WALTER BURKERT
Kulte des Altertums Biologische Grundlagen der Religion
VERLAG C. H. BECK MÜNCHEN
Gifford Lectures 1...
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WALTER BURKERT
Kulte des Altertums Biologische Grundlagen der Religion
VERLAG C. H. BECK MÜNCHEN
Gifford Lectures 1989 Die amerikanische Ausgabe erschien 1996 unter dem Titel ,Creation ofthe Sacred. Tracks ofBiology in Early Religions' bei der Havard University Press Cambridge, Massachusetts
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufuahme
Burkert, Walter: Kulte des Altertums: biologische Grundlagen der Religion / Walter Burkert. - München: Beck, 1998 (C. H. Beck Kulturwissenschaft) Einheitssacht.: Creation of the sacred
ISBN 3406433553
ISBN 3 406 43355 3 © C. H.Beck'sche Verlagsbuchhandlung (Oscar Beck), München 1998 Satz und Druck: C. H. Beck'sche Buchdruckerei, Nördlingen Bindung: Großbuchbinderei Monheim Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff) Printed in Germany
Für Maria in 40jähriger Gemeinschcift
Inhalt Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Sinnkonstruktion auf biologischer Spur. . . . . . . . . . . . . . . . .
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Jenseits der Einzelkulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Fitness oder Opium? Die Fragestellung der Soziobiologie Die gemeinsame Weh: Reduktion und Validierung . . . ..
21
11. Das Opfer des Verfolgten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
So
Fingeropfer ......... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Biologie, Phantasie und Ritual. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Kastration und Beschneidung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Sündenböcke. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leben fur Leben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
So
13
37
S6
63 67 70
III. Handlungsprogramm und Erzählstruktur . . .. . . . . . . . . . ..
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,In Geschichten verstrickt' . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Propp-Sequenz: Die abenteuerliche Suche. . . . . . . . . . Vom biologischen Programm zur sprachlichen Struktur. . Schamanenerzählungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Initiationserzählung und Mädchentragödie . . . . . . . . . . . . ..
74 76 81 87 89
IV. Hierarchie ..........................................
102
Rangordnungen ..................................... Unterwerfungsrituale. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Die Strategie des Lobpreisens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Das doppelte Stockwerk der Macht. . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Der Bote der Macht ..................................
102 107
I 13 11 7
122
V. Schuld und Kausalität ................................ 126 Religiöse Therapie: Die Suche nach der Schuld. . . . . . . .. 126 Bedrängendes Unheil. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 132
8
Inhalt
Die Gründung von Kulten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 138 Die Vermittler: Chancen und Risiko ................... 141 Die Deutungsmuster: Fesselung, Aggression, Götterzorn oder Befleckung .......................... 144 VI. Der Kreislauf des Gebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 158 Gabe und Gegengabe ................................ Gaben und Götter ................................... Genealogie der Moral? ............................... Die ausbleibende Gegengabe: Der Vorwurf an Gott. . . .. Der virtuelle Kreislauf: Die Tatsachen des Rituals. . . . . .. Gabe und Opfer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Lösegeld und Gabe: Von der Panik zur Stabilität. . . . . . ..
158 164 169 172 176 181 184
VII. Die Zeichen: Aufschluß und Bearbeitung von Wirklichkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 189 Zeichen annehmen: Die Kunst der Seher. . . . . . . . . . . . . .. Entscheidung durch Zeichen: Das Gottesurteil .......... Zeichen schaffen: Territorium und Körper ............. Beglaubigungjenseits der Sprache: Der Eid .............
189 197 199 205
Zum Abschluß ........................................... 213
Anmerkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 216 Abkürzungen ............................................ 261 Literaturverzeichnis ....................................... 263 Namen- und Sachregister ................................. 273
Einleitung
,Natürliche Theologie', "Natural Theology, in the widest sense" war das Thema, dem die von Lord Gifford 1886 gestifteten Vorlesungen dienen sollten - eine Aufgabe, die heute so unfaßbar wie unlösbar erscheint. Lord Gifford verstand ,natürliche Theologie' im Sinn der Aufklärung, die doch der Tradition PlatonischAristotelischer Metaphysik eng verhaftet blieb: Die ,Natur' des Göttlichen sei zu begreifen als die ,erste Ursache' und das ,eine Sein', das dann auch die ,Natur der Moral' begründe.! Heute wird kaum jemand die Frage nach dem ,Einen Sein' mit dem Begriff des ,Natürlichen' belegen. Nachdem Friedrich Nietzsche - etwa zur Zeit von Lord Giffords Stiftungsakt - den Tod Gottes verkündet hat, möchte jetzt selbst christliche Theologie sich von der ,Ontotheologie' frei machen. 2 Doch auch der Begriff der ,Natur', der sich gegen die traditionelle Theologie lange und wirkungsvoll ausspielen ließ, ist uns inmitten der atemberaubenden Fortschritte der Naturwissenschaften abhanden gekommen. Indem diese die Einzelheiten der Lebensprozesse molekularbiologisch entschlüsseln und den genetischen Code entziffern, werden die Grundlagen des Lebens nicht nur erkennbar, sondern auch manipulierbar; jene ,Natur' jedoch, die als umfassende und weise Macht, gleich einer Göttin, alles Leben nach unwandelbaren Gesetzen zu erschaffen und zu lenken schien, die sich Dichtern und Denkern zu staunender Verehrung bot, hat sich damit aufgelöst: Es bleibt wenig Anhalt rur den Glauben an Stabilität und Ordnung, kein Idealbild rur Moral und Lebenssinn. Was wir noch ,Natur' zu nennen pflegen, erleben wir als ein bedrohtes Reservat, das unter den Abfallprodukten menschlicher Technik zu verschwinden droht. Seltsam bei alledem, daß Religion noch immer nicht verschwindet, im Gegenteil. Zwar sehen wir Modernen zu, wie Generationen praktisch ohne Religion aufwachsen; und doch bleiben religiöse Kräfte hartnäckig präsent, ja werden aggressiv und bedrohlich. Neue Sekten finden junge Anhänger, die sich ganz ver-
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Einleitung
einnahmen lassen; alte religiöse Konflikte eskalieren zu offenem Krieg; ,Fundamentalismus' in verschiedensten religiösen Lagern wird zum Machtfaktor und zum drängenden Problem. Mehr als 70 Jahre gründlich organisierter atheistischer Propaganda im Sowjetimperium haben es nicht zuwege gebracht, die alten Religionen auszurotten; mit ihrer Wiederbelebung kehren auch die früheren Konflikte wieder. Religionen verweigern sich der Lösung akuter Menschheitsprobleme angesichts der Bevölkerungsexplosion und beweisen eben damit ihre Macht. Religion genießt im allgemeinen noch immer höchsten moralischen Kredit und ist doch so problematisch, wie sie es seit je gewesen ist, ein schwer verständliches Hemmnis furs Individuum, eine unbehagliche Einengung für ethische Diskussionen, ein Skandalon für die theoretische Vernunft. So stellt Religion eine besondere Herausforderung dar fur eine umfassende Anthropologie, die sich zur Aufgabe macht, im Gesamtrahmen unseres Wissens und Vermutens auch das ,Irrationale' als sinnvoll zu verstehen. ,Natur' ist nicht mehr als unveränderliche Wesenheit und quasigöttliche Gestaltungskraft zu verstehen, eher als die Gesamtheit irreversibler Prozesse der Selbstorganisation von dynamischen Gestalten, die im Verlauf der Evolution konkurrierend zustandekommen. Weit mehr als früheren Generationen ist uns jedoch bewußt, wie sehr wir selbst Teil dieser ,Natur' sind. Wir sind als Menschen selbst Produkte der Evolution, wir sind von der molekularen Chemie unserer Gene und der nach deren Plan sich bildenden Zellen bestimmt, gefordert und bedroht, wir leben in den elektrochemischen Vorgängen, die in Gehirn und Nervenbahnen sich abspielen: Selbsterkenntnis kann nicht mehr von der Erkenntnis der Naturvorgänge getrennt werden, wie Sokrates einst meinte. Anthropologie muß sich der eigenen biologischen Basis bewußt sein; und insofern Religion ein wesentliches Moment der menschlichen Sondersphäre ist, die doch in die Gesamt-,Natur' eingebettet bleibt, kann selbst Religionswissenschaft nicht aus dem Rahmen des Lebens fallen. Sie bleibt nolens volens der Biologie verhaftet. In dieser Perspektive scheint sich Lord Giffords Anliegen der ,natürlichen Theologie im weitesten Sinn' zu verwandeln in die Frage: Warum und wieso ist in der Evolution der Lebensprozesse Religion geschaffen worden? Haben jene Phänomene, die die Biologie mit wachsendem Erfolg untersucht, etwas zu tun mit den
Einleitung
11
Formen, in denen Religion erscheint? Gibt es ein ,natürliches' Fundament der Religion, gibt es ,natürlich' entstandene und funktionierende Prozesse, die zu ,Religion' auskristallieren? Dem Begriff der ,Natur' wie dem der ,Religion' eignet ein nostalgischer Klang. Umso eher wird sich der Blick in die Vergangenheit wenden, um frühe Formen der Religion zu erfassen, möglichst die frühesten der bezeugten Religionen. Die ältesten Dokumente unserer eigenen kulturellen Tradition liegen in den nahöstlichen und mediterranen Zivilisationen vor, Mesopotamien und Ägypten, Kleinasien und Israel, Griechenland und später Rom; die schriftliche Überlieferung setzt im 3. Jahrtausend vor Christus ein. Als Vorteil der zeitlichen Distanz mag gelten, daß aktuelle Spannungen, Rücksichten und Ängste dabei weithin wegfallen: Die alten Götter - mit der einen Ausnahme Jahwes - sind nicht mehr lebendig in gegenwärtiger Verehrung, sie fordern nicht und sie schrecken nicht. Es fehlte den vor-buddhistischen, vorchristlichen, vor-islamischen Religionen an systematischer Organisation und Theorie, auch an immunisierenden Abwehrmechanismen, denen die ,Weltreligionen' später ihren Erfolg verdanken. Die alten Religionen existierten in bunter Vielfalt, oft eher experimentell und darum veränderlich. Trotzdem zeigen sie gemeinsame Charakterzüge, die, eben als Altes und vielleicht Urspriingliches, Hinweise geben könnten auf den Anfang der Religion - um das prätentiöse Wort ,Ursprung' zu vermeiden.3 Jedenfalls sind die Weltreligionen aus diesen hervorgegangen, in einem teils evolutionären, teils revolutionären Prozeß. Identische Elemente blieben dabei durchaus bewahrt. In welchem Sinn sie ,natürlich' sind, bleibt zu fragen. Vorlesungen reizen zu weitem Ausgreifen. Ein daraus hervorgegangenes Buch muß sich zu seinem schlechten Gewissen bekennen: Historisch-philologische Untersuchungen mit einer Perspektive biologischer Anthropologie zu verbinden, heißt sich auf meist streng getrennte Gebiete einlassen; dem weit gespannten Zugriff droht der Eklat von bei den Seiten. Überall gibt es spezialisierte und immer raffiniertere Methodik, interne Kontroversen, umstrittene Ergebnisse. Die Rezeptivität eines einzelnen findet sich weit überfordert. Und doch, eben insofern historische Forschung sich mehr und mehr der eigenen Bedingtheit durch die jeweils aktuel.len sozialen Konstellationen bewußt geworden ist, kann das modeme naturwissenschaftliche Weltbild aus unserem Erleben und
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Einleitung
Denken nicht ausgeblendet werden. Geisteswissenschaftlich-historische Forschung wirkt in einem Rahmen der Anthropologie, die ihrerseits von Biologie im weiten Sinne unabtrennbar ist. Noch eine Vorbemerkung; Historische Studien sind auf einen gewissen Optimismus in Bezug auf die Existenz von Quellen und von Fakten angewiesen, auf die Möglichkeit von richtigen bzw. falsifizierbaren Resultaten. Dies klingt naiv gegenüber den postmodernen Trends zur Dekonstruktion, zur Auflösung angeblicher Fakten in Bündel von Interpretationen, deren Voraussetzungen und ideologische Verzerrungen des weiteren zu enthüllen sind. 4 Hier sei ein Bekenntnis zur ,Realität' geleistet, das eben darin mit der Naturwissenschaft sich trifft, daß auch diese auf die ,realen' Daten angewiesen bleibt. Die Realität, mit der es Biologie zu tun hat, von den sich selbst replizierenden Molekülen bis zum Aufbau des Gehirns, macht sich auch in der Welt des Bewußtseins definitiv bemerkbar; auch Religions- und Geistesgeschichte hinterläßt durchaus reale Spuren. Man mag etwa die Symbolik und Sprache des Opfers in einem bestimmten kulturellen Kontext erfassen und wechselnden Interpretationen unterwerfen; es gibt aber auch als banales Faktum die Tierknochen, die der Ausgräber findet, woraus er unter anderem religionshistorische Schlüsse ziehen kann. Jedenfalls wurde nicht nur symbolisch geschlachtet. Religion ist überaus realistisch - und eben darum ,natürlich'.
1. Sinnkonstruktion auf biologischer Spur
Jenseits der Einzelkulturen "Weder die Geschichte noch die Ethnologie kennt Gesellschaften, in denen Religion völlig fehlt." I Diese Tatsache, daß praktisch alle Völker, Städte, Staaten irgendeine Fonn von ,Religion' haben, ist seit Herodot, dem Vater der Geschichte, immer wieder festgestellt worden. Die antike Philosophie hat daraus einen Beweis rur die Existenz von Göttern überhaupt hergeleitet, ex consensu gentium. 2 Es kommt dabei nicht so sehr darauf an, ob Ethnographen doch noch die eine oder andere Ausnahme zur Regel finden mögen; es ist der consensus, der Erklärung fordert. Falls Religion je geschaffen wurde, ist es ihr doch gelungen, in alle Spielarten menschlicher Kultur einzudringen. Gewiß, es gibt dramatische Unterschiede in religiösen Vorstellungen und Glaubensinhalten und erst recht in religiöser Praxis. Religion wird darum oft zum eigentlichen Hindernis für die Verständigung zwischen verschiedenen Gruppen. Sie scheint ,Pseudo-Spezies' zu schaffen, die sogar versuchen können, sich gegenseitig zu vernichten. Doch auch diese Funktion der Gruppenbildung und Abgrenzung ist ein allgemeines Charakteristikum der Religion. Der Allgegenwart von Religion entspricht ihre beharrliche Dauer über lange Zeiträume hinweg. Religion hat die ,neolithische Revolution' mit der Erfindung des Ackerbaus überlebt, die ,urbane Revolution' an der Schwelle der Hochkulturen, schließlich auch die ,industrielle Revolution' vor rund 200 Jahren. Es gibt Christentum seit fast 2000 Jahren, Judentum seit etwa 2500 Jahren, Brahmanen und Zarathustrier seit vielleicht 3000 Jahren; die Ikonographie der Großen Göttin können wir in Anatolien mindestens bis zur neolithischen Kultur von <;::atal Hüyük zurückverfolgen, vor etwa 8000 Jahren. Religion muß in ihrer uns kenntlichen Fonn bereits bestanden haben, als die Menschen nach Amerika kamen, vor mindestens 15000 Jahren - denn die Religionen der Neuen Welt, wie sie die Spanier vorfanden,
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1. Sinnkonstruktion auf biologischer Spur
waren als solche durchaus kenntlich und denen der Alten Welt vergleichbar. Es besteht kein vernünftiger Zweifel, und es gibt einige Hinweise darauf, daß Religion mindestens seit dem Jungpaläolithikum besteht, also seit rund 40000 Jahren. Bestattungsbräuche kannte früher schon der Neandertaler. 3 Offenbar ist Religion, wenn überhaupt, nur einmal und kein zweites Mal erfunden worden: Sie war überall und immer schon da, sie wurde von Generation zu Generation weitergegeben, seit unvordenklicher Zeit. Die Stifter neuer Religionen, sei es Zarathustra, Jesus oder Mohammed, haben bei aller Originalität Bestehendes umgestaltet, umgedeutet, gelegentlich ins Gegenteil verkehrt und blieben damit doch in einem Rahmen, innerhalb dessen die Familienähnlichkeit religiöser Erscheinungen unverkennbar ist. Die alten Kulturen, die hier genauer betrachtet werden, die nahöstliche, israelitische, griechische und römische, waren miteinander in kulturell-wirtschaftlichem Kontakt, sie entwickelten sich unter vergleichbaren ökologischen, ökonomischen und sozialen Bedingungen. Allerdings gibt es auch scharfe Gegensätze und revolutionäre Sprünge der Entwicklung zwischen Monarchie und Demokratie, Tempelwirtschaft und Geldwirtschaft, Analphabetentum und Schriftkultur. Doch in der Auffassung und Praxis von Religion überwiegen die Ähnlichkeiten, in den Mythen wie in den Ritualen, den Tempeln, Weihgeschenken und Opfern. Auch wenn Israel schließlich auf seiner Absonderung besteht,4 auszugehen ist von einer erstaunlichen Kompatibilität des Religiösen. Hier nun entsteht eine Spannung zu jenem Begriff der Kultur, wie ihn die moderne Kulturwissenschaft seit längerem überwiegend vertritt. Indem Kultur als ein soziales Kommunikationssystem gefaßt wird,5 ergibt sich zugleich, daß eine scheinbar unbegrenzte Vielfalt von solchen Systemen in Geographie und Historie auffindbar ist - auch wenn heutzutage alles im Konglomerat des einen ,Weltdorfes' aufzugehen scheint. Darum das Mißtrauen gegen den naiv-traditionellen Begriff einer ,menschlichen Natur': "Es gibt keine menschliche Natur, die von Kultur abtrennbar wäre." "Die Menschheit ist in ihrem Wesen so vielgestaltig wie in ihren Ausdrucksformen. "6 Es bliebe dann nichts als die Aufgabe, jede einzelne Kultur in ihrer Besonderheit zu analysieren; der Unterschied bestimmt das Wesen. Die Frage nach ,natürlicher Religion', nach biologischen Grundlagen oder Elementen eines Kulturphänomens wie Religion
1. Sinnkonstrnktion mif biologischer Spur
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ist von hier aus Häresie. Religion erscheint stets in spezifische Einzelkulturen integriert, gehört also bei dem immer wieder beschworenen Gegensatz von Natur und Kultur auf die eine und nicht auf die andere Seite; von einer ,göttlichen Natur' kann erst recht keine Rede sein. "Religion as a cultural system" ist der Titel eines zu Recht berühmten Aufsatzes von Clifford Geertz. 7 Emile Durkheim hatte seinerzeit die Augen daftir geöffuet, wie sehr Religion ein soziales Phänomen ist, und an Stelle religiöser ,Ideen' die representations collectives untersucht. Seither ist man besonders auf Formen und Funktionen der Kommunikation in den jeweiligen Gruppen aufmerksam geworden, die sich mit Theorien des Strukturalismus und der Semiologie analysieren lassen. 8 Wichtige und einflußreiche ethnologische Studien haben exotische Systeme von Religion und Kultur in ihrer gegenseitigen Verkettung vor Augen geführt, bei den Nuer oder den Azande, den Bewohnern der Andaman-Inseln oder den ,Argonauten des westlichen Pazifik'.9 Auch im Bereich der Antike sind wichtige Untersuchungen unter verwandten Gesichtspunkten durchgeführt worden, vor allem in der ,Pariser Schule' von Jean-Pierre Vernant. 10 Hier wird griechische Religion konsequent und mit Ausschließlichkeit im Rahmen der griechischen Polis untersucht; Mythen und Rituale, insbesondere die Einzelheiten der Opferbräuche werden in diesem Zusammenhang als bedeutsam entdeckt, indem sie Unterschiede und Entsprechungen markieren, Normalität und Abweichung, auch Verweigerung und Protest innerhalb der speziellen, damals gegebenen Gesellschaftsstruktur. Nicht zu Unrecht haben diese Forschungen weit über die philologischen Zirkel hinaus Widerhall gefunden. Trotzdem sollte klar sein, daß damit nur eine Möglichkeit der Interpretation verfolgt wird, daß andere Zugänge durchaus offen bleiben. Wenn wir das Kommunikationssystem einer Einzelkultur in perfekter Geschlossenheit rekonstruieren, enden wir in der Isolation einer ,fensterlosen Monade'. Und doch, es gibt Interaktionen von Kulturen; sie beeinflussen, überlagern, stören, ja zerstören einander; es gibt auch befruchtendes, Weiterentwicklung auslösendes Verstehen. Das jeweils bestehende System ist zudem durch seine Traditionen mit Vergangenem verbunden. Obendrein kann eine Religion recht unterschiedliche Kulturen umfassen, wie denn der Islam von Marokko bis Indonesien reicht. Auch unsere eigene Chance, als Wissenschaftler fremde und vergangene Kulturen ohne
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1. Sinnkonstntktion auf biologischer Spur
allzu grobe Verzerrungen wahrzunehmen, hängt an den Möglichkeiten, Kulturgrenzen zu überschreiten. Wie schwierig es ist, ,positive' Daten ,objektiv' zu werten, ist in neuerer Zeit theore·· tisch und auch experimentell immer wieder aufgezeigt worden. Und doch, unsere Erwartungen und Projektionen, unsere Interpretationen und Verarbeitungen haben es mit Realität zu tun. So ist denn, unbeschadet der Fruchtbarkeit eines gleichsam monadischen Kulturbegriffs, die notwendige Gegenthese nicht aus den Augen zu verlieren: Es gibt kontinuierliche Traditionen, und es gibt Universalien der Anthropologie, die die Einzelkulturen übergreifen und sich in jedem Einzelfall bemerkbar machen. Ob man sie Charakteristika einer ,menschlichen Natur' nennen will oder nicht, macht nicht viel aus. Jedenfalls beruht transkulturelles Verstehen wesentlich auf ihnen, wie überhaupt die Kontinuität in historischen Entwicklungen. Vieles, was als ,universal' zu gelten hat, erscheint trivial, sollte aber doch nicht übersehen werden. Überall gilt, daß Menschen essen, trinken und sich entleeren, arbeiten und schlafen, Sexualität betreiben und sich fortpflanzen, krank werden und sterben. All dies sind biologische Prozesse, die sämtlich von der ,Natur' längst vor der Menschwerdung erfunden waren. Anthropologen mögen behaupten, daß es nur die feinen kulturellen Unterschiede seien, die solche Phänomene interessant machen; ihre Existenz ist unbestreitbar. Das Wichtige und Faszinierende jedoch ist, daß auch einige sehr viel weniger triviale Phänomene als allgemein menschlich zu gelten haben. Zwar erscheinen sie in jedem Einzelfall in die betreffende Kultur eingebunden, doch sind sie eben wegen ihrer Allgemeinheit von einer solchen Spezialkultur aus nicht zu erklären. Sie müssen wohl grundlegende Funktionen im sozialen und geistigen Leben der Menschen erftillen, auch wenn ihre Notwendigkeit nicht immer evident ist und die Phantasie nicht selten angeregt wird, Alternativen auszumalen. Zu diesen anthropologischen Universalien gehört recht Verschiedenartiges, darunter: die Institution der Kernfamilie mit der Rolle des Vaters und der besonderen Beziehung von Vater und Sohn;II Herstellung und Gebrauch technischer Werkzeuge, einschließlich des Umgangs mit Feuer; Gabe und Austausch als Basis wirtschaftlichen Handelns; Kriegftihrung der Männergemeinschaft. Vor allem aber finden sich unter diesen menschlichen Gemeinsamkeiten die Sprache, die Kunst, und auch die Religion. Dies kann insofern überraschen, als Sinn und Funk-
I. Sinnkonstruktion arif biologischer Spur
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tion von Kunst und Religion keineswegs unmittelbar evident sind; nicht selten werden sie als überflüssiger Luxus beurteilt. Und doch sind sie vorhanden, sobald und wo immer homo sapiens sapiens seine Existenz manifestiert. Die interkulturelle Ähnlichkeit religiöser Phänomene auf der ganzen Welt ist unverkennbar. Es geht um Formen streng geregelten Verhaltens, das als ,Verehrung' verstanden wird, um Darbringung von Gaben, Schlachten von Tieren und Eßgemeinschaft, um Sprachkontakt mit ,höheren Wesen' in Form von Gelübden und Gebeten, um Lieder, Tänze, Erzählungen und Lehren in Bezug auf jenes ,Höhere' und seine Forderungen. In der Regel werden religiöse Forderungen und Begründungen mit Vorrang akzeptiert. Skepsis von seiten einzelner ist nicht ausgeschlossen, doch gilt es als ,weise', sie auszugrenzen. "Der Tor spricht in seinem Herzen: Es gibt keinen Gott"I2 - und wenige sind töricht genug, dies laut zu sagen. Selbst antike Rhetoren kennen das Rezept: "Man muß das Göttliche ehren - niemand widerspricht dieser Mahnung, es sei denn, er wäre zuvor verrückt geworden." 13 Eine allgemeine, kulturunabhängige Definition von ,Religion' zu geben, ist trotzdem bekanntlich ein schwieriges Unterfangen. Die meisten Definitionen setzen auf der Ebene der ,Vorstellungen' oder ,Symbole' an. Jan van Baal etwa definierte Religion als eine "Gesamtheit von expliziten und impliziten Begriffen und Vorstellungen, die, als wahr akzeptiert, sich auf eine nicht empirisch verifizierbare Wirklichkeit beziehen". 14 Dies bleibt nahe bei traditionellen Begriffen eines ,Glaubens' an ,übernatürliche, höhere Wesen'; übersehen ist die reale Praxis der Religion, die, genau besehen, auf den ,Glauben' an die ,Wahrheit' gar nicht durchweg angewiesen ist. Eher mag die Definition von Clifford Geertz als repräsentativ genommen werden. Religion ist demnach (I) "ein System von Symbolen, die (2) mächtige, überzeugende, dauerhafte Einstellungen und Motivationen bei Menschen bewirken, indem sie (3) Begriffe einer allgemeinen Kategorie von Existenz formulieren und (4) diese Begriffe mit einer Aura von Tatsächlichkeit umkleiden, so daß (5) die Einstellungen und Motivationen einen einzigartigen Realitätscharakter annehmen". 15 Man beachte das bezeichnende Paradox, daß Symbole Realität zu schaffen scheinen. Trotzdem sind die realen Dimensionen des Religiösen auch in dieser Formel noch kaum zulänglich ausgedrückt. Es sind ja nicht die Symbole, die Wirklichkeit schaffen, es sind die lebendigen
18
l. Sinnkonstruktion auf biologischer Spur
Menschen in ihren Interaktionen, die Symbole gebrauchen, Zeichen geben und auf sie reagieren und bei alle dem an ihrer eigenen Realität arbeiten, wobei Religion in Erscheinung tritt und sich etabliert. Es gibt sehr viele weitere Vorschläge, Religion zu definieren, die sich finden, aufreihen und diskutieren lassen, es gibt sorgfältige methodische Überlegungen zu diesem Problem. 16 Hier mag es genügen - wie etwa Benson Saler empfohlen hat 17 -, einige Charakteristika festzuhalten, die das ,Religiöse' in nahezu allen Fällen markieren. Ausgegangen wird dabei vom beobachtbaren Verhalten; der Anspruch auf ,Wahrheit' der ,höheren Wirklichkeiten' steht beim Rückblick auf Religionen der Vergangenheit nicht im Vordergrund. Drei solcher Charakteristika seien festgehalten. Das erste ist negativ: Religion hat es mit dem Nicht-Evidenten zu tun. Schon der Sophist Protagoras sprach von der ,Undeutlichkeit', der adel6tes der Götter. 18 Religion zeigt sich in Handlungen und Einstellungen, die nicht unmittelbar praktische Funktionen erftillen, die nicht mit direkt vorhandenen Partnern zu tun haben. Sie demonstrieren Umgang mit etwas, das nicht in alltäglicher Weise sichtbar, greifbar, manipulierbar ist. Für Fremde scheint religiöses Handeln darum in der Regel unverständlich, verwirrlich, absurd - was dazu fuhrt, daß man in Prähistorie und Archäologie geneigt ist, Unverstandenes rasch als ,religiös' zu qualifizieren. Man ,sieht' eben nicht ohne weiteres, worum es in der Religion geht. Dies schließt eine allgemein menschliche Basis der Einfühlung, Deutung, Übersetzung keineswegs aus. Adel6tes ist kein hinreichendes und doch ein grundlegendes Kriterium des Religiösen. In der Innensicht religiöser Verkündigung allerdings wird diese ,Undeutlichkeit' gern bestritten. "Die Erkennbarkeit Gottes ist ihnen - den Heiden - offenbar", schrieb Paulus an die Römer; "denn Gott hat es ihnen offenbart. Denn das Unsichtbare an ihm wird von der Schöpfung der Welt her an seinen Werken im geistigen Erfassen ersehen."19 Mit dem Hinweis auf den ,Kosmos' und mit dem Begriff des ,geistigen Erfassens' folgt Paulus der griechischen Philosophie. Der Zugang bleibt auch so indirekt: Die ,Unsichtbarkeit' ist von vornherein zugestanden. Insofern bleibt es bei der adel6tes. Anderen freilich gelingt es auch, diese ins Positive zu wenden, indem man vom unaufhebbaren ,Geheimnis' spricht und damit die natürliche Neugier stimuliert!O
1. Sinnkonstruktion auf biologischer Spur
19
Ein üblicher Weg, der ,Undeutlichkeit' abzuhelfen, ist der Verweis auf besondere Arten der Erfahrung, vom ,Gefühl', das ,alles' sei, bis zu Formen veränderten Bewußtseins, Meditationen, Visionen, Trance und Ekstase. Niemand wird das Vorhandensein und die Wirkung dieser Phänomene bestreiten. Und doch: Religionsgeschichte ereignet sich nur, wenn diese Phänomene akzeptiert und in festgelegter Weise interpretiert werden, womit sie in der Regel in bereits bestehende religiöse Strukturen einbezogen und nach deren Kriterien geformt werden. Paulus, selbst ein Ekstatiker, war nicht bereit, jede Art spiritueller Botschaft anzuerkennen: "Prüfet die Geister!"21 Ein Mönch, der sich brüstete, er habe Christus mit einem Geleit von tausend fackeltragenden Engeln leibhaft gesehen, wurde von den Gemeindevätern ein Jahr lang in Ketten gelegt und so ,geheilt'.22 Was immer bei einzelnen Personen sich ereignet - keineswegs unabhängig von den biologischen Gehirnfunktionen und durchaus beeinflußbar durch die Chemie der Drogen -, die Breitenwirkung ist bestimmt durch die ,Religion als kulturelles Phänomen', die damit immer schon vorausgesetzt ist und regelnd eingreift. Wir haben es nicht mit dem Ursprung der Religion überhaupt zu tun. Ein zweites Charakteristikum der Religion tritt in seiner Weise der ,Undeutlichkeit' entgegen: Religion zeigt sich durch Interaktion und Kommunikation. Eben hierin liegt ihre Bedeutung für die Systeme einzelner Kulturen. Selbst der Eremit bleibt in Kommunikation eingebunden, insofern er bewundernde Beachtung findet, ja zum Zentrum wallfahrender Anhänger wird. Genauer besehen stellt religiöse Kommunikation stets eine Schnittstelle zweier Ebenen her: Der Umgang mit dem Unsichtbaren einerseits entsendet Signale in die konkrete gesellschaftliche Situation andererseits. In Handlungen und Einstellungen und insbesondere in aus geformten sprachlichen Gestaltungen 23 werden jene ,undeutlichen', nichtevidenten Partner eingeführt, anerkannt und umsorgt, werden von Menschen unterschieden und doch in vieler Hinsicht als analog genommen. Sie gelten als überlegen nicht zuletzt durch ihre Unsichtbarkeit; sie sind in kulturspezifischer Klassifizierung als Geister, Dämonen, Götter oder auch Ahnen benannt. Insofern kann man Religion als "kulturell geprägte Interaktion mit kulturell postulierten übermenschlichen Wesen" bezeichnen. 24 Doch wird die Kommunikation mit ihnen immer auch die normale gesellschaftliche Kommunikation beeinflussen, ja prägend mitgestalten und
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1. Sinnkonstruktion auf biologischer Spur
umgestalten. Insofern ist nicht selten eine besondere Art indirekter Kommunikation festzustellen: Das ,Übernatürliche' wird benützt, bestimmte durchaus' realistisch gemeinte Absichten kommunikativ durchzusetzen. Man könnte so weit gehen, das Göttliche als ,soziales Werkzeug' zu bezeichnen. 25 Jedenfalls sind es Interaktionen dieser Art, die der Religion ihren ,einzigartigen Realitätscharakter' sichern. Hierin ist bereits ein drittes Charakteristikum von Religion wirksam: der Anspruch auf Vorrang, eine besondere Art von ,Ernst'. Der Theologe Paul Tillich sprach von ,ultimate concern', eine Welt-Religionskonferenz von ,ultimate reality'. Hierin unterscheidet sich Religion in markanter Weise von anderen Formen symbolischer Kommunikation, vor allem vom Spiel und auch vom Umgang mit der Kunst. Auch im Spiel werden nicht-evidente, unsichtbare Wesen als Partner geschaffen oder auch vorhandene Partner in eine andere Wirklichkeit versetzt, so daß es in einer Welt des Als-Ob zu Interaktionen kommt; doch bleibt bewußt, daß ,Spiel' dem ,Ernst' entgegengesetzt ist; man kann ungehindert und in der Regel unverletzt aus dem Spiel wieder heraustreten. Anders die Religion, die mit dem Postulat des Vorrangs auftritt, der Notwendigkeit, der Gewißheit, daß dies zu dieser Zeit in dieser Form geschehen muß; andere Pläne, Wünsche und Vorlieben werden zurückgestellt. Die Spartaner brachen Feldzüge ab, um ein gerade faHiges Fest zu feiern; es gab Juden, die um der Sabbatruhe willen sogar auf Selbstverteidigung verzichteten. 26 In jenem Senatusconsultum, das die Bacchanalia in Italien durch hartes Verbot unterdrücken will, wird doch eine Ausnahmegenehrnigung vorgesehen rur einzelne Personen oder Gruppen, die erklären, daß es rur sie "notwendig sei, ein Bacchanal zu haben",27 Religion ist eine ,notwendige' und eine ernste Sache; Lächerlichkeit ist ihr Feind. 28 Das Unsichtbare fordert Verehrung, Furcht und Unterwerfung. Übernatürliche Macht nimmt auch reale Objekte und Bereiche in Besitz, die nun als ,heilig' oder ,tabu' zu respektieren sind. Religion kann sich als todernst im wörtlichsten Sinne erweisen: Es gibt Selbstopfer unter religiösem Panier, Heilige, die sich zu Tode hungern, aber auch lebende Bomben, ja Massen-Selbstmord. Nicht selten liefert Religion auch die höchste Rechtfertigung rur Gewalt, ja nackten Mord - Menschenopfer,29 Hexenverbrennungen, Religionskriege, oder auch die Jatwa eines Ayatollah. So manifestiert sich der Vorrang des Religiösen als absoluter Ernst in In-
I. Sil1l1kol1strnktiol1 auf biologischer Spur
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teraktion mit dem nicht verifizierbaren ,Höheren', das existenzbestimmend wird. Dies sind Charakteristika von Religion. Um zusammenzufassen: Religionen der Vergangenheit wie der Gegenwart erscheinen stets in kulturspezifischem Umfeld, geprägt von der jeweiligen Gesellschaft, ihrer Geschichte, ihrer Sprache; sie lassen sich in diesem Rahmen als symbolisches System, als kulturelles Phänomen in faszinierender Weise interpretieren. Doch Erklärung oder Ableitung von Religion im Rahmen einer geschlossenen Einzelkultur ist ausgeschlossen: Die allgemeine Verbreitung und das Alter religiöser Manifestationen sprengt den Rahmen. Eine Wissenschaft der Religion bedarf einer umfassenderen Perspektive jenseits der Einzelkulturen. Notwendigerweise kommt dabei der Gesamtprozeß menschlicher Evolution ins Spiel, der seinerseits vom Strom der Entwicklung von Leben überhaupt umfangen ist. Insofern darf man doch wohl von ,Natur' sprechen, die alle Kulturen umgreift. In diesem Sinn kommt Religionswissenschaft am Problem der ,natürlichen Theologie' noch immer nicht vorbei. Kulturwissenschaften stehen im Horizont allgemeiner Anthropologie, die ihr biologisches Fundament nicht verleugnen kann.
Fitness oder Opium? Die Fragestellung der Soziobiologie Die Geisteswissenschaften oder Kulturwissenschaften, wie man sie zutreffender nennen kann, einerseits und die Naturwissenschaften andererseits halten Distanz. Die Auseinandersetzung läuft seit mehr als hundert Jahren. Philosophen, Historiker und Soziologen haben angesichts des Triumphes der Naturwissenschaften ihre Verteidigungslinien aufgebaut; ein Schlagwort der Abwehr ist der Vorwurf des ,Biologismus' , des ,biologischen Reduktionismus' , sobald geistig-kulturelle Phänomene mit Biologie in Zusammenhang gebracht werden, als sollte Geistiges simplifizierend auf Materielles zurückgeführt werden. Jo Dabei ist modeme Biologie nicht einfacher, sondern eher weit komplexer als irgend eine Geisteswissenschaft. Die Fortschritte der Biologie halten an, insbesondere in der Molekularbiologie und der Genetik; auch das Studium der Primaten und ihres Verhaltens hat in den letzten Jahrzehnten ein unvor-
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hersehbares Niveau erreicht: Wie nahe zumal Schimpansen und Bonobos den Menschen stehen, hat sich über alle Erwartung hinaus ergeben. V orübergehend schien der große Erfolg von Konrad Lorenz und der von ihm vorangetriebenen Verhaltensforschung eine Brücke von der Natur- zur Kulturwissenschaft zu schlagen. Konrad Lorenz hat seine Ethologie ohne Zögern auch auf Menschliches angewandt. Wenig später wurde mit der inzwischen erreichten Verfeinerung der Evolutionstheorie die ,Soziobiologie' als ,neue Synthese' vorgestellt, die sich von den Insekten bis zur menschlichen Gesellschaft erstreckeY Doch hat dies die Spaltung der Lager nicht überwunden, im Gegenteil. Schon Konrad Lorenz' Vorstoß von der Tier- in die Menschenkunde hat heftige Abwehrreaktionen ausgelöst; die These von der Aggression, die Gutes stifte, scheint Gegenaggressionen auf den Plan zu rufenY Daß menschliche Werte von der Tier-Natur des Menschen hergeleitet werden sollten, daß menschliches Verhalten vom biologischen Erbe determiniert sei, wurde als geradezu gefährlich gebrandmarkt; insbesondere daß Aggression ein ererbtes und darum unausrottbares Verhaltensschema sein sollte, schien den Fortschritt der Zivilisation zu negieren und die Hoffuungen auf fortschreitende Humanisierung menschlicher Gesellschaft zunichte zu machen. Ähnlicher Widerstand hat sich später gegen die Thesen von E. O. Wilson gerichtet. 33 Freiheit und Selbstbestimmung gilt als Merkmal menschlicher Kultur. ,Biologismus' , biologischer ,Reduktionismus' , gar Wiederkehr des Sozialdarwinismus wird demgegenüber als rückständig gebrandmarkt. Die Politisierung der Fronten ist nicht ausgeblieben. Eine vorurteilslose Diskussion scheint bis heute kaum zu gelingen. Man stößt immer wieder auf längst bezogene Frontstellungen. Dabei hat die Naturwissenschaft den biologischen Rahmen jeglicher Anthropologie immer genauer entschlüsselt. Der Grundplan der höheren Lebewesen, einschließlich der Konstruktion des Gehirns und anderer Steuersysteme, ist längst vor der Menschwerdung entworfen. Es gibt von daher Handlungsprogramme, Abfolgen, auch Gefuhle, Erwartungen, Wertungen, ja Begriffe, die von jener Vorzeit herrühren - was nicht ausschließt, daß sie sich zumeist noch immer durchaus bewähren. Am offensichtlichsten dürfte dies im Bereich von Nahrungssuche sein, samt der Steue-
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rung von Geschmack und Geruch, in der Abstimmung von Angst, Flucht und Aggression, und gewiß besonders in der Sexualität. Selbst sprachliche Semantik hat ihre Vorgeschichte; sie aus reiner Logik abzuleiten, ist bekanntlich schwierig; wohl aber gibt es Auslösung und Inhalt gewisser Programme, die wichtige, lebenswichtige Aufgaben in bestimmten Situationen übernehmen. Was ,Leopard' oder ,Schlange' bedeutet, oder noch allgemeiner ,Alarm' mit der Alternative ,Kampf oder Flucht', dies ist längst vor der Erfindung der Wortsprache ausgedrückt und verstanden worden. Das Kücken ,kennt' den fliegenden Habicht vor jeder eigenen Erfahrung, der Hahn ,kennt' das Wiesel;34 eine Affenart hat spezifische Laute ftir ,Leopard', ,Adler' und ,Schlange'.35 Dabei ist überhaupt der Gebrauch von Zeichen im ganzen Bereich lebender Wesen eingefuhrt.3 6 Der Raum fur freie Erfindung war eng; Weiterentwicklung des Bestehenden war angezeigt. Darwins Evolutionstheorie hatte seinerzeit sogleich auch die Kulturtheorie in ihren Bann gezogen. Ein ,Sozialdarwinismus' wurde vorgestellt, der den ,Kampf ums Dasein' auch in historischsozialen Konflikten am Werke fand und auch hier ,survival of the fittest' konstatierte. Es schienen Gruppen zu sein, Gemeinschaften, die da konkurrierten und wenn möglich ihre Rivalen aus dem Felde schlugen; der Erfolg bestimmter Gruppen manifestiert sich in Gruppen-Selektion. Es lag nahe, alle gruppenspezifischen Verhaltensnormen, Bräuche, Institutionen als Werkzeuge im Kampf der Auslese aufzufassen, einschließlich von Moral und Religion. Die Fixierung auf den ,Kampf' der kollektiven Selbsterhaltung spiegelt die imperialistische Ideologie jener Zeit; sie hat seither an Attraktivität verloren, was nichts fur ihren Realitätsgehalt besagt. Eine sozialdarwinistische Erklärung der Religion hat damals Otto Gruppe formuliert: "Menschen, die sich - gutgläubig oder aus Betrug - den Anschein zu geben wissen, in dem Besitz einer übernatürlichen Kraft zu sein, haben davon einen großen und leicht erkennbaren Vorteil, denn sie üben auf die Gesellschaft, in der sie leben, eine gewisse Macht aus; sie geben ihr aber zugleich durch ihr vermeintliches Können und dadurch, daß sie das Zustandekommen eines Gesellschaftswillens erleichtern, einen zwar nicht so leicht erkennbaren, aber doch nicht minder realen Vorsprung im Kampf ums Dasein mit anderen Gesellschaftsgruppen. "37 Religion macht Gruppen fit ftirs Überleben im Kampf ums Dasem.
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Positivere Aspekte gewann Konrad Lorenz solchem ,Kämpfen' ab. In seinem Erfolgsbuch Das sogenannte Böse von 1963 gelang es ihm zu zeigen, wie das ,böse', aggressive Verhalten immer wieder, auf verschiedenen Stufen, lebenserhaltend wirkt,38 So beschrieb er vor allem auch Verhaltensweisen, die Aggressionen stoppen und Kämpfe beenden können oder helfen, diese zu vermeiden; er stellte zudem dar, wie persönliche Bindungen, Freundschaft, Zusammenarbeit recht eigentlich durch gemeinsame Aggression, insbesondere symbolische Aggression zustande kommen. Konrad Lorenz hatte eine einzigartige Gabe, Tiere zu ,verstehen', ihre Signale zu entschlüsseln und in einen lebendigen Zusammenhang einzuordnen; er zeigte Analogien, ja Homologien und Kontinuitäten auf zwischen tierischem und menschlichem Verhalten. Im Anschluß an Konrad Lorenz schien es möglich, auch religiöses Verhalten gerade in seinen schwer verständlichen Aspekten von ,Opfer' und Blutvergießen als eine Art der Bindung zu begreifen, die feste und ernsteste Gemeinschaft schafft. 39 Die Soziobiologie könnte als die Computerversion des Sozialdarwinismus bezeichnet werden. Während noch Lorenz im wesentlichen von direkten Beobachtungen und von seiner Einfühlung ausging, hat die Einftihrung von Computermodellen im Rahmen allgemeiner Spieltheorie entscheidende Fortschritte der Evolutionstheorie gebracht. Dabei hat sich insbesondere der Gedanke der ,Arterhaltung' und der ,Gruppenselektion' im Sinn des alten Sozialdarwinismus aufgelöst: Es sind die Gene, nicht die phänotypischen Verhaltensweisen der Individuen, die sich fortpflanzen; nicht Solidarität, sondern Täuschung wird sich in vielen Konfrontationen auszahlen: der Betrüger, der keinen Einsatz leistet, wird eben durch diese Art von ,fitness' die Chance haben, seine Gene vielfältig weiterzugeben. ,The Selfish Gene' ist das Schlagwort der neuen Betrachtungsweise. 4° Die Soziobiologie nimmt die "gemeinsame Evolution von Genen und Kultur" in den Blick und konstatiert ihre andauernde gegenseitige Wechselwirkung. Kultur, die dem Leben so viel mehr sichere Chancen bietet, wirkt zugleich als Auslesefaktor. Kulturelle Regeln, in bestimmten Institutionen verankert, begründen eine neue Art von ,Fitness'. Wer sich ihnen am besten anpassen kann, hat zugleich die besten Chancen, sich fortzupflanzen; eben dadurch perpetuieren sich die Regeln. Kultureller Erfolg schlägt sich nieder als Fortpflanzungserfolg. "Cultural success consists in ac-
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complishing those things which make biological success (that is, a hig inclusive fitness) probable. "4 1 Die weniger gut Angepaßten bleiben auf der Strecke, sie werden an Zahl abnehmen, am Ende ganz verschwinden. In dieser Weise sollte die Entwicklung der Kultur und die Modifikation der Gene Hand in Hand gehen. Umgekehrt baut sich von den veränderten Genen aus sozusagen ein neues Geleise auf, das das Verhalten in eine bestimmte Richtung lenkt. Die eigentlichen theoretisch-technischen Probleme der Evolutionstheorie im allgemeinen und der Soziobiologie im besonderen können hier nicht aufgerollt werden. Sie beginnen schon bei der Definition von ,fitness'.42 Spieltheoretische Modelle arbeiten in der Regel mit vielen Wiederholungen der gleichen Regel oder Wahrscheinlichkeitsgröße, wodurch kleine Unterschiede schließlich zu ausschlaggebenden Gegensätzen werden können. Es gibt aber auch plötzliche Veränderungen entgegen allen durchschnittlichen Wahrscheinlichkeiten, es gibt Katastrophen und ,Fulgurationen' .43 Vor allem ist es fast hoffuungslos, die Verbindung von genetischer Ausstattung und kulturellem Verhalten nachzuweisen. Selbst einfachste Lebensvorgänge beruhen auf dem Zusammenspiel vieler verschiedener Gene, und mannigfache Umwelteinflüsse und soziale Einwirkungen kommen dazu, den Phänotyp zu bestimmen. Das Verhalten ist bei allen Primaten bereits überaus komplex, wobei ererbte und erlernte Verhaltensprogramme ständig ineinanderfließen. 44 Bei Tieren kann man noch versuchen, das eine vom andem durch Experiment zu trennen; Experimente verbieten sich in der Regel auf der Ebene des Menschen. Die Soziobiologie hat gewisse Erfolge in der Interpretation von Heirats- und Sexualregeln zu verzeichnen, die sie auf die Wahrscheinlichkeiten genetischer Verwandtschaft bezieht; wo die Fortpflanzung direkt betroffen ist, kommen die ,selbstsüchtigen Gene' am ersten zu Wort. Sinkt etwa bei sehr freizügigem Sexualverhalten der Frau die Wahrscheinlichkeit, den biologischen Vater festzustellen, wird der wahrscheinliche Verwandtschafts grad des Mutterbruders den des gesetzlichen Vaters übertreffen, was die Rolle eben des Mutterbruders in gewissen ,matriarchalen' Gesellschaften erklären kann. Eine sehr beunruhigende Studie zeigt, wie in einer primitiven Stammesgesellschaft männliche Aggressivität herange. züchtet werden kann: Es ließ sich zeigen, daß diejenigen Männer, die bekanntermaßen einen Menschen getötet hatten, mehr Frauen
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und Kinder hatten als die friedfertigen Stammesglieder. 45 Man kann daran weitere Überlegungen knüpfen: Wenn jede Generation mindestens einen Krieg hat - wofür es historische Belege gibt -, und wenn dabei diejenigen, die nicht mitmachen, die NichtAggressiven, von den Kampfwilligen konsequent umgebracht werden - und für solche Praxis gibt es genug Belege in 4000 Jahren Geschichte -, dann muß dies Folgen haben für den maskulinen Teil der Population; und auch die daran angepaßten Frauen werden den größeren Fortpflanzungserfolg haben. Es fragt sich freilich, ob Regeln dieser Art jemals wirklich lange genug in Kraft gewesen sind, um in der Abfolge der Generationen wirklich die Auslese der Gene merklich zu beeinflussen. Wieviele Generationen mindestens wären zu postulieren?46 An die Unveränderlichkeit von ,Primitivkultur' über Jahrhunderte, ja Jahrtausende hin, wie man sie früher gern annahm, glaubt die Ethnologie längst nicht mehr. Zudem scheint in menschlicher Gesellschaft die Koppelung von sozialem Erfolg und Fortpflanzungserfolg nicht selten gelockert, ja ins Gegenteil verkehrt zu sein. Gewiß, bei den Benachteiligten, bei den Armen wird die Kindersterblichkeit größer sein. Doch gibt es andererseits genügend Beispiele gerade in den Hochkulturen, wie die durch Macht und Besitz ausgezeichneten Eliten nach bewußten Regeln ihrer speziellen ,Kultur' im Gegensatz zur Unterschicht ihre Kinderzahl zu begrenzen wissen weshalb es denn auch immer wieder zum Aufsteigen von Unterschichten samt den historischen Umstürzen und Ablösungen kommt. Offenbar gibt es in differenzierten Gesellschaften recht verschiedene Kriterien des ,Erfolgs'; Modelle, die sich eindimensional an der Multiplikation der Gene orientieren, müssen da scheitern. Religion sei "die größte Herausforderung für die Soziobiologie," schrieb E. O. Wilson. 47 In der Tat, wenn man überhaupt Überlegungen der Evolution akzeptiert, kommt man angesichts des universalen und uralten Phänomens Religion um die soziobiologische Fragestellung nicht herum. Drei Feststellungen sind dabei zu treffen: - Religion muß sich im Rahmen der menschlichen Evolution, im Prozeß der ,Hominisierung' einmal entwickelt haben - Schimpansen und Bonobos, die doch über 98% der Gene mit uns teilen, haben offenbar keine Religion, wie auch keine Sprache und keine Kunst. 48 Dabei stehen rür die soziobiologische Erklärung der Re-
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ligion fast beliebig lange Zeiträume zur Verfügung, mindestens 1000 Generationen,49 während man bei anderen kulturellen Erscheinungen die Erklärungsansätze der Soziobiologie oft schon durch den Hinweis auf die Kurzlebigkeit solcher Erscheinungen aus dem Feld schlagen kann. In jenen Zeiträumen hat sich etwas entwickelt, das, so eigentümlich es ist, alle menschlichen Kulturen affiziert hat. - Im universalen Phänomen Religion wie in der Hominisierung überhaupt manifestiert sich die Geschichte eines Erfolgs: Es ist im Sinn der Evolutionstheorie ausgeschlossen, daß sich Eigenheiten entwickeln, die für die Spezies nachteilig sind. 50 - Es sind im Bereich Religion sehr starke, oft lebensbestimmende Gefühle am Werk, die der rationalen Analyse und Diskussion sich zu entziehen scheinen. Starke, spontane Gefühle beruhen, nach biologischer These, stets auf einer letztlich biologischen FunktionY "Erinnerungen, die sich am leichtesten einstellen, Emotionen, die sie mit größter Wahrscheinlichkeit hervorrufen" nehmen auch Lumsden und Wilson als Hinweis auf biologischgenetische Grundlagen. 52 So sprechen wir vom ,heiligen Schauer' der Begeisterung, den wir in der Hochgestimmtheit des Außerordentlichen empfinden, beim patriotischen Siegesfest und bei Militärparaden ebenso wie beim Höhepunkt religiöser Zeremonien. Die biologische Grundlage des Phänomens hat Konrad Lorenz analysiert: Was uns ,über den Rücken' und noch die Arme entlang ,läuft', sind Nervenerregungen, die eigentlich bestimmt waren, die Rückenmähne zu sträuben, über die unsere haarigen Vorfahren verfügten. 53 Das Aufrichten der Haare, als Umriß-Vergrößerung, gehört zum aggressiven Programm. Für uns ist das ,Haarsträubende' fast nur noch als Metapher lebendig. Das entsprechende griechische Wort, phrike, wird immerhin gern zur Beschreibung religiösen Erlebens verwendet.5 4 Was als ,erhaben', als ,Enthusiasmus' erlebt wird und gilt, erweist sich so als biologisch-genetisch verwurzelt, eine in früheren Stadien funktionelle Verhaltensweise zwischen Angst und Aggression, die sich in fortgeschrittener Zivilisation noch immer als ,Gefühl' manifestiert. Dies freilich ist nur ein Element in einem weit komplexeren System. Was allerdings den behaupteten ,Erfolg' von Religion anlangt, . werden Zweifel und Widerspruch laut werden: Die besondere ,Fitness' der Religion ist gar nicht einfach einzusehen. 55 Daß reli-
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glOses Verhalten Überlebensvorteile, Fortpflanzungsvorteile mit sich bringt, wie sie die Soziobiologie sucht, scheint durchaus problematisch. Es gibt vielmehr die explizite Verneinung von ,Fitness' der Religion, sowohl aus der Innensicht und der Praxis gewisser Religionen wie auch aus polemischer Außensicht. Von innen her gibt es die Programme des Weltverzichts, von außen her den Vorwurf des Drogengebrauchs: Religion sei "Opium fürs VOlk".5 6 Dies hieße, daß Religion, einer Droge vergleichbar,57 von den eigentlichen Problemen ablenkt, in phantastischer, unrealistischer, gar schädlicher Weise Wünsche erfUllt, das Glück der Illusion schenkt um den Preis des normalerweise erstrebten Erfolges. Der Konsument der Droge bleibt umso mehr der Manipulation durch die anderen ausgeliefert, die nüchternen Realisten, die die Welt regieren. Selbst dies würde die biologische Perspektive noch nicht außer Kraft setzen; auch Dysfunktionelles kann sich in der Evolution zumindest vorübergehend durchaus verbreiten, zumal wenn es positive Funktion fur andere hat. Interessanter ist jedoch die Entdeckung, daß das Gehirn von sich aus drogen-ähnliche Stoffe produziert, Endorphine, die vor allem in kritischen Situationen die Schmerzwahrnehmung blockieren können. Dies ist funktionell, ist unmittelbar hilfreich zum Durchhalten - und in dieser Fähigkeit übertrifft der Mensch ganz ohne Zweifel alle anderen Lebewesen. Sogenanntes Opium kann gerade als Illusion zum Überlebensfaktor werden. Sollte also die eigentliche ,Fitness' der Religion gerade hier zu finden sein, als Chance, wahrhaft hoffnungslose Katastrophen zu überwinden? Die Überlebenden der Katastrophe sind die davon geprägten Träger der Religion, wie der bekannteste, weit verbreitete Katastrophenmythos festhält, die Sintfluterzählung: Als fester Grund wieder gewonnen ist, wird das Opfer begründet. 58 Im Vordergrund aber muß doch das alltäglich-realistische Wirken von Religionen bleiben. Und eben da scheint ihre ,Fitness' problematisch. Fast alle Religionen proklamieren Verzicht, viele den radikalen Verzicht, den Verzicht auf Erfolg, oder jedenfalls auf die üblichen Güter der Welt. Dies gilt nicht nur furs Christentum, sondern besonders fur den Buddhismus. Das Christentum preist seit seinen Anfängen den Altruismus bis zur Selbstaufopferung, ja das Martyrium; auch an islamischen Märtyrern fehlt es nicht. Auch sonst gibt es Beispiele von selbstzerstörerischem religiösem Ver-
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halten: Heilige, die ihr physisches Leben zerstören, ja Sektengruppen, die im Massen-Selbstmord enden. Und doch, Märtyrertum bringt einen unerhörten PropagandaEffekt. Das Wort Propaganda selbst, das man mit ,FortpflanzungsRegel' übersetzen könnte, hat einen verräterisch biologischen Gehalt. "Das Blut der Märtyrer ist der Same der Kirche"59 - eine fast schon überdeutliche Metapher. "Das Weizenkorn, das erstirbt, bringt die viele Frucht"60 - wieder das Modell der Biologie. Wenn, nach berühmter Formulierung, ,einer für viele' stirbt, ist dies, quantitativ betrachtet, ein klarer Erfolg. ,Selbstaufopferung' wird auf primitiven Lebensstufen durchaus geübt. Allerlei Spinnen- und Insektenmännchen gehen bei der Kopulation zugrunde, Arbeitsbienen arbeiten sich buchstäblich zu Tode zugunsten des Fortbestands der Gemeinschaft, oder vielmehr der in Königinnen und ,Schwestern' enthaltenen Gene. Selbstaufopferung zugunsten der genetischen Verwandten kann, wie sich auch mathematisch zeigen läßt, durchaus im Interesse der ,selbstsüchtigen Gene' liegen; Hamilton hat hierfür den Begriff der ,Gesamtfitness' geprägt. 61 Sodann: Wenn Religionen, oder jedenfalls die Kerngruppen bestimmter Religionen, aus dem ,Überlebenskampf auszusteigen scheinen und sich mit einem absoluten Minimum an Gütern begnügen, so kann das Vermeiden des Verteilungskampfes mit all seinen Risiken eine gute Strategie des Überlebens sein und eine sehr dauerhafte Nischen-Existenz begründen. Das Leben des Asketen beseitigt den Neid der Mitmenschen, ja löst etwas wie einen Fütterungs-Effekt aus. Obendrein profitiert die Gesamtgesellschaft. Wenn etwa gar das Prinzip gilt, daß die Alten nach Abschluß des aktiven Lebens Asketen werden sollten, wie dies in Indien teilweise der Fall ist, dann ist das eine sehr günstige Lösung des Altersproblems. Nun fällt aber gerade aus der Sicht der alten Religionen zweierlei auf: Wir finden fast durchweg die Bindung der Religion an die reale politisch-militärisch-wirtschaftliche Macht, und betont wird immer wieder die Sorge für den Fortbestand der Familie. Es ist die Religion der Mächtigen, die uns für den Hauptteil der Religionsgeschichte vor Augen steht. Hauptakteure alter Religionen sind die Könige und die sonstige Obrigkeit. Die Chance der Bindung an die Staatsrnacht wurde auch vom Christentum bald genug ergriffen, und es hat diese Allianz zumindest in Europa bis heute mcht ganz aufgegeben. Uns ist schmerzlich bewußt, daß das
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christliche Europa eine welterobernde Macht gewesen ist, daß Usurpatoren und Könige wie Konstantin, Chlodwig, Kar! der Große seine Grenzen abgesteckt haben. Erst recht beansprucht der Islam, Gesetz, soziale Ordnung und Staat unter das Gebot Allahs zu stellen, und verankert so die eigene Existenz und Expansion an höchster Stelle. Doch gerade auch vor und außerhalb von Christentum und Islam war man mit der Macht nicht zimperlich. Polybios meinte bei seiner Analyse der römischen Herrschaft, es sei die Religion oder eigentlich der Aberglaube, der in Rom "alles zusammenhalte", denn mit dem unendlichen Ritualismus hielten die Mächtigen die Masse bei der Stange, mittels ,Götterfurcht'. Noch ungenierter schreibt ein assyrischer König, seine Statthalter sollten die Untergebenen "die Furcht der Götter und des Königs" lehren. 62 Der ägyptische Pharao spielt seine zentrale Rolle als Inkarnation des Gottes Horos; auch der Kaiser von China war ein Sohn des Himmels. Erfolgreiche Religionen haben ihre Macht auch gerne benützt, rivalisierende Religionen und dissidente Gruppen gewaltsam zu unterdrücken. Christentum und Islam sind zu Weltreligionen geworden, indem sie die älteren Formen des ,Heidentums' systematisch ausgerottet haben, und sie sind nicht bereit, Atheismus zu tolerieren. Herrschende Religionen bieten ihren Anhängern offenbare Vorteile und machen ihren Gegnern das Leben schwer. Sie nehmen Einfluß vor allem auch auf die Erziehung und entwickeln dadurch eine soziale Dynamik, die durchaus Auslesefunktion annimmt: Nur der sich Anpassende wird akzeptiert, der Unangepaßte fillt aus, wird ausgestoßen. Für ein in seiner Persönlichkeit nicht-religiöses, gegen Religion rebellierendes Kind dürfte dann ganz buchstäblich keine Lebenschance bleiben; Gottfried Keller hat dies in der Erzählung vom Meretlein, dem ,Hexenkind' , dargestellt. 63 Das religiöse Kommunikationssystem mit seinem Ernstanspruch fordert und belohnt die Anpassung und disqualifiziert Abweichler. So ließe sich die Ausbreitung von Religion als ein soziobiologischer Feldzug darstellen, der über die Auslese zur Ausmerzung der ,anderen' fuhren mußte. Dabei widmen viele Religionen der durchaus diesseitigen, realen Fortpflanzung besondere Aufmerksamkeit. Man hat beobachtet, wie eine christliche Sekte, die optimale Bedingungen fur Kinderreichtum schafft, die Hutterer in Kanada, sich in je 20 Jahren
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verdoppeln und so im Lauf von IOO Jahren um den Faktor 40 anwachsen konnte. 64 Bis heute ist die römisch-katholische Kirche mit dem Islam einig in der starren Opposition gegen Geburtenkontrolle. Sind es die ,selbstsüchtigen Gene', die durch die Gebote von Moses und Allah am Werke sind? Der Sonderweg der Juden hatte zur Folge, daß sie allein unter vielen verschleppten Völkerschaften die Katastrophe der ,Babylonischen Gefangenschaft' ohne Identitätsverlust überstanden; dabei kam zu dem unbedingten Assirnilationsverbot, das auch Mischehen ausschloß, auch zugleich das strikte Verbot all jener Institutionen, die bei allen anderen der längst als notwendig erkannten Geburtenkontrolle dienten, Kinderaussetzung, Prostitution und Homosexualität. Die Religion der Juden beinhaltet insofern ein soziobialogisches Programm. Seit dem Hellenismus gab es eine jüdische Bevölkerungsexplosion, die zur Ausbreitung über den Mittelmeerraum und weiter nach Osten fiihrte. Indem die Christen die jüdischen Moralgebote übernahmen, war auch ihr überproportionales Wachstum in der spätantiken Gesellschaft programmiert. Man hat 1918 den Staat Libanon mit einer christlichen Mehrheit geschaffen; die unterschiedliche religiöse Moral fiihrte dann dazu, daß die islamische Bevölkerung binnen zweier Generationen zur Mehrheit wurde. Die daraus folgende Katastrophe hat ihr Ende noch nicht erreicht. ,Sozialdarwinismus' ist heute verpönt; doch daß es sozialdarwinistische Effekte auch in der Religionsgeschichte gegeben hat, ist damit nicht ausgeschlossen. Und doch besagt all dies noch nicht, daß solche historischbiologischen Prozesse und Konflikte ein Spiel der Gene sind. Eine gegenseitige Beeinflussung von Religion und Genen nachzuweisen scheint eher hoffuungslos. Die religiöse Gemeinschaft der Juden lebt nach ihren Regeln seit etwa 2500 Jahren; doch jüdische Gene sind nicht nachgewiesen. Die römisch-katholische Kirche besteht seit bald 2000 Jahren mit einer Elite, die ausdrücklich auf die biologische Fortpflanzung verzichtet und der biologischen Verwandtschaft, dem ,Nepotismus', allenfalls eine untergeordnete Rolle beläßt. Was umso mehr bewußt vorangetrieben wird, ist die religiöse Erziehung mit den Chancen des Aufstiegs aus der Unterschicht zur Priester-Elite. Umgekehrt gibt es eine in mehrere Religionen integrierte Institution, die sich ausdrücklich mit der Sexualität befaßt, die seit Jahrtausenden praktiziert wird und doch auf die Genbahn nicht die
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geringste Wirkung ausübt: die Beschneidung. Sie beeinflußt die Lebens- und Fortpflanzungschancen nicht mehr als die Entscheidung, Schweinefleisch zu essen oder zu meiden. 6s Beides charakterisiert die Zugehörigkeit zum Judentum oder auch zum Islam,66 das eine in unwiderruflich-geheimer, das andere eher in alltäglichauffälliger Weise. Weder mit dem einen noch mit dem anderen wirkt Religion auf genetischem Niveau. Als Gegenprobe mag eine Reflexion auf Sexualität überhaupt am Platze sein. Sexualität ist ein menschliches Phänomen, bei dem der biologische Hintergrund und die biologische Funktion ganz außer Frage stehen. Zwar ist es im Geist der Postmoderne üblich geworden, auch Sexualität vor allem in ihrer kulturellen Prägung zu studieren, ja als kulturelle ,Erfindung' zu deklarieren;67 doch die Variationen in Praxis und Beurteilung sind eher geringfügig angesichts der weltweit überwältigenden Einheitlichkeit. Überall und zu allen Zeiten werden menschliche Wesen in der Phase der Pubertät eine vita nuova an sich selbst erfahren, neue Gefühle, neue Verhaltensweisen, oft selbstentdeckt, oft vorübergehend als persönliches Geheimnis gehütet, und doch fast immer einmündend in das ,natürliche', allgemein übliche Verhalten. Die kulturellpädagogischen Bemühungen, Sexualität zu unterdrücken oder entscheidend zu modifizieren, scheitern zumeist in flagranter Weise. Das biologische Programm entwickelt sich nach genetischer Vorgabe, wenn auch zuweilen mit Aufbaufehlern, ein Programm, das über die Menschwerdung unendlich weit zurückreicht. Daß die Biologie hier das Verhalten steuert, ist nicht im Ernst zu bestreiten. Daß Religion in ähnlicher Weise spontan zustande kommt und zur Äußerung drängt, ist nie gezeigt worden. Der Schluß drängt sich auf: Es gibt keine ,religiösen Gene'. Ein komplexes Ineinander von Natur und Kultur läßt sich an einem anderen universale der Anthropologie illustrieren: dem Inzesttabu. Hier handelt es sich um ein kulturell-soziales Gebot, das unmittelbar die biologische Fortpflanzung betrifft, das nicht selten auch in religiöse Dimensionen hineinragt, indem es im Mythos problematisiert und von religiöser Autorität bekräftigt wird. Daß das Inzesttabu als universale in praktisch allen menschlichen Gesellschaften gilt, ist seit langem bemerkt worden. Man nahm es als Merkmal der Kultur, und Claude Levi-Strauss entwickelte aus dem Frauentausch ein Modell für Austausch überhaupt, ja rür binäre Logik. 68 Da war es überraschend, als Biologen mehr und mehr
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Belege fur Inzestvermeidung bei allen höheren Tieren fanden. 69 Der Auslese-Vorteil der Regel ist klar; Inzucht ist bedenklich. Umso vertrackter wird die Frage, wie die Empfehlung der Genetik je ins menschliche Bewußtsein treten konnte, wo sie als spontanes Geruhl einerseits, als explizit formuliertes Gebot andererseits auftritt. Haben sich unter zufillig gewählten Regeln diejenigen, denen der Zuchterfolg folgte, durchgesetzt? Doch der Effekt wird erst in längerer Generationenfolge manifest und liegt damit jenseits des individuellen Erfahrungshorizontes. N orbert Bischof hat dem ,Rätsel Oedipus' eine eindringliche Untersuchung gewidmet;70 am Ende bleibt vor allem eine Metapher: Soziale Verhaltensregeln, die sich bewähren, müssen "in die Landschaft passen". Religion ist ein Phänomen höchster sozialer Relevanz, gewiß auf biologischer Grundlage - darauf weisen die interkulturelle und diachrone Familienähnlichkeit und eine Palette von starken ,religiösen Gefuhlen' - und doch schwer in seinen Funktionen festzumachen, zumal es stets in kultureller Ausprägung erscheint. In diesem Zusammenhang empfehlen sich Überlegungen zum wichtigsten universale der Anthropologie, zur Sprache: Kein Zweifel, Sprache wird innerhalb der je besonderen Kultur erlernt, von frühester Kindheit an, mit einer dem Lebenskreis angepaßten Semantik und jener spezifischen Phonologie und Rhythmik, die später Lernenden so große Schwierigkeiten bereitet. Dabei ist Sprache in eine ununterbrochene Traditionskette eingebunden: So sehr sich Einzelsprachen im Lauf der Zeit ändern, auseinanderentwickeln, überlagern können, so ist doch Sprache als solche niemals neu erfunden worden;7 1 alle Sprachen dürften auf einen gemeinsamen Ursprung zurückgehen, der freilich mindestens 40000 Jahre zurückliegt und darum nicht rekonstruierbar ist.7 2 Sprache ist spezifisch menschlich, auch wenn Schimpansen und Bonobos im Umgang mit Menschen erstaunlich weit in Sprachverständnis und Sprachgebrauch vorankommen.7 3 Unbestreitbar ist aber auch, daß Sprache ihre genetischen Grundlagen hat, daß hier Unterschiede zu den nächstverwandten Primaten bestehen; sie betreffen im physiologischen Bereich den ganzen Apparat der Lauterzeugung, Kehlkopf, Stimmbänder, Gaumen und Zunge. Unbestreitbar ist nicht minder die Auslesefunktion, die Sprache in menschlicher Gesellschaft längst angenommen hat: Ein Kind, das nicht sprechen lernt, gilt als Idiot und fillt aus, früher in weit härterer Form als
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heutzutage. Hier also haben sich evidentermaßen der Fortschritt der Kultur und die Selektion der Gene gegenseitig beeinflußt - ein Musterfall der soziobiologischen These. Sprache ist und bleibt ein kulturelles Phänomen, das doch genetische Veränderungen mitbestimmt hat und jetzt von der veränderten genetischen Basis getragen wird; jedes Kind fängt an zu lallen und muß doch Sprache von neuem erlernen. Die glatte Antithese von ,Natur' und ,Kultur' verwandelt sich hier in eine sehr viel kompliziertere Verfugung. Die postulierte soziobiologische Entwicklung strotzt trotzdem von Problemen und ist nicht historisch festzumachen. Es ist unklar, wann und wie im Rahmen der Evolution Sprache entstanden ist, auf welchen Stationen über homo habilis, homo erectus, homo sapiens. Es gibt die These, noch der Neandertaler sei zu artikulierter Sprache der menschlichen Art nicht fähig gewesen. Jedenfalls scheint eine kulturelle Revolution vor etwa 40000 Jahren erfolgt zu sein, ein ,großer Sprung nach vorn'; dies äußert sich nicht nur in neuer Technologie, sondern besonders in einer neuen Art von Zeichengebung, die eine besondere Art darstellenden Denkens voraussetzt. 74 Es geht dabei auch, aber nicht nur um die Geburt der Bildkunst, im Kontext allgemeinerer Formen von Markierungen, die Klassifizierungen, Kategorisierungen andeuten. Das gab es vorher nicht in dieser Weise. Man kann Kunst als ein Verfahren bezeichnen, Wahrnehmungsobjekte zu ,etwas Besonderem' zu machen, in eine gewisse Spannung zu setzen zum Alltäglich-Vertrauten und damit neue Aspekte ftir eine gemeinsame Vorstellungswelt zu schaffen.7 5 Daß menschliche Sprache damals mit alle dem Hand in Hand ging, ist vernünftigerweise nicht zu bezweifeln. Dabei hat sich herausgestellt, daß der ,moderne' Mensch, homo sapiens sapiens, in jener entscheidenden Epoche nicht, wie früher angenommen, neu aufgetreten ist; er hat offenbar zuvor schon Zehntausende von Jahren in Koexistenz mit dem Neandertaler gelebt. 76 Aber eben damals, vor etwa 40000 Jahren, zur Zeit der ,semiologischen Revolution', ist der Neandertaler in einem relativ kurzen Zeitraum ausgestorben. Die Annahme liegt nahe, daß dies einem besonderen Mangel an ,kultureller Fitness' zuzuschreiben ist, einer Unfähigkeit, die kulturelle Revolution der Zeichengebung mitzumachen. War es die Sprachunfähigkeit, die ihn zurückfallen ließ?77 Weil damals keine neue Art aufgetreten ist, hat man fonnuliert, "daß die Biologie die damals erfolgte kulturelle Revolution nicht erklären kann" .78 Die soziobiologische Überlegung wird trotzdem hier ein-
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haken: Nicht der Fortschritt, nicht die ,Erfindung' ist biologisch erklärbar, wohl aber die Rückwirkung auf diejenigen, die nicht mithalten konnten. Eine Veränderung, eine Erfindung kann einer vorhandenen Differenzierung eine neue Dimension geben. Denkbar ist, daß eine biologisch-genetische Besonderheit den Neandertaler hinderte, ein neuartiges kulturell erlernbares Verhalten mitzumachen, und daß er darum ausschied. Insofern wird in diesem Fall die Soziobiologie gerade hier auf dem einzigartigen Überlebens-Vorteil der neuen Kulturstufe ftir homo sapiens sapiens bestehen: Er präsentiert sich seither als homo loquens, als homo artifex und eben auch als homo religiosus. Der Triumph der Theorie freilich ist zugleich ihr Fall: All dies liegt so weit zurück in der Prähistorie, daß detaillierte Verifikation so gut wie ausgeschlossen bleibt. Religion zeigt sich immer mit Sprache verbunden; man kann annehmen, daß sie an dem durch Sprache gebotenen Selektionsvorteil partizipiert oder diesen sogar mitbegründet hat. Und doch ist zu beachten, daß zu Religion immer auch eine andere Form von ,Sprache' gehört, die älter sein kann als die artikulierte Sprache, zumal es an Analogien im Bereich der anderen Tiere nicht fehlt: Dies ist das Ritual, im Sinn fester Verhaltensprogramme, die sich durch Wiederholung und Übertreibung auszeichnen und weniger pragmatische als kommunikative Funktionen haben. 79 Rituale können vom Ernstcharakter geprägt sein, und sie spielen in dieser Form auch in den modernen Varianten von Religion eine hervorragende Rolle. Rituale lassen sich ohne Wortsprache durch Nachahmung erlernen, sie lassen sich in ihrer Anwendungssituation verstehen und so auch von neuem einsetzen. Nun hinterlassen Rituale nur selten archäologisch faßbare Spuren. Immerhin sind Begräbnisriten bei Neandertalern nachgewiesen;Bo was immer an ,Vorstellungen' damit verbunden war, ein geregeltes symbolisierendes Verhalten liegt hier vor. Wir können uns ohne weiteres eine reichere Palette von vorsprachlichen Ritualen unter den frühen Hominiden vorstellen,Bl Jagdtänze und Kriegertänze, Tänze der Geschlechterbegegnung, die sich noch heute gelegentlich als Balzverhalten charakterisieren lassen, vielleicht auch ,Verehrung' unsichtbarer Wesen so gut wie die Ehrung von Toten. Man könnte in dieser Weise einen Komplex vorsprachlicher Prä-Religion entwerfen, der in gewissem Maße noch in unseren entwickelten Religionen bewahrt ist, und all dies könnte, vor und dann mit der Wortsprache, die ,Fitness' des modernen Menschen in gegenseiti-
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ger Zusammenarbeit und damit auch in der Beherrschung der Umwelt und im Fortpflanzungserfolg entscheidend vorangetrieben haben -leider bleibt es fast ganz bei der Vermutung, jenseits möglicher Verifikation. Die Chancen einer soziobiologischen Herleitung der Religion liegen, wie sich nicht unerwartet, doch mit bestürzender Deutlichkeit ergibt, im Dunkel der Vorgeschichte. Es ist einleuchtend, Religion gleich der Sprache und der Kunst als eine Art Hybrid sehr alter biologischer und innovativer kultureller Traditionen zu verstehen. Jene langen Zeiträume über Tausende von Generationen sind hier gegeben, die bei anderen kulturellen Institutionen problematisch bleiben; Dimensionen von ,Fitness' lassen sich konstruieren. Und doch, insofern die Möglichkeiten der Verifikation fehlen, verliert eine Hypothese ihren Sinn. Gerade insofern Soziobiologie auf präzisen Parametern mathematischer Modelle besteht, kann sie in der Prähistorie nicht befriedigend eingesetzt werden. Wir verharren bei allgemeinen Wahrscheinlichkeiten und mehr oder minder gelungenen Apen;:us. Es bleibt die Metapher der ,Landschaft'. Eine Landschaft ist von weit zurückliegenden geologischen Ereignissen geformt; sie bestimmt, in welcher Weise das Wasser Flußläufe und Seen bildet, sie beeinflußt das Wetter. Kunstbauten können ihr angepaßt oder auch zuwider sein. Wie die Landschaft ihren Einfluß auf einen Architekten ausüben kann, ist die Frage. 82 Wenn denn ,natürliche Religion' in die allgemeine Geschichte der Evolution hineingehört, so hat sie sich jedenfalls nicht im leeren Raum entwickelt, sondern in einer biologischen Landschaft, die längst für das Leben und vom Leben her gestaltet war. Starke Gefühle, Vorlieben und Ängste dürften diese Landschaft reflektieren. Dann ist sie es, die dem Verhalten und den Gefühlen ihre Stabilität gibt. Um eine andere, modernere Metapher zu gebrauchen: Kultur, wie sie vor allem sprachlich in Lehr- und Lernprozessen weitergegeben wird, ist gleichsam die ,Software' der Menschheit; sie läßt sich beliebig kopieren und leicht transportieren, trotz ihrer Komplexität; diese beruht ihrerseits auf einer langen ,Entwicklung' und Ausarbeitung, die kaum ein zweites Mal unternommen wird. Die Frage ist, inwiefern die ,Software' willkürlich gewählt und verändert werden kann oder doch an Festlegungen der ersten Programme gebunden bleibt, Wirkungen der ersten Herstellung, die der ursprünglichen Konstruktion der ,hardware' entsprochen hat.
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Dies heißt nicht, daß Gene die besondere Art menschlicher Kultur vorschreiben; evidentermaßen ist dies nicht der Fall. Doch bestimmte Empfehlungen sind vorhanden, in GefUhlen und wiederholten Erinnerungen, die immer wieder zu ähnlichen kulturellen Phänomenen fUhren. Man kann auch formulieren, daß der biologische Hintergrund als ,Attraktor' wirkt, der im scheinbar Zufälligen bestimmte Formen in sich wiederholender Weise begünstigt. Die vielgliedrige Kette von den Genen über den Phänotyp zum kulturellen Verhalten wird sich wohl, selbst wenn es zur engeren Zusammenarbeit von Natur- und Kulturwissenschaftlern kommt, weder statistisch noch experimentell im Detail aufklären lassen. 83 Was der Kulturwissenschaftler seinerseits leisten kann, ist der Aufweis von sich wiederholenden oder beständigen, nahezu universellen Verhaltensformen, zu denen insbesondere auch religiöses Verhalten gehört. Des weiteren wird sich immer wieder zeigen lassen, daß gerade zu diesen Formen Analogien in tierischem Verhalten bestehen. Dies läßt vermuten, daß die eigentliche ,Erfindung' im Rahmen der Biologie zu sehen ist. Mit anderen Worten, gewisse Einzelheiten und Sequenzen in Ritualen, in Erzählungen und Phantasien sind Widerhall von ursprünglicheren Prozessen in der Entwicklung des Lebens. Um sie zu verstehen, sollte man sie weder isolieren noch in speziellen kulturellen Kontext setzen, sondern nach dem umfassenderen Zusammenhang fragen, in dem sie sich entwickelt haben. Das Problem der Soziobiologie in Bezug auf Sprache, Kunst und Religion wird weithin offen bleiben. Man sollte dabei bedenken, daß es sich nicht um eindimensionale Prozesse handelt, so daß auch die Antwort nicht in einer einzigen Formel zu finden ist. Eine Vielzahl von Faktoren muß in der Evolution zur Wirkung gekommen sein, vielerlei Funktionen bestehen noch heute nebeneinander und lassen sich verschieben, vermehren und weiterentwickeln. Doch bleibt eine ,natürliche' Landschaft, von der sich selbst der Postmoderne nicht emanzipieren kann.
Die gemeinsame Welt: Reduktion und Validierung Religion als ,Hybrid' von Natur und Kultur verlangt den Zugang auch von der anderen, der kulturellen Seite her; daß dies auf vorkulturelle Bedingungen zurückfUhrt, sei als These vorangestellt.
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Als das entscheidende Merkmal des Menschen, als dlfferentia specifica der Menschen-Definition, wurde schon in der Antike die Sprache erfaßt: Der Mensch ist das ,sprachliche Lebewesen', zoon logikon. 84 Wir können, auf den Spuren des Aristoteles, in der Evolution lebender Wesen einen fortschreitenden Erfolg in der Beschaffung und Bearbeitung von Informationen über die Umwelt feststellen. 85 Mit der Entwicklung eines Nervensystems stiegen die Chancen des Lernens, insofern das Individuum Informationen aus eigener Erfahrung speichern und sein Verhalten dementsprechend ändern kann. So gebildete ,software' bleibt freilich an die ,hardware', an den einzelnen Organismus gebunden und geht mit ihm zugrunde. Nur die Gene können Information, die sich der Anpassung dienlich erwies, weitertragen. Um die Abkapselung des Individuums zwischen Entstehung und Tod aufzubrechen, bestehen immerhin gewisse Möglichkeiten der Kommunikation, des Weitergebens von Information an andere, die davon lernen. Man kann von Ansätzen zu einer ,kulturellen Tradition' sprechen, die freilich, bei allem Abstand von der Amöbe bis zum Primaten, doch selbst bei Schimpansen rudimentär bleibt. Hier hat erst die Sprache den unerhörten Fortschritt gebracht: Von nun an wird Information nicht nur individuell erworben, bearbeitet und gespeichert, sondern nahezu vollständig auf andere übertragbar. ,Parallelverarbeitung' steigert die Leistung des Systems. Dabei übernimmt die sprachliche Interaktion, gewissermaßen parallel zu Wahrnehmungsnerven und motorischen Nerven, die doppelte Aufgabe von Feststellung und Befehl. So werden einerseits die Quellen der Information vergesellschaftet, andererseits greifen die Ergebnisse komplexer Verarbeitung auf die anderen über. Im gegenseitigen Austausch werden die Informationen und Programme immer neu kopiert und erweitert, so daß sie von individueller ,hardware' unabhängig werden. Der Tod des Individuums ist bedeutungslos fur die kulturelle Tradition; die Totenehrung bekräftigt, was ,tradiert' worden ist. Neben die potentielle Unsterblichkeit der Gene tritt die Unvergänglichkeit des ,Paideuma'. Was damit ins Dasein tritt, ist die gemeinsame geistige Welt, die jeder Kultur eigen ist. Sie ermöglicht nicht nur gemeinsames Handeln und gemeinsames Fühlen, wozu Gruppen von Lebewesen auch zuvor schon in gewissem Maße imstande waren, sondern gemeinsame Gedanken, Ziele, Begriffe und Werte. Alle Menschen sind durch diese ,Erfindung' an eine ununterbrochene Kette der
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Tradition gebunden; sie übernehmen die geistige Welt ihrer Eltern, bearbeiten sie neu und geben sie an andere, besonders Jüngere weiter. Wer von dieser Kette gelöst ist, riskiert übergangen zu werden. Religion als Form von Interaktion und Kommunikation gehört zur kulturell-sprachlich bestimmten geistigen Welt; kraft ihres Ernstcharakters beansprucht sie sogar eine bestimmende Rolle. Das Problem der ,natürlichen' Religion stellt sich damit in neuer Weise: Wie und warum ist es dazu gekommen, daß in dieser gemeinsamen Welt, die von der Sprachtradition geformt ist, Provinzen jenseits normaler Erfahrung existieren, die sich anmaßen, auf Kommunikation und Verhalten bestimmenden Einfluß zu nehmen? Ist dies ein Nebenprodukt, ein Hall-Effekt, ein mißbräuchlicher Opium-Effekt, oder umgekehrt eine apriori-Bedingung für eine gemeinsame Weh? Alt ist der Verdacht, Religion sei vorwiegend Täuschung, trickreiche Vorspiegelung des nicht Beweisbaren durch diejenigen, die davon profitieren. Täuschung und ,Lüge' gibt es im Bereich der Lebewesen längst vor dem Auftreten des Menschen. 86 Umso größer sind die Chancen dafür mit der Erfindung der Sprache geworden. Informationen lassen sich verbergen, verschweigen, aber auch verdrehen und verfälschen. Im Bereich des nicht Nachprüfbaren scheinen die Möglichkeiten dazu ins Ungemessene zu wachsen. Man hat sogar bei einigen Affenarten beobachtet, wie ein einzelner, gestört durch einen Eindringling, angestrengt in eine Ecke starrt und Alarmrufe ausstößt, als wollte er sagen: ,dort in der Ecke ist ein Gespenst'. 87 So läßt der andere sich ablenken; eine direkte Auseinandersetzung wird vermieden. Sollte der Entwurf von Religion ein ähnlicher Trick der Ablenkung sein? Doch selbst bei Affen wird ein solcher Trick sich sehr rasch abnutzen; daraus wird kein Bestandteil einer dauerhaften Erfahrungswelt. Priestertrug ist möglich, wo Religion existiert; doch kann er nicht aus eigener Kraft Religion erschaffen. Wesentlicher ist wohl die Überlegung, daß in die sprachlich geformte gemeinsame Welt das Ungeprüfte, Über-Empirische mit Notwendigkeit eintritt und sich akkumuliert. Die gemeinsame Welt wird in der Interaktion vieler verschiedener Individuen aufgebaut und ständig umgebaut. Übertragen werden sprachliche Zeichen, deren ,Referenz' zu bestimmen bleibt; oft wird sie durch den Kontext, durch vorangehendes Wissen, durch Zusatzinforma-
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tionen oder auch erst durch nachträgliche Erfahrung festgelegt. So können Zeichen auch vorläufig unbestimmbar bleiben, geheimnisvolle Wörter und Namen, die auf spätere Verdeutlichung warten. Lernen, vor allem kindliches Lernen läuft der Erfahrung weit voraus; diese mag im Lauf eines Lebens schließlich eintreten, sie kann aber auch ganz ausbleiben. Die Sprache bezeichnet mit selbstverständlicher Leichtigkeit, was weit entfernt ist, was vergangen ist oder noch in der Zukunft liegt. 88 Sie schafft damit beständig Gegenstände jenseits des Verifizierbaren. Träume, Phantasien, bewußte Erdichtung gewinnen ihren Platz in der geistigen Welt, evidente Bereicherungen mit durchaus wichtigen Funktionen, indem sie gestatten, Auseinandersetzungen und Probleme gleichsam im Leerlauf durchzuspielen, Lösung und Bewältigung vorzubereiten und zu erleichtern. Man kann über alles dies sprechen: So bilden sich im Prozeß der Kommunikation notwendigerweise Provinzen einer gemeinsamen Welt jenseits direkter Erfahrung aus. Niemand hat den Phönix gesehen, doch alle wissen von ihm. 89 Übrigens können gerade Mißverständnisse ein faszinierendes Eigenleben als geheimnisvolle Namen entwickeln; im Bereich von Religion und Mythologie kommt dies gar nicht selten vor. 90 Eine besondere Rolle kann dabei den real existierenden Ritualen zufallen, jenen stereotypen Verhaltensweisen, die vom direktpragmatischen Bezug losgelöst sind: Sie scheinen auf überempirische Partner zu verweisen. 9I Dazu kommt die darstellende Kunst, die parallel zur Sprache seit dem Jungpaläolithikum auftritt. Vom Künsder geschaffene Bilder können Allbekanntes wiedergeben, Bisons, Pferde und Mammuts; aber es gibt auch früh schon Bilder, denen kein direkt erfahrbarer Gegenstand zugeordnet ist; dem Fremden bleibt die Bedeutung rätselhaft, die doch in sprachlicher Tradition sich problemlos angeben läßt. Wir alle haben Bilder von Engeln, von Drachen, vom Phönix gesehen und daher die entsprechenden Begriffe und Vorstellungen. Für Frühgeschichtliches bleiben die Interpretationen kontrovers, etwa beim ,Zauberer' der Höhle von Trois Fn~res:92 Schamane oder Gott? Ähnliche Unsicherheit gilt auch bei den korpulenten Frauenstatuetten der Vorzeit: eine Große Göttin?93 Hinweise liegen vor, die über das Erfahrbare hinausfUhren, auch wenn wir die geistige Welt der Paläolithiker nicht in deren Sprache rekonstruieren können. Wenn denn jene überempirischen Provinzen in der gemeinsamen Welt ihren Platz behaupten, so muß doch zugleich ein ande-
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rer, gegensätzlicher Prozeß in Funktion treten: Die geistige Welt muß reduziert, muß vereinfacht sein. Die bloße Akkumulation von Daten, die in die persönliche Erfahrung einströmen und durch Lernen festzuhalten sind, würde rasch jedes Speichersystem überfluten und sprengen. Eine mitteilbare, tradierbare geistige Welt muß darum drastisch kondensiert sein. In der Tat arbeitet schon die Sprache stets in dieser Weise, indem sie Vielfältiges unter ein Wort stellt und so vereinheitlicht; dazu kommt die Metapher, die durch zusätzliche Anwendungsmöglichkeiten das Zeichensystem in Grenzen hält. Doch auch die logischen Funktionen überhaupt schaffen Ordnung durch Reduktion, mit Negation, Klassenbildung, Analogie. Hier kommt die Rolle der Religion von neuem ins Spiel. Niklas Luhmann hat in seinem Buch Die Funktion der Religion als eigentliche Leistung, durch die ein System in seiner Umwelt Sinn herstellt, die ,Reduktion von Komplexität' herausgearbeitet. 94 Dies leiste insbesondere die Religion, indem sie Orientierung in einem sinnvollen Kosmos bietet, während unbegrenzter Komplexität nur Hilflosigkeit gegenüberstehen kann. Manche Religionen gehen radikaler als andere vor in solcher Reduktion. Ein dualistisches System etwa, das sozusagen zwei Behältnisse fur jedes erfahrbare Phänomen bereitstellt, liefert eine Vereinfachung der Realität, die manchem als hilfreich erscheint. Doch auch die Konstruktion von Hierarchien und der Entwurf von Kausalbeziehungen reduziert Komplexität. Erst recht scheint es nicht zufällig, daß spekulative Theologie immer wieder auf allgemeinste und zugleich einfachste Begriffe zielt: Die eine Ursache, das Sein überhaupt, das Eine. 95 Man kann weitere Gedankengänge entwickeln, wonach Religion ,gut zu denken' ist. 96 Die Einftihrung eines überempirischen x scheint die unstimmigen Gleichungen des Lebens lösbar oder zumindest akzeptabel zu machen. Herrschaft erscheint weniger drükkend, wenn der Herrscher seinerseits seinem Gott sich unterstellt. 97 Die ungerechte Verteilung der Lebensgüter und Ressourcen kann durch ein transzendentes Gaben-System ausgeglichen werden. 98 Leidvolle Erfahrung scheint erträglicher, wenn die bohrende Frage des ,Warum' eine letzte, wenn auch unüberprüfbare Antwort findet. Das Transzendente unterbricht die geschlossene Kette des ,wirklichen' Geschehens, die keinen Ausbruch, keine Hoffnung zuzulassen scheint - was zugleich heißt, daß das Religiöse, Göttli-
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che immer einen Charakter des nicht Integrierten, des ,Anderen' trägt und auch insofern einem System von Kultur nicht restlos eingebunden sein kann. Wenn Götter oder der eine Gott als ,unsterblich' und zeitlos, als Schöpfer von Weh und Menschen, als Ziel menschlicher Bestimmung gilt, sind Grundkategorien des Denkens überhaupt in die Prädikate des Göttlichen eingegangen, Sein, Kausalität, Teleologie. Solche apriori-Kategorien bedürfen allerdings nicht notwendigerweise einer Verankerung in einer Metaphysik, jenseits von Physik und Biologie. Die ,evolutionäre Erkenntnistheorie' hat die Bedingungen des Denkens ihrerseits an die biologische Evolution zurückgebunden: Sie haben sich entwickelt durch ihren Erfolg im Umgang mit der ,objektiven' Weh. 99 Daß sie jenseits der Erfahrung sich ungehemmt entfalten, ist kaum verwunderlich. Dabei schafft insbesondere der geistige Kunstgriff des Selbstbezugs unendliche Reihen, über alle Empirie hinaus. In manchen Sprachen vermag der Superlativ dies auszudrücken: Gott ist der Stärkste, der Höchste, der Erste und der Letzte. Aufgabe ist, das unerreichbare Extrem zu denken, und damit das ,Absolute'. Doch bei all solchen Überlegungen über die Voraussetzungen und Funktionen religiöser Begriffe in einer geistigen Weh bleibt die Frage, was die besondere Energie, den ,Ernst' des Religiösen ausmacht. "How to validate the existence of a purely imaginary world?" - so hat Richard Gordon einmal diese Frage formuliert. 100 Der Trick vom ,Gespenst in der Ecke' erschöpft sich schnell. Mißtrauen gegen das, was andere einem erzählen, ist allgegenwärtig und sicher alt. Es gibt das Vergessen, das immer neuen ,Stoffen' Platz macht, es gibt bewußtes Verbergen und IrrefUhren. So hat denn jedes Individuum schließlich seine sehr persönliche Auswahl an Stücken, die ihre oder seine ,geistige Welt' konstituieren. W 0her kommt die Autorität, die mit dem Wichtigen zugleich das Gemeinsame konstituiert? Sind die Möglichkeiten der Mythen, Legenden, Märchen unbegrenzt? Doch Götter sind nicht eine ,Chimäre' neben anderen Fabelwesen. IOI . Woher kommen die Ansprüche, die Forderungen, die Drohungen der Religion? Braucht die Sprache, als ein System der Zeichengebung, von sich aus einen letzten Zeichensetzer, einen absoluten signator, der Sinn und Bedeutung garantiert?l02 Oder sind außersprachliche Vorgaben und Prozesse am Werk?
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Was in der Religion bewußt vorangetrieben wird, ist prägende Erziehung. Denn daran besteht kein Zweifel: Religionen werden von Kind auf gelernt, sie werden durch Mitmachen von Ritualen und zugleich durch ausdrücklich veranstaltete Lernprozesse weitergegeben. Die Familientradition spielt dabei häufig eine entscheidende Rolle, doch gibt es auch vielfältige individuelle Motive, diese oder jene Wahl zu treffen; es gibt Trends, ja Moden. Die Frage bleibt, was die Verfestigung zum absoluten Ernst des Religiösen vorantreibt. Geht man vom Zustandekommen individueller Religion in einem Lernprozeß aus, stellen sich drei Möglichkeiten zur Wahl, die "einzigartig realistische" Wirkung religiöser Botschaften zu erklären. Daß diese akzeptiert, dauerhaft verinnerlicht und als vorrangig anerkannt werden, kann an der Besonderheit der Botschaft liegen, oder an einer einzigartigen Weise der Vermittlung oder aber an einer besonderen Organisation des Empfängers selbst. All diese Möglichkeiten sind ebenso diskussionswürdig wie kontrovers; sie schließen einander keineswegs aus. Eine raffiniert moderne These sucht die Faktoren der Stabilität in der Botschaft selbst; dies ist der Zugriff des Strukturalismus: 1oJ Gewisse Entsprechungen, Proportionen, Gleichungen auf dem Niveau der Bedeutungen sollen sich gegenseitig erhellen, präzisieren und dadurch festmachen; so arbeite die je besondere Tradition einer kulturellen Gemeinschaft, einschließlich ihrer Rituale und Mythologien. Man könnte metaphorisch von ,Resonanzen' sprechen, die in der Botschaft enthalten sind und sich gegenseitig verstärken. Dies kann insbesondere auch von den Ritualen gelten, die mit der religiösen Botschaft einhergehen: Sie nehmen den einzelnen in eine Welle der Resonanz hinein. Ist Religion überhaupt eine Form mental-kommunikativer Resonanz, Selbstverstärkung affektiver Rhythmen in einem kulturellen System, die darin, ob funktional oder nicht, entstehen und sich erhalten, um integraler Bestandteil einer ,Kultur' zu werden? Es käme dann freilich darauf an, über die Metapher hinauszugelangen zu einer präziseren Beschreibung dessen, was da vorgeht. 104 Von der Biologie her bietet sich eher das Modell der ,Prägung' an. ,Prägung' freilich ist ein sehr spezielles, begrenztes Phänomen, an ganz bestimmte Situationen und Entwicklungsphasen gebunden; mit anderen Worten, es gehört ganz zur ,Landschaft' einer festgelegten Spezies. Konrad Lorenz' Muster war das frisch ge-
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schlüpfte Entenkücken, das das nächste Lebewesen, mit dem es Kontakt aufnimmt, als seine ,Mutter' annimmt; dies ist dann unveränderlich festgelegt. Zweifellos erfahrt auch das menschliche Gehirn seine Festlegungen gerade in den frühen Phasen. Auf die Rolle der frühen Kindheitserfahrungen ftir die Entwicklung der Persönlichkeit ist man seit langem aufinerksam geworden; nicht nur späteres Sexualverhalten wird so ,geprägt', auch sprachlich-rhythmische Kompetenz, auch politische Einstellungen,105 und gewiß auch religiöse Neigungen. Doch verläßliche Automatismen nach Art der Prägung eines Entenkückens haben sich bislang nicht finden lassen; daß gerade religiöse Erziehung in drastischer Weise mißlingen kann, ist aus vielen Biographien bekannt. Sucht man nach der besonderen Organisation des Empfangers religiöser Botschaften, so ist es doch wohl allzu einfach, ein religiöses Urwissen oder religiöse Urbilder innerhalb der menschlichen Seele zu postulieren. So hat earl Gustav Jung ,Archetypen' als Prädispositionen, bestimmte religiös-mythologische Vorstellungen zu bilden, angesetzt; zu allgemeiner Geltung ist diese Hypothese nicht gelangt. Man käme mit ihr zu einem Äquivalent der ,angeborenen Auslöse-Mechanismen', /06 wobei ganz bestimmte Verhaltensweisen durch Schlüsselreize ausgelöst werden, unabhängig von vorangehender individueller Erfahrung. Auch hier ist, was Religion anlangt, Verifizierung kaum vorstellbar. Kein Zweifel besteht jedenfalls an der Übertragung von Religion durch Lernprozesse. Man könnte sogar versuchsweise Religion als ein autogenes, sich selbst regenerierendes, seit unendlich langer Zeit fortgeftihrtes Traditions- und Erziehungssystem betrachten, das von Generation zu Generation Menschen so formt oder verformt, daß sie ihre Formung oder Verformung weitergeben. Daß beim kulturellen Lernen die Autorität der Eltern eine zentrale Rolle spielt, ist evident. Alle höheren Lebewesen lernen von den älteren; eine Besonderheit der menschlichen Gesellschaft ist die persönliche Rolle des Vaters, die zu einem besonders wichtigen, wenn auch konfliktträchtigen Element vieler kulturellen Traditionen geworden ist. Daß Religionen meist explizit und nachdrücklich Rang und Ehrung der Eltern betonen, ist Tatsache; daß Gott als Über-Vater, Götter als Über-Eltern, einschließlich einer ,Großen Mutter' dargestellt und erlebt werden, ist uns längst geläufig geworden. Tatsache ist aber auch, daß Eltern in der Religion
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eine starke Stütze ihrer eigenen Autorität finden. Schon Platon hat beschrieben, wie Kinder es erleben, daß ihre Eltern im Vollzug religiösen Handelns ftir sie und fur sich selbst mit größtem Ernst sich mühen, mit Göttern sprechen und sie anflehen - wer könnte da zum Atheisten werden?107 Religion wird durch Autorität und Autorität durch Religion begründet, in einem sich selbst verstärkenden Wechselprozeß. 108 Dabei geht Sprache in der Regel mit Ritualen zusammen; beide verstärken sich gegenseitig I09 und bilden geistige Strukturen aus, die dann auch das Alltagsleben mitbestimmen. Auffillig ist dabei einerseits die Rolle der rituellen Wiederholung, andererseits die Angsterregung in mehr oder weniger drastischen Formen. Wiederholung ist eine Grundform von Lernen überhaupt; sie ist ein definitorisches Element von Ritual. Kultur beruht auf dem kollektiven Gedächtnis,IIO das durch fortlaufende Aktionen lebendig erhalten wird, indem die Jungen in die Bräuche der Alten eingeftihrt oder geradezu hineingeformt werden. Achtet man, mit Durkheim,' I I auf ,kollektive Darstellungen', so werden eben diese durch regelmäßig wiederholte Zeremonien eingeprägt. Dazu gehören insbesondere jene Erscheinungsformen der Religion, die sich in einem Festkalender darstellen. Man tut, was immer schon so getan worden ist, und nimmt im Vollzug auch verbalisierte Lehre auf, Mythen, Geschichtslegenden. Besonders eindrucksvoll wirken Tänze und Gesänge, indem rhythmische Wiederholung und Vereinheitlichung des Klangs zum großen kollektiven Erlebnis werden. Nun gibt es jedoch eine besondere Art des ,Lernens', die fast unauslöschlich ist, die wie ,mit einem Schlag' erfolgt, auch ohne Wiederholung: Sie erfolgt in der Schrecksituation. Jeder einzelne wird ,unvergeßliche' Erinnerungen dieser Art mit sich herumtragen, Erinnerungen meist schmerzlicher, peinlicher Art. Neurologen haben festgestellt, daß es spezielle Nervenleitungen und eine spezielle Verarbeitung von ,Angst-Lernen' gibt, ein ,AngstGedächtnis';112 Verhalten, das daraus resultiert, kann anderen als ,Aberglaube' oder als Neurose erscheinen. 113 Terror entwickelt keine intellektuellen Fertigkeiten, aber er hinterläßt Spuren. Durch Mißhandlung ,Lehren' zu erteilen, wurde und wird in mancherlei Zivilisationen bedenkenlos praktiziert. Man kann an bizarre Initiationsbräuche denken;1I 4 in europäschen Dorfgruppen kam es vor, daß den Jungen die Lage der Grenzsteine des Gemeindeterritori-
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ums durch Prügel am Ort eingeprägt wurde.[[5 Eine drastische Methode, unvergeßliche und unverbrüchliche Gemeinschaft zu begründen, besteht darin, jedes Mitglied in ein gemeinsames Verbrechen hineinzuziehen;1l6 Triumph der Aggression maskiert die Angst, die dennoch prägend wirkt, während zugleich das schlechte Gewissen rationale Zwänge schafft. Eine besondere Gelegenheit, Angst zu erregen und zu manipulieren, bietet sich ferner im Umgang mit Blut - womit der Sonderbereich der Religion und ihrer Opfer-Rituale wiederum erreicht ist. Kein Zweifel: Religiöse Botschaften sind häufig angsterregend. Dies schlägt sich nieder im Wesen von Religion überhaupt. Religion vermitteln heißt auch Ängste übertragen. "Angst war das erste auf der Welt, was Götter geschaffen hat", primus in orbe deos feeit timor, formulierte Statius aus der Distanz antiker ,Aufklärung' heraus 1l7 und traf damit doch einen Kernpunkt im Selbstverständnis vieler alter Religionen. Der zentrale Begriff, der im Akkadischen mit Göttern und Religion einhergeht, ist ,Furcht', puluhtu. Ein Assyrerkönig, so arrogant er sich gibt, stellt sich doch zugleich vor als den, "der die Furcht der Götter und Göttinnen von Himmel und Erde gründlich kennt".1l8 Man weiß: "Furcht vor Göttern schafft Freundlichkeit. "[ [9 Der vielzitierte Anfang von Salomons Weisheits sprüchen lautet - unter Verwendung der gleichen semitischen Wortwurzel -: "Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang. "[20 Der entspechende griechische Ausdruck, ,gottesftirchtig,' theoudes, ist positives Merkmal der Moralität bei Homer. "Göttliches ist Gegenstand der Furcht ftir kluge Sterbliche ... ", heißt es in der griechischen Tragödie. "Vor mir sollt ihr Angst haben", spricht schlicht Allah. 12 [ Ein weiteres Wort, das im Griechischen regelmäßig mit religiösen Riten verbunden wird, ist phrike, der ,haarsträubende' Schauder. Ein moderner Ansatz suchte eine besondere Art von Furcht, englisch awe, als Grunderlebnis der Religion zu fassen. 122 Rudolf Otto hat den eindrucksvollen neulateinischen Ausdruck vom mysterium tremendum eingeftihrt:[2 3 Die Schauer der Ehrfurcht kennzeichnen Religion. Mittel der ,unvergeßlichen' Übertragung, Angst und Terror, werden zum Charakteristikum jener ,religiösen Provinzen' in der gemeinsamen geistigen Welt: Der Vorrang des Heiligen beruht auf ,Gottesfurcht'. Heißt dies, daß jede beliebige Botschaft durch entsprechenden Terror eingeprägt werden kann? Daß jedes Dogma glaubhaft wird,
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wenn nur dem Ketzer der Feuertod droht? Zu bedenken ist, daß Angst und Schrecken ihrerseits, so gut wie Autoritätsbewußtsein und Glücksgefuhle, nicht von der Religion erfunden werden. Es handelt sich um grundlegende biologische Funktionen, die allerdings von der Religion eingesetzt werden, adaptive Funktionen, in lebenden Organismen entwickelt. Der Vorrang 'des ,Ernsten' bedeutet, daß eine Hierarchie der Verhaltensweisen besteht, daß bestimmte Programme im Kollisionsfall die anderen verdrängen. '24 Alarmsignale bewirken, daß entspannte Ruhe, Herumspielen oder auch Essen unterbrochen wird, meist auch sexuelle Aktivität; man springt auf, schärft Auge und Ohr: Tief verankerte Programme mit der lebenswichtigen Alternative ,Flucht oder Angriff' sind im Begriff sich zu aktivieren. Höchste Priorität betrifft das Leben selbst, was auch in tiefsten Geftihlserregungen zum Ausdruck kommt. Höchster Ernst beruht auf der Drohung des Todes. Damit,ergibt sich: Der Ernstcharakter der Religion rührt davon her, daß es nicht um beliebige wohlstrukturierte Botschaften geht, sondern daß an das zentrale Risiko des Lebens und Überlebens gerührt wird. In der Kommunikation mit dem Überempirischen und mittels des Überempirischen entfaltet sich Religion als eine Strategie des Lebens auf dem Hintergrund des Todes. So steht der Entwurf des Höchsten, Absoluten noch immer und nun gerade innerhalb der biologischen Landschaft. Hierzu eine Beobachtung und Überlegung, die ich Norbert Bischof verdanke: Bei aller Intelligenz von Schimpansen und Bonobos, die eine Art Sprachfahigkeit durchaus einschließt, scheint ihnen eines völlig zu fehlen: Das Bewußtsein einer Dimension der Zeit, der Vergangenheit und Zukunft. Daß der Mensch die Zukunft planen kann, ist ein ungeheurer Fortschritt - er hätte ohne die Fähigkeit, Vorräte anzulegen, nie außerhalb Afrikas überleben können -. Aber mit diesem Fortschritt der Erkenntnis geht die Erkenntnis der Katastrophe zusammen: Der Mensch erkennt den Tod, er erkennt den eigenen Tod als unausweichlich. Das ist ein Problem, mit dem wir nicht besser zurecht kommen als unsere Vorfahren vor Tausenden von Jahren. Die Kulturen haben rituelle Formen entwickelt, wie man mit dem Tod der anderen umgehen kann und muß, und diese Formen haben mit Religion zu tun; ob sie sogar der eigentliche Kern der religiösen Tradition sind, steht dahin. Wenn man den Tod nicht akzeptieren kann, muß man ihn negieren. Die religiösen Rituale tun dies seit je in doppelter Wei-
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se: Man handelt, als wären die Toten nicht tot, sondern Partner in fortgesetzter Kommunikation - alle Formen der Totenehrung, der Totenopfer zeigen dies; und man spricht davon, daß es tod-lose Partner gibt, unsterbliche, die man gemeinhin Götter oder Gott nennt, und gibt der Kommunikation mit diesen jenen Vorrang des ,Ernsten', der Religion charakterisiert. Todesängste akkumulieren sich, insofern in der geistigen Welt das Feme und das Nahe, das Vergangene und das Zukünfige gleichermaßen präsent sind. Wir sehen auf Bildern aus Wildreservaten die Herden von Gnus und Zebras in der Gegenwart von Löwen grasen, die bald einmal Beute schlagen werden; doch nur im Augenblick direkter Gefahr sucht das angegriffene Tier zu fliehen; die anderen verharren in scheinbarem Gleichmut - was bleibt ihnen sonst? Menschen, die ihre Umwelt zu kontrollieren suchen, Erfahrungen festhalten und die Zukunft planen, werden lauernde Löwen nicht vergessen. Sie können ihrerseits angreifen und durch Vernichtung des Bedrohenden eine befriedete Lebenswelt schaffen; Grund genug dafür, daß viele urtümliche.Kulturen die Symbole des Tötens so hochhalten. I25 Die Befriedung der Erde durch Vernichtung I26 wird freilich nicht vollständig gelingen, zumal wenn es zum gegenseitigen Zusammenstoß der zivilisatorischen Vernichter kommt. Der Tod bleibt sichtbar auf der Lauer. Depression und Verzweiflung jedoch sind tödlich. Die gemeinsame geistige Welt braucht Optimismus, ,Glauben', oder wenigstens so etwas wie Opium. Liegt hier schließlich und endlich der Erfolg der Religion, in der Notwendigkeit gemeinsamer fiktiver Welten, indem Angst durch eine höhere Furcht bewältigt wird, indem eine Hierarchie vom Absoluten her zustandekommt? "Furcht vor Zeus ist die höchste Furcht", formuliert Aischylos,' 27 und Christen können in ihrer Weise ihm voll zustimmen: "Die Furcht vor Gott vertreibt die Furcht vor Menschen", schreibt Hieronymus. 128 So wird die Wirklichkeit entlastet, während in den real vollzogenen Ritualen der Umgang mit Tod und Töten demonstrativ vollzogen wird: Religion konzentriert sich immer wieder auf Totenrituale und auf Opferrituale. '29 Denn worum es geht, ist ,Leben'. So tönt es, wie man längst gesehen hat, in überwältigendem Einklang aus mannigfaltigsten Zeugnissen der Religionen. 'JO "Gib uns Leben, Leben, Leben!" singt man in einem afrikanischen Erntelied.'J' Ahura, Gottesname und Kemwort der Religion Zarathustras, doch auch vor ihm
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schon religiös gebraucht, heißt ,Lebensherr' . Ägyptische Götter halten das Zeichen Ankh, ,Leben', in ihrer Hand. Die Griechen haben im Namen des höchsten Gottes Zeus immer wieder die Wurzel Zen, ,Leben', gefunden. ,Gott der Lebendige' ist ein zentraler Begriff des Alten und mehr noch des Neuen Testaments.!3 2 "Ich lebe, und ihr sollt auch leben", ist die abschließende Botschaft Jesu.!33 Götter schützen das Leben, Götter garantieren Leben, wie freilich auch ihr Zorn Leben zerstören kann. Der biologische Imperativ des Überlebens wird im Code der Religion internalisiert und verabsolutiert. Leben besteht in Selbst-Replikation und Selbstregulierung, als ,Homöostatisches System'. Darum sind Götter, als mächtige Regulatoren, die Garanten beständiger Ordnung. Leben bedarf der Abschirmung, um sich zu entfalten, es bildet Zellen, Kapseln, Häute, um Inneres und Äußeres zu trennen. Das religiöse Weltbild konstituiert zumeist ein religiöses Zentrum, wo der Kontakt mit dem Göttlichen etabliert ist, mit einem engeren Kreis der von hier aus aufrecht erhaltenen Ordnung, während ringsum im weiteren Kreise chaotische oder diabolische Mächte lauem. Ins Unendliche verlängert, wird ,Leben' zum Postulat der Unsterblichkeit. Unsterblichkeit und Ewiges Leben sind die wirkungsvollsten Ideen in der Verheißung vieler Religionen.!34 Selbstaufopferung geschieht dann um des ewigen Lebens willen. Dabei setzt die Negation des Todes eben die Tatsache des Todes voraus: Die religiöse Idee erhebt sich immer noch aus der biologischen Landschaft. Der Ernst des Religiösen, den wir tief erftihlen können, widerspiegelt gleichsam die harten Felsen, die Gefahren und Beschränkungen dieser Landschaft und folgt doch der Provokation des Lebens. Die im Wort gestaltete geistige Welt sucht sich darüber zu erheben - und bleibt doch an diese gebunden, insofern sie von sterblichen Personen entworfen und getragen ist. Extremisten mögen versuchen, sich aus alledem herauszusprengen; sie verschwinden damit, sofern sie nicht doch schließlich zurückfallen in den alten Fluß.
II. Das Opfer des Verfolgten
Fingeropfer Ein Reisender erzählt, wie er vor Jahren in Afrika während einer Bootsfahrt in einen Stunn geriet: Da begann einer der Passagiere, ein hochgestellter Mann in seinem Heimatland, Dollarnoten in die aufgewühlten Wellen zu werfen. I Wir schütteln den Kopf über solch irrationales Verhalten, auch wenn es stracks einem bekannten Vers von Friedrich Schiller entsprungen scheint: "Da rast der See und will sein Opfer haben. " Was für uns poetische Metapher ist, wird anderswo zur Praxis gegenüber personifizierten Naturgewalten. Ähnliches Erstaunen, ja unverhüllter Spott kommt schon in antiken Texten zum Ausdruck, wenigstens von Seiten ,aufgeklärter' Philosophen. Seneca schreibt in seinen Naturales Quaestiones: "Ich kann mich nicht enthalten, all die Torheiten unserer Mitmenschen vorzubringen. Sie behaupten, gewisse Personen verstünden sich auf die Beobachtung der Wolken und könnten es voraussagen, wenn ein Hagel im Anzug ist. Gut, dies hätten sie durch bloße Erfahrung erkenn'en können ... ; das aber ist doch unglaublich, daß es in Kleonai öffentlich angestellte ,Hagelwächter' gab, als Beobachter kommenden Hagels. Wenn die das Zeichen gaben, jetzt sei der Hagel da, was, meinst du, geschah? .,. Jeder brachte für sich ein Opfer dar, der eine ein Lamm, der andere ein Huhn; und alsbald wichen jene Wolken anderswohin aus, nachdem sie etwas Blut gekostet hatten. Du lachst darüber? Vernimm, worüber du noch mehr lachen wirst: Wenn einer weder Lamm noch Huhn hatte, was ohne Schaden geopfert werden konnte, legte er Hand an sich selbst; und damit du nicht glaubst, die Wolken seien gierig oder grausam: Er stach sich in den Finger mit einem wohlgespitzten Griffel, und mit diesem Blut vollzog er das rechte Opfer. Und der Hagel wandte sich nicht weniger von seinem Äckerchen ab wie von dem, wo er durch größere Opfer mit Flehen besänftigt worden war:'2 Seneca fUgt hinzu, daß die ,Hagelwächter' vor Ge-
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richt gestellt und bestraft wurden, falls es ihnen nicht gelang, das Unglück von den Weinbergen und Kornfeldern Kleonais fernzuhalten. Der Rationalist spottet über die Angstreaktion, zumal die Verbindung zwischen Zweck und Mittel angesichts des Wetters so undurchsichtig ist. Man bewältigt den Schrecken, indem man Eigentum vernichtet, Tiere schlachtet, ja sich selbst verwundet. Seneca spricht dabei ungescheut vom ,Opfern' (sacrijicare). Es handelt sich um hergebrachtes, institutionalisiertes religiöses Ritual. Übrigens dürfte ja auch bei jenem Beispiel aus Afrika ein Hintergrund in der religiösen Tradition gegeben sein, wie selbst bei Schiller der See gerade am Tag ,Sirnon undJudä' sein Opfer will. In dem schön gelegenen, prachtvoll gestalteten AsklepiosHeiligtum von Pergamon verbrachte um die Mitte des zweiten Jahrhunderts n. ehr. ein reicher Hypochonder mehr als zehn Jahre seines Lebens, Aelius Aristeides.3 Er hatte Rhetorik studiert und sollte in seinem späteren Leben noch zu hohem Ruhm und Ansehen gelangen; alle seine Werke blieben darum der Nachwelt erhalten. Dieser Mann erlebte in einer frühen Phase seiner Karriere offenbar einen psychosomatischen Zusammenbruch, inmitten des Konkurrenzdrucks der griechischen Intelligentsia; er gab seine Arbeit auf und zog sich zurück ins Heiligtum des Heilgottes, Kurgast auf unbegrenzte Zeit. Er wartete darauf und glaubte fest daran, daß Asklepios selber ihm in seinen Träumen eingebe, wie er sein Leben retten, wie er gesunden könne. In ängstlicher Spannung ftihrte er Tagebuch, notierte sein Befinden von Tag zu Tag, schwankend zwischen Unwohlsein, Depression und Größenwahn - "du bist der beste Professor der Welt", sagte ihm dann ein Traum. Wenn er Besserung verspürte, arbeitete er Reden aus zum Preis des Asklepios, ,heilige Reden', die erhalten sind. Ein Passus daraus schildert, wie ihm der Gott im Traum erschien mit der Botschaft, er müsse nun binnen dreier Tage sterben. So sei es bestimmt, sagte der Gott; und es gab ,Zeichen' am folgenden Tag, die bestätigten, daß dies kein nichtiger Traum gewesen war. Doch der Gott war gnädig und zeigte in einer folgenden Offenbarung, wie die Bestimmung des Schicksals dennoch zu vermeiden sei, und zwar durch religiöses Ritual. Religion erweist sich als Schutz vor der lebens bedrohenden Katastrophe. Folgendes wurde vom Gott vorgeschrieben: Aristeides hatte den Fluß zu überqueren und am anderen Ufer Opfer zu veranstalten, in Gru-
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ben (bothrol) , ftir ungenannte Götter; bei der Rückkehr, beim Fluß übergang, hatte er Münzen auszuwerfen, offenbar ohne darauf zu achten, wohin sie fielen, wer sie auflesen würde; schließlich, ins Heiligtum des Asklepios zurückgekehrt, hatte er am Tempel ein ,vollkommenes Opfer' darzubringen; dies heißt ein Schaf zu schlachten und Priester und weitere Gäste zum Opfermahl einzuladen. Zusätzlich aber, hieß es, müsse er "ein Stück seines Körpers abschneiden, um diesen insgesamt zu retten" - eine peinliche Entscheidung. Doch noch einmal half die Gnade des Gottes: Dies sei ,schwierig', gab er zu, und gestattete dem Aristeides, statt dessen seinen Fingerring zu weihen. So legte denn der Patient seinen Ring bei Telesphoros nieder, dem geheimnisvollen Kindergott mit Kapuze, wie er im Asklepios-Heiligtum verehrt wurde. 4 Der Bericht des Aristeides, ein rhetorischer Text von der Höhe kaiserzeitlicher Bildung, ist zugleich ein privates, intimes Dokument religiöser Praxis. Es zeigt exemplarisch, wie die Ausftihrung eines Rituals aus einer Situation der Angst hervorgeht und diese zu bewältigen unternimmt. Gewiß, die Professionellen im AsklepiosHeiligtum, die Priester und Seher werden Aristeides zur Seite gestanden haben mit Vorschlägen und Bestätigungen, mit diskreter Hilfe bei der Traumdeutung, so daß die durchzuftihrenden Opfer dem herkömmlichen Rahmen entsprachen: Privates Erleben und Suchen wird aufgenommen von den formenden Kräften der Tradition. Die Rituale in ihrer Abfolge zu verstehen, fillt nicht schwer. Erst muß der Betroffene sich den Mächten von Tod und Unterwelt stellen - die ,Gruben' erinnern an die Opfer des Odysseus am Eingang des Hades -; zurückkommend, an der vom Wasser gebildeten Grenze, wirft man Geld von sich - man denke an das Beispiel aus Afrika -; schließlich kehrt man ein in die festliche Gemeinschaft des Heiligtums. Die zusätzliche Weihung eines wertvollen Gegenstandes, geläufigste Praxis in der antiken Welt und weit darüber hinaus, wird hier verstanden als ,Ersatz' ftir die eigene Person, die gefährdete leibliche Existenz: Ein pars pro toto-Opfer soll das ,Ganze'retten. Dies wird nicht heißen, daß nun, in Verallgemeinerung von Asklepios' Weisung, jedem Ring, der in einem Heiligtum sich findet, oder sonst einem der ungezählten Votivobjekte die Idee eines Ersatzopfers zugrundeliege. Und doch, eine ,Geschichte' von Angst und Hoffuung steckt hinter jedem Gegenstand, der einem Gott geweiht wurde. 5 Aristeides jedenfalls be-
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zeichnet seine Weihung als Ersatzopfer , als Lösegeld in tödlicher Bedrohung. Die Münzen, die er am Fluß ausgeworfen hat, haben offenbar die gleiche Funktion: ein kleiner, manipulierbarer Verlust, der der Rettung dient. Der betroffene Körperteil, an Stelle dessen der Gott den Ring annahm, wäre ja wohl eben der Finger selbst gewesen. Damit ordnet sich der private Traum des Aristeides samt dem daraus folgenden religiösen Akt in einen weiten Zusammenhang von Ritual und Mythos ein. Auch Träume sind kulturspezifisch, wohl auch ortsspezifisch im Heiligtum. Doch spielt Fingeropfer nicht nur in Kleonai und in Pergamon eine Rolle, es ist als handfeste Praxis weitum in der Welt bezeugt. Bei Megalopolis in Arkadien, berichtet Pausanias, gab es ein Heiligtum der Wahnsinns-Göttinnen, Maniai, mit einem kleinen Hügel, dem ,Finger-Denkmal' (Daktylou Mnema), wo ein steinerner ,Finger' stand; eine Stelle daneben hieß ,Heilungen', Ake. Den Zusammenhang beschrieb der Orestes-Mythos: Orestes, der Muttermörder, sei, vom Wahnsinn gejagt, zu eben dieser Stelle gekommen. Hier biß er sich den eigenen Finger ab - und daraufhin verwandelten sich die schwarzen Wahnsinns-Göttinnen in weiße Gestalten, Orestes kam wieder zur Besinnung, und er brachte ebenda in doppelter Weise Opfer dar, fur die schwarzen und rur die weißen Maniai. Offenbar bestand ein solches Opferritual am Ort noch in der Zeit des Pausanias, zumindest erfuhr er davon. 6 Man wird die verfolgenden Dämonen los, indem man einen finger vom Körper trennt: Der kleine Verlust rettet die Gesamtperson; so die Aitiologie rur einen marginalen Kult in Arkadien, von dem wir nichts Weiteres wissen. Daß es ein Heilungskult war, dürfte der Name Ake anzeigen. Der Wahnsinn, der Orestes befiel, kann durchaus als Krankheit erscheinen, die durch die besondere Art des Opfers zu heilen war. Dies verbindet Orestes noch enger mit dem kränkelnden Aristeides. Das Fingeropfer ist ein häufiges Motiv in Volkserzählung und Märchen, mit allerlei Variationen, die ins Phantastische, ins Groteske und auch ins Lächerliche gehen. Da sind etwa mittelalterliche Fassungen des Kyklopenmärchens, jener berühmten Erzählung vom einäugigen Menschenfresser, der vom klugen Helden geblendet wird. Der älteste faßbare Text gehört der Sammlung Dolo.pathus des Johannes von Alba Silva an, die um 1200 entstanden ist.7 Der spannende Schlußakt der Geschichte ist die Flucht des Helden
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vor dem geblendeten Ungetüm. In der Odyssee macht Polyphem einen Versuch, Odysseus mit dem Angebot von Geschenken zurückzulocken; in der mittelalterlichen Version wirft der Menschenfresser dem Helden einen Fingerring zu, einen goldenen Ring in der genannten Version. Der Held greift danach, steckt ihn sich an den Finger und muß daraufhin unentwegt rufen - oder, nach anderen Fassungen, der Ring selbst beginnt zu schreien-: "Hier bin ich! Hier bin ich!", ecce ego! ecce ego! Und dabei sitzt der Ring jetzt fest, unmöglich, ihn wieder abzustreifen. So bleibt dem Helden ein letzter heroischer Entschluß: Er beißt den eigenen Finger ab und wirft ihn dem Riesen zu; manche Versionen lassen ihn doch ein Messer benützen. Jedenfalls entkommt so der Held, verletzt, doch triumphierend. Die Rettung gelingt durch einen kleinen, immerhin ernsten und unersetzbaren Verlust, durch entschlossene Trennung von dem, was verräterisch und gefährlich war. "Durch den Verlust eines Glieds rettete ich den gesamten Leib vor dem drohenden Tod", erzählt der Held - ganz wie Aristeides den Auftrag erhielt, "ein Stück seines Körpers abzuschneiden, um diesen insgesamt zu retten"; eine durchaus vernünftige Güterabwägung in absurder Situation. Was dem Motiv des Fingeropfers seinen Ernst verleiht, ist die Tatsache, daß es wirklich praktiziert wurde. Um aus der Sammlung von James George Frazer zu zitieren: 8 "In Tonga, auf den Freundschaftsinseln, war es allgemeiner Brauch, einen Finger oder sonst ein Stück vom eigenen Körper als ein Opfer an die Götter abzuschneiden, für die Genesung eines höhergestellten Angehörigen, der krank war"; Captain Cook hatte eben dies berichtet: "Sie glauben, daß der Teufel den kleinen Finger annimmt als eine Art Opfer, das genügend wirksam ist, die Wiederkehr der Gesundheit zu sichern." Ebenso "schneiden Hottentotten-Frauen und Buschmann-Frauen ein Fingerglied eines Kindes ab, besonders falls ein älteres Kind gestorben ist. Das Opfer des Fingerglieds, glaubt man, wird das Leben des zweiten Kindes retten ... Einige südafrikanische Stämme glauben, es bringe Heilung, wenn man einem kranken Mann ein Fingerglied abschneidet." "Bei den Schwarzfuß-Indianern schneidet in einer großen allgemeinen oder privaten Notlage ein Krieger einen Finger seiner linken Hand ab und bringt ihn dem Morgenstern bei dessen Aufgang dar." In Indien geht eine Frau, "die mehrere Kinder geboren hat, in ihrer Angst, die erzürnte Gottheit könnte sie ihrer Kinder berauben ... zum Tempel
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und schneidet sich, als Opfer, um den Gotteszorn zu stillen, einen oder zwei Finger ihrer rechten Hand ab." Manche Menschen wiederholten das Opfer und verstümmelten sich mehr und mehr; zu Beginn unseres Jahrhunderts versuchte darum die britische Kolonialregierung, den Brauch zu verbieten. Eine interessante Variante wird von den Fidschi-Inseln berichtet: "Manchmal schnitt man einen Finger ab und bot ihn einem beleidigten Höhergestellten, um seinen Zorn zu stillen. "9 Weltweit, so scheint es, ist man so verfahren: In einer Situation der Not und Krankheit, oder auch ~nur in vorwegnehmender Angst wird ein Finger oder ein Fingerglied abgeschnitten. Ganz verschiedene Kulturen liefern die Beispiele, aus Amerika, Afrika, Indien, Ozeanien. Die altgriechische Tradition fügt sich nahtlos ein. Die Einzelformen und Akzentuierungen sind verschieden, je nach dem jeweiligen kulturellen Kontext: Bei den Indianern gibt es die Verehrung des Morgensterns, in Indien sind die Tempel da mit Priestern, die Rat geben und Deutung vermitteln. Die Handlung kommt nicht spontan zustande, sie folgt einem schon bestehenden Brauch. Und doch ist die Handlung weltweit erstaunlich gleichförmig, auch ohne direkte kulturelle Kontakte. Aristeides wußte kaum etwas vom Ake-Heiligtum des Orestes in Arkadien. Es besteht die zwingende Überzeugung, daß die Handlung sinnvoll ist: Die zu erreichende Rettung ist eine Teilverstümmelung wert. Europäische Beobachter notierten indigniert sinnlosen Aberglauben; in der Erfahrung derer, die solche Opfer und Weihungen vollziehen, geht es um erfolgreiche Bewältigung aktueller Krisen. Wahrscheinlich handelt es sich um ein Ritual, das nicht nur weitverbreitet, sondern auch uralt ist. In einigen der berühmten altsteinzeitlichen Höhlen findet man Handabdrücke von Menschen, die offenbar Kontakt mit dem ,Heiligen' suchten oder jedenfalls eine Markierung ihrer Anwesenheit hinterließen. Einige solcher Hände, zumindest in einer dieser Höhlen, waren offenbar verstümmelt. Man hat daraus den Schluß gezogen, daß es eine Art Finger-Opfer schon damals gegeben hat. Dies hieße, daß wir es mit einem paläolithischen Ritual zu tun haben, das bis ins 20. Jahrhundert fortbesteht, also über 20000 oder 30000 Jahre hinweg. Hinzu kommt ein merkwürdiger Befund in einer spätneolithischen Ausgrabung, in Arpachiya im Irak: In einem Heiligtum fand man fünf steinerne Finger, aber auch einen menschlichen Fingerknochen: IO Dies scheint Fingeropfer in religiösem Zusam-
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menhang rur das 4. vorchristliche Jahrtausend zu belegen, während zugleich die steinernen Surrogate anzeigen, daß die Götter schon damals Ersatzobjekte zu akzeptieren bereit waren, wie später Asklepios. In Indien kam es nach jenem Verbot durch die britische Regierung dazu, daß man Finger aus Teig herstellte und gegebenenfalls in zeremonieller Weise vom Körper schnitt. 1 1 Die Ritualtradition hat sich auf symbolischer Ebene behauptet.
Biologie, Phantasie und Ritual Das pars pro toto-Opfer kann als durchaus rationale Überlegung in einer Gewinn/Verlust-Rechnung erscheinen. Es gibt genügend Situationen im Menschenleben, wo Alternativen dieser Art zu bedenken, entsprechende Entschlüsse gefordert sind. Daß man einem Räuber lieber Geld und Wertsachen überläßt, statt das Risiko ernstlicher Verletzung einzugehen, ist heutzutage Allerweltsweisheit. 12 Auch daß man im Sturm gegebenenfalls einen Teil der Ladung ins Meer wirft, ist üblich und vernünftig. IJ Die Zeit liegt nicht weit zurück, als manche Männer sich die Hand verstümmelten, um nicht zur Armee eingezogen zu werden, oder durch versteckte Selbstverwundung sich dem Grauen des Schlachtfelds zu entziehen suchten. Aber das Verhaltensschema scheint die Grenzen des Funktionalen und Rationalen zu sprengen und ins rein ,Symbolische' vorzudringen, wenn eben statt belastender Schiffsladung Dollarnoten ins Wasser geworfen werden oder die Opfergaben ausdrücklich den ,Stürmen' geboten werden. 14 So kann es auch vorkommen, wie mir erzählt wurde, daß jemand im Schreck nicht einem Räuber, sondern einem bellenden Hund die Handtasche zuwirft. Die Handlung scheint verschoben, sie verliert den Kontakt mit der schlichten Wirklichkeit und wird zum Ritual, das seinen übertreibenden, demonstrativen Charakter zeigt. Insoweit solches Ritual vorgegebenen Beispielen und den Anweisungen der Experten folgt, scheint es zum kulturell erlernten Verhalten zu gehören; aber offenbar kann es immer wieder auch spontan zustande kommen. Es hat seine eigene psychotherapeutische Überzeugungskraft. Ritual dieser Art kann ,magisch' heißen, insofern es ein bestimmtes Ziel durch verborgene Kausalität zu erreichen sucht; doch ,Magie' ist hier nur eine brauchbare Benennung, keine Erklärung. Die Kausalitätskette, die unklar
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bleibt, ist unmittelbar und allgemein einleuchtend und sinnvoll für die, die so handeln. Nun hat die pars pro toto-Verstümmelung ihre Analogien bereits in der Welt der Tiere - was angesichts ihrer Funktionalität nicht einmal überraschen kann. Spinnenbeine brechen leicht ab und bewegen sich dann noch eine zeitlang: Primitive Freßfeinde werden so abgelenkt und lassen der Spinne eine Chance zum Entkommen. Deutlicher noch ist, daß der Schwanz von Eidechsen und Blindschleichen so gebaut ist, daß er leicht abbricht: Er bleibt im Maul des Verfolgers, das Tier ist gerettet und kann das verlorene Teil nachwachsen lassen. Hier ist die Verstümmelung im genetischen Programm eingeplant und das Skelett entsprechend gebaut; der Überlebenswert steht außer Frage. Dabei trifft die Formulierung des Aristeides auch hier präzise zu: "Ein Stück des Körpers abzuschneiden, um diesen insgesamt zu retten." Bei Vögeln gibt es eine sogenannte ,Schreck-Mauser', das heißt, ein von einem Raubtier gepacktes Individuum lockert plötzlich sein Federkleid und läßt den Angreifer mit einem Maul voll Federn zurück, während es ,nackt' zu entkommen sucht. ls In der höheren Klasse, im Bereich der Säugetiere ist bekannt, daß ein Fuchs in der Falle sich den Fuß abbeißt, um sich zu retten: Der ,kleine Verlust' wiegt wenig gegenüber der bloßen Chance des Überlebens. Eine uralte Ritualform also, die sich weltweit verfolgen läßt, die in Erzählungen, Träumen und Kulten der alten Kulturen zum Ausdruck kommt, hat ihr Analog in einem biologischen Programm, das in unterschiedlichen Stadien der Evolution bei recht verschiedenen Tierarten auftritt. Das Programm hat eine sehr direkte Funktion in der Welt der Tiere, indem es den Freßfeind, das Raubtier, ablenkt und so das Entkommen ermöglicht. In der menschlichen Kultur erscheint ein Analogon als Verhaltensform ebenso wie auch als Phantasie; es ist weit verbreitet und uralt. Dabei sind die Verhaltensprogramme von Tier und Mensch so ähnlich, daß sie mit der gleichen Formel zu beschreiben sind, "TeilOpfer um des Überlebens willen, in einer Situation von V erfolgung, Gefahr, und Angst", oder kurz als pars pro toto-Prinzip. Religion und Zoologie reichen sich die Hände. Damit ist keineswegs ein festes, in der Erbsubstanz verankertes V erhaltensprogramm vorausgesetzt, das kontinuierlich in den Genen von den primitiveren zu den höheren Lebewesen weitergegeben worden wäre. Die Beispiele kommen von ganz verschiedenen
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Spezies, die keineswegs in der Evolution miteinander eng verbunden sind. Es fehlen entsprechende Befunde etwa aus dem Bereich der Schimpansen oder der Affen überhaupt. Es geht um Analogien, nicht Homologien; es sind, genau besehen, ja auch verschiedene Programme, die hier zum Einsatz kommen, ist doch die aktive Selbstverstümmelung eines Fuchses etwas anderes als eine vorgeplante Bruchstelle wie bei Eidechsen oder Spinnen. Eine sehr viel einfachere und geradezu selbstverständliche Art von ,Opfer' ist es, eine Nahrungsquelle aufrugeben, wenn ein stärkerer Rivale oder ein Freßfeind auftaucht. Es geht um ein Grundproblem im Spiel des Lebens, fUr das immer wieder ähnliche Lösungen gefunden werden. Dabei bleibt es ein großer Schritt, wenn an Stelle des biologischen Programms ein reflektiertes, verbalisiertes Prinzip tritt, die bewußte pars pro toto-Berechnung, auch wenn im Einzelfall Ritual und Mythos die Vorgabe liefern. Andererseits aber wäre es nicht weniger gewaltsam, wenn man all diese Rituale, Mythen und Phantasien auf kulturelles Lernen zurückfUhren wollte, sei es durch Nachahmung, sei es durch explizite Belehrung. Die Wiederkehr entsprechenden Verhaltens in weit auseinanderliegenden Orten und Zeiten, unsere Bereitschaft zur fast automatischen Reaktion, unser spontanes Verstehen zeigen die biologische Landschaft an, auf der unsere Erfahrung aufbaut. Auch im Menschen sind biologische Progranune angelegt, zumal was ,Angst' und ,Flucht' anlangt, die weit älter sind als die Menschheit; sie umfassen und erzeugen zumindest Rudimente von rituellem Verhalten, indem Gefahr, Alarm, Verfolgung, Flucht von vornherein korreliert sind. Hier hat der Trick des ,Opfers' seinen Ort, der ,kleine Verlust', die Aufgabe dessen, was entbehrlich ist. Lumsden und Wilson verwiesen auf "Erinnerungen, die sich am leichtesten einstellen, Emotionen, die sie mit größter Wahrscheinlichkeit hervorrufen" als Kriterium fUr die gemeinsame Evolution von Genen und Kultur. 16 Das pars pro toto-Opfer dürfte ein besonders deutliches Fallbeispiel fUr solche Zusammenhänge sein. Es ist ja wohlbekannt und leicht ins Bewußtsein zurückzuholen, auch in der Phantasie durchzuspielen, wie packend und erschrekkend noch immer das Bild des verfolgenden Raubtiers ist, und dies nach Jahrtausenden der zivilisatorischen Geborgenheit. In der Psychose entwickelt sich nicht selten der sogenannte ,Verfolgungswahn'; die psychisch Gesunden ihrerseits stimulieren sich durch Szenen von Verfolgung und knappstem Entkommen; kein Fern-
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seh-Thriller kommt ohne dies aus. Im Mythos und in der Kunst treten Dämonen auf, die meist die Gestalt oder wenigstens einzelne Charakteristika von Raubtieren annehmen. 17 Um den Schrekken der Hölle sichtbar zu machen, verfielen die christlichen Maler auf das Bild des aufgesperrten, verschlingenden Rachens; der ,weiße Hai' löst noch in dritter und vierter Folge wohlige Schauer aus; er agiert mit weit gesperrten Kiefern - der englische Originaltitel lautet einfach Jaws. Die wenigsten Zeitgenossen dürften Schreckerlebnisse solcher Art selbst hinter sich haben; und doch, wir ,kennen' die Gefahr eines Raubtier-Angriffs auch ohne Erfahrung, so wie ein Kücken den Habicht ,kennt'. Der plötzliche Angriff eines bellenden Hundes löst bei den meisten Menschen einen physischen Schock aus, der in keinem rechten Verhältnis zur tatsächlichen Gefahr steht. Gewiß sind Menschen anpassungsfähiger und weit weniger festgelegt in ihrem Verhalten als ein Kücken; doch auch Primaten und Hominiden hatten Raubtiere als gefährliche Nachbarn, und so sind entsprechende Reaktionen in unserer biologischen Ausstattung festgeschrieben. Schlange, Leopard, Wolf - drohende Gefahr, real oder eingebildet, nimmt die Gestalt des Verfolgers und Fressers an. Daß in religiösem Ritual entsprechende Symbolik auftritt, kann nicht erstaunen. Ein besonderes Merkmal, das Verfolgungsangst oder zumindest Unbehagen auslöst, ist ein starrendes Auge. Diese Reaktion beruht offensichtlich auf einem sehr alten und sehr allgemeinen biologischen Programm. Als in der Evolution das Auge erfunden war als Mittel, Nahrung aufzuspüren, lernte die prospektive lebendige ,Nahrung' alsbald, sich vor dem Auge zu hüten. Die Angst vor dem Auge ist bei vielen Tieren eingewurzelt, weil nun einmal scharfäugige Räuber auf Jagd aus sind. Doch auch ,symbolischer' Gebrauch des Auges hat sich bereits im Tierbereich entwickelt: Schmetterlinge imitieren auf ihren Flügeln das starrende Auge, um Verfolger zu verwirren, der Pfau schlägt Rad mit einem vieläugigen Schwanz, um Aufmerksamkeit zu erregen. In menschlichen Kulturen ist die Angst vor dem ,bösen Blick' fast allgemein verbreitet; die Zeugnisse reichen vom alten Orient durch die klassische Antike bis in die Gegenwart. 18 Bezeichnenderweise wird bei den Griechen das Auge des Wolfes besonders gefurchtet: Man muß den Wolf zuerst erblicken, sonst raubt sein Blick dem Menschen die Stimme. Typisch ist aber auch, daß von der Nervosität des Essenden angesichts von Zuschauern die Rede ist. 19 Die ange-
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borene Angstreaktion fordert symbolische Gegenmaßnahmen: Die Macht des bösen Auges wird durch ein anderes Auge in Schach gehalten, aber auch durch bestimmte Farben - blau in Türkei und Griechenland -; dazu kommt aggressive Männlichkeit in der Darstellung eines Phallos. Natürlich kann man ein Auge auch blenden, in der Bilddarstellung wie in der Erzählung: Der Menschenfresser im Kyklopen-Märchen, ein Raubtier in Menschengestalt, wird geblendet, womit die Todesangst in den Spott des Klugen, Sehenden umschlägt. Die biologische Wirklichkeit des jagenden Raubtiers wird durchaus in die Symbolik religiöser Tradition einbezogen. Ein griechisches Gebet formuliert den Wunsch, "die Füße des Verfolgers abzuwenden",>o Zur üblichen und geläufigen Forn1 des Opfers in Indien, Butter ins Feuer zu träufeln, weiß der Mythos der Brahmanen zu erzählen: Als Agni das Feuer geschaffen war, erwies sich dieser als ein wilder Fresser, der durch die Lande streifte und verzehrte, was immer er traf Daraufhin brachte Prajapati, der ,Herr der ersten Schöpfung', die Butter hervor, um Agni zu fUttern; damit gibt Agni sich zufrieden. So sei denn allgemein die Libation von Butter über dem Feuer des Altars zur heiligen Handlung geworden. 21 Demnach heißt Opferkult nichts anderes als Gefahr abzuwenden durch einen selbstbestimmten ,kleinen Verlust', durch Manipulation eines drohenden ,Fressers'. "Opfer auszugießen bringt das Leben zurück", sagt ein babylonischer W eisheitstext. 22 Im griechischen Ritual findet sich eine Klasse von ,Abwehr-Opfern', apotropaia. Von hier aus wurde von Otto Jahn der Terminus ,apotropäisch' gebildet; Jane Harrison fand dann im apotropäischen Ritual die älteste, die rechte Wurzel-Schicht der griechischen Religion. 23 Man vollzieht dieses Ritual, indem man fur ungenannte, unheimliche Verfolger ausgießt oder ihnen zuwirft, was ihnen gebührt; oft gilt die Regel, ,nicht zurückzuschauen' bei diesem Tun. 24 Man spricht von Dämonen oder anderen unheimlichen Mächten; der lateinische Terminus fUr solche Rituale ist averruneare. 25 Es heißt, die Römer hätten sich einmal sogar auf Geheiß der Sibyllinischen Orakel zu Menschenopfern entschlossen, als der Skandal, daß einige Vestalinnen die Keuschheit gebrochen hatten, ruchbar wurde und die Rache der beleidigten Gottheiten in Aussicht stand. Die Orakel geboten, laut Plutarch, "um abzuwenden, was zu erwarten stand, gewissen seltsamen und fremden Gottheiten zwei Griechen und zwei Gallier hinzugeben
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(proesthat); man begrub sie lebend ebenda" .26 Angstvoll erwartetes Unglück abzuwenden, indem man den Dämonen Opfer ,zusendet' oder sozusagen ,zuwirft' (proesthar) - das letztlich biologische Programm zeigt sich in aller Deutlichkeit. Dem Ritual entspricht ein wohlbekannter Erzähltyp, der in Märchen, Sage und Mythos auftritt: die ,magische Flucht'. 27 Sie bildet den spannenden Abschluß vieler Erzählungen, einschließlich der Kyklopengeschichte. In der Normalform fliehen HeIdin oder Held aus dem Gewahrsam einer Hexe oder eines Zauberers, Menschenfressers, Drachen; sobald die Flucht entdeckt ist, nimmt der mächtige Gegner die Verfolgung auf, kommt näher und näher. Nur ein Mittel gibt es, ihn aufzuhalten: Der oder die Flüchtende muß etwas hinter sich werfen, was dann zu einem Hindernis wird; ein Kamm wächst zum Gebirge oder zu einem Wald. Dies hält den Verfolger wenigstens eine Weile auf, bis schließlich eine entscheidende Grenze überschritten ist, an der die Macht des anderen endet. Man findet diesen Erzähltyp im Veda, im finnischen Kalevala, in der Grimmschen Märchensammlung, und auch in der griechischen Mythologie. So hat im 43. Gesang des Kalevala Väinämöinen von der Herrscherin des Nordlandes den ,Sampo', ein Wunderding, geraubt und fährt auf seinem Schiff dahin, verfolgt vom Volk des Nordens; als Väinämöinen die Verfolger am Horizont erspäht, wirft er ein Stück Kieselstein samt Zunder über seine linke Schulter ins Meer; daraus wird alsbald eine Klippe, an der das Schiff der Verfolger zerschellt. Doch der Aufenthalt ist nur vorübergehend, die verfolgende Königin verwandelt sich in einen Adler, der Kampf der Magier geht weiter. Karl Meuli meint, das Motiv der magischen Flucht sei typisch fiir Schamanendichtung, 28 stamme also aus dem Bereich jener ekstatischen Vorführungen, in denen sibirische Schamanen ihre Reise ins Reich der Geister darstellen, wobei Helfer ebenso wie gefährliche Gegner auf den Plan treten, Zauber den Zauber bricht, bis der Schamane glücklich zurückgekommen ist. Doch ist Schamanendichtung wohl nur eine Ausprägung eines viel allgemeineren Typs. Die Erzählung erscheint im Gewande angeblicher Zoologie im Bericht, wie man in Indien Tiger fängt: Die Inder, heißt es, stehlen aus dem Tigemest einige junge Tiger und reiten dann so schnell sie können hinweg. Sobald die Tigermutter den Verlust bemerkt, verfolgt sie die Räuber, und sie rennt schneller als das schnellste Pferd. So muß denn der Reiter, wenn die Bestie naht,
II. Das Opfer des Veifolgten
eines der Tigerbabys fallen lassen; die Tigerin packt es und bringt es zurück in ihr Lager. Dann aber beginnt die Verfolgung von neuem, und wenn das überschnelle Raubtier den Reiter abermals erreicht, muß ein zweites und gegebenenfalls ein drittes Tigerbaby hingegeben werden; im Glücksfall bleiben dem Reiter ein oder zwei kleine Tiger, wenn er endlich die zivilisierte Welt erreicht; in sie wagen die Tiger sich nämlich nicht hinein. 29 Der zoologische Unsinn 30 ist so einprägsam, weil er den Typ der magischen Flucht rein wiedergibt; auch dort wird der Verfolger mehrfach aufgehalten, und es gibt die ,magische' Grenze, an der er aufzugeben hat. Anstelle von Zauberern und Dämonen hat die Tiergeschichte das Urbild des Verfolgers wieder eingesetzt, das furchtbarste Raubtier. Dennoch gibt es jene Grenze, an der der Verfolger umzukehren hat. Selbst hinter einer solchen ,magischen' Festlegung steht immer noch biologische Wirklichkeit, im Sinne eines allgemeinen territorialen Verhaltens: Jedes Tier fühlt sich am sichersten ,zuhause', mit der Entfernung von der Basis steigt die Unruhe; die Folge ist, daß in marginalen Regionen ein prekäres Gleichgewicht von Aggressivität und Angst besteht. In der Erzählung wird daraus eine klar definierte Grenze, wie auch rituelles Verhalten territoriale Markierungen einführt, dies sogar schon im vormenschlichem BereichY Die ausführlichste und grausigste Fassung der ,magischen Flucht' in der griechischen Mythologie ist in die Argonautenerzählung eingebunden. Als Jason und Medea mit dem goldenen Vlies aus Kolchis fliehen, verfolgt sie König Aietes mit seinen Schiffen. Keine Gewalt kann ihn aufhalten; doch Medea weiß das Mittel: "sie tötet ihren Bruder Apsyrtos, zerstückelt ihn gliedweise und wirft diese in die Tiefe des Meeres; indem Aietes die Glieder seines Sohnes aufsammelte, versäumte er die Verfolgung; so kehrte er um ... "32 Die Geschichte ist sicher alt; aps syrtos heißt ,rückwärts weggeschwemmt' , woraus dem unglücklichen Bruder sein Name erwachsen ist. Das Zerstückeln eines menschlichen Körpers ist eine ,magische' Zeremonie; Medea ist ja eine Zauberin. Doch was erklärt der Begriff ,Magie'? Wenn wir die Spinne und die Eidechse vor Augen haben, dazu den angeblichen Tigerfang, stellt sich heraus, daß das ,magische' Ritual der Medea, wie es in der Phantasie des Erzählers erscheint, einer alten, fest angelegten Spur folgt, dem pars pro toto-Opfer, dem biologischen Trick, Verfolger abzuhalten durch Aufgabe eines entbehrlichen ,Teils'. Im Argonautenmythos
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ist es der Kleine und Schwache, das ersetzbare Glied der Gemeinschaft, der ,kleine Bruder', der aufgegeben wird. Umgekehrt hat jedes Raubtier am ehesten bei den Kleinen, Jungen seine Chance. Eine andere Variante, ganz biologisch bestimmt, tut den Schritt zum Lächerlichen: Ein Reflex des vegetativen Nervensystems in einer Schrecksituation, wodurch das Individuum etwas hinter sich läßt, ist die unwillentliche Darmentleerung. In verbalem Schimpf und Spott sind bei uns die ,vollen Hosen' das ärgste Zeichen der Feigheit. Die Sprache insistiert dabei auf einer Primitivreaktion weit über die aktuelle Erfahrung hinaus; der peinliche Kontrast zum üblichen Anstand verfehlt seine Wirkung nicht. Auch Aristophanes ließ sich den Spaß nicht entgehen, auch ohne Verwendung von Hosen. J3 Im Alitagsleben hat der moderne Mensch genügend Sicherungen eingebaut, solche Panik zu vermeiden. Bei Autounfällen etwa kommt dergleichen vor, und Kinder sind sowieso ungeschützt; bei den Soldaten der Weltkriege war es bekannt, aber auch schon in den Kämpfen der alten Griechen. 34 Bereits in den assyrischen Annalen wird der geschlagene Feind damit behaftet und lächerlich gemacht. 35 Die Reaktion ist selbstverständlich auch bei Schimpansen zu beobachten. 36 Ausgestorben freilich dürfte heute ein kurioses Ritual sein, das bis an die Schwelle dieses Jahrhunderts bezeugt ist: Zumindest in Deutschland und Österreich, vielleicht auch darüber hinaus galt bei Einbrechern der Glaube, sie blieben unverfolgt und unentdeckt, wenn sie ihre Exkremente am Ort der Tat hinterließen. 37 Hier ist die biologische Angstreaktion in apotropäische Magie verwandelt: Was von selbst geschieht, wird bewußt getan - ein bemerkenswertes Zusammenspiel eines biologischen Programms mit Aberglauben und entsprechender Ritualvorschrift im geheimen Zirkel der Spitzbuben. In griechischer Religion und Magie ist Hekate, die man Verkörperung der nächtlichen Panik nennen könnte, eine Exkrementen-Esserin, borborophorba. 38
Kastration und Beschneidung Die Selbstkastration, der Attis-Komplex, ist ein fremdartiger und fur uns abstoßender Bereich antiker Religiosität. Dabei ist gerade der Name Kastration nochmals mit einer Tiergeschichte verbunden: Der Biber - lateinisch castor - produziert in besonderen Drü-
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sen einen Duftstoff, der in der Volksmedizin in hohem Wert stand. Man war filschlicherweise überzeugt, der Stoff werde in den Hoden des Bibermännchens erzeugt. Wenn nun, so erzählte man, der Biber gejagt und in die Enge getrieben wird, "beugt er sich nieder, beißt sich selbst die Hoden ab und wirft sie den Jägern zu". Er handelt dabei, wie der antike Autor ausdrücklich hinzuftigt, "wie ein kluger Mann, der Räubern in die Hände gefallen ist: Er legt nieder, was er (an Wertsachen) mit sich fuhrt, um sich selbst zu retten, indem er Lösegeld zum Tausche gibt" .39 Biologischer Instinkt und ,kluge' menschliche Entscheidung werden parallel gesetzt; Teil-Opfer ist soviel wie Lösegeld. Die Biber-Geschichte geht gewiß vom Lateinischen aus, weil nur da der Name castor an castus, ,keusch', und damit an castrare erinnert. Die Alten sahen nicht, daß vom Tierverhalten her die Geschichte sinnlos ist: In biologischer Sicht könnte das Individuum, als ,Überlebensmaschine' selbstsüchtiger Gene,40 nichts Ärgeres tun als seine potentiell unsterblichen Keimzellen zu ,opfern'. Eben damit zeigt die Erzählung, wie sehr sie die Projektion typisch menschlicher Anliegen und Ängste ist. In primitiven Kriegen ist Aggression mit Männlichkeit korreliert; der Asexuelle konnte demnach gegebenenfalls, gleich den Frauen, mit besseren Überlebenschancen rechnen. Zugleich ist in unserem bewußten Dasein die Selbsterhaltung höchstes Ziel; die biologisch programmierte Fortpflanzung, die das Individuum ersetzbar und letztlich überflüssig macht, ist nicht voll eingepaßt. Hieran mag es liegen, daß in vielen Traditionen von Weisheit und Askese die Sexualität Gegenstand äußersten Mißtrauens ist; scheint es doch, als könnte man sich dem Malstrom von Geburt und Tod entziehen und Unsterblichkeit gewinnen, wenn man nur auf Sexualität und Fortpflanzung verzichtet. Ein kleiner Verlust ist anzuraten, wenn es um die dauerhafte Erhaltung des Individuums als Ganzes geht. Auf solche Weise hebt die geistige Welt von ihrer biologischen Basis ab, was zwar dem Individuum die erwünschte Dauer keinswegs garantiert, jedoch als geistiger Appell umfassende und dauerhafte Wirkungen erzielen kann. Bewußte Spekulationen und vom Unbewußten gesteuerte Phantasien konzentrieren sich auf ein Thema, das stärksten Ambivalenzen ausgesetzt bleibt. Das angebliche Verhalten des Bibers spiegelt tatsächlich vollzogene Rituale, die auch in Erzählungen ihren Ausdruck finden. Es gab von Babylonien bis Syrien und Kleinasien Heiligtümer, wo
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Kastraten einer Großen Göttin dienten; in Pessinus, dem einflußreichsten Zentrum eines solchen Kultes, hießen sie Galloi. Dies ist nicht der Ort, dieses Phänomen umfassend zu beschreiben oder die Theorien zu diskutieren, die modeme Interpreten zur Erklärung entworfen haben. 41 Der einzige Keilschrifttext, der ausdrücklich davon spricht, läßt die Große Göttin Ishtar dies einrichten, "um Furcht bei den Menschen zu verbreiten" Y Dabei ist es gar nicht einfach festzustellen, ob das Heiligtum der Großen Göttin mit ihren Eunuchenpriestern oder aber der königliche Harem mit Eunuchen-Wächtern die frühere ,Erfindung' war; letztere schrieben Griechen der Königin Semiramis oder auch Atossa ZU,43 sie war jedenfalls Realität von Konstantinopel bis Peking bis ins 20. Jahrhundert hinein. Für die religiöse Ausformung des Phänomens ist eine Hauptquelle das Buch des Lukian über die Syrische Göttin. Dort erscheint ein aitiologischer Mythos, novellistisch und satirisch aus gestaltet: 44 Stratonike, Königin von Syrien, erhielt im Traum den Auftrag, einen neuen Tempel der Göttin in Bambyke-Hierapolis zu errichten. Als Begleiter ftir die Reise wurde ihr vom König ein schöner junger Mann zugeteilt, Kombabos. Kombabos sah voraus, welches Risiko ftir ihn die Betreuung einer jungen, leidenschaftlichen Königin in sich schloß: Unabwendbar werde da ein Verdacht entstehen, der ihn sein Leben kosten könnte. Darum kastrierte er sich selbst und hinterließ seine Genitalien, einbalsamiert in Honig und Gewürzen, in einem verschlossenen Behältnis beim König. Es kam, wie erwartet; die einsame Königin verliebte sich, und als sie sich zurückgewiesen fand, wiederholte sich die Geschichte von Josef und Potiphars Frau in einer neuen Variante: Verleumdung wegen angeblicher Vergewaltigung, Gericht und Todesurteil; da forderte Kombabos den König auf, jenes Behältnis zu öffuen, und bewies seine Unschuld durch die Evidenz der mangelnden Männlichkeit. Die Erzählung ist aitiologisch, besonders mit dem Verweis auf das versiegelte Behältnis, in dem die fehlenden Teile dauerhaft verwahrt sind - auch die Eunuchen am chinesischen Kaiserhof hatten entsprechende Behältnisse _.45 Die Geschichte dürfte einen alten Kern haben, scheint doch der Name Kombabos mit dem Namen der Großen Göttin, Kubaba-Kybebe, zusammenzugehen. 46 Interessant jedoch ist vor allem die psychologische Deutung, die hier dem Kastrationsritual gegeben wird: Es ist die Angst vor dem
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so viel mächtigeren sexuellen Rivalen, dem König, der töten kann, was den jungen, unterlegenen Mann dazu bringt, auf seine Sexualität zu verzichten. Tatsächlich hat man bei bestimmten Affengesellschaften beobachtet, daß die jungen, rangniederen Männchen einer Art psychischer Kastration unterliegen, solange sie in die Gesellschaft integriert sind; indem sie wachsen und älter werden, wird später einmal ihre Chance kommen. 47 In der Erzählung verhält sich Kombabos ganz wie der kluge Biber: Er schneidet ab, was zur tödlichen Gefahr geworden ist, und rettet so sein eigenes Leben. Laut Lukian fand die reale Kastrationszeremonie in BambykeHierapolis im Rahmen eines großen Festes statt; diejenigen, die sich zu gaUoi machten, ,warfen' das Abgeschnittene in ein Haus, aus dem sie dann das Frauengewand samt Schmuck erhielten. 48 Der Biber wirft seine Hoden den Jägern zu. Nicht weniger seltsam ist eine Geschichte, die an isolierter Stelle in der Bibel steht. Es handelt sich offensichtlich um einen aitiologischen Mythos ftir das Beschneidungsritual; der Text wird üblicherweise dem Jahwisten zugewiesen. Als Moses zusammen mit seiner Frau Zippora aus Midian nach Ägypten zurückkehrt, zusammen mit ihrem kleinen Sohn, übernachten sie in der Wüste. Da "stieß Jahwe auf ihn und wollte ihn töten. Da nahm Zippora einen scharfen Stein, schnitt damit die Vorhaut ihres Sohns ab und berührte damit seine Scham und sagte: Ein Blutbräutigam bist du mir! Da ließ er von ihm ab".49 Schon der Schreiber dieses Textes war verwundert und sah sich veranlaßt, eine Erklärung hinzuzuftigen: "damals gebrauchte sie den Ausdruck Blutbräutigam rur die Beschneidung." Trotzdem bleibt das Rätsel. Wie kann der Herr zum todbringenden Gespenst oder gar zum Raubtier der nächtlichen Wüste werden?5 0 Eben dies ist die Szenerie: Plötzlich, zur Nacht in der Wüste, der unwiderstehliche Schrecken, die Erscheinung einer tödlichen Macht, gewaltiger als je ein König. Da bleibt nur, sich loszukaufen durch Verzicht auf die Männlichkeit. In der Tat ist es die Mutter, die die Entscheidung trifft, doch findet zugleich ein doppelter Ersatz statt: Das Kind tritt an die Stelle des Gatten, die Vorhaut an die Stelle des Zeugungsglieds. Blut und Verstümmelung muß sein, dies bleibt real inmitten der symbolisierenden Ersetzung. So wird der Verfolger abgehalten: Nur ein ,Blutbräutigam' wird überleben. Mit anderen Worten: Gegenüber einem Über-Vater wird in der Weise des Kombabos verfahren, in der Praxis gemildert durch den rituellen Ersatz. Merkwürdig, daß
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die Mutter das Steinmesser fUhrt - auch im Kult der Großen Mutter wurde die Kastration mit einem steinernen Messer durchgeführt. Der wahre Ursprung der Beschneidung mag fUr uns weiterhin dunkel bleiben; doch die älteste Deutung dürfte in diesem Text vorliegenY Es liegt fUr uns, im Schatten von Siegmund Freud, durchaus nahe, Fingeropfer und Kastration zusammenzusehen. Die Vermutung, das ,Finger-Denkmal' des Orestes in Arkadien sei als phallisches Monument zu verstehen, ist sogar älter als FreudY Und was ein Quentchen Freudscher Phantasie aus jenem beredten Finger in der mittelalterlichen Kyklopenerzählung macht, von dem der Ring sich nicht mehr streifen läßt; ist abzusehen. Telesphoros, das Kind mit Kapuze, dem Aristides in Pergamon seinen Fingerring darbringt, läßt sich in einigen antiken Exemplaren als Phallos in der Kapuze enthüllen)3 In einer eigentümlichen Version des AttisMythos kann Attis, entmannt und verblutet, nicht ins Leben zurückkehren, doch sein Körper bleibt unverwest, und sein kleiner Finger bewegt sich immer noch. 54 Zugleich ist in den zugehörigen Mythen die weibliche Gestalt aktiv und bedrohend, Ishtar oder Kybele, Zippora oder die Erinyen im Verbund mit der Mutter Klytaimestra. Inwieweit hier Grundfiguren der männlichen Psyche ihren bildhaften Ausdruck finden, mag der internen Diskussion der Psychologen überlassen bleiben. In der hier vertretenen Sicht dürfte das Grundprogramm noch jenseits der Freudschen Psyche mit ihren ödipalen Ängsten in den harten Felsen der biologischen Urlandschaft verankert sein. Realen Gefahren durch Freßfeinde galt es seit je zu entkommen; Grundängste schaffen sich den entsprechenden Kontext, wobei auch die Ambivalenz der Sexualität mit einbezogen wird; religiöse Rituale bestätigen sich in der emotionalen Antwort, die ihnen entgegenkommt.
Sündenböcke Das pars pro toto-Opfer, das durch den kleinen Verlust das Ganze zu retten sucht, kommt zu besonders packender Wirkung in der Gruppendynamik. "Es ist besser, daß ein Mensch sterbe für das Volk, als daß das ganze Volk zugrunde geht", sprich der Hohepriester Kaiphas im Johannes-Evangelium. "Solches redete er aber nicht von sich selbst, sondern weil er desselben Jahres Hoherprie-
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ster war, weissagte er", fUgt der Evangelist hinzu. 55 Die unerhörte Schuldenbegleichung, wonach ,einer fur alle' stirbt, ist zu einem Grunddogma christlicher Theologie geworden. Und doch war der Satz des Kaiphas nur Wiederholung eines sehr alten Prinzips, das allgemein verstanden, akzeptiert und praktiziert worden ist. 56 Schon im Babylonischen Weltschöpfungsepos Enuma elish ist es formuliert, als ein aufrührerischer Gott verurteilt wird: "Er allein soll untergehen, damit die Menschheit geschaffen werden kann." 57 In der Tat gibt es Notsituationen, in denen es als durchaus vernünftig erscheint, eine Person oder auch mehrere zu ,opfern', um die große Mehrheit der übrigen zu retten. Generäle haben in ihren Kriegen nicht gezögert, einen Teil ihrer Truppen fur höhere strategische Ziele zu ,opfern'. Faßbarer noch fUr bildhafte Phantasie ist der Schlitten, der von Wölfen verfolgt wird: Indem die Pferde ermüden, bleibt nichts übrig als einen vom Schlitten zu werfen, damit die anderen entkommen können - wir sind wieder beim Grundbild des verfolgenden Raubtiers. Vergleichbare Situationen können in anderen Katastrophen auftreten, in Feuern und Wasserfluten, auf sinkenden Schiffen; auch Helfer, die andere retten, verlieren zuweilen ihr Leben. Man ehrt ihr Andenken und bleibt damit im Bann der packenden Erzählungen von Katastrophe des einzelnen und Erfolg der vielen. Fast unentbehrlich ist dabei die rituelle Sprache: Auch der Moderne kann da nur von ,Opfern' sprechen. Die pars pro toto-Rechnung ist so rational und zugleich emotional doch so erregend. Sie wiederholt im Bereich des Bewußtseins, was die ,Natur' längst geplant und immer wieder erprobt hat. Für uns bleibt eben darum etwas Dunkles, Geheimnisvolles, das besonders in religiöse Kontexte hineinwirkt. Der kleine Verlust zur Bestätigung des Lebens, das ,Opfer' des einen fur alle kann Phantasiegeschichten ebenso wie merkwürdige Rituale bestimmen. Es reicht dann über das eigentlich Rationale, Funktionale wiederum weit hinaus, es wird zur symbolischen Botschaft; man mag von ,Magie' und Aberglauben sprechen; jedenfalls wird die Abfolge als wirksam empfunden und akzeptiert - Triumph eines angeborenen Programms. Eine Modellsituation fUr Angst und Verzweiflung, nächst dem verfolgenden Wolfsrudel, ist das Schiff im Sturm. Davon war bereits die Rede. Am bekanntesten ist die Geschichte von Jona dem Propheten: Als im Sturm die Matrosen die Hoffuung verlieren,
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sind sich auf einmal alle einig: Ein Mensch muß auf dem Schiff sein, der die Schuld am Unheil trägt. Ihn wirft man, sobald er gefunden ist, ins Meer. Einen Teil der Ladung über Bord zu werfen, um das Schiff zu retten, ist das rationale Verfahren;5 8 einen mitreisenden Menschen zu ,opfern', ist die unerhörte Tat, die durch die Bibel fixiert und zu größter Popularität gebracht worden ist. Die Erzählung fUhrt zusätzlich das riesige, verschlingende Tier ein, die Figur von jener anderen Terror-Szene, wobei dann freilich in phantastischer Umkehr beide Schrecken sich neutralisieren und der große Fisch zum Retter wird. Volkskundler haben vielerlei Parallelen zur Jona-Geschichte zusammengestellt. 59 Eine Sonderform erscheint in Vergils Aeneis, bei der nächtlichen Überfahrt nach Italien: Um die glückliche Fahrt zu sichern, muß ein Mensch sterben in dieser Nacht, "ein Haupt wird fUr viele gegeben".6o Der Steuermann Palinurus wird durch göttliches Eingreifen eingeschläfert und stürzt ins Meer. Unter den Legenden, die zum Lacus Curtius am Forum Romanum erzählt wurden, fillt eine auf: Hier, sagte man, habe sich einst ein Abgrund aufgetan (dehisse terram), und die Seher verkündeten, daß "der Gott den tapfersten Bürger" verlange: Ein gewisser Curtius ritt aus eigenem Entschluß in den Abgrund, der sich daraufhin SChlOß.61 Der ,gähnende' Abgrund ist eine denkwürdige Projektion der Angst, dem Bild des ,gähnenden' Schlundes eines Fressers verwandt. Ein Mensch muß verschlungen werden, damit die anderen gerettet sind. Der Tat wird dann im Ritual gedacht: Man bringt Geschenke, man wirft Münzen in die flache Wasserlache, die geblieben war - ähnlich jenen Dollarnoten, die in den See geworfen werden. Die Zahlung beschwichtigt die Angst und sichert den Bestand der Normalität gerade am Marktplatz der Stadt. Zu anderen Ritualen gibt es andere Geschichten. Man schlachtet ein schwarzes Lamm, um den Wirbelsturm aufzuhalten; man hält durch Blut die Winde fern. 62 Wenn in Kyrene "eine Seuche sich dem Land oder der Stadt nähert, oder Hungersnot, oder allgemeines Sterben, dann opfern sie einen roten Bock vor den Toren".63 Der Legende nach ist noch 1 7 1 5 in Österreich ein Kind lebendig begraben worden, um eine Seuche abzuwenden; fest steht, daß in einem schwäbischen Dorf im Jahr 1796 der Gemeindestier lebendig begraben wurde, um einer Viehseuche Herr zu werden was freilich den Bauern groben Spott ihrer aufgeklärteren Nachbarn zuzog. 64 In der Dichtung akzeptieren wir gern, daß ein Le-
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bewesen begraben sein muß, um etwa einen Meeresdamm gegen die Flut zu sichern. 65 Der kleine, erträgliche Verlust mag den Überlebenden dennoch ein schlechtes Gewissen hinterlassen. Dies führt zu einer andersartigen Projektion: Das dem Untergang bestimmte Wesen war seinerseits schuldig, befleckt, abscheulich; der positive Effekt wird verstärkt durch die negativen Kriterien der Opfer-Auswahl. Damit wird der berühmt-berüchtigte Sündenbock-Mechanismus erreicht. 66 Freilich kann auch eine tief ergreifende Ambivalenz zum Ausdruck kommen, wonach der allseits Verachtete zugleich der eigentlich Verehrte ist. Dies ist vor allem in der chrisdichen Tradition zur höchsten Wirkung gelangt, indem es so gelang, die Katastrophe des Kreuzestodes zu bewältigen. 67 Weiter sei der Sündenbock-Komplex hier nicht verfolgt. 68 Es genüge der Verweis auf den ,Versöhnungstag' nach biblischer Vorschrift: Ein Ziegenbock wird ,für Azazel' ausgewählt, die Sünden des Volkes werden auf sein Haupt geladen, und so führt man ihn in die Wüste. 69 Dort wird er wohl irgendwelchen Fressern zum Opfer fallen. Eine spätere Quelle behauptet, man habe den Bock von einem Felsen gestürzt. Die Zeichnung auf einer spätbronzezeitlichen Elfenbeinplatte aus Meggido ist oft als Illustration dieses Rituals angeführt worden; sie zeigt eine Sphinx, mit Löwenleib und Geierflügeln, die sich auf eine Ziege stürzt: Ein Dämon, der in seiner Gestalt verschiedene Raubtiere der Wüste zusammenfaßt. 70
Leben für Leben Gierige Dämonen, die den Menschen verfolgen, bestimmen die altorientalische Vorstellung von Krankheiten: Böse Wesen haben den Kranken gepackt; gegen sie stellt sich die heilende Magie. 71 Das übliche Verfahren ist, ein Tieropfer als Ersatz zu bieten, mit Worten wie: "sieh, diese Ziege ist groß und fett, nimm sie, und laß den Kranken frei." Entsprechende Vorstellungen und Riten wirken auch in der klassischen Antike. Ovid erzählt in seinen Fast; von Vampirvögeln, die in der Nacht umherfliegen, den striges - das Wort klingt fast wie die Bezeichnung der Hexen, strigae -; sie dringen ein in die Räume, wo kleine Kinder schlafen, und saugen ihnen das Blut aus, so daß sie kränkeln und sterben. Eine weise
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Frau jedoch fand das Mittel, den kranken Kindern zu helfen: Man nehme die Innereien eines Ferkels und spreche dazu: "Vögel der Nacht, verschont das Innere des Kindes. Für das Kleine fällt ein kleines Opfer. Nehmt, bitte, Herz fur Herz, Eingeweide für Eingeweide; diese Seele geben wir für eine bessere Seele." Die Schweine-Innereien, in Stücke geschnitten, werden im Freien ausgebreitet; man darf nicht zurückblicken, wenn man die Szene verläßt. 72 In der phantastischen Welt, die Mythos und Ritual entwerfen, müssen die verfolgenden Raubvögel durch ein Ersatzopfer befriedigt, muß ein anderes kleines Tier getötet werden. Was gegenüber realen Raubtieren funktional wäre, sie durch Füttern abzulenken, wird zur symbolisch-magischen Prozedur. Zugleich ist eine weitere, entscheidende Transformation vollzogen: Der Bedrohte findet Rettung, indem er selbst zum Töter wird. Dies verdoppelt gleichsam den angestrebten Schutz: Der mögliche Angreifer wird ebenso beschwichtigt wie bedroht; indem die Angst in Aggression umschlägt, ist das Gefuhl der Wirkung überwältigend. Die ominösen Worte ,Seele für Seele' oder ,Leben für Leben', animam pro anima,73 sind nicht nur aus Dichtung bekannt, sondern aus direkter religiöser Praxis. Vor allem Weihinschriften fur ,Saturnus' in Nordafrika gebrauchen diese Formel.74 Dabei ist daran zu erinnern, daß der ,Ersatz' im Opferwesen auch umgekehrt verlaufen kann, wonach dann nicht ein Tier an Stelle des Menschen, sondern ein Mensch an Stelle des Tieres tritt. SaturnusKronos ist der Gott, mit dem die antike Tradition die phönikischen und besonders die karthagischen Kinderopfer in Verbindung bringt, die man nach biblischem Zeugnis oft Moloch-Opfer genannt hat. 75 Laut Diodor waren sie in Karthago durch TierHolokauste normaler Art ersetzt worden, doch in besonders unheilvoller Lage, als Agathokles die Stadt belagerte, seien die Karthager zum Menschenopfer zurückgekehrt, als sei es das wirksamere Mittel zur Rettung.7 6 Solche Kinderopfer seien "Lösegeld für rächende Dämonen", schrieb Philon von Byblos.77 Das indische Butteropfer und das karthagische Kinderopfer erscheinen als zwei extreme Möglichkeiten in der Anwendung des Ersatzopfers. Die Septuaginta-Übersetzung hat selbst dem jüdischen Opfer diesen Sinn gegeben: Aus dem Satz "Das Blut, durch das Leben darin, schafft Sühne" wird in der griechischen Übersetzung: "Sein (des Opfertieres) Blut schafft Sühne anstelle der Seele", d. h. der Mensch bringt das blutige Opfer an Stelle des eigenen Lebens. 78
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Die Überzeugung, die Bedrohung eines Menschenlebens lasse sich nur durch Hingabe eines anderen Menschenlebens aufheben, ist eine Art Logik, die offenbar immer wieder ausgebildet werden kann. Admetos akzeptierte erfreut den Tod seiner Frau Alkestis an seiner Statt; Aristeides träumte von ähnlichem Ersatz. 79 Königin Amestris, laut Herodot, vollzog solche Opfer; doch auch einem König von Uppsala wird Entsprechendes zugeschrieben, ja eine ungarische Herzogin soll im 17. Jahrhundert Mädchen geschlachtet haben, um ihr Leben zu verlängern. 8o Caesar berichtet, es sei allgemeiner Brauch bei den Galliern, in Fällen von Krankheit, aber auch in Schlachten und in Gefahren überhaupt Menschenopfer zu vollziehen; "denn sie glauben, anders könne der Sinn der unsterblichen Götter nicht besänftigt werden, als wenn fürs Leben eines Menschen eines Menschen Leben erstattet werde" .81 In Rom kam es vor, daß Bürger den eigenen Tod gelobten, damit der kranke Kaiser genesen könne - und Caligula entblödete sich nicht, die Erfüllung eines solchen Gelübdes zu erzwingen. 82 Daß der geheimnisvolle Tod des Antinoos im Nil ein magisches Opfer war, um Kaiser Hadrians Leben zu verlängern, hat einige Plausibilität. 83 Daß insgeheim in Indien Kinder geopfert werden, um Krankheit oder andere Gefahren abzuwehren, wissen Zeitungen noch heute zu berichten. Im sumerischen Inanna-Mythos verlangen die ,Gesetze der Unterwelt', daß ein Ersatz gewährt werde, auf daß Inanna aus dem Reich der Toten zu den Lebenden zurückkehren kann; so fillt schließlich Dumuzi den unterweltlichen galle zum Opfer, die ihn verfolgen. Diese Dämonen "verschmähten die Opfergaben von Essen und Trinken, aßen nicht vom Mehl, das zum Opfer ausgebreitet war, tranken nicht vom Wasser, das zur Libation ausgegossen wurde":84 Diese Wesen sind so schrecklich, weil kein Ersatzopfer sie ablenken kann. Es bleibt, als erbauliche Möglichkeit, das freiwillige Opfer: Dumuzis Schwester Gestinanna tritt für ihn ein, er und seine Schwester werden schließlich den Aufenthalt in der Unterwelt unter sich aufteilen. In der Ursituation der vom Freßfeind bedrohten Herde - man mag sich Zebras und Gnus in Gegenwart von Löwen vorstellen können, wenn ein Tier gerissen ist, die anderen sich vorderhand sicher fühlen. Leben heißt Überleben. Das instinktive Programm scheint zu gebieten: Nimm einen anderen, nur nicht mich. Diesem Programm können sich auch Menschen kaum entziehen. In-
II. Das Opfer des Verfolgten
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dem sie dem verschlingenden Rachen des Untergangs zu entfliehen suchen, sind sie bereit ,Opfer' bringen, nicht ohne die Chance, durch Einsatz von Aggression die Angst in Triumph zu verwandeln. 85
IH. Handlungsprogramm und Erzählstruktur
,In Geschichten verstrickt'
In Geschichten verstrickt ist der Titel eines Buchs von Wilhelm Schapp, das 1953 erschien. I Nicht als Folklorist, sondern als Rechtsanwalt hatte Schapp die Erfahrung gemacht, wie die Leute, die zu ihm kamen, jeweils eine Geschichte mitbrachten: Das Problem, das einen einzelnen jeweils beschäftigte, Sorge, Unglück und Erfolg, hatte die Gestalt einer Geschichte angenommen, die zu erzählen war. In dieser Form war Lebenserfahrung und praktisches Wissen bewahrt und mitteilbar geworden. Schapps Ansatz ist von mehr als anekdotischem Interesse. Seit Aristoteles nimmt die Wissenschaft an, daß Wissen in Form von Sätzen vorliegt, Prädikation über ein Subjekt. "Die Welt ist, was der Fall ist", beginnt Wittgenstein. 2 Wir wissen, wie wir es gelernt haben, daß der Wal ein Säugetier ist oder der Blitz eine elektrische Entladung. So kennen wir eine statisch geordnete und begriffene Welt. ,Wissen in Geschichten' ist anderer Art: Was eine bestimmte Person der Reihe nach getan und erfahren hat, und was die Folgen waren - dies sind Einzelheiten, die sich nicht verallgemeinern lassen, und doch sind ,Geschichten' interessant, weil sie so verständlich sind. Kein Wunder, daß sie oft auch die alltägliche Kommunikation beherrschen. ,Erzählung' ist eine Weise, komplexe Erfahrung mitzuteilen. Das Interesse an Erzählungen hat sich in wissenschaftlicher Form vor allem in den Studien der Volkskunde niedergeschlagen, die seit Beginn des 19. Jahrhunderts großen Aufschwung nahmen. Am Anfang stand ein neu erwachtes Interesse ftir ,Mythos' - der Begriff des ,Mythos' wurde damals überhaupt neu entdeckt) Im Gefolge der Grimmschen Märchensammlung4 wurden dann überall in Europa und darüber hinaus Volks überlieferungen im Sinn nationaler Mythologien zusammengetragen und auch rekonstruiert. Eine Mythology oJ All Races erschien 1922.5 Damals schon war allgemein akzeptiert, daß die Tradition einer bestimmten Kultur, vor
IIl. Handlungsprogramm und Erzählstntktur
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allem soweit es sich um schriftlose Kulturen handelte, in Gestalt von Erzählungen gegeben ist. Solches ,Wissen in Geschichten' freilich unterscheidet sich von dem Material, von dem Wilhelm Schapp ausging, insofern es sich nicht, um Einzelerfahrungen lebender Individuen handelt, sondern um gemeinsamen Besitz einer Gruppe, eines Clans oder Stammes, wobei in gewissem Maße eben darauf das Bewußtsein der Identität dieser Gruppe beruht. Traditionelle Erzählungen in diesem Sinn sind freilich nicht homogen und nicht klar abgegrenzt. Inwieweit sich in allgemeiner, kulturübergreifender Weise bestimmte Klassen wie Mythen, Sagen, Märchen unterscheiden lassen, ist ein kaum zu lösendes Problem.6 Eben darum ist auch eine allgemeine Definition des Begriffs ,Mythos' fast ausgeschlossen.7 In Frage steht auch, inwieweit traditionelle Erzählungen stabil oder aber dauernder Veränderung unterworfen sind, und wie dabei Mündlichkeit und Schriftlichkeit ineinander wirken. Jedem Sammler und Forscher muß auffallen, daß vielerlei Erzählungen einander immer wieder so ähnlich sind, daß man Variationen allgemeinerer Typen zu konstatieren hat. Der zusammenfassende Index von Märchentypen, den Antti Aarne und Stith Thompson erarbeitet haben, umfaßt rund 1000 Nummern;8 doch läßt sich diese Zahl durch weitergehende Verallgemeinerung reduzieren. Dabei ist bezeichnend, wie leicht eine Erzählung sich merken läßt, wenn sie denn eine ,gute' Erzählung ist: Jeder fühlt sich in der Lage, eine Erzählung wiederzugeben, die er einmal gehört hat, sofern Aufinerksamkeit und Phantasie errregt worden sind; und jeder mag zur Gegenprobe erfahren, wie schwierig es ist, einige wenige sinnlose Silben auswendig zu lernen, ein paar Wörter Japanisch, oder eine zehnstellige Ziffer. Und doch hat der simpelste elektronische Speicher hiermit kein Problem. Eine Geschichte nachzuerzählen, ist offenbar eine Leistung ganz anderer Art. Es geht nicht um eine Lautabfolge und nicht um einzelne Wörter, ja in der Regel gar nicht um einen fixen Text. Mögen Kinder zuweilen auf exakten Märchentexten bestehen, der rechte Geschichtenerzähler kann erweitern und kürzen, veranschaulichen und andeuten, er kann in den Ausdrücken wechseln;· Geschichten lassen sich, im Gegensatz zu ho her Poesie, auch ohne weiteres in andere Sprachen übersetzen. Es geht nicht um den Text, sondern um die Abfolge von Ereignissen und Aktionen, die zusammen einen Sinn ergeben. Gewiß ist es auch in mündlicher Tradition
Ill. Handlungsprogramm und Erzählstruktur
möglich, bestimmte Texte in ihrem Wortlaut zu memorieren, wozu es dann freilich meist besonderer Motivation und auch bestimmter Hilfstechniken bedarf - so bei den Brahmanen, die den Veda auswendig lernen, oder in Koran-Schulen. Dies zeigt im Kontrast, wie ,natürlich' es ist, eine merkwürdige Geschichte sich zu merken. Sie hat eine ,packende' Wirkung, die doch freien Ausdruck erlaubt. Die Erzählung ist eine Sinnstruktur.9
Die Propp-Sequenz: Die abenteuerliche Suche Über die Struktur der Erzählung hat es viel Forschungsarbeit und Diskussion gegeben. Als ein besonders erfolgreicher und einflußreicher Ansatz, der zugleich leicht verständlich erscheint, hat sich dabei die ,Morphologie der Erzählung' von Vladimir Propp erwiesen. 1O Propp hatte als Arbeitsgrundlage ein Corpus russischer Märchen; doch die Ergebnisse seiner Studien reichen weit darüber hinaus. II Nach Propp läßt sich eine Erzählung als Abfolge von 31 ,Funktionen' beschreiben. Verkürzt und vereinfacht verläuft dies so: Es kommt ein Verlust zustande, ein Bedürfuis oder Wunsch (8); der ,Held' wird ausgeschickt (9), er faßt seinen Entschluß (IO); er verläßt sein Zuhause (II); er begegnet einem Partner, der ihn auf die Probe stellt (12); indem er darauf reagiert (13), erhält er ein Geschenk, ein Zaubermittel (14); so ausgestattet erreicht er den gesuchten Ort (15), wo er mit einem Gegner in Konflikt gerät (16); er erhält dabei eine Markierung, ja Verwundung (17), doch bleibt er siegreich (18); der anfangliche Verlust oder Mangel ist damit behoben (19). Der ,Held' tritt die Rückreise an (20); er wird verfolgt (21), doch gerettet (22); er kommt unerkannt nach Hause oder an einen neuen Ort (23); ein falscher Held tritt auf als Konkurrent (24); über eine schwere Probe (25) kommt der ,Held' zum endlichen Erfolg (26), er wird erkannt (27), der falsche Held wird entlarvt (28), bestraft (30); der ,Held' vermählt sich und besteigt den Thron (31). Das Wesentliche ist, nach Propp, daß diese ,Funktionen', nicht etwa die Personen die konstanten Elemente einer Erzählung sind; dabei ist ihre Anzahl begrenzt, ihre Reihenfolge unurnkehrbar. Nicht alle ,Funktionen' müssen in einer Erzählung vorkommen auch der eben gegebene Abriß hat mehrere ausgelassen -, doch je-
III. Handlungsprogramm und Erzählstrukiur
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de Erzählung enthält Glieder dieser Kette in der rechten Folge; dabei können Stücke der Kette auch wiederholt werden. Es gibt Versuche einer weitergehenden Formalisierung, vor allem durch Alan Dundes; I2 dabei verliert sich freilich die nachvollziehbare, ,merkwürdige' Abfolge in der Abstraktion. Man hat kritisiert, Propp habe sich ausschließlich auf ein bestimmtes Corpus gestützt, auf die russische Märchensammlung von Manas' ev: "So hat sich das Stilempfinden A[fanas' ev']s bzw. des Bauern Zyrjanov ein Jahrhundert später in den USA, Frankreich und Deutschland bei Erzählforschern als ,Tiefenstruktur' jeder Erzählung, ja des ,homo narrans' überhaupt, geltend gemacht." [3 Anderen mag mehr noch der Einfluß der klassischen europäischen Tradition unbehaglich erscheinen. [4 Da ist es beruhigend, daß Propps Methode, worauf immer sie gebaut ist, sich in einem viel weiteren Umkreis von Mythen bewährt, an die weder Propp noch Afanas'ev, geschweige denn sein russischer Bauer gedacht haben können. Innerhalb der griechischen Mythologie - die Propp in seinem Buch nicht ausdrücklich behandelt hat - tritt seit langem die Perseus-Geschichte als Muster einer Erzählung überhaupt hervor, und sie ist eine Propp'sche Sequenz par excellence:[5 Um das Haupt der Medusa zu gewinnen (9) begibt sich Perseus auf eine Reise (II), die ihn bis ans Ende der Welt fUhrt; dort trifft er die Graiai, von denen er entscheidenden Rat und Zaubergeschenke erhält (I2!I4); so begegnet er der Gorgo (16), die er tötet (18); er entkommt der Verfolgung durch die Gorgonen-Schwestern (21122) und gewinnt dann eine Braut. Eine andere recht bekannte Gruppe von Erzählungen sind die ,Arbeiten des Herakles'. Gleich der PerseusGeschichte finden wir diese nicht in der Gestaltung eines großen Dichters vor, sondern fast nur in knappen Zusammenfassungen und Anspielungen und einer weitverbreiteten Ikonographie. [6 Es handelt sich hier in der Tat um volkstümliche Überlieferung, von der die hohe literarische und künstlerische Kultur getragen ist. Eben diese ,Arbeiten' nun des Herakles, wenn überhaupt erzählt, wiederholen immer wieder das Propp'sche Schema. Um etwa die Rinder des Geryoneus zu gewinnen, [7 muß Herakles, laut Auftrag des Eurystheus (9), eine lange Reise antreten (II): er trifft den Meergreis, der ihm wichtige Weisung gibt, er trifft den Sonnen. gott Helios, der ihm sein Zaubermittel überläßt, den goldenen Becher, mit dem er den Okeanos am Rand der Welt befahren kann
III. Handlungsprogramm und Erzählstruktur
(12114); bei Ankunft auf der Insel Erytheia (15) hat Herakles den Kampf mit dem dreiköpfigen, ,brüllenden' Unhold Geryoneus, dem Herrn der Tiere, zu bestehen (18); er tötet ihn, er gewinnt die Herde (19); Verfolgung gibt es nicht auf der Heimreise, wohl aber wiederholte Abenteuer mit ,falschen Helden' (24126), die sich der Herde auf dem langen Weg über Provence, Rom, Sizilien inuner wieder bemächtigen wollen. Die Hochzeit (3 I) findet ganz am Ende im Olymp statt, nachdem alle ,Arbeiten' abgeschlossen sind. Ein anderes Modellbeispielliefert der Argonautenmythos. Er erhielt eine literarische Gestalt erst in der hellenistischen Epoche durch Apollonios von Rhodos; doch Jahrhunderte zuvor schon war diese Erzählung allen bekannt und lieb, wie die Odyssee bezeugt. 18 Als Märchenstruktur hat Karl Meuli die Argonautengeschichte behandelt; 19 sie entspricht ganz deutlich der Pro ppSequenz: Pelias wünscht sich das goldene Vlies (8), Iason erhält den Auftrag (9); die Gewinnung einer ganzen Gruppe von ,Helfern' (12114) noch vor Antritt der Reise, in diesem Fall die Besatzung des Argo-Schiffs, ist eine Eigentümlichkeit eben des ,Helfermärchens' . Es gibt weitere Helfer, doch auch gefährliche Antagonisten auf der langen Fahrt des Schiffs, bis endlich das Ziel erreicht ist (15), das Land Aia oder Kolchis, wo Medea, die Zauber-Prinzessin, dann zur entscheidenden Helferin wird, Rat und magischen Schutz gewährt gegenüber dem eigentlichen Gegner, dem Vater Aietes. Es folgt die Probe (18), die Aneignung des gesuchten Gegenstands (19), Flucht (20) und Verfolgung (21), wobei das Entkonunen an der magischen Zerstückelung des Apsyrtos hängt (22).20 Dann bricht die Erzählfolge ab, obgleich die Rückkehr mit Hochzeit und Thronbesteigung enden müßte. Diese Fortsetzung wird von einer neu einsetzenden, bösen Geschichte verdrängt, indem die Weigerung des Pelias, sich dem Schema zu fUgen, die neuen Verbrechen Medeas auf den Plan ruft, bis zur schließlichen Katastrophe im Exil. Dabei hat das Ziel der Argonauten-Expedition, das goldene Vlies, fast unmerklich seinen Sinn eingebüßt; die Abenteuer-Geschichte versinkt, indem sie zur Vorgeschichte der Medea-Tragödie wird. Eine Abenteuer-Erzählung untypischer Art ist auch die Odyssee. 21 Teile aus den Erzählungen des Odysseus können inunerhin als perfekte Exemplare der ProppSequenz gelten, so vor allem die Kirke- und die KyklopenGeschichte.
III. Handlungsprogramm und Erzählstruktur
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Die ältesten Erzählungen, die schriftlich aufgezeichnet wurden, liegen vor in der noch immer nicht voll erschlossenen sumerischen Literatur. Eben hier triumphiert die Propp-Sequenz. ,Gilgamesh und Humbaba' ist seit langem als Teil des Gilgamesh-Epos bekannt, doch die ältere, selbständige sumerische Fassung ist erst vor kurzem vollständig veröffentlicht worden. 22 Die Erzählung setzt ein mit dem Wunsch des Helden Gilgamesh (8), zum Berg zu ziehen, ,um seinen Namen aufzustellen'. Er sammelt seine Helfer (14), denen sein Diener Enkidu voransteht; doch wird auch eine merkwürdige Gruppe von ,Sieben' genannt, die Züge von Tieren, von Löwe, Adler und Schlange tragen und vom Sonnengott übermenschliche Fähigkeiten verliehen bekommen haben. Auch die jungen Männer der Stadt insgesamt erscheinen als Teilnehmer. Offenbar ist es bereits in diesem ganz frühen schriftlichen Text zu einer Verdoppelung oder Verdreifachung der Motive gekommen, sind Varianten nebeneinandergestellt; der Platz der ,Funktion' und ihre Bedeutung werden dadurch eher bestätigt. Dann hat Gilgamesh sieben Berge zu überqueren, bis er am Zedernbaum angekommen ist (15); er fällt die Zeder; da greift ihn der Wächter des Waldes, Humbaba, an (16), er besiegt Gilgamesh mit einer Wunderwaffe, einem Schreckensstrahl (17); doch dank Enkidus Beistand kann sich Gilgamesh erholen; er beginnt listige Verhandlungen mit Humbaba, bietet ihm die eigenen Schwestern als Konkubinen an; schließlich ist Humbaba bereit, seine Wunderwaffe auszuliefern, und damit unterliegt er der Gewalt; Enkidu haut ihm den Kopf ab (18). Der Kopf wird dem Gott Enki präsentiert (20), der eine neue Machtordnung ,bestimmt'. So endet die Erzählung als Aitiologie auf religiöser Ebene. Doch Propps ,Funktionen' in der rechten Folge haben unverkennbar den Aufbau bestimmt. Ein in manchem paralleler, bedeutender sumerischer Text ist ,Ninurta und der Asakku'.2] Da ist ein ,Schaden' eingetreten (8), indem der dämonische Asakku, ein Sohn von Himmel und Erde, sich im Gebirge festgesetzt hat; er hat mit dem Gebirge kopuliert und eine Schar von Felsen-Dämonen gezeugt, die nun gegen die Götter rebellieren. Ninurta, der Götterheld, akzeptiert den Auftrag der Großen Götter und zieht aus zum Kampf (91 11). Sein Helfer ist die Waffe Sharur, die sprechen kann (12114). Der Kampf mit dem Asakku (16) wird schwierig, - einen Kampf recht zu beschreiben ist auch gar nicht einfach; doch schließlich ist Ninurta siegreich (18), der Asakku ist vernichtet, das Land kann für die
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Landwirtschaft erschlossen werden; die Felsendämonen werden zu Mineralien. Im Grund nimmt Ninurta die Rolle eines KulturHeros wahr, der den Herrn des Gebirges überwindet, wie Gilgamesh den Herrn des Waldes. 24 Die Abenteuer-Sequenz ist im Begriff, sich auf die bloße Kampferzählung zu reduzieren; doch bleibt der Vorstoß ins Unbekannte ebenso wie der gegenständliche Gewinn, der nach Hause geholt wird, ob es nun um Steine vom Berg oder um Bauholz rur den Tempel geht. Noch genauer fUgt sich der Proppschen Struktur der berühmte Text von ,Ishtars Höllenfahrt' oder vielmehr, in der älteren sumerischen Fassung, von ,Inannas Katabasis'.25 Bei dieser Erzählung mißlingt, wie so oft, der erste Akt des ,Abenteuers': Inanna, die Göttin der Fruchtbarkeit, begibt sich in die Unterwelt, das ,Land ohne Wiederkehr', und wird dort gefangen. Dies wäre der ärgste Verlust (8), eine Katastrophe fUr alles Leben; hier setzt die ,Suche' ein: Der kluge Gott Enki erschafft als ,Helden' eine Art Schamanen, kurgaru und kalaturru,26 und schickt sie auf die Suche (9); sie kommen zur Unterwelt (II), wo sie gleich Fliegen unbemerkt durch alle Tore gelangen; sie treffen auf den Gegner, Ereshkigal, die Königin der Unterwelt (16). Gewalt ist hier nicht zu brauchen, sie setzen Klugheit ein: Sie passen sich der Klage-Stimmung der Herrin an, sie machen sich durch respondierende Klagen beliebt, und als sie schließlich um ein Geschenk bitten können, da verlangen sie jenen eingetrockneten Rest, der von Inanna geblieben ist (19). Sie besprengen ihn mit Wasser des Lebens und kehren an die Oberwelt zurück (20). Doch verfolgt sie jetzt eine ganze Schar von Dämonen, die nur durch ein Ersatzopfer befriedigt werden können. 27 Auch hier geht der Mythos über in die Aitiologie von Opferfesten; die akkadische Version zielt direkt auf ein Totenfest. Doch die ,magische Flucht' gehört noch immer zur ProppSequenz. Höhepunkt des Gilgamesh-Epos ist die bedeutendste Suche des Menschen, die Suche nach dem Leben. Ein schwerer Verlust (8), der Tod des Freundes Enkidu, veranlaßt Gilgamesh seine Heimat zu verlassen (I I) und durch die unwegsame Steppe seinen Weg zu suchen. Wie eigentlich der Gedanke, schlechtweg das ,Leben' zu suchen, zustande kommt, ist uns vorläufig durch eine Lücke des Textes verborgen. Jedenfalls hat der ,Held' einen abenteuerlichen, phantastischen Weg angetreten, er wandert auf der Bahn der Sonne durch den Zwillingsberg, er trifft jenseits davon seine Helferin (12),
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die ,Schenkin' Siduri; sie kann ihm Weisung geben, wie er die ,Wasser des Todes' mit dem Fährmann Urshanabi überqueren und Utnapishtim erreichen kann (15), den Sintflut-Helden, der allein dem Tod entgangen ist. Utnapishtim empfangt Gilgamesh freundlich, nicht ohne seine eigene lange Geschichte von der Sintflut bei dieser Gelegenheit zu erzählen; er stellt Gilgamesh Proben, die dieser nicht eben gut besteht; trotzdem teilt er mit, wo das ,Kraut des Lebens' zu finden ist, das Gilgamesh an sich nimmt (19). Gilgamesh macht sich auf den Heimweg (20), zusammen mit Urshanabi. Doch an einer Quelle, als Gilgamesh eingeschlafen ist, kommt eine Schlange und verschluckt das Kraut des Lebens (24). So ist die Suche letztlich gescheitert. Künftig kann die Schlange sich verjüngen, indem sie die alte Haut abstreift; der Mensch bleibt dem Tod verfallen. Pessimistische Weisheit hat die optimistische Grundstruktur verformt, die der Erzählung von Haus aus eigen ist. 28 "Die Erzählung (mythos) ist die Seele des Dramas", schrieb Aristoteles,>9 wobei er unter ,Seele' ein gestaltendes Naturprinzip verstand. Die Propp-Sequenz wirkt als gestaltendes Prinzip seit den ältesten Erzählungen, die aufgezeichnet wurden, und weit über die klassische Mythologie hinweg bis in die Moderne hinein. Es wäre ebenso einfach wie ermüdend, das Schema weiter zu verfolgen durch Romane, Dramen, Filrnhandlungen; Science Fiction und Computer-Spiele kommen am wenigsten davon los. Hier ist offenbar ein überkulturelles, allgemeines Programm, Erlebnisse zu organisieren, am Werk. Darum können wir eine Geschichte, wenn wir sie denn verstehen, so leicht behalten, wiedergeben, ja rekonstruieren aus unvollständigen Aufzeichnungen oder Gedächtnisbrocken. Wir wissen eigentlich immer schon, was kommen muß; wir haben es meistens auch gern, wenn eine Geschichte noch einmal erzählt wird. Es wiederholt sich und ist doch immer wieder neu, das zu bestehende Abenteuer von Suchen und Finden, Verfolgung und Rettung, Verlust und Gewinn in schwankender Balance, wie es sich sukzessive und Schritt fur Schritt entfaltet.
Vom biologischen Programm zur sprachlichen Struktur Es ist eine naheliegende Annahme, daß die Form, wie eine Geschichte zu erzählen ist, auf einem Lernprozeß beruht. Kindern schon erzählt man Geschichten, viele Geschichten wechselnden
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III. Handlul1gsprogramm und Erzählstruktur
Inhalts; dabei bildet sich ein Merksystem aus, mit der rechten Abfolge der ,Funktionen', womit das Verstehen immer rascher und besser gelingt. Dann freilich sollte man erwarten, daß in verschiedenem Kontext ganz verschiedene Formen zustande kommen, wie man Erfahrungen ordnet, daß also ganz verschiedene Erzähltypen in unterschiedlichen Kulturen auftauchen müßten. Doch die Sequenz der ,Suche' ist erstaunlich beständig und nahezu allgegenwärtig, über vier Jahrtausende und vielerlei Kulturbrüche hinweg. Dies gibt Anlaß, Basis und ,Ursprung' jenseits der Einzelkulturen zu vermuten. 1979 formulierte ich: "Fragen wir, woraus eine solche Sinnstruktur, ein solches Aktionsprogramm abgeleitet sein kann, muß die Antwort offensichtlich lauten: Aus der Realität des Lebens, ja aus der Biologie. Jede Ratte durchläuft bei der Futtersuche immer wieder diese ,Funktionen'."3 o Wie auch immer das Verhalten von Ratten studiert und manipuliert wird, es zeigt sich die Energie und rasche Intelligenz dieses erfolgreichsten Tieres, wobei es eigentlich immer seinem alltäglichen Problem nachgeht, der Futtersuche. Übrigens ist auch für unsere nächsten Verwandten, die Menschenaffen, die Futtersuche das Hauptunternehmen eines Tages geblieben; Menschen können vorsorgen, organisieren und konzentrieren. Offensichtlich muß das Programm, das die hier angezeigten Bedürfuisse eines hoch entwikkelten Lebewesens zu befriedigen hat, eine Abfolge grundlegender ,Funktionen' enthalten: Bewußtwerden des Bedürfuisses (8), Verlassen der Basis (II), Entdeckung des rechten Orts (15), Begegnung mit Konkurrenten und potentiell gefährlichen Gegnern (16), Erfolg (I8), der das Bedürfuis stillt (I9); die Rückkehr nach Hause (20) kann schwierig werden, es kann Verfolgung durch Konkurrenten geben (2I); das Ziel ist· die Rettung (22), die Selbsterhaltung. Mit anderen Worten: Praktisch die ganze Propp-Sequenz ist in dieser Abfolge praktisch-biologischer Notwendigkeiten der Nahrungssuche vorgezeichnet. Die Hauptlinie der Propp-Sequenz ließ sich in einem Wort zusammenfassen, ,Suche' im Sinn des Abenteuers, the quest, la quete, was Gefahren und Kampf einschließt. Auf biologischer Ebene ist Ziel in erster Linie die Nahrung, was von der Auseinandersetzung mit jenen anderen, die nach den gleichen knappen Ressourcen ,suchen', unablösbar ist; es gibt Tricks und Überlistung, es gibt Kämpfe, es gibt Flucht.
III. Handlungsprogrammund Erzählstruktur
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Ich formulierte seinerzeit auch: "Aktionen werden durch das Verbum dargestellt; die Verbalwurzel, die ,Nullform' des Verbums aber funktioniert in vielen Sprachen - so im Englischen, Französischen, Lateinischen, Semitischen und Türkischen, meist auch im Deutschen - als Imperativ. Kommunikation durch Imperative ist sogar primitiver, grundlegender als die Kommunikation durch Feststellungen, durch Normalsätze. Die tiefste Tiefenstruktur einer Erzählung wäre demnach eine Folge von Imperativen: ,Such', das heißt: ,Geh', ,sieh dich um', ,finde', ,kämpfe', ,pack's', und ,lauf zurück'. "JI Eine denkwürdige, überraschende Bestätigung dieser These kommt aus jenem Bereich, der wohl zugegebenermaßen eine Mittelstellung einnimmt zwischen biologischen Funktionen und menschlichen Handlungen: aus der ,Sprache' der Schimpansen. Man hat bekanntlich einigen Schimpansen die TaubstummenZeichensprache gelehrt, mit erstaunlichem Erfolg. Die Schimpansin, die es als erste weit darin gebracht hat, heißt Washoe. Ob es sich bei solcher Kommunikation nun um den Gebrauch ,echter' Sprache handelt oder um ein Zwischending, das noch-nicht-ganz oder doch-nicht-ganz Sprache ist, bleibt vorläufig der Gegenstand heftiger Debatten. Doch darauf kommt es hier nicht an. Jedenfalls können Menschen und Schimpansen durch dieses Medium sich recht genau und detailliert gegenseitig verständigen. Freilich scheint die Begeisterung der Schimpansen fur dieses Medium nicht eben groß zu sein; ihr Interesse geht kaum über Eßbares hinaus. Jedenfalls: Foger S. Fouts, der mit Washoe gearbeitet hat, berichtet von folgender Unterhaltung: "George: Was willst du? Washoe: Orange, Orange. George: Keine Orange mehr da. Was willst du? Washoe: Orange. George (ärgerlich werdend): Keine Orange mehr da. Was willst du? Washoe: Du Auto gehen. Gib mir Orange. Schnell. "3 2 Deutlich wird hier eine Sequenz formuliert, um zur erwünschten Nahrung zu gelangen. Die Schimpansin ist so intelligent, daß sie nicht nur den eigenen Wunsch kennt und ausdrückt, sondern angesichts eines Mangels die notwendige Abfolge der Handlungen organisieren kann. Sie war nicht etwa unmittelbar vorher im Auto mitgenommen worden, wird berichtet; doch sie weiß, daß man Orangen per Auto aus dem Supermarkt holt. So ist die ProppSequenz in ihrer Grundstruktur bereits aufgebaut, als Sinnstruktur. Am Anfang steht das Bedürfuis (8); der ,Held' erhält einen Auftrag
III. Handlungsprogramm und Erzählstruktur
(9), er muß das geeignete magische Mittel einsetzen (14); dann sollte das Bedürfnis bald einmal gestillt sein (19). Washoe hat ihr Ziel und stellt einen entsprechenden Plan auf, den sie in eine Kette von Befehlen gliedert. Man darf unbedenklich sagen, daß die Schimpansin die Serie notwendiger Handlungen im eigenen Gehirn vorbereitet und korreliert. Man kann ja ,Denken' weithin überhaupt als Vorbereitung von Bewegung fassen, was der eigentlichen Aktion vorausgeht. Nachdem Washoe die Zeichensprache gelernt hat, kann sie ihr ,Denken' in ,Sprache' umsetzen, als eine Abfolge von Imperativen. Erstaunlich ähnlich ist die ,Proto-Sprache', die man an einem vernachlässigten, stark retardierten Kind beobachtet hat, das nie mehr richtig sprechen lernte: Die differenzierteste Äußerung, die dieses Kind zustande brachte, war "Apfelsaft - Kaufen - Laden".JJ Auch hier wird nicht nur das Bedürfnis ausgedrückt, sondern ein Wissen um das Mittel, mit dem der Wunsch zu erfüllen ist; so wird eine sprachliche Sequenz gebildet, wobei ein Verbum als Imperativ im Zentrum steht. Natürlich hat Washoe nicht etwa eine Geschichte erzählt. Und doch dürfte sich eben hier die Chance ergeben, das ,missing link' zwischen Biologie und Sprache aufZuspüren und festzumachen, insofern das Handlungsprogramm, die Vorbereitung der Bewegung im Denken, als Zeichenfolge mitteilbar geworden ist. J4 Das biologische Grundprogramm der Futtersuche kann mental als Handlungsabfolge vorbereitet werden und äußert sich dann am einfachsten in Imperativen. Die Abfolge setzt eine Analyse voraus, in der das instinktive Bedürfnis in Ziele, Mittel, Begleitumstände gegliedert und das rechte Zusammenspiel organisiert wird. Das gestaltende Prinzip der Erzählung, die ,Seele' der Handlung ist bereits auf biologischem Niveau in Aktion getreten. Die Erzählung entsteht als die organische Folge der ,Funktionen', mit der praktischen Aufgabe, ein Problem zu lösen. Mit anderen Worten, die abenteuerliche Suche wird eingesetzt als Mittel der Problemlösung, dargestellt und mitgeteilt in Form einer Erzählung. Es geht nicht darum, tierische Biologie auf den Menschen zu übertragen, vielmehr die Besonderheit menschlicher Kultur auf dem Hintergrund des Nächst-Verwandten zu erfassen, die Errungenschaften des Menschen in jener urtümlichen Landschaft zu sehen, die die Grundfiguren vorgezeichnet hat. Daß nunmehr Ursprung und Funktion von Sprache überhaupt erklärt ist, sei nicht
IIf. Handlungsprogramm und Erzählstruktur
behauptet; auch sind damit keineswegs schon alle Einzelheiten der Propp-Sequenz zulänglich gedeutet. Ein Detail verdient noch besondere Beachtung, die Begegnung mit dem ,Helfer' und die Gewinnung des Zaubermittels, das der Suche zum entscheidenden Erfolg verhilft (12114).35 Ein phantastischer Märchenzug, möchte man meinen, der freilich auch in den Mythen seinen Platz hat: So helfen die Graiai dem Perseus auf seinem Weg zur Gorgo, so zeigt Hermes dem Odysseus das Zauberkraut moly, mit dem er Kirke widerstehen kann. 36 Von Biologie scheint dies weitab zu liegen. Und doch: Was bei jeder ,Suche' zwischen Erfolg und Mißlingen entscheidet, ist jeweils ein Moment, in dem aus allerlei tastenden Versuchen und vagen Möglichkeiten ein klarer, durchführbarer Plan herausspringt, der unverzüglich in Angriff genommen wird - ein ,Aha-Erlebnis', wenn man nicht gar von ,Inspiration' sprechen will. "Ein Gott gab es ihm in den Sinn", sagt die homerische Formel in solchem Fall. So tritt Athena dem disorientierten, im Nebel befangenen Odysseus gegenüber und läßt ihn Ithaka erkennen. 37 Auch an Schimpansen hat man längst beobachtet, daß sie ,nachdenken', bis sie ihrerseits zum ,Aha-Erlebnis' gelangen. Gewiß, nur Menschen können daraus Geschichten machen, aber der Augenblick der ,inspirierten' Klärung und Entscheidung folgt den Spuren biologischer Programmierung, so gut wie der ,haarsträubende' Effekt des Abenteuers. Eine weitere seltsame Eigenheit der Abenteuer-Erzählung ist die Asymmetrie von Auszug und Rückkehr. Die Route der Rückreise scheint oft völlig verschieden vom Weg bis hin zur entscheidenden Konfrontation. Dies widerspricht der normalen Ordnung des Raumes. Entgegen aller Geographie müssen die Argonauten, statt direkt vom Pontos durch die Meerengen nach Iolkos zurückzufahren, den Umweg über die Donau - ursprünglich wohl über den Okeanos - bis weit nach Westen und gar bis Afrika nehmen. Odysseus kann nicht einfach zurückfahren, nachdem er zur KirkeInsel gelangt ist, unerwartet liegen jetzt Skylla und Charybdis im Weg. Auch solche Asymmetrie spiegelt eine biologische Realität, ändern sich doch die Probleme und Perspektiven ganz plötzlich im Augenblick des Erfolgs. Die Ratte, die den Bissen erschnappt hat, nmß schnellstens davonrennen, um der Verfolgung durch Konkurrenten zu entkommen. So nimmt gerade die erfolgreiche ,Suche' ein überraschendes Ende.
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III. Handlungsprogramm und Erzählstn4ktur
Den Übergang von realitäts bezogenen Imperativen zur eigentlichen, von der Aktualität abgekoppelten Erzählung kann man sich unschwer vorstellen, auch wenn dies außerhalb des Bereiches des Bezeugten fällt. Offensichtlich gebrauchen Menschen ihre Sprache sehr gern auch ohne drängende Notwendigkeit direkter Information. Menschen sind gesprächig und empfinden es als nahezu unerträglich, schweigend zusammen zu sein.l 8 Wir vermögen uns vorzustellen, wie unsere fernen Ahnen abends am Feuer saßen, wie sie dabei die Serien von Imperativen, die bei den wichtigen Tätigkeiten des Tages aufgetreten waren, in der Erinnerung und wie im Traum wiederholten. Durch die Trennung vom aktuellen Geschehen änderten die Imperative ihre Funktion - und wurden zur Erzählung, die immer noch die ,Funktionen' in ihrer Reihenfolge bewahrt. So wird sie von allen verstanden, so ergibt sie Sinn. In der Evolution des Menschen war, Hunderttausende von Jahren lang, die Jagd wohl die bedeutendste, die abenteuerlichste Art der ,Suche'.l9 Die ersten Erzählungen könnten Jagdgeschichten gewesen sein, im vorgegebenen Programm der Suche; Kampferzählungen werden ihnen gewiß bald den Rang abgelaufen haben. Indem Erzählen traditionell wurde, ergaben sich neue, dauernde Leistungen des kulturellen Brauchs: Wenn man Organisationen der geistigen Welt Schritt fur Schritt, doch gleichsam im Leerlauf erproben kann, wird die sprachlich gestaltete, gemeinsame geistige Weh einer Gemeinschaft aktualisiert, intensiviert und weitergegeben. Die indogermanische ,Ursprache', die man rekonstruieren kann, hatte merkwürdigerweise eine besondere, besonders schlichte Kategorie der Verbalkonjugation, den ,Injunktiv' - man hat auch von ,Primitiv' gesprochen -, der einerseits als Imperativ und andererseits als ,erwähnende' Erzählung verwendet wurde. 40 Diese Verbalformen existieren noch im Veda; im Griechischen sind Relikte faßbar. ,Erwähnende Beschreibung' bedeutet, daß im Grund Bekanntes zur Sprache kommt, daß es nicht um neue Informationen geht. Gewiß, auch die indogermanische ,Ursprache', die vielleicht im 4. Jahrtausend v. ehr. lebendig war, ist von den Anfängen menschlicher Sprache schon sehr weit entfernt. Und doch scheint gerade hier der Übergang vom Imperativ zur Erzählung noch direkt faßbar zu sein, wie er als Möglichkeit im Rahmen der abenteuerlichen Suche zu postulieren war.
111. Haltdlungsprogramm und Erzählstruktur
Schamanenerzählungen Es gibt eine Theorie, wonach ein bestimmendes Prinzip, wenn nicht gar der Usprung des Erzählens vom speziellen Ritual des Schamanismus herkomme. Der Schamane ftihrt in Ekstase vor, wie er eine abenteuerliche Suche in jenseitIge Bereiche unternimmt; er kann zum Himmel aufsteigen oder in die Unterwelt hinabfahren; er begegnet Geistern, Dämonen, Göttern. Zweck der Reise ist, die ,Seelen' von Kranken zurückzuholen, die man im Jenseits gefangen glaubt, oder aber die Tiere ftir die Jagd frei zu bekommen, die von einem vielleicht gekränkten Herrn der Tiere oder einer Herrin der Tiere zurückgehalten werden. Die klassischen Berichte über Schamanen stammen aus Sibirien und von den Eskimos. Durch Lautnachahmung und Symbole neben normalem Sprechen macht der Schamane denen, die an der Seance teilnehmen - und die das Normalprogramm der Sitzung sowieso kennen -, die Abfolge seiner Abenteuer unmittelbar deutlich. Doch läßt sich diese Folge leicht wiederholen, indem man sie erzählt oder eher wiedererzählt. Daher die Annahme, daß Schamanendichtung in der Entwicklung vorliterarischer Erzählkunst eine Rolle, vielleicht sogar die entscheidende Rolle gespielt habe und damit als wichtiger Faktor in der Geschichte von Literatur überhaupt zu gelten habe. 41 Zahlreiche Abenteuer-Erzählungen scheinen in der Tat auf einen schamanistischen Hintergrund zu verweisen, insofern die ,Reise' übers Vertraute hinaus in ein Jenseits zielt. Wenn die Argonauten das Goldene Vlies aus dem Sonnenland zu holen haben, wenn ihre Aufgabe gar ist, "die Seele des Phrixos zurückzubringen", wie es bei Pindar heißt, wenn zudem der Name des Helden, Iason oder Ieson, als ,Heiler' verstanden werden kann,42 sind eindeutig schamanistische Elemente versammelt. Unter den sumerischen Texten ist Inannas Rückholung aus der Unterwelt ein durchaus schamanistisches Unternehmen. 43 Der asinnu, wie der Held in der akkadischen Fassung heißt, repräsentiert eine im realen Leben durchaus bekannte Berufsklasse oder Lebensweise, die im Fluch Ereshkigals beschrieben wird: Sie sind marginale Sonderlinge ohne Haus und Familie, sie spielen eigentümliche Instrumente, man braucht sie ftir bestimmte Rituale. Man kann sie als abgesunkene Schamanen betrachten. Gilgamesh seinerseits gelangt auf dem Weg der Sonne und über das Wasser des Todes zu Utnapishtim, Herakles erreicht mit dem Sonnenboot die Insel des Geryoneus;
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II1. Handlungsprogramm und Erzählstruktur
Odysseus trifft Kirke, die Tochter des Sonnengottes, auf der Insel Aiaie, wo die Tanzplätze der Morgenröte sind; Odysseus fährt einmal auch direkt in die Totenwelt, die jenseits des Okeanos liegt. All dies sind Jenseitsfahrten; all diese ,Helden' könnten Schamanen genannt werden. Charakteristisch rür SchamanenVorführung ist weiterhin, daß die abenteuerliche Reise an die erste Person Singular gekoppelt ist, wenn denn der Darsteller spricht: "Ich gehe, ich sehe". Wird die unmittelbare Erfahrung in Erzählung umgesetzt, so wird daraus: ,ich ging, ich sah.' In unserer Odyssee erscheint die Ich-Erzählung des Odysseus als ein literarischer Kunstgriff, der seine Wirkung nicht verfehlt; der schamanistische Hintergrund ist weithin noch erkennbar, beim Kyklopen, bei Kirke, beim Eindringen in die Welt der Toten. Schamanismus unterwirft Phantasiewelten seinem Ritual und gibt damit dem Unbekannten Gestalt. Der reale Schamane konzentriert sich auf das Handlungsprogramm einer ,Suche' aus dem Bedürfuis der jeweiligen Situation heraus. Zur ,Suche' gehört das Verlassen der Heimatbasis, die Sammlung von Helfern, die Ankunft am entscheidenden Ort, die Auseinandersetzung mit einem übernatürlichen Partner - einem Gott, einem ,Herrn' im Bereich des Lebens -; flehentliche Bitte, Gefälligkeiten und Dienstleistungen können dabei ebenso eingesetzt werden wie List und sogar Gewalt. Dann kommt es darauf an, den Rückweg zu finden, durch mancherlei gefährliche Regionen, wo es auch verfolgenden Dämonen zu entkommen gilt. Schamanistische Vorführung und Erzählung scheinen in ähnlicher Weise verbunden zu sein wie Imperativ und Erzählung. Es scheint ein leichter Übergang, wenn eine Erzählung zur Vorführung wird oder umgekehrt Handlungsimpulse in ihrer Folge zusammenfaßt. In solcher Perspektive dürfte der Komplex von Mythos und Ritual sehr weit zurückreichende Wurzeln haben; heißt doch Ritual eben dies, bestimmte Vorschriften in der rechten Folge auszuspielen. 44 Eine kulturspezifische Form solchen Ineinanders mit alter Tradition und reicher Ausgestaltung ist die schamanistisehe Sitzung; eine ganz andere, in hochkultureller Umgebung und weit später entstanden, ist das Theater. Bei den Griechen blieb dieses immer noch der Leitung des Mythos unterstellt. Schamanistische Erfahrung setzt in der Trance den Vorrang einer Welt der Bedeutungen voraus gegenüber pragmatischer Interaktion mit ,Wirklichem'. Und doch ist solche Phantasie nicht un-
III. Handlungsprogramm und Erzählstntktur
begrenzt; sie wirkt nach Programmen, die in der biologischen Evolution längst angelegt worden sind. Mit anderen Worten, der Schamanismus ist eine spezielle Entwicklung des generellen Suchprogramms mit einem bezeichnenden Mehr an Phantastischem, was dann auf vorliterarische und literarische Erzählweisen Wirkung ausgeübt hat. In mancher Hinsicht mag dies an Träume erinnern, jenen anderen Phantasiebereich, der Handlungen und Reaktionen im Leerlauf einer Bilderwelt ablaufen läßt und sich danach zum Erzählen eignen kann. Vor allem earl Gustav Jung und seine Schule wollten eine ganz enge Beziehung von Traum und Mythos konstatieren. Dabei sollte man freilich nicht übersehen, daß Träumen in Bereiche fuhrt, die der Entwicklung des homo sapiens weit vorausliegen, haben doch offenbar alle höheren Tiere ihre Träume, ohne sie erzählen zu können. Träume spielen Aktionsprogramme und Schemata visueller Erfahrung durch; sie sind dem Erzählen ebenso wie dem Spielen ganz nahe. Nicht nur Motive jenseits des Realen, auch besondere Stimmungen können von da in traditionelle Erzählungen eingegangen sein, so gut wie auch vom Schamanismus andererseits. Weder das eine noch das andere ist einfach der Ursprung des Mythos.
Initiationserzählung und Mädchentragödie Die ,abenteuerliche Suche' ist ein besonders beliebter, doch keinesweg der einzige Erzähltyp. Es gibt andere, etwa Geschichten von Wanderungen, Abstammung und Genealogie, von wundersamer Geburt und tragischem Tod, Geschichten von Rache, doch auch v~n List und Überlistung. 45 Ein Märchentyp, von dem sich weltweit über 1500 Varianten zusammenbringen ließen, ist ,Amor und Psyche' oder ,der Tierbräutigam'.46 Der berühmte Text, der in den Eselsroman des Apuleius eingebaut ist, wurde oft als das einzige antike Märchen bezeichnet, das erhalten blieb; doch die Namen der auftretenden Personen rücken es ganz in die Nähe der Allegorie: Die ,Seele', Psyche, begegnet dem Gott der Liebe, Amor (man würde das griechische Äquivalent erwarten, Eros), und gebiert ein Kind, die .,Lust', Voluptas. Das Märchen setzt ein mit dem bezeichnenden ,es war einmal', nämlich ein König, eine Königin und eine wunder-
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schöne Königstochter, Psyche. Diese jedoch wird auf Geheiß eines Orakels aus dem Vaterhaus verstoßen, sie wird auf einem Felsen am Abgrund ausgesetzt. Doch sanfte Winde tragen sie hinab in ein liebliches Tal, sie findet ein geheimnisvolles Haus, wo sie von unsichtbaren Dienerinnen umsorgt wird. In der Nacht kommt ein männlicher Besucher, der, ungesehen, Psyche zu seiner Frau macht. Das Glück dauert eine Weile, bis Psyche, von ihren Schwestern verleitet, der Neugier nachgibt, den Mann zu sehen. Beim Licht einer Lampe erblickt sie Amor - doch ein Tropfen heißen Öls bringt diesem eine Wunde bei, und er entfliegt. Psyche begibt sich auf die Suche nach dem verlorenen Amor, sie gerät dabei in die Gewalt der Venus, ihrer Schwiegermutter, sie wird mißhandelt, gequält und mehreren Proben unterworfen. Zuletzt jedoch wendet sich alles zum Guten, Psyche wird unter die Götter aufgenommen und in aller Form mit Amor vermählt; die Geburt des Kindes, der ,Lust', besiegelt den Bund. In einer brillanten und polemischen Studie von 1977 hat Detlev Fehling die These vertreten, daß sämtliche bekannten Varianten dieser Erzählung letztlich auf dem lateinischen Text des Apuleius beruhen; er trat damit entschieden den romantischen Vorstellungen von einer Volksüberlieferung entgegen, von der man meinte, sie hätte sich unbeeinträchtigt durch Schriftlichkeit über lange Zeiträume hinweg ausbreiten und erhalten können. Diese Vorstellung ist freilich in neuerer Zeit auch von anderer Seite angegriffen und schwer erschüttert worden. 47 Man muß auch zugeben, daß literarische Tradition und Volksüberlieferung sich gegenseitig beeinflußt haben. Nachweisbare Beständigkeit gewinnt Volksüberlieferung überdies nur durch die schriftliche Fassung. Und doch läßt die These Fehlings die Frage offen, woher denn nun Apuleius sein Märchen nahm; daß er alles, Form und Inhalt, frei erfunden hätte, ist doch die unglaublichste Antwort. Es ist nicht eben leicht, eine Geschichte einfach zu erfinden; jede Neuschöpfung wird sich dem Strom der Erzählungen anpassen, die man längst gehört hat, wird sich vorgegebenen Sinnstrukturen einfügen und so letztlich zu einer Variante des schon Bestehenden werden. Es fehlt nicht an Parallelen zur Erzählung des Apuleius, die ohne Zweifel älter sind; sie treten freilich nicht in der Form des Märchens auf, sondern als Göttermythen. Am nächsten kommen einige orpliische Fassungen des Persephone-Mythos an das Märchen von Amor und Psyche heran. 48 Auch hier finden wir das verzau-
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berte Haus, in das Persephone das ,Mädchen', Kafe, nach dem Willen ihrer Mutter verbracht worden ist, um wohlbehütet heranzuwachsen; das Haus ist am Rand der Welt, am Okeanos gelegen; eigentümliche Dienerinnen stehen zur Verfügung, darunter die musizierenden Sirenen, wie auch Psyches Haus von Musik erfüllt ist. Kore das Mädchen ist mit Webarbeit beschäftigt; doch Zeus der Vater dringt ein ins Web gemach in Gestalt einer Schlange, er schwängert die eigene Tochter. Danach verläßt Kore das Haus, verlockt durch ihre Schwestern Athena, Artemis und Aphrodite, und während sie Blumen auf der Wiese pflückt, wird sie von Hades geraubt; so wird sie zur Königin der Unterwelt, wo sie den ,chthonischen' Dionysos gebiert, den Sohn des Zeus. Die Orphischen Dichtungen liegen uns nur als Fragmente vor, die schwer zu datieren sind; die Hauptfassung dürfte späthellenistisch sein. Die erhaltenen Bearbeitungen durch Claudian und Nonnos sind weit später als Apuleius verfaßt. Es gibt viele weitere Erzählungen, die offensichtlich die gleiche Grundstruktur haben, wobei die einzelnen Motive durchaus ähnlich an entsprechender Stelle erscheinen. Im Anschluß an den Namen Kore, ,Mädchen', der vom Mythischen ins Allgemeine weist, kann man von der ,Mädchentragödie' sprechen. 49 Man versucht in dieser Weise, zumindest die Oberflächenstruktur des ,weiblichen Märchens' zu fassen. 50 Dabei ist diese Struktur deutlich verschieden von der Propp-Sequenz, der ,abenteuerlichen Suche'. Es ist verlockend, jene als typisch ,männlich', diese als ,weiblich' zu bezeichnen. Doch können auch weibliche Individuen durchaus auf Abenteuer ausziehen; im zweiten Teil der Psyche-Erzählung fuhren die von Venus auferlegten Proben geradewegs auf eine Abenteuer-Struktur. Die ,Mädchentragödie' läßt sich mit der Methode Propps analysieren, indem eine entsprechende Serie von ,Funktionen' bezeichnet wird, die stabil und in ihrer Reihenfolge unverrückbar bleiben bei allem Wechsel der Namen und Einzelmotive. Fünf solche ,Funktionen' lassen sich fassen: (I) Ein Bruch im Leben eines jungen Mädchens: Eine von außen kommende Macht zwingt, das Haus zu verlassen; dies bedeutet Trennung von der Kindheit, von den Eltern, von der Familie. (2) Eine Periode der Abgeschiedenheit, die oft als eine idyllische, wenn auch abnorme Lebensform geschildert wird. Ein besonderes Haus oder auch ein Tempel dient als Aufenthalt, doch an Stelle des Eingeschlossen-Seins kann auch
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der Ausbruch in die Wildnis stehen, weit weg vom zivilisierten Lebensbereich. (3) Die Katastrophe, die das Idyll zerbrechen läßt. In der Regel geht es um das Eindringen eines Mannes; nicht selten eines sehr eigentümlichen Wesens, Dämon, Heros oder Gott. Das Mädchen wird vergewaltigt und geschwängert. (4) Eine Periode des Leidens, der Bestrafung, der Todesnot, sei es durch Gefangenschaft, sei es durch Austreibung in die Fremde. (5) Die Rettung, die zu einem glücklichen Ende führt. Dieser Abschluß ist in der Regel direkt oder indirekt mit Kindsgeburt verbunden; meist handelt es sich um einen Sohn, um einen Starnrnesheros mit göttlichem Vater in der Konvention der griechischen Mythologie. Damit wird der Erzähltyp zur Einleitung in die Geschichte eben dieses Sohns, seiner Abenteuer und seines Erfolgs. In diesem Sinn hat man die Gesamtstruktur auch ,die Geburt des Helden' genanntY Um einige Beispiele aus der griechischen Mythologie knapp anzuführen: ,Mädchentragödien' werden erzählt über Danae, die Mutter des Perseus;5 2 Auge, die Mutter des Telephos;53 10, die Mutter von Epaphos, Ahnfrau der Danaer;54 Kallisto, die Mutter des Arkas und damit der Arkader;55 Melanippe, die Mutter von Boiotos und Aio10s, also der Böoter und Äoler; Antiope, die Mutter von Amphion und Zethos, der ,böotischen Dioskuren'.5 6 All diese Erzählungen haben den gleichen Aufbau gemäß der hier entfalteten Struktur, so verschieden Einzelmotive und auch der schließliche Ausgang der Erzählung gestaltet sind. Diese Erzählstruktur tritt in der griechischen Mythologie besonders hervor. Doch ist sie nicht auf diese eingeschränkt. Ein Beispiel findet sich sogar im Schöpfungsbuch der Maya.57 Der älteste einschlägige Text ist die Legende von Sargon, dem ersten Großkönig Mesopotamiens, der freilich knapp und andeutend bleibt: "Schwanger mit mir wurde meine Mutter, eine Hohe Priesterin; im Geheimen gebar sie mich; sie legte mich in einen Schilfkorb ... "5 8 Nichts weiteres wird hier über die Mutter gesagt, und der Vater bleibt gänzlich im Dunkel. Doch wenn eine ,Priesterin' gegen alle Regel und darum ,im Geheimen' gebiert, ist ebenso die Trennung von der Familie und die Einschließung in einen Sonderbereich vorausgesetzt wie der Bruch dieses Tabus, woraus der ganz besondere Neuanfang des Großen erwächst. Die Tragödie der jungen Frau, die ihren Sohn aussetzt, ist eines der geläufigsten Sagenmotive. 59 Die Geschichte von Moses einerseits, von Romulus und Remus, den Söhnen der Vestalin Rhea Silvia, andererseits
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sind der Sargonlegende ganz besonders ähnlich. 60 Hat sich, vom historischen Sargon ausgehend, die Sage über 2000 Jahre hinweg verbreitet, umjeweils den neuen charismatischen Führer oder König zu kennzeichnen? Die gleiche Erzählstruktur bestimmt auch wohlbekannte Märchen. Besonders typisch scheint ,Rapunzel', das Mädchen, das in einem Turm eingeschlossen ist, was einen Prinzen nicht abhält einzudringen. Die Entdeckung der geheimen Verbindung fUhrt zur leidvollen Trennung und langem Suchen; das glückliche Ende bleibt nicht aus. Nun geht eben dieser Text auf eine französische Urfassung zurück, deren Autorin erklärt, sie habe das Märchen frei erfunden. 61 In Wirklichkeit hat sie, bewußt oder unbewußt, auf die vielen Geschichten zurückgegriffen, die von Mädchen im Turm erzählt wurden, und weitere bekannte Motive in der gegebenen Erzählstruktur arrangiert. Diese Struktur findet sich deutlicher noch im ,Schneewittchen':62 Das Mädchen soll nach dem Willen der Stiefmutter ob seiner Schönheit getötet werden und gerät so hinter den Bergen ins Zwergenhaus, wo sie ein idyllisches wenn auch - nach deutscher Sitte - tugendhaftes und arbeitsames Leben fUhrt. Die Idylle endet abrupt mit dem Biß in den vergifteten Apfel, wodurch Schneewittchen in einen todesähnlichen Schlaf versetzt wird; so liegt sie im gläsernen Sarg, bis der zu erwartende Prinz mit seinem Kuß sie auferweckt. Der Biß in den Apfel steht hier an Stelle der Begegnung mit dem Mann - deutlich eine unter dem Druck der Kindermoral eingetretene Verschiebung' wobei der Apfel von Eva und Adam von feme Pate stand. Eine realistischere und keckere Version gibt ein deutsches Volkslied, das seit dem 16. Jahrhundert bezeugt ist: Ein Ritter hat ein Verhältnis mit einem ,Mädchen jung' und macht sich aus dem Staub; als die Schwangerschaft bemerkt wird, greift die Mutter zur List: Das Mädchen wird auf eine Bahre gelegt und rür tot beklagt; die Vorbereitungen zur angekündigten Bestattung veranlassen den Ritter, zurückzukehren, um letzte Ehren zu erweisen - da erhebt sich das Mädchen aus dem vermeintlichen Todeszustand, und die Hochzeit ist nicht mehr aufzuhalten. 6J Nun ist ganz offenbar, daß die Erzählstruktur der ,Mädchentragödie' sich an den natürlichen Lebenszyklus der Frau anschließt, den Übergang vom Kind zum Erwachsensein. Das biologische Programm läßt drei dramatische Stationen der Wandlung ablaufen, die erste Regelblutung, den ersten Sexualakt, Schwangerschaft und
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erste Geburt. Dem entspricht in der Erzählstruktur die Trennung vom Elternhaus, die sexuelle Begegnung und die Leidenszeit bis zur Geburt. Wie sehr die sprachlich gestaltete Tradition einer Kultur, in Mythos, Märchen und freier Erfindung, von der biologischen Grundordnung geprägt ist und von dieser abhängig bleibt, könnte kaum deutlicher sein. Die Beziehung der sprachlichen Gestaltung aufs Biologische ist am deutlichsten in der sexuellen Begegnung, welche die beiden Zustände jener Zwischenzeit trennt: Amor liegt bei Psyche, Zeus bei Danae, Herakles bei Auge. Die griechische Mythologie sagt aus, was vorfällt, während Märchen zumindest in den Ausgaben des 19. Jahrhunderts Andeutung und Verschleierung gebrauchen. Der Text von ,Rapunzel' spricht davon, daß die Heldin den Prinzen "zum Manne nimmt"; stärker verschlüsselt ist der Biß in den Apfel bei Schneewittchen. Daß die Schwangerschaft als eine Periode des Leidens erscheint, darf als einigermaßen realistisch gelten. Ende und Rettung sind in der Regel mit der Geburt eines Kindes korreliert. Es kann Verzerrungen der Zeitabfolge geben: Im thebanischen Mythos von Antiope sind es die erwachsenen Söhne, die ihre mißhandelte und bedrohte Mutter schließlich retten. Die erste Stufe der Wandlung allerdings, die Menstruation ist in Mythos und Märchen nie explizit genannt; hier handelt es sich um etwas ,Unsagbares', arrheton, Geheimnis der Frauen, die zu anderen nicht darüber sprechen. Den Männern bleibt das Ganze fremd und unheimlich. Immerhin mag es ein Hinweis sein, daß Auge in Tegea von Herakles angefallen wird, als sie am Brunnen die Wäsche wäscht. 64 Die Erzählungen sprechen ja auch sonst nicht von körperlichen Zeichen, sie heben nur allgemein die lockende ,Schönheit' des Mädchens hervor; warum eben diese bewirkt, daß es aus dem Elternhaus gestoßen wird, bleibt im Grund unerklärt. Umso verständlicher ist der biologische Unterbau. Die sexuelle Reife hebt die Familienstruktur auf, auch die Mutter-KindBeziehung - die bei allen Säugetieren so wichtig ist. Was die Jungen an die Generation der Alten bindet, sie beschützt und begrenzt, muß aufgesprengt werden zugunsten der individuellen Autonomie, die neue Bindungen möglich macht. 65 Die Erzählungen fUhren verschiedene Motive ein, die Eifersucht einer Frau oder die Angst eines Patriarchen, der weiß, daß er ersetzbar wird; daß der Tod vom Nachfolger droht, spricht das Orakel aus, und es behält Recht.
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Akzeptiert man den Parallelismus und die gegenseitige Abhängigkeit von biologischem Programm und Erzählstruktur in diesem Fall, so beginnen damit jedoch erst die eigentlichen Probleme: In welcher Weise genau haben hier ,Natur' und ,Kultur' aufeinander eingewirkt? Wie wird das biologische Programm der PubertätsEntwicklung, zweifellos eine sehr alte und verbreitete Einrichtung der Natur, in den Bereich der Sprache versetzt und zu einer Erzähl-Kette der narrativen Tradition gewandelt? Das biologische Programm vollzieht sich ohne Worte und weithin auch ohne bewußte Reflexion. Hier gerät das Ritual in den Blick. Wohl überall auf der Welt gibt es Rituale, die die natürlichen Stationen der Pubertätsentwicklung begleiten, markieren und ausspielen, insbesondere auch die Wandlung der Frau. Dabei gibt es sehr verschiedene kulturelle Ausprägungen. 66 Und doch ähneln die Frauen-Riten in der Regel durchaus der hier beschriebenen Erzählstruktur. So ist die Mädchen-Initiation zu einem Modellfall fiir die Verbindung von ,Mythos und Ritual' geworden, mindestens seit Jane Harrisons Buch Mythology and Monuments 01 Ancient Athens von 1890, das eine Untersuchung zu den Arrhephoroi in Athen enthält. 67 Das Märchen des Apuleius handelt von der Begegnung der Seele mit dem durchaus sexuell gefaßten Eros; der Mythos von Kore scheint auf Mädchen, korai, allgemein zu verweisen. Die Isismysterien wie auch der große Fries der Villa dei Misteri bei Pomp ei sind im Kontext der Initiation zur Hochzeit interpretiert worden. 68 Die Erzählstruktur ebenso wie die Initiationsrituale im allgemeinen fugen sich der berühmten Struktur der rites de passage ein, wie sie Arnold van Gennep ausgearbeitet hat: Trennung - Zwischenperiode en marge - Integration. 69 Zugleich folgt die Erzählstruktur, wie besprochen, ganz eng dem Lauf der Natur. Weibliche Initiationsrituale ihrerseits können mit der ersten Menstruation einsetzen und bis zur Geburt des ersten Sohnes sich erstrecken, was den definitiven Status einer Frau begründetJ° So folgen auch die Initiationsrituale der Biologie, auf der gleichen Spur wie die Erzählstruktur des ,weiblichen Märchens'. Und doch bleibt da ein Abstand, ja ein Gegensatz: Initiationsrituale sind keinesfWegs einfach und ,natürlich'. Die Annahme, daß ein biologischer Reifungsprozeß sich von selbst zum Ritual gestaltet und die Sprache dann das Ritual in Worte faßt, wäre offenbar verkehrt. Rituale sind kompliziert, vieldeutig, sie sind oft selbst
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[ur diejenigen, die sie praktizieren, nicht voll durchsichtig. Wir können nicht in die Vorzeit das Ideal eines ,natürlich' geordneten Lebens projizieren, in dem weise Zarastros jeden Tamino samt Pamina auf ihrer Bahn zum Ziele fUhren. Ausführliche Initiationsrituale sind nicht überall zu finden; wie kontinuierlich ihre Tradition ist, steht dahin. Vor allem aber scheinen viele in ihren Einzelheiten eher ,widernatürlich' zu sein,71 Es liegt näher, sie als kulturelle Strategien zu verstehen, mit denen Menschen versuchen, die natürlichen Tatsachen des Lebens in den Griff zu bekommen, zu formen und voraussagbar zu machen: eine künstliche soziale Schöpfung, die das Biologische formt und zugleich verhüllt. Man handelt durch solche Rituale, als ob die Heranwachsenden, Knabe oder Mädchen, nicht selbständig zur Reife kommen könnten, sondern erst durch einen Akt der Gesellschaft zum Mann oder zur Frau gemacht werden müßten. Die Natur gibt das Stichwort, doch das damit einsetzende Ritual wirkt kraft bewußt festgehaltener Tradition entsprechend der jeweiligen kulturellen Wahlentscheidung, demonstrativ mit Wiederholung und Übertreibung, prägend und komplizierend zugleich. Kulturelle Tradition zeigt hier ihre Macht, sie kann gewalttätig werden; doch sind ihre Ausprägungen nicht universell. So sind denn auch die Initiationserzählungen weniger einheitlich und verbreitet als das generelle Schema des Abenteuers. Im alten Athen gab es zwei religiöse Institutionen, die mit Mädcheninitiation zusammenhängen: den Dienst der Arrhephoroi fUr Athena auf der Akropolis 72 und den Kult der Artemis von Brauron durch Mädchen, die in diesem Zusammenhang ,Bärinnen' genannt werden, arktoi. 73 Dies scheint der doppelten Möglichkeit der ,Einschließung' in der Übergangsphase der Initiation zu entsprechen, im ,Haus' des Tempels und ,am Rande', außerhalb der Siedlungen an der Meeresküste. Was die Arrhephoroi betrifft, steht der enge Zusammenhang von Ritual und Mythos außer Frage, doch kann die Deutung als Initiation bestritten werden. Die arkteia in Brauron ihrerseits scheint dem Charakter einer Mädcheninitiation am nächsten zu kommen, doch der zu erwartende parallele Mythos ist nicht direkt auffindbar. Statt dessen sind aitiologische Erzählungen im Schema von Götterzorn und Ersatzopfer überliefert. 74 Immerhin wird auch der Mythos von Iphigeneia, die ,kräftige Geburt' im Namen fUhrt, mit Brauron verbunden. 75
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Dabei muß überhaupt auffallen, daß derselbe Mythos auf Initiation ebensogut wie auf Opfer verweisen kann, auf natürliches Reifen oder aber auf unnatürliche Gewalttat,76 In der Bibel gerät Jephtha, der Richter in Israel, durch ein Gelübde in die Lage, daß er die eigene Tochter opfern muß.77 Die Tochter stimmt aus freiem Willen zu, erbittet sich aber als letzte Gunst, daß sie zuvor noch mit den anderen Jungfrauen ins Gebirge ziehen darf, ihre Jungfernschaft zu beweinen. Und dies, sagt der Bibeltext, ist seither zum Brauch geworden: Jedes Jahr ziehen Jungfrauen vier Tage lang ins Gebirge, sie tanzen dort, singen und klagen um die Tochter Jephthas, die niemals Hochzeit hielt. Der Brauch hat ganz deutlich Initiationscharakter: Die Mädchen verlassen ihre Familie, verbringen Tage in einer fremden und wilden, vielleicht auch idyllischen Umgebung, sie spielen ihre Instrumente, tanzen und klagen. Der Mythos erklärt und widerspiegelt das Ritual mit einer Opfer-Geschichte. Die mythische Heroine - deren Namen wir nicht erfahren - erscheint als extremes Gegenbild zu dem, was Mädchen gewöhnlich erleben werden. Von fern erinnert dies an das Ritual der Mädchen in Troizen, die da vor ihrer Hochzeit um Hippolytos klagen, wie es Euripides in seiner Tragödie beschreibt. 78 Als Zeichen der Trauer schneiden sie eine Haarlocke ab und weihen sie dem Jüngling, der sich Aphrodite verweigert hatte und durch ihren Zorn zugrunde ging. Hier ist in der mythischen Tradition eine weitere Verschiebung eingetreten, insofern an Stelle des geopferten Mädchens der getötete Jüngling steht. Sexualität, Geburt und Tod sind in der natürlichen Welt einander notwendig zugeordnet, sie folgen aufeinander in kritischen, oft schmerzlichen Übergängen; Opferritual und Mythos manipulieren den Tod, als könnte er zu einer Grenzmarkierung werden, die am Rand des Lebensflusses wahrgenommen wird. Düstere Assoziationen mit Tod und Opfer drängen sich auch in anderen Varianten der ,Mädchentragödie' vor. Was PersephoneKore zustößt, der ,Raub durch Hades', bedeutet nach schlichtem Verständnis ihren Tod. So umgibt denn eine merkwürdige Ambivalenz die an sich optimistische, ,natürliche' Sequenz, die von der einsetzenden Reife zu Hochzeit und Geburt fUhrt, und macht daraus einen Weg zum Opfer. Die Jungfrau Iphigeneia wird statt zur ,kräftigen Geburt' zum Opfer am Altar der jungfräulichen Göttin geleitet; dies ist die bekannteste Ausformung jener Ambivalenz. Dabei ist der Tod nicht ein bloßes Symbol: Die Gewänder, die
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man der Artemis in Brauron darbrachte, stammten von jungen Frauen, die im Kindbett gestorben waren. Die Vestalischen Jungfrauen in Rom wurden in ihrer Jugend vom pontifex maximus dazu bestimmt, 30 Jahre lang ein abgeschlossenes Leben beim Tempel zu leben. Ihrer Sorge ist das ewige Feuer auf dem Herd des Tempels unterstellt; wenn es erlischt, werden sie gepeitscht; wenn eine von ihnen die Keuschheit verletzt, wird sie lebendig begraben. 79 Dies kommt der Erzählfolge von Einschließung, sexueller Krise und darauf folgender Strafe in geradezu unheimlicher Weise nahe, wobei es auf der Ebene des Rituals den Realitätscharakter des Terrors annimmt. Man hat es unternommen, auch diese eigentümliche Institution der Römer von einem ,ursprünglichen' Initiationsritual herzuleiten. 80 Auch in weniger düsteren Mythen müssen die ,unnatürlichen', eben darum sozial bedingten Faktoren und Motive auffallen, die im Initiationszusammenhang auftreten. Die Leiden und Qualen, die auf die sexuelle Begegnung folgen, vollziehen sich fast immer im Bereich der Familie, ob nun ein strafender Vater, eine böse Stiefmutter oder die Schwiegermutter auf den Plan tritt. Die Problematik der Familie ist universal. Die Suche nach dem verlorenen Partner andrerseits, wie sie die Versionen von Amor und Psyche bzw. vom Tierbräutigam bestimmt, scheint eher eine typisch bürgerliche Besorgtheit zu verraten. Wer hat in griechisch-römischer Gesellschaft solche Geschichten geformt und weitergegeben? Wenn wir nochmals Apuleius folgen, so finden wir eine alte Frau, die einem jungen Mädchen im Räuberhaus die Geschichte von Amor und Psyche erzählt. Dies ist Tröstung in einer Situation der Angst, dies könnte auch Vorwegnahme dessen sein, was ein Mädchen überhaupt zu erwarten hat. ,Altweibergeschichten ' ist ein wegwerfender Ausdruck, der schon in der Antike zum Schlagwort wurde. 8I In der Tat sind die Alten wichtige Überlieferungsträger, die oft die geistige Welt gerade von Kindern prägen. Alte Frauen wissen auch über die Einzelheiten und die Folgen von Menstruation, Sexualakten, Schwangerschaft und Geburt aus der Distanz Bescheid; sie können die Jungen anleiten, sei es in praktischem Ernst, sei es in der entlasteten Erzählsituation. Der zustandekommende Erzähltyp liefert einen Text, der die natürliche Entwicklung begleiten kann, der manches verständlich macht, einiges allerdings auch weiterhin verbirgt und verrätseit. So hat der ,weibliche Märchentyp' seinen Ort - natürlich
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können dann auch Männer die Geschichten nacherzählen, auf dem Hintergrund ihrer eigenen Sorgen um die rechte männliche Identität. Denn daß der Typ der ,Mädchentragödie' gerade in der griechischen Mythologie so stark hervortritt, wobei die literarische Formung fast immer von Männern gestaltet ist, gibt Anlaß zu weiterem Nachdenken. Die sexuelle Begegnung in ihrer meist abrupten, ja gewaltsamen Art mag männlichem Chauvinismus entsprechen,82 und die Abgeschlossenheit· der Jungfrau in ihrem Idyll mag umso mehr dazu reizen, das Tabu zu brechen. Der Göttervater Zeus zumal geht da mit seinem Beispiel voran. Insofern die Absonderung auch Passivität bedeutet, wird umso mehr die gewaltsame Aktivität des Mannes gefordert sein. Wichtiger aber ist wohl ein eher versteckter Aspekt: Es existiert eine bis ins einzelne parallele Sequenz fUr Knaben, und zwar in der homosexuellen Erfahrung. Es geht um Entführung, Aufenthalt im marginalen Bereich mit homosexuellen Akten, gefolgt von der Rückkehr und der Integration in die Männergesellschaft, wozu Kampf und Krieg gehört, schließlich auch die Gründung einer Familie. Als Muster kann die Erzählung von Pelops gelten, wie Pindar sie neu gedichtet hat: Pelops wird von Poseidon entfUhrt, wie Ganymedes von Zeus, und bleibt eine Zeitlang verschwunden, bis er schließlich zurückkommt und im Pferderennen zu Olympia Hippodameia als Braut gewinnt. 83 Es ist oft gesehen worden, wie genau dies dem Brauchtum ritualisierter Homosexualität auf Kreta entspricht. 84 Ein früher bezeugter Mythos entsprechender Struktur ist der von Kaineus, dem ,Mädchen', das von Poseidon vergewaltigt und im Anschluß daran in einen unverwundbaren Krieger verwandelt wird. 85 Hier also erhält die allgemeine Erzählstruktur eine sehr eigentümliche, zweifellos kulturspezifische Wendung. Wenn Geschichten vom Typ ,Mädchentragödie' von griechischen Männern erzählt wurden, lag diesen also auch eine eigene Möglichkeit der Entwicklung ganz nahe. Nicht nur die Opposition, auch die Nähe zu dem, was Frauen zustößt, bestimmt die eigene Identität. Zusammenfassend bleibt festzuhalten: Obgleich die Parallelität von Erzähltyp und biologischer Entwicklung im Fall der ,Mädchentragödie' so unbestreitbar ist und Rituale mit beidem, mit Biologie und Mythos, in Wechselwirkung stehen, ist doch jene Art des
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Übergangs von der Biologie zur Sprachwelt nicht anwendbar, die sich im Fall der ,Suche' angeboten hat. Das Programm der abenteuerlichen Suche ließ sich in einer Kette von Imperativen fassen, die schon primitivste Kommunikation bestimmen können: Die Erzählung schien in Proto-Sprache aus der vorgegebenen Basis zu erwachsen. Das sich ergebende Schema konnte, neben der Schamanenerzählung, insbesondere zum Typ der ,männlichen Initiation' entfaltet werden, wonach der Held in der Ferne seine Proben zu bestehen hat, ehe er volle soziale Verantwortung, ja eine führende Stellung zu Hause übernehmen kann. Die Initiationsmotive in den Mythen von Perseus, den Argonauten, auch der Odyssee treten deutlich hervor. 86 Vladimir Propp selbst versuchte seinerzeit in einem zweiten Buch, seine ,Morphologie der Erzählung' auf ein Initiationsschema zurückzuführen. 87 Die ,Mädchentragödie', die als weibliche Entsprechung dazu erscheinen kann, ist dies doch nicht in vollem Sinn. Das biologische Programm, das sich hier entfaltet, ist noch urtümlicher und eben darum dem bewußten Planen und Besprechen weiter entruckt als jede ,Suche'. So ist der Abstand von ,Natur' und Erzählung hier größer als bei der Abenteuer-Sequenz. Erzählung ergibt sich nicht direkt aus dem biologischen Ursprung. Das ,weibliche Märchen' ist eine kulturelle Schöpfung, die sich bemüht, die Stufen natürlicher Entwicklung nachzuvollziehen mit jener sprachlichen Bewußtheit, die der Erzählung eignet. Solche Erzählungen konnten aber auch die Kluft zwischen den Geschlechtern überspannen und eine gemeinsame Phantasie- und Gefühlswelt aufbauen; ist doch bei den Geschlechtern die Basis des Lebens letztlich gememsam. Ein Nachwort drängt sich auf: Seit Jahrzehnten zeigt sich die maßgebende Literatur von der Tendenz beherrscht, von der Erzählung loszukommen; auch die raffiniertere Art des Filmernachens hat sich dem angeschlossen. Die Comics reproduzieren gewiß die alten Elemente, doch bringen sie diese in einem repetitiven Feuerwerk der übertriebenen Effekte um ihr eigentliches Leben. Die alten Märchen ziehen sich zurück ins Refugium der Volkskunde, sofern sie nicht einen neuen Anwendungsbereich in der Psychiatrie finden, hat doch ihr inhärenter Optimismus ohne Zweifel therapeutischen Wert. Es hilft wohl nichts, diese Entwicklung zu beklagen in einer sich wandelnden Welt, die uns schließlich mit hochent-
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wickelten Apparaten in die Einsamkeit virtueller Realität entläßt. ,Stop making sense' ist bereits zum Schlagwort geworden - dies wäre dann wohl ein passender Nachruf auf das Ende der Erzählung.
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Rangordnungen Religion ist "das Gefuhl der schlechthinigen Abhängigkeit von Gott". Dies ist eine berühmte, oft zitierte Definition, die Friedrich Schleiermacher gegeben hat. I ,Geftihl' als Grundbegriff läßt an Goethe denken, dessen Faust bei Gretchens Frage nach der Religion ausruft: "Geftihl ist alles." Der eher romantischen Wertung eines seiner selbst gewissen ,Geftihls' sei hier nicht weiter nachgefragt. Aufillerksamkeit erheischt der Inhalt solchen ,Geftihls': "schlechthinige Abhängigkeit", emphatisch akzeptierte Unterordnung unter eine Macht, die vom Höheren ausströmt. Dies steht in bemerkenswertem Kontrast zum Prinzip der persönlichen Freiheit, der Selbstverantwortung, der Autonomie, das in heroischer, humanistischer und philosophischer Ethik die abendländische Tradition durchzieht. ,Autonomie' als Bedingung moralischer Entscheidungen war insbesondere in Kants Ethik ins Zentrum getreten; die französische Revolution hatte liberte noch vor egalite und Jratemite gesetzt. Schleiermacher, der über Religion zu den "Gebildeten unter ihren Verächtern" gesprochen hatte,2 steht hier in einer Gegenbewegung zur Aufklärung. Dabei erwies sich Schleiermachers Definition als vollauf akzeptabel ftirdie Theologie ebenso wi,e ftir die praktizierende Kirche, und fur die ,Gebildeten' überhaupt. Das ,Geftihl der Abhängigkeit' von Gott läßt sich ohne weiteres nachvollziehen; es sichert der Religion einen Ehrenplatz in der geistigen Welt, ohne über konfessionelle Zugehörigkeit oder theologisch-dogmatische Streitfragen zu entscheiden, Schleiernlachers Definition, die der Aufklärung des 18. Jahrhunderts entgegentritt, baut auf sehr viel älterem Grund. Religion wird allgemein als ein Rangsystem aufgefaßt, das Abhängigkeit, Unterordnung, Unterwerfung mit sich bringt. Solches Bewußtsein von Rang und Unterordnung kommt in den alten Religionen besonders ungescheut zum Ausdruck: Wann immer von einem Gott oder Göttern die Rede ist, geht es um Macht, Herrschaft,
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geforderte Verehrung. Schon im Sumerischen wird ein Gott als ,mein König' angerufen; im Akkadischen ist belu, das gewöhnliche Wort ftir den ,Herrn', zugleich ein Göttertitel, insbesondere fur Marduk, den zentralen Gott in BabyIon; das westsemitische Äquivalent baal ist der Ehrentitel, ja Name zahlreicher Lokalgötter in Syrien und Palästina. Wie der König selbst übernimmt auch der Gott den steigernden Titel ,König der Könige'.3 Auch in Israel ist Jahwe selbstverständlich der ,König';4 indem Jahwes Name, der mit der Wurzel ,Leben' zusammengesehen werden kann, dann unaussprechbar wurde, trat adon ein, ,Herr', was als kyrios ins Griechische, als dominus ins Lateinische übersetzt wurde; im Deutschen blieb GOTT DER HERR, nicht selten in Majuskeln geschrieben. "Mein Herr und mein Gott" ruft der ungläubige Thomas aus, als er Jesu Wunden greifen kann. 5 Ein indogermanisches Wort ftir ,Herr', potis, ist namenbildend fur den mykenisch-griechischen Gott Poseidon,6 die Femininform potnia ist der Titel von mykenischen und späteren Göttinnen. 7 Der Titel des mykenischen Königs, wanax, blieb als Göttertitel, als das mykenische Königtum längst versunken war. Neben Zeus anax gab es mehrere altertümliche Göttinnen mit dem Titel wanassa, der zum Kultnamen wurde, so insbesondere ftir die Aphrodite von Paphos und die Artemis von Perge. 8 Doch auch die später gebräuchlichen griechischen Wörter fur ,Herr' und ,Herrscher' drangen in die religiöse Sprache ein, despotes und despoina, basileus, selbst tyrannos. 9 Die Macht ist Definitionsmerkmal des Gottes; Götter sind die ,mächtigeren', kreittones. Zeus ist nicht nur der Vater - ,Vater Zeus' ist als Wortbildung und Begriff indogermanischer Herkunft -, ihm eignet auch die gewalttätige Stärke, das ,größte kratos'. 10 Die Idee eines ,allmächtigen' Gottes, pankrates, taucht schon bei Aischylos auf, I I obgleich der geläufige Polytheismus eher das Modell einer Familie als das der absoluten Monarchie vor Augen stellte. Insofern archaische Gesellschaft auf ,Ehre' aufgebaut ist, "freuen sich die Götter, wenn sie von Menschen geehrt werden".12 Es fillt auf, daß in der Sprache der römischen Religion die Ausdrücke ftir Macht und Herrschaft weit weniger hervortreten. Dominus ist erst mit dem Christentum zur Herrschaft gelangt, als Übersetzung von kyrios. Hat in der älteren Zeit der Bann, der auf dem Wort rex seit der Vertreibung der Könige lag, auch hier seine Wirkung getan?13 War es die genau abgestufte potestas der römischen Beamten - aedilis praetor consul dictator -, die zur lockeren
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Metapher simpler ,Macht' ganz ungeeignet war? Die wichtigen Götter werden als pater angerufen, wobei der römische pater allerdings eben in besonderem Maße unangefochtene Macht innehatte. Aus Veii wurde luno regina auf den Aventin geholt, und Jupiter imperator hatte seinen Kult in Praeneste;14 die Mithras-Verehrer nannten ihren Gott auch Mithras rex.'5 Aus dem Pers erreich der Achämeniden hatte sich sogar der Titel Satrapes, ,Wächter des Königtums', als Name eines Gottes ausgebreitet. 16 Nun enthalten traditionelle Formen der ,Herrschaft' immer eine gegenseitige Verpflichtung: Der ,Herr', durch Anerkennung seiner Hoheit von Seiten der ,Niederen' geehrt, gewährt seinen Schutz und spendet damit Sicherheit. Dies ist auch vorausgesetzt, wenn der Gott als ,Vater' angerufen wird; hier bringt das Neue Testament l7 neue Intensität in eine uralte Vorstellung. 18 Aber auch der Name Islam bedeutet Bewahrung durch Unterwerfung unter den Willen des einen GottS. 19 Eine Variante des Herrn und Leiters, der Schutz gewährt, ist der ,Hirte', ein Begriff, der vielfach als Metapher sowohl ftir den König als auch ftir den Gott verwendet wird. 2o In solchem Sinn wird die Abhängigkeit mit Erleichterung und Dank angenommen werden. Die Herrschaft des Überlegenen schränkt zudem auch die gegenseitigen Kämpfe der Unterlegenen drastisch ein. "Das Ausbleiben der Konkurrenz in der religiösen Erfahrung" hat Georg Simmel als Kennzeichen von Religion hervorgehoben. 2I Herrschaft bringt Formen von Solidarität hervor, die anders nicht leicht zu erreichen sind, freilich um den Preis der Abhängigkeit von einem Höheren, von etwas, das unserer Verfügung dauerhaft entzogen ist. Es scheint zunächst naheliegend, die Ideologie der Herrschaft und Abhängigkeit, wie sie in den alten Religionen auftritt, mit der Entwicklung der ersten Hochkulturen zusammenzusehen, die das Königtum als Mittelpunkt der gesellschaftlichen Organisation geschaffen haben. 22 Doch ist Herrschaft llnd Unterordnung offenbar viel weiter verbreitet; es fällt schwer; herrschaftsfreie Sozialstrukturen überhaupt aufzufinden. Modeme mögen geneigt sein, im Gefolge der Freudschen Psychoanalyse Abhängigkeiten in erster Linie als individualpsychische Verformungen zu sehen. 23 Nach der üblichen Schulmeinung stellt Gott, oder die Götter, den Vater dar, indem die kindliche Erfahrung der Hilflosigkeit und Abhängigkeit dem mächtigen Vater gegenüber als Anerkennung eines allmächtigen Gottes verinnerlicht worden ist. Feministische Interpretatio-
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nen geben demgegenüber der Vorstellung einer ,Großen Göttin' den Vorrang, was wiederum auf die noch intimere Abhängigkeit des Kindes von der Mutter zurückzuführen wäre. Wenn man freilich eine allgemeinere Perspektive der Evolution anerkennt, wie Freud selbst es durchaus tat, muß der Blick noch weiter zurückgreifen und die Rolle der Autorität in Gesellschaft und Seelenstruktur auch auf früheren, vormenschlichen Stufen des Lebens mit einbeziehen. Kein Zweifel: Ein hochentwickeltes Bewußtsein von Autorität und komplexer Rangabstufung ist in allen Primatengesellschaften festzustellen. 24 Die intellektuellen Fähigkeiten der Affen und insbesondere der sogenannten Menschenaffen haben in vielen Beobachtungen und Experimenten die Erwartungen der Beobachter durchaus übertroffen, doch scheint der Großteil dieser Fähigkeiten in jene Gesellschaftsspiele einzugehen, die um Überordnung und Unterordnung in der Gruppe unaufhörlich im Gange sind. In der ,Aufinerksamkeitsstruktur' innerhalb einer Primatengruppe "gilt die Aufinerksamkeit der Untergeordneten immer denen, die in der Hierarchie über ihnen stehen". 25 Frans de Waal schrieb, auf Grund langjähriger Beobachtungen im Zoo, ein Buch über ,Politik der Schimpansen', mit vielen überraschenden Einzelheiten: 26 Nicht nur, daß die Schimpansen einander persönlich kennen und genau wissen, wer jeweils der höhere oder der niedere ist, sie können langfristige Strategien einsetzen, durch Gunsterweise ,Allianzen' bilden, um Vorteile zu ergattern und im Rang aufzusteigen, bis es schließlich einmal zum Sturz des Alphatieres kommt. Man beachte dabei, daß wir Menschen uns ,Rang' spontan und offenbar ganz allgemein in der vertikalen Dimension vorstellen, als ,hoch' oder ,niedrig', statt, was logisch gleichwertig wäre, in der horizontalen Reihefolge oder in Kreisen um eine Mitte. Offenbar greift unsere Phantasie von sich aus auf den vormenschlichen und urmenschlichen Lebensraum zurück, die Landschaft mit Bäumen, das Leben mit Bäumen, die ebenso Nahrung wie Sicherheit vor Raubtieren bieten, aber eben auch den vertikalen Erlebensraum bestimmen. 27 Vom Baum kommen die Bilder der Höhe und Tiefe, die dann freilich in kosmische Dimensionen ausgeweitet werden. Es gibt, neben vielen Formen der Verehrung realer Bäume, den mythischen ,Weltbaum', der von der Unterwelt bis zum Himmel reicht;28 er mag vom ,Weltenberg' verdrängt werden,2 9 sind doch Berge gewaltiger als Bäume. Das Extrem der Höhe schließlich ist
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der Himmel. Ein assyrischer Text läßt 300 Götter im obersten Himmel wohnen, während der regierende Gott Marduk seinen Thron im mittleren Himmel hat.3° Götter sind ,hoch' erhaben, ein Gott wird als ,der Höchste' gefeiertY Wenn sich die erfolgreichsten Primaten heute meist auf Asphaltstraßen bewegen, halten sie doch an den Spielen höheren oder niederen Ranges fest und fordern weiterhin den Aufblick zu ,hohen' Idealen. ,Unten' oder ,Oben', das Bewußtsein und Geftihl ftir die vertikale Achse ist Teil unseres biologischen Erbes. "Was Macht ausübt, gilt als Gott"3 2 - man kann gegen eine solche Sentenz protestieren; doch die ,Aufinerksarnkeitsstruktur' richtet sich nun einmal nach ,0ben'.33 Im religiösen Bereich wird Herrschaft und Unterordnung in der Weise eingeftihrt, daß ein unsichtbares doch endgültiges ,Höchstes' eingeführt wird, das absolute Orientierung gibt. Es ist eine Besonderheit der geistigen, sprachlich verfaßten Welt, daß sie sich von Ort und Zeit emanzipieren kann. Bei den Primaten ist das soziale System normalerweise mit der physischen Präsenz gekoppelt und fällt auch in der räumlichen Verteilung unmittelbar ins Auge: Wer zusammengehört, bleibt zusammen, als Familie und als Gruppe. Bei Menschen hingegen können die persönlichen Verbindungen und Rangordnungen auch ohne direktes Beisammensein ftir lange Zeiten'und über beliebige Distanzen fortbestehen: man ,weiß' von der Ordnung, die auch ohne ständige Interaktion fortbesteht. Man weiß ja auch nicht nur über ,mein' und ,dein' Bescheid, sondern auch über Besitz und Interessensphären einer dritten Person, die im Augenblick nicht gegenwärtig ist. Solche Stabilität findet ihre letztverbindliche Garantie in der unsichtbaren Autorität einer höchsten Macht. Man kann hierin die äußerste Konsequenz ererbter Tendenzen sehen. 34 Ansprüche, die im Namen des Höchsten erhoben werden, können gewiß auch auf Widerstand stoßen, doch erstaunlich häufig werden sie akzeptiert; sie ,passen in die Landschaft'. Ob die ,schlechthinige Abhängigkeit' nun vom homo religiosus enthusiastisch anerkannt oder aber vom Anwalt der Emanzipation kritisiert wird, sie ist eine Konstruktion von Sinn. Es ist ja unbestreitbar, daß wir realiter von allem Möglichen abhängig sind, von bekannten und unbekannten Faktoren persönlicher, politischer, wirtschaftlicher, umweltbiologischer Art. Radioaktive Strahlung, Viren, Krebszellen, die sich vielleicht schon im Körper entwickeln, sind nur einige Beispiele der vielen Einflüsse, die Sorge und Angst
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bereiten, ztimal sie sich der Kontrolle entziehen. Der Religion kann es gelingen, all dies in den Hintergrund zu drängen, indem sie die ,Aufinerksarnkeitsstruktur' auf die höchste, die eine Autorität zu lenken unternimmt; dies ist eine besonders wirksame ,Reduktion von Komplexität', die aus dem Chaos eine Sinnstruktur hervortreten läßt. 35 Normal erscheint die Welt, insofern sie durch Autorität gestaltet ist, die bestimmt, was ,oben' und was ,unten' ist. Schon ein sumerischer Künstler hat in vier übereinander angeordneten, absteigenden Rängen Götter, Menschen, Tiere und Pflanzen dargestellt. 36 Bei einem frühbyzantinischen Autor klingt dies dann so: "Im Kosmos finden wir Wesen, die einzig herrschen: das Göttliche; andere, die herrschen und beherrrscht werden: die Menschen, beherrscht vom Göttlichen, doch herrschend über die Tiere; wieder andere, die nur beherrscht werden: die vernunftlosen Tiere. "37 Die Position des Menschen ist bestimmt und legitimiert in der Stufenfolge der Herrschaft, vom höchsten bis zum tiefsten Rang. Das Wort ,Hierarchie' ist durch das einflußreichste Werk des christlichen Neuplatonismus in Umlauf gesetzt worden, die Schrift ,Über die himmlische Hierarchie', verfaßt angeblich vom Paulusschüler Dionysios dem Areopagiten; sie stammt aus dem 5. Jahrhundert n. Chr. Der Verfasser geht von neutestamentlichen Texten aus, die von den ,Mächten' sprechen, die Gott umgeben, "Throne, Herrschaften, Fürstentümer und Gewalten", und bringt sie zur Deckung mit einem platonischen System. J8 Der Neuplatonismus sprach gern von der ,goldenen Kette' der Autorität, die sich durch den Gesamtbereich des Seienden zieht und alles letztlich an den Ursprung bindet, das Eine. J9 Oft hat man bemerkt, wie die neu platonisch-christliche Hierarchie auch in der Architektur ihre Darstellung gefunden hat, vor allem in jenem Gebäude, das zum Inbegriff des byzantinischen Kirchenbaus geworden ist und noch den späteren Moscheen zum Vorbild diente, der Hagia Sophia von Konstantinopel.
Unterwerfungsrituale Nach Schleiermacher wäre Religion im wesentlichen ein ,Gefühl'; . religiöse Praxis jedoch wendet sich nicht nach innen und neigt vielmehr zur Demonstration. ,Gefühle', sofern sie denn empfun-
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den sind, werden ausgespielt und gegenseitig verstärkt, ja auch erst hervorgebracht in der gemeinsamen Aktion. Mit anderen Worten, Abhängigkeit und Unterordnung treten in der Religion in der Gestalt von Ritualen zutage. Bei der Begegnung mit dem Göttlichen "formen wir uns zu jeglichem Zeichen bescheidenen Maßes", wie Seneca formuliert. 40 Dabei sind die Zeichen der Unterordnung, ja Unterwerfung, die in religiösem Handeln hervortreten,4 1 ihrerseits Verhaltensweisen, die auch in anderem Zusammenhang durchaus üblich sind oder waren; sie sind also nicht von sich aus spezifisch religiös; umso eher sind sie unmittelbar verständlich. Entsprechende Rituale sind darum großenteils auch nicht auf einzelne abgegrenzte Kulturen eingeschränkt, sie treten weltweit auf; manche sind eindeutig älter als die Menschheit. Eine vergleichende Übersicht über Unterwerfungsrituale, wie sie bei Primaten, in außerreligiösen menschlichen Interaktionen und in der religiösen Praxis zu finden sind, weist auf die grundsätzliche Einheitlichkeit der Welt, in der wir leben. Ziel und Funktion demonstrativer Unterwerfung besonders in vormenschlichen Gesellschaften ist es, drohende Aggression aufzuhalten und so dem Schmerz, der Verletzung, ja der Vernichtung zu entgehen. Das simpelste Mittel, den eigenen Willen durch Drohung durchzusetzen, ist ,groß' zu sein - daher der Trick der Natur, das Haar zu sträuben, selbst wenn dahinter sich die eigene Angst verstecktY Um Aggression zu stoppen, gilt es umgekehrt, als klein, niedrig, demütig zu erscheinen - das lateinische Wort humilis, das die christliche Demut bezeichnet, heißt ja eigentlich ,dem Erdboden zugehörig'. Man macht solchen Eindruck, indem man den Kopf zum Boden neigt, statt sich ,aufzublasen', indem man niederkniet oder gar sich flach zu Boden wirft und kriechend fortbewegt. 43 Die Menschen haben Helmbusch, hohen Hut und militärische Schulterstücke erfunden, um ihren Umriß zu vergrößern; Unterwerfung bedeutet, all dies abzunehmen, auch imponierende Kleidung. Auch darauf kommt es an, den fixierenden Blick zu vermeiden: Das starrende Auge ist ein ,böses Auge', es löst ein angeborenes Alarmsystem und damit aggressives Verhalten aus. 44 Signale der ,Kleinheit' werden verstärkt durch ,kindliches' Verhalten; auch Tiere sind im allgemeinen so programmiert, daß sie Kinder nicht attackieren. So regredieren Erwachsene zu demonstrativem Weinen - doch kann man auch ein Lächeln versuchen, um Feindschaft auszuschalten. Ein zusätzliches Mittel, Ag-
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gression zu unterlaufen, ist der unmittelbare Körperkontakt: Man versucht den Stärkeren zu berühren, sofern er es gestattet, man streichelt sein Kinn - ein letzter Rest von ,Fellpflege' -, man streckt ihm wenigstens die geöffuete Hand entgegen: Zeichen einer ,Freundschaft', die zugleich die Abhängigkeit vom Gegenüber voll anerkennt. 45 Wir verstehen zumeist solche Gesten und Verhaltensweisen. Viele davon lassen sich auch bei Gorillas und Schimpansen beobachten; gewiß, sie weinen nicht, doch können sie Klagelaute ausdrücken. In dem Film Gorillas in the Mist, der auf den Studien von Diane Fossey in Zentralafrika aufbaut, gilt als Anweisung, den Angriff eines verärgerten Silverback-Gorillas zu stoppen: Niederkauern, den Kopf auf den Boden legen und ja nicht den Angreifenden fixieren. Assyrische Reliefs zeigen Gesandte, die sich dem König unterwerfen, in einer erstaunlich ähnlichen Position; auf akkadisch heißt dies drastisch: ,die Nase (am Boden) wischen'.46 In Nachfolge der assyrischen und babylonischen Könige bestand der Perserkönig darauf, daß Gesandte sich zu Boden warfen und den Boden mit der Stirne berührten. 47 Auch spätere Sultane erwarteten Entsprechendes. Die europäischen Monarchen beschränkten sich darauf, von ihren Untertanen den Kniefall als Ehrenbezeugung entgegenzunehmen. Im Alltagsverkehr blieb als Minimum der zeremoniellen Unterordnung, daß man den Hut abnimmt und sich verbeugt, ein Zeichen der Höflichkeit, das noch nicht ganz ausgestorben ist. Die lateinische Verbalisierung Servus! ist allerdings längst ins Burschikose umgekippt. Weit dramatischer und strenger waren die Formen der Unterwerfung im Krieg inmitten des bewußten Mordens. Die Besiegten, auch schon ihre Abgesandten hatten sich den siegreichen Gegnern mit zerrissenen Gewändern, halb nackt zu nähern, niedergebeugt, mit aufgelöstem Haar, Tränen vergießend; so warfen sie sich den Siegern zu Füßen. Die antiken Historiker, insbesondere auch Caesar schildern gern solche Szenen. 48 Bei Homer gibt es das Sonderverhalten des ,Schutzflehenden' (hiketes) , womit ein Kämpfer mit einem Mal Pardon erheischt. Das Wort benennt eigentlich den, der ,herankommt' und sein Ziel ,erreicht'; es spricht damit aus, daß es darauf ankam, an den Gegner so weit heranzukommen, daß er sich berühren ließ. Man ,unterläuft' die Distanz der Waffe. Selbst Anführer konnten so handeln. Assurbanipal berichtet: "die Anftihrer, im Getümmel der Schlacht... ergriffen meine Hände,
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um ihres Lebens willen"; Odysseus erzählt in seiner LügenErfindung, wie er selbst mitten im Kampf "den Helm vom Kopf nahm und den Schild von der Schulter, den Speer von sich warf und ... die Knie des feindlichen Königs küßte;" so konnte er sich retten. 49 In einer bildhaft packenden Iliasszene läuft der jugendliche Lykaon auf Achilleus zu, um seine Knie zu berühren, während der schon geschleuderte Speer hinter seinem Rücken in den Boden fährt. Das ,Berühren der Knie' ist ein Hinweis ftir den Stärkeren, sich zu entspannen, sich zu setzen, statt in Angriffshaltung zu verharren. 50 In einer anderen Iliasszene sind weitere Gesten beschrieben: Priamos, der Achilleus um die Herausgabe von Hektors Leichnam anfleht, hat "die Hände zum Mund des Achilleus ausgestreckt", nachdem er auch "die Hände des Achilleus geküßt" hatY Die Hand zu küssen ist als Zeichen ,untertänigen' Grußes in Teilen Europas üblich geblieben, so im Bereich des Wiener KaiserhofS; doch auch die katholische Kirche praktiziert diesen Gruß. Er vereint das Niederbeugen mit direktem Körperkontakt. Der moderne Stil demokratischer Gleichheit bringt die meisten dieser zeremoniellen Verhaltensweisen zum Verschwinden. Es dürfte auch nicht mehr viele Familien geben, wo Frau und Kinder vor einem dominanten Vater auf die Knie fallen. Und doch können archaische Verhaltensmuster bewahrt werden und vor allem in Extremsituationen erneut zutage treten. Ein modernes Pressephoto aus der Zeit des indisch-pakistanischen Kriegs I97I zeigt knieende Gefangene mit dem Gestus des ,Berührens der Kniekehle' imponierend aufgereckter Sieger in genauer Entsprechung zur antiken Darstellung etwa des flehenden Dolon vor Odysseus und Diomedes; "Momente später waren sie erschossen." 52 Auch Dolon stirbt. Die Annahme der in Zeichen enthaltenen Botschaft kann verweigert werden. Es ist fast selbstverständlich, daß alle besprochenen Formen ritueller Unterwerfung auch in religiösem Kontext wiederkehren. Im Griechischen sind es die gleichen Ausdrücke, die im säkularen und im religiösen Bereich gebraucht werden: ,die Knie erfassen', ,einen Kuß zuwerfen', ,erreichen' (gounazesthai, proskynein, hiketeuein). Der allgemeinste Akt der Verehrung ist es, das Haupt zu beugen, sich zu verneigen. ,Sich niederbeugen' ist die Bezeichnung religiöser Verehrung im Hebräischen wie im Akkadischen. 53 Abraham ,wirft sich auf sein Gesicht' in der Gegenwart von Jahwe. 54 Moslems berühren mit der Stirne den Boden, indem sie zu Allah be-
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ten. Inwieweit das Niederknien zum Gebet im vorchristlichen Griechenland gebräuchlich war, ist nicht ganz deutlich; es war offenbar nicht die Norm, kam aber in bestimmten Zusammenhängen VOr. 55 In äußerster Angst werfen sich Menschen vor dem Kultbild oder dem Altar zu Boden. 56 Eindeutig sind auch die lateinischen Ausdrücke wie supp/ex, supplicare, supp!icatio, ,das Knie beugen'. Auch~ein assyrischer König kniet zum Beten nieder. 57 Das Christentum hat das Niederknien zum Gebet dann besonders betont; Eusebios nennt dies "unsere allgemein übliche Art der Gottesverehrung" .5 8 Protestanten hoben dies sehr viel später auf, um auch im Gebet sich vom katholischen Ritual zu distanzieren. Die Universalität des vorgeprägten Verhaltens schließt keineswegs aus, daß Sonderformen als Merkmale der Unterscheidung von einzelnen Gruppen oder Sekten kultiviert werden. 59 Noch weitere Zeichen der Demütigung können die Begegnung mit Göttern oder Gott begleiten. In der Antike erwartete man aufgelöstes Haar, ausgestreckte ,bettelnde' Hände und Ströme von Tränen bei Prozessionen, die in Situationen der Krise das Erbarmen der Götter erflehen sollten. Tränen werden in den hebräischen Psalmen oft genannt,60 und sie gehören später unabdingbar zu den christlichen Formen des Reue-Gebets. Tränen kennzeichnen aber auch schon sumerische und akkadische Gebete. 61 Die Arme nach oben auszubreiten, wobei die Handflächen nach oben gerichtet sind, ist der allgemeine Gebetsgestus im orientalischen, hebräischen, griechischen und römischen Kult. 62 Der christliche Brauch hat sich dann gegen diese offene Gestik gewandt und vielmehr auf gesenktem Nacken und gefalteten Händen bestanden. Das Beugen des Kopfes schließt auch das Anstarren aus. In jener Szene, die Jesus zum Vorbild des Gebetes setzt, "wollte der Zöllner nicht einmal seine Augen zum Himmel erheben, sondern er schlug seine Brust und sprach: Gott sei mir Sünder gnädig. "6) Propitius esto mihi peccatori ist von hier zur liturgischen Formel im Christlichen Gottesdienst geworden; es knüpft an viel Älteres an. Als, im sumerischen Mythos, Inanna mit einem infernalischen Gefolge aus der Unterwelt zurückkehrt, werfen sich die, denen sie naht, zu ihren Füßen nieder, oder sie sitzen demütig im Staub; sie bleiben unversehrt. Dumuzi jedoch, der ,auf dem Hochsitz thront', wird vernichtet. 64 Daß man vor Göttern sich ,niedrig' und demütig zu erweisen hat, ist eine Lektion, die längst vor Christus gelehrt wurde. 65
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Religionswissenschaftler mögen versuchen, zwischen Verehrung und Unterwerfung zu unterscheiden, um das eine zu bejahen und sich vom anderen zu distanzieren. Doch ist bei des einander zumindest bedenklich benachbart, ja gegenseitig überlappend. Die alten Religionen haben ganz ungescheut die ,Furcht' vor den Göttern proklamiert und eingefordert. 66 Die Aufinerksamkeitsstruktur hat sich danach zu richten. Die Selbsterniedrigung kann drastische Formen annehmen. Manche Rituale suchen gewissermaßen das, was man befürchtet, vorwegzunehmen durch eigene und damit kontrollierbare Aktivität. Nicht nur, daß man in der Angst vor verfolgenden Dämonen selbst ein Ersatzopfer tötet und diesen überläßt;6 7 man sucht sich selbst zu entstellen und zu strafen. Aus Furcht vor dem ,bösen Blick' oder dem ,Neid der Götter' spucken Griechen sich selber ins Gewand, womit sie ,Adrasteia ehren', jene Göttin, die ,Unentrinnbarkeit' im Namen trägt; so hofft der Büßer sich dem Unentrinnbaren dennoch zu entziehen. 68 AufI':illiger noch ist, wenn man sich selbst die Kleider zerreißt, sich beschmutzt, Asche aufs Haupt streut oder gar im Schmutz sich wälzt. "Wenn die Syrer aus Unbeherrschtheit Fisch gegessen haben, schwellen ihnen die Füße und der Magen an; da nehmen sie einen Sack, setzen sich auf den Weg in den Schmutz und versöhnen sich so ihre Göttin, dadurch, daß sie über die Maßen erniedrigt sind. "69 "In einem Schlamrnloch liegt dein Knecht", heißt es in einem babylonischen Bußpsalm. 7o Weiter noch, von der Selbsterniedrigung zur Selbstaggression, geht die Selbstverwundung. Sie ist in recht verschiedenen antiken Kulten bezeugt, findet sich auch in ganz anderen Kulturen.7 1 Merkwürdige Zeugnisse fur Selbst-Geißelung sind im kretischen Heiligtum von Kato Symi zutage gekommen. 72 Prozessionen von ,Flagellanten' gab es im christlichen Europa des späten Mittelalters, vor allem als die Pest Anlaß gab, umso dringlicher Gottes Gnade anzuflehen. Mancherorts besteht solches Bußritual bis heute fort. Auffallend ist dabei die Findigkeit der Menschen, rituellen Formen neue Funktionen zu geben, ja sie zu mißbrauchen. Die kastrierten Anhänger gewisser semitischer und anatolischer ,Großer Göttinnen', galli und andere fanatici der Syrischen Göttin, der Mater Magna oder auch der Bellona machten die Selbstverwundung und Geißelung zu einer öffentlichen Schau, um Zuschauer zu Geldspenden zu animieren; von der Gottheit ,ergriffen' und ,besessen' konnten sie scheinbar gefühllos ihre
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übermenschlichen Opfer-Leistungen darbringen.?3 Die Erniedrigung des Gequälten wird zur Auszeichnung als Beweis götdicher Macht. Erniedrigung kann auch die Form sexueller Unterwerfung annehmen. Dies drängt sich ein ins Bild der erwähntenJanatici, insofern diese Eunuchen sich angeblich auch zum homsexuellen Verkehr anboten.?4 In anderem Zusammenhang gibt es immerhin rituelle Forderungen der sexuellen Enthaltung und auch des Transvestismus: Der Herakles-Priester in Kos war als Frau gekleidet; ein Mythos erzählte, Herakles selbst sei einst geflohen und sei, sich zu verstecken, in Frauenkleider geschlüpft - eine extreme Umkehrung der normalen Herakles-Rolle. 75 Es heißt auch, daß der Hierophant von Eleusis sich durch Trinken von Schierling einer Art chemischer Kastration zu unterziehen hatte. 76 In gewissen sumerischen Ritualen traten Priester offenbar nackt auf17 - ganz im Kontrast zur jüdischen oder chrisdichen Tradition, wonach ein Priester jede Andeutung von Geschlecht oder Nacktheit zu vermeiden hat. Man muß mit einem ambivalenten Status der Sexualität in allen Gesellschaften rechnen; gerade weil da stets verheimlicht, geleugnet und unterdrückt wird, gibt es Chancen zur andeutenden ebenso wie zur skandalösen Demonstration. 78 Man konnte auf galli mit religiöser Scheu ebenso wie mit Verachtung reagieren, jenseits der Feierlichkeit ,normaler' Religion. In anderer Weise konnte Religion versuchen, sexuelle Beziehungen im Sinne der Normalität einzubeziehen, indem man einem Gott, einem Heros oder Dämon eine Konkubine anbot oder, besser noch, eine Gattin zu dauerhafter Ehe. Dies war fester Brauch im Kult des Amun im ägyptischen Theben, aber auch im bronzezeitlichen Syrien, wie ein kürzlich entdeckter Text aus Emar in aller Ausflihrlichkeit beschreibt.79 Solch ein Angebot versucht, an Stelle der durch Furcht ausgelösten Unterwerfung die Vertrautheit der dauerhaften Familienbeziehung zu setzen. Inwieweit Krisen damit zu durchstehen waren, blieb die Frage.
Die Strategie des Lobpreisens Der Gegenpol zu jeglicher Erniedrigung des Menschen ist die Erhöhung des Göttlichen. Diese kommt gemeinhin schon in der religiösen Ikonographie zum Ausdruck, die ihrerseits das Ritual vor-
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aussetzt: Götter sind erhöht. Wiederum gibt es die eindrückliche Parallelität in der Art, wie Herrscher und wie Götter als die Erhabenen dargestellt werden. Götterstatuen werden hochgehoben, werden so in Prozessionen umhergetragen; doch in Persepolis ist es der Thron des Königs, der hochgehoben und von seinem Volk getragen wird. 80 Eine Göttin oder ein Gott sitzt auf einem erhöhten Thron mit einem Fußschemel, wie auch der König. Jesaja sah "den Herrn auf einem hohen und emporragenden Throne sitzen".81 Ein Wandgemälde aus dem minoischen Thera zeigt den Thronsitz der Göttin auf einer dreistufigen Tribüne. 82 Man läßt schon in der Bronzezeit Götter auch auf Bergen wohnen; höher noch steht der Himmel. Die Große Göttin im Nahen Osten und im archaischen Griechenland ist durch ihren hohen, zylinderartigen Hut ausgezeichnet, den polos.8 3 Andere Götter tragen Kronen, um ,höher' zu sein, auch mehrere Hörnerkronen übereinander, wie in Mesopotamien. Tempel können zu Tempeltürmen auf Tempelbergen werden; hierin scheint sich die sakrale Architektur von Mesopotamien und Mittelamerika zu berühren. Verehrung heißt, übergeordnete Personen in ihrer höheren Stellung anzuerkennen, vor denen wir uns in Demut neigen; und je höher diese steigen, desto weniger muß der eigene Nacken gebeugt sein. Hieraus ist ein ingeniöses Sprachspiel entstanden. Es erreicht, was in sprachlosem Ritual unmöglich zu leisten wäre, die ,Erhöhung' des Geehrten ohne anstrengende Überwindung der Schwerkraft, ja Unterwerfung und Erhöhung finden sich im gleichen Akt vereint. Es handelt sich um die Erfindung des ,Lobpreisens'. Selbst der Lobpreis könnte immerhin eine Basis in vorsprachlichem Verhalten haben: Es sind unartikulierte Schreie, die sportliche Wettkämpfe und gelegentlich auch echte Kämpfe begleiten, indem Stimmentfaltung die eine oder die andere Seite antreiben oder einschüchtern soll. Unartikulierte Rufe gibt es auch im Götterkult; so ruft man ieie paian im Kult des Apollon und kann dies eben als Anfeuerungsruf im Kampf mit Python erklären. 84 Nur eine Minderheit von Christen hat je verstanden, was Halleluja oder Hosianna bedeutet; es läßt sich rufen und singen, und wundervolle Musik läßt sich daraus gewinnen. 85 Sehr viel weiter bringen es die sprachlich entwickelten, ja rhetorisch ausgestalteten Formen des Preisens. Es gibt sie in den verschiedensten Kulturen.
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Es muß seit je ein Anreiz für die vornehme, die ,höhere' Dichtung gewesen sein, Herrscher wie auch Götter zu preisen. Man kann die Leistung des Dichters dabei als einen doppelten Trick beschreiben: Der Preisende anerkennt emphatisch den Unterschied des Ranges, indem er von der Tiefe zum Glanz der Höhe aufschaut, und doch erhebt er nicht nur sich selbst, kraft seiner sprachlichen Kompetenz, im Geiste zu höheren Sphären, vielmehr gelingt es ihm die Aufinerksamkeitsstruktur umzukehren, so daß nun der Höhere auf die preisende Rede, den preisenden Gesang des Unteren lauscht. Der Lobpreis ist eine anerkannte Form, in Gegenwart von Höhergestellten laut zu sein; in besonders stilisierter Form erscheint dies als Musik. So steigt der Lobpreis gleich Weihrauch in die Höhe. Die Spannung zwischen Oben und Unten wird damit ebenso überhöht wie aufgehoben, indem der Niedere das System emphatisch akzeptiert und seinen Platz sich sichert. Lobpreis ist eher tautologisch als informativ laudamus te, benedicimus te, adoramus te, glorificamus te... propter magnam gloriam tuam -, aber er erhebt die Herzen in der erlebten Resonanz der Gemeinsamkeit. Man achte auf die vertikale Dimension, die kaum je fehlt: gloria in excelsis; ,Hosianna in der Höhe'; Rühmen heißt Erheben. 86 Die Überhöhung kann der Logik spotten: "Zeus ist alles - und was noch höher ist als dies" ,87 und wird dadurch noch eindrucksvoller. Genauere Analyse und Darstellung der großen Gattung der Götterhyrnnen ist hier nicht am Platz. Hier trifft sich jedenfalls die religiöse Dichtung des Nahen Ostens und des Mittelmeerraums in vergleichbaren Formen, von der ältesten Zeit bis zur Gegenwart. 88 Die zu erwartenden Parallelen der dichterischen Sprache im Preis von Gott und König sind in den sumerischen und ägyptischen Texten, vor allem in den älteren unter diesen, voll ausgeprägt. Dabei gibt die Sonne ein sichtbares Vorbild der Erhabenheit, wie sie in ihrem Glanz über die Erde aufsteigt; drum ist die Sonne - in vielen Sprachen männlichen Geschlechts - eine Lieblingsmetapher des Lobpreisens, und auch selbst ein zu preisender Gott. 89 Schrekken freilich geht auch mit der Erhabenheit einher. Der Höhere kann töten oder aber durch Schonung das Leben schenken. Der Lobpreis wird ihn daran erinnern, daß er seine Macht wohlwollend einsetzen und von feindlichen Akten ablassen möge. Man wünscht, einen ,hohen' Herrn bei guter Laune zu halten, hilaos, wie man dies auf Griechisch ausdrückt; die Bitte um heitere
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Stimmung ist fester Bestandteil der Hymnik; viel später nannte man Barock-Potentaten serenissimus. Lobpreis des Herrschers wird dem geschickten Künstler sehr direkte Vorteile einbringen; doch auch der Herrscher braucht den Glanz. Heiligtümer einzelner Götter laden ein zum lobpreisendem Gesang, der ihnen wie auch den Vortragenden Glanz verleiht. Apollon hat in seinem Orakelheiligtum zu Klaros immer wieder geboten, daß Gruppen von Sängern, hymnodoi, zu seinem Heiligtum kommen und dort ihre Lieder vortragen sollten: Er organisiert die eigenen Festspiele. 90 Das Lob stabilisiert das System von Rang und Macht: Der Herrscher wird direkt motiviert, dem Lob entsprechend Sicherheit und Wohlfahrt zu gewähren, und vom Gott läßt sich dementsprechend annehmen, daß er sein Wohlgefallen in Gnadenerweisen zum Ausdruck bringt. Apollon freut sich an dem schönen Paian; so wird die Pest beendet. 9 ! So wirkt die Religion systemerhaltend, indem sie den höchsten Ausgangspunkt der rechten Ordnung im Lobpreis feiert. Musik ist die übliche Begleitung des Lobpreisens, die zu großartigem Ausdruck wächst. Das Lied verbindet mit elaborierter Klarheit der Botschaft seinen besonderen Klang, der durch eine Art innerer Resonanz seinen Zauber auf die Zuhörer wirft; die Wiederholung oder zumindest Wiederholbarkeit des Liedes verstärkt die gemeinsame Bindung. Eine gemeinsame geistige Welt findet so ihre nicht analysierte, doch mitreißende Gestaltung in der Musik, im Hymnus. In vielerlei Religionsforrnen sind es gerade die musikalischen Darbietungen, die Loblieder auf Götter oder Gott, die Teilnehmer anziehen, begeistern und fesseln. Propaganda will laut werden; sie kann dabei sehr wohlgestaltete Formen finden. Die polytheistische Welt der Götter läßt Hierarchien zu, was in den Lobpreis eingeht: "Die Götter des Himmels beugen sich vor dir, die Götter der Erde beugen sich vor dir; was immer du sagst, die Götter fallen nieder vor dir" - so der Höhepunkt des Lobes in einem hethitischen Hymnus an den Sonnengott. Doch auch im Preis von Jahwe dem Einzigen lassen sich ähnliche Wirkungen erzielen: "Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre. "92 So wird das menschliche Preisen in den höheren Sphären reflektiert und widerhallt im Universum; umso geborgener ftihlt sich darin auf ,tiefster Stufe' der Mensch, gesichert im Gesamtsystem, in dessen Lobpreis er selbst energisch tätig ist.
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Das doppelte Stockwerk der Macht ,Abhängigkeit' und Unterordnung als Hauptkennzeichen der Religion zu nehmen bleibt einseitig. Die andere Seite, die in der christlichen Tradition oft verdrängt und oft genug beklagt wird und doch selbst dort unausrottbar und augenfällig bleibt, ist die Chance, im Namen der Religion und durch Religion Status zu gewinnen und durchaus reale Macht auszuüben. In den alten Religionen wird die Allianz von Religion und Macht in aller Offenheit proklamiert. König Sargon von Assyrien rühmt sich, wie er Völker verschiedener Zunge in seiner Hauptstadt zusammenbrachte und assyrischen Oberen unterstellte, "um sie die Furcht des Gottes und des Königs zu lehren" .93 In der Folge waren aufgeklärte Skeptiker der Antike davon überzeugt, daß die Religion im wesentlichen im Interesse der Mächtigen erfunden sei, der Herrscher und der Staaten, um die Massen unter Kontrolle zu halten. Polybios glaubte festzustellen, daß die Religion, ,Gottesfurcht', die man auch als Aberglauben verstehen kann (deisidaimonia) , die römische Republik ,zusammenhalte'. Das religiöse Ritual, fand er, sei zu einer Art Theater (tragodia) ausgestaltet, welches das private wie das öffentliche Leben dominiere. 94 Er erklärt, dies geschehe, weil "die gesamte Masse leichtfertig ist und voll von gesetzwidrigen Lüsten, vernunftlosem Zorn und gewalttätiger Erregung", weshalb man sie denn "durch unklare Ängste und entsprechendes Theater" bei der Stange halten müsse. Aristoteles drückt dies etwas feiner, doch im Grunde ähnlich aus: Echte religiöse Tradition deutet an, daß das Göttliche die ganze Natur in sich schließt; "der Rest ist angehängt in Gestalt von Mythen, um die Masse zu überzeugen, und wegen der Brauchbarkeit für die Gesetze und sonstigen Nutzen" .95 Diese These über die Funktion der Religion läßt sich mindestens bis auf die Sophisten des 5. Jahrhunderts zurückverfolgen; offenbar fand sie hinreichende Stützung in der Lebenswirklichkeit. Längst zuvor, ehe die mediterranen Stadtstaaten aufkamen, hatten sich die orientalischen Herrscher stets auf die spezielle Protektion durch ihren jeweiligen Gott berufen. Der Pharaoh war der Sohn eines Gottes. Überall waren es die Götter, die den Sieg verliehen; und auf dem Sieg beruhte die Herrschaft. Von den Göttern selbst glaubte und erzählte man, daß sie in Folge ihrer Siege die
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Herrschaft führten. Mythen berichteten, wie ein Gott seinen Gegner gewaltsam überwunden habe, einen bösen Drachen, oder Tiamat das Meer in Mesopotamien, oder Typhon als Verkörperung von Trockenheit und Wüste in Ägypten; so sei die Ordnung der Welt begründet worden. Wenn danach ein Herrscher seine Feinde mit Macht und Grausamkeit niederwarf, so wiederholte er die Tat der Götter. 96 Die Herrschaft wurde vom Gott direkt übergeben, zumindest in symbolischer Darstellung. Das Relief der berühmten HammurapiStele zeigt, wie der Sonnengott Shamash dem König Hammurapi die Zeichen des Königtums übergibt, Ring und Stab; die Einleitung zum Gesetzestext verkündet, daß, als die höchsten Götter Anu und Enlil die überragende Macht Marduks und seiner Stadt Babyion bestimmten, sie auch "mich ernannten, um die Wohlfahrt des Volks zu fordern, mich, Hammurapi, den frommen, gottesfürchtigen Herrscher, um dafür zu sorgen, daß Gerechtigkeit im Land herrsche, um die Unguten und Bösen zu vernichten ... und das Land zu erleuchten" .97 Wir hegen alle Sympathie für das vom König verkündete Ideal der Gerechtigkeit, die das Land erleuchtet; doch um dies durchzuführen, ist Macht vonnöten, die die ,Unguten und Bösen vernichtet;' und wer entscheidet, wen es zu vernichten gilt? In direkter Tradition der Groß könige knüpft hieran Darius an, der Perserkönig; er spricht in der großen Selbstdarstellung, der Inschrift von Behistun: "Durch den Willen von Ahuramazda bin ich König; Ahuramazda gab das Königtum an mich." Dies wiederholt eine andere Inschrift, die von Naqsh-iRustam, mit der abschließenden Aufforderung: "Mensch, Ahuramazdas Befehl sei dir nicht widerwärtig. "98 Dabei hat Darius nicht gezögert, seinerseits die von ihm so genannten Bösen, die Anhänger der ,Lüge' (drug) zu vernichten. Bei Modernen steht Darius im Verdacht, seinerseits ärgsten Betrug begangen zu haben, indem er Bardia-Smerdis, den Bruder des Kambyses und Erben des Throns, nicht nur tötete, sondern als einen Hochstapler und magos zur Unperson machte. Jedenfalls: Sein Gott stand ihm bei. Die Ikonographie der Hammurapi-Stele wurde später wieder aufgenommen in den Sassanidischen Reliefs, die Ahuramazda bei der Investitur des Königs darstellen. 99 In Griechenland gab es keinen ,Großen König, König der Könige, König der Lande, König der vier Weltgegenden' . Doch selbst in bescheidenerem Rahmen beanspruchte ein ,szeptertragender' Kö-
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nig mit Selbstverständlichkeit, daß seine Macht und Autorität, sein kydos von Zeus komme. Darum ist ein König kein ,gleicher' unter anderen. 100 Der Tyrann Peisistratos kam dem orientalischen Vorbild ganz nahe, indem er behauptete, daß die Göttin Athena in Person ihm seine Herrschaft in Athen verschafft habe. Ob die Maskerade, die Herodot verwundert beschreibt, wonach Peisistratos mit einem als Athena ausstaffierten Mädchen auf dem Wagen in Athen einzog, als historisches Faktum gelten kann, mag umstritten bleiben. Eine bestimmte peisistrateische Propaganda, die für den Tyrannen die ganz spezielle Protektion der Göttin von Athen beanspruchte, muß dem auf jeden Fall zugrundliegen; demokratische und rationale Kritiker freilich konnten sich darüber lustig machen. IOI Alexander der Große griff seinerseits auf das ägyptische Vorbild zurück und beanspruchte, von einem Gott, Zeus Ammon, gezeugt zu sein; die Diadochen haben entsprechende Ansprüche mit Rückgriff auf verschiedene Göttemamen erhoben. 102 Als schließlich das Römerreich zum Christentum übertrat, wurde mit Selbstverständlichkeit der Christengott zum Spender des Sieges und der Macht. So waren denn die Monarchen ,von Gottes Gnaden' installiert, dei gratia. Diese Formel begleitete die legitimen Monarchen Europas bis in die Gegenwart. 103 Das Mosaik in Palermo, das Christus zeigt, wie er König Roger die Krone Siziliens aufSetzt, entspricht in seiner Botschaft genau der Hammurapi-Stele, auch wenn es keine direkte ikonographische Verbindung gibt. 1°4 "Wie alle Menschen, die der Herrschaft Roms unterstehen, für euch Militärdienst leisten, ihr Kaiser und Fürsten der Welt, so dient ihr selbst dem allmächtigen Gott und dem heiligen Glauben", schrieb Bischof Ambrosius an Kaiser Valentinian. 105 Gewiß, weder Hammurapi noch Darius, weder ein Sassanidenkönig noch Konstantin verließen sich aufs Gebet allein, um ihre Herrschaft zu begründen. Doch alle suchten von der Religion, von der Autorität und Macht des Gottes her die eigene Legitimation herzuleiten. So stehen hinter den Mächtigen der Welt die Götter; umgekehrt ist der Monarch seinerseits fur alle "das Haupt, ins Gebet versunken" . I06 Unterwerfung und Überordnung gehören in der gleichen hierarchischen Struktur zusammen. Die Abhängigkeit von unsichtbaren Mächten widerspiegelt die tatsächliche Machtstruktur, wird aber als deren Vorbild genommen und legitimiert diese damit ihrerseits. In dieser Weise stabilisiert sich eine gleichsam zweistöckige Souveränität: der Gott verhält sich zum Herrscher wie der
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Herrscher zu den Untertanen; diese sollen zum Herrscher aufschauen, wie dieser zu den Göttern aufblickt. 107 Dies bietet dem Herrscher eine virtuelle Entlastung, indem er nicht mehr allein, der Aggression von allen Seiten ausgesetzt, an der Spitze der Pyramide steht. In der Realität werden die Machtspiele zwischen Aggression und Angst unverdrossen weitergehen; in der geistigen Welt ist dank der stabilen Machtstruktur beides getrennt, indem nach oben die Furcht Gottes bzw. der Götter Bestand hat, nach unten aber Aggressivität in steter Bereitschaft liegt, die ,Unguten' zu strafen und zu vernichten, mit dem guten Gewissen, das Frömmigkeit verleiht. Der sumerische König Gudea baute ein Haus, einen Tempel ,für seinen König', den Gott; 108 so erhebt der tatsächliche König die unsichtbare Macht zum Über-König. Jahwe verspricht durch seinen Propheten dem König David, daß sein Thron für ewige Zeiten bestehen soll; König David bedankt sich dafür, indem er sich selbst mit Emphase als ,Sklaven' seines Herrn bezeichnet dies ändert den Anspruch nicht, sondern bestätigt ihn nur, wonach er und seine Nachkommen als Könige über die andern herrschen werden. 109 Ein Psalm wird wiederholt im Neuen Testament zitiert: "Der Herr sprach zu meinem Herrn: Setze dich zu meiner Rechten, bis daß ich lege deine Feinde zum Schemel deiner Füße. "110 ,Mein Herr' wird durch Jahwe erhöht bis zur Stufe des Höchsten, doch auch der Sänger des Liedes steigt mit ihm, während die Unterwerfung der Feinde die vertikale Dimension bestätigt. Das doppelte Stockwerk der Macht kann durch dramatische Umkehrungen ausgespielt werden. Beim Neujahrsfest von BabyIon wird der König zum Tempel des Marduk geführt. Der Priester nimmt ihm das Szepter, den Ring, das Schwert ab und legt diese ,vor dem Gott' auf einem Stuhl nieder; dann schlägt der den König auf die Wange; er begleitet ihn bis hin vor Marduk, zieht ihn an den Ohren, macht, daß er sich bis zur Erde beugt. Der König muß sprechen: "Ich habe nicht gesündigt, 0 Herr der Länder. .. ." Dann tröstet ihn der Priester: "Fürchte dich nicht... der Gott wird dein Königtum erhöhen ... Er wird deine Feinde vernichten, deine Gegner zu Fall bringen." Der König erhält dann seine Insignien zurück; doch noch einmal wird er auf die Wange geschlagen. Wenn er dabei Tränen vergießt, so ist der Gott freundlich gesinnt; wenn keine Tränen kommen, ist der Gott erzürnt, "der Feind wird sich erheben und ihn selbst zu Fall bringen". 111 Die
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Zeichen der Unterwerfung, das Sich-Beugen bis zur Erde, die Mißhandlung, das Vergießen von Tränen sind das Mittel, die Gnade des Höheren zu gewinnen. Die Gunst des Gottes bedeutet Vernichtung der Feinde; denn in unserer Welt des Streites, dem kein König entgehen kann, wird entweder der Feind sich erheben und den König zu Fall bringen, oder er wird seinerseits vernichtet werden. Im Buch Daniel wird König Nebukadnezar von BabyIon nach dem Willen Gottes aus seiner Stadt, ja aus der menschlichen Gemeinschaft ausgestoßen, er frißt Gras gleich dem Vieh und verbringt die Nächte unter dem Tau des Himmels; so kommt er dazu, den Höchsten Gott anzuerkennen, dessen Macht ewig besteht; Nebukadnezar wird dann wieder eingesetzt zu größerer Herrschaft denn zuvor. 1I2 Aus dem Verworfen-Sein, der Unterwerfung unter die höchste Macht geht die Bestätigung der irdischen Macht des Königs hervor. "Wer sich selbst erniedrigt, der will erhöhet werden", schrieb Nietzsehe. Im Rom des Kaisers Augustus fand Horaz die klassische Formulierung: "Weil du dich geringer als die Götter hältst, übst du die Herrschaft aus", dis te minorem quod geris imperas. 1 13 Er sprach zu Rom, jener Macht, die eben erst die ,Welt' erobert hatte. Andere warfen ihr vor, rücksichtlos die oikumene zu plündern und zu vergewaltigen. Nein, sagt der augusteische Dichter, nicht durch selbstgerechten Hochmut hat Rom dies erreicht, sondern weil man sich den Göttern beugte; standen doch überall in Rom die Tempel, die man geweiht hatte, um Sieg auf Sieg Zu feiern, Tempel, die Augustus eben damals erneuern ließ. Polybios hatte das große ,Theater' (tragodia) der Religion in Rom eher kritisch vermerkt. Jeder der hohen Jahresbeamten war mit imperium und mit auspicium ausgestattet, der Befehlsgewalt und dem Privileg, durch Vogelschau den Willen der Götter zu erkunden; ohne göttliche Zustimmung war nichts zu unternehmen. Der Mächtige hat sich stets dem Mächtigeren untergeordnet und kann darum seine Macht in legitimer Weise ausüben, mit gutem Gewissen und lang andauerndem Erfolg. Außerhalb des Schattens, den die Monarchie wirft, ist die zweistöckige Machtstruktur weniger drückend; doch fehlt sie nicht. Das Ideal bürgerlicher Gleichheit kann nicht Verzicht auf Macht bedeuten; demokratisch wird vielmehr gefordert, daß Macht in .einem Kreislauf unter Gleichen ausgeübt wird: Es gilt, in geordnetem Wechsel zu herrschen und sich beherrschen zu lassen, zu
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befehlen und zu gehorchen. 114 Das religiöse Theater der Macht auf zwei Stockwerken bleibt indessen in der normalen Familienstruktur gewahrt: Indem die Eltern die Götter verehren, fordern sie die Ehrung durch ihre Kinder ein. "Ehre zuerst die Götter, dann deine Eltern. "1l5 In christlichen Klosterordnungen ist Gehorsam die erste Pflicht, gegenüber den Vorgesetzten im Kloster wie gegen Gott, dem die Vorgesetzten ihrerseits verpflichtet sind. "Gehorchet euren Lehrern und folget ihnen", schreibt der Hebräerbrief, "denn sie wachen über eure Seelen, als die da Rechenschaft dafür geben sollen", und zwar vor der göttlichen Instanz. II6 So läßt sich wohl bei allen Formen religiöser Demut beobachten, daß die Person, die sich dem Höchsten neigt, andere dazu bringt, diesem Beispiel zu folgen und damit sich selbst eine rührende Rolle gibt.
Der Bote der Macht Eine schlichte und grundlegende Funktion der Sprache ist es, Befehle zu geben. II7 Macht unter Menschen bedeutet, Befehle zu erteilen, denen die anderen gehorchen. In einem hierarchischen System vervielfältigen sich die Möglichkeiten, Befehle auszugeben, besonders indem die Anweisungen in einer Kette von Abhängigkeiten weitergereicht werden. Der eine sagt zum anderen, was ein dritter zu tun hat, und der zweite gibt dies eifrig weiter. Schon intelligente Primaten wissen innerhalb des eigenen Rangsystems, daß es von Vorteil ist, bei hochrangigen Individuen im Kurs zu stehen, denn deren Prestige wird ausstrahlen auf diejenigen, die Verbindung halten. Man kann so einen Partner als ,soziales Werkzeug' benützen. llR Doch nur durch die vollentwickelte Sprache kann ein entwickeltes Kommandosystem errichtet werden. In der verbalisierten Form wird der Wille des Höheren übertragbar. Dadurch entsteht die Rolle des Boten der Macht, einer Person, die Befehle ausgibt, die nicht die eigenen sind und die doch mit dem vollen Prestige der Macht Gehorsam fordern. Der Bote verwaltet die Macht des Stärkeren, ohne doch das volle Risiko der eigenen Verantwortung zu tragen. Indem die Kette der Macht verlängert und weiter aufgegliedert wird, entstehen Systeme der Abhängigkeit, die für den einzelnen nicht mehr durchschaubar sind; weder in der Praxis noch im Geiste kann er zur eigentlichen Quelle der Macht vordringen. Man
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denkt an Kafkas unheimliche Erzählungen, Der ProzdJ, Das Schloß, das Gleichnis vom Tor des Gesetzes. Auch in weniger apokalyptischen Szenarien können unsichtbare Mächte Autorität gewinnen und Anweisungen erlassen, ohne je direkt sichtbar zu werden. Der offensichtliche Vorteil der unsichtbaren Quelle ist, daß sie unangreifbar geworden ist; nichts ist damit zu gewinnen, daß man Boten bekämpft. Die pseudoaristotelische Schrift ,Über die Welt' beschreibt, wie der Perserkönig selbst innerhalb des eigenen Palastes rur alle unsichtbar blieb, eingeschlossen hinter Korridoren, Türen und Vorhängen, und doch mit seinem ganzen Reich kommunizierte durch seine Informanten, Verwalter und Soldaten; dies, meint der Autor, ist nur ein unvollkommenes Abbild, nach dem man sich Gott vorstellen mag, den unsichtbaren König des Alls. "9 In dem zweistöckigen Machtsystem, wie es beschrieben wurde, können Befehle und Aktionen eines Königs die Gestalt göttlicher Beschlüsse annehmen. Ein Beispiel liefert ein Text von Samsuiluna, König von Babyion um 1700 v. ehr.: Der höchste Gott, Enlil, wendet sich an seinen Sohn und seine Tochter, Zababa und Ishtar, und sie teilen ihrerseits ,in höchster Freude' die Botschaft des höheren Gottes dem König mit: "Samsuiluna, Same der Götter, Gott Enlil hat dein Geschick groß gemacht; wir gehen an deiner Seite, wir töten deine Feinde, wir geben deine Gegner in deine Hand. Du aber erbaue die Mauer der Stadt Kisch, höher als was zuvor da war." Der König gehorcht, er führt einen Krieg, er erringt den Sieg und erbaut zu Kisch den Tempel rur Zababa und Ishtar. 12o Wie eigentlich dem König der göttliche Auftrag mitgeteilt wurde, ob im Traum oder durch ein Orakel, erfahren wir nicht; aus späterer Zeit gibt es zahlreiche Texte mit Botschaften von Göttern, die von deren Heiligtum aus an den König von Assyrien gesandt wurden, wobei charismatische Propheten und Priesterinnen als Medien fungierten. I2I Jedenfalls wird Verheißung und Auftrag in einer Kette der Autorität übermittelt, die selbst im göttlichen Bereich noch Stufen umfaßt und die untergeordneten Götter als Boten einsetzt, damit der König als ausführendes Organ entsprechend handelt. Das reale Ereignis, der vom Zaun gebrochene Krieg des Königs, der Städte zerstört und Beute nach Babyion bringt, wird als Endglied des göttlichen Vorspiels geschildert und damit als eine Leistung des Gehorsams, der Früchte trägt. Der Rolle von ,Engeln' als Boten in der jüdischen und in der christlichen Religion ist hier nicht im einzelnen nachzugehen. 122
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Bemerkenswert ist, daß Religionsgründer wiederholt sich selbst als Gesandte und ,Boten' ihres Gottes vorgestellt haben. Jesus vertraute seinem "Vater, der mich gesandt hat", 12 3 wie schon Johannes der Täufer sich auf den berief, "der mich sandte, zu taufen mit Wasser" . 124 Jesus seinerseits sandte seine Jünger aus als Boten zweiten Grades: "Gleichwie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch." 125 Mani, der Begründer des Manichäismus, schrieb an König Shapur von Persien: "Die Weisheit und die Werke sind es, die von Äon zu Äon heranzubringen die Gesandten Gottes nicht aufhörten. So geschah ihr Kommen in dem einen Zeitalter in der Gestalt des Gesandten, der der Buddha war, in die Gebiete Indiens, in einem anderen (Zeitalter) in der Gestalt Zarathustras in das Land Persien; (wieder) in einem anderen (Zeitalter) in der Gestalt Jesu in das Land des Westens; dann stieg herab diese Offenbarung . .. in Gestalt meiner selbst, des Mani, des Gesandten des wahren Gottes in das Land Babel." 126 Allah diktierte Mohammed den Text des Koran; so wurde die Botschaft literarisch, doch blieb die Rolle des Boten. Die Grundformel des Islams verkündet, zusammen mit dem einen Gott Allah, stets auch Mohammed, "den Gesandten Allahs" . 127 In der griechischen Welt ist dieses System sehr viel weniger entfaltet; doch auch dort gibt es überall Befehle der Götter, die durch Boten übermittelt werden. Der Mythos fUhrt Iris den Regenbogen als Brücke von Göttern zu Menschen ein; das Epos stellt Hermes den Götterboten daneben. 128 Später hat man daimones als Boten zwischen Göttern und Menschen bezeichnet. 129 In der üblichen religiösen Praxis achtete man auf Orakel, Träume, Visionen und Stimmen, die alle als göttliche Aufträge verstanden werden konnten; dazu gab es die Interpreten, die im Namen des Gottes sprachen, auf Grund ihres besonderen Wissens, einer WahrsageTechnik oder aus Trance und Ekstase. Sie verkünden den Willen des Gottes. Die grundlegende Rolle der Sprache gerade im scheinbar Irrationalen könnte nicht deutlicher sein. "So sprach Apollon", sagt ein Seher; seine Autorität kommt von dem Gott, der seinerseits der Sprecher von Zeus selbst ist. 130 Was Dichter darstellen, erscheint als Alltagswirklichkeit in ungezählten Votivinschriften, die bezeugen, daß diese und jene Gabe fur einen Gott ,auf Befehl hin', ,im Auftrag' zustande kam, kat ( epitagen, keleustheis, iussu deorum. Der sogenannte Prophet heißt im Hebräischen nah!, ,der ausspricht'. "Es erging aber das Wort Jahwes an Jona, den Sohn
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Amittais, folgendermaßen: Auf, begib dich nach Niniveh ... und predige ... ;"1 31 und die Predigt des Gesandten in Niniveh kommt denn schließlich auch zustande, ja hat überraschenden Erfolg. Der Prophet Nathan spricht zu David: "So spricht Jahwe." 132 Wieder die Kette des Sprechens, der Prophet als Zwischenträger des göttlichen Auftrags. Aristophanes kann dies auch parodieren: Der Seher sagt, was Bakis sagte, daß die Nymphen ihm gesagt hätten l33 - da scheint mit jedem zusätzlichen Glied die Kette unzuverlässiger zu werden. In Rom trat im Jahr 102 v. Chr. ein gewisser Battakes auf als Priester der Großen Göttermutter von Pessinus; er erklärte, "er sei hier nach Befehl der Göttin", und kraft dieser Autorität wollte er den römischen Behörden zu einem öffentlichen Reinigungsfest Auftrag erteilen; man denke an Jona in Niniveh. Ein Beamter ließ den Priester vom Forum jagen - und starb binnen drei Tagen. 134 Es ist bedenklich, sich an göttlichen Boten zu vergreifen. Menschen sind von Natur aus listig, und sie gehorchen ungern; dies ist die stete Klage der Propheten. Ritual freilich lädt zur Nachahmung ein, und dies gilt sogar von Ritualen der Unterwerfung; sie können andere dazu bringen, die Präsenz höherer Wesen zu akzeptieren, ja selbst zu ,erftihlen'.135 Doch persönliche Bedürfnisse, Interessen und Wünsche lassen oft die Ansprüche und Drohungen unsichtbarer Mächte vergessen. Die Frage, wie denn je Botschaften und Aufträge einer höheren Welt glaubhaft, ja zwingend übermittelt werden können, fUhrt zurück zu dem Problem, wie das Nicht-Gegebene zu validieren ist. 136 Alle die eingesetzten Mittel, unsichtbare Autoritäten zum Sprechen zu bringen, sei es durch Seherkunst, sei es über direkte Erfahrung der Ekstatiker und der medial Veranlagten, der Schamanen und der Mystiker, haben von Fall zu Fall bemerkenswerten, kaum aber universellen Erfolg. 137 Festzuhalten ist, daß die echten Charismatiker nicht die Betrüger und Heuchler sind. Nicht selten stehen sie selbst unter unwiderstehlichem Zwang, ihre Botschaft zu verbreiten, um jed~n Preis, und wenn es ihr Leben kostet. "Der Herr hat mich gesandt, ... mit dem Zwang der Notwendigkeit, mit meinem Willen oder gegen meinen Willen", sprach eine Prophetin der Montanisten. 138 Die Boten sind selbst Glieder einer Kette; wie denn ein griechisches Sprichwort sagt: ,Man trägt einen, der trägt', pherei pheronta. 139 Während der Träger der Last mit schwerer Autorität . auf anderen lastet, ruht die Last nicht minder schwer auf diesem selbst.
V. Schuld und Kausalität
Religiöse Therapie: Die Suche nach der Schuld Die griechische Literatur beginnt ftir uns mit Homers Ilias, und die Ilias beginnt mit der Erzählung von einer Pest, oder vielmehr von der Ursache der Pest. Ein Priester kommt ins Lager der Achäer, Chryses, um seine kriegsgefangene Tochter Chryseis freizukaufen. Er wird von Agamemnon mit Hohn und Drohung abgewiesen; da wendet er sich an seinen Gott, Apollon, und betet, daß die Achäer fur seine Tränen büßen sollen. Er ist ein areter, er hat die Macht über die ara, was Gebet, Segen und Fluch zugleich bedeutet. So sendet denn Apollon die Pest, die dann den Streit zwischen Agamemnon und Achilleus auslöst und zum ,Zorn des Achilleus' fuhrt. Die Handlung der Ilias sei hier nicht weiter verfolgt. Es geht nicht um die Kunst Homers, sondern um die Sequenz, die als auslösendes Moment benützt ist: Sie geht aus von der alltäglichen Erfahrung von Krankheit und knüpft daran ein Muster von Erwartungen und Aktivitäten, um damit zu Rande zu kommen. Dies stammt nicht aus der Phantasie eines Dichters, sondern hat viel weiter zurückreichende und allgemeinere Wurzeln. Wenn wir versuchsweise die Perspektive des allwissenden Erzählers verlassen und uns vorstellen, wie das Geschehen in der Erlebniswelt der Achäer selbst ablaufen müßte, dann ist das erste, was sie trifft, eben die Pest: massenhaftes Sterben, brennende Scheiterhaufen, das Erleben der Katastrophe, gegen die man kein Mittel hat; die Kunst der Ärzte ist machtlos. Trotzdem, man muß etwas unternehmen. Achilleus übernimmt die Initiative, er beruft die Versammlung und stellt fest, wobei er auf allgemeine Zustimmung rechnet, daß die Katastrophe eine Ursache haben muß und daß dies scheint uns weniger selbstverständlich - die Ursache der Zorn eines Gottes ist, des Gottes der Heilung ebenso wie der Pest, des Apollon. "Warum ist Phoibos Apollon so ergrimmt?" Um die Antwort zu finden, schlägt Achilleus vor: "Wollen wir einen Seher fragen oder einen Priester, oder auch einen Traumdeuter ... "1
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Daraufhin erhebt sich Kalchas der Seher, und er verkündet, was der Zuhörer des Epos bereits weiß: Die Ursache ist, daß Agamemnon den Priester beleidigt hat. Also bedarf es doppelter Genugtuung: Chryseis muß ihrem Vater zurückgegeben werden, und ein Versöhnungsritual fur Apollon muß durchgeführt werden, doppelt sogar, am Heimatort des Priesters Chryses, wo man eine ,Hekatombe' opfert, und im Lager der Achäer. Dort findet eine Reinigungszeremonie statt, apolymainesthai, noch vor dem Opfer, und man singt einen ganzen Tag lang das besondere Lied Apollons, den Paian, und tanzt dazu. Hier finden wir gleich am Anfang der griechischen Dichtung religiöses Ritual; es bringt nacheinander Mantik, Reinigung, Tieropfer, Gebet und Tanz ins Spiel. Nun ist die hier geschilderte Abfolge keine Eigenheit der homerischen Dichtung; sie fUhrt sogar über die Welt der Griechen hinaus und dürfte geradezu ein interkulturelles universale sein. Vier charakteristische Schritte gliedern diese Sequenz: zunächst die Erfahrung des Unheils, der Katastrophe, bedrohlich und angsterregend; dies fUhrt sogleich auf die Frage Warum? Warum jetzt? Warum bei uns?2. Dies ruft, zweitens, einen Interpreten auf den Plan, einen Verrnittler der besonderen Art, der ,mehr weiß' als die normalen Menschen: "ein Seher, ein Priester, ein Traumdeuter." Dieser erstellt, drittens, seine Diagnose. Die Ursache des Unheils muß definiert und fixiert werden. Normalerweise geht es um die Feststellung einer Schuld, begangen von einem einzelnen oder auch von mehreren gemeinsam, erst kürzlich oder auch vor langer Zeit. Fast immer ist diese Schuld in ein von höheren Mächten garantiertes System eingeordnet, sie steht in Beziehung zu einer Gottheit; die vom Vermittler erstellte Diagnose hat eine transzendente Dimension. 3 Die Erkenntnis der Schuld weist den Weg zur Rettung: So folgen denn, viertens, Akte der Wiedergutmachung, und zwar einerseits auf der rituellen, andererseits auf der praktischen Ebene: Man singt zum Opfer den Paian - und bringt die Tochter dem Priester-Vater zurück; so wird das Übel überwunden, die Rettung erreicht. Als nächste Parallele sei eine Geschichte aus dem Alten Testament nacherzählt, aus der Philisterzeit. 4 Dies fUhrt in ein anderes literarisches Genus, Sage oder Quasi-Geschichtsschreibung - was nicht garantiert, daß wir es mit historischen Tatsachen zu tun haben. Die Philister von Ashdod, wird erzählt, haben Israel besiegt und die Bundeslade erbeutet. Sie weihen die Beute ihrem Gott,
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V. Schuld und Kausalität
dem Dagan von Ashdod, in seinem Tempel. Aber da "lag die Hand Jahwes schwer auf den Leuten von Ashdod. Er richtete eine Verheerung unter ihnen an und schlug sie mit Pestbeulen, sowohl Ashdod als auch sein Gebiet". Wieder also eine Pest, und ein allwissender Erzähler, der uns schon im voraus die Ursache mitgeteilt hat. Die Philister erfahren die Krankheit als ,Hand Gottes', wie Achilleus gewußt hatte, daß die Pest von Apollons Zorn herrühren müsse. Was kann man tun? Die nächstliegenden praktischen Maßnahmen versagen. Die Philister senden die Bundeslade in eine andere Stadt, und dann in eine dritte, doch die Pest folgt der Lade. Die Klage der Bedrängten steigt zum Himmel. Da "beriefen die Philister die Priester und Wahrsager und sprachen: Was sollen wir mit der Lade Jahwes machen?" Der hebräische Text nennt zwei Gruppen,5 die Septuaginta hat drei dafur eingesetzt, Priester, Seher und Beschwörer, hiereis, manteis, epaoidoi; Achilleus nannte Seher, Priester oder Traumdeuter. Die Auskunft ist: Die Bundeslade muß Israel zurückgegeben werden, und zusätzlich müssen Jahwe goldene Weihgaben gespendet werden, funf goldene Mäuse und fünf goldene Gesäßbacken. 6 Die Verbindung von Mäusen und Pest klingt realistisch - Ratten gab es damals noch nicht im Mittelmeerraum -, die Verbindung von Pest und Gesäßbacken bzw. Leistengegend ist nicht minder realistisch - die Pestbeule des heiligen Rochus ist aus Dezenzgründen meist etwas tiefer am Bein angesetzt -, aber dies soll natürlich auch eine Beleidigung fur die Philister sein. Jedenfalls tun die Philister, was die Seher geboten haben, die Bundeslade kehrt zurück, und die Pest findet ihr Ende. Die Parallelität zum Anfang der Ilias bedarf kaum der Hervorhebung; es ist das gleiche Unheil, das gleiche Verfahren, die Ursache festzustellen, eine ähnliche Schuldzuweisung und ein ähnliches Wiedergutmachungsritual; nur daß Fest und Tanz bei den Philistern vom biblischen Autor nicht erwähnt werden. Übrigens sind homerische Griechen und Philister, im Schatten der mykenischen Kultur, gar nicht weit voneinander getrennt. Die Philister sind die greifbarsten unter den sogenannten ,Seevölkern', die nach etwa 1200 v. ehr. auftreten; sie haben in das nach ihnen benannte Palästina eine Art barbarisierte mykenische Keramik mitgebracht, und manche Philisterexperten meinen, sie hätten wohl griechisch gesprochen;7 da sie keine Schrift gebrauchten, werden wir dies nie erfahren.
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Aber es kommt hier weder auf Völkerverwandtschaft noch auf literarische Tradition an, es geht um ein viel allgemeineres Schema. Ein weiteres, früheres Beispiel fUhrt uns mitten in die Bronzezeit zurück, auf etwa 1340 v. ehr. Es handelt sich um die ,Pestgebete' des hethitischen Königs Mursilis. 8 Eine Pest hat sich im Land Hatti ausgebreitet. Man weiß durchaus, was ihre natürliche Ursache war, eine Infektion durch Kontakt mit Fremden: "Kriegsgefangene haben die Seuche ins Land der Hethiter gebracht." Aber was hilft solches Wissen? Der König handelt in seiner Weise: "Ich machte den Zorn der Götter Gegenstand der Anfrage an ein Orakel." Ganz wie Achilleus den Zorn Apollons erkannte, sieht Mursilis in der Pest den Zorn der Götter, und man schlägt das gleiche Verfahren ein: Es bedarf eines Sehers oder eines Orakels. Die Hethiter allerdings hatten eine Schriftkultur, Mursilis studiert zusätzlich auch die alten Aufzeichnungen, die aber auf mehrere Möglichkeiten weisen; so bleibt das Orakel notwendig, das Eindeutigkeit herstellt. Zwei Ursachen treten hervor, eine doppelte Schuld, die auf dem Lande liegt: Man hat bestimmte Opfer fur den Fluß Euphrat unterlassen - auch in der Ilias hatte Achilleus zunächst vermutet, Apollons Zorn sei durch unterlassene Hekatomben oder nicht erfullte Gelübde ausgelöst -; außerdem hat Mursilis' Vater Suppiluliuma einen Vertrag gebrochen. Dem entsprechen die notwendigen Sühnemaßnahmen, die der König nun ergreift: "Die Ursachen fur die Seuche, die festgestellt wurden ... habe ich beseitigt. Ich habe reichliche Wiedergutmachung geleistet ... Ich habe Weihe gaben fur jene verletzten Eide dem Wettergott von Hatti dargebracht... Die Opfer fur den fluß Euphrat verspreche ich durchzufUhren ... ".9 Kurzum, wir treffen hier, in der historischen Wirklichkeit, genau das genannte Schema: Das drängende Unheil, die Überzeugung, daß dies den Zorn eines Gottes anzeigt, die Vermittlung durch ein Orakel, die Feststellung religiöser und moralischer Schuld, und die Wiedergutmachung durch religiöses Ritual, durch Weihegaben und Opfer. Das System zeigt sich voll entfaltet schon in der Bronzezeit. Doch besteht kein Grund, nur in der Vergangenheit oder in der Literatur zu verharren. 1986 brachte der Tages-Anzeiger Zürich die Notiz: "Die Bewohner der 35 km südöstlich von Tel Aviv gelegenen Gemeinde Kiljat Malachi wollen demnächst einen Tag des Fastens und des Opfers begehen . .. In der kleinen Ortschaft seien während der letzten Wochen sechs Menschen gestorben. Die Be-
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wohner des Dorfes hätten daraufhin einen populären Rabbiner in Jerusalem konsultiert, der ihnen erklärt habe, Ursache der Todesfalle sei eine Sünde, die in dem Ort begangen worden sei ... Die Dorfbewohner hätten daraufhin nach der Sünde Ausschau gehalten und hätten als solche ein Striptease-Show ausgemacht, die am Silversterabend in einem Dorfgemeinschaftshaus veranstaltet worden war. "10 Der moderne Reporter fand dies spaßhaft, und wir lachen mit, weil wir doch wissen, daß Krankheiten durch Bakterien oder Viren verursacht werden und nicht von einer Striptease-Show. Und doch, wir finden hier genau die Abfolge, die schon bei Mursilis und in der Ilias aufgefallen war: Krankheit und Tod, der übernatürliche Vermittler, die Deklaration von Schuld, die in der Übertretung eines religiös-moralischen Tabus gefunden wird, und die rituellen Mittel, dies wieder gut zu machen, Fasten und Opfer. Selbst ftir unsere Zeitgenossen macht dies Sinn. Zurück zur klassischen Antike: Ein prominentes Beispiel der gleichen Struktur liefert der Anfang von Sophokles' König Oedipus. Eine ,Krankheit', nosos, ein umfassendes Unheil hat Theben heimgesucht, das Wachstum der Pflanzen ist gestört, Tiere und Menschen haben Fehl- und Mißgeburten, Sterben ist im Land. König Oedipus tut, was in solchem Fall zu tun ist: Er schickt einen Gesandten nach Delphi, um zu fragen, was die Ursache des Unheils sei. I1 Die Antwort: Ein altes, ungesühntes Verbrechen, der Tod des Königs Laios lastet auf dem Land. Daraufhin kann Oedipus die erforderlichen Maßnahmen ergreifen, im rationalen wie im rituellen Bereich: Es spricht seinen Fluch über den Mörder aus, und er beginnt die Untersuchung, die schließlich auf ihn selber flihren muß. Die Kunst des Sophokles bringt es dahin, daß wir am Schluß den Anfang fast vergessen und gar nicht fragen, ob die nosos nun ihr Ende gefunden hat; auch wird Oedipus nicht sogleich aus dem Land getrieben. I2 Sophokles dürfte den Anfang im wesentlichen frei erfunden haben - das Schema lag so nahe. Es ist ein Programm der religiösen Praxis, das sich wie von selbst in eine Geschichte verwandelt. Einige weitere Beispiele aus der Mythologie: Als Herakles Iphitos getötet hatte, erkrankte er; er fragte das Orakel zu Delphi, wie er wieder gesund werden könne. Dabei kam es zu dem Streit um den delphischen Dreifuß mit Apollon selbst; schließlich aber erhielt Herakles die Weisung Apollons, daß er sich auf drei Jahre in die Sklaverei verkaufen lassen müsse. I3 Nachdem er diese De-
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mütigung über sich hatte ergehen lassen, gewann er mit der Gesundheit auch den heroischen Status zurück. Vergil schildert in den Georgica, wie Aristaios durch eine plötzlich hereinbrechende Seuche seine Bienenvölker verlor. Nach dem Rat seiner Mutter wandte er sich an den Meeres-Daimon Proteus, um nach der Ursache des Unheils zu fragen. Es ergab sich, daß Aristaios sich schuldig gemacht hatte durch einen sexuellen Übergriff, der zum Tod der Eurydike geführt hatte. Der Zorn der Nymphen muß nun durch ein großes Rinderopfer gesühnt werden, das in magischer Weise, als bugonia, neue Bienen hervorbringt. 14 Doch handelt es sich eben nicht nur um mythisches Geschehen. Ein einschneidendes Ereignis im 2. Jahrhundert n. ehr. war die große Pest, die seit r67 aus dem Osten kam, ausgelöst durch den Partherkrieg. Die Ärzte waren machtlos; Galen verließ vorsichtshalber Rom. Es blieben die Orakel, an die sich die Städte wandten. Mehrere Orakelantworten der Zeit sind durch Inschriften erhalten, die - wie zu erwarten - auf Götterzorn verweisen und bestimmte Rituale vorschreiben, die helfen sollten. 15 Man vergleiche damit einen Bericht aus dem heutigen Afrika, den Vittorio Lanternari aus eigener Beobachtung gibt: 16 Ein kleines Kind wurde krank; die Mutter suchte darum eine prophetische Heilerin auf. Diese warf nicht einmal einen Blick auf das kranke Kind, sondern begann die Mutter auszufragen nach der Familiensituation, nach halbvergessenen Streitigkeiten unter den Verwandten. Sie fand heraus, daß die Mutter einen Libationsritus für die Schutzgeister, der im Vorjahr fällig war, unterlassen hatte, und daß ein Onkel seit Jahren seine Pflichten gegenüber seiner Schwester und deren Kindern, rur die er verantwortlich war, vernachlässigt hatte. Die Weise Frau verlangte also von der Mutter des Kindes, daß sie diesen Onkel aufsuche, um die Beziehung wieder in Ordnung zu bringen, und das versäumte Ritual sofort nachhole. Dann erst, bei einer zweiten Konsultation, untersuchte die Prophetin das kranke Kind und brachte eine Medizin zur Anwendung, die in wenigen Tagen das Kind genesen ließ. Krankheit gilt hier nicht als physiologischer Zustand eines einzelnen Individuums, sondern als eine Störung des gesamten sozialen Feldes, das Mutter und Kind umgibt, einschließlich der Verwandten und einschließlich der geforderten Rituale. Wir könnten geneigt sein zu kritisieren, wie die Krankheit zum Vorwand genommen wird, sich
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in die Privatsphäre der Familie einzumischen; und doch wird man zugeben, daß Kinderkrankheiten durchaus mit einer gespannten Familiensituation zusammenhängen können. Jedenfalls ist anzuerkennen, wie ein solches Verfahren eine sinnhafte Welt entwirft, in der das Übel identifiziert und damit ausgeräumt werden kann. Es wäre leicht, weitere Parallelen anzuhäufen, wie man mit Krankheit nach diesem Schema verfährt, von den Eskimos bis Afrika und von Ozeanien bis Amerika. Eine Geschichte aus Livius sei noch hinzugefügt, die wie eine Parodie der Prozedur erscheint: '7 Als im Jahr 33 I v. ehr. eine tödliche Krankheit in Rom sich ausbreitete, gab eine Sklavin an, daß einige würdige Damen Gift gekocht hätten; man zwang sie, das Gebräu zu trinken, und sie starben alle daran. Im Zusammenhang damit wurden weitere 120 Frauen hingerichtet; "das Ereignis wurde als ein prodigium betrachtet". So ernannte man nach uraltem Brauch einen ,Diktator, den Nagel einzuschlagen', und er vollzog dieses ebenso seltsame wie simple Ritual. Die Ursache des Übels schien klar und greifbar genug in diesem Fall, war doch der Gifttrank gefunden und angewendet worden - doch blieben Zweifel, wie Livius andeutet; rationale, grausame Justiz jedenfalls konnte dem nicht genugtun, man bedurfte der transzendenten Dimension, um den rechten Zustand in umfassender Weise zu fixieren, kraft eines traditionellen Rituals.
Bedrängendes Unheil Die bisherigen Beispiele gingen von Krankheit als der grundlegenden Unheilserfahrung aus. Krankheit mag in der Tat der häufigste Anlaß sein, der die beschriebene Reaktionsfolge in Bewegung setzt. Krankheit und Religion sind zumal in urtümlichen Kulturen ganz eng verknüpft;'8 sogenannte Primitive antworten auf die Frage, warum sie ihre eigentümlichen und oft bizarren Rituale vollführen, in der Regel: Wenn wir dies unterließen, würden wir krank. Unterlassung von Opfern könnte Ursache der Krankheit sein, meinte auch Achilleus. Krankheit folgt auf religiöse Vergehen; umso schlimmer, wenn man Warnungen nicht rechtzeitig beherzigt. 19 Und doch ist Krankheit nicht die einzige Situation, die dieses Programm auslöst. Man kann sich die Lage der griechischen Flotte
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in Aulis vorstellen, wie Aischylos' Agamemnon sie packend beschreibt: Tag um Tag die grimmigen Nordwinde, die die Schiffe beschädigen und die Menschen zur Verzweiflung treiben - bis der Seher, Kalchas, auf den Plan tritt und "ein anderes Mittel, ein schärferes, rur die Anführer kündet, indem er Artemis vorbringt", die Göttin in der transzendenten Diagnose. Nun weiß man: Agamernnon ist schuld; er wird Iphigenie opfern. 20 Das Unheil der ungünstigen Winde kommt schon in der Odyssee vor: 2! Menelaos mit seiner Schiffsmannschaft wird unerwartet lang auf der Insel Pharos festgehalten und bedenkt, daß dies eine höhere Ursache haben muß. Den rechten Vermittler zu finden, ist in diesem Fall schwierig; es ergibt sich, daß Menelaos den Proteus, den Herrn der Seehunde einzufangen hat, was dank der Hilfe von Proteus' Tochter Eidothea gelingt; Proteus weiß, neben vielem anderen, was die Ursache ist; man hätte es erraten können: versäumte Opfer. Menelaos muß zurück nach Ägypten fahren und von dort, nach vollzogenem Ritual, die Heimreise antreten. Der Dichter verwendet unser Schema leichter Hand, um die hübsche Geschichte von Proteus und den Seehunden unterzubringen; die Struktur war so wohl bekannt und einfach zu handhaben. Dramatischer ist die Jona-Geschichte des Alten Testaments. Jona will sich Jahwes Auftrag entziehen, und statt nach Ninive zu gehen, fährt er zu Schiff von J affa nach Westen. Da erhebt sich der schreckliche Sturm, die Matrosen sind am Verzweifeln. Doch sie wissen, was in solcher Lage zu tun bleibt: "Wohlan, laßt uns Lose werfen, daß wir erfahren, durch wessen Schuld uns dieses Unheil widerfährt. "22 Das Unheil muß seine Ursache in einer persönlichen Schuld haben, und sind keine Seher zur Stelle, kann man doch durch Würfeln die transzendente Diagnose erstellen. In der Tat, der Schuldige wird identifiziert, Jona bekennt seine Sünde und wird über B?rd geworfen, ein willfähriges Opfer. Offenbar rettet dies die anderen; um J ona zu retten, bedarf es zusätzlich des Fisch-Mirakels. Aber wir sind wiederum nicht auf literarische Quellen religiösen oder profanen Inhalts allein angewiesen. Ein schlichtes Bleitäfelchen vom Orakel von Dodona enthält die Frage: "Sendet der Gott den harten Winter (oder Sturm: cheimona) wegen der Unreinheit eines Menschen?"23 Dies ist das Dokument einer offiziellen Anfrage aus Aetolien ans Orakel im 4. Jahrhundert v. ehr. Wir mögen uns mit einigem Unbehagen überlegen, was wohl passierte, falls
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die Antwort ,Ja' lautete: Die Behörden mußten dann wohl eine Untersuchung wie im Fall des Oedipus ins Werk setzen, eine Suche nach dem ,Sündenbock'. Jedenfalls haben wir die feste Sequenz: Unheilserfahrung, die Frage ,warum', die man dem Orakel stellt, um im Fall festgestellter Schuld entsprechende Maßnahmen zu treffen. Winde und Winter drohen Unfruchtbarkeit und Hunger an. Als das Land der Lyder einst von großer Hungersnot heimgesucht wurde, "wandten sie sich an die Seher", und diese erklärten, daß die Götter vom König Sühne für die Ermordung des Daskylos verlangten; so ging der König ins Exil und zahlte zudem Sühne an den Sohn des Getöteten. 24 Andere Katastrophenerfahrung führt ein akkadischer Text uns vor: König Sargon 11. von Assyrien, einer der gewaltigsten Eroberer im 8. Jahrhundert v. ehr., wurde schließlich auf seinem letzten Feldzug erschlagen; nicht einmal die Leiche konnte geborgen werden. Dies lag seinem Sohn und Nachfolger Sanherib, der sich ,der wohlbedachte' nannte, auf der Seele. "Indem ich in meinem Herzen über die Taten der Götter nachdachte, kam der Tod meines Vaters Sargon mit in den Sinn, der im Feindesland erschlagen wurde und der nicht in seinem Palast bestattet wurde; und ich sagte mir: Ich möchte die Sünde Sargons untersuchen, mittels Leberschau." Sargons Katastrophe muß eine Ursache haben, eine Sünde gegen die Götter, die zu untersuchen bleibt. Sanherib versammelt daraufhin die Wahrsager, und zwar macht er ,drei oder vier Gruppen', die nicht miteinander kommunizieren können, und stellt seine Frage. Er hat freilich schon eine Vermutung: Sargon hat die Götter Assyriens über die Götter Babyions gestellt; und die Seher, einmütig, geben eben diese von ihm erwartete Antwort. Dankbar betet Sanherib zu den Göttern und fühlt sich erleichtert; er unternimmt es jetzt, "die Rituale und Bräuche von Assyrien und BabyIon in Ordnung zu bringen", er läßt eine schöne Statue fur Marduk herstellen, wie auch für Gott Assur, und er hinterläßt seinem Sohn diesen Rat: "Mache nie eine Entscheidung ohne die Seher. "25 Es waren nämlich die ,Schreiber' von Assur, wie er feststellt, die die rechte Ehrung Marduks verhindert hatten. Wir sehen, wie hier die Politik ins Spiel kommt, Assur gegen Babyion ein altes Problem Mesopotamiens, das hier theologisch im Sinn der vollen Gleichberechtigung gelöst wird -; zugleich erscheint eine Rivalität zwischen ,Schreibern' und Sehern, zwischen der Palastbürokratie von Niniveh und dem geistlichem Stand, der für Ba-
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bylon optiert. Das Ergebnis ist hier die Stärkung des Prestiges der religiösen Gruppe, doch unter durchaus rationaler Aufsicht, die sich der König vorbehält: Mach drei oder vier Gruppen ... Das ärgste Unheil ist die Niederlage im Krieg. Als Karthago vom Tyrannen Agathokles belagert wurde, suchten die Karthager, die den Zorn der Götter auf sich lasten fühlten, nach mannigfachen Formen, sie zu versöhnen: Sie erinnerten sich an vergessene Opfer, die früher in ihrer Mutterstadt Tyros durchgeführt worden waren, und suchten diese nachzuholen, sie verfielen aber auch wieder auf die schrecklichen Kinderopfer, die sie ehemals dem ,Kronos' dargebracht hatten. So der Bericht Diodors. Priester und Seher sind dabei nicht ausdrücklich genannt, doch können sie nicht gefehlt haben bei dieser Suche und diesen Entscheidungen. 26 Noch zwei Beispiele aus der griechischen Geschichte: Als im Jahr 464 v. Chr. ein schweres Erdbeben Sparta zerstörte, gab es eine geläufige Erklärung: "Die Lakedämonier hatten einst Heloten aus dem Heiligtum des Poseidon (am Tainaron) weggeholt, die dort Asyl gesucht hatten, hatten sie abgeführt und hingerichtet. Aus diesem Grund, glauben sie, geschah das große Erdbeben in Sparta." So steht es bei Thukydides. 27 Seher wurden damals sicher herangezogen, die Schuld zu fixieren, und an Opfern für Poseidon, der ,Sicherheit vor dem Sturz' gewährt, Poseidon Asphaleios, wird es nicht gefehlt haben. Im Jahre 373 rutschte während eines Erdbebens die ganze Stadt Helike, an der Nordküste der Peloponnes, in den korinthischen Golf Was war die Ursache der Katastrophe? Ionier von Mykale hatten vom Heiligtum des Poseidon Helikonios in Helike aphidrysis verlangt, Symbole oder Statuetten des Stammtempels für ihr eigenes Poseidon-Heiligtum; die Achäer hatten ihnen dies verweigert; und siehe da, im darauffolgenden Winter war die Katastrophe gekommen. Poseidon zeigte seinen Zorn. So stellt es ein Zeitgenosse dar, der Platonschüler Herakleides vom Pontos;28 die Priester und Seher vom Panionion zu Mykale dürften diese Sicht der Dinge verbreitet haben. In noch frühere Zeit führt eine Geschichte bei Pausanias über Mißerfolg und Erfolg bei den Olympischen Spielen: Die Achäer wunderten sich, daß über eine lange Zeit nicht einer ihrer Athleten in Olympia einen Sieg gewann. Als sie sich ans Delphische Orakel wandten, erfuhren sie, daß vor langem ein gewisser Oibotas, Sieger im Jahr 756 v. Chr., von seinen Landsleuten nicht die
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angemessenen Ehrungen empfangen hatte und darum den Fluch tat, daß kein Achäer in Zukunft einen Olympischen Sieg erringen solle. Jetzt, im Jahr 460, unternahmen es die Achäer, dem Oibotas an seinem Grab ganz besondere Ehren zu erweisen, und stellten auch eine Statue des Oibotas in Olympia auf; und alsbald siegte dort wieder ein Achäer. "Und bis zu meiner Zeit bleibt dieser Brauch, daß diejenigen Achäer, die als Athleten zu den Olympischen Spielen gehen, dem Oibotas opfern; und falls sie gewinnen, setzen sie der Oibotas-Statue zu Olympia einen Kranz auf."29 Entsprechende Geschichten gibt es auch und erst recht im privaten Bereich. Apollonios von Rhodos erzählt von einem gewissen Paraibios, der merkte, wie sein Leben so ganz ohne Glück und Erfolg verlief. Er wandte sich an den Seher Phineus, um zu fragen, ob dies eine bestimmte Ursache habe. Und Phineus fand diese, obschon sie eine Generation zurück lag: Der Vater des Paraibios hatte einen Baum in den Bergen gefillt und dabei die zugehörige Nymphe, die Hamadryade verletzt. Drum mußte nun Paraibios der Nymphe einen Altar errichten und ,lösende Opfer', lopheia hiera, darbringen. So entkam er dem ,gottgesandten Unheil'.3 D Noch privater ist, was im Mythos von Melampus dem Seher erzählt wirdY König Phylakos fragt an, warum sein Sohn Iphiklos keine Kinder zeugen kann; offenbar ist er impotent. Melampus versteht die Sprache der Vögel und findet so heraus, daß vor langer Zeit Phylakos, als er seine Schafböcke kastrierte, seinen kleinen Sohn mit einem blutigen Messer erschreckt hatte; das Messer blieb in einem heiligen Baum stecken, und längst ist die Rinde darüber gewachsen. Dieses Messer also, verrostet und rindenüberwachsen, muß Melampus wiederfinden, und zehn Tage lang mischt er etwas Rost in einen Trank, den er Iphiklos zu trinken gibt. So kann er ihn heilen. Was wir hier finden, ist offenbar der älteste Fall einer klassischen Psychotherapie nach Siegmund Freud: Ursache der sexuellen Störung ist ein psychisches Trauma, das aus der Jugend des Patienten stammt, das mit dem Vater und mit Kastrationsphobie zu tun hat. Heilung kommt zustande, indem man zurückgeht bis zu diesem Trauma, dessen Zeugnis unter der Rinde überdauert hat; dann gilt es, durch allmähliches Vertraut-Werden mit dem angsterregenden Objekt von einst die Heilung zu erzielen. Freud selbst hat diesen Mythos anscheinend nicht gekannt. Immerhin erscheint selbst in der altgriechischen Version das ganze mehr als medizinische denn
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als religiöse Therapie. Doch nur ein Seher kann den 'JV'eg weisen. Die Abfolge im ganzen ist die übliche: das Unheil, der Seher, die verborgene Ursache, und das entsprechende Heilverfahren. Ist die Wirkung und die Popularität der Psychoanalyse in unserem Jahrhundert darum so groß, weil sie ein uraltes Muster nachspielt? Ein Unterschied zu den früheren Beispielen freilich ist festzuhalten: Während die transzendente Diagnose in der Regel eine ,Schuld' der Leidenden selbst zutage fordert, liegt im Fall Melampus wie eben bei den Modernen die Schuld beim Vater: Was hat man dir, du armes Kind, getan? Der Heilungsprozeß freilich bleibt vom Patienten zu leistenY Die Frage, die sich immer wieder stellt, ist die nach "der Ursache des gegenwärtigen Unheils"; so formuliert es insbesondere Herodot. 33 Ein Text des Euripides umschreibt das gleiche mit leidenschaftlicherem Ausdruck: Die Toten werden beschworen "fur die, die im voraus um die zu bestehenden Plagen wissen wollen: Woher sind sie entsprungen? Was ist die Wurzel der Übel? Welchen der seligen Götter muß man durch Opfer endgültig versöhnen, um Rast von den Plagen zu finden?"34 Das erforderliche Wissen liegt nicht in der Reichweite normaler Menschen, sie vermögen es nicht, die Quelle des Übels ausfindig zu machen und die entsprechenden Opfer anzugeben. Ähnlich drückt es Platon im Phaidros aus: "Für Krankheiten und größte Plagen, die eben aus altem Groll irgendwoher in gewissen Familien auftreten, hat die (dionysische) Raserei, die sich einstellte und denen, fur die es nötig war, prophetische Weisung gab, die Erlösung gefunden, indem sie zu Gebeten und zum Dienst der Götter Zuflucht nahm; so fand sie Reinigungen und Weiheriten und machte den, der sich an sie hielt, heil fur die gegenwärtige und die zukünftige Zeit, indem sie die ,Lösung' der gegenwärtigen Leiden fur den richtig Rasenden, den Besessenen fand. "35 Hier ist es die ,dionysische Raserei', der Platon die Rolle des Vermittlers zuweist; die Sequenz bleibt vollständig, vom Leiden über die göttliche Prophetie zur Entdeckung des ,alten Grolls', woraus sich die rituellen Anweisungen ergeben und schließlich die ,Lösung' erreicht wird. Das Programm entfaltet sich wie von selbst zu einer Erzählung,3 6 gestaltet doch jede Erzählung eine Folge von Fakten zu einem Sinnzusammenhang. Im Alltag stellt sich die Frage ,warum?' bei jedem auffalligen Verhalten: Was tust du da, warum tust du das?37 Die Antwort besteht in der Regel in einer Erzählung. Dem-
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entsprechend ergibt sich die typische warnende Geschichte als Folge zweier Erzählungen: Erst hat einer dieses oder jenes getan, und dann . .. Dabei wird allerdings die Abfolge des realen Lebens umgekehrt: Die Erzählung setzt ein mit dem anfänglichen Fehlverhalten, der ,Schuld', ob es nun um ein allgemeines Gesetz, um akzeptierte Moral, religiöses Tabu oder bloßes Ungeschick geht, und berichtet dann von den Folgen, dem Unheil, das eintrat, und den Versuchen, seiner Herr zu werden; im realen Leben ist man unversehens mit dem Unheil konfrontiert, was Anlaß gibt, rückwärts nach der ,Schuld' zu suchen. Warnende Geschichten können durchaus auch mit der Katastrophe enden, während in der Lebenspraxis alles daran hängt, daß man sich vom Unheil schließlich doch lösen kann.
Die Gründung von Kulten Zwei Aspekte im geschilderten Zusammenhang erfordern besondere Aufmerksamkeit: Die Gründung religiöser Kulte auf Grund der transzendenten, der fiktiven und doch so mächtigen Kausalität, und die Rolle der ,Vermittler'. "Not lehrt beten", oder, wie es Livius genauer besehen formuliert: "das Unheil ließ an religiöse Riten denken", adversae res admonuerunt religionum. J8 Die hier behandelte Abfolge erscheint immer wieder als eines der wesentlichen Fundamente von religiösen Institutionen, ja der Religion überhaupt, in der Antike und weit darüber hinaus. So erzählt eine jüdische Legende, die in den Schriften von Qurnran enthalten ist, wie der letzte König von Babylon, Nabonid, dazu kam, den wahren Gott anzuerkennen: Sieben Jahre lang litt er an einem Geschwür, bis ein jüdischer Seher ihm die Erklärung gab: Er hatte die falschen Götter verehrt. Da bekannte er seinen Irrtum, wandte sich im Gebet an den höchsten Gott, und wurde gesund. J9 So läßt sich das Judentum aus dem Munde einstiger Gegner die Bestätigung des eigenen Glaubens zukommen. Erst recht lassen sich religiöse Rituale und Einrichtungen der ,Heiden' aus einmal eingetretenem Unheil herleiten: Das Unglück wird auf ein religiöses Vergehen zurückgeftihrt, was den Weg zur Wiedergutmachung gewiesen hat, mit Hilfe der Vermittler, die in den so begründeten Kulten oft auch weiterhin aktiv bleiben. Die
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,Schuld' besteht oft im Versäumnis von Opfem,40 nicht selten aber auch im Bruch von gewissen Sondergeboten, die auf diese Weise den Betroffenen dramatisch eingeprägt werden. 4' Für griechische Kulte und Feste ist dies in der Tat die Standardform aitiologischer Erzählung: Seuche brach aus oder Hungersnot, weil da ein Mord begangen oder ein Tabu verletzt worden war, man befragte das Orakel, und dieses gab die Weisung, eben den Kult einzurichten, den man seither in traditioneller Weise begeht. Die Karneia etwa, das charakteristische Fest der Dorier, stammt daher, daß die Herakliden bei ihrer ,Rückkehr' in die Peloponnes aus Versehen einen Seher namens Karnos erschlugen, den sie seither mit dem Fest zu ehren haben. Details variieren, doch das Schema steht fest. 42 Etwas komplizierter ist die Geschichte von den Bouphonia, dem Fest des ,Ochsenmordes' in Athen, wie sie Theophrast erzählte: Ein Bauer hatte im Zorn seinen Pflugochsen mit der Axt erschlagen, ,ermordet', und war geflohen; da kam die Seuche, und das Orakel gebot erstaunlicherweise, den ,Mord' in einem alljährlichen Fest zu wiederholen, mit Flucht des ,Täters' und einer Gerichtszeremonie, die Karl Meuli ,Unschuldskornödie' nannte. 43 In der Ilias wird der Paian anläßlich der Pest gesu~gen; nach historischer Überlieferung wurde der Paian in Sparta im 7. Jahrhundert durch Thaletas eingefuhrt, anläßlich einer Seuche, selbstverständlich.44 In Rom wurde der Tempel von Ceres, Liber, Libera und desgleichen der Tempel des Apollon aus Anlaß einer Seuche errichtet. 45 Der Asklepios-Kult kam nach Athen im Gefolge der Pest von 429; die Ursache dieser Pest wiederum fanden die Leute in der Verletzung des Tabus des Pelargikon, des Restes der mykenischen Stadtmauer auf der Akropolis; Thukydides sah die Sache etwas komplizierter, aber eben durch ihn wissen wir von dieser Aitiologie. 46 Eine spektakuläre Form ritueller Wiedergutmachung ist der Tempelbau. Beispiele aus Rom wurden soeben genannt. Herodot erzählt, wie während der Belagerung von Milet durch Alyattes, König der Lyder, versehentlich der Tempel der Athena Assesia niedergebrannt wurde. Danach wurde Alyattes krank; als sich die Krankheit hartnäckig in die Länge zog, fragte er schließlich in Delphi nach der Ursache. Das Orakel erinnerte an die Zerstörung jenes Tempels. Also machte er sich an den Wiederaufbau, ja er ließ zwei Tempel an Stelle des einen errichten. Sie standen in der Landschaft als Zeugen des göttlichen Zorns und der göttlichen
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Gnade, mit der warnenden Geschichte, die an sie geknüpft war. 47 Schon die Gefährten des Odysseus geloben, als sie das Tabu der Helios-Rinder auf der Insel Thrinakia zu brechen und die Tiere zu schlachten sich anschicken, als Wiedergutmachung dem Helios zuhause nach der Rückkehr einen reichen Tempel zu errichten; doch läßt sich der Sonnengott darauf nicht ein. 48 Vom Vorauswissen der Götter ausgehend, kann die Erzählung auch die Initiative des Gottes an den Anfang stellen. Königin Stratonike etwa erhielt im Traum den Auftrag, den Tempel der Syrischen Göttin in Hierapolis zu erbauen; sie nahm dies nicht ernst und wurde darum - wie zu erwarten - ernstlich krank. Jetzt entschloß sie sich, dem König, ihrem Gatten, Bescheid zu sagen, und beide organisierten daraufhin den verlangten Tempelbau. 49 Doch es geht nicht nur um Staatsaktionen. Von Aristaios und seinen Bienen, der Erfindung des Bugonia-Rituals auf dem Weg über Schuld und Opfer war bereits die Rede,so Von einer kretischen Höhle kommt ein rührendes Epigramm, in dem ein gewisser Salvius Menas - ein kaiserzeitlicher Name - erzählt, daß er in dieser Höhle den Hermes regelmäßig mit Opfer zu ehren pflegte, zusammen mit seiner Frau; als seine Frau starb, gab er das auf. Jetzt aber, nach vielen Leiden, habe er endlich begriffen, daß man das Göttliche ehren müsse, lind so sei er zurückgekommen zur Höhle mit Opfergaben und wolle auf die Dauer sich des Heiligtums annehmenY Vergleichbar sind die zahlreichen Inschriften aus Kleinasien, die wir ,Beichtinschriften ' nennen. Sie haben in immer neuen Varianten die Geschichte zu erzählen, daß der Weihende krank war, daß er aus diesem Anlaß seine ,Sünde' erkannte mochte sie nun moralischer oder ritueller Art sein, ein bißchen Betrug, Diebstahl, verbotenes Sexualverhalten, oder das Fällen heiliger Bäume -, daß er Buße tat und durch den betreffenden Gott geheilt wurde, weshalb er nun zu Ehren dieser großen Gottheit auf seine Kosten die Stele errichteY Vom anderen Rand der griechischen Welt, aus Etrurien, kommt noch eine Geschichte, die Herodot erzählt: Nach der Schlacht bei Alalia, um 540 v. Chr., seien die Phokäer, die den Karthagern entkamen, in der Gegend von Caere von den Etruskern zu Tode gesteinigt worden. Daraufhin ergab sich, daß "wer immer über diesen Ort ging, wo die ermordeten Phokäer lagen, verdreht, verkrüppelt und lahm wurde, wie vom Schlaganfall gerührt, Menschen, Schafe und Esel". Das Delphische Orakel greift
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ein, und man stiftet ein Fest, eine Art Heroenkult zu Ehren der Toten, mit sportlichen Spielen und Pferderennen, Schaustellung gesunder Kraft also statt alles Bösen und Verdrehten. 53 Wir werden glauben, daß zu Herodots Zeiten dieses Fest in Caere tatsächlich bestand. Die Aitiologie, die Herodot damit verbindet, könnte ,typisch griechisch' heißen, und doch ist sie viel allgemeinerer Art. Herodot berichtet auch von der ,weiblichen Krankheit' gewisser Skythen, die ebenso auf Götterzorn zurückgehe, weil nämlich Skythen einst das Heiligtum der Aphrodite zu Askalon geplündert hätten. 54 Im übrigen mag daran erinnert sein, daß auch das Oberammergauer Passionsspiel 1634 durch ein Gelübde zur Zeit einer Seuche zustandekam. Was immer der Tourismus daraus gemacht hat, in diesem Fall ist das Aition historisch. Ein Beispiel aus weit fernerem Bereich, das aber auf direkter Beobachtung beruht: Die Nzima in Ghana haben ein polytheistisches System, und dabei hat jeder Gott eine besondere Gruppe von Verehrern, geleitet von einem Priester, der ekstatische Tänze vollführt. Jeder der Götter kann sich einen neuen Verehrer erwählen; und dies verläuft so: Wenn ein Mensch ernsthaft erkrankt, oder aber durch den Tod naher Verwandter verängstigt ist, oder auch durch rätselhafte Träume und Visionen gequält wird, wendet er sich um Hilfe an einen alten Seher. Der Vermittler pflegt dann in drohendem Ton zu sagen: Der Gott ruft dich, und wenn du seinem Willen nicht nachkommst, wird es dir noch weit schlimmer ergehen, ja du wirst sterben. Der Seher ist es zugleich, der den Namen des Gottes oder Geistes herausfindet, der den neu zu Weihenden ,gerufen' hat. Er wird in die betreffende Gruppe aufgenommen und hofft, auf diese Weise zu genesen und umfassende Besserung des Lebens zu finden. 55
Die Verrnittler: Chancen und Risiko In der alten Welt kommt man nicht aus ohne die paranormale Einsicht der Vermittler, der Seher, Priester, Traumdeuter oder Orakel; in Israel mag es ein Rabbi sein, anderswo ein Schamane oder Medizinmann. Sie ,wissen mehr' als normale Personen und können darum gegen alle Arten bedrängenden Unheils Hilfe leisten, um gut zu machen, was böse war. 56 Man braucht sie dringend, denn in der praktischen Erfahrung ist die Ursache des Un-
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heils zumeist verborgen, so evident sie in der späteren WarnErzählung erscheinen mag. Selbst die ,Sünde', die Ursache des Unheils sein kann, ist dem, der sie begangen hat, oft unbekannt.57 Dies ist die große Chance jener Vermittler; sie gewinnen Einfluß und Macht, freilich nicht ohne erhebliches Risiko. Normale Menschen reagieren mit Aggression auf Schuldzuweisung "Unheilsseher" , fährt Agamemnon den Kalchas an, und Oedipus ist drauf und dran, Kreon, den Orakel-Boten, als Hochverräter zu behandeln. Doch das größere Risiko der Seher ist, daß sie nicht recht behalten, zumal wenn Seher gegen Seher steht. Das Buch Daniel spielt damit, daß der König von Babyion nach Daniels Erfolgen alle die anderen Seher umbringen lassen sollte. 58 Herodot berichtet von den Skythen: Wenn der König krank wird, beruft man drei Seher; sie nennen als Ursache stets, jemand habe beim ,Herd des Königs' einen Meineid geschworen; dies habe den König krank gemacht. Wenn der von ihnen Beschuldigte dies bestreitet, zieht man sechs weitere Seher zu, und solche Multiplikation kann weitergehen, bis ein eindeutiger Mehrheitsentscheid vorliegt; dann kann man sich an den Schuldigen halten - und man verbrennt die in der Minorität verbliebenen Seher. 59 König Sanherib hatte seine Seher in Gruppen aufgespalten; was hätte er gemacht, wenn sie nicht zur einmütigen Deutung gelangt wären?6o Das näherliegende Problem für Seher ist, daß man ihnen nicht glaubt. Auch die sogenannten Primitiven wissen über Trug und Tricks Bescheid. Was Griechenland betrifft, spricht Herodot es aus, daß man die Pythia von Delphi bestechen konnte, und er berichtet von mehreren Fällen. 61 Oedipus vermutet sofort, als der Seher ihn als den Schuldigen bezeichnet, daß da ein hochverräterisches Komplott inszeniert sei: Kreon muß den Seher bestochen haben. 62 Aristophanes macht in seinen Komödien die Seher mit ihren Orakelbüchern immer lächerlich; sie sind so offensichtlich auf den eigenen Profit aus; am besten, man prügelt sie von der Szene. Und ist es nicht typisch, daß der homerische Seher Kalchas die Ursache der Pest in der nicht standesgemäßen Behandlung eines Priesters findet? Ein ganz böses Frauenkomplott, auf der anderen Seite, hat sich Euripides in seinem Phrixos ausgedacht: Das Getreide ist nicht gewachsen, der Hunger droht, und das Orakel gebietet, den Königssohn Phrixos zu opfern. In Wirklichkeit hat die Stiefmutter des Phrixos, die Königin Ino, alle Frauen der Stadt dazu gebracht, daß
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sie das Saatgetreide rösteten, weshalb nichts keimte, und sie hat dann auch noch das Orakel bestochen, den Tod des Phrixos zu fordern. 63 Hier also wird die ganze Sequenz, von der Katastrophe bis zum Opferritus, zur zynischen Manipulation. Euripides mag diese Version des Mythos erfunden haben; sie setzt das uralte Verhalten, die Suche nach dem Schuldigen, dem ,Sündenbock' voraus und macht daraus den raffinierten Mißbrauch. Das Verfahren schien zu funktionieren - eben weil die Abfolge so bekannt und selbstverständlich war. In einer ganz anderen Kultur, bei den Eskimos, gehen Schamanen auf die Reise zu Sedna, der Herrin der Tiere, wenn die Männer nicht genug Seehunde fangen können. Der Schamane findet meist, daß die Herrin erzürnt und befleckt ist, weil ,die Frauen' gewisse Tabus gebrochen haben; die Frauen müssen dann sogleich vortreten und ihre ,Sünden' bekennnen; dann wird Sedna wieder rein und freundlich und sorgt für rechten Erfolg in der neu zu beginnenden Seehundjagd. 64 Ist das ganze unter anderem ein Trick, das patriarchale System zu stabilisieren durch die eigens für Frauen erfundenen ,Sünden'? Daß Religion im wesentlichen Priestertrug sei, Manipulationen der angeblichen Charismatiker zum eigenen Vorteil, ist seit der Aufklärung wiederholt behauptet worden. Und doch erklärt solcher Verdacht aus alter und aus neuer Zeit und selbst gelegentliche Überführung von Scharlatanen im Grund nichts. Das jeweils vorliegende, drängende Unheil ist Tatsache, und nicht selten ist die Rettung, die man erreicht, nicht weniger einprägsam. Es ist nicht nur, daß man die Charismatiker offenbar braucht, vielleicht sogar noch in unserem Jahrhundert, daß sie in den Augen der gläubigen Klienten Erfolg haben. Sie erbringen in der Tat eine Leistung für die Frauen und Männer, die vom Unheil betroffen sind, indem sie dieses in einen Kontext einordnen und damit begreifbar machen, meist im Rahmen traditionellen Wissens, Glaubens und Verhaltens; so finden sie immer wieder Resonanz, trotz gelegentlichen Äußerungen des Mißtrauens. Die Vermittler schaffen einen Sinn, als Gegenkraft zu dem, was vollends inakzeptabel scheint: Der reine Zufall. Die Vermittler bedienen sich, neben Formen veränderten Bewußtseins, Traum und Ekstase, in der Regel gewisser ,Zeichen', die sich anbieten oder auch durch bestimmte Technik hervorgerufen werden: 65 Das Rascheln der Blätter, das Funkeln einer Was-
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seroberfläche, der Vogelflug, die Positionen der Sterne, die Gestalt der Eingeweide beim Schlachten, oder Lose und Würfel. Wichtig ist in jedem Fall, daß das Ergebnis nicht manipulierbar und nicht voraussagbar ist, auch nicht für den Seher. So kommt eine Botschaft zustande, die gewissermaßen verschlüsselt war in einer schwer zugänglichen Sprache; in fortgeschrittenen Zivilisationen spricht man auch davon, daß eine geheimnisvolle Schrift zu lesen ist. Die Leistung besteht darin, das Undeutliche zu deuten, zu integrieren in den gesamten Zusammenhang der Situation, in Bezug auf die Personen, um die es geht, auf Vergangenheit und Zukunft, kurzum, einen Sinnkontext herzustellen. Dies kann mit der Macht einer zwingenden Wahrheit wirken und wird dann gerne der Wille des Gottes genannt. In gewisser Weise ist dies dem analog, was wir alle unbewußt beständig zu leisten haben: In allem, was wir ,sehen' und erkennen, integrieren wir unablässig unzählige unbestimmte Sinnes daten zum Bild einer bekannten, verstehbaren Welt. In der Krise bricht diese Welt zusammen; dem Charismatiker gelingt es - vielleicht -, sie wieder aufzubauen.
Die Deutungsmuster: Fesselung, Aggression, Götterzorn oder Befleckung Sehen wir genauer zu, wie die ,transzendente Kausalität' ins Spiel gebracht wird, so können wir vier Interpretationen mit entsprechenden Strategien unterscheiden, die gegenüber dem Unheil ins Werk gesetzt werden, vier Bildbereiche mit unterschiedlichem intellektuellem und sozialem Kontext. Eine schlichte und zugleich sehr allgemeine Art, das Erlebnis der Not zu fassen, ist der Eindruck, ,gebunden' zu sein, ,gefesselt', in der Falle gefangen. "Unsere Seele ist entronnen wie ein Vogel aus der Schlinge: Der Strick ist zerrissen, und wir sind entkommen", heißt es im Psalm. 66 Der griechische Tenninus für solche ,Erlösung' ist lysis: Die Pelasger fragen in Delphi nach lysis der gegenwärtigen Übel. 67 Klytaimestra, durch einen drohenden Traum erschreckt, sendet ihre Tochter Elektra ans Grab des Agamemnon, "Mittel der Lösung (lyteria) vom Mord zu bringen. "68 Man kann selbst "Tötung durch Tötung lösen" .69 Die griechischen Reinigungspriester bieten lysis an, lysioi teletai, besonders im Namen des Dionysos, der selbst Lysios genannt wird. "Sage der Persephone,
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daß Bakchios· selbst dich gelöst hat", heißt es auf einem Goldblättchen aus einem thessalischen Grab, das kürzlich erst zutage kam; dies ist das Wissen, was der eben Verstorbene, ein dionysischer Myste, ins Jenseits mitbringen soll.70 Doch die gleichen Weihen waren auch gut ftir dieses Leben: Sie befreien von ,offenbaren Leiden', wie Platon im Phaidros formuliert.7' Man denke an Paraibios und die Nymphe, oder auch an die Situation der Flotte in Aulis: Sie ist ,gebunden' durch die widrigen Winde, bis das Opfer die ,Lösung' bringt. Übrigens handelt eines der ältesten Dokumente deutscher Literatur, nämlich der eine der Merseburger Zaubersprüche, vom ,Fesseln' und ,Lösen'.72 ,Gebunden' zu sein, festgehalten zu sein, in der Falle zu sein, mit panischer Hektik um Befreiung bemüht, mit aller Kraft und jedem Mittel, das ist im Grund eine realistische Situation, die im Drama des Lebens viel älter ist als das Menschengeschlecht. Man kann an jedem höheren Tier die entsprechenden Reaktionen beobachten, und man begreift die Angst. Es gibt auch die Suche nach der Quelle der Behinderung und des Schmerzes. Affen können sich immerhin einen Dorn entfernen, der eingedrungen ist: Sie entdecken die kleine Ursache des Leidens. Erst recht werden Menschen instinktiv und kognitiv zugleich versuchen, aus der ,Falle' des Unheils frei zu kommen, nicht nur durch alle möglichen wilden Bewegungen, sondern durch gezielte Suche nach der Ursache, die da festhält und quält. Die dramatische Aktivität entfaltet sich in der geistigen, sprachlich verftigbaren Welt; immer noch getrieben von panischer Angst, werden Individuen bereit sein, alle möglichen ,Lösungen' zu versuchen oder zu akzeptieren, wenn sie denn gezeigt werden. Dem steht ein vielfältiges Angebot der Diagnostiker gegenüber, der traditionellen und der neuartigen Vermittler, mit praktischen oder auch geheimnisvollen, im einzelnen undurchschaubaren Vorschlägen der ,Lösung'. Helf, was helfen mag; wer möchte Übernatürliches ausschließen? Wie gut, wenn am Ende der Dankespsalm ertönen kann. Die Angst des ,Gefesselten' geht zumeist mit der Erwartung eines Angriffs zusammen. Eine zweite, parallele Deutung der Unheilsssituation setzt die Aggression vielmehr an den Anfang: Da ist ein äußerer Verursacher, ein ,Feind', von dem das Übel kommt, der die Bande geknüpft hat; die Reaktion ist entsprechend aggressiv. Auch heute noch kann jeder Erkrankte solche Reaktionen an sich selbst erleben. In der geistigen Welt kann diese Einstellung
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verallgemeinert werden zum Verdacht der schwarzen Magie, des unsichtbaren Angriffs, der von irgendwoher gewirkt worden ist. Besonders deutlich sind solche Verdächtigungen in Mesopotamien artikuliert worden: Es gibt umfangreiche Sammlungen von Beschwörungsritualen, mit denen das Opfer solchen Zaubers - in der Regel ein Erkrankter - aus dem über ihn geworfenen Bann ,gelöst' werden soll.7] "Jegliches Böse, das keinen Namen hat, das mich erfaßt hat und mich verfolgt, an meinen Körper, mein Fleisch, meine Sehnen gebunden ist, sich nicht löst"74 - all das soll durch Gegenzauber eben doch ,gelöst' werden; deutlich entspricht dies den lysioi te/eta i der griechischen Welt. Die Gegenmagie geht als Gegenaggression so weit, sich die Vernichtung von Hexe oder Hexer zu wünschen. Zumindest in der griechisch-römischen Welt hat man in der Tat genügend Zeugnisse daftir, daß böse Machinationen dieser Art nicht nur vennutet wurden, sondern tatsächlich mit perverser Sorgfalt ins Werk gesetzt wurden: Mit Magie, unter Anleitung durch entsprechende Spezialisten, versucht man Gegner zu ,fesseln'; die entsprechenden Texte heißen darum ,Fesselung', katadesis, dift,xio. 75 ,Binden' will man den Körper eines konkurrierenden Sportlers, oder Zunge und Geist eines Prozeßgegners; aber auch Sexualpartner will man sich durch Magie geftigig machen. So wirkt denn Zauber im heidnischen wie auch im christlichen Milieu. Als ein Knabe von unerträglichen Schmerzen an den Händen befallen wurde, gaben die Heiligen Kyros und Johannes den merkwürdigen Rat, man solle doch Fischer zum Fischen an den Meeresstrand schicken. Siehe da, sie fanden eine Büchse mit einer Puppe, die dem Knaben glich, der man Nägel durch Hände und Füße getrieben hatte. Sobald man die Nägel aus der Zauberpuppe zog, hörten auch die Schmerzen des Knaben auf76 Libanios, der hochangesehene Rhetor in Antiocheia, ftihlte sich von einem Tag auf den anderen behindert, gestört an Geist und Leib, bis man die Leiche eines verstümmelten Chamäleons in seinem Vortragssaal fand, ein klarer Beweis, daß jemand schwarze Magie gegen ihn geübt hatte; nach der Entdeckung und Beseitigung des Zauberdings erholte sich Libanios alsbald. 77 Man beachte die Abfolge vom gegenwärtigen, direkt wahrgenommenen Übel durch die rechte Diagnose zur Entdeckung der Ursache und der damit möglich gewordenen Heilung; nur daß dank der magischen Interpretation die Annahme einer selbstgewirkten Schuld ersetzt wird durch die Projektion des Bösen auf einen anderen, durch die Hypothese der
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von außen kominenden Aggression - was nicht ausschließt, daß die Heilverfahren umständlich, aufwendig und sehr unangenehm sein können. Die moderne Wissenschaft hat an Stelle der Magie das Wissen um Bakterien und Viren gesetzt, die nun ihrerseits in ganz analoger Weise als die von außen kommenden Aggressoren beschrieben und erlebt werden, auf die unser Immunsystem mit Gegenaggression antworten muß, ,kämpfend' mit ,Freßzellen', unterstützt durch chemische Kriegsftihrung. Hexenverbrennung erübrigt sich. Aber es bleibt dabei, daß das Opfer, obschon ftir unschuldig erklärt, sich einer umständlichen und unerfreulichen Behandlung unterziehen muß, so daß das Schema von Unheil, wissendem Spezialisten, Diagnose und Behandlung sich schließlich doch bestätigt. Das andere, dritte Modell der Unheilserfahrung ist dagegen durch und durch personalisiert: Es geht um den ,Zorn' einer überlegenen Macht, die an einem schuldig Gewordenen die Strafe vollzieht. Daß Götter so verfahren, ist eine Überzeugung, die vennutlich älter ist als alle unsere Texte; auch andere ,höhere Wesen', Geister, Ahnen, Heroen und Dämonen, wirken in der gleichen Weise. Horner läßt vom Olymp herab Apollon kommen, ,ergrimmt im Herzen'. "Warum ist er so ergrimmt?" fragt Achilleus; der Seher wird darauf die Antwort geben und die Versöhnung leiten. Zuletzt ,freut sich' Apollon an der Aufführung des ,schönen Paian'. Die Philister ftihlen die ,Hand des Herrn'; Mursilis fragt nach dem ,Zorn der Götter' und wendet sich betend an sie.7 8 "Gegen welchen Gott haben wir uns vergangen, daß wir solches leiden?" fragen auch Griechen in ihrer Not. 79 Gerechte Strafe ist eine Fonn der Kommunikation, eventuell auch Wiederherstellung der Kommunikation. Sie bedeutet nicht Abbruch der Beziehungen, im Gegenteil, sie prägt einen notwendigen Zusammenhang ein. Der Sinn der Weh bestätigt sich in der gerechten Strafe. Zorn und Strafe haben ihre Ursache, die in Gestalt einer Geschichte mitteilbar und verständlich ist. Über das Ausmaß der Konsequenzen läßt sich gegebenenfalls verhandeln. Im Angesicht des ungleich Mächtigeren, der zürnt und droht, kann man doch immer noch die Sprache gebrauchen, man kann bitten, beten, betteln, und dabei all die wohlbekannten Rituale der Unterwerfung und Selbsterniedrigung einsetzen, also die Augen niederschlagen - Anstarren wirkt aggressiv -, niederknien, sich auf den Boden werfen, ja im Schmutz sich wälzen; es gibt Selbstver-
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wundung und Flagellation. 8o Auch das Ersatzopfer ist eine dem egoistischen Selbst einleuchtende Lösung. "Opfer werden rur die himmlischen Götter darum vollzogen, damit sie ihre Zornesregungen ablegen und mild und gefällig werden."BI Es gibt aber auch den V ersuch des Lächelns - das griechische Wort rur ,verehren', hilaskesthai, heißt eigentlich ,gute Laune herstellen' -; vor allem findet man, daß Musik das Herz löst: Apollon freut sich, als er den Päan hört. Auf Akkadisch spricht man von der ,Beruhigung des Herzens' einer erzürnten Gottheit. 82 Es gibt freilich auch die Option, universelle und unabänderliche Gerechtigkeit der Götter zu postulieren. Dann lassen sich alle Leiden der Welt als göttliche Strafen sehen und damit doch noch einem Sinnhorizont einordnen, sofern die entsprechende Vorgeschichte sich redigieren oder erfinden läßt. Die alttestamentlichen Propheten sahen die schwere Hand Jahwes in allen Katastrophen der Geschichte Israels am Werk. Andere Religionen ruhrten die Seelenwanderung ein, mit der Behauptung früherer Verfehlung oder gar einer Urverfehlung, um die These von der ausnahmslosen und gerechten Vergeltung, der jede Person unterworfen sei, durchzuhalten. 83 Wirkungsvolle, den Stolz brechende Form der Unterwerfung in sprachlicher Gestalt ist das Bekenntnis der Sünden. Der Strafende und der Sträfling finden sich in einer gemeinsamen Erklärung. Mursilis spricht in seinen Pestgebeten: "Wenn ein Sklave schuldig geworden ist, jedoch seine Schuld seinem Herren eingesteht, dann ist die Seele des Herrn befriedigt, und er wird diesen Sklaven nicht bestrafen. "84 Ein Sündenbekenntnis wird in vielen Heilungskulten eingefordert, besonders in Kleinasien; aber auch bei der ägyptischen Isis war dies üblich. 85 Es gibt Bußpsalmen im Alten Testament, auch bei den Babyloniern; vergleichbare Sündenbekenntnisse als Voraussetzung von Heilverfahren finden sich aber auch in Amerika. 86 Da scheint der Abstand neuweltlicher Primitivkultur vom bronzezeitlichen Mursilis nicht eben groß zu sein. ,Sünde', an den Tag gebracht und anerkannt, wird durch den Willen des Höheren zunichte; die Strafe ist als bedrängendes Unheil bereits eingetreten: Man hofft, sie zu überstehen. Nun tritt im klassischen Griechenland das Sündenbekenntnis auffällig zurück, zumindest auf offiziellem Niveau. Es gibt die erwähnten ,Beichtinschriften' , die fast alle kaiserzeitlich sind und aus Kleinasien stammen. Daneben und davor kennen wir Bußpsalmen aus dem Alten Testament wie aus Mesopotamien und Ägypten. Im
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Griechischen aber finden wir nur gerade ein paar Spuren, etwa bei Aristophanes: "Wir haben einen Fehler gemacht. Bitte vergib uns. "87 Das Wort für ,Fehler', hamartanein, ist hier das gleiche, das später im Neuen Testament erscheint und dann von uns als ,sündigen' übersetzt wird; von sich aus drängt das Wort zur Verharmlosung, bezeichnet es doch ein ,Vorbei-Treffen', nicht böse Absicht. Aber der herrschende Stil griechischer Kultur und Gesellschaft war offenbar der Erniedrigung, die im ,Sündenbekenntnis' liegt, so sehr entgegengesetzt, daß man selbst vom ,Verfehlen' nicht sprechen mochte. In einem politischen System, das von ,gleichen', selbstverantwortlichen Bürgern getragen war, ohne einen Herrn und König, sah man sich eher zu einem gewissen Stolz des Ertragens erzogen - "die kindlichen Toren können dies nicht ordentlich ertragen, wohl aber die Tüchtigen (agathot) , indem sie das Schöne nach außen kehren"88 - oder auch zu einer tragischen Einsicht jenseits aller Hoffimng, wie sie König Ödipus am Schluß des sophokleischen Stücks gewonnen hat. Während bisher von einem ganz allgemeinen, interkulturellen Verhaltensprogramm die Rede war, fällt damit der Blick auf unterschiedliche Optionen, die einzelne Gesellschaften im Umgang mit Unheil ausgeübt haben. Die herrschende Interpretation im Rahmen der griechischen Kultur, zumindest in der archaischen und klassischen Epoche - und damit die vierte, nach Fesselung, magischer Aggression und Gotteszorn -, konzentriert sich auf den Begriff der ,Befleckung' und der ,Reinigung', miasma/ agos und katharmos. Auch diese Begriffe sind freilich keine eigentliche Besonderheit der Griechen: Die Furcht vor ,Beflekkung' samt Ritualen der ,Reinigung' und Formen eines ,reinen' Lebens spielen in anderen Kulturen eine nicht geringere Rolle. 89 Das Wort ,Tabu' ist zu Beginn unseres Jahrhunderts in Mode gekommen. Offensichtlich hat die universelle Sorge, die auf Beschmutzung und Reinigung gerichtet ist, ihre biologischen Wurzeln. Sich sauber zu halten ist eine grundlegende Notwendigkeit für alle höheren Lebewesen, denn ,Schmutz' ist, was die normalen Funktionen des Körpers behindert; er muß entfernt werden, auch wenn er sich immer wieder einstellt und sich anzuhäufen droht. Was dementsprechend auch bei den Menschen seine direkte und notwendige Funktion hat: den Körper zu betasten und zu reiben, mit Wasser zu waschen, auch zu beräuchern - wobei die (nach unserem Wis-
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sen) antibakterielle Wirkung von Schwefeldampf eine frühe Entdeckung war -, ist jedoch seit alters zum Ritual geworden, mit all den Charakteristika von Ritualen: Reinigunszeremonien sind nicht mehr von durchsichtiger Funktionalität, wohl aber demonstrativ, repetitiv und übertrieben, sie werden von Spezialisten kunstvoll ausgearbeitet je nach speziellen Traditionen. Beachtet man die starken Geftihle des Ekels, die mit ,Unreinheit' verbunden sind, kann man eine noch speziellere biologische Wurzel vermuten. Der Mensch als ,Alles-Fresser' hat, ähnlich wie übrigens auch die Ratte, eine Fähigkeit entwickelt, unbekömmliehe, gefährliche Speisen auf Grund böser Erfahrungen energisch zu vermeiden. Dies setzt ein Erkennen der ,Ursache' eines leiblichen Übels voraus, woraus Konsequenzen gezogen werden; diese sind allerdings selbst beim Menschen dem bewußten Willen weitgehend entzogen. Dabei greifen die Geftihle des Widerwillens auf alles über, was mit Ekelerregendem in Kontakt gekommen ist: ,Ansteckung' durch Unreinheit ist insofern ein vom ,Instinkt' geformtes Prinzip. Wie solches vorbewußte Erkennen und Reagieren eigentlich zustandekommt, ist noch einigermaßen dunkel. Die manifesten Formen von Ekel und Essens-Ablehnung sind jedenfalls bei uns durch kulturelle und individuelle Prägungen sehr stark überformt, manchmal bis zur Umkehrung der natürlichen Geschmacksempfehlungen. 90 Man wird also zögern, dieses energiegeladene Reaktionsschema zum ,Ursprung' des ganzen hier behandelten Komplexes zu machen; daß es im Bereich der ,Unreinheit' zumindest eine verstärkende Rolle spielt, ist evident. Was Griechenland betrifft, so ist der Befund vor einigen Jahren durch Robert Parker in seinem Buch Miasma neu erhoben worden. Früher hatte man mit Verwunderung zur Kenntnis genommen, was inmitten der Hochkulturen als ,primitiver Aberglaube' erschien, etwa die Sorge, moralische Unreinheit könnte ,ansteckend' sein. Heutzutage steht man den sozialen und psychologischen Prozessen, die dabei ins Spiel kommen, mit sehr viel mehr Verständnis gegenüber. ,Befleckung' zu konstatieren, heißt einem unbehaglichen Zustand einen Namen zu geben und damit den Weg zu weisen, wie man aus ihm herauskommt. Daß Befleckung ,ansteckend' sein kann, ist die notwendige Folge des Bemühens, eine ,saubere' Trennung zu erreichen anstelle des bestehenden heillosen Ineinanders. Martin West formulierte als Zusammenfassung von Parkers Ergebnissen: "Befleckung zu konstatieren heißt,
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einen Zustand des Abnormen festzustellen, den man dann mit den geeigneten rituellen Mitteln angehen kann. "91 Damit jedoch sind wir im Grunde wiederum bei der schon vertrauten Sequenz: Ein Zustand des Unbehagens, der Verwirrung, des Unguten wird erfaßt und damit greifbar durch eine transzendente Diagnose, ob sie nun auf ,Schuld' oder ,Unreinheit' lautet. Von, Unreinheit' (akathartia) sprach jene Orakelanfrage aus Dodona. 92 Um die Diagnose zu erstellen, bedarf es jedenfalls und insbesondere auch in diesen Fällen des paranonnalen Vermittlers mit seinem ungewöhnlichen ,Wissen'. Griechen sprechen vom ,Reinigungspriester' , kathartes; er kann durchaus mit dem ,Seher', mantis, identisch sein. Ein Beispiel dafür aus dem Bereich des Mythos ist Me1ampus, ein Beispiel vom Rande der geschichtlichen Welt ist Epimenides von Kreta, der um 600 v. Chr. Athen ,gereinigt' hat. Me1ampus hat nicht nur Iphiklos, den Sohn des Phylakos geheilt, er hat auch die Töchter des Proitos von Tiryns von ihrem Wahnsinn ,gereinigt' - welche Übertretung Grund fur deren gottgesandten Wahnsinn war, darüber variiert die Überlieferung. Epimenides hat Athen ,gereinigt', als im Zusammenhang mit einem versuchten Staatsstreich die Anhänger Kylons, die bei Athena Asyl gesucht hatten, ennordet worden waren, was anhaltende Beunruhigung, Angst und Spannung in Athen nach sich zog.93 Es war eine rituelle ,Reinigung', die mit der Errichtung von Altären ihr dauerhaftes Zeugnis hinterließ. Von ,Reinigung', apolymainesthai, ist aber auch schon in der Ilias im Zusammenhang des Pest-Rituals die Rede. Ein Beispiel aus der späteren Geschichte: Als Pausanias, der Sieger von Plataiai, Angehöriger des Königshauses, schließlich des Hochverrats überfuhrt worden war und im Heiligtum der Athena Chalkioikos in Sparta, wo er Zuflucht suchte, jämmerlich umgekommen war, hinterließ dies in Sparta einen Zustand äußersten Unbehagens, ja allgemeiner Angst. Plutarch erzählt, man habe Gespenster gesehen, und man habe darum Totenbeschwörer, Psychagogoi, aus Phigalia kommen lassen, um dies abzustellen. Thukydides erwähnt nur, daß man sich ans Delphische Orakel wandte, zwecks transzendenter Diagnose: Der Gott von Delphi stellte fest, daß ,Befleckung', agos, passiert war, und ordnete an, der Athena Chalkioikos ,zwei Personen für eine' zu erstatten. Für Pausanias also, den man sterbend aus dem Heiligtum gezerrt hatte, stellte man zwei Bronzestatuen dort auf. 94 Wir haben die bedrängende
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Unheilserfahrung, die Diagnose, die auf ,Befleckung' lautet, und die rituellen Verfahrensweisen zum Zweck der Wiedergutmachung, ob man nun mit Totenbeschwörern oder mit Weihgeschenken agiert. Was solche Verfahren bedeuten, kann durch die Beobachtungen einer modernen Ethnologin, Maja Nadig, in einem Indianerdorf in Mexiko sehr viel deutlicher werden. Dort werden Krankheiten nach allgemeiner Ansicht vor allem durch sogenannte ,schlechte Luft', mal aire, verursacht. Die Diagnose wird durch eine Weise Frau gestellt, die auch praktische und rituelle Mittel zur Behandlung kennt; sie sind von griechischen katharseis gar nicht sehr verschieden. Maja Nadig stellte fest, daß dabei soziale Spannungen im Dorf ins Spiel kamen, daß die ,schlechte Luft' auf böse Einwirkung von anderen zurückgefiihrt wurde, doch ohne daß einzelne Individuen benannt wurden. "Es gibt also einen sozialen Konsens über die krankmachende Wirkung von Aggressionen und ein kulturelles Muster, das diese Zusammenhänge nennt, aber gleichzeitig entschärft, indem der Träger der Aggression im Ungewissen bleibt. "95 Die Diagnose klärt und vernebelt zugleich: Es gibt einen Verursaeher der Krankheit, doch der Begriff des mal aire fixiert den Vorgang und verbirgt doch den Urheber. Dies gibt Anlaß, eine lange Zeit herrschende Betrachtungsweise der griechischen Geistesgeschichte zu überdenken. Man war zu der Annahme geneigt, die Begriffe von ,Unreinheit' und von ,Schuld' seien als Kontrast zu nehmen, als repräsentierten sie zwei Stadien in der Entwicklung der geistigen Kultur Griechenlands, ja in der Evolution des menschlichen Bewußtseins. Dabei galt der Begriff der ,Schuld' als der fortgeschrittenere, gehört er doch zu einer personalisierten Ethik und ist in unser eigenes Rechtsbewußtsein seit langem integriert. Die Vorstellung einer moralischreligiösen ,Befleckung' erscheint demgegenüber als fremd und primitiv, ja als ,steinzeitlieh '. Kurt Latte hat in diesem Sinn 1920 einen inhaltsreichen, doch im Grund konfusen Artikel veröffentlicht, "Schuld und Sühne in der griechischen Religion", wobei er eben den vorausgesetzten Fortschritt im Verlauf der griechischen Geistesgeschichte zu beschreiben versuchte, vom unpersönlichen, primitiven Tabu zu einem reifen Begriff persönlicher Verantwortung. 96 In etwas anderer, eleganter und suggestiver Weise hat dann E. R. Dodds in seinem Buch The Creeks and the Irrational einem wichtigen Kapitel die seither fast zum Schlagwort gewordene
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Überschrift ,From Shame Culture to Guilt Culture' gegeben. Auch hier erscheint ,guilt culture' als das Spätere, Fortgeschrittene in der Entwicklung des persönlichen Bewußtseins. 97 Dodds' Typologie hat die folgende Diskussion stark befruchtet, allerdings auch tiefgreifende Kritik von Seiten der Anthropologie und der Moralphilosophie auf sich gezogen und ist heute praktisch wieder aufgegeben worden. 98 Wahrscheinlich läßt sich die Kultur- und Geistesgeschichte eben nicht mit den Kategorien des Fortschritts adäquat beschreiben; sie ist weder linear noch stetigem Fortschritt verpflichtet. Alternativen können gleichzeitig existieren, es gibt irreguläre Spiral- und Rückentwicklungen. Aus den hier vorgelegten Beispielen und Überlegungen ergibt sich, daß das Postulat der Kausalität, der ,Schuld' als Ursache des Unheils, die durch transzendente Diagnose zu finden bleibt, praktisch universal und insofern sicher sehr alt ist, ,primitiv', wenn man will; so verhalten sich Menschen nun einmal in ihrer Not, so denken sie ganz allgemein. Als vorrnenschliches Muster kann man das Verhalten des vom Fallstrick gefesselten Lebewesens betrachten. Insofern kann die Erfahrung und die Erklärung der ,Schuld' als Ursache nicht eine vergleichsweise rezente Entdekkung sein. Auch daß ,Schuld' einem einzelnen Individuum zugemutet wird, das dann die Konsequenzen trägt, auch dieser sogenannte Sündenbock-Mechanismus ist offenbar etwas recht Universelles und Altes.9 9 Man beachte allerdings bei diesem Kausalitätsbegriff, daß in der Lebenspraxis die Kette der Ereignisse nicht mit dem Anfang anfangt, nicht mit der Ursache, sondern von der unmittelbaren Unheilserfahrung ausgeht. Schuld oder Beflekkung wird deklariert als Interpretation des bedrängenden Zustands, eine Interpretation, die in die Vergangenheit zurückgreift, um einen Orientierungspunkt zu gewinnen, von dem aus die Zukunft zu meistem ist. Die genaue juristische Aufarbeitung des Schuldbegriffi mit der Problematik von freiem Willen und persönlicher Verantwortung gehört demgegenüber natürlich einer fortgeschrittenen, aufgeklärten Kultur an. Dabei ist doch jene transzendente Feststellung von ,Schuld' um kein Haar rationaler oder fortschrittlicher als die Feststellung einer unbestimmten ,Befleckung'. Es lag keine rationale Kausalität vor in dem, was Agamemnon oder was Jona geschah, was die Philister oder die Leute von KiIjat Malachi unternahmen. Was in jedem Fall gegeben war, was die Geschichten festhalten, war die Bereit-
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schaft, ja die Notwendigkeit, einen Zusammenhang zu finden, insbesondere die eine Person oder die eine Handlung festzustellen, von der das Böse ausgegangen war, um es unter Kontrolle zu bekommen. Das gleiche gilt im Grund von der Feststellung der Unreinheit, des agos. In bei den Fällen geht es um die Feststellung einer Kausalität inmitten des Unheils, eine Aktion als Voraussetzung weiterer Aktionen. Etwas muß geschehen, der Deuter ist zur Stelle, das Ritual läuft an. Schuld oder Befleckung, in der Praxis kann beides ineinanderfließen. Dies fuhrt zu dem Schluß, daß beide Modelle, die Erklärung der Schuld und die Feststellung der, Unreinheit', parallel und einander äquivalent sind in Anlaß, Ablauf und Funktion. Der Unterschied entspricht verschiedenen kulturellen Optionen. ,Unreinheit' ist die mildere Diagnose, sie entspricht Geftihlen des Unbehagens, vielleicht sehr starken Unbehagens, doch bleibt sie fern jenem Verhalten panischer Angst, das die in der Falle Gefangenen entwikkeln. Beides kann in der Praxis sehr wohl auch miteinander kombiniert werden - die Was spricht von der Schuld Agamemnons und setzt doch eine Reinigung des ganzen Heeres an. Es ist auch möglich, eines ins andere zu überfuhren; und dies kann der erste Schritt zur Besserung der Lage sein. Es kommt nur darauf an, daß die entworfene Kausalstruktur den handelnden Zugriff ermöglicht. Die Interpretation kann eine personalisierte Welt entwerfen: Tu Buße vor deinem Herrn, zeige deine Reue, und er wird milde werden - oder aber eine unpersönliche, sachliche: Da ist Schmutz, halte still und laß dies entfernen, auch wenn das vielleicht unangenehm wird; es ist notwendig. Danach wirst du deinen Platz in der Welt, in der wir leben, wie zuvor wieder einnehmen können. Die Verfahren unterscheiden sich allerdings auf der Ebene der Verbalisierung: Schuld, Zorn, Strafe verlangen Erklärung und Kommentierung und formen sich zu einer Geschichte; Reinigung vollzieht sich am besten in aller Stille. Man redet nicht über Schmutz, man schafft ihn beiseite. Die Auswahl eines der beiden Modelle, Schuld oder Beflekkung, oder auch des dritten, magische Aggression, entspricht anerkannten Formen des Umgangs in der jeweiligen Gesellschaft bzw. in bestimmten Gesellschaftsgruppen, in mannigfachen Schattierungen zwischen Grobheit und Höflichkeit. Wo das ,Wahren des Gesichts' entscheidend ist, kann der Begriff der ,Befleckung' durchaus eine Strategie sein, bedeutende einzelne zu schonen und zugleich
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in diskreter Weise verantwortlich zu machen. Schließlich kann es jedem passieren, daß er in Schmutz gerät; er wird in aller Stille entsprechende Maßnahmen treffen oder geschehen lassen, die Folgen zu beseitigen. In Griechenland kann sogar ein Gott ,unrein' werden; im Mythos geschieht dies nicht nur Herakles, sondern sogar ApolIon, dem Gott der Reinigungen. IOD Doch kein griechischer Gott würde ein Sündenbekenntnis ablegen. 101 Wenn aber, beispielsweise, die ,Unreinheit' des Mörders bedeutet, daß er wegen seiner Tat ins Exil gehen muß, ist dies eine schwerwiegende Konsequenz, die von einer ,Bestrafung' kaum zu unterscheiden ist; übrigens kann man griechisch später auch eine veritable Tracht Prügel als ,Reinigung', katharmos bezeichnen. I02 Fast wird es zur Unschuldskomödie, wenn man hier die Bezeichnung ,Strafe' vermeidet. In einer Zeitung stand ein Bericht aus dem heutigen Ägypten: Ein Ehemann pflegte seine Frau zu schlagen. Sie wandte sich an einen Imam, und der bezeichnete den Mann als ,verhext'; es gibt also auch hier den Vermittler und die transzendente Diagnose. Folglich blieb dem Mann nichts übrig, als sich einem umständlichen und wohl auch nicht billigen Exorzismus zu unterziehen; Grund genug frir ihn, sich zu bessern. Spricht man auch hier nicht von ,Strafe', so bleibt doch eine ausgleichende Maßnahme, ein Eingriff der Weisheit und Gerechtigkeit, die sich als Aberglaube tarnt. So erscheint denn der Begriff der ,Unreinheit' mit den Ritualen, die er nach sich zieht, als eine Strategie zur ,Wahrung des Gesichts', Jace-saving, insofern eher raffiniert als primitiv. Daß in den Generationen nach Homer, in der archaischen Epoche, die Begriffe der ,Unrein~eit' und die Praxis der Reinigungsrituale anscheinend überhand nehmen, zeigt demnach nicht eine Zunahme des ,Aberglaubens' an, sondern das Aufsteigen einer Gesellschaftsklasse, die durch nobles Verhalten sich auszuzeichnen hat, der kaloi kagathoi. Unterwerfung und Zusammenbruch gilt als unschön; eine ,Reinigung' kann ApolIon überstehen. Seit dem 5. Jahrhundert wurde der Kult des Heilgottes Asklepi os überaus populär; die Erfolge sprachen fur ihn, seine Heiligtümer blühten. Dabei war bezeichnend, daß Asklepios der ,milde' Gott hieß, epios, was man auch aus seinem Namen heraushören konnte. Dieser Gott fragte nicht nach Schuld und nicht nach Befleckung, er ließ die Ursachen ruhen; aber er brachte die Heilung zustande. Allerdings, auch dies begründete und bestätigte die religiösen Rituale: Zu leisten blieben Dankopfer, Lobesreden und
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Weihungen, die als Empfehlungen der höheren Macht dauernden Bestand hatten. Um Bilanz zu ziehen: Es gibt ein nahezu universelles Verhaltensprogramm, in ganz verschiedenen Zeiten und Kulturen nachweisbar, von den sogenannten Primitiven bis weit in die Hochkulturen hinein, das Unheilserfahrung von der Ursache her zu bewältigen unternimmt. Es entwirft Kausalität in einem nicht direkt nachweisbaren Rahmen, den die ,wissenden' Vermittler in transzendenter Diagnose erfassen, und begründet oder bestätigt auf diese Weise insbesondere religiöse Rituale, die damit zum normalen Leben gehören und eben diese Normalität gewährleisten. Das Gesamtverfahren ist insofern eine der Säulen, auf denen praktische Religion beruht hat und immer noch beruht. Mindestens vier Interpretationen lassen sich in diesem Rahmen unterscheiden, die Fesselung, die magische Aggression, die personale Schuld und die unbestimmte ,Befleckung'. Man mag sich dabei bewußt werden, wie noch heutzutage die einander widerstreitenden Interpretationen zustandekommen und in ihrem Konflikt doch nebeneinander bestehen. Angesichts eines vorläufig unheilbaren Übels wie AIDS scheint vielen Menschen die wissenschaftliche Beschreibung der viralen Prozesse als durchaus ungenügend; man stürzt sich auf plastische, greifbare Thesen: Aggression, die aus dem Dunkel kommt, von einer verdächtigen Organisation, die Viren gezüchtet hat; Bestrafung von Schuld, sexueller Schuld zumal, scheinen doch sexuelle Außenseiter zuerst und am meisten betroffen; demgegenüber die verhüllende Empfehlung der Reinlichkeit, der Vermeidung direkter Kontakte. Daß man heutzutage vermeidet, Sündenbock-Mechanismen freien Lauf zu lassen, darf immerhin als Fortschritt gelten. Das uralte Programm ist nicht ,primitiv'. Es ist eher ein Überschießen, ein Exzeß des Kausalitätsprinzips, das Kant zur Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung überhaupt erklärt hat. IOJ Indem es den Zusammenhang von Verfehlung, Konsequenz und Therapie entwirft, schafft es einen übergreifenden Sinnkontext und bestätigt, daß wir in einer sinnvollen, gottgeleiteten Welt leben. Die verwendeten Rituale mögen uns als unangemessen und ,abergläubisch' erscheinen; aber auch sie sind ein Mittel, Sinn zu produzieren. Ob ein griechischer Paian oder eine Tanzgruppe in Ghana - in der gemeinsamen, gesteigerten Aktivität liegt auch die
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Erfahrung von Befriedigung und Freude: So muß es sein, und so ist es gut. Daran freut sich der Gott. Theodor Lessing sprach von "Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen".104 In der Tat hatten wir es in den vorgefuhrten Beispielen immer wieder wenn nicht mit Geschichte so doch mit Geschichten zu tun, in denen das untersuchte Schema sich auskristallisiert. Es ist ein Überschuß an Sinn, der der Weh zugemessen wird, ganz im Gegensatz zu den Reduktionen, die die moderne Naturwissenschaft vorgenommen hat und weiter vornimmt. Martin Nilsson nannte Religion den "Protest des Menschen gegen die Bedeutungslosigkeit der Ereignisse". 105 Offenbar sind viele Menschen eher bereit, die eigene Schuld anzuerkennen, was immerhin einen festen Punkt ergibt, von dem aus ein anderer Lebensweg den Anfang nehmen kann, als die unerträgliche Leichtigkeit von Zufall und Notwendigkeit zu akzeptieren. Die modernste Naturwissenschaft scheint sich von der Kausalität abzukehren: Chaostheorien faszinieren, während traditionelle Sinnwelten in der multikulturellen Gesellschaft untergehen. Es bleibt abzuwarten, wie weit man damit kommt. An Charismatikern, die Unheilserfahrungen durch Entwürfe geheimer Zusammenhänge therapieren möchten, herrscht jedenfalls kein Mangel.
VI. Der Kreislauf des Gebens Gabe und Gegengabe Die vielleicht älteste griechische Weihinschrift findet sich auf einer Bronzestatuette des Apollon eingeritzt, die ins Museum of Fine Arts in Boston gelangt ist; man datiert sie um 700 v. ehr.: "Mantiklos hat mich geweiht, dem fernhin treffenden Gott mit dem Silberbogen, vom Zehnten; du aber, Phoibos, gib erfreuliche Gegengabe. " I Fromm und frei wird damit ausgesagt, daß die Beziehung zwischen einem Gott und seinem Verehrer in einem Austausch von Geschenken besteht. Mantiklos, ,berühmt als Seher', könnte geradezu der Berufsname eines praktizierenden Sehers gewesen sein. Er stiftet ein damals noch seltenes, wertvolles Kunstwerk seinem Gott, indem er es in ein bestimmtes Heiligtum ,hinaufstellt' (anetheke) , und bittet um die Gegengabe, den ,Austausch' (amoiba) von seiten des Gottes; dabei vollzieht sich das Geschäft in einer Atmosphäre der Freundschaft, mit gegenseitigem lächelndem Einverständnis (charis). In der Odyssee besucht Athena, in Gestalt des Mentes, Telemachos auf Ithaka. Sie stellt sich vor als ein ,Gastfreund (xenos) vom Vater her'. Telemachos empfängt den Gastfreund mit gehörigem Respekt und bietet ein Geschenk an (doron), das dann ein aufzubewahrendes Wertstück (keimelion) im Haus des anderen sein wird. Die Schenkung wird allerdings aufgeschoben bis zum nächsten Besuch des Gastfreundes. "Suche ein recht schönes Geschenk aus", sagt Mentes, "es wird eines Gegengeschenks ftir dich wert sein. "2 Ebenso wie Mantiklos seinen Gott um eine amoiba bittet, während er schenkt, wird dem Telemachos eine ,Gegengabe' bereits in Aussicht gestellt, als er sein Angebot macht. Das Wort axion, das den Gegenwert ausdrückt, kommt vom Bild der Wagschalen her, die von der einen wie von der anderen Seite her ins Gleichgewicht gebracht werden. So also vollzieht sich der Gabentausch. Die Mantiklos-Inschrift und unser Odyssee-Text könnten ungefähr gleichzeitig sein. Durch Gabe und Gegengabe werden
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Freundschaftsbeziehungen begründet und aufrechterhalten, zwischen Menschen, hochgestellten Menschen ebenso wie zwischen Menschen und Göttern. Die gleiche Terminologie und die gleichen sozialen Regeln erscheinen im einen wie im anderen Fall: Austausch (amoiba) von Geschenken (dora) unter dem Gesichtspunkt ihres Wertes (axion), doch in freundlich-entspannter Atmosphäre (charis). Das Bezeichnende an einer Gabe, was ihr erst ihre rechte Bedeutung verleiht, ist die Erwartung der Gegenseitigkeit. Dies stellt soziale Beziehungen her, die freundlich und bindend zugleich sind. Die Regeln der Gesellschaft und der Religion erscheinen als homolog. Das Phänomen der ,Gabe', mit dem Prinzip der Reziprozität und seiner Rolle in sozialen Systemen, ist durch die berühmte Studie von Marcel Mauss, Essai sur le don (1924), in die Wissenschaft eingeführt worden und findet immer noch wachsendes Interesse. 3 Es ist das Ineinander von moralischer, sozialer und ökonomischer Interaktion, dazu die paradoxe Verbindung von Freiwilligkeit und Verpflichtung, was immer wieder fasziniert. Aktionen des ,Gebens' regulieren die öffentliche Rechtspflege, die private Partnerschaft und den Austausch von Gütern überhaupt. In moderner Sicht mag sich die ökonomische Perspektive aufdrängen, wobei freilich der Gabenaustausch den archaischen, ,primitiven' Wirtschaften zugeordnet bleibt. Es ist dabei aber nicht aus den Augen zu verlieren, in welchem Maß diese Aktionen Rang und Status begründen und ausdrücken, weshalb sie notwendigerweise soziale Interaktionen aller Art begleiten. Grundlegend ist dabei die ausnahmslose Erwartung der Reziprozität: Gabe verlangt Gegengabe. 4 Dies scheint in der Tat eines der universalia der menschlichen Kulturen zu sein. ,Geben' ist in den meisten Sprachen eines der Grundverben; das Indogermanische, und nicht das Indogermanische allein, hat einen eigenen Kasus als ,Dativ' entwickelt. Empirische Untersuchungen sind vor allem in sogenannten primitiven Gesellschaften durchgeführt worden. 5 Das Prinzip der Gegenseitigkeit gilt auch dort in jedem Fall. Dem widerspricht nicht, daß es Formen gewaltsamen Gütererwerbs gibt, die gleich häufig, ja mehr in Gebrauch sein mögen als friedlicher Tausch und gegebenenfalls als durchaus honorig gelten können: Räubertum, Piraterie, Rinderdiebstahl, auch Kriege, die um der Beute willen geftihrt werden; und natürlich gibt es Überlistung und Betrügereien aller Art.
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Aber die verschiedenen Aktionen stören einander kaum. Die Regeln von Gabe und Gegengabe halten ein System von Rang und Ehre aufrecht und sichern die Stabilität im inneren Kreis. Dabei ist das ,Geben' weder Selbstentäußerung noch purer Egoismus;6 es stellt ein eher prekäres Gleichgewicht zwischen beidem her. Das Phänomen der ,Gabe' hat seit langem auch in die Studien der alten Kulturen Eingang gefunden, von der Bronzezeit bis ins archaische Griechenland. So hat Moses Finley seinem Buch über die Odyssee ein wichtiges Kapitel über Gabentausch bei Homer beigegeben; Nicolas Coldstream beschrieb aus archäologischer Sicht den ,Gabentausch im 8. Jh. v. Chr.'.? Schon in der Bronzezeit gibt es keinen Vertrag ohne Austausch von Geschenken. 8 Es ist interessant, im ,Brief einer Fürstin an den Präfekten von Ugarit' zu lesen, in dem es um Silber-Lieferungen geht: "Schicke mir viel davon und nicht wenig. "9 Keine Quantität wird genannt, kein Preis. "Suche ein recht schönes Geschenk aus", sprach Athena. Durch fortgesetzten Tausch wird das ganze in die Waage kommen. Handel vollzieht sich als honoriger Gabenaustausch. Das System gilt in der Relität nicht anders als in der Poesie. Als in der homerischen Ilias Glaukos und Diomedes mitten in der Schlacht erkennen, daß sie kraft Familientradition Gastfreunde sind, bedeutet dies, daß sie Geschenke zu tauschen haben, und so tauschen sie Ihre Harnische aus, selbst wenn dabei Gold für Bronze gegeben wird. IO Geschenke geben ist viel älter und weiter verbreitet als jeglicher Versuch, ,Bestechung' zu definieren und auszuschalten. "Das Geschenk, das einer gibt, macht ihm Raum und geleitet ihn vor die Großen", stellt ein hebräischer Weisheitsspruch empfehlend fest. 11 Die Erfindung eines freien Marktes mit Wertmetall-Standard, bald mit geprägtem Geld, was den Preis an die Ware bindet und vom sozialen Status ablöst, mußte das System von Grund auf verändern. Die Gabe stellt eine Verbindung zwischen dem Geber und dem Empfanger her, die in beiden Richtungen spielt; Geld ist unpersönlich und von sprichwörtlicher Geruchlosigkeit. Trotzdem bleibt es dabei, daß der Grundprozeß ein Austausch ist, Ware rur Geld und Geld für Ware, nach freier Entscheidung, in partnerschaftlicher Zusammenarbeit, zum gegenseitigen Vorteil. Selbst wenn der Staat Steuerbeiträge mit Zwang eintreibt, bleibt bestehen, daß der Bürger dafür auf Gegengaben Anspruch hat: Der Staat wird Privilegien und Prestige gewähren, und er sorgt vor al-
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lern für persönliche Sicherheit. Dabei ist selbst im System des freien Marktes das Prestige des großartigen Geschenks bis heute keineswegs verschwunden, findet doch ,Sponsoring' mehr und mehr Aufmerksamkeit. Man könnte dies zeremonielle Verschwendung nennen - ein Terminus, den man auf sogenannte PotlatchZeremonien anzwenden pflegt -, wäre da nicht noch immer die Erwartung des ,angenehmen Rücklaufs', mit anderen Worten: Es wird sich irgendwie auszahlen. Pierre Bourdieu hat eine ,Theorie der Praxis' ausgearbeitet, in der soziale Interaktionen sich ganz allgemein als Transfer von Guthaben beschreiben lassen. Geschenke-Geben wird dann zu einer Investition, einer Anhäufung von ,symbolischem Kapital', auf das sich zu einem späteren Zeitpunkt zurückgreifen läßt. 12 Er geht von der Untersuchung einer Kabylen-Gemeinschaft in Marokko aus; dabei kann er zeigen, wie solcher ,Kapitalismus' selbst in sogenannten ,primitiven' Systemen im sozialen Verhalten wirksam ist. Die Universalität des Phänomens ,Gabe' bestätigt sich auch in dieser Interpretation, mit dem Doppelgesicht der sozialen und der ökonomischen Wirkung, Rang ebenso betreffend wie Besitz. So funktioniert menschliche Gesellschaft. IJ Wenn also die Gegenseitigkeit des Gebens ein anthropologisches universale ist, lohnt es sich, über die Elemente eines solchen Verhaltens nachzudenken. ,Geben' setzt die Entwicklung der Hand voraus, die frei sein muß von den Aufgaben der Fortbewegung, frei zur ,Manipulation', was bekanntlich den Menschen von den anderen Primaten unterscheidet. , Geben' setzt auch die intellektuelle Leistung voraus, ein Objekt als abtrennbar von der personalen Sphäre zu erfassen, etwas, das leichthin und ohne Schmerz hergegeben werden kann. ,Geben' setzt zudem einen Partner voraus, der weder Feind noch seinerseits Objekt ist, vielmehr Interaktionen im gegenseitigen Verstehen möglich macht. Vor allem aber setzt die Gegenseitigkeit des Gebens das Erfassen der Zeit-Dimension voraus: Gabe bedeutete Kredit, mit der Erwartung, daß in der Zukunft die vorausgegangenen Leistungen erwidert werden, wobei doch der Standard des Wertes unverändert bleiben sollte. Bei solchem Verfahren entwickeln sich offensichtlich auch spezifischere intellektuelle Leistungen: Zählen, Rechnen, Messen, Wägen. Ein Begriff der Gleichheit und des Maßes, das axion im homerischen Ausdruck, muß dem Tausch zugrundeliegen. Es ist insofern nicht erstaunlich, daß das Prinzip
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der Entsprechung, des Ausgleichs, der Reziprozität bei der mentalen Konstruktion von Welt sich als äußerst brauchbar und zufriedens teIlend erwiesen hat. So sind denn auch gewisse Erweiterungen des ReziprozitätsPrinzips in allgemeinem Gebrauch, die über das logisch Notwendige hinausgehen, ja in gewissem Betracht irrational sind und doch dem menschlichen Empfinden und Erleben überaus einleuchtend erscheinen. Das Prinzip läßt sich auf ganz verschiedene Bereiche anwenden und bringt es immer wieder fertig, entsprechende Verfahren als durchführbar, vorhersehbar und durchwegs akzeptabel erscheinen zu lassen. So beherrscht das Prinzip der Gabe ganz besonders den Bereich der Sexualität, zumal die Regelform der Heirat. An sich ist Sexualität eines der ältesten biologischen Programme, das gewiß nicht für den Menschen erfunden wurde. Sexualität bleibt inmitten aller humanen Verfeinerung unverzichtbar, sie kann zudem in der persönlichen Erfahrung zu einem ganz besonderen Wert gesteigert werden. Dabei entzieht sich jedoch Sexualität immer wieder bewußtem Planen und gilt darum als ,irrational'. Doch eben das Prinzip des ,Gebens' ist eine Form, in der Rationalität die Sexualität umgreifen möchte. Im patriarchalischen System wird die Frau zum ,Objekt' des Tausches: Der Vater ,übergibt' die Braut dem Bräutigam; ekdidonai, sagt man im Griechischen, in matrimonium dare im Lateinischen. Durch den Austausch von Frauen begründen Familien und Clans ihre gegenseitigen Verbindungen und Freundschaften. Im Verkehr der Familien miteinander wird die Ehe weithin zu einem Vertrag über Besitzrechte. Teils hat der Bräutigam einen Gegenwert für die Frau zu bezahlen, teils erwartet er eine beträchtliche Mitgift zusammen mit der Braut zu erhalten; es gibt auch Verbindungen beider Transaktionen; auch in der Sprache Homers scheinen verschiedene Systeme angesprochen zu sein. 14 So variieren die Details von Gesellschaft zu Gesellschaft. Aber nichts geht ohne Gaben. Liebesbeziehungen, Liebesgeschichten treten demgegenüber in den Hintergrund. Noch weiter geht es, daß selbst die intimen Beziehungen von Mann und Frau mit den Metaphern des ,Gebens' aufgeschlüsselt werden: Die Frau ,gibt' ihre Jungfernschaft und erwartet dafür greifbare Gegengabe; anakalypteria heißen im Griechischen solche Gaben, die der Mann nach der Brautnacht zur Verfügung stellt. 1s Doch der Austausch von Gaben ist auch Grundlage der weltweiten Praxis der Prostitu-
VI. Der Kreis/m!! des Gebens
tion. Das griechische Wort fur Hure, pome, bezeichnet offenbar die Frau .-eben als Objekt von Austausch und Handel. 16 Eine andere Verwendung des Prinzips von ,Geben' und ,Zurückgeben' beherrscht den Sprachgebrauch der strafenden Gerechtigkeit. 17 Strafe wird als gerecht akzeptiert, indem sie unter den Begriff des ,Zurückgebens' eingeordnet wird, als ,Vergeltung'. Dabei kann die Vergeltung als einfache Umkehrung der Tat erscheinen: Ein Schuldiger soll ,erleiden, was er getan hat'. 18 Die Entsprechung wird freilich nur einem distanzierten, ,objektiven' Blick deutlich sein, und es gibt praktische Grenzen fur die lex talionis!9 Die Idee der Vergeltung durch Austausch läßt aber weitere, allgemeinere Anwendungen zu. ,Bestraft werden' überhaupt wird im Griechischen als ein zwangsweises ,Geben' bezeichnet, ,Recht geben', diken didonai. Man kann aber ebensogut sagen, daß der Missetäter seinen Lohn empfängt für das Böse, das er produziert hat. ,Er kriegt es', sagt der Volksmund; "wir empfangen, was unsere Taten wert sind", sagt der Schächer am Kreuz.'o Das Hin- und Herspringen der Metapher zeigt die Künstlichkeit dieser Verbalisation an, geht es doch beim Strafen de facto nicht ohne gewalttätige Aggression, ja Brutalität ab. Doch in gläserner Klarheit steht das rationale Prinzip bereit: ,Maß um Maß', auch in abzählbaren Portionen: Man zählt die Schläge,·1 man zählt die Tage der Haft. Als in der Odyssee die Gefährten des Odysseus in ihrem Hunger auf der Insel Thrinakia die Kühe des Sonnengottes geschlachtet und verspeist haben, verlangt der empörte Gott von Zeus die "passende Gegengabe";'2 damit meint er nicht den Ersatz der geschlachteten Tiere - die Gefährten haben ja ausdrücklich Ersatz und Gegengabe gelobt -, sondern den Tod der Schuldigen. So universal und alt das Prinzip der Gegengabe ist, es ist doch nicht angeboren; jedes Individuum hat es von neuem zu erlernen. Keine Rede davon, daß nach diesem Prinzip sich im Laufe der Evolution unsere Gene verändert hätten. In der Tiefe seines Herzens wünscht sich der homo sapiens sapiens noch immer ein Schlaraffenland herbei, wo alles Gute umsonst zu haben ist, ohne Zahlung oder Gegengabe. In der Wirklichkeit werden die Menschen, unter Einsatz ihrer Ratio, immer nach Tricks und Gelegenheiten suchen, die Gegenseitigkeit der Verpflichtungen ein wenig einzuschränken, zu vermeiden oder zu umgehen. Die Kunst, ,nicht zu bezahlen', möchte Strepsiades in den Wolken des Aristophanes von
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Sokrates vor allem lernen;2 3 die ,Gegengabe' der Verzinsung, auf die er sich eingelassen hat, ist aus seiner Sicht alles andere als erfreulich. Im Bereich des tierischen Verhaltens gibt es nur schwache Analogien zum Gabenaustausch. Was einem zunächst in den Sinn kommen mag, das Füttern des Nachwuchses durch die Eltern, ist ganz anderer Art: ein instinktives Verhalten, meist auf die MutterKind-Dyade beschränkt, wobei gelegentlich auch der Vater zugezogen wird. Tierjunge betteln allgemein um Futter; sie können sich auf die instinktive Bereitschaft ihrer Eltern verlassen. Es mag sein, daß das Lächeln der charis letztlich in dieser Sphäre verwurzelt ist, erwachsen<;! aus der gegenseitigen Nähe und dem Einverständnis. Aber das Verhalten nach Kindchen-Schema pflegt sich drastisch zu ändern, wenn ein Lebewesen erwachsen und damit ,ernst genommen' wird. Manche Tierarten kennen Zusammenarbeit in der Jagd; so apportiert der Hund willig seine Beute und überläßt sie der ranghöheren Autorität. Es gibt etwas wie ,GeschenkAngebot' bei den Werberitualen recht verschiedener Arten, bei Vögeln und selbst bei Insekten. Dies ist ein Mittel, Aufmerksamkeit zu erregen und Angst abzubauen, zu eindeutigem Zweck. Prinzipielle, bewußte Gegenseitigkeit erwächst nicht daraus. Es gibt so etwas wie eine Fleischverteilung bei jagenden Schimpansen,2 4 es gibt auch zumindest Ansätze zu absichtlicher, zeitlich verschobener ,Rache' bei diesen. 25 Die menschlichen Systeme des Gabentausches gehen darüber weit hinaus. Man darf von emer universellen menschlichen Errungenschaft sprechen.
Gaben und Götter In der religiösen Praxis und vor allem in religiösem Sprechen ist das gegenseitige Geben geradezu allgegenwärtig. 26 Wie in der Anthropologie, scheint es sich auch in der Religionsgeschichte um ein universale zu handeln. Die Formel des Mantiklos, von der die vorliegenden Überlegungen ausgingen, die Gabe in Verbindung mit der Bitte um die ,erfreuliche Gegengabe', findet sich in genau gleicher Form mehrfach in archaischen Inschriften, so in korinthischen Votivtafeln und auf einer Steinbasis aus Smyrna. 27 Sie tritt auch im Homertext auf: "Gib erfreuliche Gegengabe für alle Pylier
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fUr die große Hekatombe", betet Mentor alias Athena zu Poseidon in Pylos. Aber auch der Sänger selbst betet so zu seinen Göttinnen: "Gebt willig fUr mein Lied ein herzerfreuendes Leben", was den Lebensunterhalt einschließt. 28 So ist es gar nicht erstaunlich, daß die erste und offenbar nächstliegende Definition der ,Frömmigkeit', die in Platons Dialog Euthyphron formuliert ist, ,Opfer und Gebet' lautet, was sogleich als ,bitten und geben' präzisiert wird: Auf diese Weise wird die Religion allerdings sogleich zu einer ,Handelskunst' (emporike teehne). Die Ironie ist deutlich in der GesprächsfUhrung; denn, so stellt sich die Frage fur Platon, können wir denn wirklich den Göttern etwas geben?2 9 Doch auch im Symposion läßt Platon Diotima ausfUhren, es gebe einen ,Verkehr' zwischen Menschen und Göttern, vollzogen durch ,Dämonen', der in Gebeten und Opfern von der einen Seite besteht und in Befehlen und in Gegengaben fur die Opfer (amoibe thysion) von der anderen Seite. JD ,Befehle' der Götter zielen zumeist auf Opfer; amoibe thysion kann insofern geradezu als Generalnenner fur religiöse Interaktionen dienen, ein ,OpferTauschsystem' . Schon vor Platon hat der hippokratische Autor der Schrift Über die Umwelt formuliert, indem er Euripides zitiert, daß die Götter sich freuen, wenn die Menschen sie bewundern, und dafUr ,ihre Gunsterweise erstatten'.J' Die Vorstellung von dem gegenseitigen Austausch von Gaben zwischen Menschen und Göttern reicht viel weiter zurück. Eines der klarsten Relikte indogermanischer Dichtung, das sich aus Griechisch und Sanskrit rekonstruieren läßt, ist die Benennung der Götter als ,Geber der guten Dinge', doteres eaon in der Sprache HomersY Mit diesem Ausdruck nimmt Homer eine Vorstellung auf, die bereits eine Tradition von 2000 Jahren hinter sich hat. Im Mykenischen ist der Frauenname Theodora belegt, zu verstehen als ,Geschenk der Götter'.JJ Der Perserkönig Dareios verkündet, daß Ahuramazda, der Schöpfer von Himmel und Erde, "alles Gute den Menschen gibt"; so gab er das Königtum dem Dareios.J4 Auch ein Spruch Demokrits versichert, daß "die Götter den Menschen alles Gute geben, in alter Zeit und auch jetzt", nur das Böse und Schädliche passiere "durch Blindheit des Geistes und Unverstand") 5 Dies alles besagt keineswegs, daß die Proklamation der göttlichen Gaben eine indogermanische oder griechische Erfindung oder Besonderheit sei. Das Alte Testament betont immer wieder, daß Jahwe der Geber aller guten Gaben ist: Er gibt Speise
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fUr alle lebenden Wesen, er gibt insbesondere Nachkommenschaft. Ein entsprechender Satz des Neuen Testaments ist seinerseits traditionsbildend, ja sprichwörtlich geworden: "Alle gute Gabe und alle vollkommene Gabe kommt von oben herab, von dem Vater des Lichts." 36 Aber selbstverständlich sind die Gaben von oben, die Gaben von Gott oder Göttern nur die eine Seite des ,Verkehrs'. Ihnen müssen die Gaben antworten, die von den Menschen kommen. Nur auf diese Weise können wir unseren Dank in Freundlichkeit abstatten, charitas apodidonai, wie die Griechen sagen.J7 In der Formulierung des Neuplatonikers Sallustios gilt: "Da wir alles von den Göttern haben und da es gerecht ist, den Gebern Erstlingsopfer von dem, was sie geben, zu erstatten, so geben wir denn Erstlingsopfer von Geld durch Weihgeschenke, vom Körper durch Haaropfer, vom Leben durch Tieropfer." 38 "Du sollst nicht mit leeren Händen zu mir kommen", gebietet Jahwe; alle Völker sollen ihm ihre Gaben bringen. 39 Nach einem westsemitischen Text ist es der Gott Hadad, der "Weiden und Wasser rur die Menschen aller Städte gibt, der einen Anteil am Opfer den Göttern, seinen Brüdern, gibt"40 - der Kreislauf der Gaben bezieht die Gesellschaft der Götter mit ein. So hat Mantiklos seinen ,Zehnten' dem Gott Apollon geweiht. Auch Sokrates versteht Opfer als ,Gaben' der Menschen an die Götter, die man mit Gebeten begleitet, die ihrerseits Gegengaben verlangenY So sind denn beide Seiten zur Erstattung von Gegengaben verpflichtet. In der !lias weiß und fUhlt Zeus, daß er Hektor helfen müßte; denn dieser "hat viele Rinderschenkel verbrannt, auf dem Ida und in der Stadt Troia". Dementsprechend drängt in der Odyssee die Göttin Athena die anderen Götter, dem Odysseus endlich zu helfen, denn dieser "hat Heiliges den Göttern gegeben, mehr als andere" .42 Spitzer ist die Formulierung in dem altbabylonischen Epos Atrahasis: Um Dürre und Hungersnot zu wenden, wenden die Menschen dem Gott des Regens ihre ausschließliche Verehrung zu, sie erbauen einen Tempel und bringen außergewöhnliche Opfer dar: "Der Gott wird Scham empfinden ob der Gaben", heißt es - und so geschieht's; der Gott "empfindet Scham ob der Gaben" und stoppt das Vernichtungsprogramm. 43 Die religiöse Haltung, die so offen und immer wieder zur Sprache kommt, hat man - längst ehe die Mantiklos-Statuette bekannt wurde - als das Prinzip des do ut des benannt: ,Ich gebe, damit du
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gibst'.44 Die direktesten Formulierungen werden aus dem indischen Veda zitiert: "Gib du mir - ich gebe dir. "45 Aber auch in Tansania wurde, beim Libationsopfer vom ersten Bier nach der Ernte, die Formel gesprochen: "Nehmt diesen Trunk - gebt uns Glück - gewährt uns Leben, Leben, Leben!"4 6 In der nahöstlichen Weisheitsliteratur lesen wir: "Gib dem Gott alle Tage - du wirst die entsprechende Gegengabe erhalten." Dabei finden wir ausdrücklich den Terminus ,Anleihe, Kredit' verwendet, wie auch im Alten Testament: "Wer sich des Geringen erbarmt, der leiht Jahwe, und seine Guttat wird er ihm vergelten. "47 Selbst Jesus, laut Matthäus, empfahl unauff
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religiöse Vorstellung treffen sich in dem Prinzip des Kreislaufes von Geben und Empfangen. 55 Dabei erlaubt das da-ut-des-Prinzip, wie sich schon zeigte, durchaus Variationen; rur Mantiklos würde es heißen: da quia dedi (,gib, weil ich gegeben habe'), fUr die Athena der Odyssee: date quia dedit (,gebt, weil er gegeben hat'), doch auch da ut dem (,gib, damit ich gebe'), ist ein Prinzip der Hoffuung;5 6 im Kreislauf der Votivreligion gilt die Erweiterung da quia dedisti ut des (,ich gebe, weil du gegeben hast, damit du gibst'). Dies ist die eigentliche Garantie der Stabilität; wie es eine hellenistische Königsinschrift aus Ägypten ausdrückt: König Ptolemaios und seine Gattin, die den Beinamen ,Wohltäter-Götter' (Theai Euergetm) fUhren, "erweisen beständig viele große Wohltaten fUr die Heiligtümer im Lande, und sie vergrößern die Ehrungen fUr die Götter immer mehr ... DafUr haben die Götter ihnen den guten Bestand ihres Königtums gegeben und . werden alles weitere Gute fUr alle Zeit geben" .57 Es fehlt in der Religionsgeschichte freilich auch nicht an Protesten gegen diese profitliche, ja kumpelhafte Gegenseitigkeit. Voran steht Jesus, der die Symmetrie zerbricht: "Geben ist seliger denn nehmen."5 8 Gott schenkt ohne Gegenrecht, und so sollten auch Menschen nicht Entsprechung erwarten und diese nicht genau bemessen; Jesu Vorbild sind die Kinder, die ohne eigene Leistung um Nahrung bitten. Ein altchristlicher Text verschärft sogar: "Wehe dem, der nimmt."59 Und doch hat die Tradition christlicher Gesellschaft die Reziprozität im Tauschhandel und auch die Justiz der ,Vergeltung' wiederhergestellt. Eine sublime Überhöhung des Handels mit Gott findet sich im Islam formuliert: "Gott hat den Gläubigen ihre Person und ihr Vermögen daftir abgekauft, daß sie das Paradies haben sollen. "60 Allah ist mit seiner Transaktion allen zuvorgekommen; es bleibt den Gläubigen, lebenslang Anzahlungen zu leisten fUr den großen Gegenwert, der ihnen zusteht. Aus der Perspektive der Anthropologie und der Religionsphänomenologie stellt sich ein doppeltes Problem: (I) Wie konnte das Prinzip der Gegenseitigkeit im ,Geben' entstehen, ja zu einem universale der menschlichen Kulturen werden, inmitten des berüchtigten Überlebenskampfes von gierigen und listigen Individuen, die doch viel mehr von dem Wunsch beseelt sind, zu nehmen und nicht zurückzugeben? Dies ist im Grund die Frage nach dem Ursprung von Zusammenarbeit und Moralität in menschlicher Gesellschaft überhaupt.
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(2) Wie könnte dieses Prinzip in der Religion so dominant werden, wo doch die eine Seite des Verfahrens, der eine ,Handelspartner' notwendigerweise immer im Nebel bleibt? Dies impliziert die dritte Frage: Warum hängt beides, soziale Gabe und religiöse Gabe, so eng miteinander zusammen?
Genealogie der Moral? Die Gegenseitigkeit von Gabe und Gegengabe ist eine Form der Moral. Die Frage, wie Moralität sich je entwickeln konnte in einer natürlichen Welt, die von dem Kampf ums Überleben im Sinne Darwins beherrscht ist, hat eine neue Dimension angenommen durch Spieltheorie und Computer-Simulation. Durch diese Verfahren ist nicht nur die ältere und naivere Annahme einer ,Gruppen-Selektion', wie sie vor allem im sogenannten Sozialdarwinismus zu Beginn unseres Jahrhunderts behandelt wurde, widerlegt worden, sondern auch der Ansatz von Durkheim und Mauss, die, in ausgesprochenem Gegensatz zu Darwin, die Priorität der Gesellschaft gegenüber dem Indviduum verfochten. 61 Es ist klar, daß Gerechtigkeit und Zusammenarbeit von Vorteil rur die ,Gruppe' sind und sich darum in der Durchsetzungsfähigkeit und im Erfolg der Gruppe auswirken sollten; der größere Vorteil jedoch fällt scheinbar demjenigen zu, der betrügt und so die Vorteile ohne den geforderten Aufwand genießt. Es sind die ,selbstsüchtigen Gene', die auf diese Weise sich manifestieren und durchsetzen. 62 Ein konstruiertes Muster ftir die Alternative von Kooperation oder Betrug ist berühmt geworden, das ,GefangenenDilemma':6J Wenn zu wählen ist zwischen Solidarität und Verrat, wobei einer nicht weiß, was der Partner tun wird, und wenn im Einzelfall der Verrat den Vorteil bringt gegenüber dem VerratenWerden, was ist dann die bessere Wahl? Man hat Computerspiele nach solchen Regeln laufen lassen mit dem Ergebnis, daß bei vielen Wiederholungen die ,anständigen' Strategien mehr Erfolg haben als jene aggressiven Strategien, die so oft wie möglich zu betrügen versuchen. Man sollte mit Kooperation beginnen, allerdings einen Betrug sofort mit Gleichem vergelten. Man nannte dies die ,Strategie des Übelnehmens' (grudger's strategy); das Spiel lief unter dem Namen ,TIT for TAT'.64 Man könnte ebenso gut von der Strategie der ,erfreulichen Gegengabe' sprechen. Kann man daraus
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schließen, daß im Lauf der langen Zeit menschlicher Interaktionen Kooperation, Reziprozität, ,Vergeltung' im vollen Sinn ihre Nützlichkeit erwiesen haben und darum zu traditionellen Werten erhoben worden sind, bzw. daß Strategien dieser Art wegen ihres Erfolges zur Nachahmung reizten und so allgemein überhand nahmen? Dabei sind allerdings Spiele dieser Art nur sehr vereinfachte Modelle all jener komplexen Prozesse, die seit Jahrtausenden in menschlichen Gesellschaften im Gange sind. Ein Phänomen, das in diesem Zusammenhang Interesse beanspruchen kann, ist der ,stumme Handel'.65 Man hat ihn die ,Urform des Außenhandels' überhaupt genannt. Die klassische Beschreibung findet sich bereits bei Herodot: Die afrikanische Küste südlich von Gibraltar, berichtet er, wird regelmäßig von phönikischen Schiffen besucht. "Wenn sie ankommen und ihre Ware ausgeladen haben, legen sie diese in Reihe am Strand aus, gehen dann in ihre Schiffe zurück und geben ein Rauchzeichen. Wenn die Einheimischen den Rauch sehen, gehen sie zum Meer und legen dann an Stelle der Waren Gold nieder; dann gehen sie wieder weg von der Ware. Dann steigen die Karthager aus und betrachten sich die Sache, und wenn das Gold ihnen dem Wert der Ware zu entsprechen scheint, nehmen sie dieses und fahren ab; wenn der Wert nicht stimmt, gehen sie zurück auf die Schiffe und bleiben liegen, die Einheimischen aber kommen heran und legen weiteres Gold hinzu, bis sie die Partner überzeugt haben. Keine der beiden Parteien verstoße gegen das so geregelte Recht. "66 Spätere Autoren berichten, daß der Seidenhandel mit China nach solcher Methode abgewickelt werde. 67 Ähnliche Formen haben sich offenbar überall in der Welt entwickelt. Sie scheinen auch immer wieder spontan zu entstehen, besonders in Situationen, wo Mißtrauen die Kommunikation unterbindet, etwa auch im Bereich eines ,schwarzen Marktes'. Das Prinzip der Gegenseitigkeit ist dabei von Anfang an anerkannt, auch ohne direkten Kontakt, geschweige Diskussion und Vertragsabschluß; Fortsetzung des Austausches ist auf diese Weise möglich. Die praktische Erfahrung des Profits wird verstärkend wirken; natürlich kann das System aber auch jederzeit zusammenbrechen, sei es durch Betrug, sei es durch Gewaltanwendung. Mit anderen Worten, es ist ein naheliegendes Verhalten ftir Menschen, ,anständige' Strategien auszuprobieren. Der Erfolg liegt auf der Hand: Der Ertrag aus dem fortgesetzten Handel ist weit größer, als was Betrug oder Raub im Einzelfall er-
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bringen würden. Man beachte, daß das Phänomen offenbar in anthropologischer Sicht universal heißen kann; es entsteht an verschiedenen Orten bei verschiedenen Gelegenheiten, ohne direkte Tradition; es ist spezifisch menschlich - Schimpansen gebrauchen es nicht. Das Verfahren des ,stummen Handels' hat evidente Analogien zu manchen Formen der Darbringung von Gaben an höhere Mächte: Die Opfergaben werden an bestimmtem Ort außerhalb der normalen Alltagssphäre deponiert, der Geber macht durch lautes Gebet auf sich aufinerksam und zieht sich zurück, manchmal ,ohne zurückzublicken', und wartet auf die erfreuliche Gegengabe. In Griechenland findet sich ein solches Verfahren vor allem im Zusammenhang mit den Erstlingsgaben von Feld- und Baumfrüchten. Im Lauf des Jahres werden die jeweils reifenden Erträge, die horaia, regelmäßig an einem einfachen Altar niedergelegt, manchmal auch einfach auf der Erde am Ort der Verehrung für lokale Heroen und Nymphen oder für die zuständigen Götter. Dies ist ein Glied im Kreislaufjener Gaben, die man vollzieht und erwartet; denn das Leben hängt davon ab. Was allerdings solches Handeln vom ,stummen Handel' unterscheidet, ist das freundliche Lächeln, die charis, die mit den Gaben an die Götter einhergeht, an Stelle stummen Mißtrauens. Man pflegt die Gaben ja auch zu schmücken, und sei es nur durch ein paar Blumen, die man dazulegt. 68 Aber gerade die Ähnlichkeit läßt das ,Gefangenen-Dilemma' mit besonderer Dringlichkeit zurückkehren: Wie kann solche Praxis sich durchgesetzt haben, wo doch die ,Gegengabe' keineswegs sicher und deutlich ist? Das Prinzip der Gegenseitigkeit, das im Umgang mit dem Heiligen immer wieder bestimmend erscheint, beruht nicht auf eindeutiger Erfahrung, geschweige denn auf einem Nachweis durch Statistik. Es geht wohl auch nicht an, spontane Gefühle der Dankbarkeit etwa bei den Früchte-Gaben zu postulieren; Gefühle dieser Art sind kaum unabhängig von kulturspezifischen, traditionellen Festlegungen. Das Prinzip des gegenseitigen Gebens läßt sich in Bezug auf die Götter nicht verifizieren - so wenig wie in Bezug auf die Toten, jenen anderen Bereich, wo nach den Bräuchen fast aller Gesellschaften Gaben gespendet werden, oft sogar im Übermaß. Man kann dies kaum ,natürlich' finden im Sinne des biologisch Konditionierten und Geregelten. Und doch herrscht es in der Religion zumal der ,primitiven', archaischen Kulturen.
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Die ausbleibende Gegengabe: Der Vorwurf an Gott Im Heiligtum von Samothrake, der Verehrungsstätte jener geheimen ,Großen Götter', die die Menschen vor allem vor der Gefahr des Ertrinkens im Meer zu retten versprachen, wies man den Atheisten Diagoras von Melos auf die Fülle der Weihgeschenke hin, die da aufgestellt waren; kann sich da der Atheismus behaupten? "Es wären sehr viel mehr Weihgeschenke hier", war die kühle Feststellung des Atheisten, "wenn alle die, die im Meer ertrunken sind, hier Monumente aufgestellt hätten. "69 Es gibt keinen statistischen Beweis rur den Erfolg der religiösen Bemühungen auf Samothrake oder anderswo, eher fUr das Gegenteil. Solche gegenteiligen Erfahrungen werden immer wieder bekannt, und sie fUhren zur bitteren Klage. Die Katastrophe des Frommen ist am Beispiel des Hiob im Alten Testament dargestellt und diskutiert; es fehlt nicht an Parallelen in der altorientalischen Literatur.7° Auch in der griechischen Dichtung finden wir die Klagen, daß fromme Gaben an die Götter offenbar vergeblich waren. "Weh, Opfer meines Vaters vor den Mauem, vieltötende, von grasendem Vieh: Kein Heilmittel vermochten sie zu erbringen ... " - so Kassandra bei Aischylos.7 1 Eine erregte Diskussion scheint sich an die Katastrophe des Königs Kroisos von Lydien angeschlossen zu haben: Er hatte sichtbarlich "mehr als alle anderen Sterblichen den unsterblichen Göttern" gegeben, vor allem ins Heiligtum von Delphi, und fand doch ein böses Ende, als Kyros, König der Perser, sein Land und seine Stadt eroberte. Herodot läßt Kroisos überleben und noch Gesandte nach Delphi senden mit der Frage an Apollon, "ob es rur ihn Brauch sei, seine Wohltäter zu betrügen" .72 Er hätte doch ,Scham ob der Gaben empfinden' müssen.7 3 Die Antwort des Gottes war, daß die Katastrophe vom Schicksal bestimmt war, daß am Anfang die Schuld des Vorfahren stand, des Usurpators Gyges, und daß der Gott immerhin einen dreijährigen Aufschub zuwege gebracht habe: drei je rur sich problematische Antworten; und doch schien damit die ,erfreuliche' Beziehung von Gabe und Dank, die charis einigermaßen gerettet. Denn dies ist in der Tat die Strategie der Frömmigkeit, eine selektive und zugleich optimistische Betrachtungsweise. Dies lehrt auch jene Anekdote um den Atheisten Diagoras: Schließlich sind es die Lebenden, auf die es ankommt, nicht die Ertrunkenen. Die
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Athener opfern so wie ihre Vorfahren "wegen des Glücks, das von den Opfern gekommen ist",74 "Es ist gut, den Unsterblichen Gaben zu geben", sagt König Priamos gegen Schluß der Ilias: 75 Die Götter haben die Frommen doch nicht im Stich gelassen; zwar hat Zeus Hektors Leben nicht gerettet, trotz aller von diesem dargebrachten Opfer; doch jetzt hat er eingegriffen, so daß wenigstens eine ordentliche Bestattung zustande kommen kann. Der Gabenaustausch, die erfreuliche amoiba, hat stattgefunden. Auf diese Weise zerstören die eintretenden Enttäuschungen noch lange nicht den Glauben, daß alles Gute, dessen man zum Leben bedarf und das man erwarten darf - vor allem Nahrung, Gesundheit und Erfolg - Gaben der Götter sind, der ,Geber des Guten', oder ,Gaben von oben', wie der Apostel sagt. "Mensch, sei nicht undankbar... sondern ftir Sehen und Hören und, bei Zeus, eben schon furs Leben überhaupt und fur alles, was dazu beiträgt, ftir Getreide, fur Wein, ftir Öl, danke dem Gottl" mahnt Epiktet;76 wird doch der ganze Kreis des bäuerlichen Jahres als ein Kreislauf des gegenseitigen Schenkens aufgefaßt. 77 Weit früher schon, in den Jägerkulturen, konnte das zu jagende Wild als ein Geschenk betrachtet werden, das übernatürliche Eigentümer, eine Herrin oder ein Herr der Tiere, dem Jäger zukommen ließen, woftir sie Anspruch auf Gegengaben hatten; würde die lächelnde Gegenseitigkeit gestört, würden sie erzürnt, so wäre zu beftirchten, daß sie ihre Gaben zurückbehalten. Und dies wäre die Katastrophe. 78 Die Kritik am religiösen Gabenaustausch hat auf anderer Ebene schärfer zugegriffen. Zunächst einmal: Religion kommt teuer. Die Rede ,Gegen Nikomachos' im Corpus der Lysias-Reden behauptet, Nikomachos, der beauftragt war, die ,Heiligen Gesetze' der Stadt Athen zu sammeln und aufZeichnen zu lassen, habe eine so umfassende Liste von Opfern zusammengestellt, daß die Stadt nach diesem Codex alsbald Bankrott machen müßte,79 "Man gibt nicht, man nimmt", sagt der schlaue, zynische Bürger bei Aristophanes, der nicht daran denkt, seinen privaten Besitz gemäß dem kommunistischen Gesetz der ,Weibervolksversammlung' in die Gemeinschaft zu überfuhren; "so auch die Götter - du wirst es an den Händen der Götterbilder erkennen -: Wenn wir beten, daß sie uns alles Gute geben, stehen sie da und strecken die hohle Hand aus, nicht um etwas zu geben, sondern um etwas zu bekommen. "80 "Es ist nicht erlaubt, die Götter umsonst zu kennen: sie sind käuflich",
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non lieet deos gratis nosse: venales sunt, dies der höhnende Kommentar Tertullians über die Heidengötter. 81 Und in der Tat, das Christentum hat sich als eine ,billige' Religion durchgesetzt, zu der auch die unteren Klassen Zugang hatten. Und doch hatte auch Jahwe keine ,leeren Hände' bei seinen Verehrern gewünscht. Ein Vers des Aischylos ist in diesem Zusammenhang berühmt geworden: "Allein unter den Göttern hat der Tod kein Verlangen nach Geschenken. "82 Normale Götter, dies ist vorausgesetzt, sind gierig nach Geschenken, und zwar bei jeder Gelegenheit. So scheint denn Ungerechtigkeit Platz zu greifen, wo man doch die rechte und ,erfreuliche' Gegengabe erwartet. Antike Philosophen sahen das Problem in dieser Form: Wie kann der ,Handel' beiderseitiger Interessen zusammengehen mit der Herrschaft absoluter Gerechtigkeit, die wir von den Göttern erwarten? Wenn es auf den Gabentausch ankommt, muß der Reiche doch ganz andere Möglichkeiten haben, mit Göttern zu verkehren; großartige Rituale erfordern teure Opfer. 83 Solche Überlegungen sind früh schon angestellt worden. Schon Hesiod formuliert, jeder solle "nach Maßgabe seiner Möglichkeit" opfern. 84 Es gibt dann Anekdoten, wonach die Götter schlichte Opfer eines armen, frommen Mannes, Erstlingsfrüchte etwa oder ein wenig Weihrauch, höher achten als die aufWendigen Opfer der Reichen. 85 Man findet ja auch seit der vorgeschichtlichen Epoche an heiligen Stätten immer wieder ganz einfache, billige Weihgeschenke, meist aus Ton; sie sind offenbar ein schlichter Ersatz für das, was als eigentliches Geschenk gelten könnte. Soll man von Symbolik sprechen, von Fiktion, oder gar von Betrug? "Man muß wissen", schreibt Servius, "daß im Bereich des Heiligen das Fingierte statt des Wahren akzeptiert wird." Man erzählte, wie der Gott Men eine Stele anstelle eines Rinderopfers annahm, und Herakles hatte gar seinen Spaß daran, als Kinder einen Apfel anstelle eines Widders ,opferten'. 86 Fortgeschrittenere Moral postulierte, daß die Götter die Gesinnung oder das ,Herz' des Verehrers ansehen, nicht den Wert der Gabe; so die Bibel, so auch griechische Weisheit. 87 Tiefer geht die Kritik, die besonders Platon formuliert hat: Geschenke an die Götter sind eine Art Bestechung. Mit dem Fortschritt der öffentlichen Organisation in den Stadtstaaten, mit schriftlichen Gesetzen einerseits, einer von Geld bestimmten Marktwirtschaft andererseits wurden die alten Formen gegenseitigen Gabenaustauschs suspekt: dorodokia, ,Geschenk-Annahme', be-
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deutet nun ,Bestechung'. 88 So zeigt sich Platon schockiert über den Satz, den Hesiod doch offenbar ohne weiteres akzeptiert hatte, daß "Geschenke Götter überzeugen, Geschenke die achtbaren Könige" ,8 9 oder daß "selbst die Götter sich umwenden lassen", wie es bei Homer hieß.90 Konnten wirklich Unterweltsstrafen abgewendet werden durch die rechten Geschenke fur Persephone, wie es der alte Demeterhymnus ungeniert ausspricht?9 1 In seinen späteren Werken ist Platon unbeugsam in dem Dogma, daß die Götter, insofern sie das Prinzip des Guten repräsentieren, nicht durch Geschenke und Gebete beeinflußbar sind.9 2 Dies würde dann allerdings die zentralen Formen des Götterkultes beseitigen; es bliebe dem Frommen nichts als die philosophische ,Angleichung an Gott', homoiosis theoi. 93 Könnte man vom ,Geben' loskommen, wäre auch eine andere peinliche Folge des Tauschhandels beseitigt: Der Empfanger ist abhängig vom Geber; also wäre der Gott abhängig von der Gabe der Menschen. So heißt es im hethitischen Hymnus an Ishtanu den Sonnengott: "Sei gnädig zu diesem Mann, deinem Diener; dann wird er dir weiterhin Brot und Bier opfern." "Woher wirst du von ähnlicher Hand die Ehrung schöner Opferspeisen bekommen?" oder: "Welches bessere Stück Land werdet ihr eintauschen, als dieses?" lautet die unverblümte Frage an Zeus und die anderen Götter bei Aischylos.94 Selbst Christen können ähnlich beten. 95 Härter, zynischer nach unserem Gefühl wird die Sicht der Menschen, wenn sie ausmalen, wie die Götter ausgehungert werden könnten: So läßt Aristophanes in seinem Stück Die Vögel die ,Luft' blockieren und damit den Opfer-Austausch zum Erliegen kommen, was die Götter zur Kapitulation zwingt. Die gleiche Idee kommt noch drastischer in orientalischen Texten zum Ausdruck. So haben während der Sintflut die Götter lange die Opfer der Menschen entbehren müssen, weshalb sie beim ersten Opfer, das der Sintflutheld dann veranstaltet, sich "wie die Fliegen" sammeln. 96 "Wenn ihr die Menschheit vernichtet, werden sie ihre Nahrung nicht mehr den Göttern geben, niemand wird Brot oder Libation darbringen", erklärt ein hethitischer mythologischer Text. 97 "Du kannst deinen Gott dazu bringen, dir nachzulaufen wie ein Hund", formuliert gar ein Text der mesopotamischen Weisheitsliteratur. 98 Trotz der Bemühungen der Philosophen, eine sublimere Theologie zu schaffen, ist die Gabe indessen nicht aus der Praxis der
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Religion verschwunden, im Gegenteil. In der Praxis gilt nahezu überall noch immer, daß die Kommunikation mit dem Göttlichen sich im gegenseitigen Schenken vollzieht oder jedenfalls davon begleitet ist. Der Kreislauf des Gebens wiederholt sich auf menschlicher Ebene, innerhalb der Gemeinschaft oder der Hierarchie der Gläubigen. Man könnte versucht sein zu behaupten, daß jede Religion, unter anderem, ein System zur Mobilisierung von Geschenken ist. Etliche der sogenannten ,neuen' Religionen geben die drastischsten Beispiele. 99
Der virtuelle Kreislauf: Die Tatsachen des Rituals Wenn es paradox erscheint, daß Gabe und Gegengabe in allen Formen von Religion so wichtig sind, so gehört dazu ein zweites Paradox: Es ist für den Blick des Realisten so gut wie immer deutlich, daß die frommen Gaben den Empfänger nicht erreichen. Mit anderen Worten, es gibt hier ein auffallendes Auseinanderklaffen von religiösem Postulat und tatsächlich vollzogenem Ritual, das aber nicht zu stören scheint. Die Gebetssprache, die mit dem Geben einhergeht, betont bewußt und beständig die Gegenseitigkeit der Kommunikation; das Ritual kann dies jedoch nicht anschaulich machen. Die zuvor gestellte Frage, wie das Prinzip des Gebens in der Religion so wichtig werden konnte, trotz der ,Undeutlichkeit' der überweltlichen Partner, muß sich angesichts dieser Beobachtungen ändern; sie findet eine partielle, vorläufige Antwort: Die Gegenseitigkeit, die von Seiten der Götter undeutlich bleibt, wird von Seiten der Menschen gar nicht in Szene gesetzt. Der ,Austausch' findet nur durch Formeln und Symbole statt; der Außenstehende könnte von Tricks sprechen, wäre da nicht der Ernst des tatsächlichen Aufwandes. Die Dialektik von Ideologie und Praxis muß seit je bestanden haben, und es besteht kein Grund zu vermuten, daß dies sogenannten Primitiven entgangen wäre. Täuschung und Betrug sind ja keinesfalls später als Religion ,erfunden' worden. Nie bestand die Möglichkeit, den Göttern Geschenke direkt zuzusenden. Es bleiben zwei ganz verschiedene Möglichkeiten, was man mit diesen Gaben anfangen kann: Man kann sie entweder dem menschlichen Gebrauch und Verbrauch definitiv entziehen, oder man kann sie in der menschlichen Gemeinschaft wieder aus-
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teilen. Gaben setzen einen gewissen Überschuß der Produktion voraus; solcher Überschuß wechselt im Schenken den Besitzer, im Umgang mit Göttern wie im Umgang mit Toten. Man kann ihn vernichten, man kann ihn ,rezyklieren'. Das eine erscheint uns als irrational- und darum vielleicht als ,rein religiös' -, das andere als die rationale Lösung: ,Bitte keine Blumen - Spenden erbeten an Amnesty International' lesen wir heutzutage auf Traueranzeigen. Trotzdem geht es nicht ohne Blumen auf dem Friedhof Nun, beide Praktiken bestehen offenbar schon seit Jahrtausenden nebeneinander; es gibt auch da keine simple, vernünftige Entwicklung vom einen zum andern. Für die zeremonielle Vernichtung wertvoller Güter gibt es mindestens drei eindrucksvolle Formen: Im Wasser versenken, verbrennen, oder einfach ausgießen, sofern das Köstliche flüssig ist. 100 Außerdem kann man mehr oder weniger wertvolle Beigaben mit den Toten zusammen begraben. Bräuche dieser Art gibt es seit der Vorgeschichte, mindestens wohl seit dem Jungpaläolithikum; es gibt sie in der ganzen Welt, sie spielen aber eine besondere Rolle im Altertum. Versenkungsopfer sind verbreitet; sie sind archäologisch gut nachweisbar, vor allem falls Moore statt Seen oder flüssen daftir gebraucht wurden. Wertgegenstände, Tiere und selbst Menschen sind offenbar in solcher Weise als ,Gaben' zum Verschwinden gebracht worden. Manchmal werden Gegenstände absichtlich unbrauchbar gemacht, indem man etwa Keramik zerbricht, Waffen verbiegt, bevor sie deponiert oder versenkt werden. Denn der Akt muß unurnkehrbar sein. Dies ist wichtiger als die Frage der Neugier, wie denn die Gabe den etwaigen Adressaten erreicht. 101 Im Wasser versenkte Objekte können freilich von geschickten Menschen zurückgeholt werden - wie die Münzen an der Fontana Trevi in Rom, wo Touristen noch in spielerischer Weise Versenkungsopfer vollziehen. Aber eigentlich sollte die Gabe nicht zurückkommen; der ,Ring des Polykrates' ist das warnende Beispiel eines mißlingenden Opfers. 102 Eßwaren freilich und Preziosen, die man offen an einem allgemein zugängli~hen Ort deponiert, und sei er auch heilig, werden aller Wahrscheinlichkeit nach von anderen sich angeeignet und neuem Gebrauch zugefuhrt. Das ,recycling' der Gaben mag hiermit beginnen. Selbst wenn Menschen sich kraft religiösen Gebotes fernhalten, werden zumindest die Eßwaren von Tieren geholt. Allerdings läßt selbst ein solcher Vorgang religiöse Interpretation zu: In iranischen Reli-
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gionen werden Hunde und Raubvögel, die Opfergaben schnappen, als Verkörperung von Göttern gesehen. 103 Die Griechen waren eher geneigt, die Raben an den Altären als Tempelräuber zu bezeichnen. Auch Abraham jagt die Raubvögel weg, während er jenes besondere Opfer darbringt, bei dem Jahwe zwischen den Hälften des zerteilten Tieres durchgehen wird. 104 Dramatischer, effizienter und offensichtlich endgültig ist die Vernichtung durch Feuer. Man kann sich dabei vorstellen, wie der Rauch, der zum Himmel steigt, Gott oder die Götter direkt erreicht. Im Westsemitischen und im griechischen Opferritual verbrennt man nur Teile des Opfertiers, und zwar gerade, was nicht eßbar ist. 105 Ganze Tiere zu verbrennen, was die Griechen holokauston nannten, kam in Israel zu besonderer Bedeutung: Es bestimmte den täglichen Gottesdienst im Tempel zu Jerusalem. Phönizier und Karthager haben, wie es heißt, auch Kinder verbrannt. 106 Eine schlichte und unschuldige Form der Götterehrung ist das Verbrennen von wohlriechendem Holz und speziell von Weihrauch-Harz; der Gebrauch von Weihrauch breitete sich von den Semiten her in der ganzen Mittelmeerwelt aus und forderte einen schwungvollen Handel mit Südarabien, der einzigen Quelle der begehrten Substanz. 107 Es galt dies als das minimale Opfer, das man schließlich im römischen Reich unter Diokletian von allen als Zeichen der Ergebenheit verlangte; die Christen lehnten es ab, übernahmen aber später den Gebrauch von Weihrauch in den eigenen Gottesdienst. Eine andere alte und schlichte Form zeremonieller Vernichtung, die uns fremd geworden ist, ist das Ausgießen von Flüssigkeiten, die Libation. Die Frustration, die sonst so leicht aus Ungeschick erwächst, wird hier inszeniert. Selbst wenn nur Wasser ausgegossen wird, so wird doch Mühe zunichte, denn Wasser muß erst herbeigeholt werden, manchmal von einer speziellen, entfernten Quelle. Meistens aber werden andere, in ihrer Art wertvolle Flüssigkeiten verwendet, und man stellt daftir ganz besondere, kunstvoll geformte und verzierte Gefaße her. Man kann dann eine komplizierte Agenda aufstellen, was wo wie oft auszugießen ist im Vollzug der Frömmigkeit; in jedem Fall ist unumkehrbar, was da geschieht. 108 Im Neuen Testament steht die Szene mit der ,Großen Sünderin' - in christlicher Tradition mit Maria Magdalena identifiziert -: Sie zerbricht das Alabaster-Gefaß und gießt das kostbare Öl über Jesus, ,Nardenöl', im Wert von 300 Denaren, wie die aufs
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Praktische gerichteten Jünger rasch berechnen. Dieses Geld hätte man doch den Armen geben können, murren sie; doch Jesus nimmt die zeremonielle Vernichtung des Wertvollen an, versteht es als Vorwegnahme von Totenehrung, Totenopfer. 109 Tote mit Wohlgerüchen zu salben ist nur wenig rationaler als sie mit Blumen zu schmücken, wie es schon der Neandertaler tat. Das ,recycling' der Gaben indessen, woran Jesu Jünger denken, ist auch ein durchaus alter Brauch. Es liegt dem Tempelsystem zugrunde, wie es sich im Nahen Osten und in Ägypten entwickelte, ja es ist geradezu condido sine qua non für diese Kulturen. llo Denn das Tempelpersonallebt indirekt von den Abgaben, die man dem Tempel zu bringen pflegte; regelmäßige Geschenke werden zum Steuersystem. Die Abgabe des ,Zehnten' scheint sich sehr früh eingespielt zu haben. 111 In mesopotamischen Tempeln erhielten dann die Götter in täglicher Zeremonie ihre regelmäßigen Mahlzeiten, wozu die Statuen ins Speisezimmer verbracht, Tische gedeckt, Speise und Trank aufgetragen und Weihrauchständer entzündet wurden; dankenswerterweise blieben die Speisen unberührt und standen danach den Priestern und allen anderen vom Tempel Abhängigen zur Verfügung. 1I2 So konnten Gruppen von Spezialisten ohne Unterhaltssorgen an einem Ort zusammenleben; allerdings bedeutet dies auch ein System eifersüchtig zu hütender Privilegien. Ähnlich war es in Ägypten. Selbst die Speisen für die Toten, die in Ägypten eine solch große Rolle spielen, wurden in bestimmter Weise zugunsten der Lebenden ,rezykliert', auch wenn die frommen Inschriften davon nicht sprechen. Der Zehnte, der Jahwe geschuldet wird, soll im Tempel ,vor Jahwe' gegessen werden, ohne daß von einer Portion für Jahwe selbst die Rede ist. 1I3 An der Ara Maxima in Rom opfern die Menschen ihren Zehnten dem Hercules, was bedeutet, daß alle Anwesenden zum großartigen Mahl eingeladen werden. 1I4 Bräuche der Toten-Mahlzeit gibt es in mannigfachen Formen bis in die Gegenwart, und natürlich sind es die Überlebenden, die da essen. Auch bei den SpeiseOpfern, wie sie noch heute etwa in Japan oder in Südostasien üblich sind - z.B. auf Bali, jener Insel, die nicht vom Islam vereinnahmt wurde - ist der zeremonielle Akt das Darbringen und Aufstellen der Gaben; irgendwann und -wie werden sie dann doch von Menschen gegessen. 115 Ähnlich darf man sich das Verfahren wohl für die Minoische und die Mykenische Kultur vorstellen, wo ,offering tables' die Heiligtümer charakterisieren; ,Tische', trapezai,
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standen auch in griechischen Tempeln, um Opferanteile der Götter aufzunehmen, Fleischportionen, die dann den Priestern zufielen. Doch selbst die ,Mahlzeiten', deipna, die man der unheimlichen Göttin Hekate zur Nachtzeit an Kreuzwegen niedersetzte, wurden von hungrigen Armen sofort ,geraubt' und weggetragen. 1 [6 In einer direkteren Version des ,Recyclings' werden die frommen Gaben direkt im Namen des Gottes von den Repräsentanten des Gottes eingesammelt. Man kann vom heiligen Betteln sprechen; es ist besonders bezeichnend ftir die buddhistischen Mönche, die Tag fur Tag umhergehen, bis ihre Schüssel mit Speise gefilllt ist. In der alten Welt traf man vor allem die ,Bettler der Mutter' an, die metragyrtai, die im Namen den Anatolischen Großen Göttin auftraten. Doch gab es auch andere Arten von wandernden Sehern, Reinigungs- und Mysterienpriestern, die man als agyrtai kannte. Auch sie boten ,erfreuliche Gegengaben', indem sie göttliche Gunst dem Geber zu vermitteln wußten, Orakel, Reinigungen, Segen überhaupt; wenn abgewiesen oder gar mißhandelt, drohten sie mit göttlicher Vergeltung kraft ihres Fluchs. Im Neuen Testament gibt es einen Entwurf, wie ,Apostel' in ähnlicher Weise als Gaben heischende Wanderer existieren könnten. Bald jedoch vermieden es die Christen, als agyrtai aufzutreten, und machten es zum Prinzip "nichts von den Heiden zu nehmen" .!l8 Eine dritte Art, mit Gaben an die Götter umzugehen, wurde in der archaischen griechischen Welt besonders bedeutend: Die Gaben werden weder zerstört noch rezykliert, sondern in dauerhafte Monumente umgesetzt, die ftir immer im Besitz der Gottheit bleiben sollen; sie werden feierlich im Bezirk der Gottheit aufgestellt, als anathemata. [[9 Metalle waren besonders rare Güter, weshalb große Metallgegenstände als eindrucksvollste anathemata galten, vor allem die ,Dreiftiße', die so charakteristisch fur die alten, großen Heiligtümer sind. Im Tempel zu Jerusalern war es offenbar nicht viel anders. [20 Diese Gaben ftir die Götter waren Demonstration des Reichtums und der Frömmigkeit der Weihenden, aber auch der Kunstfertigkeit der Handwerker, die in den Heiligtümern ihre Auftraggeber fanden. Indem die Weihgeschenke sich anhäuften, waren sie auch Ausdruck von Macht und Ansehen des Gottes und der Stadt, der das Heiligtum unterstellt war. Die Statuen der Götter und die Tempel selbst konnten dann zu Recht anathemata genannt werden, entstammten sie doch aufwendigen gemeinsamen [[7
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Weihungen; dies galt auch fur die glänzendsten und berühmtesten Tempel, den Zeustempel zu Olympia, den Parthenon von Athen. Wirtschaftliche Überschüsse verwandelten sich auf diese Weise in dauerhafte Zeichen von Prestige und Ehre; dies in einer Gesellschaft, die sehr stark von den Werten der Ehre, der Suche nach Ehre bestimmt war. Doch war im religiösen Horizont zugleich die Unterordnung unter eine höhere Autorität ausgedrückt: Die Götter sind es, die "sich freuen, wenn sie von den Menschen geehrt werden".I21 Dabei waren die Reichtümer der Tempel profaner Nutzung keineswegs ganz entzogen: Von Athena war zu erwarten, daß sie gegebenenfalls ihrem Volk von Athen mit großzügigen Anleihen zu Hilfe kam. Doch im Prinzip hieß die Errichtung eines anathema zu Ehren einer Gottheit, den Kreislauf des Güteraustausches zugunsten dauerhafter Ordnung abzublocken. Auf die Dauer freilich wollte sich die Wirklichkeit dem Ideal nicht fUgen. Auch wenn Tempelraub mit schrecklichsten Flüchen belegt war, sind doch schließlich alle Tempelschätze und alle kostbaren Statuen geplündert, geraubt, einer anderen Verwertung zugefUhrt worden. Das Gold des Kroisos in Delphi diente schon im 4. Jahrhundert zur Finanzierung eines ,Heiligen Kriegs'. Das Ende in Gewalt ist kaum verwunderlich; daß je die Freundlichkeit des Schenkens, die charis, sich in so bedeutender Weise verwirklichen konnte, war wohl das eigentliche Wunder gewesen.
Gabe und Opfer Vom ,Opfer' ist im Zusammenhang des Gebens immer wieder die Rede. In der Tat überlagern sich die Begriffe der ,Gabe an den Gott' und des ,Opfers' und sind doch nicht deckungsgleich. Die zentrale Handlung im antiken Opfer ist das ,heilige' Schlachten eines Tieres als Einleitung der festlichen Mahlzeit, wobei der Anteil der Götter unbehaglich kümmerlich ist. Wie bei der eigentlichen Gabe, so divergieren auch hier das tatsächlich vollzogene Ritual und die fromme Ideologie. Das Opfer ist ganz den Göttern zugewandt, auch in Griechenland, und doch ist es in Wirklichkeit eben keine Gabe. 122 Man feiert die Tischgemeinschaft in Gegenwart des Heiligen, doch überläßt man den Göttern im wesentlichen die nicht eßbaren Teile, die Knochen, die Gallenblase. Der Prometheusmythos erklärte diese Verteilung des Opfers als einen Betrug,
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den der Titan gegenüber dem höchsten Gott versucht hatte. Die Strafe blieb nicht aus, und doch besteht seither das eigentümliche Ritual; dies war, "als Götter und sterbliche Menschen sich trennten", sagt Hesiod. '2 3 Das Tieropfer schließt das Festmahl nicht nur ein, sondern besteht ganz wesentlich aus diesem. Solch ein Fest läßt sich aus der Praxis der alten Jäger herleiten, die die am höchsten geschätzte Nahrung beschafften und dabei den Schrecken des Tötens und die Sorge um den Fortgang des Lebens zu verarbeiten hatten. '24 Die Fleischmahlzeit stellt zugleich das Grundmuster der Essensverteilung dar, die ihrerseits eine Grundform menschlicher Zusammenarbeit geworden ist. Bei Primaten gibt es Essensteilung nur in Ansätzen, insbesondere allerdings, und dies ist bemerkenswert, wenn Schimpansen kleine Tiere jagen. 12 5 Bei den Menschen ist die Teilung der Nahrung so sehr ins Zentrum gerückt, weil eben im Paläolithikum die Jägerei so wichtig geworden war. Dabei ist die Jagd bei den Menschen nahezu ausschließlich ein männliches Unternehmen, während ein großer Teil der tatsächlichen Nahrung von den Frauen durch Sammeln von Kräutern und Früchten beigesteuert wird. So waren beide Geschlechter auf den gegenseitigen Austausch angewiesen. Dies kommt auch in der Bildung der menschlichen Kernfamilie zum Ausdruck. Dabei kam, mag man sich vorstellen, eine erfolgreiche Jagd vielen in der Gruppe zugute, über die Familie hinaus; dies bot Gelegenheit zu gegenseitigen Geschenken und Bevorzugungen. Denn sogleich kommen die Fragen der Überordnung und Unterordnung ,auf den Tisch', indem die ,Teile' in rechter Größe und Ordnung auszuteilen sind. Ob ,Primitive', ob Hochkultur, wir können die reale Spannung und die symbolische Wertung solcher Verteilung noch ohne weiteres nachempfinden. Die griechischen Wörter mOlra und alsa, die wir als ,Schicksal' zu übersetzen pflegen und mit Recht als konstitutiv für das griechische Weltbild erachten, heißen von Haus aus einfach ,Teil', und sie bezogen ihre allgemeinere Bedeutung eben von der Zeremonie der Fleischverteilung: Was einem ,zugeteilt' ist, damit hat man sich schließlich und endlich abzufinden, Fleischportion, soziale Stellung und Rolle, im Gesamtrahmen einer Ordnung und ,Verteilung' der Welt. 126 Man hat den Vorschlag gemacht - und zwar von außerhalb der antiken Kulturen -, das Prinzip von Gabe und Gegengabe als eine Erweiterung der Nahrungs-Teilung aufzufassen, die sich in die
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Zeitdimension erstreckt. 12? Dann wäre also der Gabentausch überhaupt von einer einfacheren, doch nicht weniger bedeutenden Praxis herzuleiten. Man kann dabei die geistigen Voraussetzungen nennen, die den Fortschritt von der Tischgemeinschaft zum Gabentausch erst möglich machen: die Anerkennung des fortdauernden Anspruchs eines Partners, auch wenn er nicht gerade persönlich gegenwärtig ist; die Bewältigung der Zeitdimension, so daß Vergangenes, Gegenwärtiges und Künftiges als stabile Größen miteinander verrechnet werden können. Verlangt ist damit eine nach Ort und Zeit stabile geistige Welt, wie sie wohl nur durch Sprache fixiert und mitteilbar gemacht werden kann, zusammen mit protomathematischen Begriffen von Maß und Gleichheit. 128 Wenn der Gabenaustausch mit Göttern auf kaum auflösbare Paradoxien fUhrt, so stellt sich jetzt dieses Problem auf neuer Ebene in anderer Form: Welche Rolle spielen die Götter in der Tischgemeinschaft der Menschen, wieso treten sie überhaupt in diese ein? Warum ist der Hinweis auf unsichtbare Partner beim Festmahl so üblich, so wichtig, daß die Zeremonien als ,heiliges' Handeln und damit als ,Opfer' benannt werden, das von höheren Mächten legitimiert und gefordert wird? Dabei handelt es sich hier doch wohl um sehr alte Traditionen, auch wenn innerhalb verschiedener Kulturen sehr verschiedene Vorstellungen und Bräuche zu finden sind, was die Teilnahme der Götter am Festmahl betrifft. Selbst innerhalb einer einzigen Kultur bestehen hier rechte Unsicherheiten: Nehmen die griechischen Götter eigentlich teil am Opfermahl? Ja, erzählt Homer, doch nur bei Randvölkern, bei den Äthiopiern etwa, oder immerhin bei den Phäaken. 129 Oder sind die Götter hohe Herrschaften, die fUr sich und zuerst speisen, allerdings ihren Dienern furs nachfolgende Essen genügend übrig lassen? So erscheint es im orientalischen Tempelsystem. Oder begnügen sich die Götter mit dem Rauch, der den Himmel erreicht? So drücken es die Israeliten und häufig auch die Griechen aus. 13° Jedenfalls ist das Schlachten und oft auch das Essen des Fleisches etwas ,Heiliges'; profanes Schlachten kann verboten sein,13 1 und nicht selten muß das Essen im Heiligtum stattfinden. Die Rituale, die das Schlachten vorbereiten und noch das Fest begleiten - Reinigung, Zusatzgaben, Musik, Formen der Erhöhung und Wiederherstellung des Opfertiers - steigern und bewältigen Regungen der Angst und Aggression. Unverzichtbar ist der Gebrauch von Werkzeug und Waffen, von Beilen und Messern, das Vergießen von
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Blut, der Vollzug des Tötens. Nicht selten verbindet sich damit der Ausdruck des besorgten Wunsches, das Leben dem Herrn des Lebens zurückzugeben. 132 Insofern die Götter in das gemeinsame Mahl einbezogen werden, wird die Solidarisierung der Versammelten angesichts der höheren Autorität verstärkt und insbesondere die Kontinuität in dem prekären Umgang mit Leben und Töten gesichert. Zwei Anlagen charakterisieren schon neolithische Siedlungen und die frühesten Städte, jene Orte, wo erstmals Kontinuität über viele Generationen hinweg zustandekommen konnte: Getreidespeicher und Opferplatz. Vorrathaltung und geheiligter Verzehr müssen ins Gleichgewicht gebracht sein. Auch dies ist noch ein Ausdruck des Gesetzes der gegenseitigen Gabe.
Lösegeld und Gabe: Von der Panik zur Stabilität Die Entsprechung von Gabe und Gegengabe ist grundlegend ftir alle Systeme von Austausch und Kooperation. Und doch gibt es Formen des ,GebellS', in denen der Blick auf die erfreuliche Gegengabe zunichte wird, dann nämlich, wenn Drohung und Gewalt am Werke sind. Formen sehr unwilligen, erzwungenen ,GebellS' sind in der Wirklichkeit gang und gäbe: Zahlungen etwa, die in antiken Staaten von benachbarten Barbaren eingefordert werden, in modemen Großstädten von einer lokalen Mafia, oder auch in Situationen der Anomie von plündernden Soldaten, Piraten, Räubern aller Art. Manchem Bürger mag das Steuersystem in ähnlichem Licht erscheinen. Herodot schildert den Skytheneinfall, der angeblich bis Ägypten ftihrte: Dort gelang es König Psammetich, die bösen Gäste "durch Geschenke und Bitten zur Umkehr zu bewegen".I 33 ,Abwendung' mit ,Geschenken und Bitten', das fillt zusammen mit durchaus gebräuchlicher religiöser Terminologie. Denn auch in religiöser Tradition werden die Gaben an die Götter nicht selten wie ein Tribut begriffen, der ihrer drohenden Macht zu zollen ist, um ihren sonst gefährlichen Zugriff ,abzuwenden'. Nochmals ist auf den indischen Mythos vom Ursprung des Opfers zu verweisen, wonach der alles verschlingende Gott Agni durch Butter-Libationen freundlich gestimmt wird. 134 "Ich gebe, damit du weggehst", do ut abeas, ist eine Formel, die Jane Harrison fur das ,apotropäische' Opfer geprägt hat. 135 Götter können dem Verehrer wie Erpresser erscheinen; insofern ist es
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auch gar nicht erstaunlich, daß es ,Verehrung' und Opfer auch für ausgesprochen böse Mächte wie ,Seuche' und ,Fieber' geben kann: Man sucht gute Beziehungen, um sie fern zu halten. 136 "Die schwarzgekleidete Erinys verläßt das Haus, wenn die Götter das Opfer empfangen", heißt es bei Aischylos.IJ7 Die Lex Sacra von Selinus enthält ausführliche rituelle Vorschriften, wie man einen Rachegeist, der hier elasteros heißt, durch ,Reinigung' los werden kann; zum Schluß heißt es dann: "Wenn er dem Rachegeist opfern will, soll er opfern wie den unsterblichen Göttern, doch auf die Erde hin schlachten." 138 Vielleicht empfiehlt es sich, selbst mit dem Teufel die rechten Beziehungen zu unterhalten. Ein verwandter Bereich irrationalen und oft unbehaglichen ,Gebens' sind die praktisch überall üblichen Totengaben. Man spricht zur Erklärung von der Vertrautheit und Liebe über den Tod hinaus, man gibt dem Glauben Ausdruck, daß es auch hier Gegengaben gebe, mancherlei Arten von Gedeihen, das von den Toten herkommt, insbesondere das Wachstum der Nahrung aus der Erde. Man kann auch die Erde selbst als Gottheit bezeichnen, die ,alles gibt' und wieder zurücknimmt und darum auch Anspruch auf bewußte, besondere Ehrengaben hat. Geburt und Tod kann dann zu einem großer Kreis des Gebens und Nehmens werden. 139 Zugleich aber gibt es den deutlich ausgesprochenen Glauben, daß Tote und Heroen sehr böse werden können, wenn sie der Ehrungen entbehren. Also ist geboten, sie mit reichen Gaben ,bei Laune zu halten', hilaskesthai, damit sie von ihrer Grabesruhe aus die Lebenden nicht stören. Im Hintergrund steht der Tod als ein mit allen Illusionen kaum zu verhüllender Horror. Die Erzählung, die als Begründung des Opfers bei Juden, Christen und Muslims betrachtet wird, die fast vollzogene Opferung Isaaks durch seinen Vater Abraham, fordert vom Frommen, alles, auch das Nächste und Liebste fraglos preiszugeben - ein so hartes, widernatürliches Gebot, daß kein Lächeln gegenseitiger Vertrautheit übrig zu bleiben scheint. Die Forderung Jahwes wird ohne weitere Erklärung gestellt, ohne Versprechen einer Gegenleistung. Abraham muß durch Vernichtung im Feuer des Altars ,geben', was er ,liebt'. Freilich wird das Opfer dann durch Ersatz gemildert und modifiziert, durch den Widder fürs Brandopfer, Vorbild für das dann übliche Tempelritual zu Jerusalern. Im Westsemitischen wie im griechischen Ritual finden wir immer wieder die Sequenz von Brandopfer, ,Holokaust', und nachfolgen-
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dem Opfermahl. Die scheinbar ,irrationale' Abgabe, das Vernichtungsopfer, geht der Tischgemeinschaft voraus. Meist wird ein kleineres Tier verbrannt, Schaf oder Schwein, dann gibt es die reichliche Fleischmahlzeit. Das Ganze zielt offensichtlich auf den Vorteil der praktizierenden Frommen, und doch steht der Verzicht voran. I~O Die Festesfreude bringt die charis, das lächelnde Gesicht der im Kult vertrauten Gottheit zum Vorschein, worin der körperliche Genuß des Essens sich spiegelt. Und doch bleibt das Opfer eine ernste Angelegenheit, dominiert von Autorität, der man sich unterstellt. Die Gaben an die Götter wie auch die Gaben an die Toten können also auch unter dem Aspekt der Abgaben an drohende Übermacht gesehen werden. "Give, until it hurts", pflegen amerikanische Prediger zu fordern; über charis gehen sie damit sehr bewußt hinaus. Dies fUhrt schließlich zurück zu der schon vormenschlichen Angstreaktion, in der man Wertvolles und Begehrtes von sich wirft, weil man sich bedrängt und verfolgt weiß.14 1 Dies ist fundamentaler als die Essensteilung im Gefolge der Jagd, dies ist das primär geschaltete Programm, wobei kein Raum fur Berechnungen von Gleichheit und Gegenseitigkeit vorgesehen ist. Von hier aus zeigt sich die Beziehung zur Jagd und zur Essensgemeinschaft erst in ihrer ganzen Tiefe: Im Grund sind es ja zwei Aspekte des gleichen Vorgangs, der Beziehung von Jagenden und Gejagten, Jäger und Beute, die in die Vorprägung eingegangen sind und ineinander umschlagen können - eine Grundgestalt im gewalttätigen Lebensprozeß. Dabei hat doch eben auch solches ,Geben' als Abgeben zur Abwehr von Verfolgung seinen offenbaren Effekt. Panik kann sich zu genauerem Zusehen wandeln, und mit einem Mal gelingt eine Manipulation mit klugem Abwägen von Gewinn und begrenztem Verlust. Ersatz kann ins Spiel kommen; der Verfolger wird gelenkt. Man kann einen Gott dazu bringen, ,wie ein Hund' dem Opfer nachzulaufen. 142 Offenbar gewinnen die Gaben an Götter ihre Besonderheit eben in dieser Doppelperspektive: Schrecken wird überformt, zumindest maskiert durch das Angebot eines Lächelns, während der hingenommene Verlust zum Köder oder gar zur Investititon werden kann; die Hoffuung auf künftige Stabilität wird mit investiert. Ein manichäischer Text rät an: "Wirf diesen deinen bösen Besitz weg, der den Dämonen gehört - und gib ihn als Almosen einem sehr bedürftigen Electus." 143 Sehr deutlich erscheint hier allerdings der Eigennutz des Klerus. Eine frühchristliche Inschrift hält fest, daß ein Wohltäter eine Kirche ausschmük-
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ken ließ, "als Lösegeld (lytron) ftir seine Sünden, als Erleichterung (anesis) rur die Toten: Er wird die Gabe Gottes als Gegen-Lohn empfangen".144 Der Schenker möchte seinen aufwendigen Beitrag also sozusagen doppelt nutzen, als Bezahlung von Lösegeld und zugleich als Kapitalanlage, die Zinsen bringt; er drückt damit in der religiös-fiktiven Sphäre die beiden Aspekte des ,Gebens' aus, das Hingeben in Angst und die Erwartung der Gegengabe. Die Regel der Gegengabe konnte sich aus der Tischgemeinschaft entwickeln, in der ein Kreis von Vertrautheit begründet wird, abgeschirmt von den von außen drohenden Gefahren - die man allenfalls durch Akte des Hingebens, Aufgebens, kontrollieren könnte -. Es handelt sich dabei, im Umgang mit menschlichen Partnern und erst recht im Umgang mit dem Göttlichen, nicht nur um eine ,nette' und auf Dauer eher erfolgreiche Strategie, sondern um ein Postulat, das in die Praxis umgesetzt wird, um eine stabile, rationale Welt zu schaffen, eine Welt, die intellektuell wie moralisch akzeptabel sein kann. So wird der Abgrund der Vernichtung aus dem Blick verbannt, wenn auch nicht ganz zugedeckt; ein zugleich ,vernünftiges' und ,sterbliches' Wesen, zoon logikon thneton, wie die Alten den Menschen definiert haben, kann davon nicht vollends absehen. Im Verhältnis zu den Göttern ruhrt die Praxis der frommen Gaben zu einer rational-optimistischen Interpretation des Verlaufs des Lebens, trotz Hiob und anderen Gegeninstanzen. Das Sinnpostulat bannt die Evidenz der Teilkatastrophen in den Hintergrund. So ist es in der Tradition der Religion verankert, daß man Strategien der Freundlichkeit lehrt und übt. Leben ist angewiesen auf Optimismus - selbst dies wird man eine biologische Notwendigkeit nennen. Merkwürdig bleibt, daß sich das Postulat der Gleichheit und Gegengabe mit ,objektiven' Gesetzen der Realität trifft und sich darum als besonders erfolgreich in der mathematisch-physikalischen Analyse unserer Welt erwiesen hat. Die mathematischen Formeln der Physik enthalten Gleichungen und Proportionen - ,entsprechende Zuteilungen' also, pro portione -, und Postulate der Symmetrie bewähren sich auf allen Ebenen. In diesem Sinn ist das Gesetz der Entsprechung die Grundlage unserer rationalen, wissenschaftlichen Welt. Es ist kaum ein Zufall, daß gerade am Anfang der griechischen Philosophie dies in allgemeinster Fornl ausgesprochen wurde:
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"Alle Dinge sind Austausch (antamoibe) rur Feuer, und Feuer rur alle Dinge, wie Ware gegen Gold und Gold gegen Ware" - so Heraklit, der damit Handelsgeschäfte als Paradigma der kosmischen Ordnung nahm. 145 Und noch vor Heraklit hatte Anaximandros geschrieben, daß die Dinge "einander Buße und Strafe zahlen rur die Ungerechtigkeit, nach der Ordnung der Zeit". 146 Seine Formel möchte die Vernichtung, einschließlich des individuellen Todes, begreifbar und akzeptabel machen durch das Postulat des gegenseitigen Ausgleichs. Auch Platon hat dann formuliert, daß nur das Prinzip des ,Zurückgebens' (antapodidonat) die Kontinuität des Lebens ermöglicht. Denn "wenn nicht jeweils das eine, das entsteht, dem anderen Gegengabe leistete, indem es sozusagen einen Kreislauf schafft, sondern wenn es nur eine geradlinige Entstehung gäbe vom Einen zum Gegenteiligen, wenn dies sich nicht wieder zum anderen zurückwendete, einen Bogen vollftihrte, dann würde doch alles schließlich zur gleichen Gestalt übergehen bzw. den gleichen Prozeß über sich ergehen lassen, und mit dem Entstehen wäre es zu Ende. "147 Sollen wir hier von einem Fortschritt der ,evolutionären Erkenntnistheorie' im Sinn von Konrad Lorenz sprechen und auf diese Weise die Übereinstimmung des Prinzips der Gegengabe mit den Naturgesetzen erklären?14 8 Hat sich das Prinzip der Reziprozität darum im kulturellen Bewußtsein der Menschen durchsetzen können, weil es im Umgang mit der nichtmenschlichen Realität so erfolgreich ist? Oder handelt es sich doch eher um den Durchbruch jenes biologisch notwendigen Optimismus, der den unaufhaltsamen und unwiederholbaren Fluß versinken lassen möchte, um in geschlossenen Kreisläufen Stabilität vorzutäuschen? Manche Moderne sehen im Ideal des mathematisch geordneten Universums eher eine Projektion des menschlichen Geistes als eine treffende Aussage über die zufällige und instabile Wirklichkeit. Und doch behauptet die Biologie ihr Recht, sich in ihrer Weise auszudrücken, und sei es selbst in Spiegelungen. Das Leben ist ,Homöostase', ein empfindliches Gleichgewicht im Hin- und Herfließen von Materie und Energie, vorübergehende Stabilität in einem Prozeß, der auf vielerlei koexistierenden Kreisläufen beruht. Insofern gibt es den rechten, wenn nicht den ,gerechten', so doch den lebenserhaltenden Austausch. Das Postulat der Gegengabe paßt in die biologische Landschaft und wird mit Fug und Recht in dieser durch die religiöse Tradition getragen.
VII. Die Zeichen: Aufschluß und Bearbeitung von Wirklichkeit
Zeichen annehmen: Die Kunst der Seher Zeichen aufzunehmen und darauf zu reagieren, ist eine fundamentale Leistung lebendiger Organismen, von den primitivsten Wesen bis zu den Primaten. I Die Interaktionen mit der Umwelt werden indirekt und lassen sich steuern, indem ein Etwas dazwischen tritt, das physikalische oder chemische Informationen überträgt. So nimmt das Lebewesen Hinweise seiner Umwelt auf und reagiert darauf, meist zweckmäßig entsprechend der evolutionären Optimierung. Das Lebewesen kann aber auch seinerseits Signale aussenden, auf das andere Individuen der gleichen oder auch einer anderen Art reagieren. Kommunikation durch Zeichen ist allerdings nicht ohne Risiko. Es gibt Irrtümer und Mißverständnisse, zufällige Doppelung von Zeichen, bald aber auch gezielte Irreführung, schon im Bereich der Pflanzen und erst recht mit steigender Komplexität des Verhaltens bei Tieren. 2 Dennoch: Evolution und Anpassung im ganzen Bereich des Lebens wären ohne den ständigen Gebrauch von Zeichen ausgeschlossen. Schon bei Tieren werden durch den Wahrnehmungsapparat vielerlei Signale in einer Weise verarbeitet, daß eindeutige Zeichen herausgefiltert und als klare Struktur erfaßt werden. Ein bekanntes, einfaches Beispiel: Vögel so gut wie Menschen sehen die Zufallsverteilung der Sterne am Himmel nicht als wirres Punktespiel, sondern als Muster, als ,Sternbilder', die als sinnvolle Gestalten zusammengehören und so zu merken sind; sie geben die Orientierung in der Nacht, fortgeschrittenes Wissen kann ihnen auch Zeitangaben entnehmen. Die Griechen sprachen von den ,Tieren' am Himmel, den zodia des Zodiakos, wobei sie offenbar mit den Augen des Jägers in die Ferne blickten, der darauf trainiert ist, schon aus Andeutungen in der Umwelt die verschiedenen Tiere auszumachen. Man hat die himmlischen ,Tiere' dann in Verbindung gebracht mit dem am meisten verbreiteten Repertorium von
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sprachlich gestaltetem Sinn, mit der Mythologie. Wir wissen, daß es sich hier um eine Projektion handelt, daß die Sternbilder nicht ,real' im Raum existieren; und doch entsteht mit ihnen ein Weltbild, das bald als vertraut genommen wird; man sieht die äußere Welt in solcher Gestaltung und glaubt sie zu verstehen. Überhaupt sind ,Zeichen' dafür da, die Distanz der ,Welt' zum Individuum zu überbrücken; sie bleiben freilich ,Medien', die direkten Zugang oder Zugriff sogar hindern können. Zeichen kommen von der Umwelt, erhalten ihre Bedeutung aber nur in Bezug auf den jeweiligen Organismus, den aufuehmenden Nervenapparat, die ,Seele'. Sie verweisen auf eine objektive Wirklichkeit, die sie aber nur in Beziehung zum Empfänger repräsentieren. In vielen Spezies gibt es angeborene Reaktionen auf Zeichen, aber es gibt auch Lernprogramme schon auf verhältnismäßig niedrigen Stufen der Evolution. Berühmt geworden sind die Pavlov'schen Hunde, die lernten, eine bestimmte Wahrnehmung mit einer spezifischen Erwartung zu verbinden und entsprechende Reaktionen zeigten. Man achte auf die Zeichen: Dann weiß man Bescheid, was zu erwarten ist. Im Gefolge der Sprachtheorie von Fernand De Saussure haben wir uns angewöhnt, von der ,Willkürlichkeit des Zeichens' auszugehen. Zeichen sind nicht unverändert vorgegeben, sie sind ersetzbar. Im Zeitalter der Elektronik sind wir vollends damit vertraut, daß Zeichen einer unbegrenzten Serie von Transformationen unterliegen können; die Frage ist nur, ob der gesamte Informationsgehalt bewahrt bleibt. Von der anderen Seite her hat man die Vorgänge psychischer Projektion genauer untersucht; der Rohrschach-Test etwa geht davon aus, daß zufällige Anordnungen visueller Eindrücke in einer Weise von der betreffenden Person gesehen werden, die von ihren eigenen Vorlieben und Problemen bestimmt ist. Die Bedeutung von Zeichen stammt vom Empfänger. Und doch ist ein solcher Vorgang nicht solipsistischer Art. Wir erfahren Bedeutung als einen Strom, der unserem Bewußtsein entgegenfließt; eine äußere, unabhängige, zumindest teilweise fremde Welt präsep.tiert sich in verschiedenen Medien. Damit zurechtzukommen, Orientierung zu gewinnen und festzuhalten, dies ist eine Leistung der Intelligenz und der Einfühlung. Die Interpretation ist eine Anpassungsleistung, die eine Integration des AufZunehmenden mit bereits Bekanntem zustandebringt, so daß auch etwaige
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Konsequenzen absehbar werden. Die menschliche Seele erschafft sich ihren Sinn aus dem, was ihr zuströmt. Dies ist nicht nur Selbstbespiegelung oder willkürliche ,Bastelei '. Zeichen erschließen Wirklichkeit. "Ihr versteht es, das Antlitz des Himmels zu beurteilen" - die Rede ist von Abendröte und Morgenröte als Wetterzeichen -; "die Zeichen dieser Zeit aber könnt ihr nicht beurteilen?" So schilt Jesus seine Hörer) In der Tat, im Alltagsleben werden allerlei Zeichen immer wieder beachtet und gedeutet; vor allem aber kommt es auf Zeichen an, wenn es um Situationen besonderen Ernstes geht. Die Predigt J esu zielt auf die Parusie Gottes, und diese kündigt sich durch ihre Zeichen an - auch bei paganen Göttern wäre Ähnliches zu erwarten. Zeichendeutung ist in allen alten Religionen von besonderer Bedeutung. Auf Lateinisch wurde die Kunst der Deutung divinatio schlechthin genannt, ,göttliche Handlung'; im Griechischen ist das Wort theos, ,Gott', ganz eng mit der Tätigkeit der Seher assoziiert. 4 In den mesopotamischen Tempeln beobachtete man die ,göttlichen' Zeichen und berichtete darüber aufs Genaueste an den König; ganze Bibliotheken sind mit entsprechenden Aufzeichnungen gefullt. Auch Jahwe sprach zu seinem Volk durch Zeichen. 5 Im westlichen Mittelmeergebiet gewannen die Etrusker besonderes Ansehen durch die Kunst ihrer Seher, die zu einer systematischen Wissenschaft (disciplina) entwickelt wurde; sie wurde in ,Familien' weitergegeben, wenn auch unvorhersehbare charismatische Begabung wohl unverzichtbar blieb. 6 Dagegen haben Christentum und Islam die Seherpraxis entscheidend abgewertet, zumindest auf offiziellem Niveau. Viele Formen bestehen trotzdem fort und tauchen auch in modernen Gesellschaften wieder auf, vor allem in Krisenzeiten. Man kann die Zeichendeutung nicht leicht aus dem Bereich der menschlichen Erfahrungswelt verbannen; sie ruht auf sehr alten Fundamenten. Die Römer unterschieden ,natürliche' Zeichen, wie man sie etwa im Vogelflug ausmachen konnte, und ,künstliche' Zeichen, die mit besonderen zielgerichteten Tätigkeiten zu gewinnen waren, etwa durch Schafeschlachten. 7 Die Grenzen zwischen den Bereichen sind aber nicht starr: Auch die Vogelbeobachtung kann zu einem umständlichen Apparat ausgebaut werden, während etwa Schlachten auch als alltägliche Verrichtung doch besondere ,Zeichen' liefert. Zeichen als Bedeutungsträger müssen sich freilich
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vom Gewöhnlichen abheben, und zudem müssen sie unvorhersagbar sein. üb man die einfachsten oder die verkünsteltsten Formen der Wahrsagung gebraucht, entscheidend ist, daß die Aussage eben nicht im voraus bekannt ist und daß sie auch nicht durch Manipulation zustandekommt; es gehört die Spannung der Beobachtung dazu, die Ungewißheit, die sich in Überraschung löst - selbst wenn es sich nur um einen fallenden Würfel handelt. Anders ist nur der Sprachgebrauch im Evangelium des Johannes, wo immer wieder gesagt wird, daß Jesus ,Zeichen tut' (poiein semeia):8 Die Wundertaten, die er vollbringt, zeigen die göttliche Gegenwart an; und doch gibt es viele, die diese Zeichen verkennen. Erfolg ist zu erreichen, wenn es gelingt, das rechte Zeichen im richtigen Augenblick zu erkennen und ,anzunehmen'; indem es in die besondere Situation integriert wird, entsteht ein umfassenderes Sinngeftige, ein Weltentwurf, der Folgen hat. Beispielhaft ist etwa die Erzählung, durch die Herodot den makedonischen Königsmythos wiedergibt: Perdikkas, aus der Familie der Argeaden, die Herakles als ihren Stammvater nennt, hat sich als Hirte bei einem bösen König verdingt. Als er seinen Lohn verlangt, weist der König hohnvoll auf den Sonnenschein hin, der eben durchs Dach auf den Herd fällt. Perdikkas sagt ebenso prompt wie überraschend: ,Ich nehme an' und ,schöpft', mit einer demonstrativen Geste, die Sonne in den Bausch seines Gewandes. Durch dieses ,Annehmen' ist der arrogante Spruch des Königs, der dem Knecht so viel wie ,nichts' geben wollte, verwandelt in ein Zeichen der Macht: Für immer werden Perdikkas und seine Nachkommen mit dem großen Licht verbunden sein, das den Himmel beherrscht, der Königssonne von Makedonien. 9 Indem er das Zeichen akzeptierte, gewann Perdikkas die reale Macht, auf die das Zeichen verwies, das Königtum von Makedonien. Auch zufällige Ereignisse können zu ,Zeichen' werden, indem man sie ,annimmt'. Eine Person, die man in einem kritischen Augenblick antrifft, ein Name, der fillt, kann sich unversehens mit Bedeutung ftillen und damit die Zukunft bestimmen. Während die Entscheidungsschlacht von Plataiai sich anbahnt, hat der spartanische König mit einem Teil des Heeres auf der Insel Delos Position bezogen; Gesandte von Samos drängen, die Perser jetzt auch in Ionien anzugreifen. Der König fragt nach dem Namen eines Gesandten: Er heißt Hegesistratos, ,Anftihrer des Heeres'. "Ich nehme dies an", sagt der König, und beginnt das Unternehmen, das dann
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zum Sieg fuhrt. IO Es gibt aber auch geheimere ,Zeichen': Das Rauschen des Laubs an einem Baum oder das Glitzern des Wassers einer Quelle kann Botschaften vermitteln. 1 1 Eine besondere Rolle fillt den Vögeln zu. Der Flug von Vögeln ist so gar nicht voraussagbar und doch leicht zu be9bachten und zu beschreiben. Möglicherweise geht die Beobachtung von Vögeln in der Evolution des Menschen sehr weit zurück, kann sie doch bei der Jagd und besonders beim Auffinden von Aas ihre Rolle gespielt haben. Jedenfalls sind es die Raubvögel, oionoi auf Griechisch, die die wichtigen Zeichen geben, von Mesopotamien bis Italien und drüber hinaus. Zwölf Adler erschienen, als Rom durch Romulus gegründet wurde, das ,größte Zeichen', augurium maximum, rur den Gründer der Sta~t. In Homers llias ist Kalchas der ,weitaus beste VogelSpezialist' , der ,durch seine Seherkunst' die Griechen gegen Troia fuhrt. Ältere akkadische Texte beschreiben genau, was das Erscheinen eines Falken fur einen Heereszug bedeutet, je nachdem ob er nach rechts oder nach links, nach vorn oder nach hinten sich wendet. I2 Freilich wird schon bei Homer kritisch bemerkt, daß nicht jeder Vogel Träger eines Zeichens ist. 13 Später, in der hellenistischen Epoche, haben sich Juden über die Seher mokiert: Wie leicht kann eine geschickter Bogenschütze einen angeblich weissagenden Vogel erschießen und damit beweisen, daß das dumme Tier nicht einmal sein eigenes Schicksal vorausgesehen hat. 14 Und doch blieb es noch rur die christlichen Kaiser schwierig, die auspicia abzuschaffen, die Zeremonien der Vogel-Beobachtung, auf die sich die römischen Heere so viele Jahrhunderte lang verlassen hatten. Die Kunst der Seher entfaltet sich besonders anläßlich der Opfer. Im ernsten Umkreis der heiligen Handlung, der res divina, gewinnen alle Einzelheiten die Bedeutung von ,Zeichen': Wie die Flammen aufzüngeln, wie die Gallenblase birst, wie die Knochen sich spalten. Als die wichtigsten Teile, die beim Zerlegen zu beachten waren, galten die Innereien, besonders die Leber. Die Leberschau läßt sich vom alten Mesopotamien bis Etrurien verfolgen, wobei Griechenland und Rom in unseren Zeugnissen hervortreten. Wahrscheinlich gab es interkulturelle Diffusion; doch ist auch von bedeutenden lokalen Verschiedenheiten der Deutungsmethoden die Rede. 15 Übrigens findet sich auch in anderen Kulturen die Tendenz, ,Zeichen' beim Schlachten zu beobachten. So ist es etwa beim Schafeschlachten im modernen Griechenland und im 1;3alkan
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üblich, daß einer versucht, im Schulterblatt des Tieres zu ,lesen', als ob da eine schriftliche Botschaft verzeichnet stünde. 16 Es gibt noch vielerlei andere Arten von Zeichen, die professio.nelle Deuter, aber auch Laien beobachten können: Ob der Fuß anstößt, ob Glieder zucken,17 ob Gegenstände im Wasser sinken oder schwimmen, welche Figuren Öl oder auch Mehl auf einer Wasserfläche bilden, aber auch Blitz und Donner, ja ein plötzlicher Regentropfen, und vor allem die stillen Bewegungen und gegenseitigen Verschiebungen der Sterne: Alles liefert denen, die es recht verstehen, Botschaften eines umfassenden ,Wissens'. Die Grundform menschlicher Kommunikation ist die Sprache. Demnach werden von den Menschen auch ,Zeichen' als Sprache erfahren oder jedenfalls in Sprache umgesetzt. Die Fülle der Zeichen prägt sich aus als eine Fülle der Stimmen. Dies kann wie ein überwältigendes Erlebnis universaler Einfühlung erscheinen, als ob jedes Wesen, überall, belebt oder unbelebt, eine Botschaft aussprechen würde - wenn man es nur verstehen könnte. Undeutliche Geräusche werden für die Charismatiker zu Stimmen. Manche Orakel wirkten durch die Stimme von ,besessenen' oder ,enthusiastischen' Menschen, aus denen unsichtbare Dämonen oder Götter direkt zu sprechen schienen. Sprache kann nur von Sprechern kommen; dementsprechend sieht es für Menschen so aus, als ob Zeichen nur von einem großen Zeichengeber stammen könnten, einem universalen signator, 18 der die Bedeutungen festgesetzt hat, die uns zu entschlüsseln bleiben. Nach der Analogie der Sprache müssen auch ,Zeichen' in einer semantischen Struktur stehen, die einen ,Sender' hat und einen Sachbezug, eine ,Referenz'. Und wenn eine solche ,Referenz' in unserer Welt nicht zu finden ist, dann weisen die Zeichen eben auf jene überempirischen, nicht verifizierbaren Bereiche hin, die in unserer gemeinsamen Welt sowieso existieren und für die Religion eine zentrale Rolle spielen. 19 Zeichendeutung bestätigt damit die Religion. Bedeutende Zeichen müssen von einer göttlichen Quelle ausgehen. Zugleich finden sich die Zeichen doch inmitten des alltäglichen Lebens, wie es so seinen Fortgang nimmt; sie können im Alltag auftreten, eher jedoch in Ausnahmesituationen, die besondere Aufinerksamkeit erheischen. Dann ist man geneigt, Zeichen die Entscheidung zuzusprechen; sie können hemmen oder antreiben, Orientierung geben, Richtung weisen. Einzelne Personen und ,Familien' von Spezialisten auf der einen Seite,>o Indivi-
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duen, Gruppen, Gemeinden mit ihren Institutionen auf der anderen können an den Aktionen und Reaktionen partizipieren, die von Zeichen geleitet sind; so werden Systeme der Zeichendeutung und Seherkunst je nach den besonderen kulturellen Traditionen aufrecht erhalten, indem die Weisung der Zeichen sich immer wieder als triftig erweist. Was in dieser Weise mit der fortschreitenden Komplizierung menschlicher Welt Hand in Hand geht, kann in biologischer Perspektive eher als eine Form der Regression erscheinen. Bei primitiveren Arten ist der Sinnesapparat den aktuellen Bedürfuissen in der jeweiligen Umwelt-Nische fast vollständig angepaßt. Darum haben hier ,Zeichen' als Signale, die zu verarbeiten das schlichte Gehirn programmiert ist, ihre ,natürlichen' Bedeutungen. Der Frosch sieht nicht die farbige Abend-Landschaft beim Sonnenuntergang, sondern nur den sich bewegenden Punkt, der eine Fliege sein kann, und springt danach. 21 Soweit lassen sich die Vorgänge noch mathematisch-physikalisch analysieren und beschreiben; Tests sind einfach, da der primitive Wahrnehmungsapparat leicht zu manipulieren ist. Die Signale, um die es hier geht, haben direkten Überlebenswert; dies ist ihre Bedeutung. Sie gehören einem geschlossenem System an, in dem die weniger entwickelten Lebewesen existieren; die Reaktionen sind automatisch, der Rest der Welt nicht existent. Höher entwickelte Lebewesen haben diesen Zustand hinter sich gelassen, ihre Welt ist vielf:iltiger, aber auch unbestimmter. Vor allem ftir den Menschen mit seinen vielseitigen und komplexen Wahrnehmungs- und Verarbeitungsmöglichkeiten hat sich die Welt ins Ungemessene entfaltet; eben darum sind die unmittelbaren, ,natürlichen' Bedeutungen verblaßt, überlagert, veränderbar. Wir sehen die Landschaft in ihrer unpraktischen Schönheit oder Häßlichkeit, ohne zu Reaktionen gezwungen zu sein. Vielf:iltige und widersprüchliche Eindrücke kommen von einer Welt, die mehr aufgegeben als gegeben ist. Das menschliche Gehirn hat zwar durchaus fixierte Programme daftir, was auszuwählen und zu verarbeiten ist, doch sie sind vielgestaltig, überlagern sich und passen sich an. Erfahrung bildet sich durch lange, komplizierte Interaktionen von biologischen und kulturellen Faktoren. Dabei wird die Kultur mehr und mehr überwiegen, vor allem kraft der gestaltenden und vorzeichnenden Macht der Sprache. Was scheinbar neu erlebt wird, ist fast immer irgendwie schon von der Tradition vorgeformt, ja wird eingeübt durch die unauf-
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hörlichen Einflüsse der erlernbaren Kultur. Es gibt darum kaum noch instinktive Reaktionen auf die Überftille der zuströmenden ,Zeichen', abgesehen von Relikten zumal im Sexualbereich. Menschen müssen unterscheiden, analysieren, kombinieren, interpretieren, Einzelheiten zusammenftigen, um schließlich einen Sinn zu fassen. Die Überzeugung, daß jedes ankommende Signal ein Zeichen sei, das seinen bestimmten Sinn habe, stellt sich demgegenüber als Regression dar, als superstitio im wörtlichen Verstande. Es ist bezeichnend, daß Menschen am ehesten im Zustand von Alarm und Panik einem solchem Glauben anheimfallen. Wenn die Selbstzufriedenheit des normalen, geordneten kulturellen Systems zersplittert, ergibt sich eine neue Offenheit ftir Zeichen, die man bislang übersehen hat: Sie könnten einen Anhaltspunkt geben ftir neue Orientierung. Ängstliche Erregung schafft gespannte, nach allen Richtungen schweifende AufIDerksarnkeit; und dann mag jedes raschelnde Blatt uns schaudern machen. Krisenperioden sind die hohe Zeit der Seher und Orakel. Es gibt in vielen Kulturen auch anerkannte Formen des ,Wahnsinns', der Ekstase oder medialen Versunkenheit, die aus dem Außerordentlichen neue Botschaften vermitteln, oft mit dem Anspruch direkten Zugangs zum Göttlichen. Die Empfänglichkeit, die aus der Angstsituation erwächst, erweitert die erkennbare Welt: Alles hat seine Bedeutung. In gewissem Sinn wird so die geschlossene Welt einfacherer Lebewesen von neuem geschaffen oder vorausgesetzt, wenn auch auf höherem Niveau. Während Tiere reagierend aufnehmen, was unmittelbare Lebensfunktion ftir sie hat, kann der Mensch einer Welt des totalen Sinnanspruchs sich gegenüber finden. Die Dialektik des zunehmenden Sinnpostulats in einem sich schließenden Kosmos kann man auch in antiker Philosophie wiederfinden: Platon entwirft im Timaios einen göttlichen Kosmos fur den Menschen, in dem jede Einzelheit ihr zeitloses Vorbild und von hier aus ihren Platz und ihre geordnete Funktion hat: Nichts ist zufällig und bedeutungslos. Die Stoiker versuchten in der gleichen Richtung eine Welt zu fassen, die von einem alles durchdringenden, intelligenten Pneuma geleitet wird, so daß alles in diesem Kosmos mit allem in ,Sympathie' zusammenhängt; darum kann selbst der Flug eines Vogels durchaus seine Bedeutung haben. Ptolemaios, der Astronom, meinte dementsprechend, daß durch die ,Sympathie' des Kosmos die Astrologie vollauf gerechtfertigt
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sei. 22 Der Kosmos erscheint als ein Universum von Zeichen: So zeigen sich selbst philosophische Systeme noch bestimmt vom alten biologischen Erbe. Von den medialen Vermittlern einmal abgesehen, ist es durchaus die ,natürliche' Welt, die in der Bearbeitung durch die Zeichendeuter sich darbietet; es geht vordergründig nicht um Götter und nicht um Begriffe, sondern zunächst einmal um Bäume und Blätter, fliegende Vögel, glitzerndes Wasser, Donner und Blitz und den stillen Zug der Sterne; auffallende, seltene Beobachtungen wie Sternschnuppen oder Kometen gelten erst recht als hochbedeutsam. Eingehaust in die Natur, deren Botschaften zu interpretieren sind, entwerfen die Menschen ihre Sinnwelt, die auf Höheres, auf Göttliches verweist.
Entscheidung durch Zeichen: Das Gottesurteil Ein Verfahren, die Götter durch Naturvorgänge sprechen zu lassen, ist das Gottesurteil, das Ordal. 23 Es greift über die seherische Zeichendeutung hinaus, insofern im Zusammenhang eines bestehenden Konfliktes eine Intervention herbeigeführt wird. Meist geht es um eine Situation sozialer Krise, einen bevorstehenden Kampf, oder auch um einen gerichtlichen Prozeß, bei dem eine klare, rationale Entscheidung nicht möglich ist, während doch hochrangige Interessen von Individuen oder Gruppen auf dem Spiel stehen. Dies gibt dem Verfahren die spezielle Aura des ,Ernstfalls' und der Dringlichkeit. Eben darum muß das Zeichen, das eingeholt wird, realistisch, ja drastisch sein. Um Spiele der Interpretation und der intellektuellen Willkür zu übertrumpfen, müssen in solchem Fall menschliche Körper eingesetzt und der höheren Wirkung unterworfen werden. Eine Möglichkeit, den Ernstfall zu inszenieren, ist ein Kampf auf Leben und Tod, ein Zweikampf; doch kann auch eine MassenSchlacht als Gottesurteil genommen werden. 24 Doch typische Formen des Gottesurteils sind spezielle Tests, die mittels eines undurchschaubaren und unvoraussagbaren Naturvorgangs die Entscheidung zwischen Rivalen und ihren Ansprüchen zuwege bringen. Der Ausgang kann, wie auch bei sonstigen Verfahren der Seher, nicht im voraus gewußt und auch nicht manipuliert werden. So wird gleichsam der ,Natur' eine Sprache, eine Ja-Nein-Ent-
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scheidung zugemutet, die je nach kulturellem Kontext zumeist mit der Hypothese einer göttlichen Aufsicht und Lenkung des Ganzen zusammengeht. Es zeigt sich dabei wieder einmal, daß in ganz verschiedenen Kulturen recht ähnliche Lösungen der so gestellten Aufgabe zustandekommen. Zwei elementare Naturphänomene, Grundlagen ftir Leben und Technik, werden ftirs Gottesurteil immer wieder eingesetzt: Wasser und Feuer. Daß beide tödliche Gefahren bergen, weiß man. Ein Wassertest, ,zum Fluß gehen', ist im alten Mesopotamien bezeugt;2 5 Einzelheiten werden nicht mitgeteilt, doch wird man sich vorstellen, daß es ähnlich zuging wie bei der ,Hexenprobe' im vonnodernen Europa: Wer der Hexerei bezichtigt war, wurde ins Wasser geworfen und galt als überführt, wenn sie oder er nicht unterging. Glühende Kohlen oder gar geschmolzenes Metall zu berühren, ist eine andere, zweifellos alte Praxis; offenbar besteht in der Tat eine gewisse Chance, Brandwunden zu venneiden!6 In der Religion Zarathustras wird die Feuerprobe zur eschatologischen Phantasie: Am Ende der Zeiten werden Ströme geschmolzenen Metalls die Erde überschwemmen; doch die gläubigen Anhänger Zarathustras werden unbeschädigt durch sie hindurchschreiten. 27 ,Durchs Feuer gehen' erscheint auch in griechischer Literatur als gefürchtete Probe;28 realiter hat man dergleichen noch zur Zeit der Kreuzzüge durchgeftihrt, ohne tödliche Folgen zu scheuen. 29 Weniger spektakulär, doch umso verbreiteter ist ein anderer Test, der immerhin seinerseits bei einem grundlegenden Lebensprozeß ansetzt: Die verdächtigte Person muß etwas Bestimmtes, vennutlich Giftiges essen und die Folgen erwarten: Übelkeit wird den Schuldigen übennannen, ein geschwollener Bauch, Schmerzen, Ohnmachtsanfille werden folgen; dem Unschuldigen wird nichts geschehen. Manch Moderner wird geneigt sein, einem solchen Lügen-Detektor eine gewisse psychosomatische Effizienz zuzutrauen. Wie dem auch sei, eine ausftihrliche Beschreibung des Verfahrens steht im Alten Testament. Hesiod beschreibt offenbar eine ähnliche Prozedur, insofern rür einen Gott, der einen Meineid schwur, das Wasser der Styx geholt und offenbar ihm dann zu Trinken gegeben wird: Ein volles Jahr wird er dann im Koma liegen.3° Eine entsprechendes Verfahren ist auch im Alten Orient und im Iran bezeugtY Schlichter und weniger bedrohlich ist es, wenn ein Verdächtigter Brot und Käse trocken essen muß, wobei man
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annimmt, daß der Schuldige Schluckbeschwerden haben wird; dieses Verfahren hat man regelmäßig in der alten Ostkirche geübt, selbst in Gegenwart eines BischofsY Im übrigen wird Entsprechendes auch aus ganz anderen Zivilisationen berichtet: "Die Massais in Ostafrika beißen einige Grashalme ab und rufen: Dieses Gras soll Gift rur mich sein, wenn ich vor Gott gelogen habe!"33 Wie bei der Wahrsagekunst können freilich auch beim Gottesurteil Tricks ausgepielt werden, besonders Sprachspiele, die die Wahrheit verstecken. Wohlbekannt ist aus der Literatur das Gottesurteil Isoldes in Gottfrieds Tristan: Das Liebespaar weiß eine Situation herbeizuführen, daß Isoldes Eid buchstäblich wahr und dennoch im Sinne des Prozesses durchaus irrefuhrend ist; Jesus Christus, der göttliche Garant der Zeremonie in diesem Fall, erweist sich als biegbar ,wie ein Ärmel'.34 Die Realität war weniger vergnüglich. Während des ersten Kreuzzuges wurde der angebliche ,heilige Speer', der bei der Kreuzigung Christi eingesetzt war, in Antiocheia ausgegraben; der Begeisterung folgte bald der Zweifel, und auf Betreiben der anwesenden Geistlichen wurde der glückliche Entdecker dazu gebracht, mit seinem Speer durchs Feuer zu schreiten. Er starb an seinen Verbrennungen. 35 Das Verdikt des Feuers hatte Folgen - der heilige Speer verschwand aus der Geschichte.
Zeichen schaffen: Territorium und Körper Im Umgang mit Zeichen kreuzt sich passive Hinnahme mit eigener Aktivität. Menschen nehmen Zeichen aus ihrer Umwelt entgegen und trauen ihnen Bedeutung zu, nicht selten geheime Bedeutung; doch zugleich sind sie in der Lage und durchaus motiviert, ihre eigene Umgebung in einer Weise zu verändern, daß sie den Kategorien der eigenen geistigen Welt umso besser entspricht und von hier aus auch Fremde an ihren Platz verweist. Mit anderen Worten, Menschen schaffen wahrnehmbare Zeichen, die den Umgang mit der Welt, wie sie vor allem durch Sprache und Tradition entworfen ist, erleichtern. Die gewöhnlichen Wahrnehmungsvorgänge, die durch biologische Evolution geschaffen worden sind, funktionieren durch Auswahl und Zurechtrückung verschwommener und ,verrauschter' Daten. Markierungen, die Menschen bewußt anbringen, machen die Welt deutlicher, einfacher wahr-
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nehmbar, indem sie Komplexität reduzieren. 36 Markierungen beseitigen Mehrdeutigkeiten und Zweifel und helfen, daß die Wirklichkeit den instinktiven Bedürfnissen und den bewußten Begriffen entgegenkommt.3 7 Sie können der Umwelt verpaßt werden, aber auch einzelnen Personen: Es gibt körperliche Markierungen so gut wie territoriale Markierungen. Freilich sind die Aussagen einer Markierung den Möglichkeiten der Täuschung, der Fälschung ausgesetzt. Darum gibt es neben der deutlichen, ja überdeutlichen Zeichensetzung auch die geheimen, die geheim zu haltenden Zeichen. Territoriale Markierungen werden von vielen Säugetieren verwendet, meistens durch das Setzen von Duftmarken. Offenbar folgen Menschen dem in gewisser Weise, indem sie Steine durch ÖlLibationen dauerhaft kennzeichnen. 38 Doch gibt es viele andere Arten der Markierung in menschlicher Landschaft, am eindrucksvollsten wohl mittels ihrer solidesten Bestandteile, der Steine. Übereinander gesetzte Steine oder aufgerichtete Langsteine sind Zeichen menschlicher Präsenz, überall auf der Welt. Solche Steingebilde sind Wegzeichen, die dem Wanderer helfen, sie stärken aber das Geftihl der Vertrautheit auch ftir den am Ort Ansässigen. Auffillig ist, wie oft und wie leicht solche territorialen Markierungen in einen religiösen Zusammenhang einbezogen werden. Steine, die von Öl glänzen, sind ,heilig' ftir die Griechen; ein aufg~ richteter Stein wird in Palästina und Syrien ,Haus Gottes' genannt, baitylos, Beth-E1.39 Ganz gewöhnliche Grundstücke werden mit Steinen markiert, die ihrerseits wieder als ,heilig' gelten. Bei den BabyIoniern waren phallosformige Steine üblich, mit Inschriften und mit Göttersymbolen versehen, sogenannte kudurrus. 40 Bei den Römern unterstanden die Grenzsteine einem besonderen Gott, dem Gott ,Grenzstein', Terminus. Nun kann man allerdings selbst große Steine mit bösem Willen durchaus versetzen oder auch zerstören. Darum erfindet man verborgene Zeichen, besonders um Grenzen und Besitzrechte zu bezeugen, verkohlte Reste von Opfern beispielsweise, die man mit Erde zugedeckt hat. 41 Es gibt auch ,geheime Gräber', von denen lokale Mythen berichten, die von den dazu Befugten in bestimmten Abständen aufgedeckt und erneuert werden: Geheimes Wissen bestätigt die territoriale Macht.4 2 Heiligtümer der Götter sind oft weithin sichtbar in der Landschaft; sie sind ihrerseits durch Stein und Baum markiert und werden selbst zu vertrauten Zeichen. Wenn man zur See auf Athen zu-
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fährt, erblickt man als erstes den Tempel von Sunion und später die vergoldete Speerspitze der Athena Promachos auf der Akropolis.43 Indem der Mensch im Jungpaläolithikum begann, Malereien und plastische Figuren herzustellen, trat eine neue Kategorie von ,Zeichen' ins Dasein, Abbilder, die scheinbar ganz direkt auf Gegenstände und Begegnungen der Erfahrung verweisen, auf bestimmte, deutlich erkennbare Tiere vor allem. Und doch entsteht damit eine neue Stufe von Wirklichkeit, eine Welt der Bilder, die sich einfacher beherrschen und gestalten läßt als die eigentliche Realität, von der sie doch genommen sind; sie sind der freien Kreativität des Künstlers unterworfen;44 und alsbald ergeben sich Bezüge zu gar nicht direkt Gegebenem. 45 Für den sehr viel späteren Beobachter, der es mit ,phantastischen' frühen Darstellungen zu tun hat, bleibt das Problem der Interpretation zwischen realistischen und ideellen Optionen, zwischen Kunst, Magie und Religion oft unlösbar. So läßt insbesondere das zentrale Problem, inwiefern und seit wann eigentlich ,Götter' dargestellt werden, keine sichere Antwort zu, ehe die Hochkulturen dank der schließlich erfundenen Schrift zu sprechen beginnen. Hier allerdings besteht kein Zweifel mehr, daß Götter dargestellt werden durch Statuen und Statuetten, durch Bilder und durch Symbole, und der Kult nimmt davon Notiz. Viel später haben dann die Juden und nach ihnen die Christen die Verehrung der von Menschenhand geschaffenen Bilder bekämpft und lächerlich gemacht; der Islam hat das Bilderverbot besonders konsequent durchgesetzt. 46 Und doch waren es nicht eigentlich die Bilder, die die Verehrung hervorbrachten, es waren längst eingeübte religiöse Rituale, die sich die Bilder als Zeichen schufen. Sie dienen der gemeinsamen Orientierung: Die Zuwendung und ,Verehrung' konnte durch das sichbare Zeichen, das der Künstler hervorbrachte, deutlicher und spezieller als zuvor zum Ausdruck gebracht werden. Auf lateinisch heißt die Götterstatue nicht selten einfach signum, ,Zeichen'. Der eigentliche Schnittpunkt zwischen geistiger Welt und natürlicher Umwelt ist der Körper. Man kann Rituale auch als Strategien der Körperkontrolle bezeichnen. Wenn die geistige Welt es nötig hat, ihren Ernstcharakter zu betonen, muß sie auf den Körper übergreifen. Wir mögen es ,natürlich' finden, daß menschliche Gruppen sich ihre besonderen Zeichen schaffen, Fahnen oder Maskottchen,
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Uniformen und Haartracht, dazu auch die jeweils besonderen Lieder. Man kann den Umgang mit den Zeichen tabuisieren und mit höchstem Ernst behaften, besonders wiederum in Krisenzeiten: "Die Fahne ist mehr als der Tod", sang die Hitlerjugend. Aber auch willkürliche und scheinbar belanglose Zeichen dieser Art verfehlen ihren Eindruck nicht; unbewußt oder gar gegen den eigenen Willen reagieren wir beispielshalber auf Kleiderstil. Doch können solche Zeichen wieder aufgegeben oder verändert werden, sofern sie nicht den Körper direkt betreffen. Die so leicht veränderbare und fragile geistige Welt, die Gefahr läuft, sich allzusehr in die Unverbindlichkeit des Geistes und die Behütung des Privaten zurückzuziehen, wendet sich nach außen und nimmt sich den Körper zum Pfand. Den Körper zu markieren ist vermutlich eine Erfindung der Urzeit, als mit der ,serniologischen Revolution' auch die bildende Kusnt entstand. 47 Der Mensch gestaltet seine Welt und sich selbst als deren Teil durch selbstgeschaffene Zeichen. Körperliche Unterscheidungsmerkmale kennzeichnen von Natur die Geschlechter und die Altersstufen; enger verbundene Gemeinschaften gehen bewußt darüber hinaus und machen die Unterschiede deutlicher. Initiationsriten sorgen ftir regelmäßige Erneuerung durch den Wechsel der Generationen hindurch unter Bewahrung der kulturell vermittelten Bedeutungen. Die Krisis des Übergangs wird damit beherrschbar, machbar; und doch soll der Status, der neu erreicht wird, unumkehrbar sein. Sprache und Vorstellung reichen nicht aus, dies zu leisten, auch nicht ein besonderes Gewand oder ein eigentümlicher Schmuck. Der Körper ist zu verändern. Es gibt körperliche Merkmale, die ihrerseits veränderlich und umkehrbar sind, vor allem die Haartracht. Wie wirkungsvoll immerhin die Haartracht in Szene gesetzt werden kann, um ,Alternativen' auszudrücken, ist uns heutzutage mehr als früher geläufig, stehen uns doch statt der Mönche eher die rebellischen Jugendlichen vor Augen. Das Haar ist Teil des ,natürlichen' Körpers, es bestimmt zusammen mit dem Gesicht den persönlichen Ausdruck; drastische Veränderungen im Haarstil scheinen sich auf die persönliche Identität auszuwirken. Immerhin läßt sich das Ganze im Verlauf einiger Wochen rückgängig machen. Dies gilt keineswegs ftir andere Markierungen, die man am Körper anbringt. Tätowierungen, Brandmarkungen, künstlich erzeugte Nar-
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ben gibt es vielerorts und immer wieder, aus alter oder auch aus neuerer Tradition. 48 Bei vielen Stämmen in verschiedenen Weltteilen gibt oder gab es den strengen Brauch, daß eine Person, um volles Mitglied der Gemeinschaft zu werden, sich einer meist durchaus schmerzhaften und entstellenden Operation am eigenen Körper zu unterziehen hat; oft gehört dies zu den Initiationszeremonien. Dazu gehört etwa das Ausschlagen von Zähnen, die Durchbohrung von Lippen oder Nase, ausgesuchte Formen der Narbenbildung, insbesondere aber auch die Beschneidung oder die Subinzision am Genital. Markierungen als Zeichen der Initiation lassen verschiedene Codes von Interpretationen zu. Semiologen werden das System der Differenzierungen zu entschlüsseln suchen, Funktionalisten gehen der Wirkung auf die Gruppensolidarität nach, Psychoanalytiker finden oedipale Konflikte und Kastrationsängste. Bezeichnend ist jedenfalls, daß es offenbar nicht ausreicht, die personale Identität durch Beschluß festzustellen, durch Erklärung und Vorstellung; es reicht auch nicht aus, durch seelischen Terror einen ,unauslöschlichen' Eindruck zu hinterlassen. 49 Das Unsichtbare, Unfaßbare muß sichtbar und handgreiflich werden, auf daß der ungläubige Thomas seine Finger in die Wundmale legen kann. Die Differenzierungen müssen klar und dauerhaft sein. Übrigens haben auch die anderen Begleiterscheinungen von Initiationszeremonien durchaus ihre körperliche Dimension, der Wechsel des Ortes, Wechsel der Kleidung, besondere Essensregeln, Proben und Mißhandlungen. Herodot berichtet, daß die Lyder und Meder in folgender Weise einen Vertrag beschwören: "Nachdem sie sich die Arme bis unter die Haut eingeschnitten haben, lecken sie das Blut voneinander auf" Araber schließen einen verpflichtenden V ertrag mit Blutvergießen: "Ein anderer Mann steht in der Mitte zwischen beiden, und er macht mit einem scharfen Stein einen Schnitt auf der Innenseite ihrer Hände, entlang dem Daumen; dann nimmt er einen Streifen vom Gewand eines jeden der beiden, und er bestreicht mit dem Blut sieben Steine, die zwischen den Partnern liegen; dabei ruft er Dionysos und die Himmelsgöttin an. "50 Intime Berührung durchdringt sich mit dem Schock des austretenden Blutes und dem Schmerz; Narben werden bleiben, die an den Akt erinnern, und auch die blutbefleckten Steine bleiben stehen. Dazu nennt die Sprache göttliche Partner, deren Namen zugleich auf re-
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gelmäßigen Kult verweisen. Der instinktive Schauder und die bewußte Symbolik verbinden sich zu einem Versuch der ,Prägung', um eine klar bestimmte, verläßliche, dauerhafte Partnerschaft zu garantieren, weit hinaus über die problematische Beweglichkeit von Sprache und Phantasie. Markierungen, als Zeichen, sollen Aufinerksamkeit erregen. Allerlei Narben, besonders Narben im Gesicht oder verstümmelte Zähne lassen sich nicht verbergen. Doch geheime Zeichen können als noch wichtiger gelten. Dies gilt besonders von der Beschneidung, die heute noch Juden und Moslems auszeichnet, doch nicht auf sie beschränkt ist. Sie ist das ,Zeichen des Bundes', den Jahwe mit Abraham geschlossen hatY Es handelt sich um eine irreversible Markierung, die doch gemäß dem strengen Anstandscodex normalerweise nicht sichtbar wird; aber jeder weiß darüber Bescheid, und wenn es denn einmal sichtbar wird, ist dem die Aufinerksamkeit umso sicherer. Der Prozeß, das Unsichtbare sichtbar zu machen, wird oberflächlich umgekehrt; doch umso wichtiger wird, was verhüllt sein sollte. Große Göttinnen in Mesopotamien, Anatolien und Syrien hatten Gruppen von Eunuchen als ihre besonderen Kultdiener; sie waren im Heiligtum zuhause, konnten aber auch ein Wanderleben fuhren. Die Kastration ist eine drastische, unumkehrbare Veränderung des Körpers und der Person. Auch hier wird die Folge des Eingriffs normalerweise nicht sichtbar sein, doch kann es zur Exhibition kommen, in Ausnahmesituationen, die die Alltagsregeln außer Kraft setzen. Der einzige akkadische Text, der explizit darauf Bezug nimmt, sagt aus, daß diese Männer "ihre Mannheit in Weiblichkeit verwandelten, damit die Leute der Ishtar vor dieser Furcht empfänden" Y Furcht festigt die Religion. Das körperliche Zeichen ist beängstigend und verwirrend - scheinen doch die normalen Kategorien von männlich und weiblich aufgehoben-; umso mehr weist es hin auf eine höhere, unsichtbare Autorität. Der Ausdruck character indelebilis ist in der christlichen Tradition gepägt worden; er gilt von Augustin bis Thomas von Aquin, um die Wirkung der Sakramente zu kennzeichnen, vor allem der christlichen Taufe. 53 Augustin hatte die Metapher von Markierungen der Soldaten hergenommen. Die christliche Tradition hat auf körperliche Markierung verzichtet und die Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft einer göttlichen Besiegelung überlassen; immerhin ist das durchaus reale Wasser in der Taufzeremonie
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noch immer unabdingbar.54 Die geistige Weh, die durch sprachliche Konstrukte geformt und mitteilbar gemacht wird, ist kein selbstgenügsames System; es wird aufgebrochen und neu bestätigt durch Zeichen, die auf Realität jenseits der Sprache zurückgreifen.
Beglaubigung jenseits der Sprache: Der Eid Wozu brauchen die Menschen Religion? In der alten Welt wäre die fast selbstverständliche Antwort: fur die Garantie der Eide. Ohne Götter gäbe es keine Eide, und damit keine eigentliche Basis ftir vertrauensvolle Zusammenarbeit, ftir die Verfahren der Justiz, und ftirs Geschäftsleben überhaupt. 55 "Man findet Eide bei allen Völkern und in allen Kulturen. Sie sind ein erstrangiges Wahrzeichen der Religion. "56 Eide waren unentbehrlich bei sozialen Interaktionen auf allen Ebenen, in der Wirtschaft und im Rechtsverfahren, im privaten und im öffentlichen Leben, innerhalb von Stadt oder Stamm und im internationalen Verkehr. Kein Vertrag, kein Pakt, kein Rechtsakt ohne Eid. Dies war der Bereich, wo Religion, Moral und Gesetz in notwendiger Weise zusammentrafen. Der Eid ist ein Phänomen der Sprache, das sein Dasein eben der Unzulänglichkeit der Sprache verdankt: Die Schwäche des Wortes ist die Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit der Lüge. Betrug und Tricks gehören zu allen Spielformen sozialen Umgangs. Es gehört wohl sogar zur überlebenswichtigen ,Fitness', daß man andere überlisten kann. Man hat mit wachsendem Interesse solche Verfahren bereits auf dem vormenschlichen Niveau untersucht.57 Diejenigen Schimpansen, denen man eine Art Sprache beigebracht hat, versuchten alsbald ihre Wärter zu belügen. 58 Man kann also guten Gewissens annehmen, daß seit den Anfängen der Zivilisation Sprache und Lüge Hand in Hand zur Verfugung stehen. Unter den Typen traditioneller Erzählungen stehen in vielen Kulturen Geschichten von Täuschung und Betrug mit an vorderster Stelle.5 9 Man wird auch an Kindern immer wieder erfahren, wie einfach und naheliegend es ist, zu lügen, und welch pädagagogischer Aufwand nötig ist, dies zurückzudrängen. Denn Zusammenarbeit und Austausch in menschlicher Gesellschaft beruhen nun einmal auf Vertrauen, auf Möglichkeiten, Betrug auszuschließen. Nur wenn das Verhalten der Mitmenschen voraussagbar ist, wenn eine ge-
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meinsame Welt der Werte und Regeln besteht, können positive Interaktionen vonstatten gehen. Der Zweck des Eides, den verantwortliche Partner leisten, war immer eben dies: Lüge auszuschließen, Lüge in allen Formen, einschließlich von Tricks, Verdrehungen, phantastischen Ergänzungen: "Die Wahrheit zu sagen und nichts als die Wahrheit", und die Verpflichtungen zu erftillen ohne Veränderung, Abstrich oder Hinterhalt. Insofern bedeutet die Leistung eines Eides eine drastische ,Reduktion von Komplexität', indem man sich bemüht, Eindeutigkeit zu schaffen und damit eine Sinnwelt aufzubauen, die verläßlich ist; wahr und falsch sind zu trennen, wie Recht und Unrecht, Partner und Gegner, Freund und Feind. Es ist freilich bezeichnend, daß die listigen Menschen sogleich den nächsten Schritt getan haben und die hohe Kunst entwickelten, "durch Eide zu betrügen".6o Schon bei Homer heißt es ja, Autolykos, der Großvater des Odysseus, ~ei weitum berühmt gewesen "durch Diebeskunst und Eid";61 wie geschickt er damit umging, darüber gab es hübsche Geschichten. Autolykos war kein Einzeltäter. Im Lateinischen bedeutet ,Worte geben', verba dare, so viel wie betrügen. Das Wort sensus, ,Sinn' selbst, in seinem Gegensatz zum ,Wort', verbum, verdankt seine Karriere der Schwurformel, man wolle sich an das halten, "was ich ftihle daß ich sage", quod me sentio dicere, im Kontrast zum bloßen Wortklang. 62 Aber läßt sich das ,Fühlen' des Partners kontrollieren? Um die Komplexität der Möglichkeiten und Unsicherheiten zu reduzieren, um Eindeutigkeit zu schaffen, reicht Sprache nicht aus. Sie kann sich nicht aus sich selber stabilisieren. Wenn man zu einer Aussage hinzusetzt, dies sei wahr und das Gegenteil sei falsch und verwerflich, so ist dies nicht mehr als eine rhetorische Figur, die allenfalls Naive beeindrucken kann; ihr logischer Gehalt ist nichtig, und der kritische Kontrahent bleibt unüberzeugt. Man mag die Rhetorik steigern, um den Ernstcharakter durch erschreckende Bilder zu verdeutlichen, haarsträubenden Schauder auszulösen; erfahrene Partner werden kühlen Kopf behalten. Man muß über das geschlossene semantische Universum der Sprache hinausgelangen. Zwei Strategien sind zu diesem Zweck entwickelt worden, die oft Hand in Hand gehen: Der Einsatz von Zeugen, die die gemeinsame geistige Welt garantieren, und rituelle Veranstaltungen, um realistische Zeichen zu setzen, Zeichen, die als ,unauslöschliches Siegel' den Vorgang begleiten; hier kommt wiederum die
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Prägefunktion des Schreckens ins Spiel. Beides fUhrt dazu, daß der ,Reduktion der Komplexität' zugleich ein überempirischer Überschuß gegenübersteht: 63 Als allwissende Zeugen treten unsichtbare Wesen auf, und eine verborgene Kausalität soll von den rituellen Zeichen ausgehen, eine Strafrnacht vor allem. Absoluter Ernst eignet dabei den Zeugen ebenso wie dem Ritual. Gemeinsamkeit des Wissens kontrolliert unsere geistige Welt. Zwei unabhängige Zeugen sind darum Garanten der Wahrheit. Man kann anmerken, daß die indogermanische Wurzel wid-, ,sehen/wissen', ebenso im griechischen Wort fur Zeuge, histor, wie im englischen witness auftritt. Menschen freilich sind körperlich und geistig beschränkt und gebrechlich, sie können übersehen, vergessen, oder auch schlankweg lügen. Man sucht demgemäß nach höheren Rängen der Beglaubigung. In Monarchien kann man den ,Eid des Königs' einsetzen64 - doch hat der König das entscheidende Wissen? Man kann als Zeugen aufrufen, was am unmittelbarsten gegenwärtig ist - womit man allerdings Unbelebtem die Bewahrung von ,Wissen' zutraut. Odysseus, als Bettler verkleidet, schwört "beim Tisch des Gastfreunds und bei dem Herd des Odysseus". 65 Internationale Verträge schon in der Bronzezeit nehmen Bezug auf die dauerhaften Erscheinungen der natürlichen Umwelt: Sonne und Himmel, Wolken, Erde, Flüsse. Der Sonnengott, der ,alles sieht', gewinnt besonderen Rang. Für die BabyIonier ist Shamash der Hauptgarant der Eide. Hethitische Verträge rufen routinemäßig "die Berge, die Flüsse, die Quellen, das große Meer, Himmel und Erde, Winde und Wolken" an: "Laßt sie Zeugen sein fUr diesen Vertrag und fUr den Eid. "66 Homer läßt die Trojaner ein Schaf fUr die Sonne und eines fUr die Erde opfern bei der großen Eidzeremonie; sie rufen die Sonne, die Flüsse, die Erde und die strafenden Mächte der Unterwelt an. 67 Durch das Sprachspiel der Personifikation wird das unmittelbar Gegebene, Sichtbare mit Funktionen betraut, die über alles empirisch Feststellbare hinausgehen. Das anerkannte Sprachspiel greift weiter aus, indem Zeugen weit höheren Ranges eingefUhrt werden, zuverlässiger als alles unmittelbar Gegenwärtige, um die unabänderliche Wahrheit zu fixieren: Zum Eid gehören die Götter. Es ginge wohl zu weit zu sagen, daß Götter fur den Eid erfunden sind. Vielmehr sind es alle die Götter und Mächte, die dank fester Tradition in mannigfachen Bezügen innerhalb der Gruppe die Rangordnung garantieren und
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als Partner im Austausch von Gaben auftreten, die man, nicht ohne Angst und Schrecken, für Wohlergehen oder aber für Krankheit und Katastrophe im Leben des einzelnen, der Familie, des Stammes, des Landes verantwortlich macht: Sie alle werden in Eidzeremonien einbezogen, und sie sind dabei so wohl zu brauchen, ja unentbehrlich. Denn die Garantie der absoluten Wahrheit liegt beim Gott. 68 Besser noch, wenn die sichtbare Realität und die geglaubten Götter sich zusammenbringen lassen. Wir alle sehen die Sonne am Himmel strahlen; sie gilt als Gottheit, meist männlichen Geschlechts, in vielen Kulturen. Für die Griechen allerdings ist Helios ein Gott zweiten Ranges; doch der höchste Gott, Zeus, der in besonderem Maß die Eide schützt und darum horkios heißt, trägt einen Namen, der eigentlich den aufstrahlenden Himmel bezeichnet; die Griechen haben dies nicht ganz vergessen, so wenig wie die Römer, die aus Diespiter/juppiter immer dies ,Tag' heraushören konnten. So opfern bei Homer die Achäer dem Zeus, während die Trojaner sich an Helios wenden. Odysseus ruft Zeus als ersten in seinem Eid zum Zeugen, dann Tisch und Herd. 69 Die athenischen Jünglinge, die als ,Epheben' Militärdienst leisten, werden vereidigt, indem sie eine Reihe von Göttern der Stadt anzurufen haben; am Ende stehen "die Grenzen des Vaterlandes, Weizen, Gerste, Weinstöcke, Oliven und Feigen".7o Dies umschreibt die vertraute Heimatwelt, in der und von der die Bürger leben und für die sie gegebenenfalls zu kämpfen haben. Darum werden die ,Grenzen' zusammen mit all dem, was die Erde hervorbringt, den jungen Männem vor Augen gestellt und als Zeugen angerufen, zusammen mit den Göttern, deren Tempel und Heiligtümer die Epheben der Reihe nach besuchen, um dem, was sie aussprechen, den vollen Inhalt zu geben. Götter sind mächtig; werden sie gereizt, ist rücksichtslose Strafe zu gewärtigen. Zu solchem Handeln pflegt man sie in Eidesformeln ausdrücklich aufzufordern, in Mesopotamien wie in Ägypten, in Griechenland und Rom. "Ihre Macht wird töten", hält eine ägyptische Formel fest.7' "Zeus wirft seinen Donnerkeil auf die Meineidigen", glaubte man in Athen.7 2 Im Akkadischen ist davon die Rede, daß der Eid selbst sich in einen Dämon verwandelt und den Meineidigen ,packt'.73 Man ruft spezielle Dämonen auf, die über den Eid wachen und Meineid bestrafen. Für die Griechen sind dies die Erinyen, Verkörperung der Flüche, die eine Eideslei-
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stung begleiten. Die Erinyen "schwärmen um den Eid, wenn er geboren wird", warnt Hesiod;74 sie werden den Eidesbrecher jagen bis über das Grab hinaus, sie strafen noch in der Unterwelt. Und doch genügt auch dies noch nicht. Das ÜberempirischUnsichtbare, alle jene übermenschlichen Zeugen, ob Götter, Dämonen oder Rachemächte, müssen doch wieder in der unmittelbaren Realität verankert werden. Über Wort und Vorstellung hinaus greift die Aktion, der Vollzug des Rituals im Zusammenhang mit all dem, was man sich vorstellt, rühlt und sagt. Das Ritual gibt den Versicherungen, Anrufungen und Verfluchungen weiteren Ernst, und es stellt vor allem Unurnkehrbarkeit vor Augen. Mit Hilfe der traditionellen religiösen Rituale gestaltet die sprachlich verfaßte Kultur die Umwelt in einer Weise um, daß Menschen ihr Leben danach ausrichten werden und in dieser Weise als kulturell zuverlässig gelten können. 75 Die Schwurformeln mögen Phantasmen einbeziehen, doch der Sinn rür die Wirklichkeit geht dabei in keiner Weise verloren. Eidrituale inszenieren ausdrücklich Unurnkehrbarkeit. So wird zum Beispiel in Alalach in Syrien bei einer Eigentumsübertragung ein Schaf geschlachtet, mit der Formel: "Auf diese Weise soll ich sterben, wenn ich zurückhole, was ich dir gegeben habe. "76 Schafe werden auch bei der Eidzeremonie in der Ilias geschlachtet; während Agamemnon ihnen die Kehle durchschneidet, gießen die Teilnehmer Wein aus ihren Bechern auf die Erde und beten: "Wer zuerst gegen diesen Eid frevelt: so soll ihnen das Gehirn zu Boden fließen, wie dieser Wein, ihnen und ihren Kindern, und ihre Frauen sollen von anderen Männer bezwungen werden. "77 Zu Boden fließendes Blut, fließender Wein, fließendes Gehirn erscheinen verbunden. Der praktische Vollzug und der symbolische Vollzug soll gemäß der Beschwörung auch den realen Vollzug des Schrecklichsten steuern. Entsprechende Rituale und Beschwörungen finden sich immer wieder. In einem assyrischen Vertrag aus der Mitte des 8. Jahrhunderts heißt es: "Wenn Mati'ilu sich gegen diesen Vertrag vergeht, dann soll, wie der Kopf dieses Lamms abgerissen wird und sein Knöchel ihm in den Mund gelegt wird, ... so auch der Kopf des Mati'ilu abgerissen werden."7 8 Beim Vollzug des Soldateneids gießen die bronzezeitlichen Hethiter, ähnlich den Kontrahenten bei Homer, Wein aus und sprechen dazu: "Dies ist nicht Wein, dies ist dein Blut. "79 Die Fetiales, die bei den Römern das Bündnisritual vollziehen, sprechen: "Wenn zuerst durch öf-
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fentlichen Beschluß in böser List (das römische Volk) von diesem Vertrag abweicht, dann sollst du, ]uppiter dort, das römische Volk so treffen wie ich hier und heute dieses Schwein treffe, und umso mehr sollst du es treffen, umso mehr du kannst und vermagst"; und der Fetialis tötet das Tier mit einem Stein. 80 "Wenn die Molosser Eide schließen, stellen sie Rinder bereit und Krüge, mit Wein gefüllt; dann hacken sie das Rind in kleine Stücke und sprechen die Beschwörung, so sollten die Übertreter zerhackt werden; sie gießen die Krüge aus und sprechen, so solle das Blut der Übertreter vergossen werden. "81 Eine andere Möglichkeit, die Drohung der Vernichtung vor Augen zu stellen, ist es, Bilder aus Wachs oder Erdpech mit entsprechenden Verfluchungen zu verbrennen: Wie das Wachs dahinschmilzt, so soll sich der Übertreter ins Nichts auflösen. Dies kennt man aus dem Nahen Osten ebenso wie aus dem archaischen Griechenland. 82 Es handelt sich hier um sehr einfach verständliche Symbolik; doch die Symbole werden so realistisch wie möglich gemacht: Wein und Blut, Wachs und Feuer, und zuckende Tiere, die verenden. Wichtig ist oft die direkte Berührung: Man muß die Eingeweide der Opfertiere in die Hand nehmen - in Mesopotamien wie in Griechenland8J - , man muß die eigenen Waffen ins Blut tauchen,8 4 oder wenigstens einen Ring, den man dann während der Schwurzeremonie in der Hand hält. 85 Eine grausige Besonderheit, üblich bei griechischen Eiden, bestand darin, die Genitalien des Opfertiers abzuschneiden und auf den Boden zu legen, so daß der Schwörende mit dem Fuß auf sie trat. Dies geht zusammen mit der Beschwörung, daß ein Meineid eine ganze Familie auslöschen soll:86 Der biologische Fortbestand steht auf dem Spiel. Beim Areopag zu Athen, dem Gerichtshof, der für absichtliche Menschentötung zuständig war - Orest war das berühmte mythische Exempel-, schlachteten die Priester einen Eber, einen Widder und einen Stier, der Angeklagte trat auf die abgeschnittenen Genitalien und rezitierte den Eid, der sein Haus und seine ganze Nachkommenschaft mit Vernichtung bedrohte. 87 Weniger spektakulär ist der rituelle Akt, einen Gegenstand wegzuwerfen. Achilleus tut den Schwur, er werde fortan nicht mehr am Kampf teilnehmen, "bei dem hölzernen Stab", den er in der Hand trägt; dieser werde nimmermehr grünen und Laub tragen und damit wirft er ihn zur Erde. 88 Im römischen Schwur ,bei ]uppiter dem Stein', per lovem lapidem, der den Eindruck sehr alter
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Tradition macht, ergreift der Schwörende einen Stein und spricht die geläufige Formel: "Wenn ich den Eid halte, soll mir Gutes geschehen; wenn ich anderes plane oder ausführe, sollen alle anderen in Sicherheit sein . .. Ich allein aber soll niederfallen, wie dieser Stein jetzt fällt" - und damit wirft er den Stein zu Boden. Es klingt, als wären hier Stein und Gott einander gleichgesetzt. 89 Jedenfalls soll das Unsichtbare ans Sichtbare gebunden sein. Assyrer haben beim Eid das Symbol eines Gottes aus dem Boden zu reißen. 90 Absolute Unumkehrbarkeit wird vor Augen gestellt, indem man Eisenbarren im Meer versinken läßt. So haben Ionier und Athener ihre Allianz gegen die Perser im Jahr 478 besiegelt; die Phokäer hatten früher dasselbe rituelle Zeichen angewandt, als sie ihre Stadt angesichts der persischen Eroberung aufgaben. 91 Eine solche Aktion kann sich auch in pure Magie verwandeln, indem der Fluch sich vom Eid trennt und zum Selbstzweck wird: J eremia schreibt alles Böse, das über Babyion kommen soll, auf ein Pergamentblatt und gibt seinem Diener Seraia den Auftrag, dies nach Babyion zu bringen, den Text zu verlesen, das Blatt an einen Stein zu binden und in den Euphrat zu werfen: "So soll Babyion sinken und nicht mehr hochkommen. "92 Eide sind gleichzeitig primitiv und raffiniert. Man hat die Eidrituale ,prädeistisch' genannt und von primitiver Mentalität gesprochen - scheint doch ein Stein mit dem Himmelsgott Juppiter gleichgesetzt -. Doch Eide sind immer zugleich auch Strategien von listenreichen Menschen, die sich der Sprache zu bedienen wissen, wobei jedem Versuch der Sicherung und Bekräftigung alsbald neue Versuche der Umgehung und Täuschung folgen. Bei diesem realistisch-ernsten Spiel haben Götter wohl seit Urzeiten ihre Rolle gehabt, in den verschiedensten Kulturen. Und man muß wohl annehmen, daß im ganzen der rechte Gebrauch der Eide den Mißbrauch überwog. Es gab religiöse Reformen und Revolutionen, die den Gebrauch der Eide zurückzudrängen oder ganz zu verbieten suchten. Dies wird schon von Pythagoras berichtet. 93 Daß Jesus das Schwören ausdrücklich verbot, steht klar und deutlich in den neutestamentlichen Texten;94 und doch hat sich die spätere Praxis der Christen daran nicht gehalten: Der Eid erwies sich als unverzichtbar. Bis heute gibt es Vereidigung von Soldaten und Beamten und Eide vor Gericht, wobei als Rest des Rituals teilweise noch immer die Berührung der Bibel verlangt wird. Meineid ist ein ge-
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setzlich definierter Strafbestand. An sich hätte die Verwendung von schriftlichen Dokumenten Eide längst überflüssig machen sollen; doch dies geschah nicht. Schon die alten Mesopotamier kannten den ,Eid der Tafel' und hielten doch fest am ,Gott des Eides' .95 Römische Eidzeremonien wurden um der Genauigkeit willen ,nach Wachstafeln' gesprochen, und doch nahm man dazu noch gelegentlich den Stein in die Hand, nicht einmal ein Messer, das Opfertier zu töten: Schriftkultur hält sich ans Werkzeug der Steinzeit. Die Praxis der Eide kann als Muster gelten rur die Versuche, eine kulturell-moralische Prägung zustandezubringen, um eine gemeinsame Welt der wahren Bedeutungen herzustellen und abzusichern, wobei die kreatürliche Angst am Rande lauert. Die Eide setzen den Glauben an unsichtbare höhere Wesen voraus, sie agieren mit deren Macht, indem sie zugleich praktische Zeichen von äußerster Realistik schaffen. So ist der Gebrauch der Eide untrennbar mit der Notwendigkeit der Religion verflochten. "Diejenigen, die die Existenz der Gottheit leugnen, haben nicht den geringsten Anspruch auf Toleranz. Versprechen, Abmachungen und Eide, die der Zusammenhalt der menschlichen Gesellschaft sind, können keinen Zugriff auf einen Atheisten haben, keine Heiligkeit für ihn. Die Beseitigung Gottes, auch nur in Gedanken, löst alles auE" So schrieb John Locke, an der Schwelle der Aufklärung, in seinem ,Brief über Toleranz' .96
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Religion erscheint in dieser Studie als uralte Tradition einer ernsthaften Kommunikation mit unsichtbaren Partnern und einer indirekten Kommunikation mit Hilfe eben dieser. Wie ,jenseitige Welten' sich beglaubigen und damit zum gemeinsamen Glauben erheben lassen, ist ein kaum weniger altes Problem. Es gibt hierauf nicht eine und jedenfalls keine einfache Antwort. Weder jeweils selbständiger Aufbau auf Grund genetischen Erbes noch direkte Belehrung noch dauerhafte Prägung durch die Älteren, die Eltern zumal, kann die Existenz und Eigenart von Religion erklären. Vielerlei längst angelegte Programme von Aktionen, Reaktionen und Gefiihlen, durch rituelle Praxis und sprachliche Unterweisung aktiviert, gestaltet und eingeübt, scheinen ineinanderzugreifen, wobei die Steuerung von Angst eine besondere Rolle spielt. So kann die Religion dem einzelnen Lösungen anbieten fiir mannigfache kritische Situationen, die in einem Leben immer wieder einmal auftreten. Im rituellen Verhalten und in den kulturell vermittelten Interpretationen folgt die Religion noch immer den Urstromtälern einer biologischen Landschaft, die schon vor dem Auftreten des Menschen sich ausgestaltet hat. Religion arbeitet eng mit der Urerfindung der Sprache zusammen, die die große Chance einer gemeinsamen sprachlich-geistigen Welt eröffuet hat. Auf diesem Niveau kommt es nicht so sehr auf den Erfolg der ,egoistischen Gene' an, die sich vervielfältigen, sondern auf Stabilität einer übertragbaren geistigen Welt, auf Übersichtlichkeit und Kontrolle, die sich ausweiten und intensivieren läßt. Jedes Individuum versucht, seine Welt zu ordnen und übersichtlich zu halten; gerne übernimmt man dabei aus der Tradition überempirische Prinzipien und Wesenheiten, die sich bewähren: Unklare und beunruhigende Einzelheiten der Erfahrung werden damit gedeutet und fixiert, die Wirklichkeit scheint Sprache zu gewinnen und zeigt einen klar gegliederten Zusammenhang - beides heißt auf Griechisch ,Logos haben" logon echein. Wir erftillen die eigene Welt mit kulturell vermitteltem Sinn. Und doch bleibt der biolo-
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gis ehe Unterbau samt dem Wissen, daß es letztlich um das ,Leben' geht. Wenn denn die Sprache vor einigen Zehntausenden von Jahren den entscheidenden Fortschritt brachte, Information direkt weiterzugeben, in Interaktionen zu verarbeiten und aufzubewahren, so folgte ein zweiter, kaum weniger wichtiger Fortschritt vor etwa 5000 Jahren mit der Erfindung der Schrift. Sie schuf eine neue Form des objektiven Wissens, weit über die unmittelbare Wirkung des gesprochenen Worts und die Merkfähigkeit einzelner Gehirne hinaus. Rituale der Bekräftigung und Einmütigkeit, insbesondere auch die Eide mußten einen Großteil ihrer Funktion einbüßen gegenüber der neuen Schriftlichkeit. Und doch machte die Religion alsbald ihrerseits die Schriftlichkeit zu einer neuen Grundlage. Mit dem Judentum, dem Christentum und dem Islam errang die Schriftkultur ihren bedeutendsten Triumph: Heilige Schriften garantieren nun die Worte Gottes, die er zu seinen Propheten und Aposteln gesprochen hat. Die schriftliche Festlegung reduzierte insbesondere die Notwendigkeit der stetig erneuerten Zeichendeutung und auch die Abhängigkeit von paranormalen Phänomenen wie Mystik und Ekstase. An ihre Stelle trat die Aufgabe der Interpretation schriftlicher Texte, als neue Form der Sinnsuche unter oft unklaren und beunruhigenden Gegebenheiten. Bei alledem haben doch fast alle Elemente der älteren Religionen fortbestanden, teils offiziell, teils eher in der Subkultur, einschließlich der Verwendung von Eiden und von Zeichendeutung aller Art. Es erwies sich für Menschen als schwierig, die alten Bahnen der Sinnkonstruktionen zu verlassen, zumal ja die realen Schrecken aller Art, Krankheiten, Kriege und Gewaltexzesse an der Tagesordnung blieben. Es könnte sein, daß die dritte Stufe der Verarbeitung von Informationen, die wir gerade jetzt durchleben, nochmals ganz grundsätzliche Veränderungen der sozialen Interaktionen bringen wird. Mit dem elektronischen Netzwerk des computerisierten Weltdorfes werden die gemeinsam zugänglichen Informationen und die entsprechenden Programme allgegenwärtig; sie lassen das Individuum definitiv hinter sich. In der Literaturwissenschaft ist der ,Verlust des Subjekts' oder ,des Autors' bereits zum Schlagwort geworden. Der oder die einzelne findet sich in der Ecke mit willkürlich bedienbarem Spielzeug allein gelassen, während das System im ganzen neue, unausweichliche Abhängigkeiten schafft, die so
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ungreifbar und zugleich so wirksam sind, daß die alten Versuche von Einflußnahme und Prägung in der Kommunikation vergleichsweise ungeschickt und harmlos wirken. Zulassung zum inneren Kreis oder Ausschluß hängt von Bits, Codes und Zulassungsnummern ab, und zur Bestätigung genügt ein Tastendruck. Insoweit die Zukunft hiervon beherrscht wird, könnte Religion, stranguliert zwischen Natur und Netzwerk, ans Ende ihrer Wirkungsmacht gelangen, Religion als ernsthafte Kommunikation mit Überempirischem, die gleichsam tastend den vorgegebenen Sinnstrukturen des Lebens folgt. Kollektives Ritual mag durch Computerspiele ersetzt werden im Rahmen einer schönen neuen, freilich nur ,virtuellen' Welt. Allerdings besteht noch keine Aussicht, daß die biologische Basis des Lebens abzuschaffen wäre; insofern wird die ,Realität' immer ftihlbar bleiben, gerade in ihren körperlichen Notwendigkeiten. Als beunruhigender mag eher sogar die sich abzeichnende Chance einer Regression erscheinen, gerade im geistigen Bereich. Primitivreaktionen der Massen, Fundamentalismus ihrer W ortftihrer: Hier bleiben Formen und Aussichten der Religion auch ftir die unmittelbare Zukunft; sie bleiben in ihrer Funktionalität durchaus problematisch. Auch in einer Welt, die von der selbstgeschaffenen Technologie scheinbar lückenlos beherrscht ist, werden Menschen nicht leicht akzeptieren, daß die großen traditionellen Sinnkonstruktionen der Kulturen, die das Jenseitige in sich schlossen, nichts als mißverstandene Projektionen der eigenen Programme und Sehnsüchte gewesen sein sollen, und daß vom Universum, das uns umgibt, keine anderen Zeichen zu uns gelangen als der Widerhall einiger Irregularitäten aus den ersten Millisekunden des uranfänglichen Big Bang.
Anmerkungen Einleitung 1 "The Knowledge of God, the Infinite, the All, the First and Only Cause, the One and the Sole Substance, the Sole Being, the Sole Reality, and the Sole Existence, the Knowledge of His Nature and Attributes, the Knowledge of the Relations which men and the whole universe bear to Hirn, the Knowledge of the Nature and Foundation of Ethics or Morals, and of all Obligations and Duties thence arising." Vgl. S. L. Jaki, Lord Gifford and his Lectures. A Centenary Retrospect, Edinburgh 1986. Der Begriff theologia naturalis geht auf Augustin zurück, Civ. D. 6,5-8, der Varros theologia tripartita diskutiert; er erhielt die positive Konnotation durch Marsillo Ficinos Versuch, Christentum und Platonismus auszugleichen. Vgl. B. Gladigow, "Religio docta bei Marsilio Ficino", in: S. Haug, D. Mieth, ed., Religiöse Erfahrung, München 1992, 277-285, bes. 279f. In der Aufklärung wurde dann die ,natürliche Theologie' der kirchlichen Offenbarungstheologie entgegengestellt. 2 Zur "Dekonstruktion" der "Ontotheologie" Ruf 1989. 3 Den alten Religionen durchaus vergleichbar und heute noch lebendig sind die Volksreligionen etwa in Indien, Indonesien, China, Japan. Verf. hat sich im wesentlichen auf das eigene Studienfeld im nahösdich-mediterranen Bereich zu beschränken. 4 Zur Diskussion dieser Probleme sei aufVersnel 1990 verwiesen.
I. Sinnkonstruktion auf biologischer Spur 1 "Neither history nor anthropology knows of societies from which religion has been totally absent", Rappaport 1971, 23. 2 Cic. Nat. Deor. 2,5, vgl. A. S. Pease, Marci Tulli Ciceronis De Natura Deorum Lihri Tres, Cambridge, Mass. 1955 ad loc.; Artemidor. 1,8 P.1T "kein ethnos ist ohne Religion (atheon)"; Strabo 3,4,16 nennt einen Stamm, der ,nach einigen' atheon sei; dies trifft nicht zu, siehe J. M. Blasquez, Imagen y Mito, Madrid 1977, 451 f. 3 Vgl. Otte 1993 und als knappe Übersicht Otte 1995; siehe auch Burkert 1979, 33f.; 88-94· 4 Vgl. Mettinger 1995. 5 "realized signifying system", Williams 1981, 207, vgl. 13: "culture as the signifying system through which necessarily ... a social order is communicated, reproduced, experiencend, and explored." Als erster hat Platon die beiden Prozesse, durch die ,Sterbliches am Unsterblichen teilhat', prinzipiell unterschieden, biologische Fortpflanzung und bewußtes ,Lehren', Symp. 206c -
Anmerkungen
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209 e, d. h. Kontinuität des Lebens und Kontinuität der Kultur. Den Hintergrund bildete die von den Sophisten entwickelte physis-nomos-Antithese. Der Kontrast von Natur und Kultur wird als "new dualism" bezeichnet und kritisiert von Reynolds 1981, 13-18. 6 "There is no human nature apart from culture." "Humanity is as various in its essence as it is in its expression", Geertz 1973, 35 f.; vgl. D. Freeman in Montagu 1980, 211: Kultur als "accumulation of chosen alternatives". Historische Studien haben den kulturellen Relativismus auch in den Begriff der ,Mentalitäten' gefaßt, vgl. V. Sellin, "Mentalität und Mentalitätsgeschichte", Historische Zeitschrift 241 (1985) 555-598; vgl. G.E.R. Lloyd, Demystifying Menta/ities, Cambridge 1990. 7 Geertz 1973, 35 ff.; vgl. Boon 1982. Kritik bei Fleming 1988 , 37-43. 8 Vgl. Durkheim 1912; van Baal 1971; Leach 1976. 9 B. Malinowski, Argonauts in the Western Pac!fic, London 1922; E. E. EvansPritchard. Witchcraft, Orades and Magic among the Azande, Oxford 1937;id., Nuer Religion, Oxford 1956; A. R. Radclitfe-Brown, The Andaman [slanders, Glencoe, 111. 1948'. 10 Vgl. Vernant 1974; 1991; Vernant-Vidal Naquet 1972/1986; Versnel 1990. I I Vgl. Taub 1984; Hewlett 1992. 12 Psalm 52 (53), 2. 13 Ps.-Liban. Characteres epist. I, ed. V. Weickert, Leipzig 1910, p. I5,II; vgl. Eurip. Heracl. 904 (: die Polis soll "die Götter ehren; wer das verneint, steuert nahe an Wahnsinnsformen ... " 14 "alI explicit and implicit notions and ideas, accepted as true, which relate to a reality which cannot be verified empirically", Van Baal 1971, 3. Freilich ist der Begriff ,empirisch' problematisch: Die Existenz von Antipoden konnte vor Magalhaes nicht empirisch verifiziert werden und war doch nicht eine religiöse, sondern eine wissenschaftliche Annahme. 15 ,,(1) a system of symbols which act to (2) establish powerful, persuasive, and long-Iasting moods and motivations in men by (3) formulating conceptions of a general order of existence and (4) clothing these conceptions with such an aura of factuality that (5) the moods and motivations seem uniquely realistic", Geertz 1973. 90. 16 Vgl. L. Richter, C. H. Ratschow, Die Religion itl Geschichte und Gegetlwart V (1961') 968-984; W. L. King ER XII (1986) 282-292; K-H. Kohl HrwG I 217-262; Historisches Wörterbuch der Philosophie VIII (Basel 1992) 632-713; Bianchi 1995. 17 Saler 1993 gebraucht den Begriff der "Familienähnlichkeiten", d. h. ,mehr oder weniger' an Stelle von ja/nein'; er spricht von "a pool of elements that more or less tend to occur together in the best exemplars of the category", 225 vgl. 213. 18 Diels-Kranz 80 B 6. Auch fiir den Astronomen Ptolemaios, im Vorwort seiner Syntaxis (1,1). ist Theologie - im Kontrast zu seiner Wissenschaft durch "die absolute Unsichtbarkeit und Unbegreiflichkeit ihres Gegenstandes" charakterisiert. 19 Röm. I,I9f.; die traditionelle, lutherische Übersetzung "damit daß Gottes unsichtbares Wesen, das ist sein ewige Kraft und Gottheit, wird ersehen, so
218
Anmerkungen
man des wahrnimmt" verwischt das ,geistige Erfassen' (nooumena kathoratar). Vgl. Cic. Nat. Deor. 2,4f.; Min. Felix 17; Sapientia Salomonis 13,1-'7 (ein Text, den Paulus vielleicht kannte). In 1. Kor. 1,21 stellt Paulus fest, daß der Mensch normalerweise Gott nicht erkennt. Philon Leg. all. 1,38 meint, der Mensch wäre nie von sich aus auf Gott gekommen, wenn Gott menschliches Denken nicht zu sich emporgezogen hätte. 20 Vgl. Burkert 1995. 21 Diese Formulierung im 1. Brief des}ohannes 4,1; Paulus 1. Kor. 12,10; 14,13; 14,27f.: Zungenreden bedarf der ,Auslegung'. - ,Spiritismus' war eine Modeströmung besonders der Zwanzigetjahre dieses Jahrhunderts; viele ,Medien' traten auf, vgl. z. B. E. R. Dodds, Missing Persolls, Oxford 1977,98-111; sie verschwanden wieder mit der Mode; sie brachten keine Religion hervor. 22 Palladius, Historia Lausiaca 25,5. 23 "Kein Opfer wirkt ohne Gebet", Plin. Nat. Hist. 28,10. Vgl. bei Anm. 83 zum Ritual. Es gibt aber Grenzen der Sprache und Wirkung des Außersprachlichen in der Religion: Der Qoran darf nicht übersetzt werden, bleibt also rur türkische, persische, indische, indonesische Muslims unverständlich und ist doch absolute Autorität. Vor der Reformation fand die römische Kirche kaum Anlaß, die Bibel oder wenigstens die Evangelien in die Volkssprachen zu übersetzen. 24 "culturally patterned interaction with culturally postulated superhuman beings", so Spiro, zitiert bei C. Renfrew, 77le Archaeology of Cult, London 1985, 12. - Der Buddhismus ist im Prinzip atheistisch und gehört doch, zumal in der rituellen Praxis, zur ,Familie' der Religionen. 25 Zum ,sozialen Werkzeug' Sommer 1992,85-88; 111 f.; vgl. bei Anm. 91. 26 H. Popp, Die Einwirkutlg VOll Vorzeichen, Opfern und Festen auf die Kriegführung der Griechen im 5. und 4.}h. v. Chr., Diss. Erlangen 1957. - I Makkabäer 2,29-41; die Makkabäer selbst freilich entschieden sich, auch am Sabbath zu kämpfen; so setzten sie sich durch. 27 Senatus co/uultum de Bacchanalibus, CIL I' 581, Zeile 4. 28 Vgl. einerseits Psalm 1,1 mit der Warnung "zu sitzen, wo die Spötter sitzen" (in cathedra derisorum, so die Vulgata; das Problem des hebräischen Textes und der Septuaginta-Übersetzung ist hier nicht zu diskutieren), andererseits Apollonius von Tyana oder Petrus, die einen lachenden Jungen als ,besessen' bezeichnen und dem Exorzismus unterwerfen, Philostr. Vit.Apoll. 4,20; Actus Petri wm Simol1e II (Acta Apostolorum Apocrypha ed. Lipsius I p. 58 f.). Dies schließt nicht aus, daß Lachen und Unfug ihren umgrenzten Platz innnerhalb religiöser Systeme haben können. 29 Die Zeugnisse für Menschenopfer werden neuerdings kritischer als früher überprüft; zu den Phöniziern siehe Kap. II bei Anm. 76; zu den Azteken P. Hassler, Menschenopfer bei den Azteken?, Bern 1992; zum Altertum D. D. Hughes, Human Sacrijice in Andent Greece, London 1991; P. Bonnechere, Le sacrijice humain en Grece andeutle, Liege 1994. Andererseits besteht kein Zweifel, daß es ,Voodoo-Tod' und ähnliche Aktionen schwarzer Magie im Rahmen religiöser Symbolik gibt, mit durchaus realem Effekt: Das ,Opfer' stirbt ... 30 Vgl. Ehalt 1985.
Anmerkungen
21 9
31 Wilson 1915, vgl. Wilson 1978; Lumsden-Wilson 1981. 32 Vgl. z.B. F.M. A. Montagu, Man and Aggression, New York 1968;]. Rattner, Aggression und menschliche Natur, Freiburg 1970, 1971'; A. Plack, Hg., Der Mythos vom Aggressionstrieb, München 1973; Sevilla Statement on Violence, Middletown 1986 (vgl. de Waal 1989, 9). 33 Vgl. Sahlins 1976; Caplan 1978; Gregory-Silvers-Sutch 1978; Montagu 1980; Baldwin-Baldwin 1981; Lumsden-Wilson 1983, 23-50: "The Sociobiology Controversy." Vgl. auch Reynolds 1981; Fischer 1988; Fleming 1988; Slobodkin 1992, 36-39; Vowinckel 1995, 19-22. 34 Ditfurth 1976, 165-167. 35 T. Struhsaker, "Auditory communication among vervet monkeys (Cercopithecus aethiops)", in: S. A. Altmann, ed., Sodal communication among primates, Chicago 1967; Cheney-Seyfarth 1994, 141-151, 201-21 I. Zur Reaktion von Schimpansen auf Leoparden Wilson 1978, 83; Lurnsden-Wilson 1983, 96. Zum transkulturellen ,Wissen' über ,Leben' und ,Körper' Atran 1987; Johnson 1987. 36 Vgl. Kapitel VII bei Anm. I. 37 Gruppe 1921,243· 38 Lorenz 1963; sein Hauptbeispiel fUr Solidarität war das gemeinsame aggressive Schnattern eines Graugänse-Paars. Vgl. auch Eibl-Eibesfeldt 1984. 39 Burkert 19721I997· 40 Dawkins 1976. Zur Evolution der Kooperation siehe Kapitel VI. 41 W. Irons in Chagnon 1979, 258; vgl. Fleming 1988, IIQ-II3. II2 mit Bezug aufE. O. Wilson: "culture is shaped by biology." Der Begriff "inclusive fitness" (,Gesamtfitness') stammt von Hamilton 1964. 42 Vgl. Eigen 1987, 59f 43 "Fulguration" als Durchbruch in eine neUe Dimension ist ein von Lorenz geprägter Begriff, vgl. Lorenz 1973, 48-50. 44 Vgl. Reynolds 1981,71 f 45 Chagnon 1988. 46 Jahrhunderte lang hat man in Europa Diebe gehängt, ohne die Tendenz der Menschen zum Diebstahl zu verringern. Im übrigen pflegt man heutzutage auch in ,primitiven' Gesellschaften die Diskontinuitäten zu betonen. 47 Wilson 1978, 175, cf 169---93; Wilson ist religiösen Phänomenen allerdings nicht im Detail nachgegangen. 48 Insofern behält Platon Recht: "Der Mensch allein unter den Lebewesen hat den Glauben an Götter zum Brauch gemacht" (Prot. 322a). 49 Vgl. bei Anm. 7. 50 Vgl. Hamilton 1964, I: "no possibiliry of the evolution of any characters which are on average to the disadvantage of the individuals possessing them." 51 Ditfurth 1976, 45. 52 Lumsden-Wilson 1983, 20: "Memoirs most easily recalled, emotions they are most likely to evoke". 53 Lorenz 1963,259-264. 54 Siehe unten bei Anm. 116-122. 55 Rappaport 1984, 233, zeigt in seiner Studie über die ,Schweinefeste in Neuguinea' einen möglichen ökologischen Vorteil religiösen Rituals auf:
220
Anmerkungen
man läßt den Schweine-Bestand zunehmen, bis ihre Zahl zu einer Gefahr für die Umwelt würde; dann werden sie im großen Fest ,geopfert' und verspeist. Der religöse Brauch wird zum ,homöostatischen' Faktor. Leider kann ökologische Vorsicht keineswegs als allgemeines Charakteristikum der Religion erwiesen werden. In der frühbronzezeitlichen Kultur Maltas scheinen die großen Tempelbauten mit dem ökologischen Kollaps zusammenzugehen: C. Malone, A. Bonamo, T. Gonder, "The Death Cults of Prehistoric Malta", Scientijic American 269,6 (December 1993) 76-83, esp. 83; allgemein J. Diamond, "Ecological Collapses of Past Civilizations", Proceedings of the American Philosophical Society 138 (1994) 363-37°. 56 K. Marx, "Einleitung zur Kritik der HegeIschen Rechtsphilosophie", Deutschjranzösische Jahrbücher 1844, Marx-Engels- Werke I 378; vgl. Historisches Wörterbuch der Philosophie VIII 687. 57 Enge Beziehungen zwischen Religion und Drogen wurden und werden immer wieder angenommen. Man beachte aber, als sehr altes Beispiel, den Vedischen Soma-Kult: Die Texte lassen kaum einen Zweifel, daß Soma eine Droge gewesen sein muß (Fliegenpilz?); aber seit der Einwanderung der Indoarier in Indien vor mehr als 3000 Jahren ist die ,ursprüngliche' Droge durch absolut harmlose Pflanzen ersetzt - und doch wird das Ritual noch immer durchgeführt; eine Filmdokumentation entstand 1964, vgl. F. Staal, Agni, Berkeley 1983. Das Ritual sichert den Akteuren, in deren Familien es weitergegeben wird, den Brahmanen, einen ,Vorteil' an Prestige und Einfluß. Insofern hat innerhalb der Organisation eine besondere ,Fitness' den ,Opium-Effekt' ersetzt. 58 Bei Ziusudra, Atrahasis, Gilgamesh, Noah, Deukalion, Manu. Vgl. J. Rudhardt, "Le mythe grec relatif a l'instauration du sacrifice", in: J. R., Du mythe de la religion grecque et de la comprehension d'autrui, Genf 1981, 209-226; G. Caduff, Antike Siniflutsagen, Göttingen 1986; W. Burkert, "Katastrophe als Mythos", Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 52 (1995) 75-80. 59 Der genaue Text lautet: plures qjicimur quotiens metimur a vobis; semen est sanguis Christianorum, Tert. Apo!. 50,13. lustinus Dial. IIO,4 verwendet die Metapher vom Weinstock, der umso üppiger austreibt, wenn er beschnitten wird. 60 Johannes 12, 24. 61 ,inclusive fitness', Hamilton 1964. Kap. Il bei Anm. 55-57. 62 Vgl. Kap. IV bei Anm. 93/94. 63 ,Der grüne Heinrich' I Kap. 5. Vgl. Burk~rt 1972, 36. 64 R. W. Brednich, Mennonite Folklife and Folklore, Ottawa 1977. 65 bzw. weniger, sofern man an Gesundheitsrisiken glaubt, die mit dem Verzehr von Schweinefleisch zusammenhängen. Im Nahen Osten leben seit bald 1400 Jahren Muslims und schweinefleischessende Christen nebeneinander, ohne daß sich ein Ausleseeffekt eingestellt hat. 66 Vgl. Kapitel VII bei Anm. 51. 67 Grundlegend war M. Foucault, Histoire de la sexualite, Paris 1976-1984; vgl. D. M. Halperin, J. J. Winkler, F. E. Zeitlin, Before Sexuality. The Construction of Erotic Experience in the Ancient Creek World, Princeton 1989.
Anmerkungen
221
C. Levi-Strauss, Les structures eIementaires de 111 parente, Paris 1949. Vgl. Bischof 1985. Bischof 1985. Zu den Spekulationen um spontane Sprachentstehung, meist beeinflußt durch das ,Psammetich-Experiment' Hdt. 2,2, siehe. A. Borst, Der Turmbau von Babel, Stuttgart 1957/63, bes. I (1957) 99-101. 72 Die erfolgreichste Rekonstruktion einer verlorenen Sprache, ,Indogermanisch', führt vielleicht 2000 Jahre über die ältesten Zeugnisse zurück, d. h. bis ca. 5000/4000 v. Chr. Vgl. immerhin P. E. Ross, Spektrum der Wissenschcift 1991, 6, 92-101. 73 Inwieweit dies ,echte' Sprache ist, wird kontrovers bleiben; ihre Leistung ging und geht jedenfalls viel weiter als erwartet. V gl. Kapitel III bei Anm. 32. 74 Bar-Yosef - Vandermeersch 1993; R. White, "Bildhaftes Denken in der Eiszeit", Spektrum der Wissenschcift 1994,3, 62-69; "great leap forward" Diamond 1991,27-48, der eben das Aufkommen der Sprache für entscheidend hält. 75 Vgl. Dissanayake 1988. 76 Vgl. P. Mellars, "Archaeology and Modern Human Origins," Proc. Brit. Acad. 82 (1992) 1-35; Bar-Yosef - Vandermeersch 1993. 77 Sprachunfahigkeit des ,Neandertalers' suchte P. Lieberman zu erweisen, "On the Evolution ofHuman Language", Proceedings cifthe 7th International Congress cif Phonetic Sciences, Leiden 1972, 258-272; vgl. J. N. Spuhler, "Biology, speed and language", Annual Review cif Anthropology 6 (1977) 509-561; G. S. Kruntz, "Sapienization and Speech", Current Anthropology 21 (1980) 772-'792; weitere Diskussionen in Nature 338 (1989) 758-'760; Spektrum der Wissenschcift 1989,7, 34; Bickerton 1990, 176(; Spektrum der Wissenschaft 1991,6,100. Die Mehrheit der Anthropologen meint, daß Liebermans These nicht bewiesen ist. 78 Bar-Yosef - Vandermeersch 1993, 64: "biology cannot explain the cultural revolution that then ensued." 79 Zu Begriff und Funktion des Rituals Burkert 1972 und 1979; eine epikritische Studie zum Ritual-Begriff Bell 1992. 80 Vgl. Slobodkin 1992, 35; Otte 1993. 81 Vgl. auch Anm. II7. 82 Die Landschafts-Metapher bei Burkert 1979, 58, mit Bezug auf die Tradition von Mythos und Ritual: " ... dug those deep vales of human tradition in which even today the streams of our experience will tend to flow;" zuvor schon bei Friedman 1974, 34: "Evolution has dug the major channels through which the river of experience runs"; vgl. auch Frazer GB I XXVI die traditionelle Religion sei erbaut "on the sands of superstition rather than on the rock ofnature". 83 Hier werden keine Thesen über Gene oder Gehirnstruktur vorgetragen. Versuche in dieser Richtung: V. Turner, "Body, Brain, and Culture", in: id., On the Edge cif the Bush, Tucson 1988, 249-273. J. Jaynes, The Origin cif Consciousness and the Breakdown cif the Bicameral Mind, Boston 1976, hat sich gegenüber naturwissenschaftlichen Spezialisten nicht halten können. 84 Die lateinische Wiedergabe, animal rationale, faßt nur einen Teil des Begriffs logos. 85 Zur ,evolutionären Erkenntnistheorie' Lorenz 1973; Vollmer 1994. 68 69 70 71
zzz
Anmerkungen
86 VgI. Sommer 1992; Cheney-Seyfarth 1994,245-271. 87 Sommer 1992, 80; Dawkins 1994, 178. Sommer stellt fest, daß der Eindringling in der Regel die Alarmsignale übernimmt und die Aggression aufgibt. 88 Es gibt eine mögliche Vorform im Ritual, das, was Harrison als "action predone or re-done" bezeichnet hat, Epilegomena to the Study of Greek Religion, Cambridge 1921, XLIII. 89 Was dem Phönix zur sprichwörtlichen Dauer verhalf, ist ein sehr spezieller Komplex, das Paradox von Vernichtung und Neuentstehung, der Kreis von Tod und Wiedergeburt, verstärkt im Rahmen christlicher Theologie. 90 VgI. Burkert, "Elysion", Glotta 39 (1961) 208-213; eine mythische Person Unos entstand aus dem rituellen Ruf ailinon; populär ist die Hexe Bifana in Italien - dem Nikolaus vergleichbar -, deren Name vom Fest Epiphanias kommt; weitere Beispiele bei Burkert, Museum Helveticum 38 (1981) 203( 91 VgI. Burkert 1972, 89f.; oben bei Anm. 79-81. 92 VgI. z. B. G. R. Levy, T71e Gate ofHorn, London 1948, 22(; pI. 11 b. 93 VgI. W. Helck, Betrachtungen zur Grrj3en Göttin, München 1971. 94 Luhmann 1977· 95 Für Lord Gifford bedeutete "natural theology" (vgI. Vorwort bei Anm. I) "the knowledge of God, the Infinite, the All, the First and Only Cause, the One and the Sole Substance, the Sole Being, the Sole Reality, and the Sole Existence ... " . 96 "Gut zu denken" ist ein von Levi-Strauss geschaffener Begriff. Zur ganzen Problematik des religiösen Denkens Boyer 1994, vom Standpunkt der kognitiven Psychologie. 97 Wenn man formalisieren will: a:b wird zur Gleichung, x:a = a:b, vgI. Kapitel IV bei Anm. 107. 98 a > b wird zur Gleichung: a-x = b-y. VgI. Kapitel V. 99 VgI. Lorenz 1973; Vollmer 1994. 100 Richard Gordon, "Reality, evocation and boundary in the Mysteries of Mithras", Journal of Mithraic Studies 3 (1980) 19-99, hier 22, mit Bezug auf die Mithras-Mysterien. 101 VgI. Cic. Nat. deor. 2,5. 102 In diesem Sinn wurde ,Gott ist tot' als Voraussetzung der modernen Semiologie bezeichnet: M. Casalis, Semiotica 17 (1976) 35 ( 103 Ein solcher Versuch bei Gordon, Anm. 100. 104 Dawkins 1976 sprach von sich selbst generierenden ,Memen' analog zu den ,Genen,' einer Art Computer-Viren im Gehirn (?). Soll dies mehr als eine Metapher sein, müßte eine besondere Durchsetzungs-Energie bestimmter ,Merne', unter Verdrängung von anderen, aufgezeigt werden. In poetischer Sprache garantieren Resonanzen innerhalb des signifiant, wie Rhythmus, Assonanz und Reim die Stabilität des Textes, und musikalische Sequenzen ,gehen im Kopfherum' - doch ein ,Ohrwurm' ist nicht religiös. 105 L. L. Cavalli-Sforza et al., "Theory and Observation in Cultural Transmission", Science 218 (1982) 19-27. 106 Lorenz 1963, 23, vgI. Lorenz 1978, 95 ff.
Anmerkungen
223
Plat. Leg. 887de. Vgl. auch Kap. IV. Zu ,myth and ritual' Burkert 1979, 56-58. Diese Begriff wird entfaltet bei J. Assmann, Das kulturelle Cedächtnis, München 1992. I I I Durkheim 1912. 112 J. E. LeDoux, "Das Gedächtnis ftir Angst", Spektrum der Wissensch
76- 83.
113 Vgl. Lorenz 1963, 104-10T Die Graugans Martina hatte sich in angsterregender Situation angewöhnt, immer erst auf ein Fenster zuzulaufen und dann eine Treppe hochzusteigen; einmal, in Eile, wich sie "vom gewohnten Wege ab und wählte den kürzesten"; doch auf der ftinften Stufe machte sie mit allen Zeichen des Schreckens Halt, "kehrte um, stieg eilig die funf Stufen wieder hinab und durchlief eifrigen Schrittes, wie jemand, der eine sehr nötige Pflicht erfullt, den urspünglichen ... Umweg, bestieg die Treppe aufs neue, diesmal vorschriftsmäßig ... " Aus Angst ist ein Ritual als fixiertes Verhaltensschema entstanden; wird es verletzt, bricht Angst durch; man muß zum Ausgangspunkt zurück und das Ritual wiederholen: Jeder römische Pontifex hätte Martina zugestimmt. 114 Zur Beschneidung Kap. 11 bei Anm. 50/51; VII bei Anm. 51; Bloch 1986; vgl. Bischof 1985, 133 f.; vgl. auch Dowden 1989, 36. II5 HDA III 1141; E. v. Künßberg, "Rechtsbrauch und Kinderspiel. Untersuchungen zur deutschen Rechtskunde und Volkskunde", Sitzungsber. Heidelberg 1920,7. 116 Zur Initiation in Samothrake Burkert in: N. Marinatos, R. Hägg, Creek Sanctuaries. New Approaches, London 1993, 184f.; Im Altertum gab es wiederholt den Verdacht, daß geheime Kulte Menschenopfer, ja Kannibalismus praktizierten, vgl. A. Henrichs, "Pagan Ritual and the Alleged Crimes of the Early Christians", in: Kyriakon. Pestschrift Johannes Quasten, Münster 1970, 18-35; Kapitel VII Anm. 87. 117 Stat. Yheb. 3,661. 118 R. Borger, Die Inschriften Assarhaddons Königs von Assyrien, Osnabrück 1967, 9 § 7, cf. § 2 I, § I I u.a.m.; Sargon II. in: E. Ebeling, Die akkadische Cebetsserie ,Handerhebung,' Berlin 1952, 98 f. (Rs.3): "Diener, fUrchtend Deine (sc. des Gottes Adad) Gottheit." Vgl. Lambert 1960,104: "He who fears the gods is not slighted by anyone." 119 S. Parpola, Lettersfrom Assyrian and Babylonian Scholars, Helsinki 1993, ISS nr. 188 (672 B. C.), vgl. Lambert 1960, 104, Zeile 143 f. Isokrates Bus. 25 stimmt zu, obgleich eine Anspielung auf den ,atheistischen' Text des Kritias YrCP 43 F 19 mitzuschwingen scheint: "Denn von Anfang an sind diejenigen, die diese Furcht (vor dem Göttlichen) in uns bewirkt haben, Ursache geworden, daß wir uns nicht ganz wie Tiere gegeneinander verhalten." 120 Provo 1,7; dazu Psalm III,IO; Eccles. 12,13. 121 C. Austin, Nova Pragmenta Euripidea, Berlin 1968, nr. 81,48 = YrCP Adesp. 356; cf. Theognis 1179: "Ehre die Götter und fUrchte sie." - Koran Sure 2,40. Zum ,haaresträubenden' Schauer siehe bei Anm. 57. Man hat den Griechen die religiöse ,Furcht' abgesprochen, so Ruskin bei Harrison 1922,
224
Anmerkungen
1; allgemeiner B. Snell, Die Entdeckung des Geistes, Göttingen 1975', 30: "Überwindung des Grauens." Vgl. dagegen auch R. Pade!, In and Out of the Mind, Princeton 1992, 138-141. 122 R. R. Marett, The ThresllOld of Religion, London 19°9, 1929', 13: "Of all English words awe is, I think, the one that expresses the fundamental religious feeling most neatly"; vgl. HrwG I 455-471 S. v. Angst. Diskussion über Angst und Ritual auch bei Homans 1941; H. v. Stietencron, ed., Angst und Gewalt. Ihre Präsenz und ihre Bewältigung in den Religionen, Düsseldorf 1979. 123 R. Otto, Das Heilige, München 1917, Kapitel IV. 124 Vgl. Ditfurth 1976, 269: der sexuelle Partner ,verschwindet' in der Hungersituation. Freilich gibt es auch Arten und Situationen, wo die Fortpflanzung die Selbsterhaltung außer Kraft setzt: zeuge und stirb. 125 Alexander Marshack findet die Symbole des Tötens unter den ersten ,Notationen' des paläolithischen Menschen; er verbindet "time-factored death" mit den "cognitive beginnings" der Menschheit: Marshack 1972, bes. 235 ff. Im babylonischen Mythos muß das ,Meer' (Tiamat), die Ur-Mutter, getötet werden, damit eine stabile Welt aus ihrem Körper geschaffen wird, Enuma elish IV-VI, ANET67-69. Vgl. Kap. 11 bei Anm. 73; 85. 126 Vgl. Burkert, "Eracle e gli altri eroi culturali del Vicino Oriente", in: C. Bonnet, C. Jourdain-Annequin, ed., Heracles d'une rive I'autre de la Mediterramie, Bruxelles 1992, 111-127. 127 Aisch. Hik. 479. Vgl. Matth. 10,28; Lukas 12, 4f. 128 Hiemoymus Chron., praefatio: timor enim dei hominum timorem expellit. 129 Hierzu Burkert 1972197; vgl. Bloch 1992. 130 Vgl. auch die allgemeinere Formulierung von E. Becker, The Denial of Death, New York 1973, 3: "society everywhere is a living myth of the significance of human life, a defiant creation of meaning ... " 131 H. Huber in: H. J. Braun, K. Henking, ed., Homo religiosus, Zürich 1990, 158. 1]2 Paulus Rom. 9,26; II Kor. 3,3; 6,16 etc.; Matth. 16,16; 26,63 etc.; vgl. Bultmann und von Rad in ThWbNTII (1935) 833-877. 133 Joh. 14,19· 134 Dies kann philosophisch sublimiert werden zum Postulat der ,Zeitlosigkeit'; dies wird zum ,werttheoretischen Fundamentalsatz' bei O. Weininger, Geschlecht und Charakter (Wien 1903; Nachdruck München 1980) 168f.: "Der Wert ist also das Zeitlose."
a
11. Das Opfer der Verfolgten I Bericht von R. FrancilIon, Zaire 1962. 2 Sen. Nat. Quaest. 4,6f.; MaulwurfSblut oder Menstrualblut wird gegen Hagel eingesetzt nach Plut. Quaest. Conv. 700 e; vgl. das Opfer eines schwarzen Lamms gegen einen Wirbelsturm bei Aristophanes, Ran. 847f. mit Schal.; Opfer weißer Lämmer im Sturm, um die Dioskuren zu rufen, Horn. Hymn. 33,8-11. Agamemnon opfert Iphigeneia, um den Gegenwind zu stillen. Eine ,Priesterin der Winde' erscheint bereits im mykenischen Knossos, Burkert 1977, 86. Vgl. Kap. V bei Anm. 20.
Anmerkungen
225
3 Vgl. E. R. Dodds, Pagan and Christian in an Age of Anxiety, Cambridge 1965, 39-45; zur Chronologie A. Humbe!, Ailios Aristeides, Klage iiber Eleusis, Wien 1994, 45-52. 4 Aristid. Or. 48, 26-28; Burkert 1981, 123 f.; H. S. Versne!, "Polycrates and his Ring: Two Neglected Aspects", Studi Storico-Religiosi I (1977) 17-46; "Self-Sacrifice, Compensation and the Anonymous Gods", in: Le sacrifice dans I' antiquite. Entretiens sur I' antiquite classique 27, Vandoeuvres-Geneve 1981, 135-185, bes. 163fT. 5 Vgl. zur ,Votivreligion' Burkert 1994a, 19-21. 6 Paus. 8,34,1-3. In Se!inus gibt es ein Opfer erst für die ,schmutzigen' (miarol), dann für die ,reinen' (katharol) Tritopatreis, Jameson 1993, 29(; 61-64. Nach Ptolemaios Chennos (eine problematische Quelle) hat der Nemeische Löwe dem Herakles einen Finger abgebissen, ,und es gibt ein Grab des abgebisssenen Fingers', Phot. Bibi. 147a37-b2. 7 Ed. A. Hilka, Historia septem sapientium II, Heide!berg 1913. Vgl.J. G. Frazer, Apollodorus, The Library II, Loeb Classical Library 1921, 409-422; D. Page, The Homeric Odyssey, Oxford 1955, 8 f. 8 Frazer 1898, IV 355-357; vgl. GB IV 219; III 161; Levy 1948, 49; E. M. Loeb, "The Blood Sacrifice Complex" , Memoirs of the Anthropological Association 30, 1923; KHM nr. 25; EdM IV 1143 s. v. Finger. 9 Frazer 1898, IV 356. 10 Levy 1948, 93. 11 GB IV 219. 12 Pindar war anderer Meinung: "Wenn Eigentum geraubt wird, ist es besser tot zu sein als ein Feigling", Fr. 169a 16f. - die rationale Wahl wird vom heroischen Codex ausgeschaltet. 13 Vgl. Aesch. Ag. 1008-1016, als Gleichnis des klug~n Opfers, das die Katastrophe vermeidet. 14 Dedet tempestatebus aide mereto[d, Inschrift auf dem Sarkophag des L. Cornelius Scipio, CIL 19; R. Wachter, Altlateinische Inschriften, Bern 1987, 301-342. 15 Man könnte sich an Markus 14,5 I f erinnert fühlen: "Er aber ließ die Leinwand fahren und floh nackt von ihnen." 16 Kap. I Anm. 56. 17 Vgl. K. Lorenz bei H. v. Ditfurth, ed., Aspekte der Angst, Stuttgart 1965, 40; Baudy 1980, 10I-II8; zu psyche und daimon auch R. Pade!, In and Out of the Mind, Princeton 1992, 138-147; zu Geistererscheinungen Ditfurth 1976, 168; zum ,Kennen' von Habicht oder Leoparden Kap. I bei Anm. 38/39. 18 F. T. Elworthy, The Evil Eye, London 1895; S. Seligmann, Der böse Blick und Verwandtes, Berlin 1910; C. Maloney, ed., The Evil Eye, New York 1976, darin 279-285 B. Spooner, "Anthropology and the Evil Eye;" O. Koenig, Kultur und Verhalteniforschung, München 1970, 183-260, esp. 194-200: "Die Ritualisierung des Auges in der Ornamentik"; Burkert 1979, 73; Baudy 1980, 133 f.; A. Dundes, "Wet and Dry, the Evil Eye", in: V. J. Newall, ed., Folklore Studies in the XXth Century, 1989, 37-63; Rakoczy 1996. Zum Alten Orient E. Ebeling, "Beschwörungen gegen den Feind und den bösen Blick aus dem Zweistrornlande", Archiv orientalni 17 (1949) 172-211; M. L. Thomsen, "The Evil Eye in Mesopotarnia",]NES 51 (1992) 19-]2; zum Islam vgl. ER V 383 f.;
226
Anmerkungen
zur klassischen Antike O. Jahn, "Über den Aberglauben des bösen Blicks bei den Alten", Berichte der Sächsischen Gesellschaft der Wissenschqften, Phil.-hist. Cl. 7 (1855) 28-IIO, vgl. R. Schlesier, Kulte, Mythen und Gelehrte (Frankfurt 1994) 33-64; Plut. Q. Conll. 5,7, 680c-683 b; ein römisches Mosaik: CCCA III T. CVII nr. 210 (vgl. Harrison 1922, 196(), dazu T. CVI nr. 207; Phallos und böser Blick: Diod. 4,6,4; probaskania der Töpfer Aristophanes Fr. 607 KasselAustin; Herter RE XIX 1734(, vgl. auch Fehling 1974, 7-14; Burkert 1979, 39-41; zur Assoziation Auge/weiblich G. Devereux, "The Self-blinding of Oidipous in Sophokles: Oidipous Tyrannos", JHS 93 (1973) 36-49; zu den attischen Augenschalen N. Kunisch, "Die Augen der Augenschalen", AK 33 (1990) 20-27; siehe auch Faraone 1992,45-48; 58f. - Jäger haben besondere Bräuche, mit den Augen des erlegten Wilds zu verfahren, Meuli 1975,970(; wir schließen die Augen der Verstorbenen. 19 Platon Resp. 336d, Rakoczy 1996, 13-17; (Arist.) Prob I. 926b 21-31, Rakoczy 141-146. 20 Aristoph. Pax 279. 21 Shatapatha Brahmana, W. Doniger O'Flaherty, Hindu Myths, Harmondsworth 1975, p ( 22 Lambert 1960, 104 Z. 144. 23 Harrison 1922, esp. 8-10; vgl. R. Schlesier in HrwG 11 41-45. 24 Diese Regel gibt es im akkadischen, hethitischen, griechischen und römischen Ritual, z.B. Castellino 1977, 625; 674; 679; ANET 348 IV 3; Aesch. Cho. 96-99; Soph. OK 490; Ov. Fast. 6,164 (unten Anm. 72). 25 Liv. 8,6,1I: placuit allerruncandae deum irae IIictimas caedi. 26 Plut. Q. Rom. 284c; vgl. Wissowa 1912, 60; 420f. Im mykenischen Pylos werden, offenbar in einer Krisensituation, Personen und wertvolle Gaben ins Heiligtum ,gesandt' (Meto) - ist an ein Menschenopfer zu denken? PY Tn 3 16; A. Heubeck, Aus der Welt der jrühgriechischen Uneartafeln, Göttingen 1966, 100--103; S. Hiller, O. Panagl, Diefrnhgriechischen Texte aus mykenischer Zeit, Darmstadt 1976, 309; Hughes 1991, 199-202. 27 A. Aarne, Die magische Flucht, Helsinki 1930; vgl. Campbell 1949, 196-207; KHM 79. Der älteste Text mit dem Verfolgungs-Motiv scheint der sumerische Text ,Inanna und Enki' zu sein: Inanna bringt auf ihrem Schiff die göttlichen Beschlüsse (Me) von Eridu nach Uruk, verfolgt von den Boten Enkis, die ihr siebenmal entgegentreten; siehe Bottero-Kramer 1989, 230--256; das ,magische' Hinter-sich-Werfen kommt hier nicht vor. 28 Meuli 1975, 847; 868; 873; 878. Vgl. Kap. III bei Anm. 41. 29 Pomponius Mela 3,43; RE VI A 951. 30 Vergleichbar ist die Geschichte, wie man den goldgrabenden Ameisen in Indien ihr Gold raubt, Hdt. 3,102-105; Megasthenes FGrHist 715 F 23. 3 I Vgl. Burkert 1979,41-43; Kap. VII bei Anm. 37-40. 32 ApolIod. Bibi. 1,133. 33 Aristoph. Ach. 350f., Eq. 1057, All. 66, Ran. 479-493; vgl. auch Iuvenal 14, 199· 34 Aratos von Sikyon, Plut. Amt. 29,7f. 35 "Sie ließen ihren Kot in die Wagen fallen", Sanherib über die fliehenden Gegner in der Schlacht von Halule, Luckenbill 1927 § 254, II 128. Bei der
Anmerkungen
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Siegesparade in Moskau 1945 wurden deutsche Gefangene mitgeführt, die man auf Durchfall präpariert hatte. 36 Lumsden-Wilson 1983, 96; De Waal 1982, 57f.; Goodall 1990, 63 f. 37 HDA III II78-II80 s. v. grumus merdae. Siehe auch A. Lorenz, Wenn der Vater mit dem Sohne ... , München 1978, 150-153. 38 PGM IV 1402. VgI. Hippokr. Morb. Sacr. I, VI 360f. Littre: Exkremente zeigen Hekate Enodia an. 39 Ael. Nat. An. 6,34, aus Sostratos, vgI. Schol. Nik. Ther. 565; Aesopica 118 Perry. 40 Terminologie nach Dawkins 1976, 49ff. 41 VgI. Burkert 1979, 104f.; Kap. VII bei Anm. 51. Modeme Erklärungsversuche: Angleichung an die ,Mutter', FarneIl 189611909 III 300f.; sexuelle Askese, A. D. Nock, ARW 23 (1925) 25-33 = Nock 1972, 7-15; Befruchtung der Mutter Erde, Cook 1914/40 I 394-396; R. Pettazzoni, I Misteri, Bologna 1924, 105ff.; H. Herter, Gnomon 17 (1941) 322f. Arrian spricht von einer ,gottgesandten Krankheit', FGrHist 156 F 80; das Irrationale d~~ Aktes bringt Catull 63 genial zum Ausdruck. 42 Erra-Epos 4,56, Dalley 1989, 305. 43 Hellanikos FGrHist 4 F 178 (Atossa); Anm. Marc. 14,6,17 (Semiramis); Claudian. In Eutrop. 1,339-345. ·44 Luc. Dea Syr. 19-26, vgl. M. Hörig, Dea Syria, Neukirchen-Vluyn 1979; ead., "Dea Syria-Atargatis", ANRWII 17,3 (1984) 1536-1581. 45 Dargestellt im Film Der letzte Kaiser von Bertolucci; vgI. T. Mitamura, Chinese Eunuchs, Tokio 1970. 46 Die Göttin hieß in Bambyke, soweit wir sehen, Atargatis. Kybebos erscheint als Name der Meter-Priester bei Semonides Fr. 36 West. Kombabos hat allerdings auch an Humbaba erinnert, den Herrn des Zedernwaldes, den Gilgamesh bezwingt, vgI. Kap. III Anm. 22. 47 Spezies callithrix jacclms, Bischof 1985, 316-JI9. 48 Luc. Dea Syr. 5I. 49 Ex. 4,24-26, übers. Kautzsch, vgI. seine Erklärung. 50 Vgl. u.a. Noth 1962, 49f.; Childs 1974, 95-101; Bloch 1992,93: "to submit to the conquest of God . .. to cooperate with His apparently murderous intentions." Die Septuaginta-Übersetzung hat die Worte der Mutter in einen Blutstill-Zauber umgewandelt: "Stehen geblieben ist das Blut der Beschneidung meines Kindes." 51 Vergleichbar ist der Bericht und die Interpretation der Beschneidung von den Fidschi-Inseln bei A. M. Hocart, Kingship, London 1927, 136: "The operation is said to be perforrned as a sacrifice to the recently dead"; das einheimische Wort für die Beschneidung werde auch "used of a human victim buried with a chief, of a little finger cut off at his death, of funeral gifts, and finally of the people who stay in the house for a time after death" (als ob sie den Toten gehörten). Zu modemen Beobachtungen im Bereich der Beschneidung, Bloch 1986. 52 Ch. Belger, BphW 12 (1896) 640; Hitzig-Blümner 189511910, III 236 zu Paus. 8,34,1-3; oben Anm. 6. 53 RML V 317f. cf. 324; H. Herter, De Priapo, Giessen 1932, 193; die Benennung dieser Statuetten als Telesphoros ist allerdings nicht gesichert.
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Anmerkungen
54 Arnob. 5,14· 55 Johannes 11,50; vgl. Markus 10,45: Jesus gibt "sein Leben zur Bezahlung rur viele"; J. N. Bremmer, "The Atonement in the Interaction of Greeks, Jews, and Christians", in: J. N. Bremmer, F. Garcia Martinez, ed., Sacred History and Sacred Texts in Early Judaism, Kampen 1992,75-93. 56 In sekundärer Verwendung, doch in rituellem Kontext erscheint der Satz bei Sophokles, OK 498 f: "Es genügt, meine ich, wenn eine Seele für ungezählte diese Sühne zahlt, wenn sie mit gutem Sinn zugegen ist" - es geht um ein Libationsopfer für die Eumeniden am Kolonos. 57 Enuma elish 6,14; ANET68; Dalley 1989, 261. 58 Vgl. Anm. 13. 59 Vgl. L. Röhrich, "Die Volksballade von ,Herrn Peters Seefahrt' und die Menschenopfer-Sagen in Märchen, Mythos, Dichtung", in: Festschrift F. von der Leyen, München 1963, 177-212. 60 Verg. Aen. 5,815; 835-871. . 61 Procilius bei Varro Ling. Lat. 5,148 = HRR 1313 (dehisse terram); Liv. 7,6,1-6 (vorago; donaque ac jruges Stlper eum a multitudine virorum ac mulierum congestas); Hülsen RE IV 1892 f; römische Ritter werfen stipes in diesen ,See' am Geburtstag des Augustus, Suet. Aug. 57. Auch an anderen Orten wirft man stipes ins Wasser, z. B. Plin. ep. 8,8,2. 62 Oben Anm. 2. 63 LSS II5,5--'7 (§ I). 64 G. Graber, Sagen und Märchen aus Kärnten, Graz 1944, 85; W. Kohlhaas, Das war Württemberg, Stuttgart 1978, 21; D. Sabean, "Das Bullenopfer",Journaljür Geschichte 1985,1, 20-25. 65 Theodor Storm, Der Schimmelreiter; vgl. HDA I 963. 66 Verwiesen sei auf Burkert 1979, 59--'77; J. Bremmer, "Scapegoat Rituals in Ancient Greece", Harvard Studies in Classical Philology 87 (1983) 299-320. 67 Grundtext ist Jesaja 53, auf die PassionJesu gedeutet seit Apg. 8,30ff. 68 In origineller Weise hat Rene Girard hieraus eine Theorie des Opfers und des kollektiven Denkens überhaupt entwickelt (Girard 1972 und 1982; vgl. Burkert 1987a). Gegenüber der Konkurrenz-Situation und dem ,mimetischen Verlangen', das Girard als eigentliches Agens einfuhrt, scheinen mir die Angstsiruation und das passive ,Hingeben' die deutlicheren und wohl ursprünglicheren Gegebenheiten zu sein. 69 Lev. 16; Burkert 1979, 64; vgl.Janowski-Wilhelm 1993. 70 O. Eissfeldt, Kleine Schriften III, Tübingen 1966, 85-93; Janowski-Wilhelm 1993, 119f Der Name Azazel ist unerklärt. 71 Meissner 1920, 222; Furlani 1941, 285-305. Zum Begriff des ,Ersatzes' (puhu) AHw 877f 72 Ov. Fast. 6,131-168, bes. 158-167, vgl. Burkert 1992a, 58f.; eine griechische Fassung des Abwehrzaubers: PMG 859 Page; eine hethitische Parallele bei H. Kronasser, Die Sprache 7 (1961) 140-167; V. Haas, Orientalia 40 (1971) 410-430; H. S. Versnel, Zeitschrift jür Papyrologie und Epigraphik 58 (1985) 266-268. 73 Ovids Formulierung hat ein merkwürdiges Vorbild bei Verg. Aen. 5,483 f Der Faustkämpfer Entellus tötet mit einem Boxschlag, statt seinen Gegner
Anmerkungen
ZZ9
Dares, einen Stier, mit den Worten: hanc tibi, Eryx, meliorem animam pro morte Daretis persolvo. - An das Ersatzopfer eines Bocks Hir Isaak den Sohn, Gen. 22, ist zu erinnern. 74 M. Leglay, Saturne ajricain, Paris 1966. 75 Lev. 18,2I; II Reg. 23,10; c( HAL 560. 76 Diod. 20,14,4--7. Zu den phönikisch-karthagischen Menschenopfern Plat. Minos 3 15bc; Demon FGrHist 327 F 18 (Sardinien); Theophrast bei Porph. abst. 2,27,2; Diod. 13,86 und 5,66,5; Dion. Hal. ant. 1,38,2-3; Porph. abst. 2,56; Philon Bybl. FGrHist 790 F 3 b = Euseb. P.E. 4,16,11. Es gab gesetzliche Gegenmaßnahmen durch Dareios (lustin 19,1,10), Gelon (Theophrast Fr. 586 Fortenbaugh = Schol. Pind. Pyth. 2,2; Plut. Reg. et imp. apophth. 175 a, De Sera 552 a), schließlich durch Tiberius (Tert. Apol. 9,2). Vgl. Hughes 1991, II5-130. Rituelle Kinderbeisetzungen, ,Tophets' fanden sich in Karthago, in Motye-Mozia, in Sardinien: L. E. Stager, Oriental Institute, Annual Report 1978/9,56-59; A. Ciasca," Sul ,tofet' di Mozia", Sicilia Archeologica 14, 1971, II-16; R. Pauli, Sardinien, Köln 1978, 134-139. Demgegenüber vertritt S. Moscati die These, die in den ,Tophets' bestatteten Kinder seien eines natürlichen Todes gestorben, das Menschenopfer sei griechische Verleumdung: S. Moscati, "Il sacrifico punico dei fanciulli: Realta 0 invenzione?", Quaderni deli' Accademia Nazionale dei Lincei 261, Rome 1987; S. Moscati, S. Ribichini, "Il sacrificio dei bambini: Un aggiornamento", Quaderni deli' Accademia Nazionale dei Lincei 388, Rome 1991; S. Moscati, Gli adoratori di Moloch. Indagine su un celebre rito Cartaginese, Milano 1991. 77 FGrHist 790 F 3 b. Vgl. Plutarch über ein Menschenopfer in Rom, Anm. 26. 78 AT Lev. 17,11, übers. Kautzsch - anti tes psyches in der Septuaginta. 79 Aristid. or. 48,44; 51,19-25; Burkert 1981, 122( 80 Hdt. 7,114; J. de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte, Berlin 1957', 421; Elisabeth Bathory, Prozeß 161 I, Burkert 1981, 122. 81 Caesar, b.Gall. 6,16. 82 Cass. Dio 59,8,3; Suet. Calig. 14,2; 27,2. 83 Aur. Victor Caes. 14,8; vgl. Cass. Dio 69,II,3. Nach Lehre der ,Ägypter' kann Aussatz durch Bad in Menschenblut geheilt werden, Plin. n. h. 26,8, ein Motiv, das dann in die Konstantins-Legende und in die Geschichte vom ,Armen Heinrich' eingegangen ist; W. Schwenn, Die Menschenopfer bei der! Griechen und Römern, Gießen 1915, 190; EdM 1456; 1037; VI 53 I f. 84 Inannas Weg in die Unterwelt 277; 284-288, Bottero-Kramer 1989, 286( 85 Vgl. Bloch 1992. Siehe auch Faraone 1992, 47 über die Rolle von TierTrophäen als Amulette; sie scheinen zu besagen: "Seht, was wir diesen mächtigen, ungeheuren Tieren angetan haben ... "
1II. Handlungsprogramm und Erzählstruktur 1 Schapp (1884-1965) 1953; zwei weitere Bände folgten: Philosophie der Geschichten, Leer 1959; Frankfurt 1981'; Wissen in Geschichten, Wiesbaden 1965, 1976'. . 2 Tractatus logico-philosophicus 1. 1.
2JO
Anmerkungen
3 Vor allem durch F. G. Heyne; siehe Burkert 1980 and 1993; F. Graf, Griechische Mythologie, München 1991', 15-38. 4]. und W. Grimm, KHM 1812115; Deutsche Sagen, Berlin 1816118; ]. Grimm, Deutsche Mythologie I-III, Berlin 1876'. 5]. A. MacCullock, 1. H. Gray, Mythology cfAll Races I-XIII, New York 1922. 6 VgL Kirk 1970. 7 Ein Definitionsversuch als ,angewandte Erzählung': Burkert 1979 und Burkert 1993. 8 Aarne-Thompson 1964; Erstausgabe: A. Aarne, Verzeichnis der Märchentypen, Helsinki 191 I. 9 VgL Burkert 1979, bes. 10-14, auch zur Diskussion des Strukturalismus. 10 V. Propp, Moifologija skaski [Morphologie der Erzählung], Leningrad 1928, englisch: Morphology cf the Folktale, Bloornington 1958; deutsch 1972, 1975'; vgL Dundes 1964; Jason 1984; Milne 1988. 11 Insbesondere hat A. J. Greimas, "Elements d'une grammaire narrative", in: Du Sens, Paris 1970, 157-183, Propps Schema als Modell von ,Je reeit' überhaupt verwendet. 12 Dundes 1964; vgl. Anm. I I zu Greimas. 13 Isidor Levin EdM 1135. A. N. Manas'ev (1826-1871), Narodnye nlsskie skaski, Moskau 1855/63, 1873'. 14 Propps ,Funktionen' 23-28 - der unbekannte Held im eigenen Haus, die Probe, Erkennung und Bestrafung - orientieren sich ganz offenbar an der Homerischen Odyssee. Volkskundliche Parallelen zur Odyssee hat man seit W. Grimm gesammelt: "Die Sage von Polyphem", Abh. Berlin 1857, vgL Burkert 1979, 33; Kap. II bei Anm. 7. 15 Ausführliche Behandlung durch E. S. Hartland, The Legend cf Perseus. A Study in the Tradition in Story, Custom, and BeliifI-III, London 1894/96. VgL auch unten bei Anm. 86. 16 Siehe J. Boardman et al., LIMC s. v. Herakles (1990/92); vgl. Burkert 1979, 83-85; 1991; C. Jourdain-Annequin, Hemdes aux portes du soir, Besan'Yon 1989; C. Bonnet, D. Jourdain-Annequin, ed., Herades d'une rive cl I'autre de la Mediterranee, Brüssel 1992; D. Jourdain-Annequin, C. Bonnet, ed., Herades. Lesfemmes et lejeminin, Brüssel 1996. 17 Burkert 1979, 83-85; wichtig eine neugefundene Geryoneus-Darstellung des 7.Jh.: Ph. Brize, MDAI(Athen) 100 (1985) 53-90; Schefold 1993,107-109. 18 Argo pasi melousa, Od.12,70; vgL P. Dräger, Argo Pasimelousa, Stuttgart 1993. 19 Meuli 1975, 594-610 (urspr.: Odyssee und Argonautika, Diss. Basel 1921, 2-24); er erkannte den Typ ,Helfermärchen', Aarne-Thompson 1964, 180-182 nr. 513. 20 Kap. II bei Anm. 32. 21 VgL G. Crane, Calpyso: Backgrounds and conventions cf the Odyssey, Frankfurt 1988. 2:1 D. O. Edzard, "Gilgames und Huwawa," Zeitschriftfür Assyriologie 80 (1990) 165-203; 81 (1991) 165-233; der sumerische Text ist vollständiger erhalten als die Bearbeitung im Gilgamesh-Epos, Tafel V. 23 Traditionell Lugal-e betitelt; siehe]. van Dijk, LUGAL UD ME-LAM-bi NIR-GAL I, Leiden 1983; Bottero-Kramer 1989, 339-377. Hier bestehen
Attmerkungen
23 1
für die Spezialisten noch viele ungelöste Text- und Interpretationsprobleme ... 24 Vgl. W. Burkert, "Eracle e gli altri eroi culturali del Vicino Oriente", in: C. Bonnet, C. Jourdain-Annequin, ed., Heracles d'une rive l'autre de la Mediterranee, Brüssel 1992, I I 1-127. 25 Bottero-Kramer 1989, 276-300 (sumerische Versionen); der weit kürzere akkadische Text: ANET 106-109; Dalley 1989, 154-162; Bottero-Kramer 1989, 318-330. Vgl. W. Burkert, "Literarische Texte und funktionaler Mythos. IStar und Atrahasis", in: J. Assmann, W. Burkert, F. Stolz, Funktionen und Leistungen des Mythos, Freiburg 1982, 63-82. 26 Die akkadische Version nennt den asinnu, eine besondere Priesterklasse. 27 Siehe Kap. 11 bei Anm. 84. 28 Gilgamesh IX-XI; ANET 88-97; Dalley 1989, 95-120. - Der schließliche Fehlschlag der abenteuerlichen Suche ist eine effektvolle Option, die oft genutzt wird, nicht zuletzt in Filmen. Eine andere originelle Umkehrung erfand L. R. R. Tolkien, The Lord of the Rings, London 1954/5: Statt ein magisches Objekt zu gewinnen, gilt es ein Mittel der Macht definitiv loszuwerden. 29 Arist. Poet. 1450a 38. 30 Burkert 1979, 15· 31 Burkert 1979, 16. Vgl. Gans 1981, 98-107; 99: .. the imperative is not a ,defective' form of the declarative but its ancestor ... " 32 Sullivan et al. 1982, 410. Originalaufzeichnung: "George: What you want? Washoe: Orange, orange. George: No more orange, what you want? Washoe: Orange. George (getting angry) No more orange, what you want? Washoe: You go car gimme orange. Hurry." Ich danke Professor Fouts, daß er mir diese Publikation zugänglich machte. Zur ,Sprache' der Schimpansen siehe Fouts-Budd 1979; Bickerton 1990, 106-IIO; Wrangharn 1994, 319-334; Kap. I bei Anm. 77. 33 Bickerton 1990, 122-126; hier II6: "applesauce buy store." 34 Man kann einwenden, daß diese Zeichensprache nicht von den Schimpansen selbst erfunden ist. Doch geht es nicht um die Ursprungsfrage, sondern um die Anwendung des verfugbar gewordenen Werkzeugs. 35 Vgl. hierzu M. Lüthi, Die Gabe im Märchen und in der Sage, Diss. Bern 1943. 36 Horn. Od. 10,277-3°7, im Rahmen einer Mustererzählung Propp'scher Art: Am Anfang der ,Verlust' der Kameraden (8), der Entschluß des Odysseus zum Auszug (9/rO); Verlassen der Basis (II), Begegnung mit Hermes (12), das pharmakon (14); Odysseus gelangt zum gewünschten Ort (15), besteht die Probe (16/i8), der Verlust wird behoben (19), und Odysseus besteigt das Bett der Kirke (3 I) . 37 Horn. Od. 13,221; 352. 38 Morris 1967, 202-206 spricht vom ,grooming talk', indem er Sprechen als soziale Geste mit der sozialen Fellpflege der Primaten vergleicht. 39 Zur Bedeutung der Jagd für die Entwicklung von Körper, Verhalten, Familienstruktur, Waffengebrauch und religiösem Opfer genüge hier der Verweis aufMorris 1967; Lee-DeVore 1968; Burkert 1972; 1987a. 40 K. Hoffmann, Der Injunktiv im Veda, Heidelberg 1967; er spricht von "erwähnendem", .. memorativem" Gebrauch, von "erwähnender Beschrei-
a
232
Anmerkungen
bung". Vgl. auch M. L. West, "Injunctive Usage in Greek", Glotta 67 (1989) 135-138. Zu den Anfängen von Sprache überhaupt vgl. Kap. I mit Anm. 76. 41 So H. M. Chadwick, N. K. Chadwick, The Growth oj Literature III, Cambridge 1940, 192-226. Vgl. K. Meuli, "Scythica", in: Meuli 1975, 817-879 (urspr. 1935); Burkert 1979, 88-<)4· 42 Pind. Pyth. 4,159; lason tritt als ,Heiler' des Phineus auf, siehe das Vasenbild bei Schefold 1993, 267 Abb. 287. 43 Siehe bei Anm. 25. 44 Zu Mythos und Ritual Burkert 1972, 39-45; Burkert 1993. Doch gehorchen Mythos und Ritual verschiedenen Gesetzen: Der Sinn der Erzählung hängt an ihrer einheidichen Struktur, vom Anfang bis zum Ende; man kann eine Erzählung nicht unvollendet lassen, ,ohne Kopf, wie die Alten sagten (plato Leg. 752a). In der Ritualhancllung können Einzelteile isoliert und darum auch vielfach wiederholt werden. 45 ,Deceit-deception' setzt Dundes 1964 als besonderen Erzähltyp an, schon in urtümlichen Gesellschaften. Solche Geschichten appellieren an die Intelligenz. Auch ,Lüge' ist allerdings kein Reservat des Menschen, vgl. Sommer 1992. 46 Aarne-Thompson 1964 nr. 425; Apul. Met. 4,28-6,24; J. Oe. Swahn, The Tale ojCupid and Psyche, Lund 1955 (mit Sammlung der Varianten); dagegen, rur eine rein literarische Ausbreitung, D. Fehling, "Amor und Psyche", Abh. Mainz 1977,9; vgl. auch R. Merkelbach, Roman und Mysterium, München 1962, I-53; Binder-Merkelbach 1968; D. Fehling, "Die alten Literaturen als Quelle der neuzeidichen Märchen", in Siegmund 1984, 79-<)2; J. Oe. Swahn, "Psychemythos und Psychemärchen", ib. 92-102. 47 Zu Fehling siehe Anm. 46; zu KHM H. Rölleke, Die älteste Märchensammlung der Brüder Grimm, Genf 1975; Rölleke in Siegmund 1984,125-137. 48 Das Material bei R. Förster, Der Raub und die Rückkehr der Persephone in ihrer Bedeutungfür die Mythologie, Litteratur- und Kunstgeschichte, Stuttgart 1874; dazu Richardson 1974, 74-86; Burkert 1979, 138-140. Dowden 1989 hat den Persephone-Mythos nicht aufgenommen. Den Initiationsaspekt betont Lincoln 1981, 71-<)0. 49 Burkert 1979, 6(; Dowden 1989. Vgl. J. Bremmer, Roman Myth and Mythography, London 1987, 27-30. 50 Dan 1977= "An attempt at the surface level of the narrative structure of the female fairy tale." SI So, aus psychoanalytischer Sicht, O. Rank, Der Mythos von der Geburt des Helden, Wien 1909. 52 Hier werden nur die maßgebenden Quellen und neuere Studien genannt; auf die LIMC-Artikel sei generell verwiesen. Danae: Hes. Fr. 135; vgl. Anm.15· 53 Hes. Fr. 165, wo ,Telephos Arkasides' einen kleinasiatischen Vatersnamen Arkasos voraussetzt, der sekundär mit ,Arkadien' assoziiert wurde; die ,Mädchentragödie' stellt dann die Verbindung Arkadien-Kleinasien her: Euripides Auge. 54 Burkert 1983, 161-168; Dowden 1989, II7-146. 55 Dowden 1989, 182-191.
Anmerkungen
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56 Euripides Melanippe und Antiope; Burkert 1979, 6. 57 Popol VuIJ. The Maya Book ~ tIJe Dawn ~ Life, trans!. D. Tedlock, New York 1985, II4-I20; vg!. Burkert 1979, 147 n. 19. 58 ANET 119; zu enetu = Hohe Priesterin AHw 220 s. v. entu; zur geforderten Kinderlosigkeit der entu Atrahasis III vii 6f., p.I02f. Lambert-Millard; Dalley 1989, 35. Der erhaltene Text, offenbar ein kurzer Schultext, ist viele Jahrhunderte jünger als der historische Sargon I. 59 Binder 1964. 60 Moses: Ex. 2; Rhea Silvia: Liv. 1,4 vgl. Ennius, Ann. 35-51 Vahlen = Fr. I XXIX Skutsch. 61 KHM 12, nach MlIe. de la Force, Persinette, 1698, siehe M. Lüthi, Volksmärchen und Volkssage, Bem (1961') 1975',62-96, 187-190. 62 KHM 53. 63 S. Hirsch, Das Lied "Een ridder ende een meysken ionck", Zeitschrift für deutsche Philologie 79 (1960) 155ff. 64 Vg!. L. Koenen, "Eine Hypothesis zur Auge des Euripides", Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 4 (1969) 7-18, bes. 14-18 zum Zusammenhang mit dem Fest Plynteria. Nausikaa, die zum Waschen fährt, ist erfüllt vom Gedanken an die bevorstehende Hochzeit. 65 Hierzu Bischof 1985 pass. 66 Eine immer noch brauchbare Materialsammlung: CB X 22-100. 67]. Harrison, Mythology and Monuments ~ Ancient Athens, London 1890, XXVI-XXXVI, vg!. unten bei Anm. 72; A. BreIich, Paides e Parthenoi, Rome 1969; Burkert 1979, 6f.; Brule 1987; Dowden 1989. 68 Villa dei misteri: H. Jeanmaire in Binder-Merkelbach 1968, 313-333; 0.]. Brendel, "Der große Fries in der Villa dei Misteri" ,Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts 81 (1966) 206-260; Merkelbach 1962 (0. Anm. 46) und: Isis Regina - Zeus Sarapis, Leipzig 1995, 451-484 behandelt Amor and Psyche als Schlüsseltext für die Isismysterien; vg!. Burkert 1994 a, 80f. 69 A. van Gennep, Les rites de passage, Paris 1909. 70 S. L. La Fontaine, "Ritualization ofWomen's Life Crises in Bugisu", in]. S. La Fontaine, ed., The Interpretation ~ Ritual, London 1972, 159-186; vgl. auch den kurzen Bericht über Yaos (in Afrika) in: Anthropos 30 (1935) 875; vg!. Burkert 1979, 16. 71 Das Extrem ist die Mädchen-Beschneidung, die mit Grund heutzutage heftig bekämpft wird. 72 Hierzu W. Burkert, "Kekropidensage und Arrhephoria", Hermes 94 (1966) 1-25 = Burkert 1990, 40-59; K. Jeppesen, AJA 83 (1979) 381-394; L. van Sichelen, "Nouvelles orientations dans I' etude de l' arrephorie antique", L'Antiquite Classique 56 (1987) 88-102 (kritisch zur Initiations-Perspektive); Brule 1987, II-175 (Interpretation als Initiation); ganz anders N. Robertson, "The Riddle of the Arrhephoria at Athens", Harvard Studies in Classical Philology 87 (1983) 241-288. 73 L. Kahil, "L' Artemis de Brauron: Rites et mystere", Antike Kunst 20 (1977) 86-98, und in: W. G. Moon, ed., Ancimt Creek Art and Iconography, Madison 1983, 231-244; Brule 1987, 177-283; R. Harnilton, "Alkman and the Athenian Arkteia", Hesperia 58 (1989) 449-472; Chr. Sourvinou-Inwood, Studies
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Anmerkungen
in Girls' Transitions, Athen 1988; Dowden 1989, 25-33. Das Material aus Brauron ist noch immer nicht vollständig publiziert. 74 Man kann den arkadischen Mythos von Kallisto der Bärin (0. Anm. 55) in Parallele zu Brauron setzen, ohne Stütze in der Überlieferung. Eine Erzählung läßt Mädchen bei Brauron durch Pelasgische Seeräuber entführt und dann durch Hymenaios, die personifizierte ,Hochzeit', gerettet werden, Schol. A fl. 18,493; Eustath. 1157,20; Proklos, Chrestom. in Phot. Bibi. 321a 22. Der geläufige Kultmythos spricht von einem Bären der Artemis, der von attischen Jünglingen getötet wurde, was durch Mädchenopfer zu sühnen blieb: W. Sale, "The Temple Legends of the Arkteia", Rheinisches Museum rr8 (1975) 265-284. Gewänder-Opfer in Brauron, wenn Frauen im Kindbett starben: Eur. Iph. Taur. 1464-1467. 75 Eur. a. 0.; C. Wolff, "Euripides' Iphigenia among the Taurians: Aetiology, Ritual, and Myth", Classical Antiquity II (1992) 307-334. Mykenisch I-peme-de-ja (statt des zu erwartenden w-Anlauts) stellt ein etymologisches Problem, das hier nicht zu diskutieren ist. 76 Vgl. Seaford 1994, 281-293. Das Mädchenopfer der Lokrer für Athena von Ilion galt im Altertum als Ersatzopfer für das, was Aiax der Lokrer Kassandra angetan hatte; moderne Interpreten finden Initiationsmotive: Hughes 1991, 166-184; kritisch Bonnechere 1994, 15°-163. 77 Richter II, 30-40. 78 Eur. Hippol. 1425-143°; U. v. Wilamowitz-Moellendorff, Griechische Tragödien 1'0, Berlin 1926, 100-104 sah in diesem Kult den ,Ursprung' des Hippolytos-Mythos. 79 Vgl. C. Koch RE VIllA 1732-1753; siehe auch Kap. 11 bei Anm. 26. 80 Es gibt den Mythos von der Jungfrau Ocresia, Mutter des Königs Servius Tullius, die vom Herdfeuer schwanger wurde; Rhea Silvia, die Mutter von Romulus und Remus, gilt als Vestalin, o. Anm. 60. Zu mesopotamischen Priesterinnen o. Anm. 58. 81 Plat. Gorg. 574b; Resp. 350e; Tht. 176b. 82 Zur griechischen ,phallocracy' E. Keuls, The Reign iifthe Phallus, Berkeley 1985. 83 Hierzu R. D. Griffith,}ournal iif Hellenic Studies 189 (1989) 171-173; Krummen 1990, 168-204. 84 Der Referenztext ist Ephoros FGrHist 70 F 149; dazu K. Dover, Greek Homosexuality, New York 1978, 189f.; H. Patzer, Die griechische Knabenliebe, Wiesbaden 1982. 85 Hes. Fr. 87, Akusilaos FGrHist 2 F 22; Bronzerelief von Olympia, 7. Jh., Schefold 1993, 122; E. Laufer, Kaineus, Rom 1985; LIMC V s.v. 86 Der Perseusmythos war in Mykene direkt mit einern Initiationsritual verbunden: M. H. Jameson, "Perseus, the hero of Mykenai", in: R. Hägg, G. C. Nordquist, ed., Celebrations iif Death and Dillinity in the Bronze Age Argolid, Stockholm 1990, 213-222. 87 V. Propp, Istoriceskije komi volsebnoj skaski, Leningrad 1946; übersetzt: Le radici storiche dei racconti di Jate, Torino 1949, 1972'; Die historischen Wurzeln des Zaubermärchens, München 1987.
Aumerkungen
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IV. Hierarchie F. Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Gnmdsätzen der evangelischen Kirche, Berlin 182112 (Neuausgabe Berlin 1984) § 3/4. 2 F. Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Berlin 1799. 3 H. Steible, Rimsfn, mein König. Drei kultische Texte aus Ur mit der Schlußdoxologie 'ri-im-'stn lugal-mu, Wiesbaden 1975; M.-J. Seux, Epithetes royales akkadiennes et sumeriennes, Paris 1967; id., "Le roi et les dieux", RlAss VI 166-172; zum ,König der Könige' J. G. Griffiths, Atlantis and Egypt, Cardiff 1991, 252-26 5. 4 Vgl. Psalm 95,3. 5 Johannes 20,28. 6 Der zweite Bestandteil des Namens ist dunkel; vgl. F. Gschnitzer, Serta philologica Aenipontaua 1962, 13-18; Burkert 1977, 214f. 7 Burkert 1977, 84( 8 Zu anax B. Hemberg, "Anax, auassa und auakes als Göttemamen", Acta Univ. Uppsal. 1955,10; J. T. Hooker, "The wanax in Linear B Tablets", Kadmos 18 (1979) 100-III. ZU Paphos O. Masson, Inscriptions chypriotes syl/abiques, Paris 1961, 1983', nr. 4; 6; 7; 10; 16; 17; 90; 91; vgl. Etements 1960, 135. Zu Perge SEG 30,1517; Head 19II, 702. 9 Geläufig ist despoina ftir Persephone und Kybele, siehe A. Henrichs, Harvard Studies in Classical Philology 80 (1976) 253-286; das Heiligtum der Despoina in Lykosura, Paus. 8,37; despotes ftir Zeus und Poseidon: Pindar, Nem. 1,13, 01. 6,103 etc.; vgl. L. Robert, CRAI 1968, 583,5; RPh 33 (1959) 222. Eur. Hippol. 88 differenziert den Sprachgebrauch: anax als eigentlich götdicher Titel gegenüber dem üblichen menschlichen despotes. Zeus basileus Horn. hy. Dem. 358, Theogn. 285, Solon 3 I etc., vgl. Schol. Aristoph. Nub. 2. ,König Zeus' kann mythologisch verstanden werden, Zeus ist König der Götter, Hes. Theog. 886, Erga 668, Kypria F 7,3 Davies. - Der kleinasiatische Mondgott Men heißt allgemein Menotyrannos, siehe E. Lane, Corpus Monumentorum Religionis Dei Me/1is, Leiden 1971-1978; Men basileus SEG 29,1288. Vgl. allgemein Pleket 1981; Versnel 1990 Kap. I. 10 Zeus "dessen kratos am größten ist" ist eine Formel in Rias und Odyssee. I I Aisch. Sept. 255, Hik. 815, Eum. 918; W. Kiefuer, Der religiöse Al/begriff des Aischylos, Hildesheim 1965. 12 Eur. Hippol. 8, zitiert Hippokr. De aer. II 80 Littre. 13 Immerhin rex Gradive ftir Mars, Verg. Aen. 10,542. 14 Cic. Verr. 11 4,128; Liv. 6,29,8; CIL VI 30935. 15 CIMRM 1017; rex Iuppiter 1419. 16 Die iranische Herkunft und Etymologie des Gottes Shadrapa/Satrapes ist durch die Trilingue von Xanthos endgültig bewiesen. Dort wird der aramäische Name hstrpty griechisch mit Apol/on wiedergegeben: Fouilles de Xanthos VI: La stele trilingue du Utoon, Paris 1979. Zuvor waren wiederholt semitische Etymologien vorgeschlagen worden. Vgl. KAI 77; ANRW 11 17, 698. Ein Gott Satrapes in Elis: Paus. 6,25,5 ( I
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Anmerkungen
17 Siehe ThWbNTV 981-1016. Es geht dabei nicht nur um eine Liebes-, sondern auch um eine Ranggbeziehung, siehe Hebr. 12,4-II über ,Erziehung' (paideia) mit der Peitsche durch einen Vater und durch Gott. 18 Dyaus pitar ,Vater Himmel' ist indogermanisch. EI (,Gott') ist ab adam ,Vater der Menschen' in Ugarit. In der Königsideologie von Ägypten und Mesopotamien wird der hemchende Gott zum Vater des Königs. 19 Vgl. ER VII 303; die Wortwurzel bedeutet ,Ganzheit', ,Integration'. Salman Rushdie, in den Satanischen Versen, drückt seine Kritik am Islam aus, indem er das Wort mit ,Unterwerfung' (submission) wiedergibt. 20 Zum Akkadischen (re 'um, AHw 977f.) siehe RIAss VI 162f.; Prolog zu Hammurapis Gesetzen, ANET 164f. Altes Testament: Psalm 23; Neues Testament: Joh. 10,2; 10,11. Bei Homer ist König Agamemnon ,Hirte der Mannen' (,Völkerhirte' nach]. H. Voss); Götter als ,Hirten' bei Platon, PoUt. 271de, 274 e. 21 G. Simmel, Die Religion, Frankfurt 1918', 57f. 22 Vgl. hierzu Frankfort 1948; siehe auch Gladigow 1981, 13f. 23 Freud 1912 (Totem und Tabu) hat den Ursprung der Religion in der nachträglichen Verehrung des ermordeten Vaters der Urhorde gesucht; zum Einfluß der Opfertheorie von Robertson Smith auf Freud Burkert 1972, 86-88. 24 Allgemeiner Überblick: Dunbar 1988; vgl. Freedman 1979, 27-43; PoppDeVore 1979; Cheney-Seyfarth 35-135. 25 Freedman 1979, 36-39: 36: "The attention ofsubordinates is always on those above them in the hierarchy", nach M.R.A. Chance, C.Jolly, Social Groups of Monkeys, Apes, and Men, New Y ork 1970. 26 de Waal 1982, vgl. de Waal 1989. 27 Baudy 1980, 78 und HrwG II (1990) I09-II6; daß ganz universal eine Savannenlandschaft als die sympathischste Landschaft empfunden wird, ließ sich experimentell erweisen, Barrow 1995, 91-101. 28 Der Weltenbaum erscheint schon im Sumerischen: König Gudea hat einen ,Baum des Lebens' in seinem Tempel, der ,den Himmel berührt', RlAss I 435; das akkadische Erra-Epos nennt den mesu-Baum, ,dessen Wurzeln bis zur Unterwelt reichen, dessen Gipfel im Himmel steht' (1,150; Dalley 1989, 291). In der nordischen Mythologie gibt es die Weltesche Yggdrasil, vgl. o. Huth, "Weltberg und Weltbaum", Germanien 12 (1940) 441-446. In griechischer Spekulation erscheint der Weltenbaum bei Pherecydes, A I I DielsKranz, vgl. West 1971, 55-60; H. S. Schibli, Pherekydes of Syros, Oxford 1990, 69-'76. 29 Kult auf ,Höhen' und Bergen ist allgemein verbreitet; siehe W. F. Albright, "The High Place in Ancient Palestine", Vetus Testamentum Suppl. 4 (1957) 242-258; zum minoischen Kreta Marinatos 1993, II5-122; zu Hethitern V. Haas, Hethitische Berggötter und hurritische Steindämonen, Mainz 1982; im homerischen Hymnos erhält Aphrodite - die hier mit der phrygischen Göttin verschmilzt - ihr Heiligtum "an einem Aussichtspunkt, im ringsum sichtbaren Raum", Horn. hym. Aphr. 100; vgl. Fehling 1974, 3<)-58. Zum ,Weltberg' R.]. Clifford, 711e cosmic mountain in Canaan and in the Old TestameHl, Cambridge, Mass. 1972.
Anmerkungen
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30 A. LivingStone, Mystical and Mythological Explanatory Works of Assyrian and Babylonian Scholars, Oxford 1986, 78~1. - Der griechische ,Olympos' ist zunächst ein Berg, nimmt dann aber die Bedeutung ,Himmel' an, vgl. E. Oberhummer, J. Schmidt RE XVIII 258-310. 31 Zeus der ,höchste' schon Horn. 11. 8,31; Od. 1,45 etc. Auch im Akkadischen wird elu and saqu ,hoch' rlir Götter verwendet, AHw 205 f.; 11 79 (; entsprechend hebräisch 'I und 'ljn, HAL 780; 787 (; ibo zu den äquivalenten Ausdrükken im Ugaritischen und Aramäischen. Summe Juppiter Plaut. Amph. 780; summe deum ... Apollo Verg. Aen. 11,785. Ein Sonderkult gilt Zeus Hypsistos seit der hellenistischen Epoche, der sich besonders mit jüdischem Kult verbindet, Cook 1913/40, II 876-890; A. D. Nock, C. Roberts, T. C. Skeat, "The Gild of Zeus Hypsistos", H711R 29 (1936) 39-88 (teilweise abgedruckt in Nock 1972, 414-443); A. T. Kraebel GRBS 10 (1969) 81~3. Der Begriff des ,Höchsten' wird in philosophischer Religion aufgenommen, [Arist.] De mundo 397b24-28; 400aI5-18: "hierfür zeugt auch das ganze Alltagsleben, indem man den Platz in der Höhe dem Gott zuweist; und wir alle, alle Menschen, strecken unsere Hände zum Himmel auf, wenn wir beten." V gl. Anm. 62; 87. 32 Menander Fr. 223,2 Koerte, dort als Parole der ,Unverschämtheit' charakterisiert. 33 Siehe oben bei Anm. 25. 34 In etwas burschikoser Weise leitet Morris 1967, 178-182 die Religion aus der hierarchischen Affengesellschaft ab: a "fundamental biological tendency . .. to submit ourselves to an all-powerful, dominant member of the group" (180). 35 Vgl. Kap. I bei Anm. 98. 36 Zeremonialvase von Uruk, Ende des 4. Jt. V. Chr., Strommenger 1962 Abb. 19-22; vgl. F. Lämmli, Vom Chaos zum Kosmos, Basel 1962, 142-144. 37 David Prol. 38,14 Busse. Vgl. auch P. U:veque, Dieux hommes b€tes, Paris 1985. 38 NT Koloss. 1,16 thronoi, kyriotetes, archai, exousiai; 1. Petr. 3,22 angeloi, exousiai, dynameis. 39 Dazu P. Leveque, Aurea catena Homeri, Paris 1959. 40 Seneca Quaest. Nat. 7,30,1: in omne argumentum modestiaefingimur. 41 Morris 1967,179 betrachtet als Wesen der Religion "to perform repeated and prolonged submissive displays"; vgl. 156-158 über "characteristic submissive displays"; Anm. 34. 42 Siehe Kap. I bei Anm. 57. 43 Vgl. Eibl-Eibesfeldt 1970, 199f. 44 Siehe Kap. II bei Anm. 19. 45 Zur hiketeiaJ. Gould, "Hiketeia,"JHS 93 (1973) 74- 10 3; Burkert 1979, 43-47; G. Freyburger, "Supplication grecque et supplication romaine", Latomus 47 (1988) 501-525; Bremmer-Roombridge 1991, 26. Wichtige Hinweise verdanke ich einer unpublizierten Arbeit von Thomas Kappeler, Hiketeumata. 46 J. Reade, Assyrian Smlpture, London 1983, Abb. 94, aus dem Palast Assurbanipals; der ,Schwarze Obelisk', British Museum: Strommenger 1962 Abb. 208; zu labanu appa AHw 522. 47 Die Griechen sprachen von proskynesis, doch ist dieses Wort mehrdeutig, insofern es an sich ,einen Kuß zuwerfen' heißt; jedenfalls ist proskynesis· ein
23 8
Anmerkungen
sehr geläufiges Wort der religiösen Verehrung; vgI. J. Horst, Proskynein, Gütersloh 1932; A. Delatte, "Le baiser, I' agenouillement et le prosternement de I'adoration (proskynesis) chez les Grecs", Academie royale de Belgique, Bull. de la Classe des Lettres 5,37 (1951) 423-450; ThWbNT VI 759-761; E. Bickerman, "A propos d'un passage de Chares de Mytilene", Parola dei Passato 18 (1963) 241-255. 48 Z. B. Caes. b.g. 1,27,2 (Helvetii: se ad pedes proicere, suppliciter, jlentes); Liv. 7,31,5 (Campani: manus ad conmles tendentes, pfeni lacrimarum procubuenmt); 44,31.13 (Illyrii: lacrimae, genibus ... accidens). 49 Streck 1916, 11 74(; Horn. Od. 14,273-279; in beiden Fällen gibt ein Gott die Entscheidung ein. Assurbanipal läßt seine Gefangenen in Fesseln legen; Odysseus startet eine Karriere in Ägypten. 50 VgI. Anm. 41 und bei Anm. 52. 51 Zwei Verhaltensweisen begegnen sich hier, was den Interpreten Probleme bereitet; vgI. W. Pötscher, "Die Hikesie des letzten Ilias-Gesanges" (Horn., 11. 24,477ff.), WürzburgerJahrbücher 18 (1992) 5-16. P Burkert 1979, 45-47 mit Anm. 42, nach Time Magazine 1971; der gleiche Gestus auch in altägyptischen Darstellungen: E. Swan Hall, 771e Pharaoh Smites his Bnemies, BerIin 1986, Abb. 9, vgI. Abb. 8 (die ,Narmer Palette'); ich verdanke diesen Hinweis Thomas KappeIer. 53 Siehe ThWbNT VI 759--'767 s.v. proskyneo, vgI. Anm.47. Hebräisch histabawa, HAL 284, verwendet beim Gebet, doch auch als Verhalten gegenüber einer mächtigen Person; Akkadisch sukenu, vor König wie vor Gott, AHw 1263; faban appi oben Anm. 46; auch nagruru/naqarruru 'sich wälzen' AHw 902; vgI. Schrank 1908, 58 (; M. I. Gruber in: Aspects of Nonverbal Communication in the Ancient Near Bast, Rom 1980, 169-171; P. Kingsley JRAS III 54 (1995) 205,104· 54 Gen. 17,2; 17· 55 F. T. van Straten, "Did the Greeks kneel before their gods?" BABesch 49 (1974) 159-189; M. I. Davies, "Ajax at the bourne of life", in: BIDOLOPOllA. Actes du Colloque sur les problemes de f'image dans le monde mediterraneen elassique, Rome 1985, 83-117, bes. 9D-96; Aubriot-Sevin 1992, 126(, 132-138. 56 prospiptein, Aisch. Sept. 95; Soph. Trach. 904; OK 1157. 57 Assurbanipal: Streck 1916, 346(; vgI. AHw 43 I s. v. kamasu; Schrank 1908, 59-65. 58 Euseb. Hist. ecel. 5,5,1. 59 Im Kontrast zu den Juden, die zum Beten das Haupt bedecken, nehmen Christen beim Betreten der Kirche den Hut ab. 60 Josiah wird von Gott gesegnet, weil er ,vor ihm geweint' hat, II Könige 22,19. Demonstratives Weinen ist bei griechischen Männern nicht üblich, es gilt als ,weiblich'. Doch die Septuaginta setzt zumindest zweimal ,er weinte' an Stelle des hebräischen ,er rief (Gott) an', Richter 15,18; 16,28; vgl. Aubriot-Sevin 143-145; Proklos, Hymnos an Helios p ( 61 Der Sonnengott "nahm von ihm (sc. Gilgamesh) seine Tränen an als geziemende Gabe", Gilgamesh und Huwawa ed. Edzard 1990 (Kap. III Anm.22) 184, Zeile 34; zu Assurbanipal Streck 1916,40(; 116f.
Anmerkungen
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62 Im Sumerischen ist dies ,Handerhebung' , su i1a = akkadisch nasu qata, AHw 762, ns' jd im Hebräischen, Psalm 28,2; die homerische Formel ist cheiras anaschon; lateinisch manus tendens. Vgl. [Arist.] De mundo 400aI5-18, oben Anm·31. 63 Lukas 18,13. 64 Bottero-Kramer 1989, 276-295; vgl. Kap. II bei Anm. 84; III bei Anm.25· 65 Vgl. auch Platon Leg. 715 e = OF 23; A. Dihle RAC III (1957) 735-778 s. v. Demut. 66 Siehe Kap. I bei Anm. II6-122. 67 Kap. II bei Anm. 72. 68 Menander Sam. 503, Theocr. 6,39 mit Gow ad loc.; Lukian Apol. 6; Rakoczy 1996, 147-152. 69 Menander Fr. 754 = Porph. abst. 4,15; danach Plut. superstit. 168 c. Zum Schuldbekenntnis vgI. Kap. V bei Anm. 85. 70 H. Zimmern, Babylonische Hymnen und Gebete in Auswahl, Leipzig 19°5, 27 nr.8. 71 Kult der Ishtar in Uruk, Erra IV 57f., Dalley 1989, 305; die Priester des Baal, 1. Könige 18,28; Kult der Mater und der Bellona, unten Anm. 73. 72 A. Lebessi, BCH 115 (1991) 99-123, die einen Zusammenhang mit Initiation annimmt. Doch initiatorisches ,Leiden' ist etwas anderes als Selbstaggression. 73 Zu gaUoi Burkert 1994a, 40[; das oft abgebildete Relief eines archigaUus mit Peitsche: Cumont 19JI Ta[ I 3; zu Bellona R. Turcan, Les cultes orientaux dans le monde romain, Paris 1989, 48 f. 74 Parodiert in Luk. Asin. 37[/ApuI. Met. 8,27-29. 75 Plut. qu. Gr. 304c; C. Bonnet, "Heracles transvesti", in: D. JourdainAnnequin, C. Bonnet, ed., Hemdes. Les femmes et le feminin, Brüssel 1996, 121-13I. 76 Burkert 1972, 313 mit Anm. 46. 77 J. Boese, Mesopotamische Weihplatten, Berlin 1971, 290[ pI. XXXI,I VgI. ANEP 597; M. Müller, Frühgeschichtlicher Fürst aus Iraq, Zürich 1976. 78 Die bei Affen vorkommende Unterwerfungsgeste, die Präsentation des Hinterteils, ist bei uns zu einem Zeichen der Verachtung gegenüber dem Schwächling geworden, dem die aggressive Potenz fehlt: ,Du kannst mich .. .', VgI. Fehling 1974, 27-38; HDA IV 62[; H. P. Duerr, Obszönität und Gewalt, Frankfurt 1993, 148-152. 79 D. Arnaud, Emar. Recherehes au Pays d' Astata VI 4: Textes sumeriens et accadiens, Paris 1987, 326-337, nr. 369. 80 VgI. K. Koch in P. Frei, K. Koch, Reichsidee und Reichsorganisation im Perserreich, Freiburg/Göttingen 1984, 1996', 168-178, 187-193. Komplizierter wird die gleiche Struktur in der Maya-Kultur ausgestaltet: Einerseits durfte der Maya-König die Erde nicht berühren, er wurde hochgehoben und von seinen Untergebenen getragen; andererseits zeigt ihn die Ikonographie, wie er selbst ,die Menschheit' auf seinen Schultern trägt. 8 I Jesaja 6; vgl. Hesekiel 1,26. - Zur Inthronisation mesopotamischer Könige RIAss VI 148; AHW 515 s. v. kussu. 82 Marinatos 1993, 206.
Anmerkungen 83 V. K. Müller, Der Polos. Die griechische Götterkrone, Berlin 1915; Hepat in Yazilikaya, E. Akurgal, Die Kunst der Hethiter, München 1961, Taf. 76/77; das stark verwitterte hethitische Felsbild am Siyplos, das als weinende Niobe galt, ibo Taf. XXIII. 84 Kallim. Hy. ApolI. 102f. 85 Hosianna: Markus II, 9f. mit den Paralleltexten, nach Psalm II8,25; Th WbNT VIII 604 f. 86 Musterhaft das Magnificat, Lukas 2,14. 87 Aischylos Fr. 70 TrGF; vgl. Anm. 31. 88 Siehe SAHG 1953; J. Assmann, Ägyptische Hymnen und Gebete, Zürich 1975; Lebrun 1980; M. Lattke, Hymnus. Materialien zu einer Geschichte der antiken Hymnologie, Fribourg 1991; L'inno tra rituale e letteratura nel mondo antico. Atti di un colloquio Napoli 21-14 ottobre 1991, Rome 1991 (A. I. O.N. 13); W. Burkert, F. Stolz, ed., Hymnen der Alten Welt im Kulturvergleich, Freiburg/Göttingen 1994. 89 Siehe den hethitischen Hymnus an Ishtanu, Lebrun 1980, 93-Il1; akkadischer Hymnus an Shamash, SAHG 240-247; Psalm 19, 6f.; Echnatons großer Aton-Hymnus, Assmann (Anm. 88) 215-221. 90 Siehe S. Sahin, Epigraphica Anatolica 9 (1987) 61-·72; SEG 37, 957-980; vgl. SEG 33,1056. Vgl. auch Psalm 50,15: "Rufe mich an in der Not, so will ich dich erretten, so sollst du mich preisen." 91 Hom, 11. 1,474; siehe Kap. V bei Anm. 1. 92 Hymnus an Ishtanu, Lebrun 1980, 102, Z. 32-38. - Psalm 19. Vgl. auch den Analogieschluß des Hauptmanns von Kapernaum, der Jesus als Kommandeur der Dämonen sieht, wie er selbst, höheren Chargen unterstellt, seine Soldaten zu kommandieren pflegt, Lukas 7,8; Matth. 8,9. 93 Zylinderinschrift Sargons H. § 74, Luckenbill 1927, H 66; zur Gottesfurcht vgl. Kap. I bei Anm. II6-122. 94 Polyb. 6,56,6-12. Vgl. Burkert 1977, 372f. 95 Arist. Met. 1074b3. 96 Besonders explizit ist die Rosetta-Inschrift von Ptolemaios V., OGI90,26f.: Der König "eroberte mit Gewalt die Stadt und vernichtete alle die gottlosen Menschen in ihr, so wie Hermes und Horos, der Sohn der Isis und des Osiris, die Abtrünnigen in eben dieser Gegend früher überwältigt hatten"; vgl. E. Hornung, Geschichte als Fest, Darmstadt 1966. 97 1,1-41, ANET 164f.; ANEP 246. 98 Weissbach 19II, 10f. § 5; 90f. § 6; vgl. G. Ahn, Religiöse Herrscherlegitimation im achämenidischen Iran, Leiden 1992. Zum Problem, ob Darius emen ,falschen' oder doch den legitimen Bardia beseitigt hat, vgl. Frye 1984, 96-102; J. M. Balcer, Herodotus and Bisitun, Wiesbaden 1987. 99 R. Ghirshman, Iran, Parther und Sassaniden, München 1962, 132 Abb. 168; vgl. 131 Abb.167; 167/8 Abb.211; 176 Abb.218; Frye 1984, 371-373; J. Wiesehöfer, Ancient Persia, London 1996, Taf. XXI. 100 Hom. fl. 1,279. 101 Hdt. 1,60, ernst genommen z.B. von F. Kiechle, "Götterdarstellung durch Menschen in der altmediterranen Religion", Historia 19 (1970) 259-271; vgl. auch W. Connor JHS 107 (1987) 40-50; kritisch J. Beloch, Griechische
Anmerkungen Geschichte I' 2' (Straßburg 1913) 288, wonach der Sieg des Peisistratos bei Pallene als Intervention der Göttin interpretiert und dann in die Erzählung umgesetzt worden wäre. I02 Vgl. Christian Habicht, Gottmenschentum und griechische Städte, München 1970'. 103 Vgl. J. R. Fears, Princeps a DUs Eleetus. The Divine Eleetioll of the Emperor as a Political Concept at Rome, Rom 1977; idem, RAC XI (1981) 1103-1159 s. v. Gottesgnadentum; Bibliographie zum Herrscherkult: P. Herz in ANRW 11 16,2 (1978) 833-910. I04 Palermo, Kirche Martorana. 105 Ambros. epist. 17,1; J. Wytzes, Der letzte Kampf des Heidentums in Rom, Leiden 1977, 214. Vgl. Liban. or. 22,41, über einen hohen Beamten am Kaiserhof, "der, wie der Kaiser den Göttern folgt, so seinerseits dem Kaiser folgt". 106 Eine Formulierung des Assurbanipal, Streck 1916, 300f. 107 Zu dieser Struktur, x:a = a:b, vgl. Kap. I Anm. 101. Siehe auch M.-J. Seux, RIAss VI 168: "Le roi d'Assyrie a donc, par rapport au dieu national, la position qu'avait un gouverneur par rapport a son roi." Weniger erbaulich ist, daß schon in Affengesellschaften ein Individuum, das von einem Höheren bedroht wird, seinerseits gern einem Niederen droht, der ,Radfahrereffekt', a:b = b:c, Sommer 1992, 85. 108 ANET 268. 109 II. Samuel7; Davids Ausdruck ist 'äbäd = doulos, servus dei. 110 Psalm 110, vgl. Matth. 22,44; I. Kor. 15,24; Hebr. 10,I2f. 111 Thureau-Dangin 1921,127-148; ANET 334. 112 Daniel 4. 113 Hor. carm. 3,6,5. 114 archeinlarchesthai, Solon bei Diog. Laert. 1,60; Arist. Pol. 1277b14. Aus a:b = b:a folgt a = b. 115 Ps.-Phokylides Sent. 8. Im Avesta steht der Gehorsam des Sohns gegen seinen Vater gleich hinter der Ordnung der Welt, Avesta, Gatha 9,7 = Yasna 44,7. Vgl. auch Kap. I bei Anm. 1111112. 116 Hebr. 13,17. 117 Siehe zum Imperativ Kap. III bei Anm. 3 I. I18 Vgl. Sommer 1992, 83-88. 119 [Arist.] De mundo 398 a. 120 Vgl. Burkert in F. Stolz, ed., Religion zu Krieg und Frieden, Zürich 1986, 67ff. 121 Ein Text aus dem Ishtarheiligtum von Arbela: ANET 449f. 122 Hingewiesen sei auf RE Supp!. III 101-114 s. v. Angelos; Th WbNT I 72-86; J. Michl RAC V (1962) 53-258 s. v. ,Engel'. 123 Joh. 5,23; 6,44; 12,44; 14,24 etc. 124Joh.1,33. 125 Joh. 20,21; vgl. 17,18. I26 A. Adam, Texte zum Manichäismus, Berlin 1969', nr. 3 (nach Al-Biruni); A. Böhlig, Die Gnosis III, Zürich 1980, 155 (nach Shahrastani), vgl. Böhlig 83. 127 Koran, Sure 33,40 etc. I28 Od. 1,38; vgl. auch die 30000 unsichtbaren ,Wächter' des Zeus, die auf Erden über die Taten der Menschen wachen, Hes. Erga 253-255.
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Anmerkungen
129 Der zentrale Text ist Platon, Symp. 202 d-203 a; nach seiner Formulierung geht es um ,Zusammensein und Sprechen' von Göttern und Menschen, homilia kai dialektos. 130 Aisch. Eum. 19 "Loxias ist prophetes des Zeus, seines Vaters." 131 Jona 1,1. 132 Il. Sam. 12. 133 Aristoph. Pax 1070f. 134 Diod. 36,13; Plut. Marius 17,8-II; vgl. Kap. V Anm. 41. 135 Vgl. Kap. I bei Anm. 91 über das ,Monster im Eck'. 136 Siehe Kap. I bei Anm. 104. 137 Vgl. dazu Kap. VII. 138 Maximilla bei Epiphan. Panar. 48,13,1; Epiphanios kritisiert diesen angeblichen ,Zwang'. Doch auch was Paulus erlebte, war durchaus vergleichbar: "Wehe mir, wenn ich das Evangelium nicht predigte!" I Kor. 9,16. 139 Aisch. Ag. 1562, parodiert Aristoph. Ran. 25-30
V. Schuld und Kausalität 1 n. 1,62-64: man tin, hierea, oneiropolon; vgl. zum Verfahren Parker 1983, 207234; zu ara Aubriot-Sevin 1992, 350-374. 2 Vgl. zur Fonnulierung der Frage Hdt. 9,93,4: Die Leute von Apollonia "fragten die Propheten (der Orakel) nach der Ursache des gegenwärtigen Übels"; 6,139,1: Man fragt Delphi "nach Erlösung (lysis) von den gegenwärtigen Übeln". 3 Die Perser behaupten, wer an Aussatz erkrankt, müsse eine Sünde gegen den Sonnengott begangen haben; darum wird er aus der Stadt vertrieben, und niemand tritt mit ihm in Kontakt, Hdt. 1,138,1. Die ebenso rationale wie brutale Isolierung der Kranken wird durch die Zuweisung transzendenter Schuld akzeptabel gemacht. 4 I. Samuel5· 5 kohanim und qosemim; zu diesem Begriff und zu Pfeil-Orakeln vgl. HAL 1041 f. 6 'opel, HAL 814; die Septuaginta übersetzt hedrai ,Gesäße'. Ein entsprechendes Votiv (glouthron): SEC 29 (1979) nr. II74. 7 T. Dothan, The Philistines and their Material Culture, New Haven 1982; J. F. Brug, A literary and archaeological study of the Philistines, Oxford 1985; L. E. Stager, Ashkelon Discovered, Washington 1991. 8 ANET 394ff.; Lebrun 1980, 192-239, bes. die ,zweite Version' 203-216; die folgenden Zitate: 212,29f.; 32'; 38'. 9 Lebrun 1980, 211,12'; 213,8';13';19'. 10 Tages-Anzeiger Zürich 21. I. 1986. II Schon bei Homer heißt es, daß "die Götter alsbald bekannt machten", was Oedipus getan hatte, Od. 11,274. 12 Vgl. Burkert, Oedipus, Orades, and Meaning. From Sophodes to Umberto Eco, Toronto 1991.
Anmerkungen
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13 Apollod. Bibi. 2,130f.; der Dreifußkampf ist eines der frühesten ,Sagenbilder' der griechischen Kunst, siehe Schefold 1993, 47 fig. 20. - Auch die Verfolgung des Orestes durch die Erinyen kann als Krankheit erscheinen, die Rettung erfolgt mit Hilfe von Apollons Orakel; vgl. Burkert 1992 a,
SM. 14 Verg. Ceorg. 317-558, möglicherweise nach Eumelos, T 2 Davies; morbi WIlsam 4,397; 532; vgl. Varro r.r. 2,5,5; das Ritual der bugonia is wird in Ceoponica 15,2,22-29 beschrieben; vgl. RE III 431-450 s. v. Biene. 15 Siehe F. Graf, ZPE 92 (1992) 267-279, bes. 275-277. 16 Lanternari 1994, 262( 17 Livius 8,18. 18 Vgl. Sullivan 1988; ER s.v. ,Diseases and Cures', ,Healing'; siehe auch]. D. Frank, Die Heiler, Stuttgart 1981 (persuasion and Healing, Baltimore 1973'). 19 Vgl. auch Livius 2,36, (390 v. Chr.; dazu Amob. 7,39-43): Titus Latinius wird durch einen Traum aufgefordert zu melden, daß die Illdi Romani durch die spektakuläre Bestrafung eines Sklaven unmittelbar vor den Spielen befleckt worden seien: Sie seien zu wiederholen. Als Titus Latinius dem Traumbefehl nicht Folge leistet, stirbt sein Sohn, er selbst wird krank; nun überbringt er die Botschaft an den Senat und wird alsbald gesund. Dazu eine Notiz im Tages-Anzeiger Zürich 27. 2. 1990: Bei einem Straßenbau in Indonesien erhielt ein Arbeiter im Traum die Anweisung, daß den Totengeistern der Gegend ein Büffel zu opfern sei; er tat nichts, wurde schwer krank und genas erst, als das Opfer vollzogen wurde - zusammen mit einer katholischen Messe. 20 Aiseh. Ag. 188-217. Aischylos gibt nicht an, was genau die Verfehlung Agamemnons war; in den Parallelquellen finden sich verschiedene Erklärungen. 21 Od. 4, 351-586; zum Motiv der unterlassenen Opfer vgl. auch n. 5,177( 22 Jona I,7; vgl. Kap. II bei Anm. 58/59. 23 H. W. Parke, The Orades oj Zeus, Cambridge 1967, 261 ( nr.7; SEC 19,427. 24 Nikolaos von Damaskos FCrHist 90 F 45 cf. 15, wohl nach Xanthos dem Lyder. 25 A. Livingstone, State Archives oj Assyria IV: Court Poetry, Helsinki 1989, nr. 33, P.77 (Lücken und Ergänzungen sind in der hier gegebenenen deutschen Übersetzung nicht bezeichnet). Man kann den Test vergleichen, den Kroisos mit den griechischen Orakeln anstellt, Hdt. 1,46; auch den Vorschlag, ein Traumorakel des Amphiaraos durch eine Anfrage in Delphi zu verifizieren, Hypereides 4,14( Auch ein griechischer Heerfiihrer ,versammelt' eine Mehrzahl von Sehern beim Opfer und akzeptiert ihr gemeinsames Verdikt, Eurip. Herad. 340; 401-407. 26 Diod. 20,14 (.zetesis' § 4). Zu den ,Moloch'-Opfem Kap. II bei Anm. 76. 27 Thuk. 1,128,1; vgl. 2,17, unten Anm. 46. 28 Herakleides Fr.46a Wehrli = Strab. 8 p.384, vgl. Diod. 15,48; Paus. 7,24, 5-12; R. Baladie, Le Nloponnese de Strabon, Paris 1980, 145-157. 29 Paus. 7,17,13(; vgl. 7,17, 6f.; M. Osanna, Santuari e culti dell'Acaia antica, Neapel 1996, 35-37. 30 Ap. Rh. 2,463-489.
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Anmerkungen
31 Apollod. BibI. 100-102; Pherekydes FGrHist 3 F 33 = Schol. Od. 11,287; Eustath. p. 1685,33; Schol. Theokr.3,43; vgl. schon Od. II,291-297; 15, 2JI-238; Hes. Fr. 37. 32 Eine scharfe Kritik des Freudschen Verfahrens liefert Grünbaum 1988. Ein Unterschied zur alten religiösen Therapie liegt auch darin, daß die Modernen nicht auf ,Schuld' bestehen, sondern von ,Verletzung' (Trauma) reden. 33 Hdt. 9,93,4, vgl. Anm. 2. 34 Eur. Fr. 912,9-13 mit dem Terminus ekthysasthai. Hdt. 6,91 erzählt, daß es den Aigineten nicht gelang, eine ,Befleckung' (agos) , die sie auf sich geladen hatten, "durch Opfer endgültig zu sühnen (ekthysasthar) , obwohl sie es ins Werk setzten". 35 Platon Phdr. 244 de, vgl. Burkert 1994, 25. 36 Dundes 1964 Hihrt einen eigenen Erzähltyp ein: interdiction-infractionconsequence-attempted escape. Allgemein kennt man im Englischen den Begriff des ,cautionary tale'; dem Deutschen fehlt ein entsprechender Begriff 37 Dies ist, griechisch gesprochen, die Frage nach der prophasis, nach der einer Aktion vorausgehenden Erklärung - ein Wort, das im Zusammenhang mit Thuk. 1,23,6 viel diskutiert wird, dessen Sinn aber z.B. Thuk. 1,133 deutlicher ist; siehe H. R. Rawlings III, A Semantic Study of Prophasis to 400 B.C., Wiesbaden 1975; A. A. Nikitas, "Zur Bedeutung von PROPHASIS in der altgriechischen Literatur", Abh. Mainz 1976,4. 38 Livius 5,51,8. 39 Meyer 1962; F. Garcia Martinez, The Dead Sea Scrolls Translated, Leiden 1994, 289. 40 Vgl. bei Anm. 21. 41 Ein Katalog von Tabus, die ein Hirte unversehens verletzen kann, bei OV. fast. 4,747-'762: unter einem heiligen Baum sitzen, einen heiligen Hain betreten etc.; fallig ist dann ein Beichtgebet: da veniam culpae 755. Vgl. Kap. IV bei Anm. 69 zum syrischen Fischtabu; IV bei Anm. 134 zum Mater MagnaPriester in Rom. Das griechische Wort Hir den religiösen Fehltritt ist alitern (dazu H. Vos, Glotta 34 [1955] 287-292; E. Tichy, Glotta 55 [1977] 160-177). Vgl. auch G. Delbos, P.Jorion, Le deut religieux dans la eite antique, Paris 1981. 42 Burkert 1977, 354-358; Krummen 1990, 108-116; M. Petterson, Cults if Apollo at Sparta, Stockholm 1992, 57-72. 43 Burkert 1972, 153-161. 44 Plut. mus. 42, 1145 BC, mit Verweis aufPratinas TrGF 4F 9; vgl. L. Käppel, Paian. Geschichte einer Gattung, Berlin 1992, 349-351. 45 Ceres: Dion. HaI. ant. 6,17; 6,94,3; Apollo: Liv. 4,25,3; 4,29,7. 46 Thuk. 2,IT Er betrachtet den Tabubruch nicht als Ursache, sondern als Zeichen einer besonderen Notlage, die das Orakel vorausgesehen habe. Vgl. im übrigen S. B. AIeshire, The Athenian Asklepieion, Arnsterdam 1989. 47 Hdt. 1,19-22. Zum Prinzip ,zwei Hir eines' vgl. Thuk. 1,134,4; Inschrift auf einer Vase, offenbar aus einem Heiligtum: ,eine zerbrochen - zwei Hir Aphrodite', G. A. Koshelenko et al., ed., Anticnye gosudarstva Severnogo PricernomO/ja, Moskau 1984, 142 nr. 4. 48 Od. 12,345-347. - Errichtung eines Tempels während einer Pest Hir den Pestgott Namtar: Atrahasis I 401, Dalley 1989, 19.
Anmerkuflgen
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Lukian. Syr. D. 19, oben Kap. II bei Anm. 44. Oben bei Anm. 14. SEG 33, 736; Inscriptiones Creticae II xxviii 2, Hermes Tallaios. Siehe unten bei Anm. 85. Hdt. 1,167. Nach römischer Etymologie verweist das Wort caerimonia auf Caere. 54 Hdt. 1,105; vgl. Hippocr. aer. 22; in moderner Sicht ergibt sich am ehesten eine Art skythischer Schamanismus, siehe D. Margreth, Skythische Schamanen? Die Nachrichten über Enarees-Anarieis bei Herodot und Hippokrates, Diss. Zürich 1993. 55 Lanternari 1994, 256f. - C. Ouwehand, Hateruma. Sodo-Religious Aspects cf a South-Ryukyan Island Culture, Leiden 1985, 190f. beschreibt, wie dort anläßlich von persönlichem Unglück nach Weisung eines örtlichen ,Schamanen oder Priesters' das Familiengrab geöffuet und die Gebeine der Verstorbenen gewaschen werden - ein eigentümlicher Ahnenkult im Rahmen der gleichen Struktur der Unheils bewältigung. 56 Plato Resp. 364bc erwähnt die Bettelpriester und Seher, die angeblich die Macht (dynamis) haben, ,gut zu machen', ,zu heilen' (aketsthal). 57 Vgl. im hethitischen Hymnus auf den Sonnengott: "qu'il me dise mon peche", Lebrun 1980, 104f.; siehe auch van der Toom 1985, 94-97: "In search for the secret sin." 58 Danie12, 12 f.; 24; ,Zeichendeuter, Wahrsager, Beschwörer und Chaldäer' 2,2. 59 Hdt. 4,68. 60 Vgl. bei Anm. 25. 61 Hdt. 6,66; 6.75,3; 5,66,1; vgl. 5,90,1. 62 Soph. OT 380-389. 63 Eur. Phrixos A, Apollod. BibI. 1,80-82, Hyg. Jab. 2, vgl. C. Austin, Nova Fragmenta Euripidea, BerIin 1968, p. 101 f. 64 Vgl. Burkert 1979, 88 f. 65 Divinatio oblativa and impetrativa, siehe Kap. VII Anm. 7. 66 Psalm 124,7. 67 Hdt. 6,139,1, oben Anm. 2; vgl. Platon Phdr. 244de, oben Anm. 35. 68 Soph. EI. 447. 69 Soph. OT 10of. (/yein). Lateinisch Iuere, verwandt mit griechisch Iyein, hat sich ganz zur Bedeutung ,sühnen' entwickelt. 70 K. Tsantsanoglou, G. M. Parassoglou, "Two Gold Lamellae from Thessaly", Hel/enika 38 (1987) 3-16; SEG 37,497; cf. Burkert 1994, 25; 28; F. Graf, "Dionysian and Orphic Eschatology: New Texts and Old Questions", in T. H. Carpenter, C. A. Faraone, ed., Masks cfDionysus, Ithaca 1993, 239-258. 71 Vgl. bei Anm. 35. 72 Vgl. M. WehrIi, Geschichte der deutschen Literatur I, Stuttgart 1980, 22-24. 73 Bes. die Serie Shurpu (Reiner 1958), Tafel lI/rn; der Terminus ist pasaru ,lösen, frei machen', AHw 842, kontrastierend mit rakasu und kama ,binden', AHw 946; 433. 74 Akkadischer Beschwörungstext bei Ebeling 1931 nr. 30 A III 63, S. IPf. 75 A. Audollent, Dcifixionum Tabel/ae, Paris 1904; R. Wünsch, Dcifixionum Tabellae AUicae, IG III 3, Berlin 1897; D. R. Jordan, "A Survey of Greek 49 50 5I 52 53
Anmerkungen Defixiones Not Included in the Special Corpora", GRBS 26 (1985) 151-197; vgl. auch C. A. Faraone, "The Agonistic Context of Early Greek Binding Speils", in: c.-A. Faraone, D. Obbink, ed., Magika Hiera. Ancient Creek Magic and Religion, New York/Oxford 1991, 3-32; F. Graf, Cottesnähe und Schadenzauber. Die Magie in der griechisch-römischen Antike, München 1996, 10~157. 76 Sophronius, Narratio miraculorum SS Cyri et Ioallllis sapientium Anargyrorum, PC 87,3, 3541-3548 (Audollent - vgl. Anm. 75 - p. CXXII). 77 Liban. Or. 1,243-250; C. Bonner, "Witchcraft in the Lecture Room of Libanius", TAPA 63 (193 2) 34-44. 78 Oben bei Anm. I; 4; 8. 79 Hdt. 6,12,3. 80 Vgl. Kap. IV. 81 Arnob. 7,5 (als Heidenglaube kritisiert). Vgl. Kap. 11 bei Anm. 26; 78. 82 AHw 716. 83 Vgl. den pythagoreischen Spruch bei lambl. v.P. 85: "Plagen sind gut. Denn diejenigen, die zur Strafe (in dieses Leben) gekommen sind, müssen bestraft werden." 84 ANET 395; Lebrun 1980, 214,24-28; vgl. Anm. 8. In der christlichen Tradition hat die Eltern-Kind-Beziehung das Bild von Herrn und Knecht in den Hintergrund gedrängt - was die Geißel zur ,Zornesrute' werden ließ. 85 F. Steinleitner, Die Beicht im Zusammenhang mit der sakralen Rechtspflege in der Antike, Diss. München, Leipzig 1913; R. Pettazzoni, LA confessione dei peccati I-III, Bologna 1929/36; H. Hommel, "Antike Bußformulare", in: Sebasmata I (Tübingen 1983) 351-370; das wachsende Corpus der kleinasiatischen Beichtinschriften jetzt bei Petzl 1994; vgl. G. Petzl, "Lukians ,Podagra' und die Beichtinschriften Kleinasiens", Mhis 6 (1991) 131-145. Beispiele aus Mesopotarnien: Schrank 1908, 46f.; M. Jastrow, Die Religion Babyloniens und Assyriens 11, Giessen 1912, 71 ff.; S. Langdon, Babylonian Penitential Psalms, Paris 1927; SAHC 181r9; aus Ägypten: Roeder 1915, 58; H. I. Bell, Cults and Creeds in Creco-Roman Egypt, Liverpool 1953, 13. Altes Testament: Psalm 103,3 ,der dir alle Sünde vergibt und heilt alle deine Gebrechen'. 86 Z.B.A.I. HalloweIl, Culture and Experience, New York 1967, 266-276 (Saulteaux-Indianer). 87 Aristoph. Pax 668, vgl. Nub. 1478; Vesp. IOOr. 88 Pind. Pyth. 3,82 f 89 Siehe Cuilt or Pollution and Rites of Purification. Proceedings of the XIth International Congress of the International Association for the History of Religions 11, Leiden 1968; ER XII 91-100 s. v. purification; ein wichtiges Standardwerk ist M. Douglas, Purity and Danger, New York 1966. 90 Dann kann Süßes Brechreiz auslösen. Zur biologischen Basis starker Gefühle vgl. Kap. I Anm. 55. Siehe im übrigen die ausfUhrliehe Diskussion bei P. Rozin, J. Haidt, C. R. McCauley, "Disgust", in M. Lewis, J. M. Haviland, ed., Handbook 01 Emotions, New York 1993, 575-594. 91 Parker 1983, dazu M. L. West CR 35 (1985) 92-94: "To predicate pollution is formally to declare astate of abnormality so that it can be tackled by the appropriate ritual measures." - Ältere Übersicht: Pfister RE Suppl. VI (1935) 146-162 s. v. Katharsis.
Anmerkungen
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92 Oben Anm:. 23. 93 Epimenides FGrHist 457 T I; 4; Burkert 1992 a, 60; 62 f. 94 Plut. De Sera 560 ef (statt Italias lies Phigalias, Mittelhaus RE XIX 2084); Fr. 126 Sandbach; Thuk. 1,134,4; zum Prinzip ,zwei ftir eins' vgl. Anm. 47. Mit ,Geistern' käme man zurück zum dritten Modell, dem Zorn der Höheren. Die Interpretationen laufen auch in dem rhetorischen Text von Antiphon 4, 1,3 ineinander: Ein Mordopfer "hinterläßt die Feindseligkeit der Rachegeister (aliterior), als Strafe Gottes", und wer dann nicht der Gerechtigkeit zum Sieg verhilft, "zieht sich unangebrachte Befleckung (miasma) auf das eigene Haus". Vgl. J. D. Mikalson, Athenian Popular Religion, Chapel Hili 1983, 50-52· 95 Nadig 1986, 223, vgl. 220f., 225-229, 38If. 96 Latte 192012 1. 97 Dodds 1951,28-63, mit Berufung aufR. Benedict, 71le Chrysanthemum and the Sword. Patterns ofJapanese Culture, Boston 1946, 222 ff. Für Latte war die Idee der ,Unreinheit' samt der Praxis der ,Reinigung' primitiv und alt, während Dodds die Entdeckung der ,Schuld' mit dem besonderen Interesse an ,Reinigung' in der archaischen, nachhomerischen Epoche verbindet. Daß bei Homer wenig von Reinigung und gar nicht von der Reinigung des Mörders die Rede ist, fiel schon in der Antike auf; Mörder-Reinigung erscheint in der Aithiopis, p. 47 Z. II-I3 Davies. 98 Vgl. neuerdings Cairns 1993, 27-47. 99 Vgl. Kap. 11; Rene Girard hat aus dem Sündenbock-Komplex eine besondere Theorie der menschlichen Kultur entwickelt, siehe Girard 1972 und 1982. 100 Vgl. Parker 1983, ]78. 101 Vgl. Eur. Ion 367, Ion zu Kreusa, die ApolIon vergewaltigt hatte: "Er schämt sich der Sache - überftihre ihn nicht", d. h. beschäme ihn nicht durch Insistieren. ApolIon zieht es vor, sich nicht mehr blicken zu lassen (1557f.). 102 Aristoph. Fr. dubium 940 Kassel-Austin; Menander Dysc. 114; Theokrit 5,II9; Hsch. s. v. katharthenai; mastigothenai. Vgl. AT Provo 20,30: "Blutige Striemen säubern den Bösewicht und Schläge die Kammern des Leibes" (Text und Übersetzung zweifelhaft). - Im Englischen gibt es, aus der Ideologie des Exorzismus heraus, die Redensart ,to beat the hell out ofhim'. 103 Vgl. Boyer 1994, 125-154 über "CausalJudgments". 104 Th. Lessing, Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen oder die Geburt der Geschichte aus dem Mythos, München 1916, Leipzig 1927'. 105 M. P. Nilsson, "Religion as Man's Protest against the Meaninglessness of Events," Opuscula Selecta III, Lund 1960, 391-464.
VI. Der Kreislauf des Gebens I CEG 326; Jeffery 1990, 90f.; 94 nr. I; LIMC S. v. ApolIon nr. 40. 20d. 1,187f.; 3II-318; doron 3II, 316; axion ... amoibes 318. Vgl. auch Scheid-Tissinier 1994, 165 f. 3 Mauss 1923/4; siehe K. Polanyi, Primitive, Archaic, and Modem Economy, Garden City 1968; Scheid-Tissinier 1994; Seaford 1994; Vowinckel 1995,
Anmerkungen IOI-149; Cheal 1988, 19 fonnuliert, Geben sei "a system ofredundant transactions within a moral economy, which makes possible the extended reproduction of social relations". 4 Prinzipiell schon Hesiod, Erga 354-356 ,Dem geben, der gibt; nicht geben dem, der nicht gibt. Einem Geber gibt man, einem Nicht-Geber gibt keiner.' Zu charis Aristoteles, EN 5, IIB a3: "dies ist das Besondere an der charis: Man muß dem, der einen Gefallen (charis) erwiesen hat, einen Gegendienst leisten, und wieder selbst damit anfangen, einen Gefallen zu erweisen." - Sarkastisch Martial 5,59,3: "Wer große Gechenke gibt, will, daß ihm dafUr große Geschenke zugesandt werden", quisquis magna dedit, voluit sibi magna remitti. 5 Z. B. Gregory 1980; vgl. Schieffelin 1980; Gouldner 1960; Sahlins 1970. 6 Vgl. Mauss 1967, 72f. 7 M. Finley, The World of Odysseus, New York 1954 (1978') 61-65 (dazu kritisch J. T. Hooker, "Gifts in Homer", BICS 36 [1989] 79-90); J. N. Coldstream in: R. Hägg, ed., The Greek Renaissarlce of the Eighth Century B. c., Stockholm 1983, 201-206; ferner Morris 1986; Scheid-Tissinier 1994; B. Wagner-Hasel, Die Macht der Kleider. Eine Studie über den Gabentausch in den Epen Homers, Darmstadt 1994. Vgl. auch L. Gernet, "Droit et pre-droit en Grece ancienne", in Gemet 1968, 175-260; S. Humphreys, Anthropology and the Greeks, London 1978; Hennan 1987; Vif 1990, 2II f. 8 M. Weinfeld, "Initiation of Political Friendship in Ebla and its Later Developments", in H. Hauptmann, H. Waetzoldt, ed., Wirtsch'!fi und Gesellschaft von Ebla, Heidelberg 1988, 345-348. 9 C. F. A. Schaeffer, Le palais royal d' Ugarit VI, Paris 1970, 9-II, A 12-14, RS 17148. Vgl. Liverani 1990, bes. 211-217. 10 Horn. 6,230-236: epameipsomen 230; Gold fUr Bronze, 235-237. - Eine groteske Novelle über Gabentausch zwischen Freunden, einschließlich der eigenen Frau, bei Hdt. 6,62. I I Provo 18,16. Im späteren Griechisch heißt ,Geschenke geben', dorodokia, de facto Bestechung, vgl. bei Anm. 88. 12 Bourdieu 1972,227-243: "Le capital symbolique." 13 Natürlich gibt es andere Fonnen der Interaktion, die Freundschaft, Solidarität, Rang ausdrücken und begründen, Fonnen der Ehrung und der Tröstung, vom Augenspiel übers Grüßen bis zu Zärtlichkeiten, dazu die sprachlichen Möglichkeiten, besonders das Lob (vgl. Kap. IV bei Anrn. 86-91). Selbst hier kann man von ,Gabe' und ,Austausch' sprechen, selbst bei ,Streicheleinheiten' . 14 Zur wechselnden Verwendung des Tenninus eedna siehe S. West, A Commentary Olt Homer's Odyssey I, Oxford 1988, IIO(; B. WagnerHasel, "Geschlecht und Gabe. Zum Brautgütersystem bei Homer", Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte Rom. Abt. 105 (1988) 80-II3· 15 ,Gib mit teil an deiner Jungfrauschaft,' PS.-Plato Anth.Pal. 5,79,2. Vgl. M. I. Finley, "Marriage, Sale and Gift in the Horneric World", Revue Internationale des Droits de l'antiquitti III 2 (1955) 167-194, repr. in: M. Finley, Economyand Society in Ancient Greece, London 1981, 232-245; Allgemein Vowinckel 1995,
n.
Anmerkungen
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126-128; zum Griechischen J. P. Vernant, Mythe et societe en Grece ancienne, Paris 1974 (repr. 1981) 57-81. 16 Das Wort gehört zur Wurzel pera-, ,Überführung', ,Handel'. 17 Vgl. Burkert 1994b. Siehe auch Seaford 1994 zu den zwei Formen der Reziprozität, Geschenk und Rache. 18 Dies ist das ,Recht des Rhadamanthys,' wie es sich selbst in der Seelenwanderung vollzieht, Arist. EN 11J2b25. Vgl. auch P. Marongiu, G. Newman, Vengeal1ce. The Fight against Injustice, Totowa, N. J. 1987. 19 Vgl. AT Ex. 21,23-27. 20 NT Lukas 23,41. Die entsprechenden akkadischen Wörter sind gamalu, gimillu und riabu ,vergelten', die sowohl im freundlichen wie im rächenden Sinn verwendet werden, AHw 275 f.; 978 ( 21 Deut. 25,2f; Ioseph. At/t. lud. 4,8,2J,238; NT 11. Kor. II,24; Plat. Leg. 845 a. 22 epieike' amoiben, Od. 12,382. 23 Aristoph. Nub. 245, vgl. u8. 24 Vgl. bei Anrn. 125. 25 De Waal 1989, 38(; Burkert 1994b, 12. 26 Vgl. S.A.j. White, "Gift Giving", ER V 552-557; Linders/Nordquist 1987; F. T. van Straten, "Gifts for the Gods", in Versnel 1981, 65-151. Im Griechischen spielt anatithenai ,hinaufstellen, weihen' eine besondere Rolle (vgl. Anm II9), aber auch das schlichte didonai findet sich immer wieder; die lateinische Weiheformel ist, abgekürzt, DDD, dedit donavit dedicavit. Zum ,Geben' von Opfern im Akkadischen siehe AHw 1525 s. v. zibu. 27 Korinth: CEG 359160; mit der Variante aphorman statt amoiban, ,einen erfreulichen Neustart', in CEG 358; Smyrna: CEG426. Vgl. Lazzarini 1976 und 1989/90. 28 Horn. Od. 3,58f.; Hom. Hyml1. Dem. 494. 29 Plat. Euthyphro 14 ce. Leg. 716 e heißt es, daß Götter von befleckten ,Gebern' keine Gaben annehmen. 30 Plat. Symp. 202e. 31 Hippocr. Aer. 22, II 80' Littre, mit Zitat von Eur. Hippol. 8. J2 R. Schmitt, Dichtung und Dichtersprache in il1dogermanischer Zeit, Wiesbaden 1967, 142- 149. 33 MY V 659,4; A. Morpurgo, Mycenaeae Graecitatis Lexicol1, Rom 1963, J24. 34 Persepolis-Inschrift g, Weissbach 19 II, 85. 35 Demokrit B 175. Vgl. auch theon eis al1thropous dosis Plat. Phil. 16cd. 36 NT Jakob. 1,17. 37 Vgl. die stoische Allegorie SVF II nr. 1081: Die Charites als Göttinnen seien nichts anderes als "unsere Anfangsopfer und Gegengaben für die Wohltaten" der Götter. 38 Sallustios 16,1; vgl. unten Anm. 122. 39 AT Ex. 23.25; Psalm 9'6,7( Der hebräische Terminus für die Gabe, die das Opfer begleitet, ist mil1hah; im Akkadischen spricht man von kurbanu und muhhuru, vgl. AHw s.v. 40 Stele von Fekherye, A. Abou-Assaf, P. Bodreuil, A. R. Millard, La statue de Tell Fekherye et son inscription bilingue assyro-arameenne, Paris 1982, 17 (assyrische Version 2() und 24 (aramäische Version 2-4).
250
Anmerkungen
41 Vgl. oben Anm. 29/30. 42 Horn. 1/. 22,169-172(; Od. 1,66f 43 Atrahasis 11 ii 14; 20, Lambert-Millard 1969: libasma ina katre/ibis katre, vgl. Dalley 1989, 21. Vergleichbar ist der Tadel, den Kroisos gegen Apollon bei Herodot ausspricht, unten Anm. 72. 44 G. van der Leeuw, "Die Do-ut-des-Formel in der Opfertheorie," ARW 20 (192011) 241-253; Widengren 1969, 280-8; ER VI 197-214; Grottanelli 1989/90; vgl. Festugiere 1976, der vor Simplifizierung warnt, 418: "beaucoup plus complexe que la notion du contrat." Vgl. auch Vowinckel 1995, 132-138 über, Geister und Götter' im Rahmen von Reziprozität und Ungleichheit. 45 Tittiriya-Samhita, Widengren 1969, 284; ER V 554. 46 Vgl. Kap. I Anm. 130. 47 Lambert 1960, 104, vgl. 147f. zum Begriff qiptu ,Anleihe, Kredit'; AT Provo 19,17· 48 Matth. 6,4; 6. 49 Aisch. Cho. 792 ( 50 P. Thieme, "Studien zur indogermanischen Wortkunde und Religionsgeschichte", Berichte der Sächsischen Akademie der Wissenschqften zu Leipzig, Phil.Hist. Klasse 98,5 (1952) 62~6. 51 Anth.Pal. 6,152,3(; 6,238,5f 52 CEG 227; 275. 53 CIL 1'2, 1531 = CLE 4, donu danunt. .. orant se voti crebro condemnes. 54 Vgl. K. Ehlich in: S. Döpp, Hg., Kamevaleske Phänomene in antiken und nacltantiken Kulturen und Literaturen, Trier 1993, 293 ( 55 Das griechische Wort ploutos ,Reichtum' bezeichnet ursprünglich eben das Getreide, das im unterirdischen ,Schatzhaus' (tltesauros) gespeichert ist; im Mythos ist Ploutos dann der Sohn der Getreidegöttin Demeter; doch auch der Gott der Unterwelt heißt Plouton. 56 AT Joel 2,14: daß Jahwe "zurückläßt einen Segen (fUr) Speis- und Trankopfer ... " Vgl. auch Widengren 1969, 288. 57 Kanopos-Dekret Ptolemaios' III, 239/8 V. ehr., OGI 56, 8 f, 19 f. 58 Act. Apost. 20,35. Die entgegengesetzte Asymmetrie findet Thukydides 2,97,4 im Brauch der Thraker: "lieber nehmen als geben." 59 Didache 1,5 (wobei Lukas 6,30 und Act. Apost. 20,36 im Hintergrund stehen). In den Evangelien spricht Jesus von Einladungen ohne antapodosis, Lukas 14,12, von gleichem Lohn fUr verschieden lange Arbeit, Matth. 20,1-16; dazu der verlorene Sohn und der ungerechte Haushalter, Lukas 15,11 ff.; 16,1-9; Jesu fordert, allen Reichtum den Armen zu geben, Markus 10,21. "Wenn ihr Geld habt, leiht nicht auf Zins aus, sondern gebt ... dem, von dem ihr sie nicht (zurück)bekommen werdet", so das gnostische ThomasEvangelium (95), woraus bei Matthäus wird: "Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht von dem, der dir abborgen will" (5,42), während Lukas schreibt: "Wer dich bittet, dem gib, und wer dir das Deine nimmt, da fordere es nicht wieder" (6,30). Die fUnfte Bitte des Vaterunsers, Matth. 6,12, wird gewöhnlich übersetzt: ,Vergib uns unsere Schuld', doch das verwendete Wort opheilemata bezeichnet eigentlich die ,Schulden'; dies müßte auf die Übersetzung fUhren: "Erlasse uns unsere Schulden, wie wir dies denen ge-
Anmerkungen
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genüber tuh, die uns (Geld) schulden." Die traditionelle Auffassung läßt sich mit rabbinischem Material stützen, siehe ThWbNT V 565. - Auch Kaiser Mark Aurel lehnt die ,Erstattung' (amoibe) der Wohltaten ab: "Wenn ihr Gutes getan habt, und ein anderer Gutes empfangen hat - was wünscht ihr dann noch?" (7.73). 60 Koran, Sure 9, I I I. 61 Vgl. Kap. I bei Anm. 36. Die folgende Diskussion läuft der Kontroverse um die Soziobiologie weithin parallel (vgl. Kap. I Anm. 34), nur daß als ,Erfolg' hier primär der Besitz von Gütern, nicht die Vervielfältigung der Nachkommen genommen wird. 62 Dawkins 1976. 63 Rapoport-Chamnah 1965; vgl. R. Axelrod, W. D. Hamilton, "The Evolution ofCooperation", Seience 211,4489 (1981) 1390-1396; D. R. Hofstadter, Seientiftc American (May 1983) 14-20; Axelrod 19841r988; Vowinckel 1995, 102-106. 64 Vgl. Dawkins 1976, 199f Einwände gegen die ,Stabilität' dieser Strategie bei Boyd-Lorberbaum 1987. 65 P.]. Hamilton Grierson, "The Silent Trade", in D. Dalton, ed., Research in economic Anthropology III (Greenwich, Conn. 1980) 1-'74 (zuerst 1903); A. Price, "On Silent Trade", ibo 75-96; R. Hennig, "Der stumme Handel als Urform des Außenhandels", WeitwirtschaJtliches Archiv Ir (1917) 265-278; D. Veerkamp, Stummer Handel. Seine Verbreitung, sein Wesen, Diss. (masch.) Göttingen 1956; A. Giardino, "Le merci, il tempo, il silenzio. Ricerche su miti e valori sociali nel mondo greco e romano", Studi Ston·ei 27 (1986) 277-302; RIAss s. v. ,Markt.' 66 Hdt. 4,196. 67 Pomp. Mela 3,60; Plin. n.h. 6,88; Arun. Marc. 23,6,68; am genauesten Eustathios, In Dionys. Perieg. 752, der Herodot zitiert. 68 Vgl. aber bei Anm. 135 zu einer ganz anderen Art des ,Gebens', do ut abeas. 69 Diagoras (5.Jh. v.Chr.) bei Diog. Laert. 6,59, Cic. nat.deor. 3,89 = Diagoras Melius, Theodorus Cyrenaeus ed. M. Winiarczyk, Leipzig 1981, T 36137. 70 Vgl. bes. Lambert 1960,75. 71 Aisch. Ag. 1168 f 72 Hdt. 1,90,2 vgl. 4; zur Entwicklung der Kroisos-Tradition Burkert, "Das Ende des Kroisos. Vorstufen einer Herodoteischen Geschichtserzählung", in: Catalepton, Festsehr. B. Wyss, Basel 1985,4-15. 73 Formulierung aus Atrahasis, oben Anm. 43. 74 Lysias 30,18. 75 fl. 24,425f. 76 Epikt. 2,23.5. 77 Oben bei Anm. 54/55. 78 Vgl. etwa 1. Paulson in 1. Paulson, A. Hultzkrantz, K. Jettmar, Die Religionen Nordeurasiens und der amerikanischen Arktis, Stuttgart 1962, 67-100. 79 Lys. Or. 30, vgl. Burkert 1977, 344. 80 Aristoph. Ecd. 779-'783. 81 Tert. Apol. 13,6. 82 Aiseh. Fr. 161 TrGF.
252
Anmerkungen
83 Vgl. die sarkastische Argumentation bei Hippocr. Aer. 22, II 80 Littre: Es sei klar, daß die Reichen reiche Gegengaben von den Göttern für ihre Opfer zu erwarten haben; bei den Armen werden beide Seiten unbefriedigt bleiben. 84 Hes. Erga 336(: kad' dynamin; vgl. Xen. Mem. 1,3,3; 4,3,16. 85 Porph. abst. 2,15 = Theophrast Fr. 584 A, Zeile 145-153 Fortenbaugh; 2,16 = Theopomp FGrHist 115 F 344. 86 Servius Aen. 2,116, anläßlich von Iphigenies Opferung: et sciendum in sacris simulata pro veris accipi. - E. Lane, ed., Corpus Monumentorum Religonis Dei Menis I, Leiden 1971, nr. 50. - Herakles Melon: Pollux 1,30f. Zum Ersatzopfer überhaupt vgl. Kap. 11. 87 Vgl. Latte 1920121, 285f. = 1968,25f.; 1. Sam. 15,22; Jesaia 1,11-17; vgl. auch Provo 21,27; 22,11. 88 Vgl. W. Schuller, ed., KOYnlption im Altertum, München 1982. 89 Hes. Fr. 361, zitiert von Platon, Resp. 390 e; parodiert von Ovid, Ars am. 3,653 f.; siehe auch Plat. Resp. 364 deo 90 fl. 9,497. 91 Horn. Hymn. Dem. 367-369, vgl. Richardson 1974, 270-275. 92 Bes. Plat. Leg. 905 d-907 b. 93 Plat. Tht. 176 b. Im späteren Platonismus konnte das Opfern durch eine magische Interpretation wieder gerechtfertigt werden: Es bewirkt, daß der Mensch mit den Göttern in Kontakt kommt (synaphthenai theois) , Sallustios 16 vgl. 14, 2f. 94 Lebrun 1980, 92 ff., 121 ff.; H. G. Güterbock in W. Röllig, ed., Altorientalisehe Literaturen, Wiesbaden 1978, 227. - Aisch. Cho. 255-257; Sept. 304f., vgl. 174-181. 95 Ich verdanke Wyatt MacGaffey, Haverford, folgenden Text: "Lord, give us grace; for if thou givest us not grace, we will not give thee glory - and who will win by that, Lord?" 96 Atrahasis III iv 35, Lambert-Millard 1969, 58f., Dalley 1989, 33; Gilgamesh XI 156ff., Dalley 114. 97 H. G. Güterbock, Kumarbi, Istanbul 1946, 21. 98 Lambert 1960, 148 f. 99 D. G. Bromley, A. D. ShupeJr., "Financing the New Religions", Journalfor the Scientific Study of Religion 19 (1980) 227-239. 100 Es gibt insbesondere auch die völlige Zerstörung von Kriegsbeute, so im hebräischen hrm - von Luther mit ,Bann' wiedergegeben -, aber auch z. B. bei Kelten, Caesar b. g. 6,17,3-5, vgl. U. E. Hagberg in Linders-Nordquist 1987, 77-81. 101 Hdt. 7,54.3 diskutiert das Problem, als Xerxes eine goldene Schale im Hellespont versenkt: Soll dies wirklich eine Weihegabe an den Sonnengott sein, obschon sie in die falsche Richtung geht, oder ein Geschenk für den Hellespont - den Xerxes hatte peitschen lassen? 102 Hdt. 3,41 f. 103 Siehe Burkert in: Herodote et les peuples nongrecs. Entretiens sur I' antiquite classique XXXV, Vandoeuvres-Geneve 1990, 18, im Vergleich mit Hdt. 4,61,2. 104 Gen. 15,1 I.
Anmerkrmgen
253
105 Zur Gemeinsamkeit von Griechischem und Westsemitischem R. K. Yerkes, Sacrifice in Greek and Roman Religions and Early Judaism, London 1953; allgemein Burkert 1972. 106 Zum Brandopfer {'olah) in Israel A. Hultgärd in Linders-Nordquist 1987, 83-91. Zum ,Moloch'-Opfer Kap. 11 bei Anm. 75-77. 107 Vgl. Burkert 1992a, 20. 108 Vgl. Burkert 1979, 41-43; zu Mesopotamien RIAss VII 1-12 s. v. Libation; Ch. Watanabe, "A Problem in the Libation Scene of Ashurbanipal", in H. I. H. Prince, Takahito Mikasa, ed., Cult and Ritual in the Ancient Near East, Wiesbaden 1992, 91-104. Der ugaritische und hebräische Terminus ist nsk, HAL 664, vgl. auch 771 WbNTVII 529-537. 109 Markus 14,3-10 mit Parallelen. 1I0 Hierzu Meissner 1920125, 11 81-90; Oppenheim 1964, 106[, 191 f.; Ringgren 1973, 81-89; H. Altenmüller, s. v. Opfer, Opferumlauf, Lexikon der Aegyptologie IV (1982) 579-584; 596[; W. Helck s. v. Tempelwirtschaft, ibo VI (1986) 414-420. I I I Akkadisch esm, AHw 257; Hebräisch 'aser, z. B. im Heiligtum von Bethel, Gen. 28,22; Griechisch dekate, vor allem im Kult des Apollon, vgl. bei Anm. I; ferner H. W. Parke, "A Consecration to Apollo", Hermathena 72 (1948) 82-1I4· 112 Genaue Agenda ftir den Kult am Anu-Tempel in Uruk: Thureau-Dangin 1921 ,61-1I8. 1I3 AT Dt. 14,22[, das sog. Zehnten-Gesetz. 1I4 Vgl. Latte 1960, 215 [ 115 Vgl. ER V 554[, auch zu China. 116 Aristoph. Plut. 594-597 mit Schol. 1I7 NT Matth. 1O,5-15 vgl. Markus 6,8-1I, Lukas 9,2-5. 1I8 III. Brief des Johannes 7. Didache 1I,12 verbietet ausdrücklich, ,im Geiste', d. h. in frommer Ekstase zu betteln. II9 Siehe Morris 1986; Grottanelli 1991. Der gleiche Begriff des ,HinaufStellens' wird auch im Semitischen ausgedrückt, Akkadisch eM, AHw 209, Hebräisch 'Ih, HAL 785 s. v. Doch vordringliche Aufgabe orientalischer Tempel war die Ernährung der Götter, d. h. des Tempelpersonals. 120 Vgl. die Beschreibung 1. Könige 7,13-50. 121 Vgl. Anm. 31. 122 Sallustios 16,1 (oben bei Anm. 38) erklärt das Tieropfer als ,Erstlingsgabe von Leben', wie auch ein Haaropfer ,Erstlingsgabe vom Körper' sein soll. Im Lateinischen gibt es den Begriff der hostia animalis, Trebatius bei Macrob. Sat. 3,5,1-4: in quo sola anima deo sacratur. Doch läßt sich Leben nicht übertragen und darum nicht weitergeben, man kann es nur vernichten. Die Israeliten nannten das Blut ,Leben', ,Seele' (nephesh), Lef!. 17,II; Dt. 12,23; Blut läßt sich zum Altar des Gottes transferieren - die ,Lebensgabe' bleibt Metapher. 123 Hes. Theog. 535; 556[ Vgl. Gladigow 1984. Zum Element des ,Betrugs' im Opfer M. Horkheimer, Th. W. Adorno, Dialektik der Aujklärung, Frankfurt 1981, 67--'76. Siehe auch oben bei Anm. 86. 124 Verwiesen sei auf Meuli 1946 und Burkert 1972/97.
254
Anmerkungen
125 Vgl. Fouts-Budd 1979. 370; Bygott 1979. 454; De Waal 1989. 209; Wrangharn 1994. 77-92. Vielfältigere Essensteilung wird neuerdings von Bonobos berichtet; siehe auch Cheney-Seyfarth 1994. 126 Vgl. Baudy 1983; Gladigow 1984; auch Lanternari 1976. 196. 127 Schieffelin 1980. 128 Vgl. bei Anm. 13. 129 Äthiopen: 11. 1.423 f.; Od. 1.22-26; Phäaken: Od.7.201-206. 130 Daß die Götter üblicherweise den Rauch .verspeisen" ist in einer Nebenversion von 11. 8.550-552 formuliert. zitiert bei Plat. Alk. II 149de; im Standardtext Homers fehlen diese Verse - sind sie als grotesk empfunden und darum gestrichen worden? - Berühmt ist die Parodie bei Lukian. 1karomen. 26f. 131 AT Lev. 17.2f.; vgl. Meuli 1975.938; Burkert 1992b. I73f. 132 Burkert 1992 b. 174. 133 Hdt. 1.105.1 doroisi te kai Utesi; man könnte formulieren: do ut abeas (vgl. bei Anm.I35). 134 Siehe Kap. II bei Anm. 21. 135 Harrison 1922. 7; 1927. 134-138. 136 Namtar. der Pestgott. erhält Tempel und Kult im Epos Atrahasis. Dalley 1989. 24. Febris .Fieber' hat einen Tempel in Rom. Val. Max. 2.5.6; Cic. N.d. 3.63; Wissowa RE VI 2095 f. 137 Aiseh. Theb. 699-701. 138 Jameson et al. 1993.45. Inschrift B Z. I2f.. vgl. S. 63-67. 139 Vgl. etwa Aiseh. Pers. 219; 523: .. Gaben für die Erde und die Toten." Siehe auch A. Henrichs ... Namenlosigkeit und Euphemismus: Zur Ambivalenz der chthonischen Mächte im attischen Drama". in: H. Hofinann. A. Harder. ed .• Fragmenta dramatica. Göttingen 1991. 161-201. 140 Vgl. B. Janowski. ..Erwägungen zur Vorgeschichte des israelitischen SELAMIM-Opfers. Ugarit-Forschungen 12 (1980) 231-259; Burkert 1972. 16.41. Die Modifikationen. die D. Schwemer. Studies on the Civilization and Culture of Nuzi and the Hurrians 7. (1995). 81-116. auf Grund hurritischer Termini vorbringt. scheinen mir auf einer immer noch wenig deutlichen Basis zu beruhen. 141 Vgl. Kap. II. 142 Siehe Anm. 98. 143 H.-J. Klimkeit. Gnosis on the Silk Road. Gnostic Textsfrom Central Asia. New York 1993. ]26. 144 Petz! 1994. VII nr. 2. 145 Heraklit B 90. vgl. Seaford 1994. 220-2]2. 146 Anaximandros B I. vgl. Kirk-Raven-Schofield 1983. 117-122. 147 Plat. Phd. 72bc. Auch die Bestandteile des menschlichen Körpers sind .. Teile. die vom All geborgt sind. um zurückgegeben zu werden". Tim. 42e. 148 Vgl. Lorenz 1973; Vollmer 1994; zum Gesamtproblem auch Boyer 1994.
Anmerkungen
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VII. Die Zeichen: Aufschluß und Bearbeitung von Wirklichkeit Die moderne Wissenschaft der Semiologie kann hier nicht zulänglich vorgestellt und diskutiert werden. Zu einer Definition von ,Zeichen' vgl. Eco 1976, 16; demnach steht beim ,Zeichen' etwas für etwas anderes ,auf Grund vorher festgelegter sozialer Konvention'; dies würde das biologische Funktionieren von ,Zeichen' ausschließen, die ja nicht sozialer Konvention entstammen, sondern einem evolutionären Optimierungsprozeß. Im PostStrukturalismus verliert der Begriff des ,Zeichens' wieder an Bedeutung, vgl. Eco 1984. 2 Unten bei Anm. 57/58. 3 Matth. 16,3; dieser Abschnitt fehlt in den wichtigsten Handschriften, gilt also als Interpolation. Die Evangelien verweisen außerdem auf den Feigenbaum als ,Zeichen' für den anbrechenden Sommer, Markus 13,28, Matth. 24,32, Lukas 21.29. 4 Burkert 1977, 18rf. 5 Der Terminus für ,Zeichen' ist akkadisch iUu, hebräisch 'ot. Im Griechischen existiert, neben dem allgemeinen Wort sema / semeion, das Wort teirea, das offenbar besonders für Himmelszeichen verwendet wurde; danach auch der Name des mythischen Sehers ,Teiresias'. 6 Die umfassendste Studie zum ganzen Komplex ist noch immer A. BoucheLeclerq, Histoire de la divination dans I' antiquite I-IV, Paris r879/82; ferner W. R. Halliday, Creek Divination, London 1913; A. Caquot, M. Leibovici, LA divination, Paris 1968; J. P. Vernant, ed., Divination et rationalite, Paris 1974; "Actes du He Colloque international du C.E.R.G.A. sur ,Oracles et mantique en Grece ancienne"', Kernos 3 (1990); R. Bloch, LA divination, Paris 1991; M. Sordi, ed., LA prc!fezia /leI mondo antico, Milano 1993. Akkadische Texte sind bei Borger 1967/75 III 95--99 verzeichnet; zu den Hethitern A. Kammenhuber, Orakelpraxis, Träume und Vorzeichenschau bei den Hethitern, Heidelberg 1977; Etrusker: C. O. Thulin, Die etruskische Disziplin, Göteborg 1905/9; vgl. allgemein auch U. Ritz, Das Bedeutsame in den Erscheimmgen. Divinationspraktiken in traditionalen Cesellschtiften, Frankfurt 1988; J. Bremmer, "Prophets, Seers, and Politics in Greece, Israel, and Early Modern Europe, " Numen 40 (1993) 150-183. 7 Cicero, De divinatione 2,26 (genus artificiosum - genus naturale) , vgl. 1,1I f.; 1,34, dazu der Konunentar von A. S. Pease, M. Tulli Ciceronis De Divinatione Libri Duo (1920123), repr. Dannstadt 1963. Servius Aen. 6,190 unterscheidet auguria oblativa (Zeichen, die sich anbieten) von auguria impetrativa (Zeichen, die man durch eigenes Handeln ,erreicht'). 8 Dieser Ausdruck ist eine Besonderheit des Johannes-Evangeliurns, siehe ThWbNTVH 241-257. 9 Hdt. 8,137-139. Das Zeichen ist bekanntlich auf der goldenen Aschenkiste im Königsgrab von Vergina (Philipp II.?) aufgetaucht und dann zum Zankapfel zwischen dem griechischen und dem slavischen ,Makedonien' geworden. 10 Hdt. 9,91. I
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Anmerkungen
Blätter der Eiche von Dodona: Od. 14,328; 19,297; Wasserspiegel: Paus. 7,21,13; zu akkadischen Fluß-Omina F. Nötscher in Orientalia 51/4 (1930) 121-146. 12 Romulus: Ennius Ann. I 78 fI = Fr. XLVII Skutsch, vgl. RE I A 1°91; Kalchas: Horn. n. 1,71 [; Akkadisches: J. Hunger, "Babylonische Tieromina nebst griechisch-römischen Parallelen", Mitteilungen der Vorderasiatischen Gese/lschqfi 1909,3; Ausgabe und Übersetzung einer Serie: F. Nötscher, Orientalia 51/54 (1930) 176-179. 13 Od. 2,181 f. 14 Die Geschichte von Mosollamos bei PS.-Hekataios FCrHist 264 F 21 = losephus C.Ap. 1,201-204. 15 Burkert 1992a, 46-53. 16 Herzfeld 1985, 247-258. 17 H. Diels, Beiträge zur Zuckungsliteratur des Okzidents und Orients 1111; Abh. Berlin 1907/8 (repr. Leipzig 1970). 18 Diesen Ausdruck gebrauchte Paracelsus, De signatura rerum: Theophrast von Hohenheim, gen. Paracelsus, Sämtliche Werke I 2, Berlin 1928, 397-400. 19 Kap. I bei Anm. 92. 20 Zu Seher-Familien Burkert 1992a, 43-46. 21 Vgl. Lorenz 1973; Ditfurth 1976. 22 Ptol. Tetr. 1,2. 23 G. Glotz, L' ordalie dans Ta Crece primitive, Paris 1904; HDA III 1016-1021; H. Nottarp, Gottesurteilsstudien, München 1956. 24 Zu "Krieg als Gottesurteils-Verfahren" im Nahen Osten Liverani 1990, 150-159; unter den historischen Legenden der Römer ist der Kampf der Horatier und Curiatier besonders bezeichnend, Liv. 1,24, vgl. RE VIII 2322- 2327. 25 Codex Hammurapi § 2; 132, ANET 166; 171; Mitte/assyrisches Gesetzbuch A § 25, ANET 182. 26 Über glühende Kohlen zu gehen (so bei Artemis Perasia in Kastabala: Strab. I2 p. 537) ist ein Ritual, das bei den Anastenaria Nordgriechenlands mit christlicher Interpretation noch geübt wird; modeme Selbsterfahrungsgruppen haben dies nachgeahmt. In der Regel gibt es keine Brandwunden; doch der seelische Aufwand ist bedeutend. Vgl. W. D. Furley, Studies in the Use ofFire in Ancient Greek Religion, New York 1981; A. Bürge, "Realität und Rationalität der Feuerprobe", Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 100 (1983) 257-259; L. M. Danforth, Firewalking and Religious Healing, Princeton 1989. 27 Yasna 43,4; G. Widengren, Die Religionen Irans, Stuttgart 1965, 87[; vgl. Lactanz Inst. 7,2 I ,3 -7. 28 Soph. Ant. 264f.; Aristoph. Lys. 133-135. H. S. Versnel, "J'tE:7tQTtJ.1EVO\;". The Cnidian Curse Tablets and Ordeal by Fire" , in R. Hägg, ed., Ancient Creek CuTt Practicefrom the Epigraphical Evidence, Stockholm 1994, 145-154. 29 Siehe bei Anm. 35. 30 AT Num. 5,11; 21 fI, vgl. W. McKane Vetus Testamenturn 30 (1980) 474-492; Hes. Theog. 782-806. 31 Siehe P. Hoskisson, "The Nishum ,Oath' in Mari", in G. D. Young, ed., Mari in Retrospect, Winona Lake 1992,203-10, bes. 206f.; J. Bottero ASNSII
A IImerkHllgell
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Pisa III 11 (1981) 1005-1068. Bei den Hethitern ist Ishara, ,Wassersucht,' die Eid-Göttin. Vgl. auch Meissner 1920125, Ir 290. Avesta, Videvdat 4,54-55, dazu M. Boyce in MOllumentum H. S. Nyberg I, Teheran/Liege 1975, 69-76. 32 E. Peterson, Frühkirche,judentum und Gnosis, Freiburg 1959, 334f. 33 ER XV 302: "May this grass prove poisonous to me if I have lied before God!" Vgl. auch G. Lorenz, in F. Hampl, 1. Weiler, Kritische und vergleichende Studien ZHr alten Geschichte und Universalgeschichte (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft 18), Innsbruck 1974, 235. 34 Gottfried von Strassburg, Tristan, ed. K. Marold, rev. W. Schröder, Berlin 1977, Zeile 15518-15764, hier 15739f. 35 Fulcher von Chartres, PL 155, 843f.; das Gottesurteil wird zum Triumph, trotz des bösen Ausgangs, bei Raymond d' Aguilers, PL 155, 641-643; 646 = Le de Raymond d' Aguilers ed. J. H. und L. L. Hill (1969) 120-124; 128 f.; vgl. Chr. Auffarth, Saeculum 40 (1989) 39-55, bes. 51. 36 Vgl. Kap. I bei Anm. 98. 37 Vgl. hierzu auch M. Douglas, Natural Symbols, New York 1973, 1978'; sie betont, daß die angenommene oder postulierte kosmische Symbolik gewöhnlich soziale Konfigurationen spiegelt. 38 Burkert 1979, 41 f. 39 Das Wort baitylos erscheint bei Philon von Byblos FGrHist 790 F 2 = Euseb. Praep. Ev. 1,10,23 und bei Damaskios, Vita Isidori§ 34; 203 ed. Zintzen (diese Belege fehlen in LSj), von östlicher Seite im Vertrag von Assarhaddon mit Baal von Tyros (ANET 534) und im Sfire-Text Ir (ANET 660); BethEI AT Gen. 28,10-22; siehe Mettinger 1995, 35; 130-132. 40 U. Seid!, Die babylonischen Kudurru-RelieJs, Fribourg 1989. 41 Vgl. Piccaluga 1974; Gladigow 1992, bes. 177-183. 42 Zu den böotischen hipparcllOi und dem geheimen ,Grab der Dirke' Plut. Gen. Socr. 578 b, vgl. Burkert 1972, 210. 43 Paus. 1,28,2. 44 Zur anthropologischen Funktion der Kunst siehe Dissanayake 1988, bes. 92-101. 45 Vgl. Kap. I bei Anm. 96/97. 46 Vgl. hierzu RAe s. v. Götterbild; Mettinger 1995. 47 Vgl. Kap. I bei Anm. 78. 48 Vgl. C. P. Jones, "Stigma: Tattooing and Branding in Graeco-Roman Antiquity",jRS 77 (1987) 139-155. Zu Markierungen im Rahmen der Initiation siehe z. B. C. Calame, Le processus symbolique (Centro Internazionale di Semiotica e di Linguistica: Documents de Travail et pre-publications 128/9), Urbino 1983, 4f., über Knaben in Neuguinea; über Mädchen in Afrika Lincoln 1981, 34-49. 49 Hierzu Kap. I bei Anm. II6-II9. 50 Hdt. 1,74.5; 3,8. 51 So AT Gen. 17,II (die ältere Version hat an Stelle dessen das ,Halbierungsopfer', vgl. Anm. 89); vgl. allgemein ER III 5II-514; siehe auch Kap. I bei Anm. II 8; Kap. Ir bei Anm. 50151. 52 Erra 4,56, Dalley 1989, 305; vgl. Kap. Ir bei Anm. 41-44; Burkert 1979, 105; 120.
Anmerkungen 53 Das Dogma von den Sakramenten als character indelebilis ist von Thomas entwickelt in Summa theologiae III quaest. 63, nach Augustin, vgl. L.J. Pongratz, Historisches Wörterbuch der Philosophie I (1971) 984-6. 54 In Rußland gab es eine christliche Sekte, die Skopzii, die die Kastration als das eigentliche ,Siegel' der Auserwählten praktizierten, siehe K. K. Grass, Die russischen Sekten II, Leipzig 1914, 687ff. 55 Auf Lateinisch ist der Eid schlechtweg ,Recht, das zum Recht zu machen ist', ius iurandum. Altes Standardwerk: Hirzel 1902; siehe auch E. Ziebarth REV 2975-2083; TIJWbNT V 458-467; RIAss II 305-315; ER XV 301-305; E. Benveniste, "L'expression du serment dans la Grece ancienne", RHR 134 (1947/8) 81-94; J. Plescia, The Oath and Pe~jury i/1 Ancieltt Greece, Tallahassee 1970; Burkert 1977, 377-382; N. Rollant, "Horkos et sa famille", LA1V1A 5 (1979) 214-304; Faraone 1993. 56 ER XV 301: "Oaths are encountered among all peoples and in all cultures. They are a primal symbol of religion." 57 Vgl. bes. Sommer 1992; Cheney-Seyfarth 1994, 245-271. 58 Sommer 1992, 66--91, esp. 85. 59 Zum Typ ,deceit and deception' Dundes 1954. 60 Herodot 1,153 läßt Kyros den Ausspruch tun, die Geschäfte auf dem Markt seien "Betrug durch Eide". "Man muß Kinder mit Würfeln und Erwachsene mit Eiden betrügen", soll Lysander gesagt haben (Diod. 10,9), oder auch König Philipp von Makedonien (Ael. Var. Hist. 7,12). 61 Od. 19,395 ( 62 quos me sentio dicere, in der Devotionsformel, Macrob. Sat. 3,9,10. 63 Vgl. Kap. I bei Anm. 92198. 64 Dies ist eine normale Formel in Ägypten, Bonnet 1952, 164, und in Mesopotamien, RIAss Il 3°7-315; Meissner 1920125, II 290( 65 Od. 14,158(; 17,155(; 20,230(; vgl. 19,304. 66 ANET 205; D. Yoshida, Untersuchungen zu den Sonnengottheiten bei den Hethitern, Heidelberg 1996; Burkert 1992 a, 93 ( 67 n. 3,104; 277-279, vgl. Burkert, "Homer's Anthropomorphism: Narrative and Ritual", in: D. Buitron-Oliver, ed., New Perspectives in Early Creek Art, Washington 1991, 81-91. 68 Eine überraschende, doch logische Konsequenz ist, daß ein Gott ,bei sich selbst' Eide schwört; Jahwe tut es in vollem Ernst, Deut. 29,9(; Kallimachos Fr. 114,5 macht daraus einen Scherz. 69 Siehe Anm. 67; 65. 70 R. Merkelbach, ZPE 9 (1972) 277-285. 71 Bonnet 1952, 164; Stein des Nofer-Abu, Roeder 1915, 58; vgl. Kap.V Anm.85· 72 Aristoph. Nuh. 397. 73 AHw 600; R1Ass II 314; Meissner 1920125, II 290(; vgl. J. Pedersen, Der Eid bei den Semiten, Straßburg 1914. 74 Hes. Erga 803 f. 75 Vgl. Bell 1992, 98 (im Anschluß an Bourdieu): "Ritualization produces this ritualized body through the interaction of the body with a structured and structuring environment."
Anmerkungen
259
76 D. Wiseman, "Abban and Alalakh",JCS 12 (1958) 129. 7711. ],299-]01, vgl. Anm. 67; Karavites 1992. 78 Vertrag von Ashurnirari V und Mati'ilu, ANET 5]2. 79 N. Öttinger, Die militärischen Eide der Hethiter, Wiesbaden 1976, 21. 80 Liv. 1,24,8. 81 Paroemiographi Graeci 1225(; Burkert 1977, ]79. 82 Verträge von Sfire und Gründungseid von Kyrene, vgl. Faraone 1993; F. Letoublon, "Le serment fondateur", Metis 4 (1989) 101-II5; Burkert 1992a, 67 f. 8] Shurpu 3,35, p. 20 Reiner: "Eid, beschworen durch Schlachten eines Schafes und Berühren des abgeschnittenen Fleisches"; vgl. Weinfeld 1990, 187. Hdt. 6,68: Demaratos opfert einen Ochsen und gibt seiner Mutter "Teile der Eingeweide in die Hand", um sie zu veranlassen die Wahrheit zu sprechen. 84 Perser und Griechen nach Xen. Anab. 2,2,4. 85 Ein Ritual der Germanen, ER XV ]04. 86 Diese Konsequenz kann, laut Hdt. 6,86, selbst ein versuchter Meineid haben. 87 Demosth. 23,67( vgl. Deinarchos 47; R. W. Wallace, The Areopagos Council to 307 B. c., Baltimore 1985, 12]. In gewissem Sinn vergleichbar ist es, wenn ein Opfer in zwei Hälften geteilt wird und die vertragschließenden Partner dazwischen durchgehen; so im Alten Testament, Gen. 15,9; Jeremia 34.18; auch bei den Hethitern, vgl. E. Bickerman, "Coup er une alliance", Studies inJewish arid Christian History I, Leiden 1976, 1-]2.; Burkert 1972, 46 Anm.]; H. Versnel, "Sacrificium lustrale", Meded. Nederl. Inst. Rome 37 (1975) 1-19. Rationaler und drastischer ist die Bindung durch ein gemeinsames Verbrechen: Athenis'che Oligarchen "töteten Hyperbolos, womit sie einander die Garantie der Treue gaben" (Thuk. 8,7],3); den Catilinariern traute man zu, daß sie durch ein Kannibalenmahl ihre Revolution vorbereiteten, Sallust. Catilina 22.; vgl. Kap. I Anm. 120. 88 11. 1,245. 89 Polyb. ],25,7-9. 90 RIAss Ir ]06 (der Terminus rur ,Ausreißen' ist nasahu). 91 Hdt. 1,165,3; vgl. Diod. 9,10,] (Epidamnos); Kallim. Fr. 388,9. 92 Jer. 51,59-64. 9] Diog. Laert. 8,22, vgl. Iambl. V. Pyth. 47; 144; 150; anders Diod. 10,9,1. 94 Matth. 5,34-37 (Bergpredigt). 95 Tuppu mamiti - ilu mamiti, vgl. AHw 599. 96 John Locke, Epistula de tolerantialA Leu!?r on Toleration, ed. R. Klibansky, English Translation ed. J. W. Gough, Oxford 1968, 1]5: "Those who deny the existence of the Deity are not to be tolerated at all. Promises, covenants and oaths, which are the bonds ofhuman society, can have no hold upon or sanctity for an atheist. For the taking away of God, even only in thought, dissolves all".
Abkürzungen Abh ............ . AHw .......... . ANEP ......... .
ANET ......... .
ANRW ........ . CAD .......... . CCCA ......... . CEG .......... . CEGII ........ . CIL .. ......... . CIMRM........ . EdM ........... . ER ............ . FGrHist ........ . GB ............ . HAL .......... .
HDA ....... : .. . HrwG .......... . IG ... ......... . KAI ........... .
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Abkürzungen
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KHM .......... .
LIMC. .... ..... .
LSAM ......... . LSCG ......... . LSj. ........... . LSS ........... . OF ............ . OGI. .......... . PGM .......... . RAC .......... . RE ............ .
RIAss .......... . RML .......... . SAHG ......... . Si tzungsber. . .... . ThWbNT....... .
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Namen- und Sachregister Abenteuerliche Suche 76-85, 87-89 Aberglaube 45, 68,117,155,196 Abraham 178, 185 Achilleus 110, 126, 210 Adrasteia II 2 Aelius Aristeides 51-53, 72 Affen siehe Primaten, Schimpansen Mrika, Heilkulte 131, 141 Aggression 22, 24, 25 (, 27, 108, 120, 145, 152 Agni 60,184 Ägyptische Religion 30, 49, II5, 179, 184; siehe Amun, Isis, Ptolemaios III Ahuramazda 48, II8, 165 Aischylos 48, 103, 125 Anm. 139, 133, 167, 172, 174, 185 Akkadische Begriffe 46, 103, 148, 228 Anm. 71, 249 Anm. 20; Rituale IIO(, 120(, 134, 146, 148, 193, 2°4, 208 (, 212; Weisheitstexte 30, 46, 167, 175; vgl. Atrahasis, Gilgamesh, Ishtar, Sargon, Sanherib Alalach 209 Alexander der Große 119 Alkestis 72 Alttestamentliche Texte 165 f.; siehe Jahwe, Judentum Ambrosius 119 Amor und Psyche 89-91 Amphiaraos 243 Anm. 25 Amun II3 anathemata 18o Anaximandros 188 Angeborene Auslösungsmechanismen 44 Angst als anthropologisches Programm 45-48, 58, 112, 145, 186, 196; Angst als Grundlage der Religion 46, 52 Angstlernen 45 Antinoos 72 Antiope 92 Aphrodite 103, 141
Apollon Il4, rr6, 124, 126, 130, 139, 147, 155, 172; siehe Delphi Apollonios Rhodios 136 Apostel 124, 18o apotropäisch 59 Anm. 18,60, 184f. Apsyrtos 62 ( Apuleius 89 Ara Maxima 167, 179 Araber, Bündnisritual 203 Archetypen 44 Areopag 210 Argonauten 62, 78, 87, 100 Aristaios l]I Aristophanes 125, 142, 149, 163, 173, 175 Aristoteles 38, II7 Arpachiya 55
arrhephoroi 96 Artemis 96, 103 Asklepios 51-53,139,155 Assurbanipal 109(, Il9 Anm. 106 Assyrisch siehe Akkadisch Atheismus 17, 30, 172, 212, 218 Anm. 24 Athena 85, II9, 139, 151, 159, 165, 166, 167, 181 Atrahasis 166, 172 Anm. 73, 244 Anm. 48 Attis 63, 67 Auge, Mutter des Telephos 92 auspicia 193 Autolykos 206 awe 46; siehe Angst Baal 103 Babylon 120, 134f. Bacchanalia 20
baitylos 200 Bali 179 Bambyke-Hierapolis 65, 140 Baum 105; Baum des Lebens 236 Anm.28
274
Namen- und Sachregister
Beichtinschriften 140; siehe Schuldbekenntnis Berge als Göttersitz 105 Beschneidung 3If., 66f., 2°3, 204, 227 Anm·5 I Beth-E1200 Betrug 39, 42, 89, 142 f., 169, 176, 205f. Betteln 180 Bieber 63 f. Bischof, N. 33, 47 Blut 46, 50, 66, 2°3, 2°9, als ,Leben' 71,253 Anm. 122 Böser Blick 59 f., 108 Boten der Macht 122-125; siehe Apostel Bourdieu, P. 161 Brandmarkung 202 Brandopfer 178, 185 f. Brauron 96 Buddhismus 28, 180,218 Anm. 24 bugollia 13 I, 142 Buphollia 139 Buße 112 f., 129, 148; siehe Beichtinschriften, Schuldbekenntnis Caere 140f. Caesar 72, 109 Caligula 72
character indelebilis 204 chan"s 129, 164, 186 Christentum 28 f., 31, II9; siehe Jesus, Neues Testament Christliches Ritual II I, 198 f., 204 f. Coldstream, N. 16o Dämonen 59f., 70-72, 208f. daimolles als Boten 124 Danae 92 Daniel 121, 142 Darius II8, 165 Darwin, G. 23 David 120, 125 Dawkins, R. 24 Anm. 40, 169 Anm. 62 Defäkation 63 defixio 146 Delphi 130, 139, 140f., 142, 144, 151, 172, 181; siehe Apollo
Demokrit 165 Demütigung IIof., 148 Diagoras 172 Dionysius Areopagita 107 Dionysos 137, I44f. do uf des 166-168 Dodds, E. R. 152 Dodona 133, 151,256 Anm. II
Dolopathus 53 Dreifuß-Kessel 180 Dualismus 41 Dumuzi 72, III Durkheim, E. 15,45, 169 Eid 203 f., 205-212 Ekstase 19, 196; siehe Schamanismus Eleusis 113 Eltern 44f., 122; siehe Vater Emar II3 Endorphine 28 Engel 123 Enuma elish 68 Epheben 208 Epiktet 173 Epimenides 151 Erinyen 185, 209 Erlösung 144-146 Ernstcharakter der Religion 20, 42, 46, 163, 197, 2°9 Ersatz 56, 70-72, 174, 185, 208 Anm. 71 Erstlingsopfer 167, 171 Erzählung 74--'76, 83-85, 100, I37f., I39f. Eskimos 87, 143 Essen-Teilung 164,182,187 Etrusker 140f., 191 Eunuchen-Priester 65 f., 112, 204; siehe Kastration Euripides 103, 137, I42f. Evolutionäre Erkenntnistheorie 42, 188 Fehling, D. 90 Fesseln 144-147
fetiales
2I
°
Feuer 198; siehe Agni, Brandopfer Fingeropfer 50, 53-56, 67
Namen-' und Sachregister Finley. M. 160 Fitness 24f.. 27f.. 34 Flehe-Ritual II2. 147f. Flutmythos 28. 81. 175 , 'Fortpflanzung 25 f.. 3° f. Freud. S. 104f.. 136 Fulguration 25 Gabe 41. 52.69. 158-187
galli 65. 112f.; siehe Eunuchen-Priester
275
Heraklit 188 Hereules 167, 179 Hermes 85, 124, 140 Herodot 140f.. 170, 172. 184, 192, 203. 252 Anm. 101 Heroen 185 Herr der Tiere 173; siehe Potnia Hesiod 174, 175. 182,209 Hethitische Texte II6, 129, 148, 175, 207; siehe Mursilis Hierarchie 41. 48, 102. 107 hiketeia 109f.• 237 Anm. 45 Himmel als Ort der Götter 105 f. Hiob 172 Hippokratische Texte 165, 252 Anm. 83 Hippolytos 97 Hirte 104 Hochzeit 162 Hölle als Raubtier 59 holoka/~ston 178 Homer 46. 162, 165, 175, 193. 207, 208. 209; siehe Ilias, Odyssee Homosexualität 99, II3 Horaz 121 Hutterer 3of. Hymnen II4-II6
Gebet 164 f.. 167 Geertz. C. 15. 17 Gefangenen-Dilemma 169. 171 Geftihle 19. 27. 102 Gelübde 167 Gemeinsame geistige Welt 37-42. 106. 183. 194f.. 207 Gemeinsames Verbrechen 46 Geryoneus 77 f.. 87 Gesicht wahren 154 Gespenster 15 I; siehe Dämonen .Gespenst in der Ecke' 39. 42 Gift beim Gottesurteil 198 Gilgamesh 79. 8of.• 87.238 Anm. 61 Goldblättchen 144 f. Gott 18. 40. 4If.• 44. 48f.. 201. 207f.; Götter und Opfer 183 Gottesurteil 197-199 Iason 87; siehe Argonauten Grenzen 45. 61 f.. 200. 208 Große Göttin 105. 112. 114. 120; siehe Ilias 126f., 139, 147, 166, 173. 193, Mater Magna 207, 208. 209 Inanna 72,80,87, 111 Gruppe. O. 23 Gruppenselektion 24 inclusive fitness 25, 29 ,Indisches Opfer 60, 167, 184; siehe Gudea 120. 236 Anm. 28 Agni, Soma-Kult Indogemunisches 86, 103, 165, 221 Haar 97. 166. 202. 253 Anm. 122; Haarsträubendes 27. 108 Anm. 72. 236 Anm. 18 Hadad 166 Initiation 45 f., 93~9, 202 f. Inzest-Tabu pf. Hagel-Abwehr 50f. Hammurapi II 8 10 9 2 Iphigenie 97, 133 Harrison. J. 60. 95. 184 Heilige Schauer 27 Iranische Religion 48 f.. 177 f.. 235 Anm. 16; siehe Ahuramazda Hekate 180 Isaak 185 Hekatombe 167 Ishtar 65.87, 123,204; siehe Inanna Hektor 110. 166. 173 Helike 135 Isis 95. 148 Islam 28, 30, 33, 104, 1I0f., 168, 201 , Helios 14°.163.208 Isokrates 223 Anm. 119 HerakIes 77.87,113. 130f., 174
Namen- und Sachregister Jagd 173, 182 Jahwe, in Erzählungen 66f., 103, IIO, 125, 128, 148; in Psalmen II6, 120, 144, 166; Gebote, 165 f., 179 Jephtha 97 Jeremia 2II Jerusalen 178, 179 Jesus, Worte 49, 124, 167, 168, 178(, 191, 2II Johannes der Täufer 124 Jona 68 f., 124 f., 133 Judentum 20, 31, 138, 193, siehe Alttestamentliche Texte, Jahwe Jung, C. G. 44 Juppiter 104, 2Iof. Kaineus 99 Kalchas 127, 133, 142, 193 Kalevala 61 Kallisto 92 Karneia 139 Karthago 135, 170, 178 Kastration 64, 113, 136, 210; siehe Eunuchen-Priest.er, gaUi Katholische Kirche 3 I, 11 Kato Symi I 12 Kausalität 41, 153 f., 156; siehe Schuld Kinderopfer 71, 135, 178 Kindliches Verhalten 108 Klaros II6 Knieendes Gebet IlOf. König 103 f., II8-121 Kombabos 65 Körper 201-203 Koran 124; siehe Islam Krankheit 126-132, 138-141, 147 Kreta 99, 140 Kreuzzug 199 Kroisos 172, 243 Anm. 25 Kronos 135 Kubaba 65
°
Kudurrus
200
Kulturbegriff 14-16 Kunst 16, 34 Kyklop 53 f., 60, 61, 78 Lacus Curtius 69 Lächeln 148
Landwirtschaftliches Jahr 167, 173 Leben 48 f., 71, 80; Übertragung von Leben 184. 253 Anm. 122 Leberschau 193 Lernen 39f., 43-46 Levi-Strauss, C. 32, 222 Anm. 96
lex talionis 163 Libanon 31 Libation 172, 200, 209 f. Livius 132, 138 Lobpreis II4-II6 Locke, J. 212 Lorenz, K. 22, 24, 188 Losen 133 Luhmann, N. 41; siehe Reduktion von Komplexität Lukian 65 Lyder 134, 139 Lykaon 110 Mädchen-Tragödie 90-99 Märtyrer 28 f. Magie 56, 62, 68, 85, 2II; magische Aggression 145 f. Magische Flucht 61 f., 78 Makedonien 192 Malta 219 Anm. 55 Mani 124 Mantik 125, 141-144, 191-195; siehe Seher Mantiklos 158 f., 164 Marduk 106, 134 Mater Magna II2, 125 Mauss, M. 159 Medea 62, 78 Melampus 136f., 151 Melanippe 92 Menschenopfer 60, 68 f., 71 f., 218 Anm. 26, 226 Anm. 26; siehe Iphigeneia, Karthago, Kinderopfer,Jephtha Menstruation 94 Metall beim Gottesgericht 198 metragyrtai 180 Meuli, K. 61,78, 139 Mexiko, volkstümliche Auffassung von Krankheit 152 Minoische Kultur, Göttin II4, GabenTische 179
Namen-und Sachregister Mithras 104 Mohammed 124; siehe Islam Moloch 7 I; siehe Kinderopfer Molosser 210 Montanisten 125 Moses 66.92 Mursilis 129. 148 Mykenisches 103. 165. 179. 226 Anm. 26
mysterium tremendum 46 Mythos 74f.; Mythos und Ritual 88. 95 Nabonid 138 Naturbegriff 9-1 I Neandertaler 14. 34f. Neuplatonismus 107 Neurose 45. 136 f. Neutestamentliche Texte II I. 166. 178; siehe jesus. Paulus Nikomachos 173 Nilsson. M. P. 157 Niniveh 125. 134 Ninurta 79
122.
Odyssee 78.85.100.133. 158f.. 164f. Odysseus 54. 85. 88. 110. 140. 207; siehe Kyklop Oedipus 130. 142 Ökologie 219 Anm. 55 Olympia 136. 181 Opfer. allgemein 176-187; Angstüberwindung 50-52. 60. 68. 70f.; Eid 209f.; Ersatzopfer 71 f..II2. 174; Initiation 97; Gabe 164-169; Götter begütigen 129. 138-141. 148; Mantik 193 f.; Opferkritik 173175; Opfermahlzeit 181-184 Orakel 123. 243 Anm. 25; siehe Delphi. Dodona. Mantik. Seher Orestes 53. 210 Orphische Goldblättchen 144f. Orphischer Persephone-Mythos 90f. Otto. R. 46 Ovid 70f.
Palinurus 69 Panionion 135 Paphos 103 pars pro toto 52.57. 62f.. 67f. Parthenon 181 Paulus 18. 19 Pausanias von Sparta 151 Peisistratos I 19 Pelops 99 Perge 103 Persephone 90f.. 97. 175 Persepolis 114 Perser 109. 165. 235 Anm. 16. 242 Anm. 3; siehe Darius. Iranische Religion Perseus 77. 92. 100 Pessinus 125 Pest 126. 128. 13 I. 139 Phallos 60. 67. 200 Philister 127 f. Phineus 136 Phönix 40 Phrixos 142 f. Platon 45. 137. 145. 165. 174. 187 Anm. 5. 188. 196 polos als Götterkrone I 14 Polybios II7. 121 Polykrates 177 Poseidon 99. 103. 135 Potnia 103 Prägung 43 f. Primaten 21.25. 38. 66. 105. 108. 182; siehe Schimpansen Prometheus 181 Propheten 124 f. Propp. V. 76-81. 85.91. 100 proskynesis 109f., 237 Anrn. 47. 238 Anm·53 Prostitution 162 f. Protagoras 18 Proteus 133 Proto-Sprache 84 Ptolemaios III .• ägyptischer König 168 Ptolemaios. Astronom I96f.. 217 Anm.18 Pythagoras 2II
. Paian II4. 127. 139 Palaeolithisches Ritual 14. 55
277
Rang 102. 105-107
Namen- und Sachregister Rapunzel 93 Raubtiere 58 (,68,72 ( Reduktion von Komplexität 41, 107, 206 Reduktionismus 2 I Reinigung 127, 149-155; siehe Unreinheit Reinigungs-Priester 15 I, 18o Religion, Charakteristika 17-21; Anfänge 13 (, 26f., 35; Autorität 20, 43-45, 80-85; Lernen 39(, 43-46; Macht 29(, 106, II7-122; ,Opium' 28,48 Rezyklieren von Gaben 178-180 Rhadamanthys 249 Anm. 18 rites de passage siehe Initiation Ritual, Form und Funktion 35(, 40, 45, 56-5 8; paläolithisch 19, 55; Heilung und Rettung 127, 138, 141, 144(; Unterwerfung 107-II3; siehe Eide, Gabe, Initiation, Opfer, Reinigung Römische Religion 103 f., II7, 139; siehe Livius, Vestalinnen Römisches Ritual 6of., 210f. Romulus 92, 193 Sallustios 166, 253 Anm. 122 Salomon 46; Weisheitssprüche 167 Anm.47 Samothrake 172, 223 Anm. II6 Samsuiluna 123 Sanherib 134(, 142 Sargon von Akkad 92 Sargon H. 117, 134f. Sassanidische Reliefs I 19 Satrapes 104 Saturn 71 Saussure, F. de 190 Schamanismus 40, 61, 87-89, 143, 245 Anm.54 Schimpansen 22, 26, 33, 105, 165, 182, 205; Schimpansensprache 83 ( Schlange 81 Schleiern1acher, F. 102 Schneewittchen 93 Schuld 126-138, 152-155 Schuldbekenntnis 143, 148, 155
Schweinefest 219 Anm. 55 Sedna 143 Seher 124, 127, 136, 141-144, 180, 191; siehe Kalchas, Orakel Selbstbestrafung 112, 147( Selbstopfer 28 (, 49 Selbstverwundung II2, 147 f. Selinus, Lex Sacra 185, 225 Anm. 6 Semiologie 255 Anm. I Seneca 50(, 108 Sexualität 32, 63-67, 113, 162 shame culture 153 Skythen 141, 142, 184 Soma-Kult 220 Anm. 57 Sonnengott 2°7, 238 Anm. 61; siehe Helios Sophokles 130 Sozialdarwinismus 23,31,169 Soziales Werkzeug 20, 122 Soziobiologie 21-26, 33-35, 37, 169 Sparta 20, 135, 139. 151 Spiel 20 Sprache 33-35, 38, 39(, 74-76, 81-88, II4-II6, 122 (, 205 ( Spucken II2 Statuetten 40, 201 Steine 200, 203. 210f. Sternbilder 189 f. Stoiker 196 Strafe 147(, r63, 209f. Strukturalismus 43 Stummer Handel 170 Sumerische Texte 79(, 103, 105 Anm. 28, I II, II3, 120; siehe Inanna, Ninurta Sündenbock 70, 134, 143, 153 Syrer, Fisch-Tabu II2 Syrische Göttin 65 (, II2, 140 Tätowierung 202 ( Taufe 204f. Telemachos 158 Telesphoros 52, 67 Tempelbau 139f. Tempelsystem, orientalisches 179, 183 Terminus 200 Territorium 200; siehe Grenzen Tertullian 29 Anm. 50; 173 f.
Nal11en- und Sachregister Thera 114 Thukydides 135. 139 Tiger 61 f. Tillich. P. 20 Tod 47f. Töten 48.71 f.. 144. 148. 181-184 Totenopfer 48. 185 Tradition 13f.. 33f.. 35. 38 f.. 43-46 Traum 89 Tristan 199 Typhon II8 Ugarit 160 Universalien der Anthropologie 16. 57 f.. 15 6 • 159 Unreinheit 149-155; siehe Reinigung Unsterblichkeit 42. 48. 49 Unterwelt 87 f.. 91; siehe Hölle Unterwerfung 107-113 van Gennep. A. 95 Vater-Rolle 44f.. 103 f. Vergeltung 10 5
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VergiJ 69.131.228 Anm. 73 Vernant.J.-P.15 Versenkungsopfer 177. 21 I Vestalinnen 60. 98 Villa dei misteri 95 Vögel 193 Wachs 210 Wasser beim Gottesurteil 198 Weihrauch 178 Weinen 108. I I I. 120 Weltenbaum 105 Weltenberg 105 Wilson. E. O. 22. 26 Wolf 59.68 Xerxes 252 Anm. 101 Zarathustra siehe Iranische Religion Zehnten 179 Zeichen 40. 143 f.• 189-205 Zeus 49. 103. II9. 124. 166. 173. 181. 208
Die Kulturwissenschaften mißtrauen der Biologie und können doch Religion, als überempirisches Symbolsystem mit höchstem Autoritätsanspruch und lebensbestimmender Wirkung, kaum zulänglich erklären, insofern Religion die Grenzen der Einzelkulturen offensichtlich übersteigt und überdauert. Neuerdings hat zwar die >Soziobiologie< die gemeinsame Entwicklung von Genen und Kultur in den Blick gefaßt, sie muß aber im Fall der Religion in unüberprüfbare Bereiche der Vorgeschichte fuhren. Demgegenüber wird hier an Zeugnissen der alten, vorchristlichen, vorislamischen Religionen gezeigt, wie Grundformen religiösen Verhaltens sich beim Menschen aus biologisch vorgegebenen Programmen entfaltet haben könnten. Das heißt nun keinesfalls, daß Kultur und damit Religion genetisch programmiert sind, aber alle religiösen Handlungsprogramme stehen gleichwohl unauslösbar in einer >biologischen Landschaft<. Wie der Autor das demonstriert, das macht den besonderen Reiz seines Buches aus. "Ein Reisender erzählt, wie er vor Jahren in Afrika während einer Bootsfahrt in einen Sturm geriet: Da begann einer der Passagiere, ein hochgestellter Mann in seinem Heimatland, Fortsetzung hintere Klappe
Dollarnoten in die aufgewühlten Wellen zu werfen." So beginnt er den Abschnitt, der einer der Grundformen religiösen Verhaltens gilt, dem Opfer des Verfolgten. Burkert erzählt, breitet vor dem Leser aus überwältigender Kenntnis der antiken Religionen ein vielfältiges, faszinierendes Material aus - ob er über religiös begründete Hierarchien spricht oder über Katastrophenbewältigung, über Sinnstiftung durch Zeichensysteme oder durch Erzählstrukturen. Walter Burkert legt hier ein Buch vor, das den Leser fesselt, ihn unaufdringlich belehrt, gewiß auch provoziert, in jedem Falle nachdenklich macht.
-walter Burkert} geb. 1931, war bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1996 Professor der Klassischen Philologie an der Universität Zürich. Er war Gastprofessor an mehreren Universitäten des Auslands, ist Mitglied bedeutender wissenschaftlicher Akademien und Ehrendoktor der Universitäten Toronto, Fribourg (Schweiz), Neuendettelsau, Oxford. 1990 erhielt er den Balzan-Preis, 1992 den Ingersoll-Preis. Zahlreiche Veröffentlichungen insbesondere zur griechischen Religion und Philosophie. Im Verlag C. H. Beck liegt vor: "Antike Mysterien" C1994).
Umschlagentwurf: Uwe Gäbel, München Umschlagbild: Mykenische Maske, 16.Jh. v. ehr. Athen, Nationalmuseum (Foto: Emile Seraf, Athen)
Verlag C. H. Beck München
Verlag C. H. Beck München
G.R.Beck Kulturwissenschajt
In kritischer Auseinandersetzung
mit der Biologie, insbesondere der Soziobiologie, zeigt Walter Burkert an Zeugnissen der alten, vorchristlichen, vorislamischen Religionen, wie Grundformen religiösen Verhaltens sich aus biologisch vorgegebenen Programmen entfaltet haben könnten. Sein Buch, das zuerst in den Vereinigten Staaten erschien, hat zu kontroversen Urteilen geführt, aber alle Besprechungen bewundern die Sachkenntnis, den Ideenreichtum des Autors und seine Darstellungskunst.
ISBN 3406433553