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Mag. PhDr. Silvia Neumann-Ponesch, DGKS Leitung Gesundheitsdienstleistungen, ¨ Studienbetriebs GmbH, Linz, Osterreich ¨ FH OO
Alfred H¨oller, DGKP Pflegeberater und Lehrer fu¨ r Gesundheits- und Krankenpflege ¨ Wr. Neustadt, Osterreich Das Werk ist urheberrechtlich gesch¨utzt. ¨ Die dadurch begr¨undeten Rechte, insbesondere die der Ubersetzung, des Nachdruckes, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder a¨ hnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Buch berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten w¨aren und daher von jedermann benutzt werden d¨urfen. Produkthaftung: S¨amtliche Angaben in diesem Fachbuch/wissenschaftlichen Werk erfolgen trotz sorgf¨altiger Bearbeitung und Kontrolle ohne Gew¨ahr. Insbesondere Angaben u¨ ber Dosierungsanweisungen und Applikationsformen m¨ussen vom jeweiligen Anwender im Einzellfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit u¨ berpr¨uft werden. Eine Haftung des Autors oder des Verlages aus dem Inhalt dieses Werkes ist ausgeschlossen. © 2011 Springer-Verlag / Wien Printed in Austria SpringerWienNewYork ist ein Unternehmen von Springer Science + Business Media springer.at Umschlagbild: GettyImages/ Abstract sky/ Paul Cooklin Satz: PTP Berlin Protago-TeX-Production GmbH, 10779 Berlin, Deutschland ¨ Druck: Holzhausen Druck GmbH, 1140 Wien, Osterreich Gedruckt auf s¨aurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier SPIN: 12810642 Mit 5 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet u¨ ber http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-7091-0137-7 SpringerWienNewYork
Inhaltsverzeichnis Dank
1
Vorwort
3
Einleitung
5
1
Gefühle – was sind das? 1.1 Affekt . . . . . . . 1.2 Gefühl . . . . . . . 1.3 Emotion . . . . . . 1.4 Empathie . . . . .
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8 8 9 10 11
2
Gefühlstheorien / Emotionstheorien . . . . . . . . . . . . . 2.1 Verhaltenswissenschaftlich-behavioristische Theorien 2.2 Kognitivistische Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Neurobiologische Theorien . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Kulturell-soziale Theorien . . . . . . . . . . . . . . . .
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12 12 13 14 15
3
Gefühlsarbeit – was ist das? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Zielgruppe von Gefühlsarbeit . . . . . . . . . . . . . . .
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4
Thesen der Gefühlsarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
24
5
Bedeutung von Gefühlen und Emotionen . . . . . . . . . . . 5.1 Gefühl / Emotion festigt soziale Strukturen . . . . . . . 5.2 Gefühl / Emotion schützt vor Unversehrtheit . . . . . . 5.3 Gefühl / Emotion macht Werte und Bedürfnisse sichtbar
28 29 30 30
6
Ziele der Gefühlsarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Prävention und Gesundheitsförderung durch Gefühlsarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Sichtbarkeit von Gefühlsarbeit als Professionsarbeit . 6.3 Ausgestaltung humanistischer bzw. fürsorglicher (caring) und interaktionistischer Theorie- und Modellansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Gefühlsarbeit als Wertemerkmal einer Organisation 6.5 Positive volkswirtschaftliche Auswirkungen . . . . .
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31 36
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39 41 42
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43 43 43 44 45 45
7
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Prinzipien der Gefühlsarbeit . . . . . . . . . . 7.1 Gegenwartsorientierung . . . . . . . . . 7.2 Authentizitätsprinzip . . . . . . . . . . . 7.3 Normalitätsprinzip / Individualitätsprinzip 7.4 Prinzip der Bedingungslosigkeit . . . . . 7.5 Prinzip der Ressourcenorientierung . . . V
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Inhaltsverzeichnis
7.6 Prinzip der Freiwilligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.7 Dienstleistungsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.8 Prinzip der Geschichtslosigkeit . . . . . . . . . . . . . . 8 Gefühlsarbeit als Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Modul ,,Erkennen der Ressourcen und Auffälligkeiten‘‘ . 8.3 Modul ,,Formulierung einer Gefühlsdiagnose‘‘ . . . . . 8.4 Modul ,,Bewerten der Gefühlsdiagnose durch die Klientin‘‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5 Modul ,,Setzen einer Betreuungshandlung / Gefühlsarbeit‘‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.6 Modul ,,Formulierung des / eines gemeinsamen Pflege- / Betreuungszieles und Festlegen des Outcomes‘‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.7 Modul ,,Bewertung des Outcomes durch die Patientin / Klientin / Bewohnerin‘‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.8 Modul ,,Bewertung des Outcomes durch den Professional‘‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.9 Modul ,,Regelmäßiges Messen des Outcomes und Abgleichen der Zielsetzung‘‘ . . . . . . . . . . . . . . . 9 Entwicklung des Praxiskonzepts ,,Gefühlsarbeit‘‘ . . . . . . . 10 Rahmenbedingungen von Gefühlsarbeit . . . . . . . . . . . . 10.1 Fähigkeit zur (professionellen) Wahrnehmung . . . . . . 10.2 Wille zur (professionellen) Wahrnehmung . . . . . . . . 10.3 Integration der Gefühlsarbeit in Aus- und Weiterbildung 10.4 Integration der Gefühlsarbeit in die Organisation . . . . 10.5 Offenheit in der Kommunikation . . . . . . . . . . . . . 11 Fallbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1 Fallbeispiele zum Thema: Identitätsarbeit . . . . . . . . 11.2 Fallbeispiel zum Thema: Behaglichkeitsarbeit . . . . . . 11.3 Fallbeispiele zum Thema: Abschiedsarbeit . . . . . . . . 11.4 Fallbeispiele zum Thema: Da-Sein-Arbeit . . . . . . . . 11.5 Fallbeispiel zum Thema: Ablenkungsarbeit . . . . . . . . 12 Resümee und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
62 63 67 67 68 69 70 70 75 75 92 100 115 131 134
Literaturverzeichnis
137
VI
46 48 48 50 50 52 55 57 58
61 61 62
Dank Unser besonderer Dank gilt allen Menschen, deren persönliche Geschichten uns in der Entwicklung des Konzepts und in unseren eigenen persönlichen Fragen unterstützt haben. Besonders wird uns die Gefühlsarbeit mit allen Pflege- und Betreuungsbedürftigen, allen Angehörigen und Freundinnen der Betroffenen sowie die Zusammenarbeit mit den Teams der verschiedenen Organisationen in Erinnerung bleiben. Wir möchten uns auch bei all den unzähligen Kolleginnen bedanken, mit denen wir die Konzeption immer wieder diskutieren durften und die uns bestärkten am Thema „dran zu bleiben“. Ein besonderer Dank gilt auch unserer Lektorin Susanne Speigner, die sich mit hoher Professionalität und großer Effizienz des Themas angenommen hat. Auch unsere Lieben kamen während der Arbeit am Thema der Gefühlsarbeit an diesem ebenfalls nicht vorbei. Sie entwickelten ein besonderes, eigenes Gespür für das Thema. Ihnen ein inniges Danke für ihr Verständnis und ihre Liebe und dafür, dass sie uns manchmal korrigierten – ein wichtiger Beitrag zur Gesamtkonzeption!
1
Vorwort Wir fühlen uns unter Menschen wohl. Wir wünschen uns eine Begegnung als Mensch mit Menschen gleichgültig in welcher Lebenssituation wir uns oder unser Gegenüber sich befinden. Wir wollen als Mensch unser Dasein leben. Wir fühlen uns den Menschen verpflichtet.
Die Motivation zu diesem Buch lieferte die Auseinandersetzung mit den Erlebnissen und Erfahrungen aus dem Gesundheits- und Sozialbereich als Pflegende und als Angehörige von zu pflegenden Personen. Unser Handeln wird von der Frage begleitet, wie möchten wir gepflegt und betreut werden? Was wäre notwendig, damit wir sowohl als potentielle Patientin, Klientin oder Pflegebedürftige als auch als Professional in Würde und Identität, mit Sinn und Freude den (Arbeits-) Alltag verbringen können? Was macht uns zum Menschen? Was lässt uns unser Mensch Sein aus den Augen verlieren? Wir und unsere Kolleginnen in den Gesundheits- und Sozialorganisationen stoßen in unserem Bemühen um die uns Anvertrauten an unsere eigenen Grenzen und an die des Systems. Gefühle und Emotionen sind Zeichen des Lebendigen: Es erfüllt uns mit Freude und Stolz, wenn wir das Wohlbefinden der Menschen und sei es für wenige Augenblicke, fördern konnten. Wir sind traurig und immer wieder auch wütend und zornig, wenn es uns nicht gelungen ist, den erforderlichen Raum und die Zeit für den Pflegebedürftigen und seine Familie aufzubringen. Hin und wieder erfuhren wir auch Geringschätzung und Ignoranz. Durch diese Erfahrung wurde uns die Bedeutung der Fähigkeit, unsere eigenen Gefühle wahrzunehmen und sie in Worte zu fassen, bewusst. Dadurch können Gefühle rational bearbeitet werden, ein wichtiger Schritt in der Gefühlsarbeit. Gefühlsarbeit kommt im Umfeld mit Kranken und Bedürftigen täglich zum Einsatz und leistet wichtige Aufgaben. Dennoch ist diese Arbeit kaum sicht- und somit nicht bewertbar – auch ein Phänomen der zugeschriebenen, scheinbar geringen Bedeutung des Emotionalen im Arbeitsalltag unseres kulturellen Umfelds. Viele Studien und Arbeiten beweisen (aber gerade) das Gegenteil: den hohen gesundheitsfördernden und präventiven Aspekt von eingebrachten positiv erlebten Gefühlen, ja sogar existentielle Effekte auf das Leben. Diese Erkenntnisse wurden auch im ersten Lehrgang „Pflegeberatung“ vor 7 Jahren deutlich. Hier lernten sich die Autorinnen kennen: Herr Höller als Lehrgangsteilnehmer, Frau Neumann-Ponesch als Lehrgangsleiterin. Das Thema der Gefühlsarbeit fesselte beide so, dass sie beschlossen, an diesem bis heute zu arbeiten und den Fragen nachzugehen:
3
Vorwort
Wie kann Gefühlsarbeit gelebt werden? Welche Wirkung hat Gefühlsarbeit? In welchem Kontext und unter welchen Rahmenbedingungen kann Gefühlsarbeit geleistet werden? Dieses Buch soll Mut machen, diese für uns so befriedigende und erfolgreiche Arbeit mit pflegebedürftigen Menschen und unseren Kolleginnen in den Organisationen, selbst auszuprobieren. Wir möchten dafür sensibilisieren, dass ein AngenommenWerden als Mensch durch das Erleben von positiven Gefühlen, unglaublich große Wirkung auf Psyche und Körper haben kann. Gefühlsarbeit kann Wohlbefinden herstellen und erhalten und hat einen enormen Anteil am Gesundwerdungsprozess und somit an der ökonomischen Ausrichtung des Gesundheitswesens. Das Buch gliedert sich in einen theoretischen und in einen praktischen, von vielen Beispielen begleitenden Teil. Das von den Autorinnen entwickelte Konzept der Gefühlsarbeit®1 zeichnet sich durch folgende Elemente aus: • Prinzipien der Gefühlsarbeit, die denk- und handlungsleitend sind und einen ethisch-moralischen Kontext vorgeben. • Thesen der Gefühlsarbeit, die die Prinzipien untermauern und von den Autorinnen validiert werden konnten. • Einen Gefühlsprozess, eine Anzahl von Modulen, die der Gefühlsarbeit einen systematischen Handlungsrahmen vorgeben. • Reale Beispiele aus der Pflegepraxis, die die Anwendung des Konzepts der Gefühlsarbeit deutlich machen. Wer im ersten Anlauf weniger Interesse am theoretischen Teil hat, dem empfehlen wir, gleich in die Beispiele einzusteigen, günstig wäre mit dem Beispiel von Herrn Leitner (Ablenkungsarbeit – letztes Beispiel im Buch) zu beginnen. Die passende Vorgehensweise bei der Arbeit mit Gefühlen findet sich in der Art der Begegnung der beiden „Gefühlspartnerinnen“. Das Wie der Durchführung und einer individuellen Lösung ist immer von den handelnden Personen deren Qualifikation und Persönlichkeit abhängig. Wir verwenden im Buch die weibliche Form. Wir wünschen viele Anregungen und Freude beim Lesen des Buches! Das „®“ wird aufgrund der Lesbarkeit des Buches im Text nicht mehr weiter angeführt. 1
4
Einleitung „Die einzige Wahrheit auf unserer Erde ist unser Gefühl.“ (Gustav Mahler in Pieringer 2010, 2)
Durch die Entwicklungen der letzten Jahre in der Pflege hat sich zusehends die Überzeugung durchgesetzt, Pflege leiste einen eigenständigen Beitrag zum Wohlbefinden, zur Gesundheitsförderung und zur Heilung der Klientinnen2 im Gesundheits- und Sozialwesen3 . Die Fähigkeit, Beziehung zu den ihnen im Arbeitsprozess Anvertrauten herzustellen, gehört zur Schlüsselqualifikation von Pflegenden. So schreiben auch die Gesellschaftsmitglieder den Pflegenden Erwartungen wie Freundlichkeit, Verständnis, Hilfsbereitschaft, zugewandtes Verhalten und Einfühlungsvermögen zu (vgl. Eslbernd/Glane, 1996; ifD-Allensbach 2009; Press 1996. in: Dézsy 2003; Smith 1992). Im österreichischen Gesundheits- und Krankenpflegegesetz von 1997 wird im eigenverantwortlichen Bereich die Aufgabe zur psychosozialen Betreuung ausgewiesen. Der Begriff ist nicht definiert und kann von einem liebevollen, tröstenden Wort bis hin zur Sterbebegleitung ausgelegt werden. Die starke Verschränkung zwischen körperlicher und gefühlsund emotionsbezogener Arbeit ist ein Merkmal von Pflegearbeit, das spezifische Kommunikationszugänge eröffnet. Auf der einen Seite wissen wir aus vielen Beobachtungen aus der Praxis der Pflege, dass Gefühlsarbeit ständig geleistet wird. Die Art und Weise wie sie geleistet wird, erfolgt jedoch größtenteils beiläufig, d. h. ungeplant und kann somit nicht als Professionsarbeit4 ausgewiesen werden. Dementsprechend erfährt Gefühlsarbeit weder innerhalb noch außerhalb des Professionssystems eine Bewertung. Dies ist umso bedauerlicher, als Gefühlsarbeit von den Erbringerinnen ein hohes Maß an Sensibilität und Konzentration verlangt und sich für uns als Arbeit von hoher Qualität ausweist. Nicht zu unterschätzen ist das Ausmaß der Sinnstiftung für die Pflegenden selbst, so haben viele den Beruf ergriffen, um andere Menschen (beziehungsmäßig) zu unterstützen. Eine positiv bewertete und gelungene Beziehung zu unseren Mitmenschen im 2
Der Begriff Klientin steht für Patientin, Bewohnerin und Angehörige. In weiterer Folge wird von Gesundheitswesen gesprochen, wobei speziell für Österreich auch der Sozialbereich, in dem Pflege und Betreuung durchgeführt wird, gemeint ist. 4 Zur weiteren Vertiefung: Neumann-Ponesch 2010. 3
5
Einleitung
Arbeitsalltag schafft Freude, Motivation, gibt Kraft und verleiht unserer Arbeit Sinn. Auf der anderen Seite werden in Studien (vgl. Bauer 1996; Elsbernd/ Glane 1996) Ergebnisse ausgewiesen, die Pflegende als aggressiv, sich gegenüber den Klientinnen abwertend äußernd, wenig einfühlsam, als nicht am Pflegeprozess beteiligt oder grenzüberschreitend darstellen. Viele Pflegende haben Schwierigkeiten eine empathische Beziehung mit den Klientinnen einzugehen. Viele verfügen über ausgewiesene niedrige Empathiewerte (vgl. Bischoff-Wanner 2002). Die zugeschriebenen individuellen und gesellschaftlichen Erwartungen können häufig nicht erfüllt werden. Dies kann zum Rückzug der Klientinnen aus der Beziehung bis zum Misstrauen der Berufsgruppe gegenüber führen. Die neuen neurobiologischen Erkenntnisse weisen dem Einsatz von Gefühlen und Emotionen bei der Gesunderhaltung und Wiederherstellung vor allem emotionaler Defizite einen hohen Stellenwert zu. Badura (1996) spricht den Emotionen seit vielen Jahren einen Schlüsselfaktor in der Vermittlung zwischen Mensch und seiner Umwelt zu. Siegrist (1997) ist überzeugt, dass Theorien von Gesundheit und Krankheit letztendlich auf Emotionstheorien basieren sollten. Die Autorinnen glauben, durch die „Nähe“ zu den Klienten der Berufsgruppe der Pflegenden, wäre diese am ehesten prädestiniert, Gesundheitsförderung und Prävention durch emotionale Zuwendung auszuüben. Die Beschäftigung mit dem Thema der Gefühlsarbeit war stark von den Beobachtungen aus der Praxis geprägt: obwohl sich viele Kolleginnen scheinbar intensiv um ihre Klientinnen bemühten, war ein Wahrnehmen des betreuenden Menschen als Mensch in den Alten- und Pflegeheimen, in Krankenhäuser oder in der mobilen Pflege kaum institutionalisiert. Viel zu oberflächlich schienen die Beziehungen, viel zu häufig war der Alltag vor allem der Alten und chronisch Kranken, durch Einsamkeit, Langeweile und scheinbarer Sinnentleerung geprägt. Sichtbar waren diese Ausprägungen in Pflegedokumentationen, in denen „ … ritualisierte Floskeln in ritualisierten Situationen ritualisierte Antworten provozieren und ritualisiert … festgeschrieben werden …“ (vgl. Kühne-Ponesch et al. 2002, 175). Das vorliegende Buch hat die Intention, der Gefühlsarbeit Sprache und dadurch Sensibilität im Professionsumfeld der Pflege und ausgeweiteter angrenzender Berufsfelder zu verleihen Die Grundlage für die vor-
6
Einleitung
liegende Arbeit ist die Betrachtung von Pflege als Fürsorgeberuf. Die Pflegewissenschaft verwendet den Ausdruck „Care“. Wir lehnen uns an Watson (1996) an, die sich wiederum auf Nightingale bezieht (1969), die in ihrer Theorie von transpersonaler Zuwendung spricht und Pflege in einen humanwissenschaftlichen und künstlerischen Kontext setzt. Die Theorie beschäftigt sich mit der „Wechselbeziehung zwischen Pflegekraft und Klienten unter Einbezug von Körper, Geist und Seele im Kontext der Intersubjektivität“ (Watson 1996, 73) und sieht menschliche Zuwendung als moralisches Ideal der Pflege. Als solches fördert es die Menschlichkeit, die Würde und die Selbstentfaltung der Person. Das Konzept der Gefühlsarbeit setzt bei der Überzeugung an, dass ohne Mitwirkung bzw. Eigenwirkung der Klientinnen keine gelungene Pflegearbeit geleistet werden kann. Diese Mitwirkung, hervorgerufen durch ein Verständnis der Umstände, was gesund hält und krank macht, kann nach Überzeugung der Autorinnen neben einer intellektuellen Leistung der Klientin nur durch Vertrauensarbeit mit den betreuenden Personen hergestellt werden. Gefühlsarbeit beschreibt eine Haltung und einen Weg, wie Pflegende und Betreuende durch gelungene Beziehungsarbeit Ressourcen aller am Pflegeprozess Beteiligter mobilisieren. Durch die intensive Beschäftigung mit dem Thema sind die Autorinnen zur Überzeugung gelangt, dass Gefühlsarbeit eines jener Tätigkeitsfelder von Pflege sein kann, das der Pflege durch den zunehmend hohen Stellenwert des Themas für die Gesellschaft und ihre Mitglieder zu einem enormen und bedeutenden Einfluss auf die Gestaltung von Gesellschaft verhilft, sofern Pflege diese Chance wahrnimmt!
7
Gefühle -- was sind das?
1
Gefühle – was sind das?
Die Auseinandersetzung mit Gefühlen ist insofern spannend, da es sich um ambivalente Phänomene bzw. Zustände handelt. Gefühle werden häufig in Gegensatzpaaren ausgedrückt: sympathisch-unsympathisch, lieben-hassen udgl. Gefühle können sich ebenso gegenseitig stärken als sich auch gegenseitig schwächen. Begriffe wie Gefühle, Emotionen oder Affekte werden in der Fachliteratur äußerst uneinheitlich, häufig synonym verwendet. Kleinginna und Kleinginna (1981) fanden in einer Recherche über Emotion in der damaligen Literatur 92 unterschiedliche Definitionen! Das Begriffsverständnis ist abhängig von der Perspektive und der Disziplin, die danach fragt, was Gefühl und Emotion wohl seien. Gefühle und Emotionen üben große Macht über uns aus. Sie lassen uns Lebendiges als auch Überwältigendes spüren. Spontan bringen wir sie durch Lachen, Schreien, Weinen, … aber auch durch Schweigen (Sprachlosigkeit) zum Ausdruck. Wir sind dennoch den Gefühlen nicht hilflos ausgeliefert, wir können lernen, mit ihnen mündig umzugehen. Das Ziel der Autorinnen ist es ebenso, den Leserinnen Möglichkeiten, welche den mündigen Umgang mit Gefühlen fördern, aufzuzeigen. Es soll an dieser Stelle der Versuch unternommen werden, die Begriffe des Affekts, der Emotion und des Gefühls zu definieren. Empathie als wichtige Grundlage für Gefühle und Emotionen wird kurz angesprochen.
1.1
Affekt
Das Wort Affekt kommt von „afficere“ (lat.) und bedeutet so viel wie „anregen“ oder „in eine Stimmung versetzen“. Affekte sind meist kurze und intensive Gefühlsformen und verweisen eher auf passiv erfahrene psychologische oder körperliche Gestimmtheit des Einzelnen. Die Wirkung ist meist unangenehm und befremdlich, vor allem für diejenigen, die sie trifft. Der Affekt ist dadurch gekennzeichnet, dass er andere Menschen meist in ihrem Handlungsspielraum beschränkt und die menschlichen, komplexen Zusammenhänge stark vereinfacht (vgl. Küpers/Weibler 2005). Ein Affekt ist eine umfassender körperlich-seelische Gestimmtheit oder Befindlichkeit von unterschiedlicher Qualität, Bewusstseinsnähe und 8
Gefühl
Dauer (vgl. Ciompi 2002). Bei Ciompi kann ein Affekt sowohl bewusst als auch unbewusst auftreten.
1.2
Gefühl
Im Gegensatz zum Affekt ist das Gefühl eher durch aktives Wahrnehmen und Erleben geprägt. Gefühle verbinden den Menschen mit ihrer Welt: „Fühlend ist der Mensch mit der Welt verflochten und engagiert sich in ihr“ (Küpers/Weibler 2005, 39). Gefühle sind bewusst wahrgenommene und steuerbare Empfindungen (im Gegensatz zum Affekt) (vgl. Gerhards 1988; Krey 2003; Zimbardo et al. 2008). Gefühle treten meist nicht isoliert auf, Phantasien, Bewertungen, Bedürfnisse und Wünsche erfahren mit dem Gefühl ein umfassendes Erleben. Fühlen richtet sich dabei immer auf etwas „Spezifisches“: „ich freue mich über …“ oder „ich bin zornig, weil …“ Gefühle sind somit auf etwas gerichtet und verfügen über Intentionalität5 . Fühlen ist dabei grundlegende Funktion der physischen Erfahrung und des physischen Erlebens im Kontext zur menschlichen Bezogenheit auf die Welt. Ein Gefühl veranlasst einen Menschen, sich gegen oder nach einer Wahrnehmung, einen Gedanken oder eine Handlung zu richten (vgl. Orlando 1972). Viele Forscherinnen (vgl. Ekman 1984; Krell/Weiskopf 2001) haben versucht so genannte Basisgefühle zu definieren und eine Klassifikation vorzunehmen, allerdings ist die Annahme der Existenz von diesen sehr umstritten. Die Emotionsforschung bleibt klare Kriterien für Basisgefühle und -emotionen schuldig. So sind folgende vorgeschlagene Basisgefühle nicht verbindlich durch die Forschung bearbeitet: Angst / Furcht, Ekel, Ehrfurcht, Erregung, Freude, Glück, Interesse, Scham, Scheu, Schuld, Traurigkeit, Verachtung oder Wut. Viele Gefühle treten als Mischgefühle auf: Aggression könnte eine Mischung aus Angst und Unsicherheit sein, Liebe eine Mischung aus Freude und Angst.
5
Der Begriff der Intentionalität bezeichnet das Vermögen des Bewusstseins, sich auf etwas zu beziehen (etwa auf reale oder nur vorgestellte Gegenstände, Eigenschaften oder Sachverhalte). In: www.wikipedia.org. 25.08.2010.
9
Gefühle – was sind das?
Gefühle sind die emotionalen Spuren, die die Ereignisse, Zustände und Geschehnisse in Bezug auf unsere Bedürfnisse, Motive, Wünsche und Interessen hinterlassen.
1.3
Emotion
Der Begriff „Emotion“ (lat.) geht auf „emovere“ (= herausbewegen) und moveri (= bewegt werden) zurück. Emotion ist das „breitere“ Phänomen als Gefühl. Emotionen ergeben sich aus wesentlich komplexeren, sozialen und kulturellen Begebenheiten. Emotionen konstituieren sich immer in verschiedenen Beziehungsgeflechten in sozialen Situationen. Die Intention, die Absicht des Gefühls und die Expression, der Gefühlsausdruck stehen in wechselhafter Beziehung. Folgende Abbildung 1 zeigt die Beziehung zwischen Gefühl und Emotion:
Abb. 1: Bezugsrahmen Gefühl – Emotion und Kontext (Küpers/Weibler 2005, 44)
In der Abbildung wird deutlich, dass Gefühle eine subjektive, persönliche Dimension des Emotionalen sind, während die Emotionen sich zwischen den Subjekten ausformen und vom jeweiligen gesellschaftlichen Kontext bzw. der jeweiligen Situation mitbestimmt werden. 10
Empathie
Damásio (1994, 2000) trennt zwischen Emotionen („emotions“), die er als die durch somatische Marker verursachten Körperzustände beschreibt, und Gefühlen („feelings“), die das bewusste Wahrnehmen der emotionalen Körperzustände darstellen. So lernt der Mensch im Laufe seiner Entwicklung beispielsweise den Körperzustand, der mit der reflexartigen Flucht vor einer Gefahr verbunden ist, als Angst oder Furcht, als ein bewusstes Gefühl, wahrzunehmen. Während die Emotionen angeboren sind und ein von außen beobachtbares körperliches Verhalten produzieren, beruhen die Gefühle auf Erfahrungen und ermöglichen Schutzstrategien gegen Gefahren von außen. Gemeinsam haben Emotionen und Gefühle ihren biologischen, genetischen und neurologischen Ursprung basierend auf Wahrnehmungs- und Erfahrungsprozessen. Gefühle und Emotionen entstehen aufgrund einer subjektiven Bewertung einer Situation, die positiv, neutral oder negativ beschrieben werden kann. Das daraus erwachsende Erleben wird häufig von körperlichen Reaktionen, wie z. B. Spannung, begleitet. Ein Gefühl oder eine Emotion tritt immer dann auf, wenn ein Umstand von einer Person als bedeutsam wahrgenommen wird.
1.4
Empathie
Der Begriff der Empathie ist deshalb von Bedeutung, da diese als Voraussetzung zur Konstruktion von Gefühlen und Emotionen von manchen Autorinnen genannt wird. Für Watson (1979) ist Empathie die Fähigkeit, die Gefühle und die Wahrnehmungen anderer Menschen zu erfahren und dadurch zu verstehen und dieses Verstehen mitzuteilen. Gefühle und Wahrnehmungen können durch andere Menschen „wahr“ genommen werden, dies ist eine Grundvoraussetzung, um Gefühle in Worte zu fassen und bewusst zu machen. Empathie kommt zur Anwendung, um die Gefühle und Erlebnisse der Klientin sensibel zu erfassen, so Rogers (1990).
11
Gefühlstheorien / Emotionstheorien
2
Gefühlstheorien / Emotionstheorien
Gefühlstheorien / Emotionstheorien sind wissenschaftliche Abhandlungen über die verwandten Begriffe: Gefühle, Emotionen, Affekte, Stimmungen. Erklärungen bzgl. Entstehung und Wirkung von Gefühlen und Emotionen kommen aus verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen (vgl. Dörig 2009; Hartmann 2005; Wollheim 2001). Die Auswahl der Theorien und ihre Erklärungen sind in diesem Buch kurz gehalten, zur weiteren Vertiefung sind o.g. Autorinnen empfohlen:
2.1
Verhaltenswissenschaftlichbehavioristische Theorien
Der verhaltenswissenschaftlich-behavioristische Ansatz sieht Gefühl und Emotion als passive Reaktion auf einen Reiz, d. h. Gefühle werden durch körperliche Prozesse ausgelöst. Die von James (1884) und Lange (1887) etwa zur gleichen Zeit verkündete Annahme besagt, Emotionen seien nur Begleiterscheinungen körperlicher Vorgänge bzw. körperlicher Veränderungen seien die Ursache emotionalen Erlebens. Es gibt eine kausale Priorität der physiologischen vor den emotionalen Reaktionen. Demnach weinen wir nicht, weil wir traurig sind, sondern wir sind traurig, weil wir weinen. Ein weiteres Beispiel ist, wir haben Angst, weil wir weglaufen. Alltagsverständnis
Reiz
Gefühl
Reaktion
(Schlange)
(Angst)
(Erstarren)
(Streicheln)
(Zuneigung)
(Erregung, Rötung der Haut)
Verständnis
Reiz
Reaktion
Gefühl
Behaviorismus
(Schlange)
(Erstarren)
(Angst)
(Streicheln)
(Erregung)
(Zuneigung, Rötung der Haut)
Abb. 2: Unterschied zwischen Verständnis von Gefühl im Alltag und jenes der Behavioristen
In dieser Theorie tritt entgegen dem Alltagsverständnis nicht zuerst das Gefühl auf, sondern eine spezifische Reaktion, gefolgt von einem Gefühl. Die Beobachtung der Gefühle ist stark auf äußerliche Merkmale gerichtet. James (1884) unterscheidet bereits zwischen Gefühl („feeling“) und Emotion („emotion“): Die Emotion ist das mit den körperlichen Verände12
Kognitivistische Theorien
rungen einhergehende Gefühl: in dem Maße, in dem wir körperliche Veränderungsprozesse wahrnehmen und in uns spüren, in dem wir sie „fühlen“, können wir Emotionen wie beispielsweise Angst oder Wut haben.
2.2
Kognitivistische Theorien
Kognitionstheoretische Ansätze erforschen gefühlsmäßiges Erleben und Verhalten nicht alleine durch Äußerlichkeiten, sondern berücksichtigen systematisch kognitive Prozesse in der Auseinandersetzung von Person und deren Umwelt. In der Überzeugung der Kognitionstheoretiker sind Überzeugungen, Wertungen und Urteile wichtige Bestandteile von Gefühlen. Nach Arnold (1960) sind Emotionen durch die vorgenommene Bewertung eine empfundene Tendenz zu etwas hin oder weg, d. h. etwas wird als gut, sinnvoll bzw. nützlich oder etwas wird als schlecht, nicht sinnvoll bzw. nutzlos bewertet. Als Beispiel sei hier nochmals jenes der Schlange aufgegriffen: Situation
Bewertung
Gefühl und Verhalten
Schlange in der Wiese
schlecht
Angst, Vermeidungsverhalten
Schlange im Tierpark
gut, nützlich
Freude, Erstaunen, Annäherung
Abb. 3: Bewertung einer Situation und das daraus abgeleitete Gefühl und daraus resultierendes mögliches Verhalten
Die Entstehung und die Qualität eines Gefühls ist Produkt einer so genannten Bedeutungsanalyse. Die Bedeutungsanalyse ist eine kognitive Bewertung der vielfältigen Erfahrungen, Erlebnisse und Erwartungen eines Menschen und stellt dadurch eine individuelle Konstruktion von Beziehungsgeflechten und der in sich bewegenden Umwelt dar (vgl. Mandler 1984). Es gibt jedoch keine einheitliche Schule des „Kognitivismus“, vielmehr dienen die Ansätze, deren Aussagen verständlich zu machen. Mit den älteren kognitivistischen Theorien werden Emotionen und Gefühle als Resultat von Informationen und deren Verarbeitung erklärt, was bedeutet, der Mensch zeigt nur dann Emotion bzw. Gefühl, wenn ein Sachverhalt oder ein Phänomen mit Wertungen verknüpft wird. Gefühle und Emotionen werden intrinsisch aufs Engste mit Kognitionen wie Wahrnehmen, Erinnern, Denken, Bewerten oder Sprechen verflochten und unterlie13
Gefühlstheorien / Emotionstheorien
gen einer Rationalisierung: Ein Gefühl, so Solomon (1993, in: Hartmann 2005, 72), ein klassischer Vertreter dieser Strömung, „ist ein […] Urteil, das unsere Welt konstituiert […] ein Urteil über meine Situation und über mich und / oder andere Leute“. Diese kognitiven Komponenten werden zum einen als mögliche Ursache betrachtet, zum anderen sind sie auch wesentliche Bestandteile des Gefühls selbst. Durch diese Ausrichtung können Gefühle in bestimmten Situationen als berechtigt oder unberechtigt, als angemessen oder unangemessen klassifiziert werden. Die neueren Strömungen, in denen kognitionswissenschaftliche sowie neurobiologische Erkenntnisse miteinander verknüpft werden, liefern die Beweise: Es gilt heute als gesichert, dass Denken und Fühlen untrennbar zusammengehören. Es konnte gezeigt werden, dass komplexe emotionale Erfahrungen sich in einer Vielzahl kognitiver und neurologischer Prozesse begründen und im Weiteren Emotionen und Gefühle die Basis rationaler Erkenntnisse und Entscheidungen vernünftigen Handelns darstellen (vgl. Sousa 1997).
2.3
Neurobiologische Theorien
Die neurobiologischen Erklärungen von Emotionen und Gefühlen sind Ergebnisse der jüngsten Forschungsrichtung. Diese Erklärungen haben eindrucksvoll die Verstrickung zwischen Gehirn und Emotion darlegen können. Markowitsch (1997, 1998) hat als einer der ersten festgestellt, dass das, was uns emotional anspricht, in ein breiteres NervenzellenNetzwerk eingebunden wird und in ein so genanntes Wissenssystem im Gedächtnis gespeichert wird. Das heißt, dass die Erfahrung, positive Emotionen zu erleben, in uns verankert ist und diese Erfahrung auch wieder (z. B. bei emotionaler Deprivation6 ) durch aktive Unterstützung hervorgerufen werden kann. In Bezug auf die Wirkung auf die Gefühle und Emotionen finden sich vor allem drei wichtige Botenstoffe im Gehirn: das Dopamin, die endogenen Opioide und Oxytozin, die im Motivationszentrum des Gehirns, eine Gruppe von Nervenzellen, (vgl. Damasio 1994, 2000; Bauer 2005; Markowitsch 1997, 1998), gebildet werden: Das vom Motivationszentrum ausgeschüttete Dopamin erzeugt das Gefühl von Wohlbefinden und versetzt die Person in den Zustand 6
Deprivation (von lateinisch de-„privare“ = berauben) bezeichnet allgemein den Zustand der Entbehrung, eines Entzuges oder der Isolation von etwas Vertrautem, eines Verlustes, eines Mangels oder das Gefühl einer (sozialen) Benachteiligung.
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Kulturell-soziale Theorien
von Handlungsbereitschaft und Konzentration. Dopamin beeinflusst den Antrieb, der für die Verfolgung eines bestimmten Ziels verantwortlich ist. Die endogenen körpereigenen Opioide sind der Wirkung von Opium und Heroin ähnlich, allerdings in einer weit abgeschwächteren Form. Sie wirken auf das Emotionszentrum des Gehirns und haben positive Effekte auf das Ich-Gefühl, die Lebensfreude und generell auf die emotionale Gestimmtheit und das Immunsystem. Der dritte Botenstoff, der einen überaus positiven Effekt auf das Wohlbefinden hat, ist das Oxytozin. Jene Regionen, in denen die drei Botenstoffe im Körper erzeugt werden, sind miteinander verschaltet und werden deshalb auch als großes Gesamt-Motivationssystem bezeichnet. Als Ergebnis dieses Zusammenspiels kann ein bestimmtes Gefühl als die Wahrnehmung des Körpers, der sich in einer bestimmten Verfassung befindet, empfunden werden (vgl. Damasio 2000). Die eigentliche Revolution in der Erkenntnis der Neurobiologie war die Erkenntnis, das Motivationssystem dient der Generierung und Aufrechterhaltung aller sozialer Systeme (womit auch das Darwinsche System, die Durchsetzung des Stärkeren massiv ins Wanken kommt). Anerkennung und Akzeptanz eines Menschen als Mensch ist ureigenster Grund für alle Arten von Motivation unseres Handelns. Wenngleich die Neurowissenschaften unmissverständlich den Zusammenhang zwischen emotionalem Erleben, Verhalten und Handeln als Teil der Gehirnfunktion zu erkennen geben, kann damit aber nicht gleichzeitig der Rückschluss gezogen werden, dass dieser Ansatz alle Phänomene zu erklären imstande ist (vgl. Damasio 1994). So können beispielsweise komplexe sozial-kulturelle Gefühlsphänomene nicht ausreichend dargestellt werden.
2.4
Kulturell-soziale Theorien
Weitere Strömungen haben sich mit Emotion und Gefühl als kulturellen Prozess befasst: Emotionen und Gefühle sind Produkte einer sozialkulturellen Ausformung und haben gemeinschaftliche Zwecke zu erfüllen. Die Ausformung einer Emotion äußert sich in bestimmten Rollen und Mustern. Goffman (2005) sieht in der emotionalen Individualität eine soziale Rolle, die wir zu spielen gelernt haben. Wut, Aggression udgl. sind vorübergehende „gespielte“ Rollen. Rollen geben gesellschaftliche Anwendungs- und Gültigkeitsbereiche vor, d. h. auch bestimmte
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Gefühlstheorien / Emotionstheorien
angenommene Rollenidentitäten werden positiv oder negativ bestätigt. Verschiedene Kulturen bringen verschiedene Qualitäten und verschiedene Ausdrucksmuster von Emotionen hervor. Beispielsweise wird die Geburt eines Kindes oder Tod eines anvertrauten Menschen im südländischen Teil dieser Erde anders willkommen geheißen bzw. verabschiedet als im nördlichen Teil. Die Vertreterinnen des „sozialen Konstruktivismus“ (Gergen 1994; Oatley 1993; Weber 2000) sehen wahrgenommene Wirklichkeiten als Aushandlungsprozess gesellschaftlicher Sachverhalte. Emotionsverhalten und -verständnis erfahren dadurch historische Prägung, denn gesellschaftliche Vereinbarungen und Aushandlungen brauchen Zeit, um sich an neue Gegebenheiten „anzupassen“. Liegt es nun an, Emotionen speziell auf die verschiedenen sozio-kulturellen Einflüsse hin zu überprüfen, so ist ein Blick in die Vergangenheit dieser Gesellschaft vonnöten. Ein Blick auf all die vorher dargestellten Erklärungsversuche von Gefühlen und Emotionen macht die Multikausalität sichtbar. Gefühle und Emotionen, so sind sich alle Theorien einig, sind stets an die Informationsverarbeitung eines Menschen in einer konkreten Situation gebunden und wirken über innerpsychische Vorgänge hinaus. Sie steuern und regulieren Handlungen und dienen durch ihre Darstellungs- bzw. Signalfunktion kommunikativen Zwecken.
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Gefühlsarbeit – was ist das?
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Gefühlsarbeit – was ist das?
Besonders in modernen „jüngeren“ Dienstleistungsgesellschaften erfahren Gefühls- und Emotionsarbeit an steigernder Bedeutung (vgl. Wegge 2001). Es gilt als sicher, neben der physischen und kognitiven Eignung sind im Umgang mit Anderen, ob dies nun beruflich oder privater Natur ist, emotionale Kompetenzen immer mehr erwünscht (vgl. Zapf 2000). Weder Dienstgeberin noch Dienstnehmerin sind zweckrational und sachbezogen ausgerichtet, menschliche Interaktionen sind – wie bereits erwähnt – immer von Gefühlen begleitet. Jede Organisation verfügt über ein bestimmtes „Gefühlsklima“ bzw. eine „Gefühlskultur“, welche wiederum die Gefühle jedes Einzelnen beeinflusst. In dieser Gefühlskultur wird aufgezeigt, welche Gefühle der Mensch selbst in welcher Situation einbringt, welche Bedeutung bestimmte Gefühle haben und wann und von wem welche Gefühle unterdrückt oder frei geäußert werden dürfen. Ob aggressives Verhalten einer Bewohnerin in einem Pflegeheim aufgegriffen und einer Bearbeitung zugeführt wird oder mittels Sanktionen von Seiten der Mitbewohnerinnen oder des Personals belegt wird, ist gefühlskulturspezifisch. Besonders in kontaktintensiven Dienstleistungen wie beispielsweise im Pflegebereich existieren häufig so genannte Gefühlsnormen, die die Art, die Stärke und die Dauer eingesetzter Gefühle regeln (vgl. Hochschild 1990). Diese Gefühlsnormen sind meist dem Bewusstsein jedes Einzelnen verborgen, was ein Arbeiten mit und an Gefühlen am Beginn von Gefühlsarbeit schwierig macht. In der Gefühlsarbeit werden Gefühle und Emotionen selbst zur Arbeit. Strauss et al. (1980, 629) konzeptionalisieren Gefühlsarbeit zum ersten Mal als „klassische“ Arbeit, „… die im Dienste des Hauptarbeitsverlaufes Energie, Zeit, Können, Arbeitsteilung und Entlohnung erfordert“ und weiter bemerken sie, Gefühlsarbeit sei unverzichtbare Voraussetzung für den medizinischen Arbeitsprozess. Wittneben (2001a, 2001b) definiert Gefühlsarbeit als eine personenbezogene Dienstleistung bzw. Arbeit an den Gefühlen anderer und den eigenen. Dunkel (1988) definiert Gefühlsarbeit als den Versuch des Handelnden, das eigene Empfinden und den Gefühlsausdruck den geltenden Gefühlsregeln anzupassen. Dienstleistungen, in denen Gefühle zum Arbeitsgegenstand werden, sind notwendiger Bestandteil medizinischer oder pflegerischer Arbeit am Menschen. Gefühle sollen beeinflusst werden, damit die ärztliche oder pflegerische Behandlung besser gelingen oder überhaupt durchgeführt werden kann. Anders ausgedrückt: Gefühlsarbeit dient der Erreichung von Handlungszielen.
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Gefühlsarbeit – was ist das?
Dem beruflichen Umfeld schreiben Grandey (2000) und James (1989) der Gefühlsarbeit eine Verhaltenserwartung bzw. Arbeitshaltung zu, die durch den regelmäßigen Einsatz spezifischer Gefühle in beruflichen Interaktionen, das Erreichen des Organisationszieles zu unterstützen und zu regulieren vermag. Besonders im beruflichen Kontext bei kontaktintensiven Dienstleistungen, zu der die Pflege zählt, unterliegen Gefühle, wie bereits erwähnt, bestimmten Normen. Diese Normen werden sowohl in der Ausbildung als auch in der Praxis durch immer wiederkehrende Bestätigung erlernt und erfahren. Wer sich außerhalb einer Norm verhält, erfährt in unserer Gesellschaft häufig Sanktionierungen oder Stigmatisierungen7 . Werden beispielsweise in einer Organisation innerhalb ihrer Mitglieder ausschließlich ritualisierte, oberflächliche Beziehungen gelebt und geduldet, würde eine Person, die vermehrt Nähe und Tiefe zu Patientinnen oder Heimbewohnerinnen sucht, möglicherweise von den Kolleginnen ausgegrenzt werden. Gefühlsarbeit ist für die Autorinnen dieses Buches ein Praxiskonzept, das Fürsorge und die Beziehung zum Menschen in den Mittelpunkt des Handelns rückt. Gefühlsarbeit wird als Professionsarbeit in Form der erweiterten vertieften Pflegepraxis zur Erreichung eines definierten Gefühlsziels gesehen und ist definiert als ein bewusster, gesteuerter Einsatz von Gefühlen in der Gegenwart mit dem Ziel, die Ursachen von auftretenden Irritationen im Pflegekontext zu identifizieren, zu interpretieren und gemeinsam mit den Klientinnen, zu bearbeiten. Eine identifizierte Irritation ist Initial für den Einsatz von Gefühlsarbeit. Als Irritation wird eine wahrgenommene Abweichung eines Phänomens von Gewohntem oder Üblichen bezeichnet (weiteres siehe Kapitel 8, Gefühlsarbeit als Methodik).
Ob Gefühlsarbeit gelingt, ist eine Frage der Ausformung und der Qualitätsarbeit in der Beziehung zwischen den betreuenden und pflegenden Personen zu den Klientinnen. Argyle und Henderson (1990, 12) definieren Beziehungen im Sinne persönlicher Beziehungen als „regelmäßige soziale Begegnungen mit bestimmten Personen über eine gewisse Zeit hinweg“. Die Kontakte sind tiefgründig durch starke, emotionale Bindung geprägt. Nur so kann von persönlicher Beziehung gesprochen werden. 7
Ein Stigma ist eine unerwünschte Andersheit. Stigmatisierung bedeutet die Zuordnung von Menschen durch andere Menschen in eine bestimmte Kategorie („in eine Schublade stecken“) aufgrund eines offensichtlich anders Sein als die anderen. www.wikipedia.org, 25.8.2010
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Gefühlsarbeit – was ist das?
Würde man sich einer Person, zu der man keine persönliche Beziehung pflegt, öffnen? Wenn ja, so ist dies wohl bei den meisten von uns mit dem Wunsch einer gewissen Beständigkeit verbunden. An dieser Stelle wird kurz auf die Voraussetzungen für das Gelingen einer Beziehung eingegangen (vgl. Bauer 2007; Honneth 1998; Peplau 1997): • Erste Voraussetzung ist Sehen und Gesehen werden. Menschen wollen als Person wahrgenommen werden. Dieses Wahrnehmen als Person erzeugt die Bereitschaft für eine Beziehung. „Jemanden wie eine(n) unter vielen zu behandeln, erzeugt keine Beziehung.“ (Bauer 2007, 191). Will jemand nicht gesehen werden, wird er sich bemühen unauffällig zu bleiben. Es steigt die Gefahr, des nicht Gesehen-Werdens. Bei diesem Bemühen handelt es sich nicht selten um einen unbewussten Vorgang. Gesehen zu werden heißt, Bereitschaft zu zeigen, für andere sichtbar zu sein. Dies impliziert Offenheit für sich selbst und für andere. Diese Eigenschaft scheint auch besser geeignet, andere Personen wahrzunehmen als ein sich Zurückziehen. Der erste Schritt zur Beziehung spricht auch den Mut jeder Person an, Bereitschaft zur Beziehung zu zeigen. • Der zweite Schritt eine Beziehung wahrscheinlicher zu machen, ist von gemeinsamer Aufmerksamkeit gekennzeichnet. Unter gemeinsamer Aufmerksamkeit versteht man sich derjenigen Person zuzuwenden, die für einen Aufmerksamkeit aufbringt. Diese Situation findet sich in den Alltagsgesprächen häufig wieder und verlangt von den Gesprächspartnerinnen ein Bemühen füreinander. Im Alltag ist sie sich durch die gelebte und für die Beobachterin wahrnehmbare gegenseitige Wertschätzung erkennbar. Ein ignorantes oder interessenloses Begegnen des Gegenübers wird aufgrund der eigenen Erfahrung mit der Botschaft, das Gegenüber ist an Beziehung mit dem Gegenüber nicht interessiert, interpretiert. „Doch der Impuls, Beziehungen auf eine Art und Weise zu kontrollieren, die unsere eigenen Interessen befriedigt, ist natürlich und normal. Trotzdem führt Ich-Bezogenheit im Laufe der Zeit in die Isolation. Die anderen werden uns Vertrauen und Respekt entgegenbringen, wenn wir die Interessen der Allgemeinheit an erster Stelle berücksichtigen. Wir knüpfen tiefere, vertrauensvollere Beziehungen.“ (Quinn 2005, 12) • Als drittes, sehr verbindendes Beziehungselement ist die emotionale Resonanz zu nennen. Unter emotionaler Resonanz versteht man die Fähigkeit und die Bereitschaft, sich stimmungsmäßig einzustellen. Personen, die diese Fähigkeit nicht besitzen, können nur bedingt Bezie-
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Gefühlsarbeit – was ist das?
hungen eingehen. Im gemeinsamen Handeln wird konkret gemeinsam „angepackt“. Dieses gemeinsame etwas tun, ist stark beziehungsstiftend. Dieser Effekt trifft nicht auf das Delegieren von Aufgaben im Sinne der Unterstützung von anderen zu. • Das vierte, für uns am stärksten greifende Beziehungselement ist das Verstehen von Motiven und Absichten. Es ist zu beobachten, dass dieses vierte Element erst dann zum Tragen kommen kann, wenn die ersten vier gelebt werden. Verstehen setzt Gespräche, Reflexion dieser, Intuition und vor allem bewusst eingesetzte Beobachtungsgabe voraus. Die Autorinnen teilen die zwei letztgenannten Punkte nur bedingt: durch die definierten Prinzipien der Gefühlsarbeit (siehe Kapitel 7, Prinzipien der Gefühlsarbeit) ist ein emotionales Einstellen auf das Gegenüber wenn überhaupt, nur in Ansätzen möglich. Denn Gefühle sollen weder sich selbst noch anderen vorgespielt werden, so auch das Authentizitätsprinzip. Die Beziehung zwischen zwei Menschen ist von deren Geschichte geprägt. Durch die nicht vorhandene Geschichtslosigkeit (siehe Kapitel 7, Prinzipien der Gefühlsarbeit) werden deren gegenseitige Handlungen beeinflusst. Wir stellen den Anspruch, der Professional hat ein authentisches Verhalten gegenüber seinen wahrgenommenen Gefühlen einzunehmen. Gefühlsarbeit ist nur dann Teil der pflegerischen Arbeit, wenn sie institutionell nachweisbar ist und als gelebtes Wertemanagement ausgewiesen werden kann, so Strauss et al. (1980). Gefühlsarbeit ist heute in vielen Bereichen wichtiger denn je, denn: • Verzicht auf Gefühlsarbeit kann auf Seiten der Klientinnen zu Fehlleistungen mit Konsequenzen wie Verletzung der Privatsphäre, Erniedrigung, dem Gefühl, wie ein Objekt behandelt zu werden oder auch zu früherem Tod führen (vgl. Strauss et al. 1980; Bischoff-Wanner 2002; Lankers et al. 2010). • Verzicht auf Gefühlsarbeit kann auf Seiten der Pflegenden zur emotionalen Abstumpfung bis zum Burn-out führen. • Oberflächlichkeit, Institutionsorientierung und Funktionalität hemmen ein Wahrgenommen-Sein als Mensch. • Symptome, die sich aus der Lebenssituation eines Menschen entwickelt haben, werden aus der Sicht der Medizin und der Pflege 20
Gefühlsarbeit – was ist das?
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nicht in ihrem Zusammenhang, sondern nach wie vor isoliert betrachtet. Ökonomischer Druck forciert die Konzentration der Pflege auf Körperlichkeiten. Die Konzentration auf Körperlichkeiten beschränkt die Wahrnehmung der vielfältigen Kompetenzen der Pflegenden bei allen Beteiligten. Der Innovationsschub setzt einseitige Akzente: Hightech anstatt Hightouch. Pflegende in Ausbildung und Praxis werden mit ihrer eigenen Verwirrung der Gefühle und jener der Klientinnen und Patientinnen alleine gelassen. Arbeit ist ohne Kooperation der Klientinnen und Patientinnen nicht erfolgreich zu verrichten. Der Erhalt oder die Wiederherstellung der Ressourcen und des Wohlbefindens bedürfen des Vertrauens in sich selbst und in das Pflegeund Betreuungsumfeld. Der medizinischen Arbeit wird Priorität eingeräumt. Deshalb findet Gefühlsarbeit, wenn überhaupt, ad hoc, ungeplant und unbewusst statt.
Die Autorinnen teilen nicht die Haltung mancher Kritikerinnen, durch fürsorgliche Zuwendung würde ein über normal hinausreichendes berufliches Engagement der Pflegenden der Rahmen gesprengt werden, und weiter die Meinung, Fürsorge würde ausschließlich in den Privatbereich einer jeden Person fallen. Zudem befürchten Kritikerinnen, dass Pflegende überfordert werden könnten, wenn sie Zuwendung als Regelleistung zur Verfügung stellen müssen. Das in der Ausbildung geprägte Professionsverständnis ist gekennzeichnet durch die Notwendigkeit des Sich-Abgrenzens zur Patientin und Klientin. Aber wie auch Stemmer (2002, 43) betont: „Das Besondere des anderen kann nur begriffen werden, wenn die Pflegeperson sich auf eine persönliche Begegnung einlässt.“ Diese persönliche Begegnung ist Fundament der hier zugrunde liegenden und dargestellten Gefühlsarbeit, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sie
• mess- und bewertbar ist, • von einer ungeplanten, aber bewussten Einzelmaßnahme bis zu einem geplanten Maßnahmenkonvolut reicht und • in Form eines geplanten Gefühlsprozesses abgebildet werden kann. Gefühlsarbeit als Professionsarbeit erkennt Nuancen im Emotionsverständnis der Kommunikationspartnerin und ist in der Lage, diese Nu-
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Gefühlsarbeit – was ist das?
Tabelle 1: Merkmale des Konzepts der Gefühlsarbeit® Theoretische Grundlagen und Erklärungsmodelle
Handlungstheoretischer Bezug Humanistische (Fürsorge) Modelle Interaktionistische Modelle Neurobiologie
Ziele
Soll für den Menschen • Identität • Würde • Sinn • Motivation • Empowerment erhalten oder wiederherstellen. Soll • Einsamkeit • Langeweile • „Losigkeit“ • „sich als Mensch aufgeben“ vermeiden
Anwendung
Soll Beziehungsarbeit • sichtbar • bewertbar machen Präventiv im unmittelbaren Pflegeprozess Klientinnenebene Organisationsebene
Methodik
Professionsarbeit weniger komplexe Pflegesituation bis zu hoch komplexen Pflegesituation • klientinnengeleitet / patientinnengeleitet • bewusst • gesteuert durch Gefühlsprozess • gegenwartsorientiert • prinzipienorientiert • (meist) geplant • ergebnisorientiert • reflexiv
ancen aufzugreifen, anzusprechen und gemeinsam mit der Klientin zu bearbeiten. Eine auf der Oberfläche „stattfindende Kommunikation“, lässt dieses Erspüren nicht zu. Die Fähigkeit, Nuancen wahr zu nehmen, unterscheidet den Professional vom (Gefühls) Laien. Wichtig ist zu betonen, dass Gefühlsarbeit nur dann im professionellen Umfeld des 22
Zielgruppe von Gefühlsarbeit
Gesundheitswesen zum Einsatz kommt, wenn es für Menschen keine anderen auf der Gefühlsebene ansprechbaren Personen gibt, denn von Seiten der Klientinnen besteht im alltäglichen Umgang kein Bedürfnis eines engeren Kontakts zum Pflegepersonal. Ein normaler, natürlicher Umgang ist die gewünschte Norm (vgl. Busch 1996). In diesem Zusammenhang wollen wir auf den von Fritz Perls in Rogoll (1990, 137), einem der Begründerinnen der Gestalttherapie formulierten Lebensleitspruch verweisen der da lautet: Ich gehe meinen Weg, und du gehst deinen Weg. Ich lebe nicht in dieser Welt, um deinen Erwartungen zu entsprechen, und du lebst nicht in dieser Welt, um den meinen zu entsprechen. Ich bin ich und du bist du, und wenn wir uns begegnen sollten – ist es wunderschön.
3.1
Zielgruppe von Gefühlsarbeit
Das Konzept kommt bei spürbaren und identifizierten Irritationen sowohl von Klientinnen in Pflegeheimen und deren Angehörigen, als auch bei Pflegeteammitgliedern zum Einsatz. Eine Definition, wer in der Gefühlsarbeit Klientin ist, ist von besonderer Bedeutung. In der vorliegenden Konzeption ist Gefühlsarbeit im Alten- und Pflegebereich an verbal kommunizierfähigen Einzelpersonen entwickelt, erprobt und evaluiert worden, wobei die involvierten Gefühlspartnerinnen voll orientiert bis leicht verwirrt waren und Gefühlsarbeit sowohl an Klientinnen als auch an Teammitglieder durchgeführt wurde. Von Bedeutung für den Einsatz von Gefühlsarbeit ist die Bereitschaft aller Beteiligten, sich individuell und als Organisation auf Gefühlsarbeit einzulassen und das „Gefühlshandeln“ auf die Prinzipien des Konzepts auszurichten. Einer der Grundthesen des Konzepts ist die Annahme der Erreichbarkeit aller Menschen auf der Gefühlsebene, deshalb kann das Konzept auf andere Gruppen, wie bewusstlose und stark verwirrte Personen sowie auf Kinder, ausgeweitet werden. Der Professional ist in diesem Fall besonders auf Reaktionen aller Art des Gegenübers angewiesen. In der vorliegenden Fassung von „Gefühlsarbeit“ sind diese Zugänge noch nicht erprobt worden, weitere Erfahrungen müssen gesammelt werden. 23
Thesen der Gefühlsarbeit
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Thesen der Gefühlsarbeit
Gefühlsarbeit unterliegt sieben formulierten Thesen: These 1: Jede Irritation ist ein Zeichen These 2: Wir können jedem Menschen auf der Gefühlsebene begegnen These 3: Gefühlsarbeit ist keine Selbstverständlichkeit These 4: Gefühlsarbeit braucht ein Geben und Nehmen These 5: Gefühlsarbeit braucht eine fundierte Reflexionsfähigkeit und hohe Sensitivität der Pflegenden These 6: Gefühlsarbeit birgt die Chance einer Befindens- und Verhaltensänderung These 7: Gefühlsarbeit hat keine Kostensteigerung zur Folge Die erste These – Jede Irritation ist ein Zeichen – besagt, dass Irritationen Aufträge an die Pflegenden sind, nach Gründen der Irritation zu suchen und Handlungen zu setzen. Solche Irritationen können in einem Rückzugsverhalten der Klientinnen, in Aggression, in einer Ablehnung8 der Mithilfe bei der Pflege oder in einer plötzlichen Inkontinenz sichtbar werden. Mit den Worten Fuchs’ (2004, 12): „Irritation stellt sich ein, wenn Wahrnehmungen den Routine-Zugriffen des Bewußtseins nicht mühelos unterworfen werden können und damit die Anschlußselektivität dieses Systems problematisch machen.“ Eine Irritation ist eine Abweichung von der Normalität, je nach „Definition“ von Normalität und Anwendung des Normalitätsbegriffs in einem bestimmten Handlungskontext. Ein Ignorieren der Irritation kann entweder zu ihrer Verstärkung, zum Rückzug aus der Umwelt oder zum Vertrauensverlust führen. Die zweite These – Wir können jedem Menschen auf der Gefühlsebene begegnen – drückt das in unserer Begegnung mit anderen für alle zu identifizierende Mitfühlen (Haltung) aus. Es ist über Körperhaltung, Mimik, Gestik, Sprache oder Tonfall zu erkennen. In dieser These erlangen die Prinzipien der Authentizität und der Geschichtslosigkeit besondere Bedeutung. Ebenso kann der Zugang jedes Individuums auf der Gefühlsebene als Ressource betrachtet werden, die in der Ressourcenorientierung Ausdruck findet.
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Die Autorinnen lehnen das Wort „Verweigerung“ mit der Begründung des stark negativ Besetzten ab.
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Thesen der Gefühlsarbeit
Die dritte These – Gefühlsarbeit ist keine Selbstverständlichkeit – weist auf die enorme persönliche Arbeit im Gefühlsprozess hin, die nicht von jeder Pflegenden geleistet werden kann und geleistet werden mag: „Die innere Diskrepanz zwischen dem, was nicht gefühlt und gezeigt werden darf (Ekel, Abscheu, Zorn) und dem, was gezeigt werden soll (Freundlichkeit und Zuwendung), macht eine erhebliche Arbeit an den eigenen Gefühlen notwendig.“ (Bischoff-Wanner 2002, 61) Und weiter: „Weder der Patient noch das Pflegepersonal können sich die Beziehung aussuchen“ (ebd.). Diese Aussage teilen die Autorinnen nicht, denn dieser Ausspruch widerspricht im Konzept Gefühlsarbeit dem Prinzip der Authentizität. Würde eine Person Beziehungsarbeit leisten müssen, ohne von sich aus zu wollen, wäre sie ihrer Klientin gegenüber nicht authentisch. Goffmann (2005) unterstreicht, eine Akteurin könne zwar in einer bestimmten Situation ihren Gefühlsausdruck regulieren, nicht aber ihre wirklichen Gefühle! In dieser These kommt insbesondere das Prinzip der Freiwilligkeit zum Einsatz. Die These des Gebens und Nehmens besagt, dass Gefühlsarbeit auf der Bereitschaft der Pflegeperson aufbaut, etwas von sich „herzugeben“; Gefühlsarbeit heißt bewusst mit seinem Gegenüber während eines Arbeitsprozesses eine vertrauensvolle Beziehung einzugehen, um definierte Pflege- und Betreuungsziele zu erreichen. Menschen mit denen wir gute Erfahrungen gemacht haben, die uns Zuwendung und auch Liebe entgegenbringen, Situationen, die uns Wohlbefinden spüren lassen, werden, wie bereits erwähnt, ins emotionale Gedächtnis eingespeichert. Dieser Vorgang kann nicht bewusst gesteuert werden, er passiert automatisch. „Was sich hier abspielt, ist das neurobiologische Substrat eines Phänomens, das wir im Alltag als Vertrauen und in der Psychologie als Bindung bezeichnen.“ (Bauer 2007, 51) Menschen mit denen wir positive Erlebnisse verbinden, wirken auf uns stimulierend. Und da Erinnerungen an schöne Erlebnisse die gleiche Wirkung haben, wird diese Erkenntnis von uns bewusst in der Gefühlsarbeit als Maßnahme eingebracht. Es wird beispielsweise als Methode der gegenseitigen Geschichten wirksam. Im angeführten Beispiel von Herrn Leitner (siehe Kapitel 11.5) ist dieses Phänomen nachzuvollziehen. Gefühlsarbeit verfolgt unter anderem das Ziel, das Motivationssystem eines Menschen aktiv zu halten bzw. bei verlorener Motivation, dieses wieder zu reaktivieren. Dabei muss Gefühlsarbeit immer auf das Ziel der immer wieder kehrenden positiven Befriedigung sozialer Bedürfnisse abzielen.
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Thesen der Gefühlsarbeit
Die fünfte These – Gefühlsarbeit braucht fundierte Reflexionsfähigkeit und hohe Sensitivität der Pflegenden – weist auf die Notwendigkeit hohen Reflexionsvermögens der Pflegenden hin. Es bedingt eines Arbeitsumfeldes, in dem Reflexion institutionalisiert und hoch geschätzt wird. Sollten diese Umstände nicht gegeben sein, bedarf es im Vorfeld der Anwendung einer Reaktivierung der emotionalen „Fühler“ der Mitglieder der Organisation. Gefühlsarbeit an und mit der Klientin kann nicht zum Einsatz kommen, weil die organisatorischen und emotionalen Fähigkeiten degeneriert sind. Das Prinzip der Bedingungslosigkeit ist besonders an diese These geknüpft. Die sechste These lautet: Gefühlsarbeit birgt die Chance einer Befindens- und Verhaltensänderung. Werden Irritationen nicht weiter verfolgt, heißt das, das Phänomen hinter der Irritation zu ignorieren und der Klientin keine Möglichkeiten einer Bearbeitung anzubieten. Diese These ist eng an die These des „Gebens und Nehmens“ geknüpft. Das Normalitäts- / Individualitätsprinzip ist häufiger Begleiter dieser These. Die siebte These – Gefühlsarbeit hat keine Kostensteigerung zur Folge – unterstreicht Gefühlsarbeit als eine generelle Haltung der Pflegenden ihren Klientinnen gegenüber. Gefühlsarbeit ist bewusste Arbeit, die nicht zwingend eigener Zeitressourcen bedarf. Das Prinzip der Ressourcenorientierung kommt hier zum Tragen. Strauss et al. (1980) weisen auf Gefühlsarbeit im Sinne des „Hauptarbeitsgangs“ hin und meinen damit, dass Gefühlsarbeit abgekoppelt von der täglichen Pflege, wie beispielsweise Körperarbeit, mit Patientinnen wenig sinnvoll ist. Die Autorinnen haben selbst im Zuge der Gefühlsarbeit die Erfahrung des rascheren Zugangs über die körperlichen Beschwerden der Klientinnen gemacht. Dies lässt sich auch durch die häufig notwendige enge körperliche Annäherung im Zuge der Pflege intimer Körperteile begründen. Gefühlsarbeit kann so, häufig erprobt, durchaus in die Körperpflege „integriert“ werden, denn die Fertigkeit von Pflege ist häufig ritualisiert und eingeübt, d. h. sie bedarf (im positivem Sinn) keiner besonderer Denkarbeit. Somit stehen durchaus zeitliche Ressourcen für Gefühlsarbeit in einer Organisation zur Verfügung. Zudem setzt Gefühlsarbeit als präventives Konzept Ressourcen frei, indem Defizite bei Klientinnen minimiert werden. Gefühlsarbeit ist die wichtige Voraussetzung für die Ermöglichung von „Nichtgefühlsarbeit“. Gefühlsarbeit als bewusst gesetzte Handlung bedingt den professionellen Einsatz von Empathie. Die Erkenntnis dass diese nicht aufgebaut werden kann, unterstreicht professionelles (Nicht-) Handeln. Diese Erkenntnis ist insofern von großer Bedeutung als Ge-
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Thesen der Gefühlsarbeit
fühlsarbeit eine bewusst gesetzte Handlung ist und dadurch von jeder Person ein bewusstes Nein zur Gefühlsarbeit gesetzt werden darf und sogar gesetzt werden soll, wenn Empathie nicht aufgebaut werden kann. Gefühlsarbeit ist als Werkzeug der Kommunikation zu sehen, das unter bestimmten Bedingungen (siehe Kapitel 7, Prinzipien von Gefühlsarbeit) von Person und Organisation zum Einsatz kommen kann. Setzen einer Betreuungshandlung in Form von Gefühlsarbeit kann sich ausdrücken in Identitätsarbeit, in Trostarbeit, in Ablenkungsarbeit, in Abschiedsarbeit, in Da-Sein-Arbeit oder in Fassungsarbeit uvm.
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Bedeutung von Gefühlen und Emotionen
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Bedeutung von Gefühlen und Emotionen
Auf der einen Seite sind wir alle „Expertinnen in Sachen Gefühle“, wir erleben wie Hermann Hesse (1975) schreibt, unser ganzes Leben vorwiegend mit Gefühl. Und dennoch wissen wir zumindest wissenschaftlich höchst ungenau, was ein Gefühl eigentlich ist, welchen Sinn es hat oder wie es funktioniert (Ciompi 2002). Gefühle scheinen uns irrational, schwer fassbar und in vielen Situationen störend. Über viele Jahrzehnte war die geläufige Meinung, Gefühle seien aus allem „objektiven Denken“ zu verbannen. Dies führte zu einem einseitigen kopflastigen Verständnis unseres Menschenbilds. Menschenbilder bestimmen nicht nur, wie wir uns selbst und andere sehen, sondern auch wie wir miteinander umgehen.
Bereits Aristoteles (348– 322 v.C.) schreibt den Emotionen eine motivationale Rolle zu (vgl. Küpers/Weibler 2005). Emotion sei ein eigener, leidenschaftlicher Zustand des Lebendigen und Bewussten. Gefühle spielen in allen psychischen und sozialen Geschehnissen eine enorme Rolle und dennoch finden diese erst seit kurzem in der Wissenschaft vermehrt an Bedeutung. Vor allem die Hirnforschung befasst sich in den letzten zwei Jahrzehnten intensiver mit der Natur von Gefühlen. Im Zentrum der Beobachtungen stehen vor allem die Wechselwirkung zwischen Fühlen und Denken. Und es zeigt sich klar, dass „funktionell untrennbar ineinander verflochtene Denk- und Fühlzentren sich gegenseitig ständig aufs engste beeinflussen“ (Ciompi 2002, 17). Es gibt kein reines emotionsfreies Denken! Aus den Erkenntnissen der Neurobiologie sind wir alle auf soziale Resonanz und Kooperation ausgelegte Wesen. „Kern aller menschlichen Motivation ist es, zwischenmenschliche Anerkennung, Wertschätzung, Zuwendung oder Zuneigung zu finden und zu geben.“ (Bauer 2007, 21). Studien beweisen, nichts aktiviert einen Menschen so sehr als die Aussicht auf soziale Anerkennung, das Erleben von positiver Zuwendung, der Wunsch als Mensch gesehen zu werden und die Erfahrung der Liebe. So konnte neurobiologisch auch nachgewiesen werden, dass die Motivationssysteme abschalten, wenn soziale Zuwendung verwehrt wird bzw. keine Chance auf sie besteht (vgl. Winslow/Insel 2004; Insel/Fernald 2004; Panksepp 2003, 2005). Vergegenwärtigen wir uns die Bilder von Armen, Kranken, Alten und Behinderten, die gesellschaftlich eine Stig-
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Gefühl / Emotion festigt soziale Strukturen
matisierung erfahren und zu jenen Gruppen gehören, die in unserer Gesellschaft häufig sozial ausgegrenzt sind oder in einem Umfeld leben (müssen), in dem keine Zeit und keine Motivation aufgebracht wird, sich mit dem Mensch als Menschen zu beschäftigen. Die Folge ist, sie regredieren, werden apathisch, nicht nur körperlich, auch geistig und sozial. Ein weiteres Beispiel ist das Phänomen von Menschen (vor allem bei älteren Personen), die ebenfalls rasch nach dem Tod einer geliebten Partnerin „verfallen“ oder sogar sterben. Der Verlust der Bindung führt häufig zum Einbruch der Lebensmotivation und dem Gefühl des nicht mehr Gebrauchtwerdens bis zum Gefühl der Sinnlosigkeit. Allerdings ist diese innere Motivation nicht verloren, sie kann durch Zuwendung und Anerkennung wieder aktiviert werden. Allein das In-Aussicht-Stellen eines zukünftigen sozialen Kontakts bzw. eines Umfeldes, im dem vermehrt Kontakte wahrscheinlich werden, weckt die Reaktion der Eigenmotivation „Dieses „In-Aussicht-Stellen“ eines sozialen Kontakts wird von den Emotionszentren registriert und führt von hier aus zu einer unverzügliche Mobilisierung der Motivationssysteme, die wiederum psychisches Begehren und körperliche Handlungsbereitschaft auslösen, das heißt, sie setzen Lebewesen sowohl im direkten als auch im übertragenen Sinne in Richtung Artgenosse bzw. Mitmensch in Bewegung.“ (Bauer 2007, 39) Das Beispiel von Frau Bauer in diesem Buch (siehe Kapitel 11.1), bringt diese Erkenntnis gut zum Ausdruck. Eine unserer Absichten ist es, mit Hilfe der in diesem Buch angeführten Fallbeispiele, diese Zusammenhänge für die Leserinnen bewusst wahrnehmbar und für die Praxis nachvollziehbar zu machen. Wurde früher der dichotome Ansatz Ratio versus Gefühl vertreten, ist der heutige Ansatz durch die Untrennbarkeit von Denken und Handeln von Individuen in Organisationen gekennzeichnet. Emotionen wird heute ein wichtiger Stellenwert in Organisationen zugewiesen. Manchmal haftet der Gefühls- und Emotionsdiskussion hartnäckig, obwohl widerlegt, das Weibliche an und erschwert eine sinnvolle Diskussion über die Bedeutung von Emotionsarbeit vor allem auch im Management.
5.1
Gefühl / Emotion festigt soziale Strukturen
Wie die Definition von Emotion zeigt, ist sie ein Produkt von Interaktion in den Kontexten, in denen wir uns bewegen. Die Beziehungen, die immer von Gefühlsaspekten begleitet sind, zeigen Menschen ihre gemeinsamen 29
Bedeutung von Gefühlen und Emotionen
Motivationen, Werte und Haltungen. Emotionale Prozesse ermöglichen eine Verständigung untereinander und generieren eine „gemeinsame“ Identität (vgl. Bosma/Kunnen 2001).
5.2
Gefühl / Emotion schützt vor Unversehrtheit
Der Mensch als sozial konstruiertes Wesen ist auf Beziehung angewiesen. Ist dieser von Kontakten (langfristig) ausgeschlossen, reagiert der Körper wie auf körperlichen Schmerz. Das Gehirn macht kaum einen Unterschied zwischen körperlichen und sozialen Leiden, so Panksepp (2003, 2005). Emotion und Gefühl sind angelegt, den Organismus vor störenden Einflüssen und Unversehrtheit zu bewahren. Beispielsweise ist bewiesen, dass aggressives Verhalten so eine bewahrende Rolle einnimmt: der Verlust von Beziehungen soll vermieden werden und auf das Nichtvorhandensein von Beziehung aufmerksam gemacht werden.
5.3
Gefühl / Emotion macht Werte und Bedürfnisse sichtbar
Emotionen zu haben heißt, über ein Werturteil zu verfügen welches ein bestimmtes Gefühl hervorruft. Fühlen ist eine Form des Wertens und somit sind Emotion und Wert in engstem Zusammenhang zu sehen. Zu betonen gilt, dass Emotionen sich nicht nur auf das Selbst und seine Werte beziehen, sondern auch auf soziale Dimensionen (vgl. Scheele 1990). Simmel (2000) geht davon aus, dass Emotionen Individuen aneinander binden und die Gesellschaft an sich durch die vielen Interaktionen miteinander verbunden wird. Emotionen und Gefühle stehen grundsätzlich in engem Verhältnis zu den Grundbedürfnissen von Menschen.
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Prävention und Gesundheitsförderung durch Gefühlsarbeit
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Ziele der Gefühlsarbeit
Die Konzeption der Gefühlsarbeit dient sowohl den Klientinnen als auch den Mitarbeiterinnen der Organisation und verfolgt die Ziele, • Freude und Sinnstiftung in der Pflege und durch die Pflege zu gewährleisten. • die Würde des Menschen zu erhalten. • das Empowerment (das Gefühl, befähigt bzw. fähig zu sein) zu stärken. • die Sichtbarkeit und Bewertbarkeit von Gefühlsarbeit als „klassische“ Arbeit darzustellen. • die Qualitätssicherung durch Hightouch als Wertmerkmal einer Organisation herauszuarbeiten und vor allem • den Phänomenen Langeweile, Einsamkeit, Identifikationsverlust, Desorientierung, Autonomieverlust und dem „Losigkeitssyndrom“ (Hilflosigkeit, Sinnlosigkeit, Ausweglosigkeit, Wertlosigkeit, Gefühllosigkeit …) präventiv entgegenzutreten. Gefühlsarbeit ist Mittel zum Zweck (Zielerreichung) und nicht Zweck an sich.
6.1
Prävention und Gesundheitsförderung durch Gefühlsarbeit
Es kommen von Jahr zu Jahr neue Forschungserkenntnisse, die das Bild der großen Bedeutung von Gefühlen und Emotionen für die Gesundheitsarbeit verdeutlichen (vgl. Bauer 2007; Birbaumer/Schmid 2006). Für die Pflege können sich neue Herausforderungen herauskristallisieren, die im Speziellen auf das Wissen über die Wechselwirkungen von sozialen, seelischen und physiologischen Prozessen aufbauen: „ohne die Konstruktion jener Wechselwirkungen, …, steht die praktische Gesundheitsarbeit auf tönernen Füßen, entbehrt auch die therapeutische Wirkung interaktionsintensiver Versorgungsleistungen als Ergänzung und Alternative zur heute stark favorisierten technisierten Medizin einer wissenschaftlichen Begründung“ (Badura et al. 1996). Gefühlstheorien müssen in der Konstruktion neuer Arbeitsformen im Mittelpunkt stehen.
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Ziele der Gefühlsarbeit
6.1.1 Prävention von Identitätsverlust Identität ist ein Grundbedürfnis, eine Ich-Qualität einer Existenz (vgl. Erikson 1981, 18), wie Essen, Trinken oder Sexualität. Der Mensch verliert dann seine Identität, wenn er sich so verändert bzw. von außen beeinflusst wird, dass wesentliche Kriterien entfallen, anhand deren er identifiziert wird bzw. an denen er sich selbst identifiziert. Dies kann vor allem dann zutreffen, wenn die Kriterien der Identifizierung geändert werden oder verändert sind. Beispielsweise ein Mensch, der krank oder pflegebedürftig wird und aus diesem Grund die Institution eines Krankenhauses oder Pflegeheims aufsucht, muss eine enorme Anpassungsleistung vollziehen: er befindet sich in der Patientinnen- bzw. Pflegebedürftigenrolle. Die Rollenveränderung und der Verlust der vorher besessenen Rollen führen nicht selten zum Identitätsverlust bis (mit Hilfe) die neue Rolle adaptiert ist. Die Patientinnenrollen entsprechen nicht jenen eines normalen Erwachsenenlebens: erwachsene Menschen werden häufig zu passiven Empfängerinnen von Gesundheits- und Sozialdienstleistungen. Dies umso mehr, je weniger die aktiven, förderbaren Anteile der Patientin in den „Patientinnen“- bzw. „Pflegekontrakten“ zwischen Professional und Klientin eingebracht werden. Patientinnenund Pflegekontrakte sind der Ausdruck dessen, was als Pflegeverständnis von den Pflegenden in die Organisation und somit an die zu Betreuenden eingebracht wird bzw. eingebracht werden darf. Meist sind Kontrakte psychosoziale und geistige Haltungen, die selten in schriftlicher Form vorliegen. Abbildung 4 zeigt jene Faktoren, durch die Identität gestärkt oder geschwächt werden kann.
Abb. 4: Indentitätsfördernde bzw. -hemmende Faktoren
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Prävention und Gesundheitsförderung durch Gefühlsarbeit
Zum besseren Verständnis, was Identitätsverlust sein könnte, folgendes weiteres Beispiel einer gesunden Person: Eine schwangere Frau liegt in der Ambulanz eines Universitätsspitals und wird im Zuge der MutterKind-Pass-Untersuchung einem Vaginalultraschall unterzogen. Der Intimbereich ist frei einsehbar und nicht durch Hilfsmittel geschützt. Während dieses Vorgangs betritt eine Medizinerin mit sieben Medizinstudentinnen die Ambulanz. Sie alle stellen sich neben das Ultraschallgerät mit dessen Hilfe den Studierenden erklärt wird, was auf dem Bildschirm zu sehen ist. Die Frau wird weder gegrüßt noch eines Blickes von einem der ins Zimmer Tretenden gewürdigt. Der Frau ist die Situation äußerst peinlich, dennoch ist sie nicht in der Lage, in irgendeiner Weise darauf zu reagieren, sie lässt stumm die verbleibende Untersuchung über sich ergehen. In dieser Situation ist sie ihrer Identität beraubt, was ihr die Sprache und den Aktionsrahmen ihres Handelns nimmt. Erst als sie mit ihrem Namen gebeten wird, wieder von der Liege aufzustehen, wird sie sich ihrer selbst wieder bewusst.
6.1.2
Prävention von Sinnverlust, Sinnlosigkeit und Mangel an Würde Die Gefühlsarbeit als eine Pflegende-Patientinnen-Beziehung hat zum Ziel, das Wohlbefinden von Klientinnen über die Aufnahme und das Gestalten von Beziehung zu fördern. Elsbernd und Glane (1996) sehen in dieser Haltung ein bedeutendes Arbeitsmotiv, dass dem Beruf eine sinnstiftende Ideologie beimisst. Viktor Frankl, nach dem Sinn seines Lebens gefragt, soll geantwortet haben: Der Sinn seines Lebens besteht darin, anderen bei der Suche nach dem Sinn ihres Lebens behilflich zu sein, denn „auf Grund seines Willens zum Sinn ist der Mensch darauf aus, Sinn zu finden…“ (Frankl 1980, 71). Und in Anlehnung an Moritz Schlick (In: Mettnitzer 2005), der feststellte, der Sinn des Lebens kann nicht definiert, sondern müsse von jedem erarbeitet werden, ist Hilfestellung eines kranken und pflegebedürftigen Menschen und deren Angehörige sowohl für diese als auch für die Helfenden selbst sinnstiftende Arbeit. „Sinn läßt überleben.“, so auch Paterson und Zderad (1997, 168). Gefühlsarbeit zielt auf die Selbstbestimmung von Menschen und bestätigt ihm dadurch seine Würde: „Die Würde des Menschen liegt in der Möglichkeit der Selbstbestimmung“ (Geißler/Hege, in: Rogers 1990, 69). Der betroffene und irritierte Mensch ist Partner im Beziehungsprozess und legt die Ausrichtung einer möglichen Kooperation fest. Die Annahme durch die Gesundheitsökonomie (vgl. Dézsy 2003), die Klientin
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Ziele der Gefühlsarbeit
sei Koproduzentin im Gesundheitsprozess, der Professional der Produzent, wird von der Autorin (vgl. Neumann-Ponesch 2009) abgeändert. Sie stellt die These auf: Die Patientin / Klientin ist in vielen Betreuungs- und Kontextsituationen Produzentin ihrer eigenen Gesundheit. Die Gesundheitsprofessionals sind die Koproduzenten. Erst diese Sichtweise des Zugangs zu Gesundheits- und Sozialleistungen ermöglicht eine wirkliche Klientinnenorientierung, die die Selbstbestimmung in den Mittelpunkt der professionellen Betrachtung rückt. Denn wer außer den Klientinnen bestimmt, was diese für sich als Wohlbefinden und / oder Gesundheit definieren? Und nur diese selbst können durch aktive Beteilung ihrer selbst das gewünschte Ergebnis herstellen. „Die Autoritätsperson und der wichtigste Entscheidungsträger in Bezug auf die Pflege ist der zu Pflegende, nicht die Pflegekraft.“ (Rizzo-Parse 1987, 137)
6.1.3 Prävention von Einsamkeit und Langeweile Soziale Netze, die wir positiv wahrnehmen, schützen Gesundheit und erhöhen die Lebensqualität. Studien haben gezeigt, dass beispielsweise (ungewollte) Einsamkeit krank macht. Es werden nicht nur Tür und Tor für körperliche Leiden geöffnet, Cacioppo (2002) glaubt in seinen Studien beweisen zu können, dass die Lebenserwartung durch Einsamkeit gesenkt wird. Begründet wird diese Tatsache, dass Einsamkeit starken Einfluss auf (erhöhten) Blutdruck nimmt und somit das Herz-Kreislaufsystem belastet wird. Lankers et al. (2010) weisen in ihrer Studie über Demenzkranke in die gleiche Richtung: Im Altersheim gepflegte demenzkranke Bewohnerinnen haben nach Ausschluss des Einflusses von Alters-, Geschlechts- und vor allem Schweregradunterschieden ein signifikant um 53,1% höheres relatives Sterberisiko als zuhause gepflegte Menschen. Dies entspricht einer über zwei Jahre längeren Lebensdauer. Mit dem Ziel der Verlängerung von Lebenszeit bedeutet also eine Heimunterbringung eine bisher so nicht bekannte gravierende Verkürzung der Lebenszeit. Als mögliche Gründe werden von den Forscherinnen die vermutlich weniger günstigere Befriedigung der sozialen Bedürfnisse nach zwischenmenschlichen Kontakten und sinnvoller Beschäftigung bei den Demenzkranken angeführt.
6.1.4 Prävention des „Losigkeitssyndroms“ Was ein Losigkeitssyndrom sein kann, soll hier am besten mit einem Fallbeispiel erklärt werden:
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Prävention und Gesundheitsförderung durch Gefühlsarbeit
Im Rahmen einer Pflegeberatung fällt dem Pflegeberater vormittags eine auf dem Gang sitzende Frau auf. Ihre gebückte Körperhaltung und der auf den Boden gerichtete Blick erweckt in ihm den Eindruck, dass sie sich sehr traurig fühlt. Er fragt sie, ob er sich zu ihr setzen darf und sie gibt ihre Zustimmung durch ein Nicken. Nach einer kleinen Pause erhebt sie ihre Augen, blickt ihm ins Gesicht und beginnt zu sprechen. Es ist ein ca. zwanzigminütiger Monolog. Die Art der Sprachmelodie sowie die Sprachgeschwindigkeit lässt ihn erkennen, dass sie in diesem Augenblick etwas ganz Wichtiges zu sagen hatte. Sie sagt: „Mein Gedächtnis ist ein Wirrwarr! Mein Neffe hat mir versprochen, mich abzuholen. Ich bin enttäuscht! Hat er mich alleine gelassen? Er ist mein einziger Verwandter und jetzt lässt er mich alleine! Ich kann gar nichts machen. Sie sehen, ich bin am Ende und er will nicht! Vielleicht, weil er zu wenig Geld bekommt? Es ist alles verloren. Ich hatte eine schöne Wohnung. Ich weiß nicht ein noch aus! Ich bräuchte natürlich jemanden, der sich ernstlich für mich interessiert. Ich hatte Freunde, aber die haben sich in letzter Zeit verflüchtigt. Es ist nichts mehr zu holen bei mir. Ich habe in meinem Leben viel gelernt – Sprachen – Englisch und Französisch. Ich habe diese Sprachen an der Hochschule für Touristik weitergegeben. Meine Schule im 1. Bezirk habe ich mit Erfolg absolviert. Und dann ist es mit mir bergab gegangen. Mein Gehirn hat ausgelassen. Wieso? Das ist mir ein Rätsel!“
Erwin Ringel (1986, 45f.) verweist in diesem Zusammenhang auf den Zustand der situativen Einengung: „Das Gefühl, nichts ändern zu können, wird zum Eindruck der Ausweglosigkeit, aus dem Pluralismus der Möglichkeiten wird die Einseitigkeit des Zwanges …“ Ringel verweist auf Hochhuth (1976) und dem von ihm beschriebenen Losigkeitssyndrom. Bringt man dieses Syndrom in Zusammenhang mit der Situation, in welcher sich die oben genannte Frau befindet, lässt sich ihre Situation wie folgt beschreiben: Sie ist (empfindet sich) • • • •
ihr Gedächtnis los ihren Neffen, ihre Verwandten und ihre Freunde ihr Vertrauen los ihre Wohnung los
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Ziele der Gefühlsarbeit
• • • • • • • • • • • • •
ihre Identität ihren Erfolg los kontaktlos los rettungslos hilflos hoffungslos ausweglos bedeutungslos wertlos ihr Gelerntes los haltlos kraftlos ratlos
Um nicht ebenfalls im Losigkeitssyndrom zu versinken, bietet der Pflegeberater der Frau die Gefühlsarbeit „Da-Sein-Pflege“ an (genauere Beschreibung siehe Gefühlsprozess in Kapitel 8.1). Durch den Einsatz dieser Pflege ist es der Frau möglich, ihre Gefühle in Worte zu fassen. Dieses in Worte fassen, ist ein Mittel gegen die Sprachlosigkeit.
6.2
Sichtbarkeit von Gefühlsarbeit als Professionsarbeit
Wir sehen Professionsarbeit in Anlehnung an Oeverman (1997) als einen handlungsorientierten Ansatz, der zwischen den Erfordernissen der Praxis und den wissenschaftlichen begründeten Lösungsorientierungen (nach Oevermann Problemorientierung) vermittelt. Dabei handeln Pflegende und Medizinerinnen nach verschiedenen Paradigmen (vgl. Savage 1995). So ist die Medizin nach wie vor stark naturwissenschaftlich angelegt, während die Pflege sich auch an den sozial- und geisteswissenschaftlichen Paradigmen orientiert. Eine wirksame therapeutische Beziehung9 mit den Klientinnen im Zentrum der Pflege stärkt nicht nur das Wohlbefinden, sondern trägt wahrscheinlich auch zur Heilung bei. Mangelnde Daten und Fakten vereiteln eine Stützung der zwar plausibel artikulierten Begründungen, was Gefühlsarbeit wirklich leisten kann. Es fehlt an kon9
Unter Therapeutischer Beziehung verstehen die Autorinnen jene Qualität einer Beziehung, die ein Professional im Gesundheitswesen anbieten können muss, die einen Menschen befähigen, sich selbst zu beobachten, zu reflektieren und zu analysieren, um Selbsterkenntnis erlangen zu können. Erst diese Qualität der Beziehung ermöglicht Veränderung und Wohlbefinden.
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Sichtbarkeit von Gefühlsarbeit als Professionsarbeit
tinuierlich produzierten, als integraler Bestandteil von Pflegedokumentation ausgewiesenen, Ergebnissen. Pflegende müssen intuitiv wissen, was gute Pflege und hohe Pflegequalität ausweist, doch Pflege benötigt mehr Macht und Mittel, die Veränderungen der Arbeitsbedingungen zu realisieren vermögen (vgl. Bischoff-Wanner 2002). Unter dem Begriff „Arbeitsbedingung“ kann nun vieles subsumiert werden. Von Bedeutung für eine Sichtbarkeit von Gefühlsarbeit ist ein ausgewiesenes und gelebtes Leitbild, das Gefühlsarbeit als bedeutende konzeptionelle ethische Grundhaltung und Methodik im Unternehmen ausweist. Diese Grundhaltung muss in den Instrumenten der Pflege verankert werden, der Gefühlsprozess von der Anamnese bis zur Outcomemessung ist selbstverständlicher Bestandteil der Pflegedokumentation. Gefühlsarbeit ist nur dann Teil der pflegerischen Arbeit, wenn sie institutionell nachweisbar und benannt ist. Nicht zuletzt müsste sich dieses neue, vermehrt auf Beziehung ausgerichtete Paradigma gegenüber den bestehenden Machtverhältnissen innerhalb der Berufsgruppe Pflege und zwischen den Berufsgruppen durchsetzen. Ein Paradigmenwechsel hat nach Kuhn (1976) dann eine Chance, wenn normale Problemlösungsstrategien offensichtlich versagen: das Auftauchen eines neuen Konzepts wie die Gefühlsarbeit eine ist, kann in diesem Fall als Antwort auf eine Krise verstanden werden. Sollten Krisen notwendige Voraussetzung für neue Theoriekonstruktionen sein, heißt dies in erster Linie immer nach Alternativen zu suchen ohne dabei aber das alte Paradigma gleich von vornherein zu verwerfen. Erst nachdem eine neue Theorie den Status eines Paradigmas10 erlangt hat, kann die alte für üngültig erklärt, ausgetauscht und durch das neue erstetzt werden (vgl. Kuhn 1976). Ein Paradigmenwechsel kann als ein Prozess angesehen werden, in dem die gleichen vorherrschenden Daten und Informationen wie im alten Paradigma in ein neues System gegenseitiger Beziehungen übertragen werden. Alle Krisen – und diese Beobachtung kann in allen Wissenschaften vollzogen werden – enden in einer der drei folgenden Varianten:
• Die Wissenschaft ist fähig, mit dem krisenerzeugenden Problem fertig zu werden: ein neues Paradigma und eine auf diesem Paradigma gestützte Theorie hat sich entwickelt, die nun um gesellschaftliche und somit auch pflegerische Anerkennung kämpft.
10
Ein Paradigma ist ein Objekt, für Artikulierung und Spezifizierung unter neuen oder strengen Voraussetzungen (Kuhn 1976, 37).
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Ziele der Gefühlsarbeit
• Die Wissenschaft kommt zum gegenwärtigen Stand zu keiner Lösung, sie ortet einen Mangel an Wissen und das Problem wird zur Seite geschoben und / oder späteren Generationen zur Lösung überantwortet. • Die Wissenschaft löst das Problem mit bestehenden alten Paradigmen, wodurch es zu einer Bestätigung des alten kommt. Die Unfähigkeit für ein Problem eine Lösung zu finden, diskreditiert Wissenschaft und Praxis und nicht das Konzept selbst. Ohne an dieser Stelle näher darauf einzugehen: mangelnde Effektivität und Effizienz des österreichischen Gesundheits- und Sozialwesens, die vielfach auch vom Rechnungshof ausgewiesen wurden, bedürfen neuer menschenachtender Verbesserungsansätze. Damit Pflege diese mitgestalten kann, muss sie sich um mehr Empowerment bemühen, sei dies nun in den Organisationen oder in der Gesellschaft. Gefühlsarbeit in die Organisation einzubringen, ist für manche scheinbar nicht so attraktiv als bspw. der Neuzukauf eines Hightech-Gerätes, aber sicherlich um ein vielfaches menschenwürdiger und – was natürlich zukünftig bewiesen werden muss – mindestens so wirksam. Und im Übrigen bleiben viele neue technische und pharmakologische Errungenschaften Antworten auf Evidenz schuldig. Die Beziehungsebene in den Mittelpunkt eines Konzepts zu stellen, ruft ebenso Kritikerinnen auf den Plan, die Beziehungsarbeit nicht ausschließlich als Professionsarbeit betrachten: auch Laien seien in der Lage diese zu leisten. Die Autorinnen betrachten den Unterschied zwischen Laientätigkeit und Professionsarbeit im Erkennen von Nuancen, das Spüren und Wahrnehmen von Veränderungen in Verhalten, Gestik, Sprache und Tonfall. Auf diese Veränderung wird der Professional aktiv und geht in weiterer Folge mit Systematik in der Pflege und Betreuung vor. Er setzt Maßnahmen der Diagnostik, die zur Ein- und Ausgrenzung zukünftiger Pflege- und Betreuungshandlungen führt, die er gezielt und gesteuert beobachtet, misst und evaluiert und bei Bedarf verändert. Die Autorinnen stimmen mit Dunlop (1986) überein, die Arbeit auf der Beziehungsebene ist auch für viele andere Berufe wie Psychologinnen, Seelsorgerinnen, Pädagoginnen udgl. von außerordentlicher Bedeutung. Beziehungsarbeit und somit auch Gefühlsarbeit sollten jedoch auch bei ihnen Professionsarbeit sein, die in einer Begegnung bewusst wahrgenommen, als solche durchgeführt und deren Wirkung ausgewiesen wird.
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Ausgestaltung humanistischer und interaktionistischer Theorie- und Modellansätze
Die Autorinnen schließen sich jedoch den Bedenken von Franken (2010) an, ob die Einbringung der Emotionsperspektive in eine konkrete Handlungs- und Veränderungsperspektive führt. Das Ziel ist, sowohl die Bereiche der Gesundheitsförderung als auch jener der Professionalisierung zu stärken. Ob dies unter den restriktiven Verhältnissen im Pflegebereich nur ein „zynisch wirkender Vorschlag“ (ebd., 140) ist, bleibt offen. Dennoch glauben wir an die einzigartige große Chance, dem Beruf und ihren Partnerinnen und Klientinnen neuen Sinn zu verleihen.
6.3
Ausgestaltung humanistischer bzw. fürsorglicher (caring) und interaktionistischer Theorie- und Modellansätze
Das Konzept der Gefühlsarbeit findet Erklärungen in den verschiedenen angeführten Theorien und Modellen.11 Es ergänzt und verhilft den verschiedenen Fürsorge- bzw. humanistischen Theorien und Interaktionstheorien beispielsweise von Benner (1997), Benner und Wrubel (1997), Böhm (1999), Eriksson (1970, in: Kirkevold 1997), Martinson (1989, in: Kirkevold 1997), Paterson und Zderad (1988), Peplau (1997), Travelbee (1966), Watson (1996) oder Wiedenbach und Falls (1978) zu einer praktischen Umsetzung. Viele Theoretikerinnen haben sich bemüht, Modelle und Theorien basierend auf humanistischen Werten und anhand interaktionistischen Methoden zu formulieren. Viele Modelle und Theorien haben sich nicht in der Praxis durchgesetzt oder sind gescheitert, wofür es vielfältige Gründe gibt (vgl. Neumann-Ponesch 2010). Was haben jene Theorien gemein, die in diesem Buch für die Gefühlsarbeit vorgeschlagen werden? Was lässt eine Ausformulierung des Konzepts Gefühlsarbeit in diesen Theorien und Modelle als sinnvoll erscheinen? Zum einen handelt es sich bei den meisten oben genannten Theorien und Modellen um so genannte Grand Theories, die lediglich einen Rahmen für Pflege, aber keine Handlungsanweisungen für die Umsetzung in der Praxis vorgeben. Alle diese Theorien und Modelle weisen zentral den Beziehungsaspekt zwischen Pflegenden und Klientinnen aus. Meleis (1999, 321) schreibt über das Bild der Pflegekraft bei den Interaktionistinnen von einer Person, „…, die gegenwartsorientiert ist, situationsbezogen, 11
Zur Unterscheidung zwischen Modell und Theorie siehe Neumann-Ponesch 2010.
39
Ziele der Gefühlsarbeit
eine Humanistin, eine prozeßorientierte Fachkraft, deren Interesse auf Interaktion gerichtet ist und bei manchen auch auf die Person“. Die humanistischen Modelle implizieren einen besonderen persönlichen Bezug, der bis zur „Verschmelzung von Gedanken, Gefühlen und Handlungen“ (Benner/Wrubel 1997, 21) reicht. Watson (1996) stellt den emotionalen Bezug zur Klientin ins Zentrum von Pflege. Zusammenfassend sind humanistischen und interaktionistischen Theorien und Modellen folgende Merkmale gemein (vgl. Kirkevold 1997, Paterson/Zderad 1997, Watson 1996): • Die Theorien und Modelle nehmen Bezug zu phänomenologischen und hermeneutischen Überlegungen und rücken den Menschen in spezifische Beziehungen zu sich selbst und zu ihrer Umwelt. • Den Theorien und Modellen liegt eine Philosophie der Selbstbestimmung und Verantwortung zugrunde. • Fürsorge und Beziehungsarbeit sind eine menschliche Verhaltensweise und jeder Mensch ist in seinem Innersten fähig, Fürsorge und Beziehungsarbeit zu leisten. • Beziehung ist Voraussetzung für gelungene Fürsorge. • Fürsorge und Beziehungsarbeit ist praktisches Handeln, dem eine gesundheitsfördernde und präventive Absicht zu Grunde liegt. • Fürsorge ist ein Beziehungsbegriff, der sowohl nahe als auch offene Verbindung zwischen zwei Menschen beschreibt. • Fürsorge ist ein moralischer Begriff, der an das Prinzip der Verantwortung für die Schwachen geknüpft ist. • Dem Gegenüber wird bewusst und verstärkt mit großer Tiefe begegnet. Nähe zur Patientin / Klientin ist eine sine qua non, Distanz zur Patientin wird abgelehnt. • Die Beziehung zwischen Klientin und der Pflegenden soll ohne Maske, Fassade, mit Echtheit, emotionaler Wärme und gegenseitiger Akzeptanz gelebt werden. • Die Klientin als auch die Pflegende sollen durch Beziehungsarbeit zu persönlichem Wachstum und emotionaler Reife geführt werden. • Wissen wird durch Erfahrung und Reflexion gewonnen. • Der Mensch kann nicht getrennt von seiner Umwelt gesehen werden. • Die unterstützungsbedürftige Person wird als ganzheitlicher Mensch wahrgenommen. • Die Pflegende und die unterstützungsbedürftige Person treten in einen Verhandlungsprozess und suchen gemeinsam nach der bestmöglichen Lösung.
40
Gefühlsarbeit als Wertemerkmal einer Organisation
• Die Pflegeperson bringt ihre Persönlichkeit in die Beziehung ein und ist bereit, Persönliches mitzuteilen. • Die Erkenntnistheorie stützt sich neben Empirik auf Werte, Intuition, Kunst und Ästhetik. Sie hat ein offenes wissenschaftliches Weltbild. • Der (Forschungs) Prozess verlangt ebenso intuitives Verständnis wie analytischen Verstand. Kritisiert wird, humanistische und interaktionistische Theorien unterstellen eine Form der Hilfeleistung, die über das krankheitsbedingt Notwendige hinausgeht und zu einer Überforderung der Pflegenden führen kann. Dies kann im Einzelfall durchaus zutreffen, allerdings durch die Ausführung von Gefühlsarbeit, der das Prinzip der Freiwilligkeit zugrunde liegt, kann es bei konsequenter Durchführung des Konzepts sowie durch Ehrlichkeit zu sich selbst und zur Arbeitsumgebung zu keiner Überforderung kommen. Gefühlsarbeit setzt o.g. Theorien und Modelle in Handlungen um.
6.4
Gefühlsarbeit als Wertemerkmal einer Organisation
Wie in der Einleitung zu lesen war, wünschen sich Patientinnen alltägliche Umgangsformen und wenig spezifische Hilfestellung von den Pflegenden. Eine Studie in den USA an über einer Million Menschen in 545 Krankenhäuser zur Frage, was für Patientinnen in einem Krankenhaus vorrangig wichtig ist, erbrachte das erstaunliche Ergebnis, das unter den zehn am häufigsten genannten Kriterien jene standen, die die Patientinnen als Menschen wahrnahmen (vgl. Press 1996, in: Dézsy 2003, 26): • „Verständnis des Personals für meinen Zustand und mein Problem“ (71% der Antworten). Gefolgt von: • • • •
„Ich erwarte ein gesamthaft freundliches Krankenhaus“ (70%). „Verhältnis des Personals zu meiner Privatsphäre“ (65%). „Berücksichtigung meiner persönlichen Bedürfnisse“ (63%). „Ich will mit meinem Leiden als Individuum ernst genommen werden“ (63%). • „Maximale Aufmerksamkeit für meine Probleme“ (62%).
41
Ziele der Gefühlsarbeit
Sowohl die ärztliche als auch die spezifisch pflegerische Kompetenz fehlt in den Antworten. Es scheint so, als ob ärztliches und pflegerisches Können ohnedies vorausgesetzt wird. Es scheint eher der Sorge Ausdruck verliehen zu werden, der Mensch als solches könnte zu kurz kommen. Selbstverständlich weist Österreich nicht denselben Kulturkreis auf, dennoch scheint dieses Ergebnis auf einen bedeutenden Trend zu verweisen: psychosoziale Aufmerksamkeit und Begleitung sind für Patientinnen wichtige Kriterien für die Auswahl einer Gesundheitsorganisation. Warum sich nicht diese Wohlfühlkriterien als Konkurrenzmerkmal einer Organisation zunutze machen und ausbauen? Warum nicht die psychosoziale Beziehungspflege als Besonderheit, als speziellen USP (Unique Selling Proposition) einer Organisation ausweisen? Der Berufsgruppe der Pflegenden kommt ohnedies der Status zu, für die Softskills im Unternehmen Verantwortung zu tragen. Wir regen deshalb an, Gefühlsarbeit durch ein Marketingkonzept den Kundinnen, sei es innerhalb oder außerhalb der Organisation, mit dem Ziel, die hohe Emotionsqualität auszuweisen und bekannt zu machen. Hightouch dient als Abgrenzungsmerkmal zu anderen Gesundheitsanbieterinnen. Allerdings hat das Unternehmen Sorge zu tragen, dass die Erwartungen auch erfüllt werden können.
6.5
Positive volkswirtschaftliche Auswirkungen
Mit diesem Konzept der Gefühlsarbeit wird verlorene Beziehungsfähigkeit gestärkt. Es kann ein eigener Raum entstehen, indem sich der betreute Mensch seiner Individualität wieder bewusst werden kann. Das neu erlangte „Sich-wieder-Spüren“ ist ein Zeichen des Lebendigen und beugt Einsamkeit und Langeweile vor. In der Zukunft wird es für betroffene Menschen aufgrund ihrer Erfahrung mit Gefühlsarbeit wieder möglich sein, sich an die Erfahrung, wie man sich selbst im Leben Mut zuspricht oder sich selbst motiviert, zu erinnern. Dieser gesundheitsfördernde Aspekt ist schwer messbar, dennoch kann eine positive Wirkung auf die Volkswirtschaft angenommen werden und wenn es nur jene ist, einige Menschen vor zukünftigen Depressionen zu bewahren. Denn wie bereits in Kapitel 2.3 (Neurobiologischen Theorien) erwähnt, positive Beziehungsarbeit beruhigt das biologische Stresssystem, vermag körperliche und psychische Entspannung zu erzeugen, dämpft dadurch das Angstzentrums, senkt den Blutdruck und verbessert die Schlafqualität (vgl. Friedman et al. 2005). Man möge uns an dieser Stelle die scheinbar banale Zusammenführung der Fakten verzeihen.
42
Authentizitätsprinzip
7
Prinzipien der Gefühlsarbeit
Dem Konzept der Gefühlsarbeit liegen acht Prinzipien zugrunde: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
7.1
Gegenwartsorientierung Authentizitätsprinzip Normalitätsprinzip / Individualitätsprinzip Bedingungslosigkeit Ressourcenorientierung Prinzip der Freiwilligkeit Dienstleistungsprinzip Prinzip der Geschichtslosigkeit
Gegenwartsorientierung
Die Gegenwartsorientierung besagt, dass wir in der Gegenwart agieren, weil Gefühle in der Gegenwart wahrgenommen werden. Pflege und Betreuung wird im Hier und Jetzt geleistet. In der metatheoretischen Zusammenfassung über die Interaktionstheorien spricht Meleis (1999) ebenfalls diese Gegenwartsorientierung an. Pflegende und Betreuungskräfte sind aufgefordert dann zu reagieren, wenn Probleme, Bedürfnisse oder wie in der Gefühlsarbeit verankert, Irritationen sichtbar und spürbar werden.
7.2
Authentizitätsprinzip
Das Authentizitätsprinzip ist gekennzeichnet von der Prägung, die sowohl der Professional als auch die Klientin zeigen. Jeder Mensch lebt jene Identität, die ihn als Mensch formt. Eingebettet in einen Kultur- und Gesellschaftsrahmen lernen deren Mitglieder entsprechende kulturelle Codierungen und Emotionsregeln, denen sie sich anpassen und nach denen sie Empfindungen wahrnehmen. So steuern Emotionen und Gefühle in sozialen Beziehungen über nonverbale Gesten das Verhältnis zu den Kommunikationspartnerinnen. Gefühle werden über die Stimme, den Tonfall die Sprechgeschwindigkeit, die Melodie der Sprache oder über den Blickkontakt und die Körperhaltung, über Mimik und Gestik erkennbar. In all diesen Signalen werden Haltungen ausgedrückt, die die Verbalität weiter zu unterstreichen ver-
43
Prinzipien der Gefühlsarbeit
mögen. Beispielsweise kann Interesse, Da-Sein, Wertschätzung signalisiert werden. Wird wahrgenommen, dass Verbales und Nonverbales nicht übereinstimmt, so kann jeder aus eigener Erfahrung nachvollziehen, dass den nicht sprachlichen Ausdrucksformen größere Aufmerksamkeit geschenkt und diesen mehr vertraut wird. Auf der Seite der Kommunikationsempfängerin wird eine Art nicht authentischen Verhaltens durch das Senden (das Spürbar-Werden) von „Ersatzgefühlen“ identifiziert. Dies kann dann der Fall sein, wenn Professionals verinnerlicht haben, dass sie im Betreuungsprozess keine Person ablehnen dürfen. Wenn das Ersatzgefühl „enttarnt“ wird, wird das Vorspielen von Gefühlen deutlich. Nicht authentische Personen überzeugen in ihrer Botschaft nicht und wirken auf andere unglaubwürdig. Über diesen Weg können beim Gegenüber tiefe Enttäuschung und Vertrauensverlust hervorgerufen werden. Gefühle wie das der Wertlosigkeit finden dadurch möglicherweise Bestätigung. Gefühlsarbeit, die Arbeit an und mit Gefühlen der Patientinnen und Klientinnen, gelingt umso besser, je angemessener und authentischer die Gefühle der Dienstleisterinnen selbst sind. Die Autorinnen erachten Emotionsarbeit an den eigenen Gefühlen, wie von Hochschild (1990) beschrieben, mit dem Ziel, die Gefühle der Situation anzupassen und sich somit selbst gefühlsmäßig „zu belügen“, als nicht zielführend. Wir lehnen uns an Strauss et al. (1980) an, die betonen, Gefühle können nicht direkt hergestellt werden, da sie immer eine Eigenleistung des Individuums sind.
7.3
Normalitätsprinzip / Individualitätsprinzip
Das Normalitätsprinzip bringt zum Ausdruck, was für einen Menschen „normal“ ist. In Anlehnung an Böhm (1999) wird das persönliche Normalitätsprinzip durch Einflüsse der Sozialisation (persönliche Erfahrungen im kulturellen Umfeld) in einer persönlichen Lebensform ausgeprägt, die das individuelle Bild von einem „normalen“ Verhalten und Handeln des Menschen ergibt. Beispielsweise sind dieser Normalität der Umgang mit anderen Menschen, die Art der Beschäftigung, die Form des öffentlichen Auftritts nach außen sowie die Interpretation des Lebensinns eigen. Das heißt, dass jede Person ihre „Normalität“ auf ganz individuelle Weise zeigt. Unter Normalitätsprinzip ist auch jener Umgang zu verstehen, der 44
Prinzip der Ressourcenorientierung
unter erwachsenen, gleichberechtigten Gesunden gepflegt wird, auch wenn einer der beiden sich in einer Ausnahmesituation befindet und Hilfe benötigt. Sowohl verbale als auch nonverbale Kommunikation mit der Klientin hat sich danach auszurichten. In Situationen, in denen die betroffene Person auf Unterstützung angewiesen ist, steigt die Gefahr des Identitätsverlustes. Zur Wahrung ihrer emotionalen Bestimmtheit und weitgehendsten Selbständigkeit bedienen wir uns der Möglichkeiten der Gefühlsarbeit – in diesem Fall der Identitätsarbeit. Unter Individualitätsprinzip in der Gefühlsarbeit wird das Reagieren und Agieren auf das ausgeformte Normalitätsprinzip der Klientin verstanden.
7.4
Prinzip der Bedingungslosigkeit
Das Prinzip der Bedingungslosigkeit macht ein „Erreichen“ unseres Gegenübers zu jedem Zeitpunkt in jeder Situation möglich. Das Gegenüber braucht sich für den Beziehungsaufbau mit dem Professional nicht zu verändern. Der Professional akzeptiert den Menschen so wie er ist. Das gelebte Prinzip der Bedingungslosigkeit zeigt sich beim Professional unter anderem in der Akzeptanz einseitiger Forderungen der Klientin. Gelebte Da-Sein-Arbeit zeigt sich im Engagement des zugewandt sorgenden Verhaltens der Betreuungsperson gegenüber dem Gepflegten. Sie ist frei von Wünschen und Erwartungen gegenüber der Klientin. Sie bedingt das Verständnis und die Verinnerlichung des Konzeptes sowie die Akzeptanz einer möglichen Einseitigkeit. Der Paradigmenwechsel, den pflegebedürftigen Menschen als Partner zu gewinnen, führt zu einer Stärkung seiner Rolle im Gesundheitsprozess, vor allem in gesundheitsfördernder und präventiver Hinsicht (vgl. Stemmer 2002).
7.5
Prinzip der Ressourcenorientierung
Wir gehen davon aus, dass die Ressource – Gefühle empfinden – bis zum Tod eines Menschen bestehen bleibt und im Kontext zu jeder Pflege- und Betreuungshandlung steht. Gefühlsarbeit, als Bestandteil des Hauptarbeitsprozesses geleistet, kann ohne zusätzliche Zeitressourcen erbracht werden. Es ist unsere Absicht, durch den bewussten Einsatz von Gefühlsarbeit die Identifikation mit der Ressource – Gesundheit – sowohl bei der Klientin als auch bei der Mitarbeiterin der Organisation zu fördern.
45
Prinzipien der Gefühlsarbeit
Im Alltag lässt sich die gelebte Ressourcenorientiertheit der Mitarbeiterinnen an Aussagen wie: „Ich habe gesehen, wie Sie sich beim Gehen anstrengen. Was ich auch gesehen habe war, dass Sie ihr Ziel – den Tisch an dem Sie das Frühstück im Aufenthaltsraum einnehmen – erreicht haben.“ Oder: „Ich habe Ihre Anstrengungen während des Kleidens wahrgenommen. Ich finde es bewundernswert, dass Sie es immer wieder versuchen“, erkennen. In der Reflexion des Erreichten sehen wir die Chance angenehme Gefühle zu vergegenwärtigen. Einer Akzeptanz der Krankenrolle wird nur bedingt nachgegeben: Entlastung der Patientin vom Alltag sollte nur in einer Akutsituation zugelassen werden. Das Prinzip der Ressourcenorientierung ist eng an jenes des Normalitätsprinzips gekoppelt.
7.6
Prinzip der Freiwilligkeit
Das Prinzip der Freiwilligkeit beruht auf dem Recht der freien Entscheidung, Gefühlsarbeit anzubieten oder nicht anzubieten. Die Entscheidung zwischen den beiden basiert auf der Fähigkeit, sich bei der Begegnung mit der Klientin zu spüren. Diese Fähigkeit ist allen Menschen eigen. Im Gegensatz zum Laien setzen die Professionals dieses Prinzip bewusst ein. Dieser bewusste Einsatz ermöglicht die autonome Entscheidung der Pflegenden zum Angebot von Gefühlsarbeit. Denn keine Pflegende kann sich allen Pflegebedürftigen mit gleichem Engagement fürsorglich zuwenden, sei es aus mangelnder Sympathie oder anderer restriktiver Ursachen. Zudem impliziert Gefühlsarbeit die Einzigartigkeit jedes Menschen, der durch differenzierte Beziehungsgestaltung zu begegnen ist (Curzer 2003). Wie Watson (1996, 33) feststellt: „Es steht uns frei, ob wir in die eher private, intime Welt zwischenmenschlicher Beziehungen und menschlicher Erfahrungen eindringen wollen oder ob wir uns lieber mit der eher öffentlichen Welt bestimmter Behandlungstechniken und Verhaltenweisen zu beschäftigen wünschen.“ Die Autorinnen betonen nochmals, nicht die Meinung von Bischoff-Wanner (2002) und Stemmer (2002) zu teilen, die die Behauptung aufstellen, dass die Professionals keine Wahlmöglichkeit haben, sich die Beziehungen zwischen Pflegenden und zu Pflegenden auszusuchen. Wenn jene Ziele, die wie in Kapitel 6 (Ziele der Gefühlsarbeit) ‚festgehalten‘, als Professionsarbeit der Pflege definiert sind, dann muss die Pflegende eine bewusste Entscheidung für oder gegen Gefühlsarbeit mit einer Patientin / Klientin treffen. Eine Akteurin kann zwar in einer bestimmten Situation ihren Gefühlsausdruck regulieren, nicht aber ihre wirklichen Gefühle, so
46
Prinzip der Freiwilligkeit
auch Goffmann (2005). Es würde zu viel an Energie, die irgendwo in einer anderen Pflegesituation eingesetzt werden kann, verbraucht werden. „Die innere Diskrepanz zwischen dem was nicht gefühlt und gezeigt werden darf (Ekel, Abscheu, Zorn) und dem was gezeigt werden soll (Freundlichkeit und Zuwendung) macht eine erhebliche Arbeit an den eigenen Gefühlen notwendig“ (Bischoff-Wanner 2000, 38). Es ist ein falsch verstandenes Rollenverständnis, zu glauben, eigene Gefühle bei den Patientinnen und Klientinnen nicht auch zum Ausdruck bringen zu dürfen. Stellen Sie sich beispielsweise folgende wahre Gegebenheit vor: Sie sind aufgefordert bei einem Mann im Zuge der Körperpflege eine Intimwäsche vorzunehmen. Der Penis ist erigiert, was dem Patienten sichtlich unangenehm ist. Auch Sie sind spürbar peinlich berührt. Was tun? In manchen Fällen, so auch in diesem versuchen beide die Situation zu überspielen, der Penis wird im erigierten Zustand flüchtig gewaschen, dabei wird höflich und verlegen gelächelt. Der Vorgang wiederholt sich zwischen den beiden in Folge von drei Tagen. Dies führte dazu, dass die Pflegende beim Vorbeigehen des Zimmers, in dem der Patient liegt, jedes Mal eine Befangenheit und Herzklopfen verspürt. Was spricht dagegen die gegenseitige Unannehmlichkeit anzusprechen? Was spricht dagegen, wenn ein Ansprechen weder seitens der Pflegenden noch seitens des Patienten möglich ist, das Problem sachlich im Team einzubringen und zu bitten, jemand anderer möge die Pflege übernehmen? Mit etwas größerer Vehemenz bringt Peter Turrini (2002, 11) die Diskrepanz folgendermaßen zum Ausdruck: „Wie lange noch werde ich alles hinunterschlucken und so tun als sei nichts gewesen? Wie lange noch werde ich auf alle eingehen und mich selbst mit freundlicher Miene vergessen? Wie lange müssen sie mich noch schlagen bis dieses lächerliche Grinsen aus meinem Gesicht fällt?
47
Prinzipien der Gefühlsarbeit
Wie lange noch müssen sie mir ins Gesicht spucken bis ich mein wahres zeige? Wie lange kann ein Mensch sich selbst nicht lieben? Es ist so schwer die Wahrheit zu sagen wenn man gelernt hat mit der Freundlichkeit zu überleben.“
7.7
Dienstleistungsprinzip
Im Dienstleistungsprinzip sehen die Professionals die vorangegangenen Prinzipien als Dienstleistung am Menschen und als Arbeit mit dem Menschen an. Damit wird auch die Professionalität der Pflegenden unterstrichen. Das Dienstleistungsprinzip ist in allen Pflegesituationen allgegenwärtig. „Das gemeinsame dieser Dienstleistung (Gefühlsarbeit) ist aber, dass – durch die betriebliche Ausrichtung auf ein Gefühlsarbeitsvermögen der Angestellten – aus den persönlichen Kompetenzen des alltäglichen Umgangs mit Gefühlen fachliche Qualifikationen gemacht werden.“ (Kästner 2008, 24).
7.8
Prinzip der Geschichtslosigkeit
Das Prinzip der Geschichtslosigkeit besagt, das jede Erstbegegnung die Chance einer unvoreingenommenen Begegnung ermöglicht, die den Weg zur Gefühlsarbeit vorbereitet. Diese Erstbegegnung ist immer am Beginn eines Eintritts in eine Organisation gegeben. Beziehungen zum Personal sind je nach Länge des Aufenthalts relativ rasch hergestellt. Jede Person hat sich von der anderen ein Bild gemacht und es wird – wenn auch nur für kurze Zeit – ein gemeinsamer Lebensweg gegangen. Treten nun Irritationen auf, so wird sich die irritierte Person, sofern sich diese Irritationen benennen lässt, im besten Fall jener Person anvertrauen, mit der sie positive Emotionen und Beziehungen pflegt. Bleibt allerdings der Zustand der Irritation aufrecht und es können von Seiten des Teams 48
Prinzip der Geschichtslosigkeit
keine Anknüpfungspunkte zur Patientin / Bewohnerin gefunden werden, so gibt es in vielen Organisationen eine Ressource, Mitarbeiterinnen anderer Abteilungen, die den Part der geschichtslosen Gefühlsprofessionistin übernehmen können. Diese Erweiterung des Aufgabenbereichs kann eine Bereicherung des Arbeitsumfelds bedeuten, die Freude an der Arbeit und möglicherweise eine interdisziplinäre, vertiefte Kooperation hervorrufen. Verstärkt werden kann der positive Effekt der Geschichtslosigkeit durch einen privaten Kleidungsstil der Professionals: jede Art von Konformität im Äußeren der betreuenden Personen setzt – auch ohne Absicht – Distanzen. Zeichen des gelebten Normalitätsprinzips können über „normale“ Kleidung Ausdruck finden.
49
Gefühlsarbeit als Methodik
8
Gefühlsarbeit als Methodik
8.1
Allgemeines
In diesem Kapitel wird das vielfältige methodische Vorgehen von Gefühlsarbeit vorgestellt. Im Kapitel „Fallbeispiele“ (siehe Kapitel 11) sind vertieft, reale Ausführungen dargestellt. Gefühle und Emotionen erweisen sich für das soziale Miteinander als unabdinglich, jedoch häufig werden diese im Arbeitsumfeld als ambivalent und sogar als störend empfunden. Wenn in einer Organisation eine Gefühlskultur durch Vertrauen und positive Beziehungen geprägt ist, wird Motivation und Stabilität hergestellt. Sind hingegen negative Emotionen im Arbeitsumfeld bestimmend, so kann dies zu starkem demotivierten bis destruktiven Verhalten eines Einzelnen führen. Jene Gefühlskulturen werden als solche beschrieben, in denen Witze über ihre Mitmenschen gerissen werden, in denen Mobbing vorherrscht oder in denen Menschen einfach ignoriert oder (von anderen) isoliert werden (vgl. Mittelstaedt 1998). Aber auch wenn das Beschriebene nicht zutrifft, so werden vielerorts Rituale gelebt, die zum einen für notwendige Stabilität in den Organisationen sorgen, zum anderen aber durch zunehmende emotionale Abstumpfung und mangelnder Reflexion, Chancen auf die Qualitätsarbeit von Pflege aufmerksam zu machen, vergeben werden. Ein nicht mehr Wahrnehmen (-Können) ist ein Zeichen von Unprofessionalität. Die Folgen sind ein institutionalisierter Mangel von Individualität, Selbstbestimmung und Würde jedes Einzelnen. Das Beispiel von Frau Glück (Name geändert) in diesem Buch (siehe Kapitel 11.1) wirft die Frage auf, warum ein potentielles selbstschädigendes Verhalten einer Bewohnerin nicht in den Griff zu bekommen ist? Fakt ist, es gibt keine Zufälle: die potentielle Selbstschädigung scheint wichtige Aufgaben zu übernehmen. Die Bewohnerin erhält bspw. Aufmerksamkeit, die ihr sonst verwehrt werden würde. Wenn wir genauer hinsehen, gibt es viele Frau Glücks, die sich solcher „Hilfen“ bedienen und es gibt viele Organisationen, die diesen Phänomenen hilflos gegenüberstehen und mit Stigmatisierungen und Tabus reagieren. Ursachen des Negierens von Problemen dieser Art können sowohl in der Person selbst bspw. als vorhandene Scham liegen oder als auch in kulturellen Gegebenheiten gesehen werden, in dem generell ähnliche Herausforderungen institutionell-geschichtlich verdrängt bzw. gesellschaftlich unterdrückt und nicht offen angesprochen werden. Wir stellen die These 50
Allgemeines
auf, dass Gesellschaften die stark tabuisieren, auch die Arbeit und den Umgang mit Gefühlen vereiteln. Eine für uns weitere wichtige Begründung, warum sich Gefühlsarbeit der Tabuisierung der Professionisten im Gesundheitswesen stellen soll. Die Aufgaben von Gefühlsarbeit sind in einem Gefühlsprozess definiert, der sich aus 8 verschiedenen Modulen zusammensetzt. Die Anordnung der Module hängt von der jeweiligen Gefühlssituation ab. In einer komplexen Situation kommen alle Module zum Einsatz, in einer wenigen komplexen Situation nur wenige. Allerdings besteht die Verpflichtung zu begründen, warum die betreffenden Module im Rahmen des Gefühlsprozesses nicht zum Einsatz kommen. Die Bearbeitung einer Auffälligkeit (Problem) im Gefühlsprozess sollte wenn möglich von einer einzigen geschichtslosen Person des Vertrauens durchgeführt werden. Ein Wechsel kann den Prozess zum Stoppen bringen: Unsere Erfahrung zeigt, dass ein Übergeben von aufgebautem Vertrauen auf eine zweite Person unmöglich ist. Der Gefühlsprozess ist eine Anordnung individuell gereihter Module, die sich aus der Problemlage der Pflegebedürftigen und des jeweiligen Kontextes, in dem sich die Pflegebedürftige befindet, ergibt. Eine Zusammenarbeit mit anderen Berufsgruppen wird explizit begrüßt, sofern diese dem Gefühlsprozess förderlich gegenüber stehen. Wir empfehlen aus eigener Erfahrung, sofern es die Situation zulässt, mittels eines Aufnahmemediums zu arbeiten. Gefühlsarbeit macht auch Professionals betroffen, was die Wiedergabe eines Gesprächs oder einer Begegnung durch mögliche eigene gedankliche und emotionale Überlagerungen erschweren kann. Die Transparenz, welche durch die Verwendung des Mediums gewonnen werden kann, ist für den Gesamtprozess und einen kontinuierliche Lernprozess besonders wertvoll. Selbstverständlich ist das Einverständnis eines „informed consent“ bei den Klientinnen dafür einzuholen. Der Gefühlsprozess Modul „Erkennen der Ressourcen / Auffälligkeiten“ Modul „Formulierung einer Gefühlsdiagnose“ Modul „Bewertung der Gefühlsdiagnose durch die Patientin / Klientin / Bewohnerin / Angehörige“ Modul „Setzen einer Betreuungshandlung / Anwendung von Gefühlsarbeit“
51
Gefühlsarbeit als Methodik
Modul „Formulierung des / eines gemeinsamen Pflege- / Betreuungszieles und Festlegen des Outcomes“ Modul „Bewertung des Outcomes durch die Patientin / Klientin / Bewohnerin“ Modul „Bewertung des Outcomes durch den Professional“ Modul „Regelmäßiges Messen des Outcomes und gemeinsames Abgleichen der Zielsetzung“
8.2
Modul „Erkennen der Ressourcen und Auffälligkeiten“
Der Gefühlsprozess nimmt seinen Anfang immer mit einer identifizierten Irritation. Eine Irritation ist nur dann als solche gekennzeichnet, wenn scheinbar eine Abweichung vom Üblichen oder „Normalen“ sicht- oder spürbar wird. Und: es muss eine Person geben, die in der Organisation auf ungewöhnliche Vorkommnisse – die sich dem Bewusstsein, wie Fuchs (2004) behauptet, nicht sofort erklärt – aufmerksam macht. Gefühlsarbeit setzt dort an, wo wir mit unseren zu behandelnden und betreuenden Personen Irritationen wahrnehmen. Es irritiert uns, was nicht alltäglich ist! Zu den nichtalltäglichen Irritationen von Bewohnerinnen, Klientinnen und Patientinnen zählen wir: Wut, Zorn, Schweigen, Weinen, Angst und z. B. Trauer. Die von uns Betreuten zeigen Gefühl! Die Wahrnehmung dieser Gefühle ist ein potentieller Auftrag an uns Professionals. Diese Wahrnehmung und Interpretation der Irritation unterstreicht die Kompetenz des Professionals. Die Organisation muss jene Kultur aufweisen, welche ein Ansprechen von Irritationen wünschenswert macht. Eine Irritation kann von der Organisation oder von der Klientin ausgelöst werden. Viele Irritationen stehen im Dienste sozialer Beziehungen. Als Beispiel kann Aggression dann zum Ausdruck kommen, wenn eine soziale Beziehung „verteidigt“ wird. Dies kann unter anderem bedeuten, dass eine Beziehung durch Umzug oder durch Tod eines nahe stehenden Menschen gefährdet wird bzw. beendet werden muss oder dass eine Beziehung mit einem Menschen, z. B. in einem neuen Umfeld wie dem Pflegeheim mit einzelnen Betreuungspersonen nicht gelingt oder überhaupt fehlt. Irritationen zu erkennen, verlangen von der betreuenden und pflegenden Person hohe Sensibilität. Beispiel einer identifizierten Irritation:
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Modul ,,Erkennen der Ressourcen und Auffälligkeiten‘‘
„Das Mobilitätstraining bringt mich zur Verzweiflung,…“ Diese Aussage stammt von einem Bewohner am Beginn einer zu leistenden Gefühlsarbeit. Nach einem beobachteten Gehtraining bei Herrn Leitner (Name geändert) entsteht beim Pflegeberater das Gefühl, Herr Leitner erlebt das Training als sinnlos. Für die Bestätigung des Gefühles des Pflegeberaters ersucht er Herrn Leitner um ein Gespräch, in dem er ihm die Frage stellt, wie er sein Gehtraining im Moment empfindet. Seine Antwort ist: „Ich erlebe das Gehen jedes Mal als Niederlage. Ich weiß, dass sich meine Situation nicht mehr verbessern wird. Ich möchte lieber heute sterben als morgen. Ich weiß, dass ich das nicht beeinflussen kann. Ich kann mir meine Therapie und die Pflegekosten nicht mehr lange leisten. Ich stehe vor dem finanziellen Ruin. Ich weiß nicht, wie es mit meiner Frau weiter geht. …“ Jetzt entsteht eine Pause. Nach einiger Zeit unterbricht der Pflegeberater die Stille und stellt Herrn Leitner, er war von Beruf Lehrer, die Frage, wie er sich und seine Fähigkeiten, bezogen auf das Gehen, benoten würde. Seine Antwort ist: „Mit Nicht genügend!“ Nach einer weiteren Pause fragt der Pflegeberater Herrn Leitner, wie er als Pädagoge Schülerinnen, deren Leistung er mit Nicht genügend beurteilt hatte, behandelte. Seine Antwort: „Ich habe nur ganz selten die Note – Nicht genügend – gegeben. Mir war es wichtig den Menschen als Ganzes zu sehen und nicht nur seine Leistung.“ Jetzt fragt der Pflegeberater Herrn Leitner, ob er wissen möchte, welches Gefühl ihn im Moment beschäftigt. Und als Herr Leitner nickt, sagt der Pflegeberater: „Ich habe das Gefühl, Sie können im Gehen der heutigen Strecke keine von Ihnen erbrachte Leistung erkennen.“ Herr Leitner nickt wieder und nach einer kurzen Pause, sie ist durch die Regungslosigkeit von Herrn Leitner gekennzeichnet, sagt er: „Ich kann meine augenblickliche Situation nicht in Worte fassen. Sie erdrückt mich.“ Jetzt entsteht Stille und als Herr Leitner sie unterbricht, klingt seine Stimme gefasst. „Ich weiß, dass sich daran nichts verändern wird. –
53
Gefühlsarbeit als Methodik
Früher habe ich gerne klassische Musik gehört, bin gerne Schi gefahren und habe mich gerne bewegt.“ „Wo sind Sie Schi gefahren?“ fragt der Pflegeberater. „Auf dem Bödele“, antwortet Herr Leitner sehr spontan. „Wie sieht es denn auf dem Bödele aus?“ fragt der Pflegeberater. „Ich war noch nie dort. Welche Berge kann man sehen und welche Bäume? Wie ist die Beschaffenheit der Pisten?“ Und Herr Leitner beginnt zu erzählen. Er erzählt lange und Zeit ist in diesem Jetzt kein Thema. Nach Ende des Monologs schweigt Herr Leitner. Mit der Frage: „Haben Sie während des Erzählens in ihren Gedanken Bilder von der Landschaft, von den Pisten und vom Schifahren gesehen?“ unterbricht der Pflegeberater die neuerlich entstandene Stille. „Ja!“ ist die spontane Antwort von Herrn Leitner. Und in der Sprachmelodie ist die Einzigartigkeit seines jetzt Wieder-Erlebten klar zu erkennen. „Möchten sie mir sagen, welche Gefühle Sie in diesem Augenblick verspüren?“ fragt der Pflegeberater. Herr Leitner schweigt eine Weile. Dann sagt er: „Es sind wunderschöne Gefühle.“ Jetzt kehrt Stille ein und nach einigen Minuten hebt Herr Leitner seinen Kopf, blickt dem Pflegeberater in die Augen und sagt: „Ich habe Sie verstanden.“ Und als der Pflegeberater sich von Herrn Leitner verabschiedet und die Türe des Appartements hinter ihm schließt, hörte er in Gedanken Andre Heller. „Die wahren Abenteuer sind im Kopf und sind sie nicht im Kopf, dann sind sie nirgendwo“, hört er ihn singen und er verspürt ein enorm gutes Gefühl dabei. Mögliche Ursachen des Verhaltens, die diese Irritationen auslösen, können sowohl in der Vergangenheit als auch im Hier und Jetzt liegen: das Gefühl von Aussichtslosigkeit, das Gefühl von Einsamkeit, das Gefühl nicht mehr gebraucht zu werden, das Gefühl von mangelnder Identität, das Gefühl von fehlender Autonomie, das Gefühl von Sinnlosigkeit oder das Gefühl von niemandem geschätzt zu werden. Martin Buber (1967, in: Watzlawick 2007, 21) kam in einem Referat diesen Problemen sehr nah: „… der Wunsch jedes Menschen, von den anderen als das bestätigt zu werden, was er ist, oder sogar als das, was er werden kann, und die angeborene Fähigkeit der Menschen, seine Mitmenschen in dieser Weise zu bestätigen. Daß diese Fähigkeit so weitgehend brachliegt,
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Modul ,,Formulierung einer Gefühlsdiagnose‘‘
macht die wahre Schwäche und Fragwürdigkeit der menschlichen Rasse aus. Wirkliche Menschlichkeit besteht nur dort, wo sich diese Fähigkeit entfaltet.“ In der von den Autorinnen konzipierten Gefühlsarbeit kommen die Begriffe des Problems, Symptoms oder Defizits nicht vor, um nicht zu starke Assoziationen mit Krankheit auszulösen. Stattdessen wird der Ausdruck „Auffälligkeit“ gewählt. Wir empfehlen deshalb auch genau zu prüfen, welche Auffälligkeiten wichtige Ressourcen sind: • • • •
ein häufig nächtliches Läuten der Patientinnenglocke, ein zorniger oder auch trauriger Gefühlsausbruch, regelmäßige Beschwerden oder aber eine Ablehnung der Mithilfe bei der Pflege und Betreuung.
Diese Auffälligkeiten lassen Energie und Motivation erspüren, die darauf abzielen, Aufmerksamkeit zu erwecken und zu erhalten. Jeder dieser Auffälligkeiten ist ein Ruf, sich dem Menschen, der diese Auffälligkeiten zeigt, zu widmen.
8.3
Modul „Formulierung einer Gefühlsdiagnose“
Ressourcen und Auffälligkeiten sind für alle Betroffenen immer im Gefühlsprozess abzuleiten. Der Formulierung der Gefühlsdiagnose gehen eine Art Anamnese und möglicherweise ein umfassendes Assessment voraus. Instrumente wie Skalen zur Selbsteinschätzung von Einsamkeit, Langeweile oder Lebenslust können wichtige zusätzliche Informationen liefern. Allerdings ist sensibel abzuschätzen, ob überhaupt und wenn ja, welche Instrumente zum Einsatz kommen sollen. Von Bedeutung ist ebenso herauszufinden, wie das Gegenüber Beziehungen während ihres Lebens erfahren hat und ob das Gegenüber für eine „Ansprache“ auf emotionaler Ebene empfindsam ist. Eine Kombination mit biographischen Elementen kann helfen, eine bessere Einschätzung zu treffen. Allerdings kommt es aufgrund der sehr sensiblen Themen nicht selten vor, dass es eines längeren Zeitraums bedarf bis eine „griffige“ Diagnose abgeleitet werden kann. Die Annäherung an eine Gefühlsdiagnose führt dabei über Diagnosen des Körpers. Denn wie bereits von Strauss et al. (1980) ausgeführt und durch unsere Erfahrung bestätigt, kann nicht sofort „mit der Tür in Haus“ gefallen werden. Vertraute Kommunikation 55
Gefühlsarbeit als Methodik
ist die über das Körperbefinden, sie kann als Einstiegshilfe in die Gefühlsarbeit dienen, muss aber nicht. Beispiele für Gefühlsdiagnosen sind folgende: • • • • • • • • • • • •
Klientin weiß nicht mehr ein noch aus. Klientin hat Angst, vor die Tür zu gehen. Klientin ist zornig und lehnt Mitarbeit ab. Rückzug und daraus. Gefahr der sozialen Isolation. Unfähigkeit, in gewissen Situationen die eigene Widersprüchlichkeit zu erkennen. Angst vor kindlicher Behandlung. Angst, nicht ernst genommen zu werden. Zurückhaltung in der Meinungsäußerung. Langeweile. Unvermögen, Anschluss an die Gemeinde zu finden. Sich-nicht-Einfinden-Wollen / Können in eine neue Wohnumgebung.
Viele der angeführten Diagnosen sind so genannte erste abgeleitete Diagnosen, die so niedergeschrieben werden, wie von der Klientin ausgedrückt. Nach weiterer Betrachtung und im Zuge der Gefühlsarbeit mit der Klientin erfahren diese eine sprachliche Adaptierung. Auch wenn der Professional hinter den Auffälligkeiten verschiedene weitere oder andere Ursachen vermutet, soll in der Gefühlsarbeit zu frühes Interpretieren vermieden werden. So erfuhren wir aus vielen Beispielen, dass sich hinter den als Erstdiagnosen sichtbaren Auffälligkeiten weit tiefgründigere befinden: • • • • •
Klientin erfährt keine Wertschätzung mehr, dadurch Verlust der Identität. Klientin kann keinen Sinn mehr im Leben finden. Klientin hat sich aufgegeben. Klientin kann ihre Situation nicht annehmen udgl.
Es müssen zusätzlich individuelle Diagnosen formuliert werden, die so im Dokumentationssystem verankert sind, dass mit möglichst geringem Aufwand eine Evaluierung durchgeführt werden kann (immerhin ist Sichtbarkeit ein wichtiges Ziel von Gefühlsarbeit). Der Begriff Gefühlsarbeit wird ausschließlich zwischen den Professionals angewendet, da die Klientinnen möglicherweise mit der Deutung des Begriffs überfordert wären bzw. die Verwendung – zumindest zu diesem Entwicklungszeitpunkt –
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Modul ,,Bewerten der Gefühlsdiagnose durch die Klientin‘‘
ein Befremden hervorrufen könnte. Das sollte sich in Zukunft insofern ändern, als „Gefühlsarbeit“ sich im Leitbild oder im Wertemanagement des Unternehmens wieder findet. Dieses Modul hat seinen Zweck erfüllt, wenn die Diagnose durch die Klientin bestätigt oder verworfen wird. Die Diagnose ist dabei kein Dogma, sie kann sich im Laufe des Prozesses durch neue Informationen und Erkenntnisse neu ausrichten. Wir geben zu bedenken, dass sich viele Klassifikationssysteme nur bedingt eignen, die (Gefühls) Bedürfnisse der Klientinnen abzubilden. Die Klassifikationen können nicht nur sprachlich nicht passen, sie treffen auch den notwendigen Inhalt nicht. Als Beispiel sind in den Klassifikationssystemen NANDA und ICNP keine einheitlichen Begriffe bspw. der Identität dargestellt: so definiert NANDA Identitätsverlust (vgl. Stefan et al. 2010) und ICNP beschreibt, was „persönliche Identität“ ist (Hinz et al. 2003). Wir müssen somit im täglichen Klassifikationsgebrauch, sofern die o. g. Begriffe als Pflegediagnose herangezogen werden, aus Produkten unterschiedlicher Entwicklungen wählen oder die Begriffe selber definieren.
Neu Einzug gehaltene Klassifikationssysteme in die Organisationen wie beispielsweise POP – Praxisorientierte Pflegediagnostik (vgl. Stefan et al. 2009) beinhalten die Phänomene wie Identität, Würde, Sinn, Langeweile und Lebensmut überhaupt nicht! Existieren die Phänomene in der Pflege nicht? Existieren die Phänomene Identität, Langeweile, Würde und Lebensmut nicht in der Pflege? Das Nichtvorhandensein dieser bedeutungsvollen Phänomene der Gefühlsarbeit in Klassifikationssystemen birgt die Gefahr in sich, dass diese Phänomene als solche (immer) noch nicht wahrgenommen werden. Damit werden sie nicht Bestandteil des Leistungssystems.
8.4
Modul „Bewerten der Gefühlsdiagnose durch die Klientin“
Die potentielle Gefühlsdiagnose wird immer gemeinsam mit der Klientin besprochen. Dieser Schritt dient zum einen einer möglichen Bestätigung, am richtigen Weg zu sein und um sich (gefühlsmäßig) zu versichern, ob der Klientin eine weitere Bearbeitung mittels Gefühlsarbeit angenehm
57
Gefühlsarbeit als Methodik
ist. Die ersten Diagnoseableitungen sind meist in den Worten der Klientinnen formuliert, um die Wiedererkennung der sensiblen Auffälligkeit zu erhöhen und um von Anfang an Vertrautheit zu fördern. Die Sprache des Professionals ist dabei der Klientin anzupassen, Fachsprache ist in der Kommunikation mit der Klientin nicht geeignet. Dies bedeutet auch, dass im Unternehmen verwendete Diagnoseklassifikationssysteme wahrscheinlich die Bedürfnisse der Klientinnen nicht treffend abbilden können, sofern sie, wie oben genannt, überhaupt in den Klassifikationssystemen existent sind.
8.5
Modul „Setzen einer Betreuungshandlung / Gefühlsarbeit“
Das Sprichwort: „Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es wider“, findet sich auch in den zwischenmenschlichen Beziehungen: Vertrauensvolles Verhalten schafft Vertrauen, Misstrauen und Ablehnung verunsichern und fördern Aggression. Wie bereits erwähnt hilft bspw. Aggression, den eigenen Organismus zu schützen. Das Setzen einer Pflege- und Betreuungshandlung im Gefühlsprozess setzt das Wissen der Pflegenden voraus, welche Gefühle was zum Ausdruck bringen können. Als Gefühlspartnerin braucht sie ein Gespür dafür, wie sie am besten auf das Verhalten des Gegenübers reagieren könnte. Die Pflegekraft muss Ideen und Gespür entwickeln (können), die den Betroffenen befähigen, selbst Lösungen vorzuschlagen. Selbstverständlich ist manchmal eine vorsichtige Versuch- und Irrtum-Annäherung hilfreich. Das Setzen einer Betreuungshandlung in Form von Gefühlsarbeit kann sich in Identitätsarbeit, in Trostarbeit, in Ablenkungsarbeit, in Abschiedsarbeit, in Da-Seins-Arbeit oder in Fassungsarbeit uvm. ausdrücken. Im Folgenden werden einige Methoden der Gefühlsarbeit vorgestellt.
8.5.1 Da-Sein-Arbeit Die Da-Sein-Arbeit ist das Fundament, auf der Gefühlsarbeit aufgebaut ist. Die „Da-Sein-Pflege“ ist eine Methode, bei der der Professional sich bewusst Zeit für einen Menschen nimmt, weil es ihn gibt. Der Klientin werden verschiedene Angebote gemacht, d. h. häufig mit anderen Gefühlsmethoden kombiniert (siehe folgend). Ohne Kombination wird Da-Sein-Arbeit Menschen angeboten, die sich in Situationen der Sprachlosigkeit wie Verwirrtheit, Regression und Bewusstlosigkeit befinden. In 58
Modul ,,Setzen einer Betreuungshandlung / Gefühlsarbeit‘‘
allen Fällen werden die Reaktionen auf die gelegten Angebote bewertet und in den weiteren Prozess mit einbezogen. „Durch Da-Sein bei sich und bei anderen entwickelt oder erlangt der Mensch Wohlbefinden:“, so Paterson und Zderad (1997, 165). Um dieses Da-Sein in Erinnerung zu rufen und im Berufsumfeld zur Anwendung zu bringen, bedarf es verschiedener, bewusst gestellter Fragen wie: • • • •
Warum bin ich hier? Wie bin ich hier? Was sehe ich? Habe ich als Pflegende weitreichendere Aufgaben zu erfüllen als eine angemessene pflegerische Versorgung und Betreuung zu leisten?
Dabei spielt die bewusste und reflexive Auseinandersetzung mit diesen Fragen eine wichtige Rolle, denn ich kann mich für oder gegen ein Da-Sein entscheiden. Watson (1996) spricht von zwischenmenschlicher Zuwendung. Menschen seien in der Lage, Personen zu identifizieren, die sich anderen zuwenden (können) und solche, die das nicht tun (können). Eine nicht zugewandte Person kann die Gefühle ihres Gegenübers nicht wahrnehmen. Watson (1996) erwähnt frühere Forschungsarbeiten mit Kolleginnen, die zeigten, dass Zuwendung zu persönlichen Reaktionen des Gegenübers führt. „Alle Ergebnisse weisen auf die Unabdingbarkeit eines individuellen Ansatzes und bewußten Handeln hin, in dem Einsicht, Wille und Motivation zum Ausdruck kommen.“ (Watson 1996, 53) Benner und Wrubel (1993, 34) bezeichnen dieses Form des Da-Seins als „Zugegensein“. Sie sehen die Fähigkeit zum Zugegensein als Voraussetzung wirksam bei den uns Anvertrauen Hilfe leisten zu können. Wirksamkeit von Pflegehandlung ist an „Nähe“ des Wesens Pflegeperson gebunden. Watson (1996, 91f.) fordert „den vollen Einsatz des eigenen Selbst“ und lehnt einen künstlichen Professionalismus, der durch Distanz und ebenso durch Wissenschaftsgläubigkeit möglicherweise hervorgerufen wird, ab.
8.5.2 Arbeit mit Bildern Unsere Gedanken werden von Bildern begleitet. Die Form der Gesprächsführung wie bereits die bei Herrn Leitner beschrieben (siehe Kapitel 8.2) ist die Chance, die beschriebenen Bilder gemeinsam zu vertiefen und weiter auszuschmücken. Zusätzlich kann von der Pflegenden das
59
Gefühlsarbeit als Methodik
Gespräch zur Chancenerhöhung, Angenehmes zu empfinden, gelenkt werden. Dadurch werden Bilder wieder neu oder anders gesehen und interpretiert. Die Klientin wird vom Professional eingeladen, ihre wahrgenommenen Gefühle zu verbalisieren bzw. auszudrücken. Ziel ist in erster Linie auf angenehme Bilder zu fokussieren: der Irritierte kann lernen, Bilder, die bei ihm angenehme, positive Gefühle hervorrufen, immer wieder neu abzurufen und zu spüren. Die Aussage von Herrn Leitner: „Ich habe Sie verstanden“; ist die Bestätigung, dass es ihm im Verlauf des Gespräches möglich wird, Freude zu empfinden.
8.5.3 Arbeit mit gegenseitigen Geschichten Die Arbeit mit gegenseitigen Geschichten ist eng an die Arbeit mit Bildern verknüpft. In einer Erstbegegnung nehmen wir ein Gegenüber als sympathisch oder unsympathisch wahr. Diese Wahrnehmung hat mit unserer persönlichen Geschichte zu tun. In diesem Augenblick kann festgeschrieben werden, in welcher Form Gefühlsarbeit beim anderen ankommt. Gefühlsarbeit ist ein Geben und Nehmen. In der Methode der gegenseitigen Geschichten werden reale Erzählungen (Authentizität) dem Gegenüber, mit dem Ziel eventuelle Lösungen zu provozieren, angeboten. Ohne die Bereitschaft der Pflegenden, selbst Persönliches von sich herzugeben, würde eine zu große Asymmetrie in der Begegnung entstehen, die einen gegenseitigen Austausch vor allem essentieller Informationen für die Hilfestellung in der Gefühlsarbeit hintanhalten. Gefühlsarbeit ist ein gegenseitiges Geben und Nehmen! Alle bekannten Gesprächstechniken können die genannten Methoden unterstützen. Selbstverständlich ist auf einen ungezwungen, natürlichen Kontext zu achten. Die Gefühlsarbeit als geleistete Maßnahmen soll Lösungen, am besten von der Patientin / Klientin / Bewohnerin selbst, evozieren. In weiterer Folge unterstützt der Professional das Durchführen jener Maßnahmen, die zu einer Gefühlsverbesserung führen. Dies kann ebenso ein DDA (Differentialdiagnosticher Ausgang – vgl. auch Böhm 1999) oder das Übernehmen von Vermittlerfunktionen zwischen der Betroffenen und einem Angehörigen, ein Coaching udgl. sein. Es ist besonders auf die Einhaltung der Prinzipien von Gefühlsarbeit zu achten.
60
Modul ,,Bewertung des Outcomes durch den Professional‘‘
8.6
Modul „Formulierung des / eines gemeinsamen Pflege- / Betreuungszieles und Festlegen des Outcomes“
Dieses Modul ist eines der ersten Schritte, Ergebnisorientierung abzuleiten und in eine messbare Form zu bringen. Sowohl die Pflegende als auch die Betroffene selbst sind aufgefordert, sich Überlegungen bezüglich des erwünschten Zieles zu machen. Die Überlegungen werden gemeinsam in einem oder mehreren Gesprächen abgeglichen. Die Ziele können mit Hilfe der RUMBA-Regel formuliert werden: • Relevant: ist das Ziel jenes, das wirklich erreicht werden will und ist es jenes, das hilft, die Auffälligkeit zu minimieren bzw. zu beseitigen? • Understandable: verstehen alle am Prozess Beteiligten, worum es geht? • Measurable: gibt es messbare Kriterien, um das Ziel zu messen? • Behavioral oriented: ist das Ziel durch Verhaltensänderung erreichbar? • Achievable: sind erreichbare und realistische Ziele definiert?
Aus Erfahrung lässt sich sagen, dass sich hinter den auf den ersten Blick abgeleiteten Diagnosen häufig wesentlich existenziellere Diagnosen verbergen können. Diese müssen identifiziert werden und in Form von adäquaten Zielen in den Gefühlsprozess gemeinsam mit der Klientin festgeschrieben werden.
8.7
Modul „Bewertung des Outcomes durch die Patientin / Klientin / Bewohnerin“
Der Erfolg der Gefühlsarbeit kann nur bedingt durch die Pflegekräfte bewertet werden. Die Klientin selbst nimmt für sich eine Art Evaluierung vor, ob das, was gemeinsam als Ziel formuliert wurde, auch erreicht werden konnte oder nicht. Reflexionsvermögen wird somit auch von der Klientin abverlangt. Bei Klientinnen, die diese Eigenschaft nur bedingt aufbringen, müssen alle verbalen und nonverbalen Signale aufgenommen, gedeutet und vorsichtig einer Evaluierung zugeführt werden. Um dem Restrisiko falsch zu liegen entgegenzuwirken kommt das nächste Modul zum Einsatz.
61
Gefühlsarbeit als Methodik
8.8
Modul „Bewertung des Outcomes durch den Professional“
Die Einschätzung der Patientin / Klientin / Bewohnerin ist Ausgangslage für die Bewertung der Pflegenden, die alle weiteren Informationen über den Zeitverlauf der Gefühlsarbeit über ihn heranzieht und versucht, einen Gesamtüberblick zu gewinnen. An dieser Stelle sei nochmals erwähnt, dass im Sinne einer Evidenzbestimmung die Organisation die Ergebnisdaten systematisch zu sammeln, auszuwerten und zu deuten hat. Ansonsten bleibt Gefühlsarbeit nach wie vor unsichtbar und kann nicht als mögliche „competence of excellence“ ausgewiesen werden.
8.9
Modul „Regelmäßiges Messen des Outcomes und Abgleichen der Zielsetzung“
So wie generell im Pflegeprozess eine regelmäßige Evaluierung notwendig und gesetzlich festgeschrieben ist, müssen die Ergebnisse der Gefühlsarbeit im Zuge des Gesamtpflegeprozesses einer kontinuierlichen Messung zugeführt werden. Ein Abgleichen der Zielsetzung ist insofern wahrscheinlich, als die Ziele sich erst im Laufe der Zeit als klare Gefühlsziele formulieren lassen. Damit die vorhandenen Daten nicht das Schicksal von Datenfriedhöfen erleiden, empfehlen wir in regelmäßigen, systematisch institutionalisierten Zeitabständen, die Ergebnisse darzustellen und gemeinsam mit den Teams einem Interpretationsprozess zuzuführen und mögliches Folgehandeln abzuleiten.
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Entwicklung des Praxiskonzepts ,,Gefühlsarbeit‘‘
9
Entwicklung des Praxiskonzepts „Gefühlsarbeit“
Die Entwicklung des Konzepts basiert auf einer induktiven, iterativen Vorgehensweise, die dem folgenden Diagramm (Abb. 5) zu entnehmen ist. In diesem Kapitel wird in den wichtigsten Punkten auf die Methodik der Entwicklung des Gefühlskonzepts eingegangen. Die folgende Abbildung 5 zeigt die Schritte der Entwicklung: Thema wir in der Praxis Fragen auf! Frage: Ist das Thema so bedeutungsvoll um es zu bearbeiten? Ziel der wissenschalichen Bearbeitung des Themas festlegen Klärung der Herangehensweise der Themenbearbeitung Doing
Erkenntnisse und Ergebnisse: Prinzipien des Gefühlsprozesses Entwicklung des Gefühlsprozess
Reflexion des Doings Abgrenzung zu anderen Konzepten Frage: Gibt es weitere erklärende Modelle des Konzepts innerhalb der internaonalen Literatur?
Abb. 5: Schritte im Entwicklungsprozess des Konzepts der Gefühlsarbeit
Die Bearbeitung der Themen „Gefühl“ und „Gefühlsarbeit“ war unmittelbar aus der Praxis initiiert. Die Autorinnen erkannten in ihrer Rolle als Pflegende, dass der Umgang mit den Bewohnerinnen, Klientinnen oder Patientinnen im Pflegefeld häufig durch oberflächliche Kontakte geprägt ist. Bedürfnisse vor allem sozialer, kognitiver und emotionaler Art werden in der täglichen Routine zu wenig wahrgenommen oder ignoriert – und dies, obwohl von den Klientinnen deutliche Zeichen gesetzt wurden, die nach einer gemeinsamen bewussten Bearbeitung riefen. Am Beginn der Erarbeitung des Konzepts standen viele Fragen: • Warum werden Zeichen emotionaler Bedürftigkeit ignoriert? • Was bewirkt dieses Ignorieren und Nichtaufarbeiten sowohl bei Klientinnen als auch bei Pflegenden? • Welche Auswirkungen hat dies für die Organisationen? 63
Entwicklung des Praxiskonzepts ,,Gefühlsarbeit‘‘
• Wie kann dem entgegengewirkt werden? • Was bewirkt eine vermehrte Arbeit an den Gefühlen? Diese Phänomene und die in ihrem Gefolge aufgeworfenen Fragen wurden in vielen Gesprächen zwischen den Autorinnen intensiv diskutiert. Es war klar, dass dieses Thema ein in der Pflegelandschaft vernachlässigtes ist, dessen Bedeutung aber außerordentlich groß ist. Erste Hypothesen wurden in den Raum gestellt, wie beispielsweise: „Die Beachtung des Menschen als fühlendes Wesen ist existenziell.“ – „Gefühlsarbeit wirkt präventiv bei Einsamkeit, Langeweile und vielen weiteren Phänomenen.“ u.v.m. Das erstformulierte Ziel der wissenschaftlichen Bearbeitung des Themas war ganz allgemein und lautete: Ein Konzept der „Gefühlsarbeit“ soll entwickelt werden, das die Würde des Menschen stärkt, das Empowerment von Klientinnen und Pflegenden fördert und die Arbeit am Menschen (wieder) zu einer sinnstiftenden werden lässt. Die Herangehensweise und die Entwicklung des Konzepts „Gefühlsarbeit“ sollten nicht in Form einer klassischen Hypothesentestung ablaufen, da dieses Thema dafür nicht geeignet schien. Vielmehr sollte es qualitativ und induktiv mithilfe der Methode der Aktionsforschung entwickelt werden. Die Aktionsforschung unterliegt folgenden Schritten (vgl. Lewin 1997): Planung, soziale Intervention im Feld und Reflexion über die Resultate der Intervention. Aktionsforschung hat das Ziel, direktes soziales Handeln zu ermöglichen und setzt dadurch an konkreten Problemen (in der Gefühlsarbeit Auffälligkeiten) aus der Praxis an. Die Beziehung zwischen Forscherinnen und Betroffenen zeichnet sich durch symmetrische Kommunikationsstrukturen aus, um einen direkten Nutzen bei der Betroffenen rascher und effektiver zu erzielen. In der Aktionsforschung steht die Forscherin selbst im Forschungsfeld, wobei sie dieses aktiv mitbeeinflusst. Diese Einwirkung ist ein wichtiger Part in der Reflexion des Entwicklungs- und Forschungsgeschehens. „Reflexion vermag jedem Schicksal die Spitze zu nehmen.“, so Bubner (1998, 264). Die Autorinnen mussten sich zu Beginn der Erarbeitung des Konzepts zwei Fragen stellen: Welche Klientinnen sollten in einem ersten Schritt in das Konzept mit einbezogen werden? Und welche Organisationen sind interessiert, motiviert und offen genug, gefühlsmäßiges Gestalten zuzulassen? Als diese Auswahl getroffen war, musste in einem nächsten Schritt die Genehmigung zur Arbeit in den Organisationen eingeholt werden.
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Entwicklung des Praxiskonzepts ,,Gefühlsarbeit‘‘
Die Auswahl der Klientinnen, mit denen das Konzept einen Anfang finden konnte, erfolgte über eine wahrgenommene Stigmatisierung der Klientinnen in der jeweiligen Abteilung der jeweiligen Organisation. Die Klientinnen fielen den Autorinnen dadurch ins Auge, dass die Teammitglieder viel über sie sprachen, (meist) verursacht durch verschiedene immer wiederkehrende Auffälligkeiten der Klientinnen in der Organisation. Die häufig vorgenommenen Stigmatisierungen von Klientinnen durch das Team veranlassten die Autorinnen, sich im Rahmen des Gefühlsprozesses mit ihnen zu beschäftigen. Alle Klientinnen waren kognitiv in der Lage, verbal zu kommunizieren und zu reflektieren. Die Einwilligung wurde insofern bei jeder Klientin eingeholt, als die Autorinnen den Patientinnen erklärten, dass sie mit ihnen über ihre Situation in der jeweiligen Organisation sprechen wollten. Eine Ausnahme ist Frau Glück, hier wurde die Einwilligung von ihrem Sachwalter eingeholt. Erfolgte eine Zustimmung, wurde ein Termin mit der Klientin vereinbart. Die Begegnung jeder Betreuungseinheit wurde mit einer intensiven Reflexion der Begegnung innerhalb des Autorinnenteams abgeschlossen. Dabei stellten sich die Autorinnen folgende Fragen: • Wie konnte das Gefühl in dieser gegenseitigen Begegnung beschrieben werden? • War die Begegnung von Vertrauen und Offenheit geprägt? • Waren die Autorinnen offen genug, um sich dem Gegenüber zu nähern? • Gab es Störungen in der gegenseitigen Begegnung? • Was bewegte die Klientin? • Was trugen die Betreuenden und die Angehörigen dazu bei, wie sich die Klientin fühlte und was sie bewegte? • Wie kann das, was die Klientin bewegte, bearbeitet werden? Nach jedem Reflexionsprozess wurden die nächsten Schritte für ein weiteres Doing abgeleitet. Diese Prozessschritte wiederholten sich. Die Begegnung wurde, wann immer möglich, mit der Kamera festgehalten und der Dialog transkribiert, sodass auch die „Wörtlichkeit“ exakt festgehalten werden konnte. Standen anfangs beide Autorinnen im Praxisumfeld, zog sich nach der Festlegung eines ersten Rohkonzepts eine Autorin aus dem Praxisfeld zurück. Sie war die nächsten Monate für die externe und vertiefte Reflexion verantwortlich; das bedeutete, einander nach jeder Begegnung mit den Klientinnen zu treffen, um die Situation zu reflektieren, wobei die Person, die nicht im Praxisumfeld stand, für vertiefte und kritische Fragen zum Prozess verantwortlich zeichnete. In mehreren Ent-
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Entwicklung des Praxiskonzepts ,,Gefühlsarbeit‘‘
wicklungsabschnitten wurde das Konzept sowohl Pflegenden als auch nicht Pflegenden zur Diskussion gestellt. Deren wichtige Beiträge fanden Eingang in die Konzeption. Von Bedeutung scheint uns darauf hinzuweisen, dass Gefühlsarbeit durch eine geschichtslose Person meist sehr eindrückliche Verbesserungen des Zustands der Bewohnerinnen brachte. Dieser Umstand führte bei den Teammitgliedern vor Ort fast ausnahmslos zur großen Irritation. Das Aufzeigen, dass mit den Bewohnerinnen mit Hilfe von Gefühlsarbeit ihre Ressourcen gefördert werden konnten und es auch nach Jahren eingespielter Pflege eine maßgebliche positive Veränderung eintreten kann, ließ Skepsis und Widerstand den Forscherinnen gegenüber auftreten. Um dem Eindruck, die Pflegenden hätten die letzten Jahre nicht adäquate Pflege geleistet, entgegen zu wirken, waren positive Haltung und konstruktive Zusammenarbeit mit dem Management von Seiten der Autorinnen gefordert. Ein Prozess, der ein hohes Maß an Sensibilität bei der Aufklärungsarbeit durch die Führungskräften und den Forscherinnen bedurfte. Das Produkt dieser Herangehensweise sind definierte Prinzipien der Gefühlsarbeit, Thesen zur Gefühlsarbeit und ein sich entwickelnder Gefühlsprozess. Die Definition dessen, was Gefühlsarbeit beinhaltet, entwickelte sich im Laufe der Theoriearbeit. Dieser Entwicklungsprozess zog sich über mehrere Jahre. Erst nachdem die Konzeption relativ abgeschlossen war, fragten die Autorinnen, in welcher Form sich das Konzept national und international von anderen Konzepten unterscheidet, wo es Ähnlichkeiten gibt und wo die Konzeption der Gefühlsarbeit Ergänzungen liefert. Gefühlsarbeit scheint nach genauer Recherche eines der ersten Konzepte zu sein, welches die Erkenntnisse über die Wirkung von Gefühl und Emotion in ein Praxiskonzept umsetzt. Gefühlsarbeit hat ebenso mögliche bedeutende Kriterien und Rahmenbedingungen für die Durchführung und das Gelingen von Gefühlsarbeit abgeleitet. Hilfreiche wissenschaftliche Erklärungen für die in der Gefühlsarbeit entwickelten Elemente konnten in der internationalen Literatur gefunden werden. Vor allem die Erkenntnisse der Neurobiologie sind gut geeignet, das Konzept weiter zu untermauern.
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Fähigkeit zur (professionellen) Wahrnehmung
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Rahmenbedingungen von Gefühlsarbeit
Die Neurobiologie bietet uns Erklärungen für die Phänomene des Rückzugs, der Einsamkeit, der Regression, der Sinnlosigkeit und vieles mehr. Dieses Wissen macht uns in den Dienstleistungsberufen der Pflege und Betreuung zu Täterinnen oder zu Wohltäterinnen. Ersteres, wenn wir wegschauen und weghören und „wegfühlen“ und zweiteres wenn wir uns als Individuen und als Mitglieder der Gesellschaft füreinander engagieren und uns Wertschätzung entgegenbringen. Im Folgenden werden bedeutende Rahmenbedingungen einer Diskussion unterzogen.
10.1 Fähigkeit zur (professionellen) Wahrnehmung Es stellt sich die Frage, ob jede Person Gefühlsarbeit leisten kann. Ist Gefühlsarbeit lehr- und lernbar? Die Vorstellung, dass Gefühlsarbeit im Sinne menschlicher Zuwendung und fürsorglichen Verhaltens jedem eigen ist impliziert, dass Menschen aus sich heraus wissen, zu welchem Zeitpunkt und in welcher Weise gefühlsmäßige Hinwendung gefragt ist. Woodward (1997) unterstellt, dass Caring eine Fähigkeit ist, die in den Beruf mitgebracht wird. Dieser Ansatz ist umstritten und findet Widersacherinnen, die behaupten, dass Caring wie andere Fähigkeiten auch erlernt werden müssen (vgl. Savage 1995). Ob Gefühlsarbeit greifen kann, hängt in nicht unbeträchtlichem Ausmaß vom den Prägungen vor allem in der Kindheit eines jeden Einzelnen ab. Bei jedem von uns sind die Anlagen für unsere Motivationssysteme gelegt. Aber im Kindes- und Jugendalter sind wir im Gegensatz zum Erwachsenenalter darauf angewiesen, dass uns positive Beziehungen geschenkt werden, die sich – wie bereits erwähnt – im Gehirn emotional verankern. Fehlen die Erfahrungen positiver Beziehungsqualität hat dies fatale Folgen für die spätere Beziehungsfähigkeit der betroffenen Menschen (vgl. Bauer 2007). Seckl und Meaney (2004) und Weaver et al. (2004) führen spätere Handlungsmöglichkeiten auf die programmierten Erfahrungen jeder Person im Kindesalter zurück, diese beeinflussen, ob bestimmte Gene im späteren Leben in bestimmten Lebenssituationen abgerufen werden oder nicht. Es gibt für zukünftige Beziehungen so etwas wie einen biologischen Fingerabdruck. Wir erkennen dieses Manko der man67
Rahmenbedingungen von Gefühlsarbeit
gelnden Beziehungsfähigkeit bei Menschen nicht sofort, seien dies Professionals oder Menschen, die betreut und gepflegt werden. Deshalb sei nochmals Bezug auf das Prinzip der Freiwilligkeit genommen: nicht jeder Mensch will und kann Gefühlsarbeit leisten, nicht jeder Mensch kann angebotene Gefühlsarbeit erkennen und annehmen. Es bedarf Sensibilität um „… ein Pflegephänomen durch unmittelbares Erleben, durch Beobachtung des Verhaltens anderer oder auch durch Nachdenken über eigene Erfahrungen oder die Erfahrung anderer Menschen intuitiv zu erfassen.“ (Paterson/Zderad 1997, 167). Bei den zu betreuenden und zu pflegenden Menschen kann möglicherweise eine gründliche Biographiearbeit besseres Verständnis und eine versiertere Entscheidungsgrundlage für oder gegen Gefühlsarbeit bieten. Professionals, die sich sichtlich mit Beziehungen und dem Ausdrücken von Empathie und Gefühl schwer tun, sollten von dieser Methode Abstand nehmen. Morris und Feldmann (1996) und Staehle (1999) erachten für die „Gefühlsarbeit“ folgende Faktoren für besonders wichtig: • hohe inter- und intrasubjektive Aufmerksamkeit um emotionale Empfindung zielgerichtet zu steuern. • große Emotionsvielfalt und Verschiedenartigkeit, die im Zuge des Arbeitsprozesses zum Einsatz kommen können. • häufige Unstimmigkeiten zwischen erwarteter und vorliegender Gefühlssituation. • hohe Häufigkeit von zielgerichteten Gefühlsausdrücken.
10.2 Wille zur (professionellen) Wahrnehmung Eine der wichtigsten Rahmenbedingungen ist der Wille zur professionellen Wahrnehmung v.a. der Wille zum Mitfühlen (kein Mitleiden). Eine unserer Thesen ist, jeder hat die Fähigkeit, sich beim anderen fühlbar zu machen, deshalb vertreten wir die Meinung, dass es jedem Menschen inne ist, mitzufühlen. Mitfühlen „… ist die Fähigkeit, das subjektive Erleben eines anderen Menschen wahrzunehmen ohne jedoch dessen Gefühle zu teilen.“ (Konrad/Hendl 1997, 155). Pflegende können sich auf Gefühlsarbeit vorbereiten, es bedarf der Bereitschaft, durch Selbstexploration und Selbsterfahrung Eigenschaften wie Mut, Mitgefühl, Wahrnehmungskompetenz und ethische und moralische Kompetenz zu entwickeln. Persönliche Reife und emotionale Tiefe können ein weiteres Ergebnis mit der eigenen Gefühls- und Emotionsarbeit sein. Reife hat nur bedingt mit 68
Integration der Gefühlsarbeit in die Organisation
Alter und Erfahrung zu tun, der Wille zum Lernen und Erfahren scheint den Autorinnen von besonderer Bedeutung. Eine weitere wichtige Voraussetzung für die Gefühlsarbeit ist der Wille zur Reflexion. Wie Dahlgaard und Stratmeyer (2005) bemerken hängt eine optimale Qualität von Pflege und Behandlung wesentlich von einer patientinnenorientierten Gestaltung einer Gesundheitsversorgung ab und diese erfordert einen selbstreflexiven Umgang mit der eigenen Rolle in den kooperationsbezogenen beruflichen Erfordernissen. Spezielle Muster der Kommunikation sowie ritualisierte Handlungsabläufe sind Gegenstand der Reflexion.
10.3 Integration der Gefühlsarbeit in Ausund Weiterbildung Damit das Konzept der Gefühlsarbeit bei den Professionals internalisiert werden kann, muss es zum einen zum selbstverständlichen Bestandteil einer modernen Pflegeausbildung werden und zum anderen einen fixen Bezugspunkt in der Praxis ausweisen. Didaktisch ist mit Hilfe des (Sich-) Spürens und Fühlens und der Verdeutlichung, was Beziehungen sind und wie diese hergestellt werden können, zu arbeiten. Gefühle und Emotionen sind als erstes bei jeder Lernenden über ihre eigenen Gefühle und Emotionen anzusprechen. Ein vertrauensvolles Umfeld und möglicherweise eine Art „Ehrenkodex“, im Rahmen der Aus- und Weiterbildung formulierte Gefühle nicht nach außen, an Dritte, zu tragen, kann eine sine qua non sein. Die Arbeit an und mit Gefühlen ist praxisorientiert, so wie Gefühlsarbeit sich als Praxiskonzept verschrieben hat. Die (re)produzierten Gefühle sind im Zuge des Lernens und des Umgangs mit Gefühlsarbeit mit der Kognition zu verknüpfen. Es muss verinnerlicht werden, welche Wirkung Gefühlsarbeit haben kann und was passiert, wenn die Dimension der Emotionen und der Gefühle vernachlässigt wird. Die Voraussetzungen für gelungene Gefühlsarbeit müssen in der Lehre und in der Anwendung von Gefühlsarbeit allgegenwärtig sein. Deshalb ist es sinnvoll, im Rahmen der Lehre vor allem in der Grundausbildung, Gefühlsarbeit aufbauend über mehrere Semester anzubieten. Aus- und Weiterbildung erfolgt aber nicht ausschließlich im Hörsaal, sondern direkt in der Beziehung zu den Betreuenden und zu Pflegenden. Die Pflegelehrerinnen als selbstverständliche institutionellen Coaches sind ebenso wie die Mitglieder der Pflegeteams Vorbilder und agieren mit hohem Reflexionsvermögen, hoher Sensibilität allen Beteiligten gegenüber und handeln authentisch, d. h. sie bewahren die Prinzipien von Gefühlsarbeit.
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Rahmenbedingungen von Gefühlsarbeit
10.4 Integration der Gefühlsarbeit in die Organisation Jede Theorie muss in der Praxis geübt werden, was organisatorische Rahmenbedingungen voraussetzt: Damit in der Zukunft die Nachhaltigkeit gesichert werden kann, erachten die Autorinnen es als eine sine qua non das Konzept in das Leistungssystem der Organisation zu integrieren. Gefühlsarbeit erfordert ein Pflegesystem, in dem ein kontinuierlicher Bezug zu Klientinnen möglich ist. Die Arbeit mit Menschen und ihren Gefühlen muss als „klassische“ Arbeit ausgewiesen werden. Gefühlsarbeit als erbrachte Leistung bedingt eine offene Wertediskussion zum Thema Gefühlsarbeit – Qualitätssicherung des Unternehmens! Nicht zuletzt müssen neue und / oder junge Kolleginnen im Team Vorbilder finden, die Gefühlsarbeit leben und diese Arbeit in Sprache auszudrücken vermögen. Folge ist die Sichtbarkeit, was Gefühlsarbeit ist und wie es als Konzept ins Unternehmen integriert werden kann. Hat sich ein Unternehmen für die Anwendung von Gefühlsarbeit bewusst ausgesprochen, müssen Instrumente zu deren Leistungsdarstellung parallel implementiert werden. So kann der Wirkung von Gefühlsarbeit Rechnung getragen werden und ihre Ergebnisse mit anderen Forschungsdaten in Bezug gebracht werden. Zu empfehlen ist, vor der Einführung ein Implementierungskonzept zu erstellen, welches die Frage beantwortet, wie das Konzept der Gefühlsarbeit unter anderem in das Leitbild als auch in die Leit- und Richtlinien zu integrieren ist. Schriftlichkeit, welcher Art auch immer, macht den Arbeitsprozess sichtbar und weist Gefühlsarbeit als Leistung aus.
10.5 Offenheit in der Kommunikation Offenheit gegenüber dem Phänomen der Pflege heißt Mut sich „zu zeigen“, • sich anderen in seinem Sein zu öffnen, • empfänglich für die Bedürfnisse anderer zu sein, • Bereitschaft, sich überraschen zu lassen, • Bereitschaft, das Wahrgenommene nicht sofort zu schubladisieren, • Freude, Unbekanntes kennen lernen zu dürfen und • sich im Zuge des Beziehungsprozess auch mögliche persönliche Befangenheiten einzugestehen.
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Offenheit in der Kommunikation
Ein Klima des Vertrauens und der Empathie untereinander, in dem es möglich wird, eigene spürbare Unverträglichkeiten anzusprechen, fördert Gefühlsarbeit. Eine Gegebenheit muss verbindlich eingelöst werden. Jeder diagnostische Prozess ist mit der Klientin in einer für sie verständlichen Sprache zu besprechen. Jede Auffälligkeit und die sich daraus abgeleiteten Diagnosen, Ziele und Ergebnisse sind mit der Klientin festzuschreiben. Welche Wirkung dieses konsequente Miteinbeziehen haben kann, sei kurz mit zwei Forschungsbeispielen untermauert: Die Herausforderung im Betreuungs- und Behandlungsprozess liegt in der Identifikation des Verständnisses der Person von ihrem „Kranksein“ und von ihrem „Gesundsein“, denn „Paßt die Behandlung nicht zum Verständnis der Person von ihrem Kranksein, wird der Heilungsprozeß behindert und das Leid verstärkt.“ (Benner/Wrubel 1997, 30). Auf dieser (gemeinsamen) Ebene von Betreuten und Betreuenden kann und soll Unterstützung für die Erreichung eines realistischen, von der zu gepflegten / betreuten Person akzeptierten Ziels, ansetzen. Damit kann gewährleistet werden, dass die zu Betreuende keine Behandlung erfährt, die sie zum einen nicht braucht und zum anderen nicht wünscht. Ohne, dass Patientinnen und Klientinnen verstehen, was mit ihnen zu welchem Zweck im Gesundheitsprozess passieren kann und soll, können sie weder einer Behandlung zustimmen noch diese ablehnen. Die Kommunikation ist dabei der Schlüssel zur Patientin und Klientin. Hier zeigt sich: Kommunikation ist nicht gleich Kommunikation, darauf zielen speziell die Ausführungen von Gefühlsarbeit ab. Im Gegensatz zu den sehr plakativen Schwierigkeiten, wird wenig über die wesentlich bedeutenderen Kommunikationshindernisse gesprochen: ein Nicht-Verstehen aufgrund unterschiedlichen Professionsverständnisses zwischen Klientinnen und Professionals. Miteinander zu kommunizieren ist mehr als das Hören von Worten: es ist ein Verstehen, was sich hinter den Worten verbirgt. Im Rahmen einer Studie im Rudolfinerhaus (vgl. Kühne-Ponesch et al. 2002) wurde unter anderem folgenden Fragen nachgegangen: • Wie erfassen und interpretieren die Pflegenden das, was ihnen die Patientinnen ihnen sagen und wie wird dies schriftlich ausgedrückt? • Welche Realitäten werden durch die Benützung einer „Fachsprache“ abgebildet? Was wird ein- und was wird ausgegrenzt? Pflegende und Gepflegte wurden nach einem Betreuungstag getrennt voneinander zur Situation der Patientin interviewt. Die Ergebnisse gaben tiefe Einblicke in die Kunst der Kommunikation bzw. Nichtkommu-
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Rahmenbedingungen von Gefühlsarbeit
nikation. Die Perspektiven von Patientinnen und Pflegenden konnten unterschiedlicher nicht sein. Worte, die klar von den Patientinnen formuliert wurden, konnten von den Pflegenden großteils nicht richtig interpretiert werden. Als Beispiel antwortete eine Patientin auf die Frage „wie sie sich fühlt“ klar mit den Worten: „ich würde mich gut fühlen, wenn…“ Eine klare Aussage, dass der Zustand von Wohlbefinden (noch) nicht eingetreten ist. Die Pflegende, die ihr an diesem Tag zur Seite stand, nahm diese Schwingung nicht wahr und stellt die Behauptung auf, es gehe ihr gut. Die weitere Analyse der beiden Interviews zeigte deutlich, dass in diesem Fall der Patientin die körperliche Pflege zugute kam, die sie unmittelbar brauchte. Die Deutung der Bedürfnisse nach deren Priorität kann jedoch kaum unterschiedlicher ausgelegt werden. Die Patientin hatte deutlich Signale ihrer Ängste, ihres Unwissens bezüglich ihrer Krankheit gesendet; diese wurden aber von der Pflegenden nicht weiter aufgegriffen. Das, was die Patientin am meisten belastete, ihre Unsicherheit, konnte keiner professionellen Bearbeitung zugeführt werden, da der Interpretationsprozess der Pflegenden ein anderer war. Die im Pflegeprozess abgeleiteten Diagnosen wurde von der Pflegenden nicht mehr gemeinsam mit der Patientin besprochen. Die Patientin hatte an diesem Betreuungstag keine Chance, ihre eigentliche Wahrnehmung der Situation nochmals einzubringen. In einer weiteren Arbeit (vgl. Kühne-Ponesch und Smoliner 2001) wurden Pflegedokumente auf die Durchgängigkeit des Pflegeprozesses gesichtet. Von Bedeutung war, welche in den Dokumenten angeführten und in der Praxis verwendeten Diagnosen bei den Pflegenden zu welcher Definition bzw. Assoziation sowohl bei den Pflegenden als auch bei den Patientinnen führte. Zweck war die Beantwortung der Frage, ob unter ein und demselben Diagnosebegriff von den Professionals die gleiche inhaltliche Beschreibung abgerufen werden konnte und ob die Nutznießerinnen von Pflege, die Patientinnen, diese Art von Sprache verstanden bzw. wie sie diese interpretierten. Das inhaltliche Verstehen einer Diagnose führt zur Ableitung ganz bestimmter Maßnahmen. Eine Fachsprache, durch Diagnosen ausgedrückt, sollte zur Vereinheitlichung und Professionalisierung der Pflege führen, so die Wissenschaftlerinnen.: „Unter Pflegefachsprache wird die Definierung von disziplinspezifischen Pflegekonzepten in einer eindeutigen, kulturell angemessenen, beruflichen Sprache verstanden, die durch Konsens von PflegeexpertInnen festgelegt, überprüft und innerhalb der Disziplin akzeptiert und praktiziert worden ist.“ (van Maanen 2001, 6).
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Offenheit in der Kommunikation
Welchen Konsens haben die Praktikerinnen der Diagnostik? Werden die Begriffe in ähnlicher Weise sowohl von Patientinnen als auch von Pflegenden mit sinngemäß ähnlichen Worten ein- und ausgegrenzt? Für eine größere Aussagekraft gingen wir methodisch ebenso den umgekehrten Weg: Welche Formulierungen nennen Patientinnen und Pflegenden bei gleicher Symptomdarstellung? Zur Veranschaulichung ein Beispiel und dessen Ergebnis (wörtliche Übernahme aus einer Pflegeanamnese): „Der Patient steht nur nach Aufforderung auf, die Körperpflege muss vollkommen von den Pflegenden übernommen und auch das Essen muss eingegeben werden; der Patient vermeidet jede Kontaktaufnahme und kann keinen Augenkontakt aufnehmen; seine Stimme ist leise und zaghaft.“ Frei assoziierte Pflegediagnosetitel der Patientinnen: „Lethargie“, „Selbstaufgabe“, „Hilflosigkeit“ Frei assoziierte Pflegediagnosetitel der Pflegenden: „Fehlende Motivation zur Selbständigkeit“, Inaktivitätssyndrom“, „Schwäche“ Die in der Dokumentation formulierte Pflegediagnose lautet: Rückzugstendenz (frei formulierte Pflegediagnose) Was empfinden Patientinnen bei dieser Aussage? „empfinde das als negatives Urteil“ „die Pflegende sagt, dass ich ihr misstraue“ „klingt unangenehm“ „negative Aussage“ „kann mir darunter nichts vorstellen“ Was sagt uns dieses und viele ähnliche Beispiele? Pflegeprofessionals untereinander leiten bei gleich lautender Symptomatik durchaus unterschiedliche Diagnosen ab. Das gleiche gilt für Patientinnen; diese haben im Gesundheitswesen im Gegensatz zu den Pflegenden meistens den Status eines Laien. Die Konfrontation der Patientinnen mit den Diagnosetiteln bewirkt eine Irritation: die verwendeten Begriffe sind meist nicht im Wortschatz der Gepflegten und finden im Alltag keinen Gebrauch. Viele Beobachtungen und Rückmeldungen von Patientinnen
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Rahmenbedingungen von Gefühlsarbeit
machen verstärkte Bemühungen um Verständlichkeit der Gesundheitsprofessionals notwendig. Jendrosch (1998, 55) unterstreicht: „Wenn Sprache nicht korrekt ist, dann vermittelt das Gesagte nicht das Gemeinte; wenn das Gesagte nicht das Gemeinte ist, dann bleibt, was zu tun, ungetan.“ Der Koproduzent „Gesundheitsprofessional“ verfehlt seinen Beitrag zur Unterstützung der Gesundung und Förderung des Wohlbefindens. Nicht zuletzt ist die Art und Weise wie kommuniziert wird eine Frage der Haltung der Professionals! Diese Beispiele zeigen uns nochmals wie wichtig offene Kommunikation ist; mit wem ich als Mensch was kommuniziere ist in vielen Fällen eine Frage des Vertrauens! Wer hat mein Vertrauen, Ängste anzusprechen? Wer hat mein Vertrauen, Unsicherheiten zu klären? Menschen, mit denen wir positive Beziehungen leben und die in uns positive Gefühle wecken, sind Ansprechpartner unseres Vertrauens. Ihnen hören wir zu und von ihnen lassen wir uns beraten. Der Kontakt zu solchen Menschen gibt uns Sinn, schafft Geborgenheit und gibt uns Sicherheit, weil wir wissen, es gibt sie und sie sind für uns da. Das Kapitel möchten die Autorinnen mit den Worten von Claudio Kürten12 (1998, 3) abschließen: „Meine Sehnsucht, auch als Patient ganzheitlich als Mensch wahr-genommen zu werden, hat eine entscheidende Voraussetzung: daß auch die Mitarbeiter/innen in Kliniken ganzheitlich gesehen, geführt und eingesetzt werden.“
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Claudio Kürten lag nach einem Unfall ein Jahr im Spital.
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Fallbeispiele zum Thema: Identitätsarbeit
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Fallbeispiele
Die Fallbeispiele sind nach dem definierten Gefühlsprozess aufgebaut, wobei sich die Reihenfolge der Module sich nach den Bedürfnissen der Klientinnen richtet. Es werden sowohl kleine, scheinbar einfach (strukturierte) Prozesse als auch Prozesse mit höherer Komplexität dargestellt. Damit möchten die Autorinnen das breite Spektrum von Gefühlsarbeit darstellen. Wir weisen auch darauf hin, je nach Persönlichkeit und Erfahrung der Pflegenden und je nach Persönlichkeit der Klientinnen sowie unterschiedlicher organisatorischer Rahmenbedingungen weist Gefühlsarbeit verschiedene Varianten auf. Das Ergebnis von Gefühlsarbeit müsste immer eines sein: die Verbesserung der Gefühls- und Emotionssituation der Betroffenen. In all den dargestellten Beispielen kamen immer alle Prinzipien zum Einsatz: Prinzip der Gegenwart. Prinzip der Dienstleistung. Prinzip der Normalität / Individualität. Prinzip der Geschichtslosigkeit. Prinzip der Authentizität. Prinzip der Freiwilligkeit. Prinzip der Bedingungslosigkeit. Prinzip der Ressourcenorientierung. Alle Fallbeispiele sind in verkürzter bzw. verdichteter Form dargestellt.
11.1 Fallbeispiele zum Thema: Identitätsarbeit 11.1.1 Ein Beispiel einer Frau, die nicht immer sagt, was sie sich denkt Frau Bauer (Name geändert) ist 74 Jahre alt und lebt seit vier Jahren nach einem Schlaganfall im Pflegeheim. Sie ist vom Beginn an in Pflegestufe sechs eingestuft. Sie ist nicht in der Lage selbständig aus dem Bett und / oder aus dem Sessel aufzustehen. Frau Bauer ist übergewichtig und ist in allen Bereichen orientiert.
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Fallbeispiele
Irritation – Auslöser für Gefühlsarbeit Es fällt auf, dass in den Dienstübergaben der Organisation häufig folgende Zuschreibung gegenüber Frau Bauer getroffen werden: Frau Bauer bewege sich nicht gern, man müsse ihr alles machen. Aus den Aussagen werden keine Maßnahmen abgeleitet.
Modul – Erkennen der Ressourcen / Auffälligkeiten Ressourcen Frau Bauer: • Ist in allen vier Bereichen (örtlich, zeitlich, zur Person und situativ) orientiert. • Kann in Begleitung gehen. • Kann sich den Oberkörper selbständig kleiden. • Kann selbständig essen und trinken. • Ist sich ihrer körperlichen Einschränkung bewusst und spricht diese auch an (siehe Dialog zwischen Pflegeexpertin und Frau Bauer, Seite 75). Auffälligkeiten Frau Bauer: • Kommt von der Liegeposition (Bett) nicht in die Sitzposition (Querbett) • Kann aus einem Sessel nicht aufstehen. Ressourcen Institution / Betreuungsperson: • Betreuungspersonal ist auf das Verhalten von Frau Bauer sensibilisiert. • Sind gegenüber Beratung von außen geöffnet. Auffälligkeiten Institution / Betreuungspersonen: Das Betreuungsmuster (Pflege nach Standard) und das Bewertungsmuster (es werden Aussagen getroffen, dass Frau Bauer nicht willig ist, sich am Pflegeprozess zu beteiligen und dadurch durch Passivität auffällt) wiederholen sich immer wieder. Das Verhalten von Frau Bauer führt nicht zu Pflegehandlungen im Sinne der Veränderung der Situation.
Modul – Formulierung einer Gefühlsdiagnose (1) Es fällt auf, dass Frau Bauer beim Erstkontakt vorrangig körperliche Einschränkungen thematisiert. Aus diesem Grund werden diese in die Formulierung der Gefühlsdiagnosen aufgenommen. Frau Bauer: • Beeinträchtigtes Gehen. • Beeinträchtigter Transfer. • Unfähigkeit sich den Unterkörper zu pflegen und zu kleiden. • Verlorene Selbstbestimmung.
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Fallbeispiele zum Thema: Identitätsarbeit
Organisation: • Team stigmatisiert Frau Bauer.
Modul – Setzen einer Betreuungshandlung / Anwendung von Gefühlsarbeit Die Pflegeexpertin sucht den Kontakt zu Frau Bauer über ihren jetzigen Gesundheitszustand. Es wird am Vortag um ein Gespräch bezüglich ihrer Situation gebeten und für den nächsten Tag ein Termin vereinbart. Zur Vorbereitung bittet die Pflegeexpertin Frau Bauer ihren aktuellen Pflegeplan durchzulesen. Sie bedient sich dabei der seit Anbeginn geführten Sozial- und Pflegeanamnese. In einem Dialog mit dem Professional äußert sie bereits nach zirka eineinhalb Minuten den Wunsch mehr gehen zu wollen (sich mehr bewegen zu wollen). „…Gibt es Wünsche Ihrerseits Frau Bauer?“ „Ich möchte mehr laufen.“ „Warum laufen Sie derzeit nicht?“ „Weil ich es nicht mehr kann.“ „Haben Sie den Willen es wieder zu erlernen.“ „Den Willen habe ich schon.“
Es wird ein Versuch unternommen, der als erste Prüfung ihrer Kraft und Gehfähigkeit gilt, sie zum Aufstehen und Gehen zu mobilisieren. Durch geringfügige technische Anleitungen gelingt es Frau Bauer aus dem Sessel aufzustehen. Die Pflegeexpertin signalisiert ihr, diesen Wunsch in das tägliche Training auf zu nehmen. Zusätzlich fokussiert die Pflegeexpertin auf eine mögliche Bedeutsamkeit, die vor vier Jahren in der Sozialanamnese festgehalten wurde (und seit diesem Zeitpunkt keine weitere Beachtung erfuhr). Es handelt sich um das Nichtaussprechen von Wünschen. Und weiter im Dialog: „… Gibt es von Ihrer Seite noch andere Wünsche?“ „Eigentlich nicht.“ „Wenn Sie so in sich hineinschauen (Professional legt sich in der Situation die Hand auf die Brust) haben Sie noch Wünsche?“ „Das ich nach Hause will.“ „Dass Sie nach Hause möchten?“ „Ja.“
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Fallbeispiele
„Wohin nach Hause?“ „In eine Wohnung.“ „Haben Sie ihre Wohnung noch?“ „Nein, die haben wir aufgelöst.“ „Heißt das, dass Sie den Wunsch nach einer neuen Wohnung haben?“ „Ja.“ „Welche Wohnung hätten Sie den gerne?“ „Eine einfache Wohnung mit zwei Zimmern.“ „Und Sie trauen sich zu, dort wieder alleine und selbständig zu wohnen?“ „Ja.“ „Haben Sie das schon einmal mit jemandem besprochen?“ „Nein.“ „Auch nicht mit Ihrer Tochter?“ „Nein, auch nicht.“ „Und auch nicht mit Ihrer Freundin?“ „Nein. Aber es ist ein großer Wunsch von mir.“
Ein Erstkontakt zur Klientin erfolgte aufgrund der kulturellen Normung häufig über die Körperlichkeit.
Modul - Formulierung einer Gefühlsdiagnose (2) • Vermutet verlorene Identität. Die Pflegeexpertin trifft mit ihr die Vereinbarung, dass sie diesen Wunsch, wieder nach Hause zu gehen, mit ihrer Tochter und ihrer Freundin bespricht und mit diesen auf realistische Umsetzung bewerten. Hilfestellung bezüglich des Gespräches mit ihrer Tochter und Freundin durch die Pflegeexpertin lehnt Frau Bauer ab. Sie will alleine mit jenen Personen, die ihr am nächsten sind, sprechen. Die Pflegeexpertin verspricht ihr, die Pflegedokumentation, aus Sicht der Pflege in Bezug auf einen zukünftigen Ortswechsel, zu prüfen. Frau Bauer versichert, dass es ihr Wille sei, das Pflegeheim zu verlassen. Modul – Bewertung der Gefühlsdiagnose durch die Bewohnerin Wenn Angebote gesetzt werden, nimmt Frau Bauer Selbstbestimmung wahr (möchte das Gespräch mit Tochter und Freundin ohne Beisein einer Betreuungsperson führen). In einem Gespräch wird Frau Bauer die Bedeutung ihrer Mithilfe vor Augen geführt. Weiters wird sie auf die Wichtigkeit hingewiesen, ihre Möglichkeiten und Grenzen den Professionals während ihrer Unterstüt78
Fallbeispiele zum Thema: Identitätsarbeit
zung mitzuteilen. Sie gibt zu erkennen, dass sie diese Vorgehensweise mitträgt.
Modul – Formulierung des / eines gemeinsamen Pflege- / Betreuungszieles und Festlegen des Outcomes • Kann Motive nennen, für die sich ihr Mobilitätstraining lohnt. • Bringt verbal und / oder nonverbal Freude über erreichte Ziele zum Ausdruck. • Formuliert was sie will und was sie nicht will. • Zeigt konstruktives Verhalten beim Angebot von Perspektiven und Chancen, welche sie selbst verfolgen kann. • Legt sich selbst den Zeitplan für das Erreichen des Zieles fest. • Das Team findet wieder Freude in der Arbeit mit Frau Bauer. • Kann in drei Monaten aus dem Bett bzw. Sessel aufstehen und gehen. • Ist in der Nacht kontinent. • Gibt zu erkennen, dass sie ihren Wunsch nach Hause zu gehen, verfolgt (dranbleiben). Die Pflegeexpertin sieht eine realistische Chance, dass Frau Bauer diese Ziele in drei Monaten erreichen kann. Frau Bauer stimmt ihr in einem gemeinsamen Gespräch zu. • Teammitglieder bringen sich selbst in den Diskurs der Bewohnerinnenbetreuung ein und äußern und bewerten von sich aus in konstruktiver Weise den Betreuungszustand von Frau Bauer. Stigmatisierungen werden aufgebrochen. Modul – Regelmäßiges Messen des Outcomes und gemeinsames Abgleichen der Zielsetzung • Ist auch in der Lage bei veränderten Situationen alternative Lösungen für sich zu finden (Umzug ins Eigenheim ist nicht möglich, alternative Lösung ist die Übersiedelung vom Pflegebereich in den Wohnbereich der Betreuungseinrichtung). • Erlangt ihre Selbstbestimmung wieder (verbalisiert immer ihre Möglichkeiten und Grenzen. Widersetzt sich massiv gegen eine Betreuungsperson, die ihr in der Vergangenheit Gewalt angetan hat). • Hat ihre Harninkontenz nach drei Monaten im Griff. • Kann nach drei Monaten selbständig aus dem Bett und aus dem Sessel aufstehen. Sie scheint ihre Identität wieder gefunden zu haben, denn sie spricht häufig von zu Hause.
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Fallbeispiele
Frau Bauer verbessert sich von August bis November von der Pflegestufe sechs in die Pflegestufe 4. Das Team zeigt nach drei Monaten spürbar erhöhte Motivation in der Betreuung von Frau Bauer und äußert stolz gemeinsam mit Frau Bauer die Ziele erreicht zu haben. Das neue Ziel ist die Erhaltung der wiedererlangten Fähigkeiten von Frau Bauer.
Modul – Setzen einer Betreuungshandlung / Anwendung von Gefühlsarbeit Frau Bauer: Frau Bauer achtet selbständig auf die Einhaltung ihres Pflegeplanes. Ihre Disziplin und hohe Motivation wird von den Betreuungspersonen gelobt. Sichtbare Verbesserungen in den Trainingseinheiten werden Frau Bauer durch die Betreuungspersonen sichtbar gemacht. Die im Vorfeld definierten Distanzlängen beim Gehen werden gemeinsam mit Frau Bauer am Ende des Tages bewertet. Zwei Wochen nach Therapieplan erfolgt der erste Ausgang nach Hause. Die Gesamtorganisation des Ausganges wird von der Tochter übernommen. Die Familie grillt im Garten. Frau Bauer ist sehr angetan und glücklich nach dem Besuch zuhause was sich als zusätzlicher starker Motivator zeigt. Eine Woche später erfolgt der zweite und letzte Besuch nach Hause. Im Anschluss an diesen Ausgang vermittelt die Tochter dem Betreuungsteam, dass für sie eine Rückführung nicht in Frage kommt. Sie bittet darum, die Mutter im Glauben zu lassen, sie wäre zuhause willkommen. Es stellt sich heraus, dass in der Wohnung, die ihr von der Tochter in den letzten Jahren immer wieder angeboten wurde, der Enkel von Frau Bauer lebt. Über die Pflegedienstleitung vermittelt das Betreuungsteam der Tochter die Dringlichkeit, die Mutter persönlich darüber zu informieren, dass eine Rückführung von ihrer Seite aus nicht möglich und nicht gewünscht ist. Dieses Gespräch zwischen Mutter und Tochter erfolgt. Anschließend zieht sich die Tochter für zirka ein halbes Jahr aus der Beziehung zu ihr zurück. Trotz Enttäuschung und Ärger über die Handlungsweise ihrer Tochter zieht Frau Bauer ihr Trainingsprogramm weiter durch. Irgendwann im Laufe dieser drei Monate äußert Frau Bauer den Wunsch aus dem Pflegebereich in den Wohnbereich der Einrichtung zu übersiedeln. Diesem Wunsch kann leider nicht nachgekommen werden, da Frau Bauer für diese private Einrichtung nicht über die notwendigen, finanziellen Mittel verfügt. Öffentliche Förderungen werden nur für ein Pflegebett gewährt.
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Fallbeispiele zum Thema: Identitätsarbeit
Team: • Die Pflegeberaterin erarbeitet gemeinsam mit dem Team den über drei Monate laufenden Entwicklungsplan. • In Absprache mit der Pflegedirektorin erfolgen individuelle, persönliche Gesprächen zwischen Pflegeberaterin und Teammitgliedern. Ziel ist die Zusammenstellung einer Gruppe von Personen, welche sich sowohl mit dem Betreuungsplan identifizieren können als auch die Betreuung von Frau Bauer als Herausforderung sehen. • Die Zuteilung der jeweiligen Betreuungsperson erfolgt täglich. • Den Pflegenden wird die Möglichkeit gegeben mit dem Professional (hier Pflegeexpertin) jederzeit Rücksprache zu halten und sie erhalten besondere Anweisungen aktivierend tätig zu sein und sich in den Hilfsangeboten an Frau Bauer zurück zu nehmen. Es stellt sich nach einer Zeit heraus, dass eine Person in diesem speziell zusammengesetzten Team nicht mit Frau Bauer harmoniert. Dies führt dazu, dass Frau Bauer eines Tages ihr den Zutritt in ihr Zimmer verwehrt und betont, mit dieser Person nichts mehr zu tun haben zu wollen. In der Reflexion des Konfliktes stellt sich heraus, dass Frau Bauer und die Pflegende auch in der Vergangenheit immer wieder Zwistigkeiten austauschten. Dem Wunsch von Frau Bauer wird nachgekommen. Die betroffene Betreuungsperson erhält einige Beratungsgespräche mit der Pflegeberaterin um die Situation zu verstehen.
11.1.2 Beispiel einer Frau die vorgibt, einen Schlaganfall zu haben Als die heute 83jährige Frau Angler (Name geändert) vor mehreren Jahren in die Betreuungseinrichtung einzieht, bedarf sie keiner Betreuungsleistung.
Irritation – Auslöser für Gefühlsarbeit Vor zirka einem Jahr und bis heute anhaltend behauptet sie konsequent, einen Schlaganfall erlitten zu haben, nichts mehr zu sehen und völlig hilflos zu sein. Die medizinische Abklärung erbringt kein körperliches Defizit, welches den Schlaganfall von Frau Angler mit vorgegebener Halbseitenlähmung bestätigt. Die Beständigkeit mit der Frau Angler ihren Schlaganfall verbalisiert, führt beim Pflege- und Betreuungspersonal immer wieder zu Unmutsäußerungen. Fühlt sich Frau Angler unbeobachtet, steht sie selbständig vom Bett auf und geht alle Strecken innerhalb
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Fallbeispiele
ihres Appartements. Wird sie spontan auf diese beobachtete Tatsache vom Betreuungspersonal angesprochen, bestreitet sie dies vehement und verfällt augenblicklich in die Rolle der halbseitig Gelähmten. Im Rahmen einer internen Schulung wird der Pflegeberater mit der Geschichte von Frau Angler bekannt gemacht. Im Anschluss daran macht dieser dem Team den Vorschlag in der Rolle des Geschichtslosen ohne Begleitung einer Mitarbeiterin Kontakt zu Frau Angler aufzunehmen. Sollte es bei diesem Kontakt zu keinen Abwehrreaktionen seitens Frau Angler kommen, würde er die zu leistende „Morgenbetreuung“ für die laufende Woche (Montag bis Freitag) übernehmen. Der Vorschlag wird vom Team angenommen.
Modul – Erkennen der Ressourcen / Auffälligkeiten Der Erstkontakt verläuft ohne Abwehrreaktionen von Seiten Frau Anglers und so übernimmt der Pflegeberater eine Woche lang die bei ihr am Vormittag zu leistende Pflegearbeit. Schon unmittelbar nach dem Vorstellungsgespräch fällt dem Pflegeberater auf, dass sich Frau Angler im Bett alleine drehen und aufsetzen kann. Des Weiteren kann sie sich ohne Hilfe vom Bett auf den neben dem Bett stehenden Sessel setzen. Der Prozess des Ankleidens dauert eine halbe Stunde. Was dem Pflegeberater auffällt ist die Tatsache, dass sie die Ankleidung selbst durchführt. Ressourcen Frau Angler: • Gibt an wann und welchen Kontakt sie zu Mitbewohnerinnen aufnehmen möchte. • Setzt Ressourcen (siehe oben) im Beisein von (geschichtslosem) Pflegeberater ein. Auffälligkeiten Frau Angler: • Sagt nachhaltig einen Schlaganfall erlitten zu haben. • Lebt die Symptomatik des Schlaganfalls wenn sie sich von bekannten Betreuungspersonen beobachtet fühlt. • Bittet in einer leidenden Sprachmelodie um Hilfe. • Kaum nimmt sie eine Betreuungsperson in ihrer Umgebung wahr, gibt sie Zeichen von Schwindel und / oder Gelähmtheit vor und versucht sich krampfhaft irgendwo fest zu halten. Einmal sei sie dabei auch schon gestürzt. „Gott sei Dank habe ich mich nicht verletzt.“, so Frau Angler.
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Fallbeispiele zum Thema: Identitätsarbeit
Die von Montag bis Mittwoch der laufenden Woche im Rahmen der Morgenarbeit gemachten Beobachtungen des Pflegeberaters sind: • Eingeschränkte Beweglichkeit der Arm-, Hand-, Bein- und Fußgelenke. • Eingeschränkte Feinmotorik was besonders beim Schließen von Knöpfen zur Geltung kommt. • Sieht schlecht. • Gebückte Haltung beim Stehen und Gehen. • Geht in kleinen Schritten. Auffälligkeit der Betreuungspersonen: • Die Betreuungspersonen geben diesem „Leiden“ nach. • Frau Angler wird im Team als „nervig“ stigmatisiert. • Die Äußerungen von Frau Angler werden nicht mehr ernst genommen. • „Alle Mitarbeiterinnen des Teams haben sich über das Verhalten von Frau Angler geärgert“, so die Aussage einer Pflegenden.
Modul – Formulierung einer Gefühlsdiagnose Vor der Formulierung der Gefühlsdiagnose erinnert sich der Pflegeberater an einen Text geschrieben von Peter Turrini (2002, 26) in seinem Buch – Ein paar Schritte zurück: Im Schlafzimmer wurde nur eingeheizt wenn ich Husten hatte. Tagsüber im Bett liegen durfte ich nur mit Fieber. Etwas Feines zum Essen bekam ich ausschließlich bei Durchfall. Das schönste Leben und die größte Aufmerksamkeit dachte ich immer haben die Todkranken.
Die Botschaft, welche für den Pflegeberater in diesen Worten liegt, lassen ihn nun folgendes festhalten: • Begibt sich in die Rolle der Patientin um Aufmerksamkeit zu bekommen.
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Fallbeispiele
• Versucht über ihre vorgegebene Krankheit Identität zu gewinnen und verliert dadurch als Frau Angler ihre Identität. • Fühlt sich nicht ernst genommen und bedeutungslos. • Dies zeigt sich in folgendem Verhalten und Äußerungen: Häufiges Läuten. „Niemand glaubt mir, dass ich mir beim Aufstehen so schwer tue.“ „Für mich hat niemand Zeit.“ „Das (mein Gesundheitszustand) wird immer schlechter.“ „Ich kann nicht!“ Über die Gefühlsebene können Körperlichkeiten wieder wahrgenommen und hergestellt werden. (Durch die verbale Reflexion der erbrachten Leistung beim Ankleiden fühlt sich Frau Angler ernst genommen und übernimmt die Selbstfürsorge beim Kleiden.)
Modul – Setzen einer Betreuungshandlung / Anwendung von Gefühlsarbeit • Verbalisierung der Leistung von Frau Angler in Bezug auf ihre Selbstpflege im Rahmen der Betreuungsarbeit durch die Betreuungspersonen. Beispiele: Frau Angler sagt: „Das Aufstehen (aus dem Sessel) geht schlecht.“ Die Betreuungsperson antwortet: „Ich habe Ihre Anstrengungen beim Aufstehen wahr genommen. Was ich auch wahrgenommen habe ist, dass Sie es geschafft haben und jetzt stehen.“ Frau Angler sagt während des Ankleidens ihrer Strümpfe: „Das ist alles so schwierig.“ Die Betreuungsperson antwortet: „Und Sie versuchen es trotzdem. – Sie sind für mich bewundernswert.“ Frau Angler zeigt auf ihr Knie und sagt: „Mit dem kann ich gar nichts mehr machen.“ Die Betreuungsperson antwortet: „Und trotzdem sind Sie vom Bett aufgestanden und haben sich auf ihren Sessel gesetzt.“ Frau Angler sagt: „Mich strengt das alles so an.“ Die Betreuungsperson antwortet: „Und Sie tun es trotzdem für sich. Sie sind für mich ein großes Vorbild.“
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Fallbeispiele zum Thema: Identitätsarbeit
Modul – Bewertung der Gefühlsdiagnose durch die Bewohnerin Am Mittwoch der laufenden Woche gelingt es Frau Angler das erste Mal, sich beide Strümpfe an zu ziehen. Nachdem ihr von Seiten des Pflegeberaters Anerkennung ausgedrückt wird sagt sie: „Ich werde im Alter tüchtig. Trotzdem es mich sehr anstrengt möchte ich es auch in Zukunft so weit wie möglich selbst machen.“ Hier kommt über den Hauptarbeitsprozess (wie bei Strauss et al. 1980) für den Pflegeberater ein Ernst genommen werden zum Ausdruck.
Modul – Formulierung des / eines gemeinsamen Pflege- / Betreuungszieles und Festlegen des Outcomes • Frau Angler kann Aufmerksamkeit durch Betreuungspersonen für sich wahrnehmen. Durch das Erreichen dieses Zieles soll vermieden werden, dass sich Frau Angler im Zustand mangelnder Aufmerksamkeit erlebt. Durch die Vermeidung dieses Zustandes kann sie die Rolle der Kranken ablegen. In einem ersten Schritt soll der mangelnden Aufmerksamkeit entgegengewirkt werden. Um einem nochmaligen Gefühl des Identitätsverlustes präventiv entgegen zu wirken, soll in einem zweiten Schritt nach dementsprechenden Maßnahmen gesucht werden. • Frau Angler erreicht in den Bereichen der Körperpflege, des Kleidens und der Mobilität in ihrem Appartement Selbständigkeit. • Frau Angler verbalisiert ohne physischen Grund keine weiteren Krankheitsbilder. • Frau Angler spricht über ihre Gefühlszustände. • Die Betreuungspersonen können ihre Wahrnehmung gegenüber potentieller Symptome steigern.
Modul – Festlegen des möglichen Outcomes durch die Bewohnerin • Wird wieder selbständiger – Körperlichkeit. • Fällt ohne wirkliche physische Ursachen nicht mehr in die Rolle der Kranken (erlebt Krankheit nicht als Gewinn, erlebt über Kranksein keine Identität). Patientinnen, wie Frau Angler, verwenden Ausdrücke wie „Identität los sein“, nicht. Diese Worte sind nicht in der Alltagssprache der zu Betreuenden zu finden. Es werden zwischen Professional und Frau Angler 85
Fallbeispiele
Maßnahmen vereinbart, um nicht wieder in die Rolle der Hilfsbedürftigen zu fallen. Ebenso wird vereinbart, dass Frau Angler sich meldet, wenn sie Hilfe benötigt.
Modul – Setzen von weiterer Gefühls- / Pflegearbeit • Sensibilisierung des Teams im Rahmen von gezielten Gesprächen bei Teambesprechungen und bei Dienstübergaben in Bezug auf Symptomatik und deren Ursachen um einen Rückfall in das alte Verhalten (Krankheit als Gewinn) zu verhindern. • „Selbstpflege“, für die sie vom Pflegeberater in jeder Sequenz Anerkennung erhält. Die vom Pflegeberater gewählte Vorgehensweise bei der Maßnahmen „Selbstpflege“ am Donnerstag und Freitag der laufenden Woche soll durch die gewählte Erzählform verdeutlicht werden: Wie am Vortag ist Frau Angler im Beisein des Pflegeberaters selbständig aufgestanden, ins Bad gegangen, hat die Körperpflege selbständig durchgeführt und sich anschließend selbständig gekleidet. Der Pflegeberater ist „einfach“ da und spricht Frau Angler für ihre erbrachte Leistung Anerkennung aus. Nachdem Frau Angler auch ihr letztes Kleidungsstück, eine für sie typische Kleiderschürze, selbständig angezogen hat sagt der Pflegeberater: „Danke“! „sie sind ein großes Vorbild für mich.“ Und nach einer kleinen Pause fragt er: „Ist es ihnen recht wenn ich jetzt das Frühstück serviere und einen Kaffee mit ihnen trinke?“ „Das ist mir sehr recht“, erwidert Frau Angler. Während sie das sagt steht sie aus dem Sessel auf und geht zum Tisch um sich dort wieder zu setzen. Sie geht langsam und jeder der sie beobachtet kann erkennen, dass sie jeden Schritt ganz bewusst setzt und sie etwas außer Atem ist als sie zum Pflegeberater sagt: „Ich freue mich schon wenn sie mit dem Frühstück wiederkommen.“ Beim ersten Zusammentreffen begegnete der Pflegeberater einer Frau die vorgab einen Schlaganfall erlitten zu haben, nichts zu sehen und völlig hilflos zu sein. Er begegnete einer Frau die versuchte aus Krankheiten einen Gewinn für sich herauszuschlagen. Jetzt ist sich der Pflegeberater sicher: Die Frau, welche soeben durch das Zimmer ging hatte nichts mehr mit ihr zu tun. Am Donnerstag- und Freitagnachmittag besuchte der Pflegeberater Frau Angler in ihrem Zimmer. Und da er weiß, dass Frau Angler gerne Kaffee trinkt und er ihr eine kleine Freude machen will, nimmt er
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Fallbeispiele zum Thema: Identitätsarbeit
diesen zu jedem Besuch mit. Während dieser gemeinsam verbrachten Zeit am Donnerstag fragt der Pflegeberater Frau Angler ob er etwas für sie tun kann. „Ja“, antwortet Frau Angler, „morgen wieder kommen.“ Diesen Wunsch erfüllt ihr der Pflegeberater gerne. Am Ende eines jeden Besuches, also auch am Freitag steht Frau Angler gemeinsam mit dem Pflegeberater auf und geht mit ihm bis zur Türe ihres Appartements. Dort angekommen greift sie auf die Türschnalle, öffnet die Türe und sagte: „Schön dass sie mich besucht haben.“ Am Donnerstag sagt sie dann noch nach einer kleinen Pause: „Also dann – bis morgen.“ Nach dem am Freitag gemeinsam getrunkenen Nachmittagskaffee verabschiedet sich der Pflegeberater: „Danke für die schöne Zeit, die ich mit ihnen, Frau Angler, verbringen durfte.“ „Gerne“, antwortet Frau Angler und dann steht sie gemeinsam mit dem Pflegeberater auf geht mit ihm bis zur Türe ihres Appartements und öffnete die Türe. Der Pflegeberater nimmt ihre Hand und als er Frau Angler in die Augen sieht lächelt diese. Sie schüttelt ihm die Hand, lässt diese dann ganz langsam los und dann winkt sie ihm. Sie winkt zum Abschied. Und der Pflegeberater winkt zurück. Dann dreht er sich um und geht. Und was er in diesem Augenblick als besonders schön erlebt, ist das gute Gefühl in ihm. Die Module Bewertung des Outcomes durch die Bewohnerin, Bewertung des Outcomes durch den Professional, Regelmäßiges Messen des Outcomes und gemeinsames Abgleichen der Zielsetzung waren insofern bedeutungslos, als die Auffälligkeit behoben wurde. Ein wieder in das Muster der Kranken zurückzufallen würde sofort bemerkt werden. Die Identitätsarbeit bei Frau Angler umfasst fünf Tage: Am ersten Tag eineinhalb Stunden, die weiteren drei Tage zirka eine Stunde und am fünften Tag zirka eine halbe Stunde. Diese Stundenaufteilung ist keine absichtlich gesetzte, sondern resultiert aus der von ihr selbst ausgeführten Tätigkeiten.
11.1.3 Das Beispiel einer Frau, die keine Hilfe annehmen kann An diesem Beispiel kann gesehen werden, dass mit einem Modul gleichzeitig Fragen mehrerer Module beantwortet werden.
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Fallbeispiele
Frau Glück (Name geändert) lebt seit einem halben Jahr in der Betreuungseinrichtung. Vor zirka vier Monaten fällt den Betreuungspersonen auf, dass Frau Glück am Morgen in einem nassen Bett liegt, dies jedoch verneint. In den letzten Wochen verstärkt sich diese Tendenz insofern als sie sich weigert aus dem nassen Bett aufzustehen. Dieses Verhalten zieht sich an manchen Tagen über mehrere Stunden.
Irritation – Auslöser für Gefühlsarbeit Am 16. Februar steht der Pflegeberater vor dem Bett von Frau Glück. Diese liegt auf einem von Harn durchtränkten Leintuch. Den Guten-Morgen-Gruß erwidert sie mit den Worten: „Lassen Sie mich in Ruhe! – Sprechen Sie nicht so laut! – Ich brauche nichts von Ihnen!“ Nach Betreten einer weiteren Pflegeperson, die Frau Glück zum Aufstehen bewegen will, antwortete diese: „Gehen Sie scheißen!“ Die Pflegende dreht sich wortlos um und verlässt das Zimmer. Zehn Minuten später betritt eine weitere Pflegeperson das Zimmer. Die Beiden sprechen über das schlechte Wetter und andere Alltagsthemen. Über das auffallend nasse Leintuch sprechen sie fast eine halbe Stunde lang nicht. Doch nach dieser halbe Stunde, die Betreuungsperson dürfte sich jetzt ein Herz gefasst haben, sagt sie zu Frau Glück: „Ich mache mir ein bisschen Sorgen um Sie.“ „Wieso?“ fragt Frau Glück. „Dass Sie sich nicht verkühlen.“ „Wieso soll ich mich verkühlen?“ fragt Frau Glück zurück. „Weil Ihr Bett nass ist“, entgegnet die Betreuungsperson. Unmittelbar nachdem sie dies ausgesprochen hat, atmet sie tief durch. „Ich brauche von Ihnen keine Belehrung! Ist das klar!“ so Frau Glück. Es entsteht eine kurze Pause. Die Betreuende verabschiedet sich und sagt Frau Glück, dass sie wiederkommen würde. Frau Glück ergreift die Zeitung und beginnt in dieser zu lesen.
Modul – Setzen einer Betreuungshandlung / Anwendung von Gefühlsarbeit Unmittelbar nach diesem Ereignis nähert sich der Pflegeberater Frau Glück, welche den Kopf hebt und ihm ein Lächeln schenkt. „Frau Glück, es ist schön, von Ihnen ein Lächeln geschenkt zu bekommen. Für mich ist es ein Zeichen, dass Sie mich gerne sehen. – Dass ich für Sie wichtig bin“, so der Pflegeberater.
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Fallbeispiele zum Thema: Identitätsarbeit
Da der Pflegeberater von den Betreuungspersonen weiß, dass sich Frau Glück Dinge schlecht merkt, spricht er sehr langsam und in kurzen Sätzen mit ihr. Zwischen den einzelnen Sätzen macht er immer eine Pause. „Ich möchte Ihnen sagen“, spricht der Pflegeberater jetzt weiter, „dass Sie für mich ebenfalls sehr wichtig sind. – Ich erlebe Sie als erwachsene Frau – Ich erlebe Sie als Frau die mit Interesse Zeitung liest. – Was ich nicht verstehe ist, dass Sie dies im nassen Bett tun.“ – Nach einer kurzen Stille hebt Frau Glück ihre Decke hoch und sagt: „Es ist alles nass, aber das ist mir ‚wurscht‘.“ „Nein“, entgegnet der Pflegeberater, „das glaube ich Ihnen nicht. Da ist irgendetwas das Sie hindert aufzustehen. – Ich war einmal in einer ähnlichen Situation. – Und mir war es sehr, sehr peinlich.“ – Es entsteht neuerlich eine kurze Stille, welche durch die Frage: „Darf ich Ihnen aus dieser peinlichen Situation helfen?“ vom Pflegeberater beendet wird. Die Antwort von Frau Glück erfolgt nonverbal. Sie nickt.
Modul – Erkennen der Ressourcen / Auffälligkeiten Ressourcen Frau Glück: Frau Glück ist mobil. Geht mit Rollator alle Strecken im Betreuungsbereich. Spürt ihren Harndrang und entleert tagsüber ihre Blase auf der Toilette. Aufgrund einer bestehenden leichten Tröpfcheninkontinenz trägt Frau Glück auch tagsüber eine Einlage, welche sie akzeptiert. Frau Glück kleidet sich selbständig. Ressourcen Organisation: Die Organisation holt sich externe Hilfe für die Mitarbeit mit Frau Glück. Auffälligkeiten Frau Glück: Frau Glück kann in der Nacht den Harn nicht halten. Vermutlich schläft sie so tief, dass sie den Harndrang nicht verspürt. Erhält keine Schlafmedikation und keine Diuretika. Auffälligkeiten Organisation: Die Organisation entzieht sich dem Phänomen des Verleugnens von Frau Glück.
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Fallbeispiele
Modul – Formulierung einer Gefühlsdiagnose Gefühlsdiagnose Frau Glück: • Unfähigkeit die Situation (nasses Bett) annehmen zu können, sie negiert ihre Inkontinenz. • Zeigt Wut und schimpft. • Nimmt keine Hilfe vom Professional an. Gefühlsdiagnose Organisation: • Team stoßt an Grenzen, wenn Teammitglieder von Frau Glück abgelehnt werden. • Hilflosigkeit der Professionals gegenüber Frau Glück.
Modul – Bewertung der Gefühlsdiagnose durch die Bewohnerin und das Team Team spricht Hilflosigkeit und Überforderung an und bittet Pflegeberater um Hilfe. Die Bewertung kam im Modul „Setzen einer Betreuungshandlung / Gefühlsarbeit“ zum Ausdruck.
Modul – Formulierung des / eines gemeinsamen Pflege- / Betreuungszieles und Festlegen des Outcomes Zeigt Zeichen des Annehmen-Können, ihrer Inkontinenz, indem sie mit oder ohne Aufforderung am Morgen ihr Bett verlässt.
Modul – Bewertung des Outcomes durch die Bewohnerin Die Bewertung des Outcomes kann dem Modul „Setzen einer Betreuungshandlung / Gefühlsarbeit“ entnommen werden.
Modul – Bewertung des Outcomes durch den Professional Der folgende Bericht gibt Auskunft über die Bewertung des Outcomes: 18.02. Bew. (Bewohnerin) war heute nur kurz aggressiv – zwickt PP (Pflegeperson) in die Oberarme. Mit Ruhe und viel Geduld konnte die Körperpflege durchgeführt werden. 20.02. Körperpflege Vormittag durchgeführt ohne besondere Vorkommnisse. 21.02. Bew. lag im nassen Bett, hat auch Stuhl ins Bett gemacht. Bew. wurde geduscht, Bew. etwas kooperativ.
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Fallbeispiel zum Thema: Behaglichkeitsarbeit
22.02. Bew. war bei Körperpflege heute kooperativ, Teilwäsche durchgeführt. Fr. G. (Frau Glück) ist einige Stunden am Vormittag und am Nachmittag am Gang spazieren gegangen. 24.02. Fr. G. wollte anfangs nicht beim Faschingsfest anwesend sein, hat sich aber doch dazu gesetzt, war sehr ruhig, lächelte einige Male, war 2 Std. dabei, danach ging sie zu Bett. Bew. wurde heute mit Respekt aber Bestimmtheit am Vormittag aufgefordert aufzustehen. Kommt der Aufforderung nach ca. 8 Min. unter heftigem Schimpfen jedoch ohne Abwehrhaltung nach. Körperpflege und Ankleiden konnten durchgeführt werden. Nach der Pflegehandlung sieht Gesicht und Mimik entspannt aus. Bew. sagt, dass sie sich wohl fühlt. Lehnte normale Tagkleidung ab, wollte Nachthemd anziehen. 25.02. Bew. lag im nassen Bett. Die Körperpflege wurde durchgeführt (am Anfang Bew. lehnte Körperpflege ab, dann aber etwas mehr kooperativ). 26.02. Bew. wurde gepflegt, heute aber nicht mehr kooperativ, verbal sehr ordinär. 28.02. Bew. Vormittag möchte nicht waschen, aber um 11.30 hat sie gewaschen und war kooperativ.
Modul – Regelmäßiges Messen des Outcomes und gemeinsames Abgleichen der Zielsetzung Bei einem Besuch nach einer Woche beurteilen die Betreuungspersonen die Situation wie folgt: Einige von ihnen sagen, dass sich nichts verändert hat und Frau Glück genauso schimpft wie immer. Andere sagen, dass sie schimpft wie immer; manchmal auch in der Sprache die nur sie spricht, aber dass sie nach dem Schimpfen aufsteht und sich teilweise selbst wäscht und kleidet bzw. sich dabei helfen lässt. Eine der Betreuungspersonen erzählt dem Pflegeberater, dass sie Frau Glück in den letzten beiden Tagen immer wieder einmal auf dem Gang begleitete und da sie dabei immer wieder bei der Toilettentüre vorbeikamen hatte sie Frau Glück immer wieder gefragt, ob sie vielleicht hineingehen will oder muss. Der Pflegeberater hat das Gefühl, Freude bei dieser Person zu erkennen als sie erzählt Frau Glück sei die letzten beiden Tage trocken gewesen.
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Fallbeispiele
11.2 Fallbeispiel zum Thema: Behaglichkeitsarbeit 11.2.1 Das Beispiel eines Mannes, der sich aus seiner Umgebung zu rasch „zurückzieht“ Dies ist ein Beispiel in dem der Pflegeberater zu Hilfe gerufen wird, weil die Ehefrau eines Bewohners viel Unruhe stiftet und die Betreuungspersonen keine Lösungsmöglichkeiten der Situation sehen. In dieser Betreuungssituation wird Gefühlsarbeit als Initial, um den Prozess des Rückzuges ins Embryonalstadium bei der Demenz entgegen zu wirken, eingesetzt. Ebenso soll die Ehefrau wieder Freude (die sich im Laufe des Prozesses als Sinn ausdrückt) am Besuch spüren können und das Pflegeteam auf die Achtung der Gegenwartsmerkmale eines Bewohners sensibilisiert werden. Der Pflegeberater lernt Herrn Tischler (Name geändert) im Rahmen seiner Beratertätigkeit bei der Morgenarbeit des ersten Tages kennen, als der Pflegeberater eine Kollegin begleitet. Vor dem Zimmer von Herrn Tischler erzählt sie ihm, dass dieser an Morbus Alzheimer leide, er erst 62 Jahre alt ist und sein Zustand der schon weit fortgeschrittenen Krankheit entspricht. Vor ungefähr einem Jahr, erzählt die Kollegin dem Pflegeberater, sei Herr Tischler in die Betreuungseinrichtung gekommen oder besser gesagt, wurde er von seiner Frau in diese gebracht. Zum Zeitpunkt der Aufnahme habe er noch gesprochen. Seit drei bis vier Monaten tue er dies allerdings nicht mehr, der Zustand verschlechterte sich zusehends bis zum Rückzug ins Embryonalstadium. „Vermutlich versteht er uns auch nicht mehr“, sagt die Kollegin zum Pflegeberater vor dessen erstem Besuch von Herrn Tischler. Dann dreht sie sich zur Türe, öffnet diese, betritt Herrn Tischlers Zimmer und begrüßt ihn mit einem: „Guten Morgen.“ Herr Tischler liegt im Bett. Seine Augen sind geöffnet. Der Blick ist starr zur Decke des Raumes gerichtet. Eine Reaktion auf das Betreten des Raumes und den Guten-Morgen-Gruß nimmt der Pflegeberater nicht wahr.
Irritation – Auslöser für Gefühlsarbeit Als die Pflegende die Hand zum nochmaligen Morgengruß und zum Beginn der Körperpflege ergreift, kann ein Zurückzucken des Kopfes beobachtet werden.
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Fallbeispiel zum Thema: Behaglichkeitsarbeit
Die Pflegende verrichtet ihre Tätigkeit wortlos und von Seiten Herrn Tischlers ist wiederholt die Reaktion des Zurückziehens des Kopfes zu erkennen. Diese Reaktion wiederholt sich während der Pflegearbeit mehrmals. Eine weitere Irritation erlebt der Pflegeberater während folgender Beobachtung: Herr Tischler wird von seiner Frau besucht und mit: „Rudi! – Rudi! – Ich bin es, die Anni! – begrüßt. Auch durch die von seiner Frau gesetzten verbalen Reize erfolgt keine Reaktion.
Nach dem Begrüßungsversuch dreht Frau Tischler ihren Kopf in alle Richtungen des Raumes. Sie macht einen hilfesuchenden Eindruck. Die einer Bewohnerin das Essen eingebende Mitarbeiterin sitzt mit dem Rücken zu Herrn und Frau Tischler und zeigt keine Reaktion. Frau Tischler spricht diese Mitarbeiterin nicht an. Als nächstes nimmt Frau Tischler die auf dem Tisch liegende Serviette und versucht sie ihrem Mann wortlos umzubinden. Darauf reagiert Herr Tischler mit einer raschen Rückwärtsbewegung seines Kopfes. Der Versuch von Frau Tischler ihrem Mann die Serviette umzubinden scheitert. Frau Tischler, sichtlich überrascht von der Reaktion ihres Mannes, unternimmt einen zweiten Versuch und – auch dieser misslingt. Was auffällt ist Frau Tischlers Sprachlosigkeit während der beiden Versuche ihrem Mann die Serviette umzubinden. Der dritte Anlauf beginnt mit den Worten: „So! Mach jetzt den Mund auf! – Ja wollll …!“ – Und noch einen Löffel! – So ist’s gut! …“ Herr Tischler verschluckt sich. Die Suppe spritzt durch die Gegend, worauf Frau Tischler die Serviette nimmt, ihrem Mann den Mund abwischt, sowie die befleckten Stellen reinigt und abserviert. Im Vorbeigehen sagt sie zu der mit dem Rücken zu ihr sitzenden Betreuungsperson: „Ich glaube, er hat heute keinen Appetit.“ Unmittelbar danach bietet sie sich als Helferin für die Essenseingabe bei anderen Bewohnerinnen an. Die im Raum befindliche Betreuungsperson nimmt ihr Angebot dankend an und nennt den Namen einer Bewohnerin, der Frau Tischler das Essen eingeben kann. Stille steigert den Druck und erhöht den Stress.
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Fallbeispiele
Modul – Erkennen der Ressourcen / Auffälligkeiten Ressourcen Herr Tischler: • Reagiert auf Körperkontakt wie z. B. Hand geben oder Berührungen während der Körperpflege mit dem Waschlappen und beim Umbinden der Serviette. • Zeigt eine Verspannung bei vermutlich negativen Reizen wie z. B. beim Waschen des Gesichtes mit dem Waschlappen. • Hört wahrscheinlich gut. Dies begründet sich durch eine schreckhafte Reaktion (Zucken mit den Augen, Zurückzucken des Kopfes, …) auf laute Reize. Ressourcen Frau Tischler: • Besucht ihren Mann täglich, manchmal sogar mehrmals täglich. Ressourcen Organisation: • Frau Tischler unterstützt das Pflegeteam durch z. B. Essenseingabe von Mitbewohnerinnen. Auffälligkeiten Frau Tischler: • Keine Reaktion auf die von Herrn Tischler gezeigten Ressourcen. • Verbalisiert das Bedürfnis nach Hilfestellungen nicht. Druck der innerlich aufgebaut wird führt zu unreflektierten, wenig durchdachten Handlungen. Der gegenüber sitzende Mensch wird als Objekt wahrgenommen – es passiert eine „Verdinglichung = Entpersonifizierung“. Mit Verdinglichtem wird nicht gesprochen. Auffälligkeiten Herr Tischler: Ist in der höchsten Pflegestufe: Pflegestufe 7. • Verlangsamte Denk- und Handlungsgeschwindigkeit. Auffälligkeiten Organisation / Mitarbeiterinnen: • Keine Reaktion auf die von Herrn Tischler gezeigten Ressourcen. • Keine verbale Kommunikation mit Herrn Tischler. • In dieser Situation werden von der Pflegenden die in der Gegenwart gesetzten Irritationen von Herrn Tischler nicht identifiziert und sie verschließt sich damit der Möglichkeit, die Situation durch Gefühle zu steuern.
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Fallbeispiel zum Thema: Behaglichkeitsarbeit
Dieses Phänomen des – Bewusst-Nicht-Wahrnehmens – bezieht sich nicht auf die Einzelperson(en) sondern auf die Organisation. Es erklärt das Nicht-Festhalten dieser Ressource in der Dokumentation.
Modul – Formulierung einer Gefühlsdiagnose Gefühlsdiagnose – Herr Tischler: • Herr Tischler wird von Betreuungsperson oder Ehefrau ohne verbale Ankündigung berührt und reagiert mit Zurückwerfen des Kopfes oder Hochfahren der/des Armes/Arme. Dies könnte als Zeichen für Stress, Unsicherheit, Mangel an Geborgenheit / Schutz u.ä. interpretiert werden. Gefühlsdiagnose – Frau Tischler: • Die Erwartung an ihren Mann als Ehefrau erkannt zu werden wird von diesem nicht erfüllt. • Der innere Auftrag, ihren Mann gut zu versorgen sieht sie als ihre Verantwortung, der sie nicht immer gerecht werden kann. Es könnte der Wunsch bestehen, hin und wieder diese Verantwortung abzugeben. • Ebenso könnte sich auf Grund der mangelnden Unterstützung durch das Team das Gefühl der Hilflosigkeit und Unsicherheit in der Betreuungssituation bei ihr einstellen. Gefühlsdiagnose – Organisation: • Das Betreuungsteam klärt Frau Tischler bezüglich der realistischen Erwartungen nicht auf und gibt keine Unterstützung bezüglich der Aktivitäten des täglichen Lebens ihres Mannes. • Fehlende Unterstützung in Bezug auf die Selbstpflege von Frau Tischler durch das Betreuungsteam. • Sensibilitätsmangel in Bezug auf die Reaktionsmöglichkeit und bereitschaft von Herrn Tischler. • Frau Tischler dürfte durch ihre häufigen Besuche im Pflegeheim eine Vertrauensstellung bei den Betreuungspersonen einnehmen. Deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn die Betreuungsperson, die am Mittagstisch Herrn und Frau Tischler den Rücken zukehrt, die Aussage – er hat heute keinen Hunger – als realistisch ansieht und diese Tatsache nicht weiter hinterfragt. Selbstpflege ist nur in der Gegenwart möglich. Um in der Gegenwart zu sein und zu bleiben, ist es notwendig sich in dieser wohl zu fühlen. 95
Fallbeispiele
Modul – Bewertung der Gefühlsdiagnose durch die Angehörige Bei einem Gespräch am nächsten Tag zwischen Frau Tischler und dem Pflegeberater, der sie nach dem Gefühl bei der gestrigen Essenseingabe fragt, antwortet sie spontan: „Ich halte die Situation mit meinem Mann nicht mehr aus“! und beginnt zu weinen. Diese Aussage bzw. das von Frau Tischler gezeigte Verhalten lässt auf die Diagnose „Verzweiflung“ schließen. Die von Frau Tischler bestätigte Diagnose ist die, der Hilflosigkeit. Die Aussage des Pflegeberaters: „Ich habe das Gefühl, Sie erleben sich hilflos“, wird von Frau Tischler mit einem Nicken bejaht.
Modul – Setzen einer Betreuungshandlung / Anwendung von Gefühlsarbeit (1) Schaffen von Rahmenbedingungen, welche das Gefühl der Geborgenheit vermittelt (vgl. Weissenberger-Leduc 2009). In Abstimmung mit der Ehefrau wird ein Behaglichkeitsbad angeboten und durchgeführt. Die Dosierung des Behaglichkeitsbades muss dem Reaktivierungsgrad angepasst werden um dem Normalitäts- / Individualitätsprinzip zu entsprechen. Die ersten vier Wochen erfolgt das Behaglichkeitsbad täglich ab der fünften Woche bis Ende des sechsten Monats wird es auf ein Mal wöchentlich reduziert. Der Pflegeberater schlägt Frau Tischler vor mit ihrem Mann gemeinsam Kontakt aufzunehmen: „Ich habe nicht das Gefühl, dass das möglich ist“, antwortet Frau Tischler noch immer weinend. „Ich habe das Gefühl, Ihr Mann hat sich zurückgezogen. Ich beobachtete seine Körperhaltung gestern Morgen im Bett. Als er so da lag entstand in mir das Bild eines noch nicht geborenen Kindes im Bauch seiner Mutter. – Diese Körperhaltung lässt für mich einen Auftrag erkennen“, sagt der Pflegeberater. „Welcher Auftrag?“ fragt Frau Tischler. „Schafft Rahmenbedingungen, in der sich ein ungeborenes Kind wohl fühlt!“ sagt der Pflegeberater. Nachdem Herr Tischler nach wenigen Minuten im Behaglichkeitsbad einen sehr entspannten Eindruck vermittelt, ziehen sich die Betreuungspersonen für die nächsten 20 Minuten aus dem Bad zurück.
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Fallbeispiel zum Thema: Behaglichkeitsarbeit
Modul – Festlegen des / eines gemeinsamen Pflege- / Betreuungszieles und Festlegen des Outcomes In diesem Stadium werden die möglichen Ziele durch den Professional festgelegt und mit dem Pflegeteam besprochen. Die Ziele lauten: • Sensibilisierung des Teams im Bezug auf die Gegenwartsorientierung in der Betreuung von Herrn Tischler. • Den Rückzug (die Regression) von Herrn Tischler stoppen bzw. die möglichen noch vorhandenen Ressourcen aktivieren. • Frau Tischler erreicht Sicherheit und Vertrauen in Bezug auf die Hilfestellungen der Betreuungskräfte. • Frau Tischler besitzt die Fähigkeit aktiv Unterstützung einzufordern. Oben genannte Ziele sind vom Pflegeberater und dem Teammitgliedern in der Dokumentation festgehalten. Um die Wirkung der Maßnahme – Behaglichkeitsarbeit – nachweisen zu können, wird mit den Mitarbeiterinnen vereinbart, darauf zu achten, ob Herr Tischler während oder nach direkter Ansprache wie z. B.: „Guten Morgen Hr. T. ich bin’s der/die … .“ oder: „Ich habe Ihnen das Essen gebracht. Heute gibt es … bitte kosten Sie doch einmal.“ eine Reaktion zeigt, die als Bezug auf das Gesagte oder Durchgeführte gedeutet werden kann. Alle Beteiligten sind aufgefordert, wahrgenommene Reaktion zu dokumentieren. Der Pflegeberater macht das Angebot, jederzeit kontaktiert werden zu können. Um oben genannte weitere Ziele zu erreichen, setzt das Betreuungsteam Maßnahmen der reaktivierenden Pflege, Informations- und Wissensgespräche sowie deren Evaluierung bei Frau Tischler um.
Modul – Bewertung des Outcomes durch Bewohner und Angehörige Während des Absenkens der Liege in die Badewanne zeigt Herr Tischler keine Stresssymptomatik. Schon nach wenigen Minuten im Wasser schläft Herr Tischler ein. Dies wird als Zeichen der Entspannung und Geborgenheit interpretiert. „Es war eine sehr, sehr schöne Zeit, die ich heute mit meinem Mann und Ihnen verbrachte. Ich kann mir gut vorstellen, das Behaglichkeitsbad – so nannten Sie es doch – in Zukunft alleine durchzuführen“, sagt Frau Tischler, als sie sich vom Pflegeberater und der Mitarbeiterin nach dem Bad verabschiedet.
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Fallbeispiele
Diese Aussage deutet darauf hin, dass die Gefühlsdiagnose „Hilflosigkeit“ zutreffend war.
Modul – Regelmäßiges Messen des Outcomes und gemeinsames Abgleichen der Zielsetzung In der monatlichen Evaluierung während der nächsten sechs Monate kann vom Team die „Rückkehr“ von Herr Tischler auf die verbale Kommunikationsebene gut nachgewiesen werden. Ergebnis nach zwei Monaten: Es kann beobachtet werden, dass Herr Tischler langsam wieder zu sprechen beginnt. Die ersten Zeichen sind: Herr Tischler antwortet auf einfachste Fragen mit einem Wort. Ergebnis nach sechs Monaten: Nach sechs Monaten ist es ihm möglich, auf Fragen die passenden Antworten zu geben. Weiters ist es Herrn Tischler möglich, mit den Pflegepersonen, seiner Frau und seinem Sohn in einfachen Sätzen zu sprechen. Das Pflegepersonal gibt an, dass der Sohn seit ca. zwei Monaten wieder mindestens einmal pro Woche seinen Vater besuchen kommt. Ein Video zeigt Herrn Tischler während der Morgentoilette mit einer Pflegeperson im Gespräch. Unter anderem lädt die Pflegeperson ihn ein, den Rasierapparat selbst in der Hand zu halten, was ihm auch möglich ist. Vor einem halben Jahr wäre dies für ihn völlig unmöglich gewesen. Während der dabei laufenden Kommunikation kündigt die Pflegeperson an, ihm jetzt den Rasierapparat ins Gesicht zu führen woraufhin er antwortet: „Ja, ja, das kannst du13 schon machen.“ und „Ah, das ist kalt, das kratzt, oh ist das kalt, oh …!“ Es ist den Autorinnen nicht möglich, definitiv sagen zu können, welche der oben erwähnten Maßnahmen die größte Wirkung bei Herrn Tischler erzeugt. Das auf dem Video gezeigte Resultat rechtfertigt sie jedoch alle. Die Praxis zeigt jedoch die sehr enge Beziehung zwischen den einzelnen Formen der Gefühlsarbeit. In diesem Beispiel kommt die Nähe der Behaglichkeitsarbeit zur Berührungsarbeit sehr eindrucksvoll zum Vorschein. 13
Das DU-Wort ist in dieser Region die gängige Form der Ansprache.
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Fallbeispiel zum Thema: Behaglichkeitsarbeit
Da dem Pflegeberater von Seiten des Teams in diesen sechs Monaten keinerlei Fragen in Bezug auf die Betreuung von Frau Tischler gestellt werden und auch keine neuen Ziele bzw. Gefühlsdiagnosen dokumentiert werden, kann die Erreichung des oben formulierten Zieles angenommen werden. Die vor sechs Monaten gestellte Gefühlsdiagnose Hilflosigkeit bei Frau Tischler, wird nicht mehr wahrgenommen.
Modul – Setzen von einer Betreuungshandlung / Anwendung von Gefühlsarbeit (2) Das Team führt selbständig die notwendigen Adaptierungen durch.
Modul – Bewertung des Outcomes durch die Patientin / Klientin / Bewohnerin / Angehörige Der Outcome kann mit Herrn Tischler aufgrund seines oben beschriebenen Gesundheitszustandes nicht verbal bearbeitet werden. Frau Tischler zeigt sich jedoch mit den gesetzten Zielen einverstanden.
Modul – Bewertung des Outcomes durch den Professional Dies wird vom Pflegeteam ohne Beisein des Pflegeberaters übernommen. Das Behaglichkeitsbad ist eine wichtige Komponente auf dem Weg aus der Hilflosigkeit, wie es in der gemeinsam verbrachten Zeit (siehe oben) von Frau Tischler erlebt wird. Das Team ist nicht geschult in der Konzeption der Gefühlsarbeit. Durch die Reflexion des Teams mit dem Pflegeberater über die Situation von Herrn und Frau Tischler, sowie die Anweisungen zu oder für bestimmte Handlungs- und Verhaltensweisen, ist eine Bearbeitung auf der Gefühlsebene bei allen Prozessbeteiligten möglich. Das heißt, durch den Pflegeberater, der bewusst Gefühlsarbeit einsetzt und durch das Pflegeteam, das Teilaspekte der Gefühlsarbeit aufgrund der Anweisungen des Pflegeberaters anwendet, wie auch durch den Einsatz weiterer physischer, psychischer und sozialer Maßnahmen, können die gesetzten Ziele erreicht werden. Wie bereits am Beginn des Beispiels betont, wird hier Gefühlsarbeit als ein Initial, Veränderung herbeizuführen, eingesetzt. In weiterer Folge kann diese als Tertiärprävention angewendet werden.
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Fallbeispiele
Das Team ist stolz und motiviert, es gelang den Sohn in die Betreuung zu integrieren und seine Gattin, Frau Tischler, wird wichtiger Bestandteil der Betreuung.
11.3 Fallbeispiele zum Thema: Abschiedsarbeit 11.3.1 Ein Beispiel eines Mannes, der sich von zuhause nicht trennen kann Am 4. Oktober fährt Herr Bäcker (Name geändert) für alle Betreuungspersonen völlig überraschend und ohne jede Vorankündigung mit dem Rollstuhl und seinem Gebäck zur Empfangsmitarbeiterin des Wohnheims und teilt dieser mit, dass er jetzt auszieht. Herr Bäcker ist 83 Jahre alt, lebt seit zwei Monaten in der Betreuungseinrichtung und ist in Pflegestufe fünf eingestuft. Herr Bäcker ist orientiert und im Vollbesitz seiner geistigen Fähigkeiten. Vor seiner Pensionierung war Herr Bäcker Leiter eines Kleinunternehmens. Weder die von der Empfangsmitarbeiterin verständigte Betreuungsperson noch der herbeigerufene Sohn können ihn von seinem Vorhaben abbringen. Die psychisch kranke Tochter, welche mit ihm bis vor kurzem in seinem Haus lebte, fühlt sich der Situation nicht gewachsen und ruft bereits einen Tag nach seiner Heimkehr den Rettungsdienst, der ihn über Umwege wieder in das Pflegeheim bringt. Die grundsätzliche Entscheidung für eine institutionalisierte Betreuung wird von den Betreuungskräften (Kinder, Heimhilfe und mobile Pflege) gemeinsam mit Herrn Bäcker beschlossen und vor zwei Wochen vor diesem Ereignis durchgeführt. Das nun folgende Beispiel von Herrn Bäcker umfasst die Gefühlsarbeit „Abschiedsarbeit“. Darunter ist das Abschiednehmen von zuhause in eine Betreuungseinrichtung zu verstehen. In der Betreuungseinrichtung fällt Herr Bäcker über mehrere Wochen durch Schimpfen sowie Wut und Zornausbrüche auf. Sein Verhalten führt dazu, dass die daraus resultierenden Konflikte zwischen dem Bewohner und den Mitarbeiterinnen und Mitbewohnerinnen von diesen verbalisiert werden. Nach zwei Monaten wird der Pflegeberater vom Team zu Hilfe gerufen. Diesem wird die Situation geschildert und er macht sich mit Hilfe der Dokumentation einen Überblick über die Gesamtsituation. 100
Fallbeispiele zum Thema: Abschiedsarbeit
Hier ein Auszug wörtlicher Zitate von Herrn Bäcker: „… die (Betreuungsperson) sollen nicht so viel fressen, die sollen was hackeln (umgangssprachlich: arbeiten) … das Essen hier ist zum Kotzen, das fressen ja nicht einmal die Hunde … alle Suppen sind püriert oder wahrscheinlich Reste, die im Topf geblieben sind … das Essen ist aus den Resten der letzten drei Tage zusammengeschmissen … und das nennt man dann dreitägiges Menü..“ „…Alle glauben dass ich so stark bin. – Dabei stimmt das gar nicht. – Die Kinder wollen von mir nichts mehr wissen. – Dabei bin ich nur ihnen zu liebe da. – Würde es meine Kinder nicht geben, wäre ich nicht hier sondern zuhause. – Das tut weh. – Am besten wäre es, ich könnte mir einen Strick nehmen.“ … und weiter … „ich würde mir eine Person wünschen, die mich täglich einen halben Tag besucht und nur für mich da ist…“ Er sagt auch, „zuhause, das geht nicht mehr…“
Irritation – Auslöser für Gefühlsarbeit 8. Oktober, Ausschnitt aus der Pflegedokumentation: „Herr Bäcker war heute Nachmittag sehr traurig und unruhig. Sagte mehrmals mit Tränen in den Augen, dass er nach Hause (Ort ist in der Dokumentation namentlich angeführt) möchte. Wir erklärten ihm, dass das nicht so einfach ist, weil nicht mehr so selbstständig ist, und dass wir das mit seiner Tochter besprechen müssten, das wer zu Hause ist. Nach dem Gespräch änderte er mit trauriger Stimme seine Meinung und sagte: „Naja, bleib ich hald hier.“ Bewohner setzte sich auf die Terrasse und genoss die frische Luft und war nach ca. einer halben Stunde wieder beruhigt.“ Als weiteres geben die Betreuungspersonen an, dass sich Herr Bäcker von ihnen abwendet wenn er nicht kommunizieren möchte. Die von Herrn Bäcker gesetzten Zeichen (Schimpfen, Wut, Zorn, …) irritieren das gesamte soziale Umfeld. Das Betreuungsteam nimmt diese Irritationen wahr, stellt sich anschließend jedoch nicht die Frage nach deren Ursache. Es gibt in vergangenen gemeinsamen Teambesprechungen keine Reflexion über das Verhalten von Herrn Bäcker. Dementsprechend können keine ursachenbezogene Handlungen gesetzt werden. Es werden ausschließlich symptomspezifische Maßnahmen abgeleitet. Dies sind beispielsweise Ablenkungsversuche mittels Essen, Kaffee und beruhigenden Worte. Für den Pflegeberater ist die Hilflosigkeit des Betreuungsteams spürbar.
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Fallbeispiele
Modul – Erkennen der Ressourcen / Auffälligkeiten Ressourcen Herr Bäcker: Aus dem, bis zu diesem Zeitpunkt durchgeführten Recherchen ergeben sich folgende potentielle Ressourcen: • Artikuliert Wünsche und Gefühle (Unzufriedenheit, Zorn, Wut, …). • Trifft Entscheidungen bzw. übernimmt Verantwortung für oder gegen eine Therapie. • Gibt zu erkennen, dass er sein Da-Sein versteht. Ressourcen Institution: • Einzelbetreuung durch Mitglieder des Teams – Soziale Begleitung. Auffälligkeiten Herr Bäcker: Erste wahrgenommene Symptome sind: • Beschimpfungen gegenüber Betreuungspersonen und Mitbewohnerinnen. • Distanzlosigkeit gegenüber Mitbewohnerinnen. • Zeigt Ablehnung bei versuchter Kontaktaufnahme durch eine Betreuungsperson. • Zweifel, nicht doch zuhause leben zu können. Auffälligkeiten Mitbewohnerinnen / Betreuungspersonen: • Ablehnung Herrn Bäcker gegenüber. • Herr Bäcker ist ein kontinuierliches Betreuungsthema. • Bewohnerinnen zeigen Distanzverhalten (ziehen sich vom gemeinsamen Tisch zurück). Auffälligkeiten Angehörige: • Die Angehörigen haben sich zurückgezogen.
Modul – Formulierung einer Gefühlsdiagnose Welche Gründe verbergen sich hinter diesem Verhalten? Lassen sich diese Gründe auch gemeinsam mit dem Bewohner benennen und bearbeiten? Als nächstes wird eine potentielle Diagnose des Pflegeberaters festgeschrieben. Nach Durchsicht und Reflexion aller Informationen lautet diese im Falle von Herrn Bäcker vorläufig wie folgt: • Auf der Gefühlsebene ist die Übersiedelung von seinem alten Zuhause noch nicht abgeschlossen.
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Fallbeispiele zum Thema: Abschiedsarbeit
Modul – Bewertung der Gefühlsdiagnose durch den Bewohner In einem persönlichen Gespräch im Appartement von Herrn Bäcker versucht der Pflegeberater die potentielle Gefühlsdiagnose zu validieren bzw. zu verwerfen: Herr Bäcker empfängt ihn freundlich. Einleitend erzählt der Pflegeberater Herrn Bäcker, dass er schon einige Jahre ins Haus kommt, dass er die Betreuungspersonen immer wieder berät und dass ihm, dem Pflegeberater, heute Vormittag von ihm erzählt wurde. „Aus dem Erzählten haben sich jetzt für mich einige Fragen ergeben“, sagt der Pflegeberater zu Herrn Bäcker. „Ich nehme an, sie können mir diese Fragen beantworten.“ „Möglicherweiseise“, antwortet Herr Bäcker. „Haben sie sich im Laufe ihres Lebens jemals mit dem Älterwerden beschäftigt?“ „Nein“, antwortet Herr Bäcker und nach einer kleinen Pause spricht er weiter. „Ich habe auch nicht geglaubt jemals in einem Rollstuhl zu sitzen oder nicht mehr zuhause wohnen zu können oder keine eigenen Zähne mehr zu haben. – Oder dass ich mir die Schuhe nicht mehr selbständig anziehen kann. – Oder dass ich Unterstützung brauche wenn ich aufs WC muss.“ „… Wie geht es Ihnen, wenn Sie mir von all dem erzählen“? fragt der Pflegeberater „Gar nicht gut“, ist die spontane Antwort von Herrn Bäcker. „Kann ich etwas tun, damit es Ihnen besser geht?“ fragt der Pflegeberater. „Ja“, sagt Herr Bäcker, „fahren Sie doch bitte mit mir nach Hause.“ „Wollen Sie mir das Gefühl nennen, welches Sie jetzt verspüren?“ fragt der Pflegeberater. „Heimweh“, antwortet Herr Bäcker. „Ich habe das Gefühl, Sie haben sich von Ihrem Zuhause noch nicht verabschiedet“, sagt der Pflegeberater „Nein“, antwortet Herr Bäcker, „und ich weiß nicht ob mir das jemals gelingen wird. Ich muss den ganzen Tag daran denken.“ „Was kann ich tun, um Sie bei der Verabschiedung zu unterstützen?“ fragt der Pflegeberater. „Darüber habe ich noch nicht nachgedacht …“, antwortet Herr Bäcker. Nach einer kurzen Pause schlägt der Pflegeberater Herrn Bäcker ein nächstes Treffen vor. Herr Bäcker äußert bei diesem Gespräch nicht den Wunsch nach Hause gehen zu wollen. Von Seiten des Professionals wird ihm dieses Angebot aus folgenden Gründen zu diesem Stadium nicht unterbreitet:
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Fallbeispiele
• Es wird seine Fähigkeit, Probleme und die daraus resultierenden möglichen Lösungsansätze selbst zu formulieren, respektiert. • Gefühlsarbeit basiert auf Vertrauen, das durch einen respektvollen authentischen Umgang miteinander wachsen kann. • Es sollen zu diesem Zeitpunkt durch den Professional verschiedene Optionen nicht vorweggenommen werden. Dahinter verbirgt sich ein weiteres Ziel: • Erhaltung der Selbstbestimmung des Bewohners. Die sich für den Pflegeberater aus Sicht Herrn Bäckers ergebende Optionen sind folgende: Option 1: Er macht einen zweiten selbständigen Anlauf indem er sich ein Taxi organisiert und nach Hause fährt. Option 2: Er beschließt nicht mehr nach Hause zu wollen und für sich das Thema abzuschließen. Option 3: Er bittet um Unterstützung, das von ihm verbalisierte Problem zu lösen. Option 4: Er will sich mit dem Problem nicht auseinander und versucht es zu verdrängen. Herr Bäcker ist intellektuell in der Lage, sich seiner Situation bewusst zu sein und diese systematisch zu reflektieren. Erst im zweiten Gespräch nach drei Tagen äußert Herr Bäcker von sich aus den Wunsch nach Hause zu wollen.
Modul – Festlegen des möglichen Outcomes durch den Bewohner Zu diesem Zeitpunkt wird der Outcome noch nicht festgelegt, da die Gefühlsdiagnose noch nicht bestätigt werden kann. Wir kennen weder die Gedanken von Herrn Bäcker noch seine Gefühle, die bei ihm den Wunsch eines Ausganges hervorriefen. Ist es der Glaube oder die Überzeugung das Leben zuhause nach wie vor mit einer externen Hilfe meistern zu können oder ist es der Wunsch sich lediglich von zuhause zu verabschieden und für ihn wichtige Gegenstände in die Betreuungseinrichtung zu holen um sein Appartement persönlicher zu gestalten? Um Herrn Bäcker gefühlsmäßig nicht unter Druck zu setzen wird nicht danach gefragt warum er nach Hause fahren möchte. „Ich fand immer, dass ich zu viel fühle, um es ausdrücken zu können.“ (Fuchs 2004, 1)
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Fallbeispiele zum Thema: Abschiedsarbeit
Modul – Setzen einer Betreuungshandlung / Anwendung von Gefühlsarbeit Mit Herrn Bäcker wird der Termin für den Besuch seines Hauses in zehn Tagen vereinbart. Der Grund für den Zeitpunkt der Vereinbarung ergibt sich aus den Zeitressourcen des Pflegeberaters. Es ist nicht möglich, begonnene Gefühlsarbeit durch dritte oder vierte Personen durchführen zu lassen. Herr Bäcker ist mit dieser Vereinbarung einverstanden. Im Hause angekommen ergibt sich unter anderem folgende Szene: „… So“, sagt Herr Bäcker nach einiger Zeit. „Jetzt gehen wir ins Haus.“ Er steht aus dem Gartensessel, indem er nach Betreten des Grundstücks Platz genommen hat, auf, nimmt die Krücke, hängt sich in bekannter Manier beim Pflegeberater ein und lässt sich von diesem ins Haus begleiten. Abgesehen von der Temperatur, das Haus war nicht beheizt und es hatte vielleicht zehn Grad Celsius, wirkte es auf den Pflegeberater bewohnt. Nach Betreten des ersten Raumes, es ist das Esszimmer mit Blick ins Wohnzimmer, setzt sich Herr Bäcker auf einen Sessel und lässt seine Blicke, ähnlich wie im Garten, schweifen. „Die Möbel sind vom Tischler maßgefertigt und sicherlich schon an die 50 Jahre alt“, sagt Herr Bäcker nachdem er den Rundblick beendet. „Machen Sie bitte einmal diese Türe auf“, sagt er nach einer kurzen Pause zum Pflegeberater und zeigt zur Anrichte. Dieser – er hat sich, nachdem Herr Bäcker auf dem Sessel Platz genommen hat, ebenfalls gesetzt – steht jetzt auf, geht zur Anrichte und öffnet diese. Neben Geschirr befinden sich in dieser einige Fotoalben. „Nehmen Sie eines der Alben – egal welches – heraus und dann setzen Sie sich hier neben mich“! sagt Herr Bäcker. Der Pflegeberater folgt der Aufforderung. Er setzt sich neben Herrn Bäcker, reicht ihm das Album und dieser beginnt darin zu blättern. Auf den Fotos sieht der Pflegeberater Herrn Bäcker als Vater, Ehepartner, als Freund und Cousin. Er sieht Herrn Bäcker in Rollen mit denen sich dieser identifiziert und er nimmt war, dass sich Herr Bäcker jetzt in diesen Rollen erlebt. Es sind Herrn Bäckers glänzende Augen, die den Pflegeberater zu diesem Schluss führen. Der Pflegeberater nimmt es als mögliches Zeichen seiner Identitätsarbeit wahr. Herr Bäcker erzählt dem Pflegeberater, wo und bei welchem Anlass das Bild aufgenommen worden war. Die gesagten Worte lassen keine Tiefe in den Gefühlen erkennen. Die Tiefe nimmt der Pflegeberater in der vibrierenden Stimme von Herrn Bäcker wahr. „Ich habe das Gefühl, Sie schauen sich die Bilder gerne an“, sagt der Pflegeberater, nachdem sie das Album durchgeblättert hatten. „Mhm“, gibt Herr
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Fallbeispiele
Bäcker von sich. „Wollen Sie Alben in die Betreuungseinrichtung mit nehmen?“ fragt der Pflegeberater. „Nein, nein, nein! Die bleiben schön hier zuhause!“ antwortet Herr Bäcker. Seit Betreten des Grundstückes sind eineinhalb Stunden vergangen und jetzt macht sich die Kälte bemerkbar. „Diese Scheißkälte. – Ich glaube es ist gut wenn wir jetzt fahren.“ bemerkt Herr Bäcker. „Gut“, sagt der Pflegeberater, „wollen Sie noch etwas mitnehmen?“ Herr Bäcker gibt dem Pflegeberater keine Antwort. Er stellt ihm jedoch eine Frage: „Glauben Sie, dass ich hier wieder wohnen kann?“ Und da der Pflegeberater das Gefühl hat Herr Bäcker stellt diese Frage nicht ihm sondern sich selbst, lässt er sie im Raum stehen. „So – gehen wir!“ sagt er. Und dann gehen die beiden aus dem Haus. In der rechten Hand hält Herr Bäcker die Krücke. Den linken Arm hängt er in den rechten Arm des Pflegeberaters ein. Herr Bäcker versperrt das Haus und die Gartentüre. Wortlos gehen sie zum Auto. Sie fahren einige Minuten schweigend. Dann sagt Herr Bäcker: „In meinem momentanen Zustand ist es schon besser, ich bin in einem Heim.“ Der Pflegeberater sagt nichts, er nickt mit dem Kopf und während er nickt schauen sich die beiden Männer kurz in die Augen. Die restliche Zeit des Weges schweigen sie. Nach dem Aussteigen ersucht Herr Bäcker den Pflegeberater ihn mit dem Rollstuhl in sein Zimmer zu fahren. Im Zimmer angekommen, zieht Herr Bäcker nur seine Jacke aus und dann sagt er: „Jetzt dauert es ja nicht mehr lange bis zum Abendessen.“
Modul – Bewertung des Outcomes durch den Bewohner Zwei Tage später ruft eine der beiden Töchter von Herrn Bäcker beim Pflegeberater an und bedankt sich für die Begleitung ihres Vaters. Sie erzählt ihm von einer sie sehr berührenden Aussage ihres Vaters, während ihrer gestern gemeinsam verbrachten Zeit. Es ist der Satz: „Um fünf Uhr sind wir dann wieder nach Hause gefahren.“ Der Pflegeberater und die Tochter sind sich einig. Herr Bäcker ist einen Schritt auf dem Weg von seinem alten Zuhause hin zu einem möglichen neuen Zuhause gegangen.
Modul – Formulierung des / eines gemeinsamen Pflege- / Betreungszieles und Festlegen des Outcomes Nach abschließender Analyse schließt der Pflegeberater derzeit eine Rückführung von Herrn Bäcker in sein Haus aus. In erster Linie wird
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Fallbeispiele zum Thema: Abschiedsarbeit
dies durch die strukturellen Gegebenheiten des Hauses sowie die familiäre Situation begründet. In der Äußerung von Herrn Bäcker „Um fünf Uhr sind wir dann wieder nach Hause gefahren“, liegt eine mögliche Realisierung der Situation seinerseits. Somit wird eine erste Festlegung des Betreuungszieles abgeleitet. Dieses lautet: • Herr Bäcker kann die Notwendigkeit der institutionalisierten Pflege / Betreuung erkennen und annehmen. Operationalisiert wurde dieses Ergebnis durch: • die wahrgenommene Verringerung von Wut- und Zornausbrüchen (Pflegedokumentation). • das Verbalisieren sich in der Institution wohl zu fühlen und • vermehrte Kontakte mit Mitbewohnerinnen.
Modul – Formulierung des / eines gemeinsamen Pflege- / Betreuungszieles und Festlegen des Outcomes Anknüpfend an das Telefonat mit der Tochter (siehe oben) wird das Gespräch zu Herrn Bäcker gesucht. In diesem Gespräch fragt der Pflegeberater Herrn Bäcker ob er sich von zuhause verabschieden konnte. Diese Frage wurde von Herrn Bäcker mit folgenden Worten beantwortet „Ich habe das Gefühl, es ist gut, wenn ich zur Zeit hier wohne“.
Modul – Bewertung des Outcomes durch den Professional Die gemeinsam formulierten Ziele können realistisch durch die Ressourcen sowohl von Herrn Bäcker als auch der Organisation erreicht werden. Herr Bäcker wird vom Pflegeberater aufgefordert, Wünsche für mögliche weitere Besuche seiner Wohnung zu äußern. Es wird klargestellt, dass die organisatorischen als auch die persönlichen Ressourcen von Herrn Bäcker im Sinne eines weiteren Besuches zu planen sind. Die Angehörigen sprechen sich mehrfach klar gegen die Durchführung eines Ausganges aus. Die Verantwortlichkeiten bezüglich einer weiteren Durchführung sind klar definiert und liegen in der Verantwortlichkeit des Bewohners und der Pflege- / Betreuungspersonen.
Modul – Regelmäßiges Messen des Outcomes und gemeinsames Abgleichen der Zielsetzung In einem Beobachtungszeitraum von fünf Monaten kann folgender Outcome gemessen werden: • Die Wut- und Zornausbrüche sind gänzlich verschwunden. 107
Fallbeispiele
• Die Kontakte zwischen Bewohner / Mitarbeiterinnen / Mitbewohnerinnen werden als konfliktfrei und angenehm erlebt. Modul – Setzen von weiterer Gefühls- / Pflegearbeit Das Setzen von weiterer Gefühlsarbeit ist zurzeit nicht erforderlich. Der Gefühlsprozess zog sich in diesem Fallbeispiel über ein halbes Jahr. 11.3.2 Ein Beispiel eines Mannes, der Schwierigkeiten hat, die Toilette zu finden Herr Sänger (Name geändert), ein 82jähriger Mann lebt seit seiner Kindheit in seinem Elternhaus. Er ist unverheiratet und hat keine Kinder. Seit mehr als 30 Jahren führt eine Haushälterin die Geschäfte des Hauses. Diese wohnt im Nachbarhaus, ist verheiratet und ist ebenfalls um die 80 Jahre alt. Herr Sänger übernahm nie Hausarbeit. Im Gegensatz zum Privatleben war Herr Sänger im Berufsleben immer selbständig. Nach einem Akutgeschehen wird er vom Hausarzt ins Krankenhaus eingeliefert. Seine Körperlichkeit wird wieder hergestellt allerdings zeigt er das Bild eines akut desorientierten Menschen. Daraufhin beschließt die Haushälterin die Einweisung in eine Privatstiftung. Die im Heim erbrachten Pflegeleistungen beschränken sich auf Serviceleistungen wie: Vorbereitung der Kleidung, Bett machen, Zimmer aufräumen und Essen servieren. Er benötigt keine Pflegeleistungen.
Irritation – Auslöser für Gefühlsarbeit Es ist ein Arbeitstag wie jeder andere in diesem Pflegeheim als der Pflegeberater bei zwei auf dem Gang sitzenden Bewohnerinnen vorbeigeht und folgende Sprachsequenz aufschnappt: „Das ist er! – Der kommt fast jede Nacht zu mir ins Zimmer.“ Den Blicken der beiden Damen folgend sieht der Pflegeberater einen großen, leicht gebückt und langsam auf dem Gang gehenden Mann um den sich offensichtlich das Gespräch dreht. Die Art und Weise wie diese Aussage: „Das ist er! – Der kommt jede Nacht zu mir ins Zimmer“, getätigt wird, irritiert den Pflegeberater und diese Irritation veranlasst ihn zu einer Rücksprache mit dem Betreuungsteam. In diesem wird folgendes (siehe Auffälligkeiten Herr Sänger) festgehalten.
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Fallbeispiele zum Thema: Abschiedsarbeit
Modul – Erkennen der Ressourcen / Auffälligkeiten Ressourcen Herr Sänger: • Herr Sänger ist mobil. • Er ist in gewohnter Umgebung orientiert. • Er ist zur Person und situativ orientiert. Ressourcen Organisation: • Bereitschaft der Organisationsmitglieder zur Reflexion der eigenen Arbeit durch den Pflegeberater. Auffälligkeiten Herr Sänger: Die Frage: „Wissen Sie wo Sie sich hier befinden“? beantwortet Herr Sänger in desorientierten Zuständen immer mit dem Namen seines Heimatortes. Dieser ist jedoch nicht ident mit dem Ort, in welchem sich das Pflegeheim befindet. • Herr Sänger findet nicht nur häufig die Toilette nicht, sondern uriniert vereinzelt sowohl tagsüber als auch nachts, in die von ihm gefundenen Waschbecken oder Blumentöpfe. Er uriniert nie ins Bett, an Wände oder Ecken sondern immer in ein „Auffanggefäß“. Auffälligkeiten Organisation: Den Teammitgliedern ist sehr wohl bekannt, dass Herr Sänger mehrmals wöchentlich in der Nacht aufsteht und in das Zimmer der oben erwähnten Mitbewohnerin geht. Dieses Verhalten stellen die Pflegenden bei Einzug des Bewohners vor neun Monaten fest. Es zeigt sich immer wieder folgender ritualisierter Prozess: Herr Sänger verlässt sein Zimmer in gleicher Richtung, betritt das Zimmer der Mitbewohnerin, diese ruft per Glocke die Pflegende herbei, welche Herrn Sänger anschließend auf die Toilette führt (Herr Sänger und die Mitbewohnerin benutzen die gleiche Toilette). Dieses Ritual kann auch in der Pflegedokumentation nachvollzogen werden. • Orientierungsmaßnahmen, die sowohl im Vorraum zu den beiden Zimmern selber als auch auf der Toilette angebracht hätten werden können, unterbleiben während der neun Monate. • Den Pflegepersonen ist bewusst, dass sich Herr Sänger immer wieder in seinem Haus sieht. • Eine mögliche Bewertung einer Rückkehr in sein Haus bleibt von Seiten des Betreuungsteams mit Herrn Sänger als auch mit dessen Haushälterin aus.
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Fallbeispiele
• Das Normalitätsprinzip wird verlassen (Menschen urinieren in Toiletten). Bei Herrn Sänger wird durch das Akzeptieren des Urinierens eine neue Norm kreiert. Auffälligkeiten Mitbewohnerin: Die Mitbewohnerin scheint sich an die nächtlichen Besuche gewöhnt zu haben. Sie äußert keine negativen Emotionen in Bezug auf Herrn Sänger. Sie hat die Möglichkeit von sich aus ihre Situation mit einer Mitbewohnerin immer wieder zu besprechen. • Diese Auffälligkeit ist gleichzeitig eine „Nichtauffälligkeit“ bei den Teammitgliedern. Auffälligkeiten Haushälterin: Führt trotz ihres relativ hohen Alters und einer eigenen Familie bis zur Übersiedelung in die Privatstiftung vor zirka neun Monaten für Herrn Sänger den Haushalt. Sie ist die einzige, die über einen Schlüssel für das Haus verfügt.
Modul – Formulierung einer Gefühlsdiagnose • Ist in Gedanken zuhause, in der Realität jedoch im Pflegeheim. Beispiel: Auf die Frage: „Wissen Sie wo Sie sich hier befinden?“ nennt Herr Sänger seinen Wohnort und nicht den Ort in dem sich das Pflegeheim befindet. • Ist situativ desorientiert – uriniert ins Waschbecken und in Blumentöpfe. • Unfähigkeit seine Bedürfnisse zum Ausdruck zu bringen. • Unfähigkeit Entscheidungen zu treffen. • Unfähigkeit seinem Wunsch zuhause zu leben nachzukommen. • Hilflosigkeit und Machtlosigkeit seine Bedürfnisse zum Ausdruck zu bringen. • Mangelnde Sensibilität des Betreuungsteams.
Modul – Bewertung der Gefühlsdiagnose durch den Bewohner Spontan sagt der Pflegeberater: „Herr Sänger ich habe das Gefühl, Sie möchten gerne wieder einmal nach Hause.“ Im Nicken kann er den Auftrag erkennen. Er verabschiedet sich mit den Worten: „Wir“, mit der Hand verweist der Pflegeberater jetzt auf die Mitarbeiterin des Hauses, „werden den Besuch so rasch wie möglich organisieren.“
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Fallbeispiele zum Thema: Abschiedsarbeit
Modul – Setzen einer Betreuungshandlung / Anwendung von Gefühlsarbeit Differenzialdiagnostischer Ausgang Durch einen Differenzialdiagnostischen Ausgang soll herausgefunden werden, ob sich Herr Sänger in seiner gewohnten Umgebung zurechtfindet. Unmittelbar nach dem Aussteigen aus dem PKW wird Herr Sänger ersucht den vier Betreuungspersonen, welche ihn bei seinem Ausgang begleiten, den Weg zu seinem Haus zu zeigen. Diesem Ersuchen kommt Herr Sänger spontan und offensichtlich sehr gerne nach. In seinem Haus werden die Betreuungspersonen und Herr Sänger von der Haushälterin bereits erwartet. Unmittelbar nach der Ankunft setzt Herr Sänger die Führung fort. Er zeigt den vier Begleitpersonen den Garten und anschließend den Wohnbereich. Herr Sänger geht vor und als alle in seinem Wohnzimmer angekommen sind, sagt er: „Darf ich vorstellen. – Das ist Frau Müller (Name geändert). – Sie ist so etwas Ähnliches wie eine zweite Mutter.“ Nach der Vorstellung der Haushälterin durch Herrn Sänger entsteht eine kurze Stille. In dieser Stille ist es dem Pflegeberater möglich, das Zimmer mit seiner Einrichtung auf sich wirken zu lassen. Die Einrichtung wirkt sehr harmonisch auf ihn. In der Ecke steht eine Madonnenstatue. Folgender auf Video aufgezeichneter Dialog entwickelt sich nun zwischen Herrn Sänger und dem Kollegen des Pflegeberaters: „Die Madonna, wie alt ist denn die schon?“ „Das weiß ich nicht. Die habe ich einmal zum Geburtstag bekommen.“ „Die haben Sie zum Geburtstag bekommen.“ „Ja“. „Das ist ein sehr schönes Stück.“ „Ja, auf das bin ich sehr stolz.“ „Sie sind stolz auf diese Madonna?“ „Ja.“ Nach einer kurzen Stille spricht der Kollege des Pflegeberaters weiter: „Die würde sich sehr gut in ihrem neuen Zimmer in der Betreuungseinrichtung machen. Sollen wir sie mitnehmen?“ „Nein, nein, nein!“ ist die Antwort von Herrn Sänger. „Die bleibt so lange da … wenn ich einmal gestorben bin dann kann man sie hin geben aber so lange ich lebe bleibt sie bei mir.“ „Nein, nein!“ sagt der Kollege, „ich habe gemeint sie jetzt mit Ihnen mitzunehmen.“ „Ja“, antwortet Herr Sänger, „wenn ich einmal ins Pflegeheim gehe, dann kommt die Madonna mit mir mit.“
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Fallbeispiele
Die Begegnung mit einem Menschen und sei es im Rahmen einer Verabschiedung, findet immer dort statt, wo sich dieser befindet. Und wieder entsteht eine kurze Pause. Sie wird durch die Frage des Pflegeberaters: „Ist es Ihnen recht, wenn wir Sie jetzt alleine lassen“? beendet. „Ja“, sagt Herr Sänger. „Auf Wiedersehen.“ „Ich finde es schön, dass Sie sich jetzt Zeit für sich nehmen“, sagt der Pflegeberater. „Wenn es Ihnen recht ist, kommen wir in einer Stunde wieder.“ Herr Sänger nickt. Als der Pflegeberater mit seinem Kollegen und den Mitarbeiterinnen der Betreuungseinrichtung nach einer Stunde wiederkehrt, saß Herr Sänger in seinem Ohrensessel. Nach der Begrüßung entwickelt sich der folgende auch diesmal auf Video festgehaltener Dialog zwischen dem Kollegen des Pflegeberaters und Herrn Sänger: „Wissen Sie wo es jetzt hin geht? – Wo wir jetzt dann hin fahren?“ „Nein.“ „Wir fahren jetzt wieder ins Pflegeheim. Und ich hätte jetzt gerne von Ihnen gewusst, wann wir fahren. Wie lange Sie noch da bleiben wollen und wann wir fahren?“ „Na ja – das weiß ich jetzt selber nicht. Ah Randl (ein Wort aus der Mundart und bedeutet eine Weile) möchte ich noch da bleiben.“ „Wie lange dauert denn ein Randl?“ „Na ja, – ein, zwei Wochen sowas.“ Nach dieser Aussage lächeln sich die beiden Gesprächspartner zu. „In zehn Minuten oder in einer Viertelstunde? Ist Ihnen das recht, dass wir dann fahren“? setzt der Kollege das Gespräch fort. „Und dann führen Sie mich ins Pflegeheim?“ Diese Frage wird vom Kollegen des Pflegeberaters mit einem Nicken beantwortet. Mit den Worten: „Na, ja, – nach dem es ja so wie so sein wird und sein muss … dann fahren wir halt …“, beendet Herr Sänger den Dialog. Am folgenden Tag werden die von ihm während des Ausganges wichtigen und wahrscheinlich positiv emotional besetzten Gegenstände in die Privatstiftung geführt. Darunter befinden sich die Madonnenfigur aus Holz, seine Schallplattensammlung, Bilder sowie an die 20 maßgeschneiderte Anzüge, die ihn durch seinen Berufsalltag begleiteten.
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Fallbeispiele zum Thema: Abschiedsarbeit
Modul – Formulierung des / eines gemeinsamen Pflege- / Betreuungszieles und Festlegen des Outcomes Die Prüfung der Gesamtsituation vor Ort zeigt, dass ein Verbleib im Eigenheim ausgeschlossen ist. Frau Müller, die Haushälterin, betont mehrmals im Vorgespräch, dass es für sie unmöglich sei, ihn zuhause weiter zu betreuen. Von dieser Aussage abgeleitet, lauten die Betreuungsziele: • Übersiedelung von bedeutungsvollen (emotional hoch besetzten) Einrichtungsgegenständen um im neuen Zuhause (Pflegeheim) eine vertrautere Atmosphäre zu schaffen. • Schaffen von Möglichkeiten, um eine Verabschiedung zuhause einzuleiten.
Modul – Bewertung des Outcomes durch den Bewohner Noch in seinem Ohrensessel während des Ausganges in seinem Eigenheim sitzend sagt Herr Sänger zu sich selbst: „Einmal muss es sein – und je mehr man zögert um so schlechter ist es.“ Am nächsten Tag in der Privatstiftung tätigt Herr Sänger auf die Frage wo er sich befindet zum ersten Mal die in eine Frage gepackte Aussage: „In Heringen (Name geändert) vielleicht? – im Altersheim?“ Nach zehn Sekunden, diese Zeit und auch die folgenden Zeitangaben können den Videoaufzeichnung entnommen werden, kommt Frau Müller ins Bild und sagt: „Na, hoffentlich kommen’s in zehn Minuten.“ Sie hat ein Glas in der Hand, welches sie Herrn Sänger mit der Frage: „Magst du noch was trinken“? reicht. Wortlos greift dieser nach dem Glas und trinkt. Frau Müller geht aus dem Bild und sagt: „Muss ich schauen wo sie jetzt hin gehen.“ Es ist zwar auf dem Video nicht zu sehen aber die Beobachterinnen sind sich sicher, dass sie jetzt zum Fenster geht. Dort angekommen hört man sie sagen: „Ah, da stehen sie vor der Türe. – Vor der Stiege stehen sie.“ Während dieser Beobachtung trinkt Herr Sänger das Glas aus und hält es nun in seiner ausgestreckten Hand. Frau Müller kommt wieder ins Bild, nimmt das Glas und sagt: „War gut jetzt – nicht?“ Und nach einer kurzen Pause spricht sie weiter und sagt: „Wenn sie dich fragen ob du noch etwas essen möchtest, sagst du schon du möchtest noch etwas. – Nicht. – Du hast ja nichts von ihnen zu essen gehabt heute. – Ein Kalbfleisch hat es heute gegeben. – Ein Kalbfleisch mit einer Soße und Dill-Erdäpfel oder was.“ Jetzt geht sie wieder aus dem Bild.
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Fallbeispiele
Herr Sänger sagt: „Das wäre ja gut gewesen.“ „Ja – gö“, hört man Frau Müller auf dem Video antworten, „aber wenn du sagst du hast keinen Hunger, dann bekommst du nichts mehr.“ Während sie das sagt sind die knarrenden Stufen der Stiege zu hören, welche vom Wohnzimmer in das Vorzimmer führt. Jetzt sitzt Herr Sänger alleine im Wohnzimmer in seinem Ohrensessel. Nach ungefähr einer Minute faltet Herr Sänger die Hände zu einem Gebet. Er beginnt mit: „ … Himmelvater bitte … eine Bitte habe ich noch … lass mich nicht …“, das weitere Gebet ist nicht zu verstehen. Die Sprachmelodie und Körpersprache mit der Herr Sänger sein kurzes nicht länger als zwanzig Sekunden dauerndes Gebet spricht, ist jedoch so berührend, dass die Autorinnen es nie vergessen werden. Nach dem Gebet verweilt Herr Sänger noch ungefähr eine Minuten ganz ruhig und nachdenklich in seinem Ohrensessel. Dann steht er, wie könnte es auch anders sein, in seiner Geschwindigkeit auf. Und während er aufsteht und aus dem Bild geht sind die Worte: „Himmlmutta hüf ma – Ich bitt’ di Himmlmutta hüf ma“ („Himmelmutter hilf mir. – Ich bitte dich Himmelmutter hilf mir“) von ihm zu hören. Vielleicht sind es seine Abschiedsworte von seinem Zuhause. Es ist Ende Mai, als der Pflegeberater, sein Kollege und die beiden Mitarbeiterinnen der Betreuungseinrichtung für alte Menschen Herrn Sänger bei seiner Abschiedsarbeit begleiten.
Modul – Bewertung des Outcomes durch den Professional Durch seine Aussagen sich im Pflegeheim zu befinden kann abgeleitet werden, dass Herr Sänger mit seinem Verabschiedungsprozess und Ankommensprozess im Pflegeheim begonnen hat. In weiterer Folge ist es wünschenswert Herrn Sänger ein Gefühl des Zuhauses zu vermitteln. Damit dies gelingen kann, scheint es wichtig, seine „Mutter“ (Frau Müller) vermehrt in den Gefühlsprozess mit einzubeziehen. Obwohl diese deutlich klar macht, dass sie sich nicht mehr involvieren möchte, ist sie die einzige, die die Gewohnheiten, Wünsche und Besonderheiten von Herrn Sänger genauestens kennt. Erst dann scheint es, dass eine weitere Zielformulierung im Sinne des Moduls – „Regelmäßiges Messen des Outcomes und gemeinsames Abgleichen der Zielsetzung“ – zu formulieren ist. Noch während dieser Phase im Gefühlsprozess es sind zwei Monate seit dem Ausgang vergangen, stirbt Herr Sänger.
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Fallbeispiele zum Thema: Da-Sein-Arbeit
11.4 Fallbeispiele zum Thema: Da-Sein-Arbeit 11.4.1 Beispiel einer Mutter, die den Kontakt zu ihrem Sohn scheut Die 81jährige Frau Sohm (Name geändert) wird von ihrem 47jährigen, alkoholkranken Sohn, mit welchem sie gemeinsam in ihrer Wohnung lebt körperlich attackiert. Dies ist nicht das erste Mal. Frau Sohm flüchtet aus ihrer Wohnung zur Nachbarin. Diese verständigt die Rettung, welche Frau Sohm ins Krankenhaus bringt. Nach der Erstversorgung im Krankenhaus, Frau Sohm hat eine Platzwunde am Kopf, entscheidet sie sich, nicht mehr nach Hause gehen zu wollen, sondern in eine Betreuungseinrichtung für Seniorinnen zu übersiedeln. Frau Sohm ist vollkommen selbständig und bedarf keiner Hilfe von außen. Damit ihr Sohn nicht weiß, wo sie untergebracht ist, beschließen die Tochter von Frau Sohm sowie zwei Mitarbeiterinnen der Betreuungseinrichtung, sie zu verleugnen, sollte der Sohn anrufen. Es kommt dann auch zu dem Anruf, bei welchem die Mutter, wie vereinbart, verleugnet wird. Der Sohn lässt sich jedoch nicht abhalten und kommt in die Betreuungseinrichtung. Die Mitarbeiterin des Empfanges alarmiert die Polizei, welche daraufhin den Sohn des Hauses verweist.
Irritation – Auslöser für Gefühlsarbeit Der Besuch des Sohnes in der Betreuungseinrichtung löst ein Befremden, Angst, Unsicherheit und Fassungslosigkeit beim Betreuungspersonal aus. Aus diesem Tumult ergeben sich Fragen wie: • „Wie geht es jetzt weiter?“ • „Wie verhalten wir uns, wenn der Sohn wieder kommt?“ • „Was sagen wir Frau Sohm?“ Nach zirka einer Woche erzählt Frau Sohm einer Servicemitarbeiterin des Hauses, dass sie nicht weiß, wie lange sie den derzeitigen Zustand noch aushält. Sie sagt, dass sie dieses Alleinsein als sehr bedrückend empfindet. Sie habe ihr Leben immer in Gesellschaft verbracht. Diese Aussage gibt die Mitarbeiterin an die Heimleitung weiter. Daraufhin wird eine externe Beratung angefragt: die Pflegedienstleiterin nimmt Kontakt zum Pflegeberater auf, welcher Frau Sohm einige Tage später das erste Mal besucht.
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Fallbeispiele
Modul – Setzen einer Betreuungshandlung / Anwendung von Gefühlsarbeit (1)14 Zwischen Frau Sohm und dem Pflegeberater gibt es bis zu folgendem Dialog zwei kurze „Kennenlerngespräche“. Frau Sohm verweist dabei darauf, dass sie nicht wisse, was sie den ganzen Tag machen solle und dass ihr die Decke auf den Kopf fällt. Beim dritten Kontakt mit dem Pflegeberater eröffnet dieser mit der Aussage: „Ich habe das Gefühl, dass Sie Angst haben, Ihrem Sohn zu begegnen, dass Sie nicht freiwillig von zuhause weggegangen sind und in diese Betreuungseinrichtung eingezogen sind, sondern weil Sie mit Ihrem Sohn nicht mehr länger zusammenleben wollen und können“, das Gespräch. Frau Sohm bestätigt dies und im Anschluss ergibt sich zwischen Professional und Frau Sohm folgender Dialog (Auszug aus diesem): „Mein Sohn sagte zu mir: ‚Du bist eine Null, du kannst nicht einmal telefonieren‘. Mein Sohn hat mit dieser Aussage Recht. Ich kann das wirklich nicht. Ich bin zu nervös.“ „Unsere Hausdame hat mir mitgeteilt, dass Sie nicht aus dem Zimmer gehen, sich zurückziehen, …“ sagt der Pflegeberater. „Ich hatte ein furchtbares Gefühl, als mein Sohn anrief und als er beim Empfang auftauchte.“ „Sie und Ihre Tochter wollten nicht, dass Ihr Sohn erfährt, dass Sie in der Betreuungseinrichtung besucht werden? Um trotzdem mit Ihnen in Kontakt treten zu können, lies Ihr Sohn eine Frau Maier (Name geändert) anrufen. Kennen Sie diese?“ „Ja, das war die Freundin meines Sohnes.“ „Und die ließ er sagen, dass er an Krebs erkrankt sei.“ „Ja. – Der lässt sich jetzt krank werden um mit mir Kontakt aufnehmen zu können. Mein Sohn holte sich vom Meldeamt die Information, dass ich jetzt hier wohne – und die mussten ihm natürlich die Auskunft geben. – Jetzt wird er sich ja nicht mehr traun’, da er ja sicherlich Angst vor der Polizei hat. Und das ist vermutlich der Grund, warum seine Exfreundin angerufen hat.“ „Wenn Ihr Sohn kommt, wie würde es Ihnen da gehen?“ „Ich weiß es nicht, diese Frage ist schwer zu beantworten. … Ich hab es Ihnen schon gesagt, der reißt mir alles auf, mir geht es dann so 14
Es muss bei Bedarf ein und dasselbe Modul mehrmals abgeleitet bzw. verändert werden. Dies erkennen Sie in den Beispielen mit dem Verweis (1) und (2) am Ende der Modulbezeichnungen.
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Fallbeispiele zum Thema: Da-Sein-Arbeit
dreckig, weil ich wieder Mitleid bekomme. … Aber ich will nicht mehr zurück, wirklich nicht mehr.“ „Sie gehen auf gar keinen Fall mehr in die Wohnung zurück?“ „Nein, nein, nein Ich geh nicht mehr putzen, da wird es ausschauen, ich bin ja nicht deppert. … Und dann geht’s wieder los, das glauben Sie ja gar nicht. Nein, nein das bleibt dabei. Dort geh ich nicht mehr hin. Die Nachbarin hat gesagt, da schaut’s aus da drinnen in seinem Zimmer, er hat das Fenster auf gemacht, bei mir war alles tipptopp.“ „Wollen Sie es mir erzählen, was Ihnen in der Nacht für Gedanken durch den Kopf gegangen sind?“ „Ja, ich habe immer darüber nachgedacht, hat er einen Krebs oder ist es wieder ein Hilferuf? Es kann auch sein, dass er nicht mehr aus weiß und dass er sich einbildet, die Mutter ist eh eine gute Haut, net, … dass er mich zurückgewinnen will. Das stell ich mir vor.“ „ Braucht er Sie?“ „ Ja, … er kann nicht, … er kann nicht … der braucht mich.“ „Was braucht er?“ „ Alles. Ja … Ich hab’s Ihnen eh gesagt, dass ich immer da war. … Frühstück hat er mir gemacht, aber das andere … die Wäsche gewaschen und alles andere habe ich gemacht. …“ „ Wenn Sie jetzt da sitzen, dann ist anzunehmen, dass er jetzt in der nächsten Zeit hier nicht vorbeikommt.“ „ … dass er nicht vorbeikommt? Wieso nicht? … Wieso wissen Sie das?“ „Ich nehme es an, ich weiß es nicht.“ „ Ah, Sie nehmen es an, (nickt mit dem Kopf).“ „Er hat jetzt angerufen, …“ „ Und ich rühr mich nicht.“ „ Und es ist ihm ausgerichtet worden, dass Sie nicht mit ihm reden wollen.“ Frau Sohm nickt. „Jetzt hat die Fr. Maier angerufen, …“ „ Ja.“ „Und es ist ihr quasi wieder das Gleiche ausgerichtet worden.“ Frau Sohm nickt: „Mir kann eines passieren, was ich auch denke, wenn es ihm zu dick wird, sauft er sich an und bringt sich um. Das wird herauskommen. Ja, sind die zwei Sachen, entweder … ich wünsche ihm keinen Tod, wirklich nicht, aber wenn es noch so bitter ist für mich, weil ich weiß, er kann nicht existieren, er ist das gewohnt, ich war der Schani hinten und vorne, ich hab’s auch gerne gemacht, wenn ich’s können hab, ich hab mich alle fünf Minuten niedergesetzt, weil, sie sehen eh, dass
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Fallbeispiele
ich nichts bin, aber meine Wohnung, da hast du schon essen können draus, weil es ist ja nicht gewesen, dass ich sag ich muss schrubben. …“ „ Ja, ja.“ „ Wissen’S. …“ „ … Ihre Tochter ist ja nicht dafür, dass Sie wieder Kontakt aufnehmen mit ihm.“ „ Nein, nein, … ich hab ihr’s eh gestern erzählt, … ja, … sie hat es natürlich nicht geglaubt, sie hat gesagt, dass er schon öfter gesagt hat er hat den Krebs, aber …“ „Stimmt das?“ „ Ja, ihr hat er es erzählt, weil sie hat ja auch Krebs. … Er (der Sohn) muss ja krank sein, einmal kann er nicht Lulu machen, … das ist ja auch eine Krankheit … net – er hat den Drang, er kann nicht, … wie nennt man den das?“ „Harnverhalten. … Gesund ist er sicher nicht, er hat ja die Probleme mit dem Alkohol.“ „Erstens einmal, das schon, … wenn man das nimmt, … das gibt es ja gar nicht.“ „ … da redet man ja da schon von alkoholkrank“ „… na sicher, … des, des … gibt es nicht“ „ Und wenn es ein Hilferuf ist, was möchten Sie dann tun?“ „ … Ich kann es nicht momentan, wie gesagt, ich bin so verletzt, und ich möchte nicht ins Gras beißen, …. ich kann nicht zurückgehen, das geht nicht, wenn ich es auch gerne tun würde, … ich weiß ja nicht was er zusammenspinnt, …“
Frau Sohm spricht jetzt darüber, dass sie nur mit dem Pflegeberater über diese Probleme sprechen kann und nicht mit dem Schwiegersohn oder der Tochter. „ … aber der hat mich schon mögen, … der hat mich mögen, der Hans(Name geändert) … und da hat er dann im Rausch … da hat er nicht mehr gewusst … du Abschaum, (lacht) … alles hat er mich geheißen, alles was ihm gerade eingefallen ist. …“ „… aber wem kann man das erzählen, das kann man vielleicht Ihnen erzählen, ich weiß aber auch nicht was Sie sich denken, … also mein Schwiegersohn, der akzeptiert das nicht, weil der sagt, er hat zu seiner Mutter sein Lebtag lang kein schlechtes Wort gesagt, ich habe ihm (dem Schwiegersohn) bestätigt, dass es ja wirklich nicht normal ist, dass man seine Mutter beschimpft und dass sowohl die Tochter als auch der Schwiegersohn das Verhalten des Sohnes nicht akzeptieren können. …
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Fallbeispiele zum Thema: Da-Sein-Arbeit
oder wie er gesagt hat, du hast zu machen, was ich dir sage, ich bin der Herr, net, … ich weiß, … wie gesagt, … ich habe gesagt, (Name des Sohns) du hast mich entmündigt, entwürdigt, enteignet und mein eigenes Ich hast du mir auch noch gestohlen. Und das war’s, … das war’s.“ Frau Sohm berichtet von Albträumen, in denen ihr Sohn immer wieder vorkommt. „Wie sieht es in Ihnen aus nach all dem was Sie erlebten?“ „Schlecht, … schlecht, … wie soll ich Ihnen das beschreiben, ganz schlecht, … ich hab so Kopfweh bekommen, mir ist alles durch den Kopf gegangen, … ich glaub sogar dass ich ein Fieber hatte, … da drinnen (deutet auf die Brust/Bauch) tut es dann so weh, …“ „Das Herz tut weh?“ Frau Sohm nickt: „Das kann man eigentlich gar nicht so schildern, ich glaube … ich …“ „Wenn Sie sich etwas wünschen könnten, Ihren Zustand betreffend, was wäre das?“ „Was das wäre … dass das nicht kommen hätte dürfen …. weil er ja öfter gesagt hat – warum lebst du denn überhaupt noch, … da kommen dir ja schon so deine Gedanken … ja schon gar nicht mehr gehört … sein Schimpfen, … „Was müsste passieren, dass es Ihnen besser geht?“ „Gar nichts, es ändert sich nichts, im Gegenteil, die Angst ist da, was passiert morgen, wenn ich mich ins Bett lege ist es das Erste – was tut er jetzt, sitzt er wieder in der Küche und sauft er wieder, sitzt er da und fällt ihm die Zigarette hinunter oder sitzt er und weint er dass ihm der Rotz hinunter rinnt, das hat er stundenlang gemacht, und da soll ich kein Mitleid haben?“
Jetzt entsteht eine kurze Gesprächspause. Dann spricht Frau Sohm weiter. „Immer wieder versuche ich mich über das Fernsehen abzulenken. Ein bisserl hilft mir das ja. Niederlegen darf ich mich nicht. Da muss ich sofort an ihn denken. … Ich kann es nicht ändern. … Ich kann das nur Ihnen sagen, weil mich sonst niemand versteht.“ „Können Sie Ihrem Problem einen Namen geben?“ „Ja“, zuckt mit den Schultern und spricht weiter: „Psychisch … es ist psychisch.“ „Es ist ein psychisches Problem?“ „Es macht mich traurig.“ Nickt mit dem Kopf und spricht weiter: „Weil da hab ich Herzweh und dann muss ich weinen, nicht … dann packt es mich …“
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Fallbeispiele
Im weiteren Verlauf sprechen Frau Sohm und der Professional über das Verhalten ihres Sohnes, welches sie sehr kränkt. Das nächste Treffen wird für den kommenden Tag vereinbart. Gedankliches Resümee des Gespräches: In keiner Sequenz des eineinhalbstündigen Gesprächs wird der Wunsch geäußert wieder nach Hause zu gehen. Im Gegenteil, Frau Sohm betont mehrfach, dass dies nicht möglich ist. Ihre Entscheidung in die Betreuungseinrichtung zu gehen, scheint für den Professional, eine für sie unter mehreren Alternativen akzeptable Lösung zu sein. Dieses gilt es in weiterer Folge zu verifizieren.
Modul – Erkennen der Ressourcen / Auffälligkeiten Ressourcen Frau Sohm: • Macht auf sich aufmerksam (z. B.: sagt, dass ihr die Decke auf den Kopf fällt, geht zu Mitarbeiterinnen). • Kann Probleme formulieren (z. B.: sagt, dass sie ihr Sohn entmündigt hat). Auffälligkeiten Frau Sohm: Nach dem ersten vertiefendem Gespräch und der vorangegangenen Beobachtungen der Mitarbeiterinnen des Hauses können folgende Auffälligkeiten festgehalten werden: • Zieht sich ins Appartement zurück. • Vermeidet gesehen zu werden. • Nimmt aktiv keine Sozialkontakte auf. • Erzählt, dass sie nicht weiß, was sie den ganzen Tag über machen soll. • Sagt, dass ihr die Decke auf den Kopf fällt. • Formuliert für sich keine Lösung(en). • Kann oder will mit ihrer Tochter und / oder deren Mann über ihr Problem nicht sprechen. • Zeigt körperliche Beschwerden. • Betont auffallend oft, dass es zuhause nicht mehr geht. Auffälligkeiten Sohn: • Um in Kontakt mit seiner Mutter zu treten benützt dieser Lügen und spannt für dieses Vorhaben Unbeteiligte ein (lässt anrufen und gibt vor, an Krebs erkrankt zu sein).
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Fallbeispiele zum Thema: Da-Sein-Arbeit
Modul – Formulierung einer Gefühlsdiagnose (1) • Potentielle Angst und Unsicherheit aufgrund von mehrfach wiederholter Gewaltanwendung durch den Sohn. • Heimatverlust aufgrund von Verlust ihrer Wohnung. • Einsamkeit und Langeweile aufgrund von fehlender (Lebens) Aufgabe (hat sich zeitlebens um ihren Sohn gekümmert). • Rollenverlust als Mutter. • Gefahr des Verlustes der Sinngebung. • Gefahr des Identitätsverlustes durch kontinuierliche Kränkungen durch den Sohn. • Emotionale Überforderung aufgrund von fehlenden Handlungsoptionen. • Emotionale Orientierungslosigkeit aufgrund von Aussichtslosigkeit einer Verhaltensänderung ihres Sohnes. • Rückzug / Gefahr der sozialen Isolation aufgrund von Furcht vor einem Zusammentreffen mit ihrem Sohn. • sowie Scham, mit ihrem (betrunkenen) Sohn gesehen zu werden. Die Diagnose der „Gefahr von sozialer Isolation“ wird bei einer der weiteren Analysen verworfen, da Frau Sohm ein aktives Verhalten und Beziehung zu einer Person ihres Vertrauens, zu diesem Zeitpunkt zum Professional, aufnimmt.
Modul – Setzen einer Betreuungshandlung / Anwendung von Gefühlsarbeit (2) und Modul – Bewertung der Gefühlsdiagnose durch die Bewohnerin / Professional Die Qualität der Da-Sein-Arbeit wird von Frau Sohm beim vierten Treffen am 5. Juli (erstes Treffen 30. Juni, zweites am 3. Juli, drittes am 4. Juli) nach 48 Minuten des aktiven Zuhörens und der anschießenden Frage des Pflegeberaters wie sie sich jetzt fühle wie folgt beantwortet: „Das gefällt mir, wenn Sie mir zuhören. Das tut mir gut.“ „Wollen Sie, dass wir dies wiederholen?“ „Ja, sehr gerne. Ich brauche jemanden, dem ich das alles erzählen kann.“ Die nun folgende Textpassage aus dem fünften Treffen am 7. Juli soll die Nähe zwischen Da-Sein-Arbeit und Ablenkungsarbeit verdeutlichen. Nach zirka einer halben Stunde Gespräch über scheinbar Belangloses lenkt Frau Sohm das Gespräch auf ihre Hochzeit. Sie fand am 7.2.1961 statt. Der Sohn kam am 31.5.1960 zur Welt und ihre Tochter am 5.10.1958.
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Fallbeispiele
Frau Sohm wörtlich: „… des war … also … wie sagt man denn da … ja, eine Fehlzündung. … Das hat mich sehr gefreut. …“ „Was ist eine Fehlzündung?“ „… Na ja, … „Der Hans?“ Frau Sohm mit dem Kopf nickend: „… der Hans … da waren wir schon … von dem hätte ich noch 10 Kinder … ich hab aber nie Kinder bekommen … das kann ich ja nicht erzählen, das ist ja nicht möglich, … das geht ja nicht … . Na ja, das kann man nicht, (deutet auf die Kamera) … nicht das ich mich schämen tue … . Das passt ja da nicht hinein … es war … es war eine Fehlzündung …“ „Lassen wir’s bei der Fehlzündung.“ „Dafür haben wir auch geheiratet, damit ich (Frau Sohm) einen Namen gehabt habe … nicht … aber es war keine Liebesheirat sondern der Anstand war das … dass die Kinder … aber … ich hab ja das nicht wollen … aber, aber, wir sind trotzdem verschweißt gewesen … ich hab gesagt schau … wir waren nicht hab (umgangssprachlich für böse) … ich hab gesagt, geh deine Wege … nein, nein … wir zwei sind verschweißt … die Not, die schweißt dich zusammen … so ist das … so wäre es ja richtig … nicht, nicht … kommt noch mal ein Dreck, nicht … und … es war ein anständiger Mensch aber … es war … danach nichts mehr … . Das war aus Anstand. … Das war einmal und ich war schwanger und dann bin ich da gestanden. … das ist… da hat einer mitgespielt … wissen Sie das … weil … ich hab da noch getrauert um meinen ersten Mann …. Meine Schwester … die hat gesagt ‚komm, jetzt gehen wir fort … zieh dich schön an‘ … und dann war der Poidl (Name geändert) herunten … und da sind wir fort gegangen … aber, ich mach mich nicht schöner … ich bin kein so ein Mensch … jeder macht einmal … ich meine … wie gesagt, mein Mann war lange krank, wir haben auch keine Beziehung mehr gehabt durch die Krankheit, nicht … und dann war es halt so, … aber das war alles schon geplant von ihr … weil meine Schwester, die hat Kinder geliebt, … und die hat auch keines bekommen … … und, da hat sie gesagt ‚… jetzt bleibt’s bei mir da …‘. aber (klopft sich gegen die Stirn) das hab ich nicht kapiert, mein Ehrenwort nicht … ich mach mich nicht schöner wie ich bin … es liegt mir gar nicht … aber … ein Mensch ist aus Fleisch und aus Blut nicht … und da sind wir halt (rückt zum Pflegeberater und beginnt leiser zu sprechen) beisammen gelegen … da war so ein Bett (zeigt auf das ihre) … das war schmäler als das … und dann ist es halt passiert … nicht also ist eigentlich … (lacht) … da legt ihr euch zusammen’ hat sie (ihre Schwester) gesagt,
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Fallbeispiele zum Thema: Da-Sein-Arbeit
… aber das man so blöd ist, das muss man sich vorstellen … heast (Mundart) … der hat einen Ständer bekommen … ist ja klar … nicht (lacht) … heast wenn ich da liege bei ihm so … wir sind zusammen gelegen … na gut ist es … so ist es geschehen. … In der Früh macht sie (die Schwester) das Frühstück … sag ich, ich will keinen Kaffee … bin ich auch noch nicht drauf gekommen … ich war schon schwanger … hat mir schon gegraust vorm Kaffee … und das hat sie wollen … ich war ein armer Hund … die hat sich gedacht, vielleicht klappt es da …“ „Und, hat es geklappt?“ „Ja, auf einmal habe ich einen Bauch gehabt … und sie (ihre Schwester) sagt, das machen wir schon Claudia (Name geändert) … Claudia haben sie mich genannt, weil Mizi (Name geändert) das mag ich ja nicht … das machen wir schon‘, hat sie gesagt … da schreiben wir einen Brief dem Poidl … da bin ich noch nicht drauf gekommen heast … dass ein Mensch so blöd sein kann, das begreife ich heute auch noch nicht … jetzt schreiben wir dem Poidl einen Brief‘ hat sie gesagt … und da hat sie aufgesetzt … lieber Poidl, die Nacht ist nicht ohne Folgen geblieben, (beginnt zu lachen) … aber Poidl du bist für nichts verpflichtet … da hat’s noch nicht geschnallt bei mir … nicht … wir werden das schon machen hat sie gesagt … nicht also … du kannst dich ruhig … eh … mit einem ruhigen Gewissen … dass er da (unverständliches Wort) … nichts zu tun hat … – Und der Poidl hat mir das danach einmal gesagt. … Er … weist, Mama, den Brief glaube ich hab ich 20 mal gelesen … ja, anständig war er ja … er war anständig … ja … der Poidl hat gesagt, da ist … seine Mutter hat gesagt … Poidl die ist ja zu alt für dich … nicht schlecht … aber zu alt für dich (15 Jahre) … nein, das mach ich nicht hat er gesagt … da hat er einen Posten gehabt beim (Firmenname ist unverständlich) … wo sie die Möbel machen nicht … einen guten Job … ja … hat er gesagt, das mach ich nicht … das muss ich noch dazu sagen … wie er dann nach Hause gefahren ist am nächsten Tag … da, von meiner Schwester. … da hab ich gesagt, Poidl bleib bei mir da … da hab ich ihn eigentlich ganz gerne gehabt … sag ich bleib bei mir da … nein hat er gesagt, das geht ja nicht, du bist ja zu alt für mich … ich war aber hübsch … ich war eine hübsche Frau … ich war sehr hübsch … ja denk ich mir, hast eigentlich eh recht … aber wenn man einmal was zu tun hat, ist es halt einmal so, … dann … ich hätte ihn halt danach ganz gerne gehabt … sagen wir so, nicht … … na – geht nicht, … da ist er heim gefahren … da hab ich unterbrochen … und dann ist er da zusammengelaufen und dann ist er herunter gefahren … ah, da hat er mir zuerst das Geld … das ist auch nicht über
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Fallbeispiele
Nacht gegangen, weil … da hat er sein Urlaubsgeld herunter (aus OÖ nach Wien) geschickt … ich war ein armer Hund … ich bin … die bisserl Rente hab ich gehabt … 500 Schillinge … was hätt ich denn mit dem gemacht … hat er mir das Urlaubsgeld … ich war anständig … ich hab’s nicht angerührt … nichts … na und dann ist er herunter gekommen … (denkt nach) … da hab ich noch nicht entbunden gehabt, da war er dann schon da … und (nickt mit dem Kopf, zögert) … da hat er sich auch recht gefreut … ich hab ja so liebe Kinder gehabt … ich kann es ihnen gar nicht sagen, … so was Schönes von Kindern … (lächelt) … Sie lachen, das ist wahr … Und acht Monate später hat er mich dann geheiratet. Ziel der Zusammenkunft ist es zum einen Da-Sein-Arbeit zu leisten und zum anderen im Rahmen des Gesprächs – sofern möglich – die definierten Pflegediagnosen durch Frau Sohm bewerten zu lassen und mögliche weitere Lösungen einzuleiten. Im ersten vertiefenden Gespräch am Vortag betonte Frau Sohm ausdrücklich ihr Vertrauensverhältnis zum Professional. Sie könne derzeit mit niemand anderem über ihre Situation sprechen. Während des Gespräches bestätigen sich die Gefühlsdiagnosen der Angst und der Unsicherheit, der großen Kränkung sowie der Langeweile. Ebenso bestätigt sich die emotionale Orientierungslosigkeit, da ihr Sohn keine Einsicht zeigt einen Entzug zu machen und keinerlei finanzielle Ressourcen besitzt, sich die Sucht weiter zu finanzieren. Allerdings muss die Gefühlsdiagnose – emotionale Überforderung – verworfen werden, da sie sich ihrer Entscheidung, in eine Betreuungseinrichtung zu gehen und ihren Sohn zukünftig in keinster Weise mehr zu unterstützen voll bewusst ist und von dieser Entscheidung in keiner Gesprächssequenz abweicht. Frau Sohm beschäftigte sich zeitlebens auch wenn ihr Sohn körperlich zugegen war, alleine. Wie sie selbst betont, ist sie diese Situation gewohnt und fühlt sich nicht einsam. Aus diesem Grund wird die Gefühlsdiagnose – Einsamkeit – verworfen. Im Gespräch äußert Frau Sohm jedoch den Wunsch, die Langeweile und das Alleine Sein verändern zu wollen. Die Gefühlsmethode der gegenseitigen Geschichten und die Methode des Denkens in Bildern, kamen zur Anwendung: „Ich meine, Sie waren einmal im Rollstuhl … haben Sie zu mir gesagt … Sie waren drei Jahre im Rollstuhl haben Sie zu mir gesagt …“ „Gute drei Jahre“
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Fallbeispiele zum Thema: Da-Sein-Arbeit
„ …waren Sie im Rollstuhl und wenn Sie da so an den Anfang denken, da haben Sie auch nicht das Gefühl gehabt, dass Sie da noch einmal heraus kommen oder …“ „Nein“ „Und irgendwie ist das mit der Zeit auch gekommen, dass Sie eine gewisse Perspektive gehabt haben, dass Sie … „ unterbricht „…da hab ich gar nicht viel gemacht, da werden Sie lachen … da war gar nicht so viel dran …“ „Na ja, es ist eine gewisse Zeit vergangen und in dieser Zeit ist schon auch etwas passiert und irgendwann haben Sie dann auch gesagt, jetzt möchte ich es probieren ob ich da heraus komme, aus dem Rollstuhl … „ „Ach so das, ja ja, … das hat sein müssen … zwei Schritte und dann drei … das war lange, dass ich drei, vier Schritte habe machen können … “ Frau Sohm bestätigt und erzählt nochmals, dass sie nur zum Einkaufen hinaus geht und dann wörtlich: „… vorgestern war es, da bin ich sogar ein Stückerl hinauf gegangen bis zu den Enten … aber das ist dann schon genug, …“ „Wie war das, als Sie bei den Enten waren?“ Frau Sohm erzählt, dass sie eine halbe Stunde bei den Enten stehen geblieben ist und ihnen zugesehen hat. Der Pflegeberater steIlt die Frage, welches Gefühl sie bei den Enten hatte? „Ja, glücklich – nicht … jetzt habe ich wieder Vieherl gesehen.“ Frau Sohm beschäftigt sich gerne mit Tieren, sie hat früher auch selbst Tiere gehabt. „Ja, mir hat es gefallen wenn ich mit den Viehchern … und überhaupt … da rennen immer die Katzen (zeigt zum Fenster) herum …“ Der Pflegeberater macht Frau Sohm den Vorschlag, beim nächsten Treffen mit ihr hinauszugehen. Bilder zeigen Perspektiven auf. Die Gefahr, ihre Identität zu verlieren kann im Zuge des Gespräches ebenso verworfen werden. Frau Sohm zeigt deutliche Bestrebungen und Bemühungen ihre Identität behalten zu wollen. Begründung dieser Aussage kann aus folgender Gegebenheit abgeleitet werden: Am Ende des siebenten Treffens (18. Juli) vereinbaren der Pflegeberater und Frau Sohm für den 27. Juli einen gemeinsamen Kaffeehausbesuch. Als der Pflegeberater wie vereinbart, um 14.30 an die Türe ihres
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Fallbeispiele
Appartements klopft, öffnet Frau Sohm nicht. Nach mehreren Versuchen geht der Pflegeberater zum Empfangspersonal des Hauses um nachzufragen, ob sie über den Verbleib von Frau Sohm Bescheid wissen. Sehr überrascht trifft der Pflegeberater am Empfang auf Frau Sohm. Sie wirkt sehr aufgeregt. Im nachfolgenden Gespräch stellt sich heraus, dass sie sich des vereinbarten Termins nicht mehr sicher war und jetzt beim Empfang nachfragen wollte. Nach Klärung der Situation schlägt Frau Sohm vor, jetzt einmal ins Appartement zu gehen um eine Zigarette zu rauchen. Anschließend freue sie sich schon auf den Kaffeehausbesuch. Der Pflegeberater nimmt ihren Vorschlag gerne an und beide gehen ins Appartement von Frau Sohm. Auf dem Weg dort hin und im Appartement erzählt sie dem sichtlich erstaunten Pflegeberater, dass sie sich heute Vormittag mit ihrem Sohn getroffen habe, mit diesem im Kaffeehaus gewesen sei und dass sich in der Zeit vom 18. Juli bis heute (27. Juli) folgendes ereignet habe: Am 20. Juli rief ihr Sohn am Empfang an und ersuchte, mit seiner Mutter verbunden zu werden. Nachdem sich die diensthabende Mitarbeiterin des Empfanges die Erlaubnis bei Frau Sohm eingeholt hatte, wurde sie mit ihrem Sohn verbunden. Bei diesem Telefonat vereinbarte sie mit ihm ein Treffen für den nächsten Tag. Nach dem sie sich im Empfangsbereich der Betreuungseinrichtung trafen, spazierten sie gemeinsam in den angrenzenden Park. Begleitet wurden sie von einem sehr „schlimmen Hund“, welchen sich ihr Sohn aus dem Tierschutzhaus geholt habe. Sie erzählt, dass sie sich in keinster Weise vor ihrem Sohn gefürchtet habe und sehr gerne mit ihm spazieren gegangen sei und dass der Hund für einige Turbulenzen sorgte. Er sei in den Ententeich im Park gehüpft. Einige Zeit davongelaufen. Als er zurückkam habe er sich nicht einfangen lassen. Und noch einiges mehr habe er angestellt. In den letzten Tagen habe sie auch einige Male mit ihrem Sohn telefoniert und heute habe er ihr ein Wertkartenhandy gebracht auf welchem er sie in Zukunft anrufen wird um Kosten zu sparen. Dem Professional scheint aufgrund der systematischen Analyse ein Identitätsverlust als unrealistisch. Die verbliebenen Pflegediagnosen, werden im Folgenden genannt:
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Fallbeispiele zum Thema: Da-Sein-Arbeit
Formulierung einer Pflegediagnosen (2) • Potentielle Angst und Unsicherheit aufgrund von mehrfach wiederholter Gewaltanwendung durch den Sohn. • Heimatverlust aufgrund von Verlust ihrer Wohnung. • Langeweile aufgrund von fehlender (Lebens) Aufgabe (hat sich zeitlebens um ihren Sohn gekümmert). • Rollenverlust als Mutter. • Gefahr des Verlustes der Sinngebung. • Emotionale Orientierungslosigkeit aufgrund von Aussichtslosigkeit einer Verhaltensänderung ihres Sohnes.
Modul – Formulierung des / eines gemeinsamen Pflege- / Betreuungszieles und Festlegen des Outcomes • Annehmen-Können der Situation. • Sich Alternativen vor Augen führen (Aussage Frau Sohms: „Es war noch das Beste was ich machen konnte“ ). Auf die Frage des Pflegeberaters nach ihrem augenblicklichen Befinden, antwortet Frau Sohm: „Es geht mir sehr gut. Ich bin froh, mit meinem Sohn wieder Kontakt zu haben und zu wissen, wie es ihm geht.“ Weiters führt Frau Sohm an, dass sie sich unter diesen Umständen (der Sohn kommt zu ihr, sie sieht die Wohnung nicht und nicht wie diese aussieht, …) wohl fühlt und sich gerne mit ihm trifft. Frau Sohm hat sich auch schon ein nächstes Treffen mit ihrem Sohn vereinbart. Nachdem Frau Sohm mehrere Zigaretten raucht und dem Pflegeberater von den Vorkommnissen der vergangenen Woche berichtet, machen sich die beiden auf den Weg ins Cafe. Das Gesprächsthema auf dem Weg dorthin, im Cafe und auch auf dem Weg zurück bleibt ihr Sohn. Die von Frau Sohm an den Pflegeberater immer wieder gestellte Frage ob sie richtig gehandelt habe, beantwortet dieser mit ja. Zusammenfassend kann gesagt werden: Es besteht eine wesentliche Verbesserung des Gemütszustandes von Frau Sohm seit dem letzten Treffen. Sie • ist gut aufgelegt. • freut sich auf das nächste Treffen mit ihrem Sohn. • zeigt keine Zeichen der Angst vor ihrem Sohn.
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Fallbeispiele
• möchte nicht mehr in die Wohnung zu ihrem Sohn zurück. Der Heimatverlust scheint zurzeit nicht mehr gegeben zu sein – muss aber beobachtet werden. • zeigt keine Zeichen eines Rollenverlusts. • zeigt keine Zeichen einer emotionalen Orientierungslosigkeit. Dieses Phänomen sollte dennoch bewusst weiter beobachtet werden. • zieht sich nicht zurück. Die Gefahr eines Rückzugs ist nicht gegeben. Ob Frau Sohm die Situation annehmen kann und sich weitere Alternativen der Lebensgestaltung (Wohngestaltung) alternativ vor Augen führen kann, muss weiter beobachtet werden bzw. bedarf in Zukunft eventueller Unterstützung. Die beiden Module „Festlegen des möglichen Outcomes durch die Bewohnerin / Professional / Team“ und „Regelmäßiges Messen des Outcomes und gemeinsames Abgleichen der Zielsetzung“ konnten insofern nicht durchgeführt werden, da bereits Wirkungen (Outcome) der Pflegemaßnahmen vor der Formulierung dieser Module konkret abgeleitet werden konnten.
11.4.2 Beispiel einer Frau in ihrer Losigkeit Irritation – Auslöser für Gefühlsarbeit Frau Los (Name geändert) sitzt an jenem Vormittag auf einem Sessel am Gang der Betreuungseinrichtung für Menschen, von denen der Großteil schon sehr lange lebt. Es ist ihre gebückte Körperhaltung und der starr auf den Boden gerichtete Blick, welche den Pflegeberater irritieren. Er bleibt vor ihr stehen. Es ist sein Angebot der Kontaktaufnahme. Nach einiger Zeit hebt Frau Los ihren Kopf und blickt dem Pflegeberater in die Augen. Dieser Blick lässt im Pflegeberater das Gefühl entstehen, einer sehr traurigen Frau gegenüber zu stehen. Weder Frau Los noch der Pflegeberater sagen etwas. Sie schauen sich nur an und dann zeigt Frau Los auf den neben ihr stehenden Sessel. Jetzt setzt sich der Pflegeberater und Frau Los beginnt zu sprechen. Sie spricht sehr langsam und die von ihr gewählte Sprachmelodie lässt den Pflegeberater erkennen, dass sie ihm etwas ganz Wichtiges mitzuteilen hat. „Mein Gedächtnis ist ein Wirrwarr!“ und nach einer kurzen Stille in der der Pflegeberater das tiefe Atmen von Frau Los hören konnte, spricht sie weiter. „Mein Neffe hat mir versprochen mich abzuholen. Ich bin enttäuscht! Hat er mich alleine gelassen?
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Fallbeispiele zum Thema: Da-Sein-Arbeit
Er ist mein einziger Verwandter und jetzt lässt er mich alleine! Ich kann gar nichts machen. Sie sehen, ich bin am Ende und er will nicht! Vielleicht, weil er zu wenig Geld bekommt? Es ist alles verloren. Ich hatte eine schöne Wohnung. Ich weiß nicht ein noch aus! Ich bräuchte natürlich jemanden, der sich ernstlich für mich interessiert. Ich hatte Freunde, aber die haben sich in letzter Zeit verflüchtigt. Es ist nichts mehr zu holen bei mir. Ich habe in meinem Leben viel gelernt … Sprachen … Englisch und Französisch. Ich habe diese Sprachen an der Hochschule für Touristik weitergegeben. Meine Schule im 1. Bezirk habe ich mit Erfolg absolviert. Und dann ist es mit mir bergab gegangen. Mein Gehirn hat ausgelassen. Wieso? – Das ist mir ein Rätsel.“ Jetzt nimmt der Pflegeberater wahr, dass Frau Los seine Hand hält. Irgendwann während sie dem Pflegeberater ihre Geschichte erzählt, hat sie nach dieser gegriffen. Sie hält sie ganz fest und dieses Festhalten empfindet der Pflegeberater als Auftrag. Modul – Erkennen der Ressourcen / Auffälligkeiten Ressourcen Frau Los: Als Frau Los bei dieser Erstbegegnung mit dem Pflegeberater spricht, ergreift sie seine Hand und hält diese fest. • Frau Los ist fähig, Körperkontakt aktiv aufzunehmen (Halten der Hand). • Sie kann ihre Gedanken verbalisieren. Auffälligkeiten Frau Los: • Frau Los nimmt eine gebückte Körperhaltung ein. • Frau Los zeigt einen starren, auf den Boden gerichteten, Blick. Modul – Formulierung einer Gefühlsdiagnose Dieses An-der-Hand-Halten ist ein Auftrag an den Pflegeberater. • Losigkeitssyndrom aufgrund von sich machtlos fühlen, von sich hoffnungslos fühlen, von sich ratlos fühlen, … 129
Fallbeispiele
Modul – Bewertung der Gefühlsdiagnose durch die Bewohnerin Frau Los gibt nonverbal zu erkennen, dass sie die Nähe des Pflegeberaters wünscht und er in ihre Gefühlswelt eintreten darf. Dieser Wunsch bzw. diese Erlaubnis ist im aktiven Aufnehmen des Blickkontaktes sowie in dem, mit der Hand vorgenommenen Hinweis, an den Pflegeberater, sich auf den leeren, neben ihr stehenden Stuhl zu setzen, zu erkennen. Modul – Formulierung des / eines gemeinsamen Pflege- / Betreuungszieles und Festlegen des Outcomes • Sie spüren lassen, sie ist ein soziales Wesen. Damit wird einem menschlichen Grundbedürfnis, in Gemeinschaft leben zu können, nachgekommen. Modul – Setzen einer Betreuungshandlung / Anwendung von Gefühlsarbeit • Da-Sein-Arbeit: Der Pflegeberater setzt sich zu ihr und ist „mit ihr in der Welt“ und bei ihr. Modul – Bewertung des Outcomes durch die Bewohnerin • Nicken und Lächeln. Modul – Bewertung des Outcomes durch den Professional Nach einigen Minuten drückt Frau Los dem Pflegeberater die Hand ganz leicht um sie anschließend los zu lassen. Der Pflegeberater und Frau Los blicken sich jetzt in die Augen. Nach einer Weile nickt Frau Los und der Pflegeberater hat das Gefühl, sie durch sein Da-Sein auf ihrem Weg aus der Fassungslosigkeit begleitet zu haben. Das Loslassen seiner Hand durch Frau Los sowie ihr anschließendes Nicken sind für den Pflegeberater ein „Fassungszeichen“. „Kann ich noch etwas für Sie tun?“ fragt der Pflegeberater. „Nein“, antwortet Frau Los und das Nein wird von einem ganz leichten Lächeln begleitet. „Dann gehe ich jetzt“, sagt der Pflegeberater. „Ja“ antwortet Frau Los, hebt ihre rechte Hand und winkt ganz leicht. Die Module „Regelmäßiges Messen des Outcomes und gemeinsames Abgleichen der Zielsetzung“ sowie „Setzen von weiterer Gefühls- / Pfle130
Fallbeispiel zum Thema: Ablenkungsarbeit
gearbeit“ haben bei diesem Fallbeispiel keine Notwendigkeit. Im Hier und Jetzt in der Begegnung zwischen Frau Los und dem Pflegeberater wird Gefühlsarbeit erfolgreich eingesetzt. Ebenso kommt es zu einem Präventiveffekt im Sinne eines ersten diagnostischen Prozesses. Die Da-Sein-Arbeit bei Frau Los umfasst insgesamt eine Stunde.
11.5 Fallbeispiel zum Thema: Ablenkungsarbeit 11.5.1 Beispiel eines Mannes, der sein Gehen als Niederlage erlebt Bei diesem Beispiel der Ablenkungsarbeit handelt es sich um eine Begegnung Mitte der 90er Jahre. Zu diesem Zeitpunkt gab es noch keine Kenntnis über Gefühlsarbeit. Der Pflegeprozess lag in den Anfängen und Pflegediagnosen waren in Österreich noch kein durchgehender Begriff. Dieses Beispiel zeigt dennoch eindrücklich Ergebnisse fragmentierter Gefühlsarbeit, deren Möglichkeiten und Chancen. Sie wurden in diesem Beispiel weder prozesshaft verarbeitet noch wurden sie alle genutzt. Herr Leitner (Name geändert) ist 84 Jahre alt und war von Beruf Lehrer. Er lebt seit zirka zwei Jahren im Pflegeheim und ist durch seine fortschreitende Parkinsonerkrankung in seiner Mobilität eingeschränkt. Der Pflegeberater beobachtet das tägliche Mobilitätstraining von Herrn Leiter. Es ist gekennzeichnet durch Stöhnen, lautes Atmen und verzerrtem Gesicht. „Ich bin vorhin, als Sie mit einer Begleitperson zu diesem Tisch gegangen sind dort drüben auf der Bank gesessen und habe Sie beobachtet“, sagt der Pflegeberater „Und während ich Sie so beobachtete entstand in mir eine Frage, welche ich Ihnen jetzt gerne stellen würde. Haben Sie Interesse daran?“ Herr Leitner nickt. „Wie erleben Sie ihr Gehen?“ Nach einer kurzen Pause beginnt Herr Leitner zu sprechen. „Ich erlebe das Gehen jedes Mal als Niederlage. Ich weiß, dass sich meine Situation nicht mehr verbessern wird. Ich möchte lieber heute sterben als morgen. Ich weiß, dass ich das nicht beeinflussen kann. Ich kann keine Freude mehr erleben. Ich kann mir meine Therapie und 131
Fallbeispiele
Pflegekosten nicht mehr lange leisten. Ich stehe vor dem finanziellen Ruin. Ich weiß nicht, wie es mit meiner Frau weiter geht.“ Jetzt entstand eine Pause. Dem Pflegeberater ging das Gedicht des Panthers durch den Kopf: Der Panther (Rilke 1902): Im Jardin des Plantes, Paris Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe so müd geworden, dass er nichts mehr hält. Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt. Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte, der sich im allerkleinsten Kreise dreht, ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte, in der betäubt ein großer Wille steht. Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein, geht durch der Glieder angespannte Stille – und hört im Herzen auf zu sein.
Nach einiger Zeit unterbricht der Pflegeberater die Stille und stellt Herrn Leitner die Frage, wie er sich und seine Fähigkeiten, bezogen auf das Gehen, benoten würde. Seine Antwort ist: „Mit Nicht genügend!“ Nach einer weiteren Pause fragt der Pflegeberater Herrn Leitner, wie er als Pädagoge Schülerinnen, deren Leistung er mit Nicht genügend beurteilt hatte, behandelte. Seine Antwort: „Ich habe nur ganz selten die Note – Nicht genügend – gegeben. Mir war es wichtig den Menschen als Ganzes zu sehen und nicht nur seine Leistung.“ Jetzt fragt der Pflegeberater Herrn Leitner, ob er wissen möchte, welches Gefühl ihn im Moment beschäftigt. Und als Herr Leitner nickt, sagt der Pflegeberater: „Ich habe das Gefühl, Sie können im Gehen der heutigen Strecke keine von Ihnen erbrachte Leistung erkennen.“ Herr Leitner nickt wieder und nach einer kurzen Pause, sie ist durch die Regungslosigkeit von Herrn Leitner gekennzeichnet, sagt er: „Ich kann meine augenblickliche Situation nicht in Worte fassen. Sie erdrückt mich.“
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Fallbeispiel zum Thema: Ablenkungsarbeit
Eine Stille entsteht und als Herr Leitner sie unterbricht, klingt seine Stimme gefasst. „Ich weiß, dass sich daran nichts verändern wird. Früher habe ich gerne klassische Musik gehört, bin gerne Schi gefahren und habe mich gerne bewegt.“ „Wo sind Sie Schi gefahren“? fragt der Pflegeberater. „Auf dem Bödele“, antwortet Herr Leitner sehr spontan. „Wie sieht es denn auf dem Bödele aus?“ fragt der Pflegeberater. „Ich war noch nie dort. Welche Berge kann man sehen und welche Bäume? Wie ist die Beschaffenheit der Pisten?“ Und Herr Leitner beginnt zu erzählen. Er erzählt lange aber Zeit ist in diesem Jetzt kein Thema. Nach Ende des Monologs schweigt Herr Leitner. Mit der Frage: „Haben Sie während des Erzählens in Ihren Gedanken Bilder von der Landschaft, von den Pisten und vom Schifahren gesehen?“ unterbricht der Pflegeberater die neuerlich entstandene Stille. „Ja!“ ist die spontane Antwort von Herrn Leitner. Und in der Sprachmelodie ist die Einzigartigkeit seines jetzt Wiedererlebten klar zu erkennen. „Möchten Sie mir sagen, welche Gefühle Sie in diesem Augenblick verspüren?“ fragt der Pflegeberater. Herr Leitner schweigt eine Weile. Dann sagt er: „Es sind wunderschöne Gefühle.“ „Die Entscheidung, an Wunderschönes zu denken, steht uns frei.“ „Ja.“ Jetzt kehrt Stille ein und nachdem einige Minuten vergangen sind, hebt Herr Leitner seinen Kopf, blickt dem Pflegeberater in die Augen und sagt: „Ich habe Sie verstanden.“ Nach dieser Aussage sitzen der Pflegeberater und Herr Leitner noch einige Zeit schweigend am Tisch. Dann begegnen sich ihre Blicke und werden von einem Nicken gefolgt. Dieses Nicken ist für den Pflegeberater das Zeichen für die Beendigung der Ablenkungsarbeit. Er begegnet Herrn Leitner noch oft. Und das Markenzeichen ihre Begegnungen ist die Aussage von Herrn Leitner: „… ah! Bödele!“ Und die Erinnerung an ein Lied von Andre Heller lässt ihn den Merksatz formulieren: „Die wahren Abenteuer sind im Kopf und sind sie nicht im Kopf, dann sind sie nirgendwo“
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Resümee und Ausblick
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Resümee und Ausblick
Das Konzept der Gefühlsarbeit stellte sich in der Praxis als höchst wirksam heraus: überall dort, wo das Zusammenspiel und die Zusammenarbeit auf eine „geöffnete“ Beziehungs- bzw. Gefühlsebene traf, konnten im Vorfeld nicht zu erahnende Erfolge erzielt werden. Die Autorinnen hatten bei den Klientinnen nie Ablehnung erfahren: Eine wahrgenommene Irritation als Hilferuf im Gefühlsprozess öffnet Menschen für ihr wahrgenommen sein als Mensch. Das Erkennen, was Gefühlsarbeit alles leisten kann, generiert Motivation, bringt den Teams Freude und lässt Pflege als eine wertschätzende und sinnvolle Arbeit erkennen und verspüren. Verhaltensweisen konnten durch die Erkenntnisse aus der Neurobiologie besser verstanden und adäquater in den Ansätzen der humanistischen und interaktionistischen Modelle umgesetzt werden. Gefühlsarbeit = Erfolgsarbeit Die Gesellschaft setzt große emotionale Erwartungen in die Berufsgruppe der Pflegenden. Gefühlsarbeit kann helfen, die emotionalen Bedürfnisse stärker in den Vordergrund von Gesundheitsarbeit zu rücken. Dies scheint umso wichtiger als wir wissen, „… die Psycho-NeuroImmunologie (mag) noch so eindrucksvoll belegen, wie stark die psychische Verfassung das Immunsystem und damit die Prozesse der Erkrankung und Gesundung steuert, (und mag) Gesundheit und Krankheit als Produkt sozialer Beziehungen begreifen – der gesamte Medizinbetrieb bleibt in seinem röhrenförmigen Denken und den ritualisierten Handlungen verhaftet: Einer „Diagnose“ genannten mechanischen Zuordnung von Beschwerden zu ein, zwei Körperfunktionen folgt eine „Therapie“ genannte Verabreichung von ebenso vielen Chemikalien:“ (Langbein 2009, 135f.). Die Kosten für Arzneimittel steigen jährlich doppelt so rasch wie alle anderen Ausgaben für den Medizinbetrieb. Ist die österreichische Gesellschaft wirklich so krank? Oder unterwirft sie sich den ausgefeilten Marketingstrategien der Pharmakonzerne, die glauben machen wollen, Gesundheit wird durch Medikamente hergestellt? Es wird Zeit, auch den Forschungsergebnissen aus Public Health, aus den Sozial- und Kulturwissenschaften und aus der Neurobiologie Glauben zu schenken und einen Paradigmenwandel insofern zu initiieren, dass auch vermehrt Beziehungsarbeit als professionelle Gesundheitsarbeit Anwendung findet. Pflege kann dazu einen außerordentlichen Beitrag leisten. Damit würde eine Forderung vieler Psychologinnen, Psychotherapeutinnen, Sozialwis-
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Resümee und Ausblick
senschaftlerinnen und Neurobiologinnen nach einem menschlicheren und möglicherweise zielorientierteren und effektiveren Umgang mit Klientinnen im Gesundheits- und Sozialwesen Ausdruck verliehen. Voraussetzung ist, Gefühlsarbeit als ein Selbstverständnis in den Dienstleistungen zu betrachten. Dazu müssen Rahmenbedingungen wie bereits erwähnt forciert werden. Gefühle und Gefühlsarbeit sind eine Ressource, die in der täglichen Arbeit auf allen Ebenen vernachlässigt werden. Sie können aber belebt und institutionalisiert eingebracht werden. Dies zu tun, unterliegt einem Wertemanagement einer Organisation, das nebst betriebswirtschaftlichen Vorteilen (Wirkung auf Klientinnen und Mitarbeiterinnen) auch volkswirtschaftliche hervorbringen kann. Stellt sich nur die Frage, wer hat Interesse an Gefühlsarbeit und wer aus welchen Gründen nicht?
Aufruf Wir rufen im Rahmen der Gesundheitsarbeit zu mehr Mut zur bewussten und als Arbeit nachgewiesenen Gefühlsarbeit auf. Wir freuen uns über Ihre Beispiele und jede Art von Diskurs und konstruktiver Kritik. Bleiben Sie mit uns in Kontakt und unterstützen Sie die Weiterentwicklung dieses Konzepts. Sie finden uns unter www.gefuehlsarbeit.com Ein herzliches Danke für Ihren wertvollen Beitrag!
Ihre Silvia Neumann-Ponesch
Ihr Alfred Höller
In diesem Sinne … „…spann deine Schwingen flieg Ikarus nicht das Gelingen, nur der Versuch zählt am Schluss“ …
Wilfried (aus dem Lied „Ikarus“)
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Wovon ist die Rede bei diesen Gesichtern? Ihr Minen-Spiel lässt Ver-Mutungen zu als Indiz dafür, dass ihnen „Sprache“ hat Sinn. (aus dem Japanischen wörtlich übersetztes Gedicht, Hugo Neumann, Februar 2006; heute September 2010: 91ig jährig)
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