegler, Barbara 2003: Gender Mainstreaming – Postmoderner Schmusekurs oder geschlechterpolitische Chance? Argumente zur Diskussion, herausgegeben vom wirtschafts- und sozialpolitischen Forschungs- und Beratungszentrum der Friedrich-Ebert-Stiftung, Abt. Arbeit und Sozialpolitik, Bonn Stiegler, Barbara 2005a: Antidiskriminierung – Erschöpfung in der Geschlechterpolitik? herausgegeben vom wirtschafts- und sozialpolitischen Forschungs- und Beratungszentrum der Friedrich-EbertStiftung, Abt. Arbeit und Sozialpolitik. Bonn Stiegler Barbara 2005b: Gender Mainstreaming, Frauenförderung, Diversity oder Antidiskriminierungspolitik – was führt wie zur Chancengleichheit? In: Zeitschrift für Frauenforschung & Geschlechterstudien, Jg 23, H.3, S. 9-22 Weg, Marianne 2003: Gender Mainstreaming – Zukunftsstrategie für Gleichstellungspolitik. In: Schacherl, Ingrid (Hrsg.) 2003: Gender Mainstreaming – Kritische Reflexionen. Reihe Sozial – und Kulturwissenschaftliche Studientexte Bd. 8, Innsbruck: STUDIA Universitätsbuchhandlung und Verlag GmbH, S. 29-57 Weinbach, Heike 2001: Über die Kunst, Begriffe zu fluten. In: Forum Wissenschaft 2, S. 6-10 Wetterer, Angelika 2002: Strategien rhetorischer Modernisierung. Gender Mainstreaming, Managing Diversity und die Professionalisierung der Gender-Expertinnen. In: Zeitschrift für Frauenforschung & Geschlechterstudien, Jg 20, H.3, S. 129-148 Wetterer, Angelika 2005: Gleichstellungspolitik und Geschlechterwissen – Facetten einer schwierigen Vermittlung. Vortrag im GenderKomepetenzZentrum am 14.02.2005, http://genderkompetenz.info/ w/files/gkompzpdf/gl_wetterer_gleichstellungspolitik_und_geschlechterwissen_140205.pdf aufgerufen am 20.02.2006 Woodward, Alison E. 2001: Gender Mainstreaming in European Policy: Innovation or Deception. Discussion Paper FS I 01-103. Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung
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Managing Diversity: Ein (kritisches) Konzept zur produktiven Nutzung sozialer Differenzen
Entstehung, Zielsetzung, Definitionen Managing Diversity (MD) ist ein ursprünglich US-amerikanisches Management-Konzept zur Bewältigung von Diskriminierung, das durchaus die ökonomische Nutzung sozialer Differenzen in Organisation und Gesellschaft anstrebt. MD kann im weitesten Sinne als eine Reaktion auf die Antidiskriminierungsbewegung verstanden werden (vgl. Engel 2007). In diesem Zusammenhang versucht MD politische Anforderungen sozialer Bewegungen des Anti-Rassismuskampfes bzw. der Bürgerrechtsbewegung, der Frauenbewegung, der Schwulen- und Lesbenbewegung als strategic grassroot approach to change in verschiedene gesellschaftliche Subsysteme wie Bildung, Wirtschaft und Recht einzubringen (vgl. DeLuca/McDowell 1992). Eher als in Europa wurden in den USA antidiskriminierende gesetzliche Grundlagen der Affirmative-Action-Programme möglich, die für die Personalpolitik in Unternehmen verpflichtend wurden. Aus Affirmative-Action-Programmen resultierten jedoch auch Problemlagen wie Defizitorientierung, Differenzverstärkung, Reaktionen gegen „positive Diskriminierungen“ oder Backlash (vgl. Gottfredson 1992), die als Gegenbewegung zu einem eher ressourcenorientierten Diversityansatz in Unternehmen führten. Der Entwicklung eines gemeinsamen europäischen Wirtschaftsraums folgend, wurden gesetzliche Antidiskriminierungsregulierungen durchgesetzt. Als größter Vorstoß kann hier das „Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz“ (AGG) – seit 2006 in Deutschland gültig – bezeichnet werden (vgl. Merx/Vassilopoulou 2007). Qualitativ unterscheidet sich das AGG vom 1984 reformierten Betriebsverfassungsgesetz, das bereits Gerechtigkeit, Gleichheit und Antidiskriminierung im beruflichen Kontext ermöglichen sollte, insofern, als es externe Anspruchsgruppen wie BewerberInnen und KundInnen mit einbezieht, im zivilrechtlichen Bereich ebenso Gültigkeit hat und bei Diskriminierungsanlass erstmalig die Umkehr der Beweislast ermöglicht. MD ist in fast allen Ländern stark legislativ motiviert und gilt als präventive Veränderung von Organisationen zur Abwehr von teuren Antidiskriminierungsklagen. Ziel von MD ist die Bearbeitung von Diskriminierung auf personaler und organisationaler Ebene zur Inklusion des personalen Potenzials. Organisationen werden angeregt, Strukturen wie Kulturen so zu entwickeln, dass sie in der Lage sind, Diskriminierung zu reflektieren, wenn möglich zu verhindern oder zu vermindern. Dabei werden organisationale Dominanz, personale Privilegien, elitäre Personalrekrutierung und diskriminierende Karriereoptionen in Frage gestellt. MD hinterfragt die scheinbare Normalität sozialer Differenzen und Differenzierung. Bearbeitet werden sowohl individuelle Unterschiede als auch die Konstruktion von Gruppenzugehörigkeiten in ihrer Bedeutung für betriebliche und organisationale Entwicklungsmöglichkeiten. In einer weiten Definition meint Diversity zunächst die verschiedenen individuellen Unterscheidungsmerkmale von Personen. Enger gefasst bezieht sich Diversity auf gesellschaftlich „anerkannte“ diskriminierende Merkmale wie ethnische Herkunft, Alter, Geschlecht oder Religion (vgl. Nkomo/Cox 1996). Dabei werden soziale Gruppen durch Zuschreibungen und kulturelle Typisierungen konstruiert. Weitere soziale Unterscheidungen wie beispielsweise sexuelle Orientierung oder soziale Herkunft werden dabei weniger berücksichtigt.
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Eine systematisierende Definition von Diversity zur Erfassung individueller Verschiedenheit erfolgt nach Gardenswartz und Rowe (1991) auf folgenden drei Ebenen: –
unveränderliche Merkmale der Person (biologisches Geschlecht, sexuelle Orientierung, Alter …) – veränderliche Merkmale der Person (sozialer Status, Ausbildung, Religion …) – Merkmale organisationaler Einbindung der Person (Position in der Hierarchie, Regionalkultur, Zugehörigkeit zu Kern- oder Randbelegschaft …) Diese Systematisierung von Diversity-Kriterien muss prinzipiell als offen betrachtet werden. So ist z.B. sexuelle Orientierung in verschiedenen Diskursstadien als unveränderliches oder als veränderliches Merkmal beschrieben worden. Diversity-Kategorisierungen unterliegen also (wissenschafts-)politischen u.a. Konstruktionsentwicklungen und -interessen (vgl. Zanoni/Janssens 2004). In der US-amerikanischen Diskussion betont Thomas (2001) die Problematik der prekären Gleichsetzung von demografischem Merkmal und empirischer Verhaltensbeschreibung. In pragmatischen, unreflektierten Diversity-Prozessen ist eine askriptive Ableitung von Verhaltenserwartungen aus demografischen Merkmalen durchaus beobachtbar. Stereotypisierung entsteht hier vor allem durch eine begriffliche Konstruktion. So wird z.B. der Begriff „Frau“ mit stereotypen Verhaltenserwartungen angereichert und dann als „demografisches Merkmal“ in Kommunikationssituationen verankert. Diese Bestimmung und Verwendung von demografischen Kriterien, z.B. „Frau/Mann“, verweisen auf die sprachlich-begriffliche Gebundenheit subjektiver wie kultureller Wahrnehmung im Diversity-Diskurs und -Prozess (vgl. Koall/Bruchhagen 2002).
Phasen im Prozess des Managing Diversity Empirisch unterscheidbar sind drei verschiedene Paradigmen, die auch als organisationale Phasen zur Nutzung und Wirkung von Verschiedenheit verstanden werden können (vgl. Ely/Thomas 2001, Sepehri 2002): – Die erste Phase betont Fairness und Antidiskriminierung als Anforderungen formaler Gleichberechtigung. Kenntnisse der gleichstellungspolitischen Instrumente, Kompetenzen und Prozesse können beobachtet werden. Die formale Gleichstellung ist aber stets von der Fähigkeit individueller Konfliktbearbeitung abhängig. Es existiert in der Organisation eine sogenannte „Dominanzkultur“, die unhinterfragt als die gültige Normalität anerkannt ist und in die sich die Minoritäten integrieren müssen/können. Eine Dominanzkultur wird selten von ihren Mitgliedern erkennbar deklariert, eher wird sie deutlich aus einer befremdeten Perspektive. Zumeist wird das Anderssein mit Widerstand gegen die (geforderte, meist dominante) Norm verwechselt und nicht mit einer anderen sozialen oder kulturellen Prägung in Verbindung gebracht. Konflikte dieser Art können formal (AGG) geregelt und entschieden werden. – In der zweiten Phase, „Legitimität und Marktzutritt“, liegt der Fokus auf der Vermarktung von Verschiedenheit. In der Organisation werden besondere Arbeitsbereiche für „Minoritäten“ eingeführt. Es werden Versuche unternommen, die funktionalen Besonderheiten der minorisierten Eigenschaften zu betonen und für die Interessen der Organisation zu nutzen. Dies geschieht teilweise durch Quotierungen oder Unternehmenspolitiken zur Vermeidung von Sanktionszahlungen. Die Gleichsetzung von personen- und verhaltensimmanenter Diversity ist Bestandteil dieser Phase. Sie ist oft auch Anlass für Kritik und Weiterentwicklung, denn die Reduktion von MitarbeiterInnen auf ein demografisches Merkmal mündet häufig in entwertenden „Sackgassenkarrieren“.
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– Erst in der dritten Phase lernt eine Organisation, effizient mit Verschiedenheit umzugehen. In dieser Organisation ist die Dominanzkultur abgebaut und eine wertschätzende Diversity-Kultur entstanden, diskriminierende Haltungen und Handlungen werden zunehmend unnötig/dysfunktonal. Es gibt eine hohe Identifikation der MitarbeiterInnen mit ihrer Tätigkeit, die auf der möglichst freien Gestaltung von Arbeitstätigkeit, -inhalt, -methode und -kultur beruht. Die Zusammenarbeit wird in wechselnden, den Aufgaben angepassten, Teams organisiert. Priorität erhält die Funktion der einzelnen zu erledigenden Aufgaben. Dies verhindert, dass demografische Merkmale zur Konstruktion von Ähnlichkeit oder Verschiedenheit genutzt werden, um soziale Schließungsprozesse (Seilschaften, Mobbing, Rivalität) zu inszenieren (vgl. Cox 2001). Die Globalisierung der Wirtschaftstätigkeit, die Notwendigkeit zur Ressourcenorientierung mit Blick auf bisher vernachlässigte MitarbeiterInnengruppen im Rahmen demografischer Veränderungen sowie die präventive Anpassung an antidiskriminierende Gesetzgebung ist für global operierende Unternehmen kaum mehr verzichtbar und erklärt die Verbreitung von MD im europäischen Raum. Im Anwendungsbezug von MD als Personalprozess oder im Consulting wird der Bezug zum „Business Case“ (Geschäftsprozesse) oder zur „Best Practice“ relevant. Betriebswirtschaftlich werden „resource based views“ zur Ermöglichung einer unverwechselbaren, diversitybasierten Unternehmensleistung herangezogen. Dies geschieht allerdings um den Preis einer zunehmenden Spaltung zwischen Kernbelegschaft und Peripheriebelegschaft (vgl. Becker 2006). Dies zeigt, wie ambivalent MD genutzt werden kann: sowohl im Zusammenhang neoliberaler Paradigmen und Vorstellungen von Leistungsbereitschaft und -fähigkeit als auch hinsichtlich gesellschaftlicher Durchlässigkeit und kompetenter, leistungs- und verhandlungsstarker Systemteilhabe bisher minorisierter Personen und Gruppen (vgl. Bendl 2007). MD sollte u.E. als betriebliches vom politischen Konzept unterschieden werden. Dabei ist eine zukunftsoffene Frage, inwieweit das Konzept MD ökonomische Dynamiken zur Verwirklichung sozialer und politischer Ziele nutzen kann oder umgekehrt: wie soziale und politische Dynamiken zur Überwindung von Diskriminierung auf die Gestaltung organisationaler und betrieblicher Prozesse Einfluss gewinnen können.
Gender im (Managing-)Diversity-Diskurs Kontinuität und Wandel von Diskriminierung und Dominanz, Widerstand und Emanzipation waren seit jeher Gegenstand einer kritisch-feministischen Theorie, Forschung und Praxis. Aktuell wird Diskriminierung in der Verschränkung von race/ethnicity, class und gender im Rahmen von Intersektionalitätstheorien diskutiert (vgl. Klinger/Knapp 2007). Dabei stellt die Komplexität, die in der Verschränkung sozialer Merkmale bearbeitet wird, methodisch wie konzeptionell eine Herausforderung – auch für die Weiterentwicklung der Diversity-Thematik – dar (vgl. McCall 2005, Bruchhagen/Koall 2007). Zu fragen ist hier, in welcher Relation die einzelnen DiversityKriterien bzw. die Kategorien sozialer Differenzierung zueinander stehen. Untersuchungen zu diversityrelevanten Themen zeigen, dass Geschlecht – zumindest im deutschsprachigen Untersuchungssample – als die zurzeit relevanteste Dimension wahrgenommen wird (vgl. Krell/Pantelmann/Wächter 2006). Die Idee der Anti-Diskriminierung qua Ökonomisierung (vgl. Bern-Galim/Campel/Lewis 2007) hat im Rahmen der Frauen- und Geschlechterforschung zu Polarisierungen und zu durchaus diversen kritischen Einschätzungen dieses Konzeptes geführt. So wurde gefragt, ob MD zum „Ausverkauf der Geschlechterpolitik und des Gender Mainstreaming“ führe (vgl. Stiegler 2005) oder ob es im Wesentlichen der Professionalisierung von BeraterInnen, Gender- und DiversityTrainerInnen, EvaluatorInnen etc. diene, ohne eine markante Strukturveränderung der Gesellschaft zu bewirken. Managing Diversity wirke lediglich als rhetorische Strategie (vgl. Wetterer 2002), lasse die gesellschaftlichen Machtstrukturen unverändert und vernachlässige darüber hin-
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aus die Gefährdung durch Globalisierungsprozesse (vgl. Calás/Smircich 1993). Diese feministisch fokussierte Gender-Diversity-Forschung bezieht sich auf die Analyse der Bedingungen von Diskriminierung und Dominanz. Zwei kritische Positionierungen lassen sich hier unterscheiden: ein hegemonialkritischer Diskurs (Critical Management Studies/CMS) in oppositioneller Distanz zu Managementtheorien (vgl. Calás/Smircich 2002, 2003). Kritisiert wird oft die instrumentelle und anwendungsorientierte Gestaltungsperspektive eines MD, wodurch die Kritik selber ebenfalls eher auf der Ebene der sogenannten „großen Erzählungen“ von Gerechtigkeit und Dominanz bleibt (vgl. Jones/Stablein 2006). Wird MD mehr als postmoderne Ideologie bemängelt, dann fokussiert die Kritik, dass das Konzept zu sehr den normativen Erwartungen (vgl. Aretz 2006) des Modells des individualisierten Arbeitskraftunternehmers (vgl. Voß/Pongartz 1998) entspreche. Diese Kritik wiederum reduziert MD auf die primär ökonomische Verwertung von Unterschiedlichkeit im sogenannten Business Case. Eine weiter gefasste Perspektive dagegen sieht MD eher als trojanisches Pferd zur strategischen Einführung von Geschlechterpolitiken in die traditionell-kapitalistische Ökonomie (vgl. Billing/ Sundin 2006). Dieser Ansatz weist darauf hin, dass die Initiierung wirksamer Veränderungen an offene wie verdeckte Logiken und iterative Anschluss- und Veränderungsfähigkeiten von Systemen zur kreativen Herausbildung neuer gleichstellungspolitischer Paradigmen gebunden ist (vgl. Fletcher 2003). Dementsprechend positionieren sich poststrukturalistische Perspektiven der „workplace diversity“ in der Analyse und Veränderung von Macht und Widerstand. Dabei beziehen sich feministische Ansätze auf organisationale Veränderungsprozesse und auf die Möglichkeit, im Zusammenhang der Praxis von Changeprozessen auch den Diskurs über Geschlecht zu verändern (vgl. Ely/Meyerson 2000, Rapoport u.a. 2002, Nentwich 2006, Bendl/Hanappi-Egger/Hofmann 2004). Die Anforderung, die diversen Logiken von Theorie und Praxis, Forschung und Anwendung zu unterscheiden und diese Differenz(ierung) zu beobachten, wird insbesondere in der Entwicklung neuer Professionsfelder (vgl. Wetterer 2007) sowie für die Begründung wissenschafts- wie professionspolitischer Interessen (vgl. Meuser 2005) diskutiert. InitiatorInnen der Veränderungsarbeit werden in diesem Zusammenhang als Change Agents beschrieben, die mit der Befähigung als sogenannte „Tempered Radicals“ (Meyerson/Scully 1995) als systemkompetente InnenakteurInnen in organisationalen Diversity-Prozessen wirken können. Ziel ist hier die beharrliche, stufenweise Veränderung tiefenstruktureller Diskriminierung (vgl. Meyerson/Fletcher 2000). Diese Diskurse beziehen sich auf eine Beratungs- und Evaluationspraxis von Gender-Change-Prozessen und arbeiten als ebensolche „trojanische Pferde“, indem dekonstruierende Praxen in organisationale und personalwirtschaftliche Diskurse eingeführt werden (vgl. Jones/Stablein 2006: 145). Demgegenüber disqualifizieren sie feministische Critical Management Studies (u.a. von Calás/Smircich) als „armchair feminism“, die sich in ihrer Grundstruktur auf kapitalismuskritische Perspektiven der Gleichursprünglichkeit von kapitalistischer Entfremdung und Frauenunterdrückung beziehen und den pragmatischen Versuchen einer Veränderungspraxis wenig Bedeutung beimessen. Managing Gender & Diversity (MGD) setzt weniger auf die Herstellung von Chancengleichheit als Prinzip, sondern entfaltet eher das Paradox der Gleichheit (vgl. Lenz 1992) auf theoretischer Ebene wie auf der Ebene der Anwendung. MGD bearbeitet in Organisationen die gesellschaftlich inhärenten Widersprüche von formaler Gleichberechtigung und faktischem, weil funktionalem Erfordernis der Diskriminierung (vgl. Koall 2001). Die Bewältigung sozialer Differenzen steht unmittelbar im Zusammenhang mit Aspekten der Leistungsfähigkeit und der Verwertung unterschiedlicher humaner Ressourcen. Das Konzept geht damit durchaus eine Liaison mit dem kapitalistischen System ein. Es intendiert und forciert die Veränderung der Dominanzkultur, indem „normale“ organisationale Kulturen und Strukturen bezüglich Zeit, Raum, Arbeitsprozesse (neu) verhandelt und gestaltet werden (vgl. Cox 2001). Insbesondere werden Vergleichsstandards in Arbeitsorganisation und Leistungsbeurteilung von tempered radicals schrittweise verändert und setzten sich dabei durchaus dem Vorwurf der Kollaboration aus. Theoretisch nutzt MGD die Entwicklung einer konstruktiv-kritischen Perspektive der Diversity-
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Forschung: Widersprüche, die sich u.a. aus neoliberalen Orientierungen und dem Anspruch auf Dekonstruktion binärer Geschlechtskategorierungen ergeben, werden für die konstruktive Weiterentwicklung der Diversity-Thematik erschlossen (vgl. Bendl 2007, Bendl/Hanappi-Egger/ Hofmann 2004). Dabei ermöglicht der Blick auf Paradoxien in den Diversity-Diskursen eine Form der kritischen Selbstbeobachtung in theoretischer wie anwendungsbezogener DiversityArbeit (vgl. Lewis 2000, Lewis/Dehler 2000, Zanoni/Janssens 2004, Koall/Bruchhagen 2007).
Kritische Umsetzungsperspektiven des Managing Diversity Die Auswirkungen von Verschiedenheit auf Organisationen und Teams werden seit den 1990er Jahren untersucht. Markant ist, dass es bisher wenig empirisch haltbare Belege über die interdependente Wirkung demografischer Merkmale wie Geschlecht, Alter, Ethnie auf die Qualität der Zusammenarbeit oder Effizienz von Arbeitsgruppen gibt. Ausschlaggebend für den wirtschaftlichen Erfolg ist aber, ob und wie Diversity wahrgenommen, moderiert und gemanagt wird (vgl. Williams/O’Reilly 1998). Die Art, wie Kommunikation gestaltet wird und wie Gruppenprozesse in diversen Teams moderiert werden, ist dabei entscheidend (vgl. Podsiadlowski 2002). Die Segregation in Organisationen ist Resultat von Dominanzverhältnissen und produziert soziale Unterschiede in Hierarchisierungsprozessen (vgl. Allmendinger/Podsiadlowski 2001). Hierarchien und Machtverhältnisse werden im Managing Diversity mit personalpolitischen Chancengleichheitskonzepten verbunden. Im Rahmen kritischer mikropolitischer Positionen können in Organisationen nicht nur ökonomische, sondern auch genderkonstituierende Prozesse beschrieben werden (vgl. Krell 2008, Ortlieb/Rohkitte 2004, Ortlieb/Sieben 2008). Die versteckten Kosten einer nicht gemanagten (Gender-)Diversity können sogar mittels traditioneller betriebswirtschaftlicher Methoden analysiert und als Kosten-Nutzen-Differenz in Abhängigkeit vom Entwicklungsgrad des Diversity-Konzeptes verdeutlicht werden (vgl. Domsch/Ladwig 2003, Domsch 2006). Bleiben betriebswirtschaftliche Analysen auf die instrumentelle Nutzung von Diversity beschränkt, wird all das, was nicht zu einer funktionalen Einordnung von Heterogenität in das herrschende System führt, ausgegrenzt bzw. latent gehalten. Organisationaler Wandel ist aber durchaus angewiesen auf bisher nicht genutzte Potenziale und Ressourcen und benötigt die Erweiterung von Wahrnehmung und Handlung als emergente Phänomene in Systemen (vgl. Knoth 2006). Organisationen werden hier verstanden als kulturelle Systeme. Organisationskulturen können z.B. in Bezug auf Geschlechterasymmetrien (vgl. Müller 1998, Hansen/Müller 2003) beschrieben werden, die ein „dominantes homogenes Ideal“ (Sepehri 2002: 61) betonen und die Möglichkeiten der Nutzung von Vielfalt in traditionellen Kulturen eher einschränken, statt sie zu entwickeln (vgl. Sackmann 2000, Sackmann/Bissels/Bissels 2002). Diese Diversity-Perspektive fordert dazu auf, die eigenen erkenntnistheoretischen und (geschlechter-)politischen Wurzeln und Kontexte zu rekonstruieren, zu reflektieren und in den Diversity-Prozess einzuführen. Diversity Studies orientieren sich an den Möglichkeiten der transdisziplinären Gegenstandskonstitution, sicherlich auch in Anlehnung an die eher problem- als disziplinär orientierte US-amerikanische Forschungstradition. Insofern sind die gelegentlich beklagte Uneinheitlichkeit der Theorielage und der vermeintliche Eklektizismus eher Hinweis auf die Irritation, die mit dem Verlust „großer Erzählungen“ (Lyotard) entstanden ist. Der Verzicht auf Einheit stiftende Theorien in der Diversity-Kommunikation verweigert die Reduktion der Vielfalt auf der Ebene des Gegenstandes wie des Diskurses. Die Orientierung auf ein für das Management handhabbares, universell nutzbares, instrumentell bearbeitbares Maß der Diversity (vgl. Jones/Stablein 2006) in Organisationen und für die MitarbeiterInnenschaft eröffnet das Terrain für die vielen Erzählungen vieler Erzählender – eben in Theorie und Praxis. Die mögliche Gestaltungskraft des Diversity-Ansatzes liegt in den subtilen Momenten der Komplexitätserhöhung, vor allem aber in der Reflexion und Bearbeitung der an sie gebundenen Ir-
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ritationen und Anstrengungen. Sozial und politisch erhält der Ansatz dann eine Chance, wenn er sich den Ambivalenzen und Paradoxien von organisationalem Wandel aussetzt. Die Eigenlogik der Kapitalverwertung in der Nutzung von Humanressourcen ist auf die eigensinnigen Mitwirkungsprozesse aller Beteiligten im MD angewiesen. Das heißt auch: Diversity kann nicht verordnet werden, sondern kann bestenfalls auf emanzipatorische Mitwirkung hoffen. Es besteht die Gefahr, dass Managing Diversity vom bagatellisierenden, sachzwangorientierten Mainstream überrollt wird. Aber auch dies kann ambivalent beobachtet, interpretiert und kommentiert werden. Verweise: Gender Mainstreaming Gleichstellungspolitiken Intersektionalität Organisation
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Managing Diversity
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Stichwortverzeichnis
Abtreibung 47, 556, 603 Adoleszenz 419, 422, 429, 438 Adult-Worker-Modell 525 Affidamento 94ff. Akteure 20, 71 Akteurinnen 440, 547, 843, 868, 878, 884, 905 Alleinerziehende 397, 462, 464, 476 Alleinwohnende 461, 463 Allergien 645 Alter(n) 454ff. Ambivalenz 213, 224 Androgynie 48, 103ff., 171 Androzentrismus 170, 293, 315, 405, 659, 713, 751 Anerkennung 67, 196, 349, 482, 557, 708, 891 Angsträume 810 Antisemitismus 91, 284, 912 Arbeit 66, 72, 75, 235, 308, 480ff., 491, 499, 574, 869 Arbeit und Leben 234 Arbeit, soziale 345, 891 Arbeitseinkommen 593 Arbeitskraft 18, 59 Arbeitslosigkeit 205, 438, 495, 508 Arbeitsmarkt 205, 223, 355, 489, 523, 633, 645, 732, 803 Arbeitsmarktforschung 592 Arbeitsmarktpolitik 223 Arbeitsmarktsegregation 522 Arbeitsteilung 32, 59, 62, 70, 77, 118, 128, 131, 141f., 194, 296, 446, 455, 471, 481, 499, 514, 521, 527, 592, 656, 732, 854 Arbeitsvermögen 63 Arbeitsvermögen, weibliches 499 Architektur 807, 812 Armut 56, 64, 308, 335, 455, 471ff., 522, 597 Armutsbekämpfung 595 Armutsquote 495 Armutsrisiko 443, 471ff. Ästhetik 302, 305, 747, 761, 763 Ästhetik, weibliche 767 Asyl 280, 912f.
Autonomie 307, 356, 628, 664, 869 Autor 762 Autorin 767 Autorität 34, 95 Autorposition 769 Autorschaft 767, 769 Avantgarde 745, 761, 763
Begehren 616 Behinderte 287 Behinderung 471, 560, 625, 654ff. Belästigung, sexuelle 669 Beobachtung, teilnehmende 380ff. Beruf 61f., 66f., 143, 224, 235, 437, 439, 489, 499ff. Berufsbild 832 Berufsfeld 492, 792 Berufsforschung 500, 502, 504 Berufskultur 800, 802 Betroffenheit 340ff., 879, 889 Bevölkerung 540, 621 Bevölkerungspolitik 287, 603, 919 Bilder 781 Bildung 121, 333, 561, 692ff., 705 Bildungseliten 565 Bildungsforschung 315 Biografie 219, 228, 234, 861 Biografieforschung 362ff., 843 Biologie 56, 128, 130, 168, 304, 601, 607, 660, 851ff. BürgerInnen 520
Care Work 235, 522ff. Chancengleichheit 47, 516, 564, 803, 929 Chemie 860ff. Chemikalien 648, 863 Citizenship 869 Computer 829, 831 Cross Dressing 105, 782 Cultural Studies 740, 747, 782, 784
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Curricula 790, 831, 856 Cyberfeminismus 40, 835 Cyborg 40, 301, 835
Datenerhebung 395, 397 Dateninterpretation 397 Datenreport 394 De-Gendering 518 Dekonstruktion 42, 46, 49, 94, 146ff., 277, 343, 656, 762, 943 Demokratie 50, 224, 308, 520, 538ff., 547, 564 Demokratiekritik 538ff. Didaktik 821f., 832 Differenz 45, 94ff., 106, 159, 246, 287, 307, 609, 659, 879, 883, 891 Diskriminierung 17, 109, 159, 161, 302, 307, 312, 471, 556, 559, 597, 687, 695, 701, 756, 924, 939 Diskurs 46, 117, 146, 162, 386ff., 752f., 770 Diskursgenealogie 146ff. Diskursanalyse 386ff. Diversity 526, 664, 799, 802, 929, 939ff. Diversity Management 635, 803, 935 Diversity Studies 943 Doing Ethnicity 573, 578 Doing Gender 127, 137ff., 148, 172f., 258, 502, 504, 517, 573, 578, 688, 740, 815, 823, 832 Dominanz 17, 20, 171, 295, 428, 714 Dominanzkultur 40, 391, 431, 567, 940f. Doppelbelastung 67, 706
écriture féminine (weibliches Schreiben) 45, 305 Ehe 24, 464, 668 Ehegattensplitting 492, 556 Ehescheidungen 463 Ehrenamt 480ff. Elite, feministische 567 Eliten 314, 564ff. Elitepluralismus 564 Elternzeit 236, 500 Emanzipation 692, 761, 869 Empathie 84, 322, 702 Empirismus 295 Empowerment 913 Engendering 534 Entlohnung 481, 591 Entwicklung 597 Entwicklung, demografische 496 Entwicklungsländer 312, 588, 594 Entwicklungsökonomie 592 Entwicklungspolitik 318, 933 Environmental Health 644 Epistemologie 270, 292ff., 304f., 315, 383
Stichwortverzeichnis
Epistemologie, feministische 305 Erfahrung 583, 701, 733 Erinnerungsarbeit 54, 359ff. Erkenntnis 292, 345 Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie 302 Ernährerehe 491 Erotik 870 Erwachsenenbildung 692, 694 Erwerbsarbeit 67, 219, 230, 236, 480, 489ff., 499, 523, 656 Erwerbsbeteiligung 592 Erwerbspolitik 222 Erziehung 121, 169, 465, 727 Ethik 302, 305 Ethik, feministische 306 Ethnizität 162, 573, 578 Ethnologie 30, 381, 784 Europäischen Union 524, 543, 677, 680, 802, 914, 935 Evaluation 344ff., 685 Evolution 853 Evolutionsbiologie 853 Evolutionstheorie 853 ExpertInneninterview 376ff. Exzellenz 564 Exzellenzinitiative 897
Fachkultur 801, 831 Fachkulturforschung 789 Familie 59f., 66f., 112, 131, 220, 224, 235, 263, 308, 354, 398, 437, 439, 442ff., 668, 726 Familienarbeit 67, 491 Familienernährer 522 Familienfreundlichkeit 236f. Familienplanung 442 Familienpolitik 447 Familienrecht 61, 556 Familienrolle 119, 187 Faschismus 88, 90 Fashion 604 Feld, soziales 257ff. Feldforschung 380ff. Feminismus 37ff., 90, 275, 277, 283, 294, 323, 406, 439, 541, 899 Feminimus, französischer 45ff. Feminisierung 503, 781 Feminismus, poststrukturalistischer 45 Feminismus, sozialistischer 52ff. Feudalzeitalter 59 Film 744ff. Filmgeschichte 746 Filmtheorie 748 Filmwissenschaft 744ff. Finanzmärkte 582 Folter 917
Stichwortverzeichnis
Forschungsmethodologie 400ff. Fortpflanzung 916 Frauen- und Geschlechterforschung 49, 113, 126, 146, 169, 257, 262, 366, 385, 401, 404, 418, 436, 443, 454, 499, 507, 513, 538, 558, 686, 713, 731, 821, 895ff. Frauen- und Menschenrechte 871, 916ff. Frauen, junge 214f., 430, 436ff., 695 Frauenarbeitsschutz 557 Frauenbeauftragte 880 Frauenberichte 393, 395 Frauenberuf 61, 485, 499ff., 775 Frauenbewegung 37, 40, 52f., 249, 463, 481, 522, 601f., 616, 628, 669, 693, 705, 721, 730, 750, 776, 782, 867ff., 899, 904, 911, 939 Frauenbewegung, alte 538, 887 Frauenbewegung, autonome 887, 905, 926 Frauenbewegung, neue 95, 246, 540, 738, 867, 887, 905 Frauenbild 591, 663, 715, 721, 739 Frauenbildung 38, 693 Frauenerwerbstätigkeit 490 Frauenfilme 744 Frauenförderung 895, 927, 934 Frauenforschung 38, 63, 194, 204, 229, 331ff., 340, 345, 364, 473, 501, 654, 660, 695, 768 Frauengeschichte 730ff. Frauengesundheitsbericht 646 Frauengesundheitsbewegung 313, 602, 604 Frauengruppen 535 Frauenhandel 308 Frauenhäuser 669, 888, 890 Frauenkörper 47, 130, 601ff., 782 Frauenleitbild 61 Frauenliteratur 767 Frauenlohn 61 Frauennetzwerke 357, 872, 878ff., 879 Frauenöffentlichkeit, feministische 888 Frauenöffentlichkeiten 245, 867, 890 Frauenordination 719, 722 Frauenorganisationen 584 Frauenpartei 551 Frauenpolitik 56, 357, 918, 934 Frauenprojekte 346, 663, 874, 887ff., 936 Frauensprache 756ff. Frauenstudium 822 Frauenuniversität 568, 790, 901 Frauenunterdrückung 18, 21, 52, 55 Frauenwahlrecht 550 Frauenzeitschriften 245, 739, 767 Frauenzentren 888, 910 Freiheit 95, 97, 868 French Feminism 45ff., 304 Freundschaft 249, 355, 358 Frieden 532ff., 871 Führung 492, 861
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Führungsposition 96, 187 Fürsorge 82f.,85, 230, 887 Fürsorglichkeit 306, 322
Ganzheitlichkeit 665, 889 Geburt 95, 604, 715 Geburtenplanung 918 Geburtenraten 222 Gedächtnis 770 Gedächtnistheorien 747 Gegeneliten 566 Gegenkultur 420 Gegenöffentlichkeit 248, 739 Geld 59ff., 77 Gen- und Reproduktionstechnologie 56, 611, 621, 625ff. Gender Budgeting 587, 809, 933 Gender Crossing 105 Gender Impact Assessment 647 Gender Mainstreaming 97, 307, 423, 474f., 525, 560, 636, 647, 656, 705, 815, 928, 933ff. Gender Studies 119, 249, 895 Gender Bias 477, 708 Gendering 254, 518, 627 Gender-Kompetenz 637 Gender-Wage-Gap 494 Genealogie 94ff. Generation 428, 677, 679, 695, 876 Generativität 160, 508 Genetik 607, 610 Genus-Gruppe 65, 67, 69, 72, 522 Gerechtigkeit 85, 196, 303 Gerontologie 454ff. Geschichte 23, 48, 52, 130, 360, 693, 730ff., 764, 776, 822 Geschlechterarrangements 306 Geschlechterasymmetrie 508, 515, 629 Geschlechterdemokratie 97, 560, 875 Geschlechterdifferenz 30, 91, 94, 254, 368 Geschlechterforschung 108, 141, 391, 412, 783, 851 Geschlechtergerechtigkeit 222, 235, 302ff., 307, 705 Geschlechtergeschichte 222, 730ff. Geschlechterhierarchie 64 Geschlechterideologien 852 Geschlechterkonstruktion 126ff., 129, 825 Geschlechterleitbilder 524 Geschlechterordnung 212f., 221, 521, 852 Geschlechterpolitik 215, 221, 521, 942 Geschlechterregime 522 Geschlechterrolle 65, 72, 178ff., 204, 304, 457f., 560, 760 Geschlechterstereotype 105, 178ff., 532, 699, 706, 781, 853f. Geschlechtersymmetrie 307
950
Geschlechtscharaktere 131, 212, 304, 686, 731 Geschlechtsidentität 83, 153, 180, 430, 661f., 754 Geschlechtskörper 602 Geschlechtsrollenspielraum 475 Geschlechtsspezifik 90, 730 Gesellschaft 65, 70, 77, 253 Gesellschaft, geschlechtssymmetrische 18, 30ff. Gesetz 557 Gesundheit 606, 631ff., 644ff., 663, 682 Gesundheitsbericht 633, 637 Gesundheitsförderung 633, 636, 647, 649 Gesundheitsforschung 636 Gesundheitsstörungen 635 Gesundheitsversorgung 634 Gesundheitswesen 682 Gewalt 88, 91, 112, 308, 414, 473, 532, 558, 668ff., 677, 810, 871, 917 Gewalt, sexuelle 672 Gewaltforschung 670, 677ff. Gewaltopfer 671 Gewaltschutzgesetz 669 Gleichberechtigung 224, 556, 722, 924 Gleichheit 18, 31, 94, 212, 224, 246, 307, 868, 869 Gleichstellung 307, 439, 911 Gleichstellungs- und Frauenbeauftragte 890, 926, 928, 930 Gleichstellungspolitik 38, 96, 544, 552, 924ff., 934 Gleichstellungsstellen 927 Global Governance 541, 545, 588 Globalisierung 56, 120, 309, 520, 544, 574, 582ff., 708, 783, 811, 874 Globalisierungsprozesse 942 Grounded Theory 369 Grundgesetz 556, 925
Habitus 118, 174, 257ff., 801, 862 Hausarbeit 54, 66, 72, 75, 308, 480ff., 593 Hausfrau 76, 444, 806 Hausfrauisierung 76 Haushalt 397, 461, 647 Haushaltsökonomie 592 Hauswirtschaft 18 Herrschaft 17, 30, 73, 95, 118, 260f., 555 Herrschaftskritik 323, 540 Heteronormativität 41, 160, 277, 813 Heterosexismus 41, 109, 276 Heterosexualität 48, 110, 112, 304, 616 Hochschule 263, 565, 705ff., 845, 895f., 927 Hochschulforschung 789 Hochschulpolitik 900 Hochschulsystem 565 Hollywood-Kino 745 Homophobie 287 Homosexualität 41, 48, 108f., 619, 853 Homosozialität 355, 430
Stichwortverzeichnis
Hormone 631, 853 Human Resource Management 230, 933 Humangenetik 625 Humankapital 587, 596 Humankapitaltheorie 593 Hybride 299
Identität 45, 70, 109, 152, 156, 160, 308, 431, 616, 619, 661, 724 Identitätsentwicklung 801 Ideologiekritik 693 Individualisierung 211, 214, 461 Informatik 788, 829ff. InformatikerInnen 829 Informatikunterricht 830 Informationstechnologien 319, 833 Infrastruktur 807 Ingenieurberuf 802 Ingenieurdisziplinen 787 Ingenieurinnen 789, 791, 799ff. Ingenieurwissenschaften 799 Institution 20, 220ff., 547 Institutionenansatz 220 Intelligibilität 111, 272, 274 Interaktion 138, 170, 186 Interessen 549 Internationaler Währungsfond 595 Internet 741, 834 Intersektionalität 158ff., 288, 526, 941 Intersexualität 620 Interview, narratives 370
Journalismus 739 JournalistInnen 689 Jugend 170, 423 Jugendforschung 411, 420 Jugendliche 118, 141, 415, 429f., 465, 604, 688 Jungen 68, 82ff., 116, 118, 142, 411ff., 672, 698, 700f., 822f. Justiz 555
Kanon 774 Kanonbildung 769 Kanonkritik 770, 775 Kapital 71, 593 Kapitalismus 19, 52f., 60, 70, 77, 162, 204f., 278, 574 Karriere 502, 567, 705, 824, 900 Kind/er 67, 95, 182, 223, 442, 679 Kinderbetreuung 446, 481, 492, 496 Kinderwunsch 223, 443, 626 Kindheit 419, 670 Kino 744
Stichwortverzeichnis
Kirchen 719ff. Klasse 47, 160, 171, 203, 264 Kleidung 780ff. Koedukation 418, 697ff. Koedukationsdebatte 694, 697 Kolonialismus 31, 40, 90, 168, 273 Kommunikation 248, 252, 738ff., 943 Komponistinnen 774, 776 Kompositionen 774 Kompositionsgeschichte 775 Konfliktorientierung 349 Konstrukt 762 Konstruktion 94, 133, 175, 303, 609, 618 Konstruktion von Geschlecht 126ff., 148, 688 Konstruktivismus 127, 146, 304, 576 Körper 33f., 39, 94, 104, 112, 153f., 162, 303, 361, 422, 432, 559, 601ff., 609, 616, 632, 655, 688, 733, 780, 782f., 844, 852 Körperbilder 33 Körperhabitus 780 Körperlichkeit 746 Krankheit 631ff., 663 Krankheitssymptome 645 Krieg 532ff., 732 Kriminalität 585 Kritische Theorie 190ff., 205, 745 Kultur 23, 25, 117, 163, 382, 561, 602, 725, 781 Kulturgeschichte 27, 768 Kunstgeschichte 760ff. Künstlerin 305, 760ff., 767 Künstlerinnenberuf 764 Künstlerrolle 764 Kunsttheorie 761 Kunstwissenschaft 767
Labor 864 Lebenserwartung 631 Lebensformen 461ff. Lebensführung 211, 215f., 234, 236f. Lebensführung, alltägliche 207, 215, 228ff. Lebensführung, doppelte 215 Lebenslage 207, 456, 474 Lebenslauf 207, 215, 219ff., 228, 363, 687 Lebenslaufanalyse 219 Lebenslaufmuster 214 Lebenslaufregime 222 Lebenspartnerschaftsgesetz 449 Lebensplanung 489 Lebensstile 456 Lebensverlauf 490 Lebensverlaufsanalyse 219 Leib 611 Leitbild 437, 444 Lernen 699 Lesben 48, 465, 813, 905
951
Lesbenbewegung 904ff. Lesbenforschung 108ff., 616 Lesbianismus 109 Lexeme 753 Liebe 307f., 438, 870 Linguistik 750ff., 756, 758 Literatur 767ff. Lohn 481 Lohnarbeit 71, 77 Lohndiskriminierung 494
Macht 17, 25, 31, 34, 90f., 95, 112, 263, 296, 388, 555, 618, 715, 883 Machtelite 564 Machtstrukturen 70 Machtverhältnisse 943 Mädchen 68, 82ff., 142, 170, 314, 418ff., 694, 698, 700f., 822f., 864 Mädchenarbeit 418, 424 Mädchenforschung 418ff. Mädchenkulturen 421, 424 Mädchenliteratur 423 Makroökonomie 582, 591ff. Managementtheorien 942 Managing Diversity 939ff. Managing Gender & Diversity 942 Männer 116, 632, 671f., 679 Männer, junge 428ff. Männerberuf 862 Männerbewegung 116, 119 Männerforschung 770, 846 Männergesundheit 122, 631ff. Männergewalt 810 Männersprache 756 Männlichkeit 103, 105, 116, 139, 153, 378, 413, 415, 428ff., 535, 555, 632, 661, 680, 732, 769, 791, 793, 835, 844, 854, 862 Männlichkeit, hegemoniale 116ff., 120, 413, 428f., 515 Männlichkeiten, multiple 116 Männlichkeitsforschung 116ff., 119, 121 Markt 584, 596 Marktökonomie 62 Marktwirtschaft 597 Marxismus 52, 63, 277, 295 Massenmedien 740 Mathematik 820ff., 831 Mathematikerinnen 820, 822 Mathematikstudium 821 Mathematikunterricht 823 Matriarchat 18, 23ff., 30 Matrilinearität 24, 65 Matthäus-Effekt 565 Medien 245, 550, 561, 738ff., 908 Medienforschung 423, 738ff.
952
Mediengeschichte 739 Medienwissenschaft 748 Medikalisierung 602, 634 Medizin 605f., 782 Mehrfachidentitäten 906 Menschenhandel 585 Menschenrechte 48f., 53, 308, 668, 677, 904, 916ff. Menstruation 422, 606, 715 Mentoring 356 Methodologie 341, 400ff. Migrantinnenorganisationen 910ff. Migration 158, 367, 444, 573f., 585, 914 Migrationsforschung 573ff. Mikropolitik 514, 516 Mikrozensus 397 Militär 732 Missbrauch, sexueller 670 Mittäterschaft 38, 54, 88ff. Mobilität 398, 578, 808 Mode 780ff. Moderne 210ff., 269, 286, 724, 761, 770, 874 Modernisierung 68, 210ff., 219, 447, 461, 936 Modernisierung, reflexive 214 Modernisierungsprozess 322, 868 Modernisierungstheorien 210ff. Moral 81ff., 89, 169, 304f. Moral, weibliche 81ff., 305 Multimedia 741 Musik 774ff. Musikerinnen 777 Musikgeschichte 774 Musikwissenschaft 774ff. Mutter/Mütter 68, 95, 443, 490, 681 Mütterlichkeit 90 Mutterliebe 46, 48, 194, 443 Mutterlinie 24, 30 Muttermilch 648 Muttermythos 444 Mutterrolle 83 Mutterschaft 47, 442ff., 603 Müttersterblichkeit 584 Mütterzentren 249, 449, 888 Mythos 761
Nachhaltigkeit 325, 812 Nation 112, 163, 550, 724ff. Nationalismus 121, 534 Nationalsozialismus 26, 88f., 162, 168, 722, 732, 905 Nationalstaat 533, 544, 577, 726 Natur 39, 77, 126, 131, 304, 317, 322ff., 602f., 607, 618, 620, 660, 852f. Natur und Kultur 620, 856 Naturwissenschaft 787, 825, 842, 851, 860
Stichwortverzeichnis
Netzwerkanalysen 351 Netzwerke 254, 352, 569, 577, 707, 801, 831, 835, 867, 873, 904, 910 Netzwerkforschung 351ff., 878 Neurobiologie 854 Norm/en 81, 112, 140, 231, 271, 304, 382, 555, 660, 731 Normalität 139, 142, 655
Öffentlichkeit 66, 69, 72, 244ff., 308, 322, 540, 891, 917 Öffentlichkeiten, feministische 244ff., 890 Ökofeminismus 39 Ökologie 322ff. Ökologiebewegungen 322, 324 Ökonomie 24, 78, 203, 582, 591ff., 781 Ökonomik 489 Opernforschung 777 Opfer 88f., 679, 732 Opfer-TäterInnen-Debatte 871 Opfer-Täter-These 54f. Oral history 359ff. Ordnung der Geschlechter 854 Ordnung, symbolische 32ff., 98, 261 Organisation/en 235, 238, 513ff., 790, 933, 939, 943 Organisationsentwicklungsprozess 934
Paarbeziehung 33, 671 Paradigma 28, 163, 270, 514, 575 Partei 547, 551 Parteiensystem 551 Parteilichkeit 340ff., 889 Partizipation 214, 522, 542, 547ff., 726, 830 Partnerschaft 431, 438, 464, 668 Partnerschaftsrisiken 223 Patriarchat 17ff., 26f., 30, 35, 37, 53, 88, 97, 162, 906 Patrilinearität 65 Peer Group 118, 421, 430 Performanz 775, 777 Performativität 777 Personalpolitik 237, 939 Pflege 455, 480f. Phallozentrismus 304 Philosophie 296, 302, 747 Philosophie, feministische 302ff. Physik 842ff. Politik 20, 25, 307, 439, 520, 533, 547ff., 878 Politikfelder 550 Pornografie 306, 559 Postcolonial Studies 770 Postfeminismus 269ff. Postkolonialismus 274ff., 297
Stichwortverzeichnis
Postmoderne 269ff., 783 Poststrukturalismus 269ff. Postulate der Frauenforschung 38, 341, 346, 406 Präimplantationsdiagnostik 626 Pränataldiagnostik 605, 625 Prävention 636, 649 Praxisforschung 344ff. Primatologie 855f. Privatheit 60, 72, 244ff., 540, 917 Privatsphäre 69 Privatsektor 594 Produktion 18, 32, 77, 84, 514 Produktionsmitteln 34 Produktivität 592 Profession 132, 502, 739, 861 Professionalisierung 523, 543 Professionsforschung 172, 707 Proletariat 60 Prostitution 533, 559, 585 Psychoanalyse 46, 191, 419, 620, 661, 744 Psychologie 128, 659ff. Public Health 631, 638
Qualifikation 62, 500 Queer Studies 617, 770 Queer Theorie 108ff., 110, 875 Quotenregelungen 551 Quotierung 551, 927, 940 Quotierungspolitik 568
Race 158, 855 Rassismus 40, 91, 176, 276, 283ff., 911f. Rationalisierung 514 Raum 247, 561, 806ff. Raum, sozialer 257ff. Raumplanung 807 Recht 18, 548, 555ff., 925 Rechte 96, 869 Rechtsgestaltung 555 Rechtskampf 557 Rechtskritik 555 Rechtspolitik 556, 920 Region 78, 120 Rekonstruktion 127, 377, 387 Religion/en 25, 27, 33, 307, 713ff. Religionsgeschichte 716 Rentenlücke 495 Repräsentation 549 Reproduktion 19, 33f., 84, 514 Reproduktionsarbeit 75, 480, 596, 656, 806 Reproduktionsmedizin 623 Reproduktionstechnologie 56 Repro-Genetik 625f. Rezeption 746, 764, 767f., 775
953
Rezeptionsforschung 740 Roboter/Robotik 832f. Rolle 20, 89, 180, 714f., 720, 738, 853 Rollenbilder 303 Rollenkonflikte 801 Rollenverhalten 181
Sängerinnen 777 Schule 170, 421, 697ff., 845, 863 Schulentwicklung 701 Schulforschung 699 Schutz 475, 534, 557, 682 Schwangerschaft 443, 604 Schwule 110, 119 Schwulenpaare 465 Science 788, 830, 852 Science Studies 845, 860 Scientific Community 706 Segregation 484, 501, 509, 515f., 707 Segregation, horizontale 493, 645, 797 Segregation, vertikale 492, 645, 790 Sekundärpatriarchalismus 18, 59ff. Selbstbestimmung 605, 629, 868, 916 Selbsthilfe 913 Selbsthilfegruppen 482 Sex and Gender 97f., 110f., 117, 126, 137, 154, 195, 303, 558, 608, 695, 697 Sexarbeit 556 Sexforschung 851 Sexismus 180, 184, 287f., 750 Sexualität 33f., 41, 48, 110, 112, 120, 559, 616ff., 733, 870, 906, 916 Sexualitätsdispositiv 617f. Single 462 Software 833 Softwareentwicklung 833f. Solidarität 61, 196, 520, 868, 879 Soma/Somatik 601 Sozialarbeit 122, 295 Sozialberichterstattung 392ff. Sozialforschung 377 Sozialisation 128, 222, 259, 419, 428, 661, 692, 699 Sozialisationstheorien 166ff. Sozialisationsforschung 494 Sozialkapital 587 Sozialpolitik 331, 522, 892 Sozialstaat 20 Soziobiologie 853 Soziologie 201ff., 212 Spiritualität 25 Sport 686ff. Sprache 33, 45f., 82, 98, 141, 149, 272, 274, 750, 756ff., 770, 844, 864 Sprachhandlungen 751 Sprachkritik 751
954
Sprachverhalten 751 Staat 19, 20, 538, 594 StaatbürgerInnenrechte 526 Staatsbürgerschaft 308, 532, 576, 725, 912 Staatssozialismus 507 Stadtplanung 807, 812 Statistik 332, 462 Statistik, amtliche 394, 398 Status 181, 715 Stereotyp 179, 493, 799 Stereotypisierung 179, 823 Strukturen 753 Strukturkategorie 30, 297, 654, 699 Studium 760 Subjekt 151, 174, 195, 271, 296, 609, 752 Subjektposition 769 Subsistenz 24 Subsistenz-Ansatz 75ff. Supervision 891 Systeme 943 Systemtheorie 214, 252ff.
Täter 89, 668ff. Täterarbeit 669 Täterinnen 534, 732 Technik 39, 63, 313, 561, 799, 830 Technikdistanz 789 Technikforschung 312ff., 830 Technikwissenschaften 787ff., 799 Technologie 741, 781 Technoscience 788 Teilnehmende Beobachtung 380ff. Teilzeit 491 Theologie 96 Therapieverfahren 664 Traditionalisierung 442 Transformation 63, 113, 428, 507ff., 750, 921 Transgender 105, 906 Transitionsgesellschaften 524 Transkulturalität 728 Transnationalismus 577 Transnationalität 728 Transsexualität 127, 139, 143, 171, 906 Transzendenz 46
Umfragen 394 Umwelt 39, 168, 324, 644ff., 863 Umweltnoxen 648 Umweltverträglichkeit 648 Umweltzerstörung 324 UN 584, 621 Undoing Gender 172, 688 Ungleichheit 17, 71, 161, 212, 393, 489, 493, 583, 597, 634
Stichwortverzeichnis
Ungleichheit, soziale 158, 201ff., 214, 472, 500f., 513f., 518, 564, 575, 686 Unterdrückung 17, 19, 91, 905
Vater/Väter 68, 432, 444f., 490, 681 Vaterforschung 444 Vaterschaft 24, 432, 442ff. Verein 889 Vereinbarkeit 66, 234, 239, 496, 509, 524 Vereinbarkeitsfrage 223 Vereinbarkeitsproblematik 437, 707 Vergesellschaftung 161, 195 Vergesellschaftung, doppelte 65ff., 161, 215, 239, 366, 436, 500 Vergewaltigung 306, 672 Verhütungsmittel 619 Verkehr 398 Vernetzung 890 Vernunft 304 Verschiedenheit 941 Versorgerehe 430, 508 Versorgungsarbeiten 61, 63 Versorgungsökonomie 62 Verwandtschaft 24 Völkerrecht 917 Volkswirtschaft 597 Vollzeit 491
Wandel, demographischer 236 Wegeketten 398 Weiblichkeit 103, 105, 139, 153, 555, 604, 661, 769, 781f., 844, 854 Weiblichkeitsstereotypen 179, 762, 770 Weltbank 595f. Weltfrauenkonferenz 471, 582, 870, 874, 919, 933 Weltgesundheitsorganisation 644 Weltmarkt 582 Wende 509 Werbung 306, 738, 782 Whiteness 855 Wirtschaft 583 Wirtschaftselite 489, 566 Wirtschaftssystem 20 Wirtschaftswissenschaften 592 Wissenschaft 131, 262, 292f., 312ff., 568, 705ff., 792, 895f., 900 Wissenschaftsbetrieb 335, 705, 707f. Wissenschaftskritik 292ff., 335, 407, 741, 767, 811 Wissenschaftskulturen 789 Wissenschaftssystem 895 Wissenschaftstheorie 292, 313 Wohlfahrtspflege 331f., 887 Wohlfahrtsstaat 215, 492, 520ff.
Stichwortverzeichnis
Wohnformen 461ff. Wohngemeinschaften 467 Wohnung 647 Wohnungslosigkeit 466 Wohnungsmarkt 465 Women in Science 39 Work-Life-Balance 234ff.
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Zeit 67, 230, 447, 481, 502, 561 Zellbiologie 856 Zivilgesellschaft 70, 548 Zölibat 720 Zuschauertheorie 745 Zwangsheterosexualität 19, 41, 109, 304 Zweigeschlechtlichkeit 65, 113, 126ff., 140f., 160, 171, 244, 617, 620f., 688, 731, 740
AutorInnenverzeichnis
Backes, Gertrud M., Dr. phil., geb. 1955. Dipl. Soziologin und Gerontologin, Venia Legendi Soziologie, Professorin für Altern und Gesellschaft und Direktorin des Zentrums Altern und Gesellschaft (ZAG), Interdisziplinäres Forschungszentrum an der Universität Vechta. Forschungsschwerpunkte: Alter(n) und Sozialer Wandel, Vergesellschaftung des Alter(n)s, Geschlecht und Alter(n), Lebenslagen und Soziale Ungleichheit, Soziologie des Körpers und Alter(n), Lebenslauf, insbesondere ab mittlerem Lebensalter. Baer, Susanne, Dr. jur., LL.M. (Michigan), Professorin für Öffentliches Recht und Geschlechterstudien, Juristische Fakultät der Humboldt Universität zu Berlin, Direktorin des GenderKompetenzZentrums. Forschungsschwerpunkte: internationales Verfassungsrecht, Verwaltungsmodernisierung, interdisziplinäre Rechtsforschung, Geschlechterstudien, Antidiskriminierungsrecht. Baier, Andrea, geb. 1961. Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Stiftungsgemeinschaft anstiftung & ertomis im Bereich Forschung und Evaluation. Inhaltliche Schwerpunkte: Subsistenz, Regionalisierung, nachhaltige Lebensstile. Bath, Corinna, Dipl.-Math., geb. 1963. Research Fellow, Institute for Advanced Studies on Science, Technology and Society (IAS-STS) in Graz. Forschungsschwerpunkte: Geschlechterforschung in der Informatik, feministische Technikforschung und Epistemologie, sozioemotionale Softwareagenten und semantische Technologien. Bauer, Robin, geb. 1973. Promoviert am Institut für Soziologie der Universität Hamburg. Forschungsschwerpunkte: Queer Theory, Heteronormativitätskritik, Lebensformen, Transgenderism, BDSM, Gender & Queer Science Studies, queer-feministische Wissenschaftstheorie. Bauhardt, Christine, Dr. phil., geb. 1962. Politikwissenschaftlerin, Professorin und Leiterin des Fachgebiets „Gender und Globalisierung“ an der Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsschwerpunkte: Globale Umweltpolitik, Migration und Raumentwicklung, Theorie und Politik räumlicher Planung. Becker, Ruth, Dr., geb. 1944. (em.) Professorin und Leiterin des ehemaligen Fachgebiets Frauenforschung und Wohnungswesen in der Raumplanung an der Universität Dortmund. Redakteurin der Zeitschrift GENDER. Forschungsschwerpunkte: Theorie und Politik der feministischen Raumplanung, politische, ökonomische und soziale Aspekte des Wohnens, Hochschulentwicklung und Geschlecht. Becker-Schmidt, Regina, Dr., geb. 1937. Bis 2002 Professorin am Psychologischen Institut der Universität Hannover. Forschungsschwerpunkte: psychoanalytisch orientierte Sozialpsychologie, Soziologie und Sozialpsychologie des Geschlechterverhältnisses, Frauenarbeit, Sozialpsychologie der Technik.
AutorInnenverzeichnis
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Beer, Ursula, Dr. phil. habil., geb. 1938. Bis 2000 Professorin an der Universität Dortmund für Sozialwissenschaftliche Frauenforschung mit dem Forschungsschwerpunkt Beruf und Qualifikation. Forschungsschwerpunkte: allgemeine und feministische Gesellschaftstheorie. Bitzan, Maria, Dr., geb. 1955. Professorin an der Hochschule für Sozialwesen Esslingen. Forschungsschwerpunkte: Mädchen(arbeits)forschung, Jugendhilfe und Jugendhilfeplanung, Methodologie Frauenforschung/Praxisforschung, Frauen und Mädchen in der sozialen Arbeit. Blunck, Andrea, Dr., geb. 1963. Professorin für Mathematik und Gender Studies am Department Mathematik der Universität Hamburg. Forschungsschwerpunkte: Frauen in der Mathematik, Mathematik und Geschlecht, Geometrie. Bock, Stephanie, Dr. rer. pol., geb. 1963. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Institut für Urbanistik Berlin. Forschungsschwerpunkte: Stadt- und Regionalentwicklung, Regionale Politiknetzwerke, Gender Mainstreaming. Bock, Ulla, Dr., geb. 1950. Sozialpädagogin und Soziologin, Geschäftsführerin der Zentraleinrichtung zur Förderung von Frauen- und Geschlechterforschung an der Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: Hochschulforschung, Frauen in der Wissenschaft, Förderung von Frauenstudien und Frauen- und Geschlechterforschung, Sozialisationstheorien, Androgynie. Bohne, Sabine, Dipl. päd., geb. 1963. Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts für Erziehungswissenschaft an der Universität Osnabrück, Koordinatorin des EU Projektes “PRO TRAIN: Improving Multi-Professional and Health Care Training in Europe – Building on Good Practice in Violence Prevention” (gefördert im Daphne II Programm der Europäischen Kommission). Forschungsschwerpunkte: Gewalt im Geschlechterverhältnis und Interventionsmöglichkeiten des Gesundheitswesens, Frauengesundheitsförderung. Bruchhagen, Verena, Dipl. päd., Supervisorin (DGSv), geb. 1954. Geschäftsführende Leiterin des Arbeitsbereichs „Wissenschaftliche Weiterbildung: FRAUENSTUDIEN/DiVersion: Managing Gender & Diversity“ an der Technischen Universität Dortmund. Arbeitsschwerpunkte: Feministische Bildung, Methodik und Didaktik wissenschaftlicher Weiterbildung, Konstruktivistische Konzepte von Bildung und Lernen. Bührmann, Andrea D. Dr. phil., Jg. 1961. Seit 2009 außerplanmäßige Professorin an der Universität Münster. Forschungsschwerpunkte: Gesellschafts- und Wissenschaftstheorien, Geschlechterforschung, empirische Sozialforschung, Soziologie sozialer Probleme. Connell, Raewyn, Dr., geb. 1944. Professorin für Erziehungswissenschaften an der Universität von Sydney, Australien. Forschungsschwerpunkte: Forschung zu Klasse, Geschlecht und Bildung, Genderforschung, Geschlechtergerechtigkeit in staatlichen Institutionen, Männlichkeiten in transnationalen Wirtschaftsbeziehungen, Arbeit von Intellektuellen unter Globalisierungsbedingungen, Soziologie des Neoliberalismus, sozialwissenschaftliche Theorie aus einer globalen Perspektive. Cordes, Mechthild, Dr. rer. pol., Freiberufliche Sozialwissenschaftlerin in Trier. Forschungsschwerpunkte: Genderforschung, Gleichstellungspolitik und Gewalt gegen Frauen. Cyba, Eva, Dr., Univ. Dozentin für Soziologie an der Universität Wien und Lektorin an der Wirtschaftsuniversität Wien. Forschungsschwerpunkte: Soziologische Theorien und empirische Erforschung sozialer Ungleichheit; feministische Theorien, Frauenforschung; (inbes. Frauen in der Arbeitswelt) und Geschlechterverhältnis.
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AutorInnenverzeichnis
Dackweiler, Regina-Maria, Dr. phil. habil., geb. 1959. Professorin für Politikwissenschaft mit dem Lehrgebiet gesellschaftliche und politische Bedingungen Sozialer Arbeit an der FH Wiesbaden, Fachbereich Sozialwesen. Forschungsschwerpunkte: Frauenbewegungen, Geschlechterpolitik im Wohlfahrtsstaat, Gewalt im Geschlechterverhältnis, feministische Methodologie- und Methodendiskussion. Dahlke, Birgit, PD Dr. phil., geb. 1960. Literaturwissenschaftlerin am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: DDR-Literatur, Zusammenhang von Kanon und Geschlecht, Jugend, Männlichkeiten, deutsch-jüdische Literatur. Dausien, Bettina, Dr. phil. habil, geb. 1957. Dipl.-Psychologin, Sozial- und Erziehungswissenschaftlerin, Professorin für Pädagogik der Lebensalter, Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Bildung und Lernen im Lebenslauf; qualitative Bildungsforschung; Geschlechterforschung (bes. Sozialisation, Bildung und Biografie); Theorien und Methoden der Biografieforschung; Methodologien interpretativer Forschung; reflexive Professionalisierung pädagogischen Handelns; Biografie und politische Bildung. Diezinger, Angelika, Dr. phil., geb. 1951. Dipl.-Soziologin, Professorin für Soziologie an der Hochschule Esslingen, Fakultät Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege. Forschungsschwerpunkte: Geschlechterverhältnis und soziale Ungleichheit, Lebensführung, Soziologie der Kindheit. Doderer, Yvonne P., Dr. rer. pol., geb. 1959. Freie Architektin, Stadtforscherin, Kunst- und Kulturproduzentin. Professorin für GenderMediaDesign an der FH Düsseldorf, Leiterin des Büro für transdisziplinäre Forschung und Kulturproduktion in Stuttgart. Forschungsschwerpunkte: Geschlechterforschung in Verbindung mit Raum- und Stadtforschung sowie Gegenwartskunst. Dressel, Kathrin, Dipl.-Soz., geb. 1977. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit (IAB). Forschungsschwerpunkte: Soziologie des Arbeitsmarktes, Bildungssoziologie, Soziale Ungleichheit. Drüeke, Ricarda, M.A., geb. 1976. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Kommunikationswissenschaft der Universität Salzburg. Forschungsschwerpunkte: Öffentlichkeit und Neue Medien, feministische politische Theorie. Duden, Barbara, Dr., geb. 1942. Historikerin, Professorin am Institut für Soziologie der Universität Hannover. Forschungsschwerpunkte: Geschichte des erlebten Körpers, Genetik in der Alltagswahrnehmung, Geschichte der Soziologie, Blickgeschichte, Techniksoziologie. Eckes, Thomas, PD Dr. phil., geb. 1953. Dipl.-Psychologe, Stellv. Leiter des TestDaF-Instituts, An-Institut an der FernUniversität Hagen und der Ruhr-Universität Bochum. Forschungsschwerpunkte: Geschlechterstereotype, sexistische Vorurteile im Kulturvergleich, Begriffsbildung und Kategorisierung, Sprachtestforschung, Testkonstruktion und Testanalyse, Leistungsmessung, Evaluationsforschung. Engler, Steffani, Dr. phil., 1960-2005. Bis 2005 Professorin am Lehrstuhl für Theorien der Sozialisation und Erziehung in der Fakultät für Pädagogik an der Universität der Bundeswehr München. Forschungsschwerpunkte: Theorien der Sozialisation, Hochschul- und Wissenschaftsforschung, Bildungsforschung, Geschlechterforschung und Soziologische Theorie, insbesondere Arbeiten zu Pierre Bourdieu.
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Fischer, Ute Luise, Dr. rer. pol., PD, geb. 1965. Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Technischen Universität Dortmund, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät, Arbeitssoziologie. Forschungsschwerpunkte: Frauenarbeit, arbeits- und geschlechtsbezogene Deutungsmuster, Regional- und Transformationsforschung, Bewährungsdynamik, objektive Hermeneutik. Fuchs, Gesine, Dr. Dipl.-Politologin. Zur Zeit Gastforscherin am NCCR Democracy (National Center of Competence in Research) an der Universität Zürich und erforscht dort die Rechtsmobilisierung sozialer Bewegungen in Europa. Forschungs- und Lehrschwerpunkte: Politische Partizipation, Osteuropa und Gleichstellungspolitik. Galster, Ingrid, Dr. phil. habil, geb. 1944. (em.) Professorin für Romanische Literaturwissenschaft an der Universität Paderborn. Forschungsschwerpunkte: Sartre, Beauvoir, die Intellektuellendebatte in Frankreich und Hispanoamerika, empirische Rezeptionsforschung, Frauen- und Geschlechterforschung, Erinnerungskultur, Geschichtsfiktion. Gause, Ute, Dr. theol., geb. 1962. Professorin für Kirchengeschichte (Reformation, Neuere Kirchengeschichte) an der Ruhr Universität Bochum. Forschungsschwerpunkte: Historischtheologische Genderforschung (16.-20. Jahrhundert), Frömmigkeits- und Diakoniegeschichte. Geissler, Birgit, Dr. rer. pol., geb. 1949. Professorin für Arbeitssoziologie und Sozialwissenschaften an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld. Forschungsschwerpunkte: Erwerbsbiografien, neue Erwerbsformen und Dienstleistungsarbeit im wohlfahrtsstaatlichen Kontext, Modernisierung der Lebensführung und Lebensplanung von Frauen. Gildemeister, Regine, Dr. phil., geb. 1949. Professorin am Institut für Soziologie der Universität Tübingen. Forschungsschwerpunkte: Prozesse und Modi der sozialen Konstruktion von Geschlecht, Beruf und Geschlecht: Professionalisierungsprozesse insbes. von Sozial-, Gesundheitsund Rechtsberufen, interpretative Methoden der Sozialforschung. Götschel, Helene, Dr. phil., geb. 1963. Diplom-Physikerin, promovierte Sozial- und Wirtschaftshistorikerin. Wissenschaftlerin (Forskare) am Centre for Gender Research der Universität Uppsala/Schweden. Forschungsschwerpunkte: Geschlechterforschung zur Physik im 17. und 18. Jhdt., Geschlechterforschung zu Manufakturen in Zucht- und Arbeitshäusern im 18. Jhdt. in Europa. Göttner-Abendroth, Heide, Dr. phil., geb. 1941. Philosophin, Kultur- und Geschlechterforscherin. Leiterin der autonomen Bildungsstätte „HAGIA. Internationale Akademie für moderne Matriarchatsforschung und matriarchale Spiritualität“. Forschungsschwerpunkte: Matriarchatsforschung allgemein, ethnologisch, kulturgeschichtlich und Patriarchatsanalyse und -kritik. Gottschall, Karin, Dr. phil., geb. 1955. Professorin für Soziologie, Leiterin der Abteilung Geschlechterpolitik im Wohlfahrtsstaat am Zentrum für Sozialpolitik, Stellvertretende Direktorin der Bremen International Graduate School of Social Sciences, Universität Bremen. Forschungsschwerpunkte: Erwerbsarbeit und Lebensformen, sozialer Wandel und sozialpolitische Regulation, Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik; der Staat als Arbeitgeber. Grotjahn, Rebecca, Dr. Professorin für Musikwissenschaft mit Schwerpunkt Genderforschung – Musik von Frauen am Musikwissenschaftlichen Seminar der Universität Paderborn und der Hochschule für Musik Detmold. Forschungsschwerpunkte: Sängerinnen- und Gesangsgeschichte, Opernforschung, musikalische Sozial- und Institutionengeschichte, Geschichte der Musikausbildung, Musik der ‚Höheren Tochter’, Sinfonik des 19. Jahrhunderts, Populäre Musik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Musik der NS-Zeit, Olivier Messiaen.
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Gutiérrez Rodríguez, Encarnación, Dr. phil., geb. 1964. Senior Lecturer in Transcultural Studies an der University of Manchester und Ko-Direktorin des kulturwissenschaftlichen Netzwerkes in Migration und Diaspora Studien. Schwerpunkte: Kultur- und Sozialtheorien (Poststrukturalismus, Postkoloniale Kritik, Queer-feministische Theorie, Postmarxismus), Qualitative Methoden, Arbeit und transnational Migration, Intersektionalität, Kultur und Diaspora. Hagemann-White, Carol, B.A., Dr. phil. habil., geb. 1942. Professorin für Allgemeine Pädagogik/Frauenforschung an der Universität Osnabrück. Forschungsschwerpunkte: Gewalt im Geschlechterverhältnis, geschlechtsspezifische Sozialisation, Frauengesundheitsförderung, Gleichberechtigungspolitik. Tätig als Expertin für den Europarat und für andere europäische Organisationen. Harders, Cilja, Dr. phil., geb. 1968. Professorin für Politikwissenschaft, Leiterin der Arbeitsstelle „Politik des Vorderen Orients“, Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft, Freie Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: Politik und Gesellschaft des Nahen Ostens: Transformation von Staatlichkeit, Geschlechterverhältnisse, regionale und internationale Beziehungen des Vorderen Orients; Politikwissenschaftliche Geschlechterforschung: Geschlecht und Gewalt, Friedens- und Konfliktforschung, Partizipation von Frauen. Harding, Sandra, Dr., Professorin für Pädagogik an der University of California, Los Angeles. Mitherausgeberin der Zeitschrift „Signs: Journal of Women in Culture and Society“. Forschungsschwerpunkte: Wissenschaftskritik, Feminismus, Postkolonialismus und Epistemologie. Hark, Sabine, PD Dr. phil., geb. 1962. Dipl. Soziologin; Professorin für Interdisziplinäre Frauenund Geschlechterforschung an der TU Berlin. Forschungsschwerpunkte: Feministische Theorie, Queer Theory, Wissenschaftsgeschichte und -forschung, Poststrukturalistische Subjekttheorien, Politische Soziologie und Theorie. Hartmann-Tews, Ilse, Dr., geb. 1956. Professorin am Institut für Sportsoziologie der Deutschen Sporthochschule Köln und Leiterin der Abteilung Geschlechterforschung. Forschungsschwerpunkte: Strukturwandel der Sportsysteme und Inklusion von Frauen im internationalen Vergleich, Berufsfeld Sport im Wandel; Soziale Konstruktion von Geschlecht im Sport- und Mediensystem. Haug, Frigga, Dr., geb. 1937. (em.) Professorin an der Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik. Forschungsschwerpunkte: Frauen, Arbeit, qualitative Methoden, Lernen. Heller, Birgit, Dr. theol., Dr. phil. habil., geb. 1959. Professorin am Institut für Religionswissenschaft, Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: religionswissenschaftliche Frauen- und Geschlechterforschung; Sterben, Tod und Trauer in den Religionen (insbes. interreligiöse und spirituelle Aspekte von Palliative Care); moderne Hindu-Religionen. Hering, Sabine, Dr. phil. habil, geb. 1947. Professorin für Sozialpädagogik mit dem Schwerpunkt ‚Gender’ an der Universität Siegen. Zahlreiche Forschungen und Publikationen im Spannungsfeld von Frauenbewegung, Sozialer Arbeit und Wohlfahrtsgeschichte. Holland-Cunz, Barbara, Dr. phil., geb. 1957. Professorin am Institut für Politikwissenschaft und Leiterin der Arbeitsstelle Gender Studies der Justus-Liebig-Universität Gießen. Forschungsschwerpunkte: Politische Theorie; Frauenbewegung, Gleichstellungspolitiken, Partizipation; Wissenschaftstheorie, Naturphilosophie. Hoppe, Hella, Dr. rer. pol., geb. 1970. Visiting Researcher im UN-Verbindungsbüro der Friedrich Ebert Stiftung in New York; Stipendiatin des Fulbright New Century Scholars Pro-
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gram 2004/2005 „Toward Equality: The Global Empowerment of Women”. Forschungsschwerpunkte: Feministische Ökonomie, Globalisierung der Weltwirtschaft, Social Development, Arbeitsmarktpolitik, Politische Ökonomie. Hornberg, Claudia, Dr. med., Dipl.-Biol. Dipl.-Ökol., Professorin an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld, AG 7 – Umwelt und Gesundheit. Forschungsschwerpunkt: Charakterisierung von Umwelteinflüssen auf die Gesundheit unter besonderer Berücksichtigung von Alter, Geschlecht und sozialräumlicher Verteilung, Abschätzung von umweltbezogenen Krankheitslasten (Environmental Burden of Disease). Ihsen, Susanne, Dr. phil., geb. 1964. Sozialwissenschaftlerin. Professorin für Gender Studies in Ingenieurwissenschaften an der Technischen Universität München. Forschungsschwerpunkte: Geschlechterverhältnisse in der Technikkultur, Diversity in der Technikentwicklung. Jäger, Margarete, Dr. phil, Dipl.-Oec., Wissenschaftliche Mitarbeiterin und stellvertretende Leiterin des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS). Forschungsschwerpunkte: diskursanalytische Studien zu Einwanderung, Frauen und Krieg. Kahlert, Heike, Dr. rer. soc., geb. 1962. Dipl.-Soziologin, Dipl.-Supervisorin (FH) und Organisationsberaterin, Maria-Goeppert-Mayer-Gastprofessorin für internationale Frauen- und Genderforschung am Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterstudien (ZIF) Hildesheim und Projektleiterin am Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie – Makrosoziologie der Universität Rostock, Redakteurin der Zeitschrift GENDER. Forschungsschwerpunkte: Transformationen des Wissens in der Moderne; Geschlechterverhältnisse und sozialer Wandel im Wohlfahrtsstaat; Soziologie der Bildung und Erziehung; Gleichstellungsbezogene Organisationsentwicklung im Public-Profit-Bereich (Bildungswesen, Verwaltung). Keddi, Barbara, Dr. phil., geb. 1957. Dipl.-Soziologin, Analytische Imaginationstherapeutin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Jugendinstitut e.V., München. Forschungsschwerpunkte: Biografie und Geschlecht, Liebe, transdisziplinäre Entwicklungsforschung, Biografie- und Gehirnforschung, Familie und Schule als kindliche Lebenswelten. Kelle, Helga, Dr. phil., geb. 1961. Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt schulische und außerschulische Bildungsprozesse bei Kindern am Fachbereich Erziehungswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt. Forschungsschwerpunkte: Kindheits-, Geschlechter- und Schulforschung, ethnographische Methoden, qualitative Methodologien. Klippel, Heike, Dr. phil. Professorin für Filmwissenschaft/Medienwissenschaft an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Forschungsschwerpunkte: Feministische Filmtheorie, Gedächtnistheorien, Zeit und Kino. Klaus, Elisabeth, Dr. phil. (USA), geb. 1955. Universitätsprofessorin für Kommunikationswissenschaft an der Universität Salzburg. Forschungsschwerpunkte: massenmediale Kommunikation, Öffentlichkeitstheorien, Gender Studies, Cultural Studies und Populärkultur. Knapp, Gudrun-Axeli, Dr. phil, geb. 1944. (em.) Professorin am Institut für Soziologie und Sozialpsychologie der Universität Hannover: Forschungsschwerpunkte: Sozialpsychologie der Geschlechterdifferenz und Soziologie des Geschlechterverhältnisses, Feministische Theorie und Erkenntniskritik. Koall, Iris, Dr. rer. oec., geb. 1960, Supervisorin (DGSV). Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Technischen Universität Dortmund. Forschungsschwerpunkte: Systemtheoretische Konstruktionen von Geschlecht in Organisationen, personalwirtschaftliche Konzepte zur Gleichstel-
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lung von Frauen und Männern – insbesondere Managing Diversity, feministische Wissenschaftskritik und Konstruktivismus. Kortendiek, Beate, Dr. rer. soc, geb. 1960. Dipl. Sozialwissenschaftlerin, Koordinatorin des Netzwerk Frauenforschung NRW an der Universität Duisburg-Essen und Redakteurin der Zeitschrift GENDER. Forschungsschwerpunkte: Frauen- und Geschlechterforschung, Frauen und Wissenschaft, Hochschulforschung, Familie und Mutterschaft, Soziale Arbeit und Frauenprojekte. Kramer, Caroline, PD Dr. phil., geb. 1961. Professorin für Humangeographie und Geoökologie an der Universität Karlsruhe. Forschungsschwerpunkte: Humangeographie, Stadt- und Bevölkerungsgeographie, Bildungsgeographie, Time Geography, Gender & Geography, Soziale Indikatoren. Kreienbaum, Maria Anna, Dr. phil., geb. 1955. Professorin für Theorie der Schule und Allgemeine Didaktik an der Bergischen Universität Wuppertal. Forschungsschwerpunkte: Geschlechterverhältnisse, Schulentwicklung, Professionsforschung und interkulturelle Pädagogik. Krüger, Helga, Dr. phil., 1940-2008. (em.) Professorin an der Universität Bremen Forschungsschwerpunkte: Familie und familiale/berufliche Sozialisation; Sozialstruktur und Geschlechtersegregation in Ausbildung und Beruf, Lebensverlauf und sozialer Wandel im Geschlechterverhältnis. Kuhlmann, Ellen, PD, Dr. rer. soc., Master Public Health, geb. 1957. Senior Lecturer, Department of Social and Policy Sciences, University of Bath, UK und Privatdozentin an der Fakultät für Soziologie, Universität Bremen. Forschungsschwerpunkte: international vergleichende Gesundheitsversorgung und -politik; Professionen; Gender Mainstreaming; feministische (Körper-) Theorien. Kuhn, Annette, Dr. geb. 1934. Historikerin, bis 1999 Professorin am Lehrstuhl für Geschichte und ihre Didaktik sowie Frauengeschichte an der Universität Bonn. Vorsitzende des Vereins: Haus der FrauenGeschichte und Herausgeberin der Schriften aus dem Haus der FrauenGeschichte und der Zeitschrift: Spirale der Zeit, Frauengeschichte sichtbar machen. Auszeichnungen: 2004 Johanna Löwenherz Preis, 2006 Bundesverdienstkreuz. Forschungsschwerpunkte: Frauen- und Geschlechtergeschichte und ihre Vermittlung. Kuiper, Edith, Dr., geb. 1960. Universität Amsterdam, Niederlande. Aktiv im „Feminist Association for Feminist Economics“ (IAFFE). Forschungsschwerpunkte: Geschichte und Philosophie der ökonomischen Theoriebildung, Makroökonomie und Geschlecht. Lenz, Ilse, Dr., Professorin für Soziologie (Geschlechter- und Sozialstrukturforschung) an der Ruhr-Universität-Bochum und Koordinatorin der Marie-Jahoda-Professur für internationale Frauenforschung an der RUB/im Netzwerk Frauenforschung NRW. Forschungsschwerpunkte: Globalisierung, Geschlecht und Arbeit, Frauenbewegungen im internationalen Vergleich; komplexe soziale Ungleichheiten (Klasse, Ethnizität, Geschlecht). Lutz, Helma, Dr., geb. 1953. Professorin für Soziologie mit dem Schwerpunkt Frauen- und Geschlechterforschung am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der J.W. Goethe-Universität Frankfurt. Forschungsschwerpunkte: Frauen- und Geschlechterforschung; Migrationsforschung, Intersektionalitätsforschung, Rassismus- und Ethnizitätsforschung, Qualitative Forschungsmethoden/Biografieforschung. Mae, Michiko,. Dr., geb. 1951. Kulturwissenschaftlerin und Professorin für das Fach „Modernes Japan“ der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Forschungsschwerpunkte: Interkulturalitäts- und Transkulturalitätsforschung, kulturelle Identität, Öffentlichkeits- und Subjektivitäts-
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konzepte im japanischen Modernisierungsprozess sowie Gender Studies bezogen auf Japan und Deutschland in vergleichender Sicht. Majcher, Agnieszka, Ph.D. geb. 1973. Expertin im polnischen Ministerium für Arbeit und Sozialpolitik und Forschungsmitarbeiterin im Institut für Sozialwissenschaft der Universität Warschau. Sie war zuvor Mitarbeiterin an der Universität Münster am Institut für Politikwissenschaft im Rahmen des Forschung- und Trainingsnetzwerks „Women in European Universities“. Forschungsschwerpunkte: Geschlechterforschung, speziell auch in Ländern des Mittleren Ostens und der islamischen Kultur, sowie Bildung und Wissenschaft. Mayr-Kleffel, Verena, Dr. phil., geb. 1945. Professorin für Soziologie an der Georg-SimonOhm Fachhochschule Nürnberg. Forschungsschwerpunkte: Soziale Ungleichheit, Soziale Netzwerke und soziale Unterstützung, Medienforschung, insbesondere weibliche Rezeption, Soziale Arbeit mit Frauen und Mädchen. Mehlmann, Sabine, Dr. phil., geb. 1960. Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Arbeitsstelle Gender Studies der Justus-Liebig-Universität Gießen. Forschungsschwerpunkte: Geschlechterund Wissenschaftsforschung, Konstruktionen von Geschlecht, Sexualität und Normalität im 19. und 20. Jahrhundert. Mentges, Gabriele, Dr., Professorin am Institut für Kunst und Materielle Kultur, TU-Dortmund. Forschungsschwerpunkte: Kulturanthropologie des Textilen; materielle und visuelle Kultur der Moderne; Museologie. Metz-Göckel, Sigrid, Dr. phil., (em.) Professorin und Leiterin des Hochschuldidaktischen Zentrums sowie der Frauenstudien der Universität Dortmund bis Juli 2005. Redakteurin der Zeitschrift GENDER. Aktuelle Forschungsschwerpunkte in der Frauen- und Geschlechterforschung: Pendelmigration von Polinnen ins Ruhrgebiet, Elternschaft und Wissenschaftskarriere, Geschlechterdimensionen der Hochschul- und Fachkulturforschung. Gründerin der „Stiftung Aufmüpfige Frauen“. Meuser, Michael, Dr. phil., geb. 1952. Professor für Soziologie der Geschlechterverhältnisse an der Technischen Universität Dortmund. Forschungsschwerpunkte: Soziologie der Geschlechterverhältnisse, Methoden qualitativer Sozialforschung, Wissenssoziologie, politische Soziologie, Soziologie des Körpers. Mischau, Anina, Dr. phil., geb. 1963. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung (IFF) der Universität Bielefeld. Forschungsschwerpunkte: Soziale Ungleichheit und Geschlechterverhältnis, Frauenbelange in der Stadtund Regionalplanung, Geschlechterverhältnisse in Hochschule und Wissenschaft, speziell: Geschlechterverhältnisse in Mathematik, Natur- und Technikwissenschaften. Müller, Christa, Dr. rer. soc., geb. 1960. Geschäftsführende Gesellschafterin der Stiftungsgemeinschaft anstiftung & ertomis gGmbH, München. Arbeitsschwerpunkte: Interkulturalitätsforschung, Cultural Studies, Subsistenzforschung, Ökologische Soziologie. Müller, Ursula, Dr., Professorin an der Fakultät für Soziologie und Leiterin des Interdisziplinären FrauenforschungsZentrums (IFF) Universität Bielefeld. Forschungsschwerpunkte: Theorie und Methodologie der Frauen- und Geschlechterforschung; Arbeit, Organisation und Geschlecht; Geschlechtersensible Gewaltforschung; Männlichkeitsforschung im internationalen Vergleich; Curriculumentwicklung Gender Studies unter Einbezug Neuer Medien.
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Münst, A. Senganata, Dr. phil., geb. 1957. Ethnologin und Soziologin. Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Freiburg. Forschungsschwerpunkte: Soziale Bewegungen, Hochschulforschung, Migrationforschung und Medizinethnologie. Muysers, Carola, Dr. cand. habil., geb. 1960. Kunsthistorikerin, 2006-2007 Gastprofessorin an der Universität der Künste Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Die Künste des 18. bis 21. Jahrhunderts, Fotografie, Film, Szenographie, Mode, Geschichte des Museums, Künstlerinnen und Männlichkeitsforschung, Weltkulturerbe. Nagel, Ulrike, Dr. phil. habil., geb. 1947. Wissenschaftliche Mitarbeiterin für Mikrosoziologie an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Institut für Soziologie. Forschungsschwerpunkte: Mikrosoziologie, Professionssoziologie, Lebenslaufforschung, Biografieforschung qualitative Methoden der Sozialforschung. Nagl-Docekal, Herta, Dr. phil. habil., geb. 1944. Universitätsprofessorin am Institut für Philosophie der Universität Wien und wirkl. Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Forschungsschwerpunkte: Feministische Philosophie, Geschichts- und Rechtsphilosophie, Religionsphilosophie. Nestvogel, Renate, Dr. phil. habil., geb. 1949. Professorin am Fachbereich Bildungswissenschaften der Universität Duisburg-Essen. Forschungsschwerpunkte: Sozialisationsforschung, Vergleichende Erziehungswissenschaft, Interkulturelle Pädagogik, Geschlechterforschung. Notz, Gisela, Dr. phil, geb. 1942. Bis Mai 2007 wissenschaftliche Referentin für Frauen- und Geschlechterforschung in der Forschungsabteilung Sozial- und Zeitgeschichte der FriedrichEbert-Stiftung in Bonn, Lehrbeauftragte an verschiedenen Universitäten, jetzt freiberuflich tätig. Forschungsschwerpunkte: Bezahlt und unbezahlt geleistete Frauenarbeit, Arbeitsmarkt-, Sozial-, und Familienpolitik, Historische Frauenforschung. Nunner-Winkler, Gertrud, Dr. rer. pol., geb. 1941. Professorin für Soziologie, ehem. Leiterin der AG Moralforschung am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften, ehem. München. Forschungsschwerpunkte: Identität, Geschlechtsrollen, Entwicklung moralischer Motivation, Moralverständnis im Wandel. Oechsle, Mechtild, Dr. phil., geb. 1951, Professorin für Sozialwissenschaften, Fakultät für Soziologie, Vorstand des Interdisziplinären Zentrums für Frauen- und Geschlechterforschung (IFF), Universität Bielefeld. Forschungsschwerpunkte: Sozialer Wandel und Modernisierung der Geschlechterverhältnisse; Vereinbarkeit und Work Life Balance; Berufsorientierung und Lebensplanung; Übergang Schule/Hochschule. Palm, Kerstin, Dr. rer. nat., geb. 1961. Biologin. Bis 2007 wissenschaftliche Assistentin im Institut für Kultur- und Kunstwissenschaften im Institut für Kultur- und Kunstwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin, seitdem Gastprofessorin an verschiedenen Universitäten. Forschungsschwerpunkte: Genderforschung der Naturwissenschaften, insbes. Epistemologie und Kulturgeschichte der Biologie aus der Genderperspektive. Pasero, Ursula, Dr., Soziologin, Leiterin der Gender Research Group an der Universität Kiel. Forschungsschwerpunkte: systemtheoretische Ansätze in der Genderforschung, Geschlechterkonflikte als Phänomene der Modernisierung von Organisationen, Gender und Individualisierung. Pauli, Andrea, Magistra Public Health, Dipl.-Soz.päd., Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld, AG 7 – Umwelt und Gesundheit. Forschungsschwerpunkte: Gesundheitliche Auswirkungen sozial-räumlicher Ungleichverteilung
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von Umweltbelastungen im benachteiligten Wohnquartieren, Gender-Mainstreaming in der umweltbezogenen Gesundheitsforschung, Gesundheitsbezogener Verbraucherschutz. Paulitz, Tanja, Dr., Soziologin. Wissenschaftliche Assistentin im Fachgebiet „Soziologie der Geschlechterverhältnisse“ am Institut für Soziologie der Universität Graz. Forschungsschwerpunkte: Wissenschafts-, Technik- und Medienforschung, Soziologische Theorie, Methoden qualitativer Sozialforschung sowie Arbeits- und Wissenssoziologie. Pieper-Seier, Irene, Dr., geb. 1942. (em.) Professorin für Mathematik mit dem Schwerpunkt Algebra Institut für Mathematik, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Forschungsschwerpunkte: Geometrische Algebra, Frauen- und Geschlechterforschung zur Mathematik. Räthzel, Nora, Dr. rer. pol., geb. 1948. Assistenzprofessorin am soziologischen Institut der Universität Umeå, Schweden. Forschungsschwerpunkte: Rassismus, Geschlechterverhältnisse und ethnische Verhältnisse, Stadtsoziologie, insbesondere städtisches Alltagsleben von Jugendlichen und Erwachsenen in sogenannten segregierten Stadtteilen. Übergang von Jugendlichen von der Schule ins Arbeitsleben. Reiss, Kristina, Dr., geb. 1969. Juniorprofessorin für Kommunikation Universität Oldenburg. Arbeitsschwerpunkte: Kommunikation & Gender, Sprache – Macht – Jugendkulturelle Körperpraxen, Diskurstheorien, Performativität. Richter, Isabel, Dr., geb. 1968. Feodor-Lynen Stipendiatin und Fellow an der University of California Los Angeles. Historische Anthropologie im 18. und 19. Jahrhundert, Alltags- und Geschlechtergeschichte der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus. Röser, Jutta, Dr., geb. 1959. Professorin für Kommunikationswissenschaft an der Leuphana Universität Lüneburg, Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienkultur im Department für Kulturwissenschaften. Forschungsschwerpunkte: Cultural Studies und Gender Studies in der Kommunikations- und Medienwissenschaft, Publikumsforschung, Medientechnologien im Alltag und Mediatisierungsprozesse, Populäre Medien und Journalismus, Medien und Gewalt. Rulofs, Bettina, Dr., geb. 1971. Wissenschaftliche Assistentin an der Deutschen Sporthochschule Köln, Institut für Sportsoziologie, Abteilung Geschlechterforschung. Forschungsschwerpunkte: Re-Präsentation von Sportlerinnen und Sportlern in den Medien, Soziale Konstruktion von Geschlecht im Sport, Diversity Management im Sport, Sport als Medium der Jugendsozialarbeit, Geschlechtsbezogene Pädagogik. Ruppert, Uta, Dr., geb. 1961. Professorin für Politikwissenschaft im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/M. Forschungsschwerpunkte: Entwicklung, Globalisierung und Geschlecht; Transnationale Frauenbewegungen; feministische Theorie internationaler Politik. Schäfer, Sabine (Redaktion), Dr. phil., geb. 1967. Kommunikationswissenschaftlerin und Soziologin. Wissenschaftliches Management der Research School Education and Capabilities an der Universität Bielefeld und der Technischen Universität Dortmund. Redakteurin der Zeitschrift GENDER. Forschungsschwerpunkte: qualitative Sozialforschung, soziale Ungleichheiten, Bourdieu, Journalismusforschung. Scheffler, Sabine, Dr., geb. 1943. Dipl.-Psychologin, approb. Psychotherapeutin, Supervisorin, Professorin für Sozialpsychologie, Fachhochschule Köln, Institut für Geschlechterstudien, Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften, Leiterin des Studienschwerpunktes Frauen. For-
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schungsschwerpunkte: Gewalt im Geschlechterverhältnis, Evaluation geschlechtersensibler Beratungskonzepte, geschlechtspezifisches Gesundheits- und Krankheitsverhalten. Schelhowe, Heidi, Dr., geb. 1949. Professorin am Fachbereich Informatik/Mathematik der Universität Bremen. Leiterin der Arbeitsgruppe „Digitale Medien in der Bildung“. Forschungsschwerpunkte: Digitale Medien in der schulischen und außerschulischen Bildung, Bildungssoftware, Lernumgebungen mit Digitalen Medien, Digitale Medien in der Hochschullehre, Gender und Digitale Medien. Schildmann, Ulrike, Dr. phil., geb. 1950. Univ.-Professorin für „Frauenforschung in Rehabilitation und Pädagogik bei Behinderung“, Fakultät Rehabilitationswissenschaften der Universität Dortmund. Forschungsschwerpunkte: Systematik der Frauenforschung in der Behindertenpädagogik und der Integrationspädagogik; Normalismusforschung: Normalität – Behinderung – Geschlecht; Vergleichende Behindertenpädagogik: Frauen – Behinderung – Dritte Welt; Biografieforschung. Schlüter, Anne, Dr., geb. 1950. Professorin für Erwachsenenbildung/Weiterbildung und Frauenbildung an der Universität Duisburg-Essen. Seit 2010 Leiterin der Koordinationsstelle des Netzwerks Frauenforschung NRW. Forschungsschwerpunkte: Ausbildungsgeschichte von Mädchen, Bildungs- und Biografieforschung, soziale Ungleichheit. Schraut, Sylvia, Dr., geb. 1954. Apl. Professorin für Neuere Geschichte an der Universität Mannheim, Vertretungsprofessur Neuere deutsche und europäische Geschichte and der Universität der Bundeswehr, München. Forschungsschwerpunkte: Urbanisierung, Nachkriegsgeschichte, Adel in der Frühen Neuzeit, Bildungsgeschichte, Terrorismus, Geschlechtergeschichte. Schwenken, Helen, Dr., geb. 1972. Akademische Rätin an der Universität Kassel im Fachgebiet „Globalisierung & Politik“. Forschungsschwerpunkte: Migrationsforschung, (internationale) Frauenbewegungen, Transnationalisierung. Sellach, Brigitte, Dr. oec. troph., geb. 1943. Dipl. Soziologin., Staatssekretärin a.D., Vorstand der Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Frauen- und Genderforschung e.V. (GSF e.V.), Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des ersten Armuts- und Reichtumsberichtes der Bundesregierung und im Auswertungsbeirat der Zeitbudgeterhebung 2001/2002. Forschungsschwerpunkte: Sozialpolitikforschung mit dem Schwerpunkt „Frauen in schwierigen Lebenssituationen“, bezahlte und unbezahlte Frauenarbeit, Gender Mainstreaming und Verwaltungsmodernisierung. Singer, Mona, Dr. phil, geb. 1956. Wissenschafts- und Kulturtheoretikerin, ao. Professorin am Institut für Philosophie der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: feministische Epistemologie, Cultural Studies of Science and Technology, Rassismusforschung und postkoloniale Theorie. Stiegler, Barbara, Dr. phil., Dipl. Psych., Dipl. Päd., geb. 1948. Leiterin des Arbeitsbereichs Frauen und Geschlechterpolitik in der Abteilung Wirtschaft und Sozialpolitik der FriedrichEbert-Stiftung. Arbeitsschwerpunkte: Frauen(Erwerbs)arbeit, Geschlecht und Qualifikation, Bewertung von Arbeit, Verwaltungsreform, Gender Mainstreaming. Sturm, Gabriele, Dr. rer. soc., Dr. habil., geb. 1951. Projektleiterin im Referat Raum- und Stadtbeobachtung des Bundesamts für Bauwesen und Raumordnung in Bonn. Arbeitsschwerpunkte: Raum- und Stadtbeobachtung, Gender Mainstreaming, quantitative und qualitative Forschungsmethoden/-methodologie, Evaluation.
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Teubner, Ulrike, Dr. phil., Professorin am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und Soziale Arbeit an der Hochschule Darmstadt. Forschungsschwerpunkte: Konzeptualisierung der Kategorie Geschlecht zur Analyse im Bereich von Berufs-, Bildungs- und Wissenschaftsforschung. Thiessen, Barbara, Dr. phil., Dipl.-Sozialpädagogin und Supervisorin, Professorin für Gendersensible Soziale Arbeit an der Hochschule Landshut. Forschungsgebiete: Genderdynamiken im Kontext von Intersektionalität, Familienleben in der Spätmoderne und Strukturierung von Privatheit, Genderkompetenzen in der Sozialen Arbeit. Thürmer-Rohr, Christina, Dr. phil., geb. 1936. Dipl. Psychologin, Professorin an der Technischen Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: Feministische Theorie, Menschenrechte, Theorie und Praxis des Dialogs und dialogischen Denkens. Trömel-Plötz, Senta, Ph.D. (1969, University of Pennsylvania), freie Sprachwissenschaftlerin und Autorin. Professorin am Fachbereich Sprachwissenschaft der Universität Konstanz von 1980-1984. Forschungsschwerpunkte: Feministische Linguistik, Gesprächsanalyse, Gewalt durch Sprache und weibliche konversationelle Kompetenz. Villa, Paula-Irene, Dr. rer. soc., geb. 1968. Dipl.-Sozialwissenschaftlerin; Professorin für Soziologie/Gender Studies an der LMU München. Forschungsschwerpunkte: Soziologische und feministische Theorien, Körpersoziologie, Kultursoziologie/cultural studies, Elternschaft. Wanger, Susanne, Dipl.-Sozialwirtin, geb. 1971. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Forschungsschwerpunkte: geschlechtsspezifische Entwicklung von Erwerbstätigkeit, Arbeitsvolumen und Arbeitszeit. Wedgwood, Nikki, Dr. Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Australian Family & Disability Studies Research Collaboration in der Fakultät für Gesundheitswissenschaft an der Universität in Sydney. Forschungsschwerpunkte: Geschlechterverhältnisse im Sport und in Schulen, Körperlichkeit im Jugendalter, oral history von australischen Footballspielerinnen. Wetterer, Angelika, Dr. phil., Professorin für die Soziologie der Geschlechterverhältnisse und Leiterin des Bereichs Geschlechtersoziologie & Gender Studies an der Universität Graz. Forschungsschwerpunkte: Professionalisierung, Arbeitsteilung und Geschlechterkonstruktion; feministische Wissenschafts- und Gesellschaftstheorie; Modernisierungsprozesse im Geschlechterverhältnis; soziale und diskursive Medien der Wirklichkeits- und Geschlechterkonstruktion; Frauen- und Gleichstellungspolitik in praktischer und theoretischer Perspektive. Wiesner, Heike, Dr., geb. 1966. Gastprofessorin im Harriet-Taylor-Mill-Institut an der Fachhochschule für Wirtschaft Berlin (FHW). Arbeitsschwerpunkte: Wissensmanagement, eLearning unter der besonderen Berücksichtigung der EU-Strategien Gender Mainstreaming und Diversity. Wilz, Sylvia Marlene, Dr. rer. soc., geb. 1964. Juniorprofessorin für „Soziologie organisationaler Entscheidungen“ an der FernUniversität in Hagen, Fachbereich Kultur- und Sozialwissenschaften. Forschungsschwerpunkte: Arbeit, Organisation und Geschlecht; Organisation und Entscheidung, Organisation und Subjekt; Dienstleistungsarbeit. Winter, Reinhard, Dr. rer. soc., geb. 1958. Gendertrainer, Organisationsberater und Geschlechterforscher bei SOWIT (sozialwissenschaftliches Institut Tübingen). Forschungsschwerpunkte: Jungen, Jungenpädagogik, Männer, Männlichkeiten, Männergesundheit, Gender Mainstreaming, Gendertraining.
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Wischermann, Ulla, PD Dr. phil., geb. 1952. Professorin am Schwerpunkt Frauen- und Geschlechterforschung am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt/M. und stellvertretende geschäftsführende Direktorin des Cornelia Goethe Centrum für Frauenstudien. Forschungsschwerpunkte: Gender Studies, Mediengeschichte und Öffentlichkeitstheorien. Young, Brigitte, Ph.D, habil. Professorin am Institut für Politikwissenschaft an der WWUMünster für Internationale/Vergleichende Politische Ökonomie. Sachverständige der EnqueteKommission des Deutschen Bundestages, Globalisierung der Weltwirtschaft. Forschungsschwerpunkte: Globalisierung, Weltwirtschaft, Internationale Politische Ökonomie, Feministische Makroökonomie, Finanzmärkte, Global Governance. Zimmer, Annette, Dr. phil., geb. 1954. Professorin für Sozialpolitik und Vergleichende Politikwissenschaft am Institut für Politikwissenschaft der Universität Münster. Forschungsschwerpunkte: gemeinnützige Organisationen (NPOs); New Public Management; Policy Analyse, insbesondere Sozial- und Kulturpolitik, Verbände.