Michael Kühnen
Grundlagen des Heidentums I
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Michael Kühnen
Grundlagen des Heidentums I
Das Heidentum kennt keine Dogmen und hat keine einheitliche Lehre. Es ist der Mythos und nicht das Dogma, was heidnische Religiosität prägt - und diese Mythen sind unendlich vielfältig, sie leben und wandeln sich; sie werden geboren aus der Seele von Rassen, Völkern und Kulturen und spiegeln deren biologische Artung und unterschiedliche Weltsicht und Lebenshaltung wider. Und jeder Heide ist frei, sich den Göttern zu verpflichten, zu denen er sich besonders hingezogen fühlt und die Mythen so zu verstehen und auszulegen, wie es seinem eigenen Wesen entspricht. Heidentum ist deshalb zwangsläufig polytheistisch, anerkennt und respektiert eine Vielzahl von Göttern. Heidentum ist nicht Kirche sondern Kult. Es verlangt nicht einen bestimmten Glauben, sondern fordert Respektierung und Teilnahme an Riten; es ist deshalb tolerant in Glaubensfragen, aber doch willens und fähig, eine stabile Ordnung zu gewährleisten. Um den Begriff des Ritus im Gegensatz zum Dogma zu klären, sei ein historisches Beispiel an dieser Stelle eingefügt: Die Christen machen bis heute viel Aufhebens von den sogenannten Christenverfolgungen zur Zeit des heidnischen Roms und den damaligen Märtyrern. Doch niemals ist in heidnischen Zeiten ein Christ wegen seines Glaubens verfolgt worden, wohl aber später die Heiden nach der christlichen Machtergreifung wegen ihres Glaubens. In Wirklichkeit ging es bei der Christenverfolgung um einen staatspolitischen Sachverhalt - der Kaiserkult bestand aus einem Opfer-Ritus vor dem Bild des Kaisers, symbolisierte die in der Person des Kaisers verkörperte Bindung des Reiches an eine göttliche Ordnung und war verbindlich für alle Bürger dieses Reiches. Der Kaiserkult verlangte - wie jeder heidnische Kult - keinen bestimmten Glauben, sondern den Vollzug des Ritus. Ob der Einzelne dabei an die buchstäbliche Göttlichkeit des Kaisers oder an die Göttlichkeit seiner Seele glaubte, oder ob er mit dem Opfer lediglich seine Loyalität gegenüber dem Herrscher bezeugte, interessierte niemanden. Die Christen wurden nicht verfolgt, weil sie nicht an die Göttlichkeit des Kaisers glauben wollten, sondern weil sie sich weigerten, einen Ritus zu vollziehen! Solcherlei Riten gibt es tausende in jeder heidnischen Kultur - sie begründen die auf Tradition beruhende Stabilität der Ordnung und binden sie an das Göttliche. Das Heidentum kennt auch keine Moral, die für alle verbindlich und unterschiedslos ihr drohendes „Du sollst...!" oder „Du sollst nicht...!" spricht. Eine traditionale, heidnische Kultur braucht keine Moral, ihr genügt der Ritus. Angepaßt an das Wesen und die soziale Rolle und Aufgabe von Schichten, Ständen und Gruppen wie auch jedes einzelnen Menschen prägen und bestimmen Riten das Leben und regeln, wie man sich zu verhalten hat. Auch hier trägt das Heidentum im Gegensatz zu dogmatischen Offenbarungsreligionen der Vielfalt des Lebens und der natürlichen Ungleichheit der Menschen Rechnung. Die führenden Schichten einer heidnischen Kultur aber leiten aus dem Heidentum außerdem eine Ethik her, die von ihnen erwartet, als freie und stolze Menschen zu sprechen „Ich will ...!" und „Ich will nicht ...!", statt als Knecht dem „Du sollst ...!" oder „Du sollst nicht ...!" der Moral zu gehorchen! Auch die heidnische Ethik gilt in ihren selbstbestimmten Forderungen nicht unterschiedslos für alle Menschen, sondern wächst organisch aus den Unterschieden von Menschen, Gruppen, Ständen,
Völkern und Rassen, aus Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung der eigenen Natur, des eigenen Charakters. Freilich hat diese heidnische Ethik ein gemeinsames und verbindliches Ziel: Erhaltung und Förderung des Volkes und seiner Kultur, zu dem jeder als Einzelner wie in Gemeinschaft - auf seine Art - nach Kräften beiträgt. Die entscheidenden und wichtigsten Merkmale des Heidentums sind damit genannt: Mythos, Ritus und Ethik! Wer sich in seiner Seele und mit seinem Verstand von einem Mythos angesprochen fühlt, die dazugehörigen Riten praktiziert und als ein tieferdenkender Mensch sich außerdem noch einer Ethik der Arterhaltung und Artentfaltung von Volk, Rasse und Kultur verpflichtet weiß, der ist Heide. Kein Glaubensbekenntnis wird von ihm verlangt, keiner Kirche muß er angehören und kein seelischer Zwang beeinträchtigt seine innere Freiheit.
II Ein solches Heidentum ist als Religion seit der Christianisierung Europas zerschlagen und als soziale Ordnung vernichtet. Als Lebenshaltung aber war es immer lebendig und wird es bleiben, solange es Menschen gibt, die indoeuropäisches Erbgut halbwegs rein in sich tragen. [...] Doch unser Ziel ist ehrgeiziger: Wir wollen das Heidentum bewußt als Religion erneuern - die metaphysische Dimension des Heidentums wiederherstellen. Die heidnische Religion ist so alt wie der Mensch. Sobald es Urmenschen gab, die sich selbst als Subjekt, als eigenständige Person begriffen und sich einer oft unbegreiflichen, manchmal feindlichen und manchmal freundlichen Umwelt ausgesetzt sahen, erkannten sie in diesen Naturkräften Götter und Dämonen und versuchten, sie zu beeinflussen und freundlich zu stimmen. Welche Götter und Dämonen das waren, welchen Charakter sie hatten, wie sie entstanden, lebten und wirkten, das berichten die Mythen, die wiederum abhingen von der biologischen Artung und dem Charakter der jeweiligen Menschengruppe. Damit haben wir den ersten Grundsatz heidnischer Religion: Es gibt viele Götter, und es sind Naturgötter! Schon bald fanden die Urmenschen heraus, daß zwischen Göttern und Menschen ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis besteht - die Götter erwarteten und verlangten Verehrung, und die Menschen erhielten unter bestimmten Bedingungen Ermutigung und Hilfe von den Göttern. Die Bindung zwischen Menschen und Göttern stellte der Ritus her. Das ist der zweite Grundsatz heidnischer Religion: Mit Hilfe von Riten wird die Verbindung zwischen Göttern und. Menschen hergestellt und aufrechterhalten, die durch ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis aufeinander angewiesen sind! Der Glaube an viele Götter schließt die Vorstellung aus, sie seien allmächtig. Die Götter wurden als so langlebig und mächtig angesehen, daß sie im Vergleich zum Menschen unsterblich und allmächtig waren, aber die Mythen berichten eindeutig von der Geburt von Göttern, prophezeien zuweilen ihren Tod und beschreiben oft die Grenzen ihrer Macht. Auch die Götter sind also bestimmten Gesetzen unterworfen. Das können wir als dritten Grundsatz der ursprünglichen heidnischen Religion festhalten: Über den Göttern steht ein unerforschliches und unbeeinflußbares Schicksal!
Sobald Menschen zum Bewußtsein ihres eigenen Lebens, ihrer Identität, kommen, stehen sie vor der schreckenerregenden Gewißheit ihres unausweichlichen Todes und erwarten von der Religion eine Antwort auf die Frage seiner Bedeutung und Natur. Von Anfang an erkennen heidnische Kulte, daß die Seelen Verstorbener weiterleben und von ähnlicher Natur sind wie die Geistwesen der Götter und Dämonen. Aus dieser Erkenntnis entwickelt sich stets ein Ahnenkult, der einerseits das Überleben und Wohlergehen der verstorbenen Seelen in der geistigen Welt sichern, andererseits die Rückkehr dieser Seelen als schädliche Kräfte verhindern soll. Nicht so allgemein, aber doch weitverbreitet ist von frühesten Zeiten an im Heidentum auch die Überzeugung, daß die Seelen Verstorbener sich wiederverkörpern, daß das menschliche Leben eine Kette von Geburt, Tod und Wiedergeburt ist. Aus alldem ergibt sich der vierte Grundsatz heidnischer Religion: Die menschliche Seele ist unsterblich und von derselben Natur wie die Götter! Diese vier Grundsätze bilden den Ursprung der metaphysischen Dimension des Heidentums - es sind keine Dogmen und Lehrsätze, sondern sie entstanden aus Naturbeobachtung, Selbsterkenntnis und dem Versuch, Leben und Welt so zu deuten und zu erklären, wie es der eigenen Natur, dem eigenen Volkscharakter, der eigenen Einsicht entspricht. Deshalb ist Heidentum stets art- und naturgemäße Religion.
III Um das Thema nicht unnötig vielschichtig und kompliziert darzustellen, wollen wir den weiteren Gang der Entwicklung ausschließlich beim antiken griechischrömischen Heidentum betrachten, das der Seele des europäischen Menschen am besten entspricht und uns unter den heidnischen Religionen Europas am besten bekannt ist. Der Urmensch steht der Natur am nächsten, er hat noch jene Sinne und Instinkte, die es ihm ermöglichen, in direkter Verbindung mit den geistig-seelischen Kräften des Universums zu stehen - in diesen Urzeiten leben die Götter buchstäblich auf der Erde und unter den Menschen. Im Laufe der Kulturentwicklung und der schärferen Herausbildung des Verstandes anstelle der natürlichen Sinne und Instinkte geht diese Verbindung mehr und mehr verloren. Schließlich werden die Götter zu Abstraktionen, die Mythen zu Symbolen und die Riten unverständlich - der heidnische Volksglaube stirbt. Wenn schließlich eine Kultur soweit entwickelt ist, daß das Leben des Einzelnen im großen und ganzen gesichert ist, wird der Materialismus übermächtig, und vom Volksglauben bleibt kaum mehr übrig als eine niedere Form der Magie mit dem Ziel der Wunscherfüllung. Damit beginnt auch die Dekadenz. Und doch lebt das Heidentum weiter - es entwickeln sich um jene beiden religiösen Wege des Heidentums, die auch wir heute wieder beschreiten können, um die Bindung an den Ursprung der Dinge zurückzugewinnen: Mystik und Philosophie. So sind es die vielfältigen Mysterien-Kulte und die Philosophie vor allem des Platonismus und Neuplatonismus, die in der antiken Welt die heidnische Religion lebenskräftig erhalten über all die Jahrhunderte der Kulturentwicklung hinweg bis zu jenem blutigen und gewaltsamen Ende, das christliche Unterdrückung und christlicher Fanatismus dem Heidentum bereitete. Die innere Wahrheit des Heidentums zeigt sich auch darin, daß sowohl heidnische Mystik wie heidnische Philosophie auf denselben vier Grundsätzen des Volksglaubens aufbauen kann, die wir schon erwähnt hatten:
1. Die Vielzahl von Göttern als Verkörperung natürlicher Kräfte. 2. Das durch den Ritus ermöglichte gegenseitige Abhängigkeitsverhältnis von Göttern und Menschen. 3. Das Wirken eines unerforschlichen Schicksals, das stärker ist als der Wille von Göttern und Menschen. 4. Die Unsterblichkeit der menschlichen Seele, die von derselben Natur ist wie alle geistig-seelischen Kräfte des Universums. Diese Grundsätze werden von Mystik und Philosophie lediglich weiterentwickelt, vertieft und dem modernen Menschen verständlicher gemacht. Und auch das Neuheidentum unserer Tage wird hier anknüpfen, um sich verständlich zu machen. Das eigentliche Thema heidnischer und neuheidnischer Mystik und Philosophie ist vor dem Hintergrund der beschriebenen Grundsätze die Unterscheidung zwischen Gott (bzw. dem Göttlichen) und den Göttern und das Verhältnis der Menschen zu ihnen. Für das Erkenntnisvermögen und Gefühlsleben des Urmenschen gab es noch keinen Unterschied zwischen materiellen und psychischen Naturkräften. Der Blitz und das Gefühl der Furcht, das er hervorrief, das Feuer und das Gefühl von Wärme, Schutz und Geborgenheit - all diese Dinge wurden als identisch empfunden und als göttlich verehrt. Deshalb erlebte der Urmensch die Götter direkt und unmittelbar. Dem Kulturmenschen ist ein solches Empfinden verschlossen, je mehr er die natürlichen Ursachen und Gesetze des materiellen Lebens erkennt und sich der Natur entfremdet. So deutete die antike heidnische Philosophie die Götter nunmehr ausschließlich als Verkörperungen psychischer Naturkräfte und Gefühlszustände - Liebe, Freundschaft, Ehre, Tapferkeit, Ordnung, kriegerische Leidenschaft usw. Soweit man dem alten Volksglauben folgte und auch natürliche und materielle Dinge und Zustände als Verkörperungen von Göttern verehrte - Fruchtbarkeit, Jagd, Ackerbau, Flüsse, Quellen, Berge und Hügel usw. - sah die heidnische Philosophie in ihnen göttliche Kräfte wirken, die geistig-seelischer Natur sind und deren Natur und Charakter sich aus den Wirkungen und Einflüssen erkennen läßt, die sie auf das menschliche Leben haben. Wenn also die antike heidnische Philosophie die Götter als psychische Naturkräfte auffaßte und sie mit den geistig-seelischen Empfindungen des Menschen als Einheit sah, dann widersprach das in keiner Weise dem heidnischen Volksglauben, ermöglichte aber ein neues Verständnis des Götterglaubens, wie es die Kulturentwicklung erforderte. Denn wie die verschiedenen menschlichen Empfindungen zwar starke und oft auch widersprüchliche geistig-seelische Kräfte sind, aber doch Teile eines einzigen Bewußtseins, eines „Ichs" bleiben, so erkannte man nun in den Göttern die verschiedenen Verkörperungen und Erscheinungsformen einer einheitlichen göttlichen Urkraft. Über den Göttern steht das Göttliche an sich, das dem Menschen verborgen bleibt. Aus dem Volksglauben ließ sich leicht die Verbindung zwischen dem Göttlichen an sich und dem Schicksal herstellen, das schon immer als unbegreiflich, über Götter und Menschen gleichermaßen stehend und unbeeinflußbar gedacht und empfunden wurde. Damit hatte die heidnische Philosophie das damals höchste Stadium der Erkenntnis erreicht. Die heidnische Mystik ging von derselben Unterscheidung zwischen Gott und Göttern, zwischen der einen unpersönlichen Urkraft und ihren vielen Verkörperungen aus, die als Götter auf die menschliche Seele einwirken. Und wie alle Mystiker aller Religionen und Zeiten so erstrebten auch die heidnischen Mystiker
der Antike die Vereinigung der menschlichen Seele mit der göttlichen Urkraft selber - die „unio mystica" zwischen Mensch und Universum - und achteten wenig auf die äußeren Gestalten, die das Göttliche in Mythos und Philosophie annahm. Wie es heidnischem Lebensgefühl entspricht, hatten sowohl die antike Philosophie wie die antike Mystik viele unterschiedliche Lehren, Riten und Beziehungen zueinander wie zu den Kulten des Volksglaubens. Damit brauchen wir uns nicht weiter zu beschäftigen, da uns nur die Grundlagen interessieren. Diese aber sind wie wir gesehen haben - eine natürliche Fortentwicklung des ursprünglichen Volksglaubens und wie dieser an keinerlei Dogmen gebunden, sondern aus dem natürlichen Empfinden und dem ehrlichen Erkenntnisstreben entstanden.
IV Die neuzeitliche Naturwissenschaft eröffnet dem heutigen Neuheidentum neue Wege und Perspektiven der Erkenntnis. Und es ist faszinierend zu beobachten, wie mehr und mehr die neuesten wissenschaftlichen Forschungsergebnisse mit den uralten Mythen sich überschneiden und auch selber die Züge eines modernen Mythos annehmen und eine metaphysische Dimension gewinnen, ohne an Exaktheit einzubüßen. Es ist an dieser Stelle leider nicht möglich, auf Einzelheiten einzugehen, da wir uns auf die Grundlagen beschränken wollen und müssen. Darum mögen einige Stichworte genügen. Die Naturwissenschaft geht davon aus, daß das ganze Universum eine einzige Einheit bildet, die einst in unvorstellbar komprimierter Form zusammengeballt war, bevor sie in einem Urknall explodierte. Dieser Zustand des Universums vor dem Urknall ist unvorstellbar, jenseits von Zeit und Raum und unbeeinflußt von den uns heute bekannten Naturgesetzen, denn Zeit und Raum und die Naturgesetze sind alle Funktionen des sich ausdehnenden Universums und Folgen des Urknalls. Irgendwann in der fernsten Zukunft wird die Ausdehnung des Universums zum Stillstand kommen und sich umkehren; es wird zusammenschrumpfen und in sich zusammenfallen, womit sich auch Natur und Wirkung von Zeit, Raum und Naturgesetzen ändern oder gar umkehren wird, bis am Ende dieses ganze, heute noch riesige Universum wieder zu einem uns unvorstellbaren, winzigen Punkt geworden ist, in dem nichts mehr Gültigkeit hat, was wir kennen und wissen. Und dieser wird dann wahrscheinlich wieder explodieren, um ein neues Weltzeitalter und ein neues Universum hervorzubringen und so fort ohne Anfang und ohne Ende. Dies ist das Schicksal des materiellen Universums, doch was ist mit dem geistigen Universum von Intelligenz und Erkenntnis, von Gefühlen und Wünschen, von Erinnerung und Erfahrung?! Auch hier bringt uns die moderne Naturwissenschaft mehr und mehr zu der Erkenntnis, daß die Unterscheidung zwischen Materie und Geist eine künstliche und falsche ist. Beide sind lediglich unterschiedliche Erscheinungsformen von Energie! Als dreidimensionale Wesen in einem mindestens vierdimensionalen Universum ist für uns die wirkliche Natur des Universums nicht erkennbar, aber alle wissenschaftlichen Forschungsergebnisse weisen darauf hin, daß auch unsere Gedanken, Gefühle und Erinnerungen Energie sind - man denke nur an die heute schon meßbaren Gehirnwellen. Energie aber geht in unserem Universum niemals verloren, sondern wandelt sich lediglich um. Diese Umwandlung von Energie vollzieht sich in den Dimensionen von Raum und Zeit und im Rahmen von Naturgesetzen. Das gilt ebenso für das, was wir als stabile Materie anzusehen gewohnt sind, was aber doch ebenso lediglich ein flüchtiger Zustand von Energie ist, die sich ständig wandelt - und dieser Umwandlungsprozeß ist das Leben. Am Anfang und am Ende eines jeden Weltzeitalters sind Raum und Zeit und die von ihnen abgeleiteten Naturgesetze aufgehoben; alle Energie - „materielle" wie „psychische" - bilden eine einzige Einheit.
Es ist zwecklos, über die Natur dieser Einheit zu spekulieren, wir können nur sagen, daß alle Energie, die am Anfang da war, auch am Ende wieder da ist - bereichert um die Erfahrungen und Lebenszustände eines ganzen Weltzeitalters; und zu dieser Einheit gehören dann auch alle Gefühle, Erinnerungen und Erfahrungen aller Menschen und Zeiten. Nichts geht verloren, und alles bildet eine Einheit. Von dieser geht die metaphysische Dimension des Neuheidentums aus - wir nennen sie Gott, das Göttliche, die Urkraft, die Allseele. Die arischen Inder sprachen vom unpersönlichen Brahman, dessen Atemzüge - das Ein- und Ausatmen - jeweils ein Weltzeitalter markieren. Die Übereinstimmung mit unserem heutigen Weltbild des sich ausdehnenden und zusammenziehenden Universums ist verblüffend, faszinierend und bestätigt die natürliche und innere Wahrheit heidnischer Religion.
V Das Heidentum als pantheistische Religion wird also durch die Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaft unterstützt und damit werden die Vorstellungen der antiken Mystik und Philosophie bekräftigt und weiterentwickelt. Dem entsprechen auch wiederum zwei Grundsätze des heidnischen Volksglaubens - die unpersönliche, schicksalhafte Urkraft über Göttern und Menschen und die Unsterblichkeit der menschlichen Seele, die von derselben Natur ist wie es die psychischen Kräfte des Universums sind. Wir können auch beobachten, daß höherstehende Denker wie tiefempfindende Mystiker aller Religionen letztlich zu einem pantheistischen Weltbild gelangen und damit - zuweilen gegen ihren Willen - beweisen, daß das Heidentum die eigentliche und wirkliche Religion des Menschen ist. Diese Aspekte der heidnischen Religion werden wohl von allen neuheidnischen Bewegungen der Gegenwart geteilt. Doch über diesem teils mystischen, teil philosophischen Pantheismus sind dem Neuheidentum die Wirklichkeit und das Wirken der heidnischen Götter allzuoft leider verlorengegangen. Es gibt nur wenige neuheidnische Gruppen, die aus echter Überzeugung den Kult heidnischer Götter pflegen und seine Bedeutung begründen können. Stattdessen werden die Götter nur noch als abstrakte Symbole gedeutet und die alten Mythen auch von Neuheiden meist im Stil des platten Materialismus erklärt. Demgegenüber bin ich davon überzeugt, daß die metaphysische Dimension des Heidentums erst dann wiederhergestellt ist, wenn die Götter zurückkehren und wir sie willkommen heißen und wieder verehren. Wie aber können wir modernen Menschen in der Tradition der heidnischen Mythen und Philosophien die Götter in unser Weltbild integrieren und ihre Rückkehr ermöglichen? Beginnen wir mit der Frage, was die Götter sind - es sind geistig-seelische Kräfte. Können wir die Existenz solcher Kräfte leugnen? Sicherlich nicht, denn ganz offensichtlich prägen Liebe und Haß, Freundschaft und Feindschaft, Treue, Begeisterung, Stolz, Ehre, aber auch Neid, Angst und Gier unser Leben. Es sind wirkliche Kräfte unserer Seele; es sind Energien, die zum Teil sogar meßbar sind, wie die Gehirnforscher erkannt haben, die anhand aufgezeichneter Gehirnwellen Auskunft geben können über einiges, was in unserem Gehirn jeweils vorgeht - ob wir träumen oder konzentriert nachdenken, ob unser Gefühlszustand ausgeglichen ist oder ob wir aufgeregt sind und vieles mehr. Auch hier ist also „Energie" das Schlüsselwort, das die ältesten Mythen mit der modernsten Wissenschaft verbindet., Solche Energien wirken nicht nur in der eigenen Seele sondern auch zwischen den Menschen - und sie bleiben nicht der menschlichen Kontrolle unterworfen, sondern gewinnen durchaus eigenständigen Charakter. Denken wir nur an ein Gerücht, das wir weitererzählen. Mit jedem Weitererzählen ändert es seinen Charakter und wird
in seinen Auswirkungen unberechenbarer. Erinnert es uns nicht an einen bösartigen Kobold, der in mehr oder weniger schädlicher Form sich in zwischenmenschlichen Beziehungen austobt und zunehmend unabhängiger vom menschlichen Willen wird, bis er schließlich daran stirbt, daß sich niemand mehr dafür interessiert?! Das ist ein kleines Beispiel dafür, wie ein winziger Teil der psychischen Urkraft des Universums eine gewisse Gestalt gewinnt, auf Menschen einwirkt und sich der bewußten Kontrolle entzieht, dabei aber in Geburt und Tod von menschlichen Gedanken, Gefühlen und Taten abhängig ist. Was im Kleinen für diesen bösartigen Kobold gilt, in den sich ein von uns ausgestreutes Gerücht verwandelt hat, das gilt im Großen ähnlich fiir alle Götter und Dämonen, die unser Leben prägen. Sie alle kennzeichnet dieser Doppelcharakter, daß ihr Leben und Wirken, ihre Macht und ihre Kraft durch die Energien der menschlichen Seele ermöglicht und beeinflußt werden, daß sie aber gleichzeitig Teil der ewigen göttlichen Urkraft und damit insoweit vom Menschen unabhängig sind. Nehmen wir als Beispiel die Götter und Dämonen der Liebe, die sicherlich eine der größten und machtvollsten psychischen Kräfte des Menschen ist. Götter und Dämonen der Liebe gibt es nur, weil und solange es Menschen gibt, die Liebe empfinden. Doch niemand, der je wirklich geliebt hat, kann behaupten, daß der Mensch in dieser Hinsicht Herr seiner Gefühle ist - nicht einmal der bewußte Wille beider Liebenden genügt, die vielfältigen Wandlungen und Wirkungen der Liebe unter Kontrolle zu bringen, Eifersucht und Mißverständnisse, Qualen und Leidenschaften zu beherrschen. Bis hierhin werden auch alle ausschließlich pantheistisch orientierten Heiden und selbst Materialisten zustimmen können, aber darauf beharren, daß die Vorstellungen von Göttern und Dämonen eher nur Sinnbilder menschlicher Gefühlszustände sind. Nicht die psychischen Mächte und Kräfte sind umstritten, wohl aber die Frage nach der personalen Existenz der Götter. Der Schlüssel zur Beantwortung dieser Frage ist der menschliche Wille. Schon der heidnische Volksglaube erkannte das gegenseitige Abhängigkeitsverhältnis zwischen Göttern und Menschen - die Götter bedürfen der Verehrung der Menschen! Sie sterben, wenn niemand an sie glaubt - sie sterben als personale Existenzen, während das Göttliche ewig ist und als gestaltlose psychische Urenergie jederzeit wieder neue Formen und Gestalten annehmen kann. Deshalb sterben die Götter nicht nur, wenn niemand sich mehr an sie erinnert, sondern sie werden auch wiedergeboren, wenn Menschen den Willen aufbringen, ihren Kult zu erneuern. Götter werden geboren aus dem Zusammentreffen von göttlicher Urkraft und menschlichem Willen. Und je stärker dieser Wille ist, umso machtvoller der Gott. Der stärkste Wille aber ist der in einem einheitlichen Ritus gebündelte Glaube von Millionen gleichgestimmter Menschen. Ein so geehrter Gott ist kein Schemen menschlicher Phantasie mehr, sondern eine echte Persönlichkeit, ein wirkendes und machtvolles Geistwesen. Damit ist der Weg gewiesen für die Wiedergeburt der heidnischen Götter. Er führt über die Erneuerung des Götterkultes und die ehrliche Sehnsucht und den starken Willen von Menschen, die die Rückkehr der Götter wünschen. STAATSBRIEFE 8-9/1992 ____________________________________________
Literaturempfehlung: Gardenstone, Der germanische Götterglaube. Asatru - eine moderne Religion aus alten Zeiten 480 S. - Gebunden, ISBN 3935581408, Arun-Verlag, Erscheinen angekündigt für September 2003