Christine Flynn
Geborgen wie noch nie
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Christine Flynn
Geborgen wie noch nie
Vier Tage und fünf Nächte sind die junge Tierärztin Melissa Porter und der erfahrene Pilot Nick Magruder nach einer Notlandung in der Wildnis von Harbor Island aufeinander angewiesen. Trotz furchtbarer Kälte, Angriffen von Bären und angsteinflößenden Gewitterstürmen hat sich Melissa noch nie so geborgen gefühlt. Sie hat sich unsterblich in den attraktiven Nick verliebt – ahnt aber, dass es keine gemeinsame Zukunft für sie geben wird. Denn Nick lehnt jede Bindung entschieden ab – seine Scheidung hat tiefe Wunden hinterlassen…
© 2003 by Christine Flynn Originaltitel: „Four Days, Five Nights“ erschienen bei: Silhouette Books, Toronto in der Reihe: SPECIAL EDITION Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V. Amsterdam © Deutsche Erstausgabe in der Reihe BIANCA Band 1427 (16/2) 2004 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg Übersetzung: Michaela Grünberg Fotos: getty images
1. KAPITEL Es war Zeit, wieder nach Hause zu fahren. Höchste Zeit. Er hatte seine Abreise lange genug vor sich hergeschoben. Nick Magruder ignorierte das unangenehme Gefühl, das den Gedanken in seiner Magengrube auslöste, während er das Rollfeld des winzigen Flughafens von Harbor Island entlang zu einer der Cessnas marschierte. Der milde Oktoberwind zerzauste ihm das dunkle Haar. Die relativ abgeschiedenen SanJuanInseln im Nordwesten des Staates Washington waren genau der richtige Ort gewesen, um für eine Weile vor dem Alltag zu flüchten. Nick hatte jedoch nie vorgehabt, dort zu bleiben. Jedenfalls nicht für die sechs Monate, die es letztendlich geworden waren. Am hinteren Teil der Maschine angekommen, ließ Nick seine Tasche neben eine der Kisten fallen, die er vorhin dort abgestellt hatte, und öffnete die Ladeluke des Flugzeuges. Er würde Harbor vermissen. Die Menschen ebenso wie das vergleichsweise unbeschwerte Leben, das er hier geführt hatte. Aber er wusste, dass man vor seinen Sorgen nicht für immer davonlaufen konnte. Der Besuch bei seinem alten Freund Sam Edwards, den er noch von der Flugschule her kannte, hatte ihm eine sehr willkommene Verschnaufpause verschafft. Sam und sein Partner Zach McKendrick unterhielten zusammen eine Charterfluggesellschaft und erstickten regelrecht in Arbeit. So ergab es sich, dass Nick, der ohnehin keine anderen Pläne gehabt hatte, als Aushilfspilot eingesprungen war – eine perfekte Übergangslösung für alle Beteiligten. Jedenfalls bis zu dem Moment, als Sam ihn gefragt hatte, ob er nicht als dritter Teilhaber bei E&M Flights einsteigen wolle. Nick liebte das Fliegen, aber er hatte zu Hause ein eigenes Geschäft, und dort wartete zudem ein riesiger Berg unerledigter Dinge auf ihn. Allein schon deshalb stand es für ihn völlig außer Frage, auf Harbor Island zu bleiben. Sam wusste das und war entsprechend zurückhaltend mit seinem Vorschlag an Nick herangetreten. Er hatte ihn nicht gedrängt. Noch nicht. Und um Sam von vornherein keine Gelegenheit dazu zu geben, hatte Nick es für das Beste gehalten, ihn vor vollendete Tatsachen zu stellen. Die Saison war vorbei, Sam und Zach konnten die anfallenden Aufträge ab jetzt wieder problemlos allein bewältigen, und somit sah Nick nicht den geringsten Anlass, seinen Aufenthalt noch weiter auszudehnen. Insbesondere, weil Sam nicht der Einzige war, der versuchte, ihn durch diskrete, aber wohl dosierte Bemerkungen zu überreden, genau das zu tun. Gerade gestern hatte Maddy, die ortsansässige Inhaberin des Road End Cafes Nick darauf hingewiesen, dass es nicht schaden konnte, wenn er der neuen Tierärztin, Dr. Melissa Porter, einen Besuch abstatten würde, um sie auf Harbor willkommen zu heißen. Die besagte Dame war vor drei Tagen aus Los Angeles eingetroffen, wo sie, wie Nick annahm, wahrscheinlich ihren Lebensunterhalt damit bestritten hatte, den pummeligen Schoßhündchen reicher Hollywoodgrößen eine Diät zu verordnen. Maddy, ein rothaariger untersetzter Wirbelwind mit dem Herzen am rechten Fleck, war fest davon überzeugt gewesen, Nick und Melissa würden sich bestimmt gut verstehen, dafür hätte sie ein untrügliches Gespür. Doch bevor Maddy ihre Überzeugungsarbeit weiter vorantreiben konnte, hatte Mrs. Sykes, die Frau des Bürgermeisters ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht, indem sie Nick kurzerhand darüber informierte, dass die bloße Anwesenheit einer allein stehenden Person bei Maddy eben dieses untrügliche Gespür hervorrief. Und das sei nur einer der Gründe, warum es pure Zeitverschwendung wäre, sein Glück bei Dr. Porter zu versuchen. Sie würde
ohnehin spätestens im Winter aufgeben und ihre Sachen packen, da sie wegen ihres jugendlichen Alters und der dadurch bedingten Unerfahrenheit den Anforderungen, die die Behandlung wild lebender Tiere an sie stellte, einfach nicht gewachsen sein würde. Des Weiteren fand Mrs. Sykes es für eine Frau reichlich ungewöhnlich, eine Arbeitsstelle so weit entfernt von ihrem Zuhause anzunehmen, und sie vertrat die Ansicht, es gäbe nur zwei plausible Erklärungen dafür: Entweder rannte Dr. Porter vor einem Mann davon, oder sie war auf der Suche nach einem. Nick sah das zwar etwas anders. Seiner Meinung nach konnten vielerlei Umstände einen Menschen dazu veranlassen, Abstand von seinem gewohnten Umfeld zu suchen. Aber das behielt er für sich. Melissa Porter ging ihn schließlich nichts an, und so sollte es auch bleiben. Nicht genug damit^ dass Maddy alle Register zog, um ihn mit just dieser Melissa Porter zu verkuppeln, auch Mrs. Sykes hatte ihre eigenen Vorstellungen davon, mit wem er sich verabreden sollte, und zeigte große Beharrlichkeit bei dem Vorhaben, Nick und ihre Nichte miteinander bekannt zu machen. Es war wirklich Zeit zu gehen. Zuvor aber musste das Flugzeug, das er gerade belud, in die Spezialwerkstatt nach Seattle gebracht werden, bei der Sam die jährliche Generalüberholung durchführen ließ. Er griff nach der Kiste mit den Abschiedsgeschenken, die seine Freunde ihm am Abend zuvor gegeben hatten, und wollte sie gerade in den Frachtraum hieven, als er aus dem Augenwinkel so etwas wie einen farbigen Blitz an sich vorbeisausen sah. Nick fuhr herum. Der Blitz entpuppte sich als knallroter Truck, der just in diesem Moment mit quietschenden Reifen vor dem Hangar hielt. Kaum war der Wagen zum Stehen gekommen, sprang auch schon eine zierliche blonde Frau in Jeans und Steppweste heraus und verschwand schnurstracks im Büro von E&M Flights. Sie hätte sich die Eile sparen können, dachte Nick. Sam war schon bei Morgengrauen zur Postrunde aufgebrochen, eine Route, die ihn quer durch den Staat Washington führte, da eine beachtliche Anzahl abgelegener Inseln mit Briefen und Paketen beliefert werden mussten. Zach hatte nur wenig später einen Charterflug übernommen, und die Sekretärin, die sich nach einigem Hin und Her schließlich bereit erklärt hatte, den beiden Männern den „Schreibkram“ abzunehmen, machte eine ausgedehnte Mittagspause, worüber ein an der Pinnwand angebrachter Zettel Auskunft gab. Da sie wusste, dass Nick heute abreiste, vermutete er hinter ihrem außerplanmäßigen Verschwinden den Versuch, dem ansonsten unvermeidlichen, endgültigen Abschied zu entgehen. Und irgendwie war Nick ihr sogar dankbar dafür, denn auch ihm fiel es schwer, sich zu verabschieden. Die Bürotür wurde geöffnet, und die junge Frau, die so hektisch in das kleine, an den Hangar grenzende Nebengebäude gestürmt war, kam ebenso überstürzt wieder herausgehastet, blickte sich suchend um, entdeckte Nick und steuerte direkt auf ihn zu. „Entschuldigen Sie?“ hörte er sie von weitem rufen, was ihn allerdings nicht davon abhielt, die Kiste in den Frachtraum seines Flugzeugs zu befördern und anschließend nach oben zu klettern. „Hallo“, versuchte die Blondine erneut, die Aufmerksamkeit des einzigen potenziellen Ansprechpartners zu erregen, der weit und breit in Sicht war, woraufhin dieser ihr aus dem Inneren des Laderaums einen fragenden Blick zuwarf. „Ich bin Melissa Porter“, erklärte sie lächelnd, „aber die meisten nennen mich Mel.“ Sie hätte sich nicht vorzustellen brauchen. Der lange, golden schimmernde
Pferdeschwanz, der aus ihrer Baseballmütze hervorlugte, sah so typisch
kalifornisch aus, dass Nick sofort gewusst hatte, wer sie war. Abwesend
betrachtete er ihre zarten Gesichtszüge, die durch den porzellanartigen Teint
ihrer Haut besonders gut zur Geltung kamen. Ihre Augen verbarg sie hinter einer
Sonnenbrille, weswegen man nicht sagen konnte, welche Farbe sie hatten, doch
so viel war sicher: Die Gerüchte stimmten. Sie war hübsch. Sehr hübsch.
„Ich habe einen Charterflug nach San Juan gebucht. Ist das meine Maschine?“
riss der Klang ihrer Stimme Nick aus seinen Gedanken.
„Nein, tut mir Leid“, entgegnete er und machte sich daran, die Ledergurte
festzuziehen, die dazu dienten, das spärliche Frachtgut am Verrutschen zu
hindern. „Ich fliege nach Seattle. Sam ist Ihr Pilot. Er wird sicher bald hier sein.“
„Wie bald?“
Woher sollte Nick das wissen?
„Innerhalb der nächsten Stunde, schätze ich. Sie können im Büro auf ihn
warten.“
In der Annahme, diese Auskunft würde Miss Porter zufrieden stellen, betrachtete
Nick das Gespräch als beendet und schwang sich unvermittelt über die Ladeluke,
so dass er nun direkt vor der jungen Frau stand, die trotz der abrupten
Bewegung nicht mal zusammengezuckt war. Der Größenunterschied zwischen
ihnen stellte sich als beachtlich heraus: Ihr Kopf reichte ihm kaum bis zu den
Schultern.
„Glauben Sie, es dauert wirklich so lange?“
Sie war hartnäckig, das musste man ihr lassen.
„Keine Sorge, er wird schon kommen.“
Als hoffte sie, Nicks Worte könnten Sams Eintreffen beschleunigt haben, suchte
Melissa den Himmel nach Anzeichen eines sich nähernden Flugzeuges ab. Alles,
was sie sah, waren jedoch ein paar Möwen, die ihre Kreise zogen.
„Der…“, begann Melissa, als sie bemerkte, dass der dunkelhaarige Pilot, den sie
ansprechen wollte, inzwischen neben einem der Reifen der Maschine kniete. Sie
ging zu ihm.
„… der Flug, den ich gebucht habe, soll in zehn Minuten gehen“, beharrte sie.
„Das hier ist ein Charterservice“, entgegnete Nick unbeeindruckt. „Die
Abflugtermine können manchmal ein wenig vom Zeitplan abweichen.“
„Nun, mein Zeitplan ist im Moment leider ziemlich eng“, bemerkte Melissa knapp,
wobei ihr Lächeln verhinderte, dass sie allzu ärgerlich wirkte. „Sehr eng, um
genau zu sein.“
Sie schob ihre Sonnenbrille hoch, um den Mann im Schatten der Cessna besser
erkennen zu können. Ihre Augen waren wunderschön, von einem strahlenden
Blau. Es war jedoch die Offenheit in ihrem Blick, die Nick am meisten
überraschte. Und die Besorgnis. Beides ließ sie älter erscheinen, als er sie
anfangs geschätzt hatte.
„Sam wird bestimmt bald auftauchen.“
„Innerhalb der nächsten zehn Minuten?“
Verdammt, dachte Nick. Der Bremsklotz saß fest. „Wahrscheinlich nicht.“
Es musste doch einen Weg geben, das vermaledeite Ding zu lockern.
„Und wenn er hier ist, wie lange wird es dann dauern, bis wir starten können?“
Mit einem heftigen Ruck löste Nick den widerspenstigen Hartgummikeil – und
schürfte sich dabei die Hand auf. Er fluchte leise. Konnte diese Frau ihn nicht
einfach in Ruhe lassen? Ihre Anwesenheit lenkte ihn unnötig ab.
„Das kommt darauf an, ob die Maschine betankt werden muss“, erwiderte er
missmutig, ohne aufzusehen.
Normalerweise hätte Melissa prompt gefragt, wie viel Zeit dieser Vorgang denn
genau in Anspruch nehmen würde, doch irgendetwas hielt sie davon ab. Ob es nun die einsilbigen Antworten des Piloten waren oder die beinahe körperlich spürbare Anspannung, die von ihm auszugehen schien, konnte sie nicht sagen. Er war attraktiv, das ließ sich nicht leugnen. Das Zusammenspiel von dunklem kurzem Haar, markanten Wangenknochen und einer leicht eckigen Kinnpartie gab ihm dieses gewisse Etwas, bei dessen Anblick der gesamten weiblichen Bevölkerung von Beverly Hills buchstäblich das Wasser im Mund zusammengelaufen wäre. Dem perfekten Sitz seiner Khakihosen nach zu urteilen und der Art, wie sein Jeanshemd über den breiten Schultern spannte, hätte Melissa ohne Zögern ihre nagelneuen Stiefel darauf verwettet, dass er entweder Stammgast in einem Fitnessstudio war oder seine Freizeit damit verbrachte, Unmengen von Holz zu hacken. Oder was auch immer die Männer in dieser Einöde taten, um in solch guter Form zu bleiben. Trotzdem machte sein abweisendes Verhalten Melissa nervös, noch nervöser, als sie es ohnehin schon war. Sie schaute ängstlich auf ihre Uhr. Wenn Sam doch nur endlich käme. Es war inzwischen 13.37 Uhr. Das geplante Treffen mit Wildhüter Wyckowski auf San Juan sollte um 14.15 Uhr stattfinden. Das würde knapp werden. Doch damit nicht genug. Vor weniger als einer Stunde hatte Melissas neunzehnjährige Halbschwester angerufen. Es sei unglaublich wichtig, sie müsse unbedingt mit Melissa reden. Eigentlich nichts Ungewöhnliches, denn für Cameron war jedes kleine Problem gleich ein Weltuntergang. Trotzdem hatte sie darauf bestanden, dass diese spezielle Krise auf keinen Fall bis morgen warten könne. Sie würde noch heute mit der 17UhrFähre nach Harbor kommen. Der gut aussehende, aber ungehobelte Klotz von Mann ging um den hinteren Teil des Flugzeuges herum und kniete sich vor den Reifen auf der anderen Seite. Melissa folgte ihm abermals, völlig ungeachtet der Tatsache, dass er sie überhaupt nicht zu beachten schien. „Könnten Sie mich nicht vielleicht hinbringen?“ Als ihr die Ironie der Situation bewusst wurde, versuchte sie, den Gedanken zu verdrängen, aber es gelang ihr nicht. Sie setzte hier alles daran, etwas zu erreichen, das sie normalerweise fürchtete wie der Teufel das Weihwasser. Sie hasste es nämlich zu fliegen. „Soweit ich weiß, sind es nur zwanzig Minuten bis dorthin. Ich zahle auch den doppelten Preis“, bot sie an. Dann würde sie den neuen Anstrich von Doc Jacksons alter Praxis, die jetzt ihr gehörte, eben ein bisschen verschieben müssen. „Tut mir Leid“, antwortete Nick knapp, während er den zweiten Bremskeil unter dem Reifen hervorzog. Melissa überlegte fieberhaft. „Hören Sie. Ich habe zwei junge Kojoten auf der Ladefläche meines Wagens, die ausgewildert werden sollen.“ Es konnte nicht schaden, ihm den Ernst der Lage klar zu machen. „Wenn ich den Termin mit dem Wildhüter nicht einhalten kann, verfällt meine Genehmigung, und es dauert womöglich Wochen, bis ich eine neue bekomme.“ Sie bückte sich, um ihm direkt in die Augen zu sehen. „Die Frau, die sie bis jetzt aufgezogen hat, hat großartige Arbeit geleistet, aber wenn sie noch länger in menschlicher Obhut bleiben, verlieren sie den letzten Rest ihrer natürlichen Scheu. Und ich will nicht, dass sie von irgendeinem Wilderer erschossen werden, weil sie ihn für einen Freund gehalten haben. Sie etwa?“ So war das also. Die Lady versuchte, an sein Mitgefühl zu appellieren. Ihr
vermeintlich geschickter Schachzug brachte ihr jedoch nichts weiter als einen stechenden Blick ein, der sie unwillkürlich einen Schritt zurückweichen ließ. Nick richtete sich zu seiner vollen Größe auf, was ihn sehr bedrohlich wirken lassen konnte, wenn er es darauf anlegte. Dann stemmte er eine Hand in die Hüfte und sah herausfordernd zu Melissa hinunter. Seine Augen waren silbrig grau, von derselben Farbe, die Wolken annehmen, kurz bevor ein verheerendes Unwetter über das Land hinwegfegt. Der Vergleich erschien Melissa passend. Er hatte eine extreme Abneigung gegen Manipulation jeglicher Art. Seine Exfrau war ein Meister auf diesem Gebiet gewesen. Und Nick war sich nicht sicher, was ihn mehr verärgerte: Von dieser penetranten Tierärztin an das Satansweib erinnert zu werden, von dem er vor sechs Monaten geschieden worden war, oder dass die junge Dame versuchte, ihn schamlos auszunutzen. Als er jedoch die aufrichtige Sorge bemerkte, die sich in Melissas Gesicht widerspiegelte, musste er sich eingestehen, vielleicht vorschnell geurteilt zu haben. Nein, sie war nicht wie Ellen. Es ging ihr nicht um ihren eigenen Vorteil, sondern um das Wohl ein paar kleiner Wildhunde, die Gefahr liefen, handzahm zu werden. Das heiligte jedoch keineswegs die Mittel, die sie einsetzte. Sie hatte soeben das Schicksal der Tiere in seine Hände gelegt, und nun fühlte er sich verantwortlich, ob er wollte oder nicht. „Sie sagten, die Kojoten waren bis jetzt bei einer Frau aus der Gegend untergebracht“, erinnerte er Melissa scheinbar beiläufig. „Dabei handelt es sich nicht zufällig um Mrs. Edwards?“ „T.J.“ Die Erwähnung der Frau, die Sam letztes Jahr geheiratet hatte, ließ die Anspannung aus Melissas Körperhaltung weichen. „Ja, genau. Sie betreibt so eine Art private Auffangstation. Die Leute bringen ihr verwaiste und manchmal sogar verletzte Tiere.“ In Melissas Stimme lag tiefe Bewunderung, aber auch ein wenig Unsicherheit. Wahrscheinlich war es ziemlich überflüssig, ihm zu erklären, was T.J. tat. Immerhin arbeitete er für deren Mann. „Sie war es, die mich gebeten hat, die Auswilderung in die Wege zu leiten.“ Melissa machte eine Pause. Sie fühlte sich unwohl dabei, jemanden derartig aufdringlich *um seine Hilfe zu bitten, doch sie hatte keine Wahl. „Diese Sache könnte wirklich über Leben und Tod entscheiden“, erklärte sie betrübt. So viel hatte Nick schon verstanden. Die pelzigen Halbwüchsigen mussten also in die Freiheit entlassen werden und zwar sobald wie möglich. Worum er sich allerdings mehr Gedanken machte, war der Umstand, dass Sams Frau offenbar eine persönliche Bindung zu Ms. Porters Frachtgut hatte. Nach all den Katastrophen, die in den vergangenen zwölf Monaten über ihn hereingebrochen waren, wusste Nick, wer seine echten Freunde waren. Und er wollte sie nicht enttäuschen. Er drehte sich wortlos um und ging auf das Cockpit zu. Er setzte sich ein Paar Kopfhörer auf und drehte an den Reglern des Funkgerätes herum, bis er die richtige Frequenz gefunden hatte. „Ich bin’s“, sagte er, sobald er zwischen den knisternden Hintergrundgeräuschen hörte, wie Sam sich meldete. „Wie lange brauchst du noch? Dein Viertelvor zweiFlug wird langsam ungeduldig.“ „He, Kumpel.“ Sam klang freudig überrascht. „Ich dachte, du wärst schon weg. Ich versuche seit einer Stunde, Ruth zu erreichen. Wo ist sie?“ „Da, wo ich nicht bin“, erwiderte Nick nüchtern. Er brauchte nicht weiter zu erklären, warum die Sekretärin beschlossen hatte, durch Abwesenheit zu glänzen, bis er fort war. Sam wusste, wie sentimental Ruth hinter ihrer rauen Fassade war. „Was ist jetzt mit deinem Fluggast? Was soll ich ihr sagen?“
Nur mit Anstrengung konnte Nick Sams immer wieder durch Rauschen und Knacken unterbrochener Antwort entnehmen, dass es noch mindestens eine Stunde dauern würde, bis Sam zurück auf Harbor sein würde. Er hatte vor, die Postrunde zu unterbrechen, Melissa abzusetzen und danach die restlichen Pakete auszuliefern. „Außer, du könntest Dr. Porter vielleicht mitnehmen“, meinte Sam. Die Verbindung wurde wieder besser. „Sie muss zum North Fork River Wildpark. Ich weiß, es wäre ein kleiner Umweg, und es ist mir unangenehm, dich darum zu bitten, aber du tätest mir wirklich einen großen Gefallen damit. Heute ist Andys Geburtstag, und…“ Richtig. Heute Nachmittag sollte eine kleine Party für Sams Stiefsohn stattfinden. Daran hatte Nick gar nicht mehr gedacht. Obwohl TJ. ihn sogar eingeladen hatte. Als gehörte er zur Familie. Ebenso wie Zach und seine Frau Lauren. Ein weiterer Grund, von Harbor zu verschwinden, dachte Nick. Seine Freunde führten gute Ehen, hatten eine Familie, die ihnen Geborgenheit gab, und blühende Unternehmen, die ihnen nicht nur Geld, sondern auch persönliche Erfüllung brachten. Er dagegen… Sams Bitte kam ihm mehr als ungelegen. Hätte er eine Wahl gehabt, wäre er eher die ganze Strecke bis nach Seattle geschwommen, als den Umweg über San Juan in Kauf zu nehmen, noch dazu in Gesellschaft der jungen, hübschen Miss Porter. „Geht klar“, übernahm er dennoch den Flug. Nachdem Sam sich hörbar erleichtert bei ihm bedankt und die beiden sich verabschiedet hatten, schaltete Nick das Funkgerät aus und gab dem Kopfhörer einen kleinen Schubs nach hinten, so dass er auf seinen Schultern zu liegen kam. So blieb er sitzen. Es verging fast eine ganze Minute, bis er sich schließlich bewegte. Er atmete tief ein und fuhr sich genervt mit der Hand übers Gesicht. Sam gehörte zu den wenigen Menschen, denen Nick vertraute. Er und sein Partner Zach waren zwar der Ansicht, Nick habe ihnen durch sein plötzliches Auftauchen aus der Klemme geholfen, er selbst wusste jedoch, dass es genau umgekehrt war. Ohne die Beschäftigung, die die beiden ihm angeboten hatten und die ihn von seinen trüben Gedanken ablenkte, wäre er wahrscheinlich verrückt geworden. Er stieg aus dem Cockpit und gestikulierte in die Richtung, wo Melissa ihren Truck abgestellt hatte. „Diese Kojoten sind hoffentlich in Käfigen?“ Nick war sich nicht sicher, wie viel Dr. Porter von seinem Gespräch mit Sam gehört hatte, aber ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen konnte es nicht viel gewesen sein. „Ja, natürlich“, antwortete sie verwundert. „Ich brauche das Gewicht der Tiere. Und der Transportkäfige.“ „Es ist eigentlich nur einer. Er wiegt ungefähr zehn Pfund, und meine Babys würde ich auf jeweils zwanzig Pfund schätzen.“ Nick kniff skeptisch die Augen zusammen. Ein zwanzig Pfund schwerer Kojote entsprach nicht unbedingt seiner Vorstellung von einem Tierbaby. „Dann rein in den Laderaum mit ihnen.“ Melissas Verwirrung war mittlerweile perfekt. „Soll das heißen, Sie fliegen uns?“ Das hatte er wohl vergessen zu erwähnen. „Ja, tue ich.“ Melissas strahlendes Lächeln traf ihn völlig unvorbereitet. Es war warm und voll aufrichtiger Herzlichkeit. „Ich danke Ihnen“, flüsterte sie, bevor sie sich umdrehte und zu ihrem Wagen lief. „Kein Problem“, murmelte Nick.
Er kletterte zurück ins Cockpit und kramte die Karte hervor, um seine neue Flugroute zu planen. Wenig später sprang Melissa auch schon vom Fahrersitz des – aus der Nähe betrachtet – ziemlich altersschwach aussehenden Trucks, den sie so dicht wie möglich an die Rollbahn herangefahren hatte. Der Truck gehörte zum Inventar der Tierarztpraxis vom alten Doc Jackson. Sie bedankte sich erneut bei Nick, der ebenso gleichgültig darauf reagierte wie beim ersten Mal. Noch immer strahlte er diese seltsame Anspannung aus, wirkte aber wenigstens nach außen hin ruhiger, kontrollierter. Abschätzend besah er sich den robusten, aber schäbigen Transportkäfig aus Plastik. Durch das Gitter auf der Vorderseite konnte man einen der gelbbraunen, pelzigen Kameraden erkennen. Er saß auf seinen Hinterpfoten, den Kopf zurückgelegt und beschnüffelte aufgeregt die Decke des Käfigs. Der zweite Kojote war dunkler und ein bisschen kleiner, schien aber ebenso nervös zu sein wie sein Leidensgenosse, der jetzt ein markerschütterndes Heulen von sich gab. „Sieht so aus, als seien sie nicht betäubt worden“, stellte Nick trocken fest. Melissa wühlte gerade im Handschuhfach des Trucks herum, auf der Suche nach ihren Unterlagen. Sie blickte hoch. „T.J.s Mann sagte, der Flug würde nicht sehr lange dauern. Außerdem musste ich ihnen gestern schon eine Narkose geben, damit ich die Peilsender einpflanzen konnte. So eine Betäubung ist eine große Belastung für ein Tier, wissen Sie?“ Sie wandte sich wieder dem Handschuhfach zu. „Nur eine Sekunde, dann helfe ich Ihnen, den Käfig zu verstauen“, bemerkte sie, doch als sie wieder aufsah, hatte Nick das schwere Behältnis bereits zum Heck des Flugzeuges getragen. Die Laderampe reichte ihm bis zur Schulter, doch er wuchtete den Käfig samt Inhalt scheinbar mühelos darüber hinweg in den Frachtraum. Inzwischen hatte auch der zweite Kojote in das Heulen des anderen eingestimmt. „Werden die das die ganze Zeit machen?“ wollte Nick wissen. „Sie haben Angst.“ Der Blick, mit dem Nick ihre Erklärung quittierte, verriet Melissa, dass es nicht genau das war, wonach er gefragt hatte. „Könnte schon sein“, gab sie zu. „Sie sind eingesperrt, und das ist immer ein Schock für Tiere, die daran gewöhnt sind, im Freien umherzustreifen.“ Wieder verschwand ihr Kopf im Inneren des Trucks, denn ihr war gerade noch rechtzeitig die Schachtel mit den pflanzlichen Tabletten eingefallen, die sie extra mitgenommen hatte, falls sie reisekrank werden sollte. Reisekrank? Sie hielt inne. „Der Flug dauert doch bloß eine halbe Stunde, oder?“ Nick schien die plötzliche Beunruhigung in Melissas Stimme bemerkt zu haben. „Ungefähr fünfundzwanzig Minuten, nach meinen Berechnungen“, beruhigte er sie. „Wenn wir Rückenwind haben, wahrscheinlich sogar weniger.“ Metallene Druckklemmen der Sicherheitsriemen schnappten mit einem klickenden Geräusch ein, als Nick den Transportkäfig festzurrte. „Die gehört unter ihren Sitz“, verlangte Nick und deutete auf die Tasche, die Melissa sich unter den Arm geklemmt hatte. „Geben Sie her, ich mache das schon. Sie können inzwischen Ihr Auto wegfahren.“ Der Mann beabsichtigte offenbar, keine Zeit zu verlieren. Das war Melissa nur recht angesichts der Tatsache, dass sie selbst nicht gerade übermäßig viel davon hatte, wenn sie es schaffen wollte, wieder zurück zu sein, bevor ihre Schwester auf Harbor eintreffen würde. Als Melissa vom Parkplatz am Rande der Rollbahn zurückkam, hatten die Kojoten entweder von selbst aufgehört zu heulen, oder sie wurden von dem
ohrenbetäubenden Dröhnen des Flugzeugmotors übertönt. Wie auch immer, alles, was Melissa hörte, waren das vibrierende Motorengeräusch und ihr eigenes Herz, das ihr bis zum Hals klopfte. Nick erschien in der offenen Einstiegsluke. Er trug jetzt eine dunkelbraune Lederjacke, die er vorhin noch nicht angehabt hatte. Die Jacke ließ seine ohnehin breiten Schultern noch breiter erscheinen. „Benutzen Sie die Stufen“, rief er Melissa zu, kniete sich hin und streckte eine Hand aus, um der Tierärztin zu helfen. Sie nickte und… blieb wie angewurzelt stehen. „Stimmt was nicht?“ Nick runzelte die Stirn. „Nein, nein. Alles in Ordnung“, log Melissa, hauptsächlich, um sich selbst davon zu überzeugen. Sie musste sich zusammenreißen. „Ich hatte bloß überlegt, ob ich etwas vergessen habe.“ Meinen Verstand zum Beispiel, dachte sie sarkastisch. Entschlossen ergriff sie die Hand des Piloten und kletterte die schmale Trittleiter hoch. Als sie oben angekommen war, ließ Nick sie los und trat einen Schritt zur Seite, um sie vorbeizulassen. Melissa duckte sich, damit sie sich nicht den Kopf an der Kante der niedrigen Eingangsluke stieß, und schlüpfte an Nick vorbei ins Flugzeuginnere, nicht ohne dabei unsanft mit seiner Schulter zu kollidieren. „Entschuldigung“, murmelte sie. „Kein Problem“, kam, was die Standardantwort dieses wortkargen Exemplars von Mann zu sein schien. Er bückte sich, um die Leiter einzuziehen, und schloss dann die Luke mit einem beunruhigend endgültig klingenden Rumms. Gehorsam sank Melissa auf den Sitz, den Nick ihr zugewiesen hatte. Was blieb ihr auch anderes übrig? Sie beobachtete, wie er sich mit einer für seine Größe erstaunlichen Eleganz durch den engen Gang zwischen den Passagiersesseln vorarbeitete und schließlich seinen Platz im Cockpit im vorderen Teil des Flugzeugs einnahm. Mit geübtem Blick kontrollierte er die Instrumententafeln vor und über sich, drückte hier einen Knopf und legte dort einen Schalter um. „Sind Sie bereit da hinten?“ fragte er, ohne sich umzudrehen. Melissa schluckte. Ihr Hals fühlte sich plötzlich sehr trocken an. „Wann immer Sie es sind“, antwortete sie so unbefangen wie möglich, wobei sie nervös an ihrem Sicherheitsgurt herumnestelte, bis sie endlich den Schlitz gefunden hatte, in den der Metallzapfen gehörte. „Sagen Sie“, sprach sie Nick abermals an. „Ist das nicht eigentlich der Moment, in dem Sie sich normalerweise vorstellen? Sie wissen schon. ,Ich bin Soundso, ihr Flugkapitän, willkommen an Bord’?“ Ein einseitiges Gespräch erschien ihr immer noch besser zu sein als überhaupt keine Ablenkung von der Furcht, die sie verzweifelt zu verbergen versuchte. Also weiterreden. „Ich muss zugeben, dass ich mich ein wenig im Nachteil fühle. Die meisten Leute, die ich hier bisher kennen gelernt habe, scheinen genau zu wissen, wer ich bin, obwohl ich selbst sie noch nie zu Gesicht bekommen habe.“ Die Einheimischen, an die Melissa dachte, hatten ihre neue Tierärztin auf sehr unterschiedliche Art und Weise begrüßt. Manche waren offen und herzlich gewesen, so wie T.J. andere ausgesprochen neugierig, und wieder andere hatten sich kühl, ja beinahe abweisend gezeigt. Doch jeder von ihnen war wenigstens so zuvorkommend gewesen, die eine oder andere Information über sich selbst preiszugeben. Was man von diesem Piloten, der ihr die ganze Zeit über stur seinen muskulösen Rücken zuwandte, nicht behaupten konnte. Völlig unerwartet drehte er sich just in diesem Moment um und warf einen prüfenden Blick auf ihren Sicherheitsgurt. Erst nachdem er sich vergewissert hatte, dass Melissa angeschnallt war, widmete er ihr seine Aufmerksamkeit.
„Nick Magruder“, stellte er sich vor. „Willkommen an Bord, Dr. Porter.“ „Melissa“, verbesserte sie ihn. „Meine Freunde nennen mich Mel.“ „Dann, willkommen an Bord… Melissa“, sagte Nick mit einem schmalen Lächeln, das er wahrscheinlich nur aus purer Höflichkeit aufsetzte. Melissa brachte ein zaghaftes „Danke“ zu Stande. Dann musste sie allerdings feststellen, dass sie sich abermals mit Nicks Rückseite unterhielt, denn er war längst wieder mit den zahlreichen Knöpfen der Schalttafeln vor ihm beschäftigt. Sie entschied, es sei wohl besser, ihn. nicht dabei zu stören, holte tief Luft und begann, langsam bis zehn zu zählen. Als sie bei sechs war, setzte sich das Flugzeug mit einem Ruck in Bewegung, und alle ihr bekannten Entspannungstechniken erwiesen sich wieder mal als völlig wirkungslos. Dieser Nick hätte sie zumindest vorwarnen können. Wäre das etwa zu viel verlangt? Sie krallte ihre Fingernägel in die Armlehne ihres Sitzes, und eine Sekunde später fühlte sie, wie die Maschine vom Boden abhob. Atmete sie überhaupt noch? Sie wusste es nicht. Sie würde jedoch lieber ersticken, als sich die Blöße zu geben und sich auch nur das kleinste äußere Anzeichen von Angst anmerken zu lassen. Und schon gar nicht ihrem überaus einfühlsamen Piloten gegenüber. Es gab nur zwei Dinge auf der Welt, vor denen sie sich wirklich fürchtete: keine Kontrolle über das zu haben, was mit ihr geschah, und… Höhen. Sie konnte kaum auf der obersten Sprosse einer Leiter stehen, ohne das Gefühl zu haben, im nächsten Moment bewusstlos zur Seite zu kippen und hinunterzufallen. In einem unbedachten Anfall von Wagemut spähte sie aus dem Fenster und betrachtete den unter ihr dahingleitenden tiefblauen Ozean, auf dessen Oberfläche sich winzige, weiße Wellen brachen. Ein Anblick, der Melissa dazu veranlasste, abrupt den Kopf wegzudrehen, mit dem festen Vorsatz, für den Rest des Fluges so zu tun, als existiere das Fenster zu ihrer Rechten nicht. „Nun, Nick“, begann sie mit einem Lächeln, das man bestenfalls als verunglückt bezeichnen konnte. „Wie lange fliegen Sie schon?“ Also war sie doch nicht ohnmächtig geworden, wie Nick zunächst vermutet hatte, nachdem ihr unaufhörlicher Redeschwall urplötzlich abgebrochen war. „Seit ich alt genug war, einen Führerschein zu machen“, antwortete er. „Das wären dann ungefähr zwanzig Jahre, richtig?“ „Ja, stimmt.“ Er sah keine Notwendigkeit zu erwähnen, dass – abgesehen von den letzten sechs Monaten, in denen er bei Sam und Zach eingesprungen war – seine einzige Verbindung zur Fliegerei in den vergangenen zwei Jahrzehnten darin bestanden hatte, elektronische Bauteile für Flugzeuge herzustellen. Zwanzig Jahre, überlegte er. Bald würde er siebenunddreißig werden. Der Gedanke verursachte ein unangenehmes Ziehen in Nicks Magengegend. Wenn man bedachte, wie hart er immer gearbeitet hatte, sollte er in seinem Alter den Höhepunkt seiner Karriere erreicht haben, anstatt die Scherben dessen zusammenzufegen, was von seinem Unternehmen noch übrig geblieben war, und wieder ganz von vorn anfangen zu müssen. „Dann können Sie mir sicher sagen, ob das normal ist?“ holte Melissas Stimme ihn in die Gegenwart zurück. Automatisch kontrollierte Nick die Anzeigen der wichtigsten Instrumente vor sich. Sowohl Höhen und Druckmesser als auch der Kompass und der künstliche Horizont zeigten absolut normale Werte an. „Was meinen Sie?“ fragte er zurück. „Dieses Ruckein. Ist das bei kleineren Flugzeugen immer so?“ „Ach das“, winkte Nick ab. „Das sind kleine Auf und Abwinde. Kein Grund zur Beunruhigung.“ „Oh.“
„Alles im grünen Bereich.“ Melissas Schweigen zeugte davon, dass sie ihm nicht so recht glaubte. „Ehrlich“, versicherte er noch mal, dann studierte er die Flugkarte, die er neben sich auf dem Kopilotensitz ausgebreitet hatte, und korrigierte den Kurs, so dass sie nun Richtung Westen flogen, hinweg über einige wenige bewaldete Inselchen, die aus dieser Höhe nur als verstreute grüne Farbtupfer im Blau des Meeres zu erkennen waren. „Dann werde ich mich wohl daran gewöhnen müssen“, meinte Melissa nach einer Weile. „Ich wusste, dass mein neuer Job es manchmal erfordert zu fliegen. Nur dachte ich nicht, dass es so schnell dazu kommen würde.“ Das stetige Brummen des Motors dämpfte ihre Stimme, zusammen mit den Mitleid erregenden Lauten, die die Kojoten hinter ihr von sich gaben. Dennoch war die Resignation der Tiere Nick nicht entgangen. Er kannte das Gefühl zu gut, um es nicht wieder zu erkennen. Ebenso wenig waren ihm die Spekulationen über Miss Porters Fähigkeit, Doc Jacksons Praxis zu übernehmen, entgangen. Er fragte sich, warum sie sich entschieden hatte, ausgerechnet einen Job anzunehmen, der etwas verlangte, vor dem sie ganz offensichtlich panische Angst hatte. Ein Teil von ihm sagte zwar, dass ihn das nichts anging. Dennoch war er versucht, den Einheimischen von Harbor zuzustimmen, die der Meinung waren, Melissa würde nicht mal bis zum Ende des Jahres durchhalten. Selbst ihre praktische Kleidung und ihr zielstrebiges Verhalten konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich dahinter eine zierliche, sensible Frau verbarg. „Vielleicht kann ich die Wildhüter überreden, in Zukunft zu mir zu kommen anstatt umgekehrt“, sagte sie. Nick war sich nicht sicher, ob sie mit ihm sprach oder nur laut dachte. Wie auch immer, sie war nervös und bemühte sich nach Kräften, ruhiger zu werden. Und er hoffte, dass ihre Anstrengungen erfolgreich sein würden. Was er jetzt absolut nicht gebrauchen konnte, war ein hysterischer Fluggast. Irgendetwas stimmte nämlich mit dem verdammten Druckmesser für den Treibstoff nicht. Melissa atmete tief durch und lehnte sich zurück, während sie stumm ihr persönliches Motto wiederholte, das sie sich vor vielen Jahren zu Eigen gemacht hatte. Alles hat auch seine gute Seite. Daran glaubte sie, wenngleich es manchmal regelrechter Detektivarbeit bedurfte, um diese gute Seite zu entdecken. In diesem Fall war es wohl die Tatsache, dass der Flug nur kurz war, so dass sich die Zeit, die Melissa mit diesem miesepetrigen Nick Magruder verbringen musste, in Grenzen halten würde. Ihre Gedanken wurden durch die lauten, verzweifelten Rufe der Kojoten jäh unterbrochen. Am liebsten hätte Melissa sich zu ihnen gesetzt, sie gestreichelt und ihnen gesagt, alles sei in bester Ordnung, auch wenn sie das selbst nicht glaubte. Aber sie wusste, dass sie den beiden damit mehr geschadet als geholfen hätte. Sie würden sich gegenseitig trösten müssen, so wie sie es in der freien Natur auch getan hätten. Immerhin hatten sie einander. Melissa dagegen blieb nichts anderes übrig, als sich selbst zu helfen, wie sie es immer tat. Schließlich musste sie sich im Anschluss an diesen Horrorflug auch noch um ihre Halbschwester kümmern, von der man normalerweise nur etwas hörte, wenn sie in Schwierigkeiten steckte. Was es wohl dieses Mal war? Mit ihrer gemeinsamen Mutter hatte es wahrscheinlich zur Abwechslung nichts zu tun. Dem letzten Stand der Informationen nach war sie noch immer trocken, erschien zuverlässig zu den Treffen der Anonymen Alkoholiker und ging einer geregelten Arbeit nach – als Bedienung im Waffle House, wo nur Alkoholfreies ausgeschenkt wurde und sie somit nicht in Versuchung geraten konnte.
Melissa hatte nicht beabsichtigt, ein zweites Mal aus dem Fenster des Flugzeugs zu schauen, doch die beiden Alternativen dazu waren auch nicht besonders verlockend. Sie konnte entweder an die Decke der Maschine oder auf den Hinterkopf ihres schweigsamen Piloten starren. Die Landschaft unter ihr hatte sich verändert. Dichte Wälder und hohe Berge waren jetzt statt des tiefblauen Ozeans zu sehen. Nicht, dass es einen großen Unterschied gemacht hätte. Ob man nun an einem Berg zerschellte oder ins Wasser stürzte und ertrank, das Ergebnis war dasselbe. Melissa schluckte und entschied, Nick zu beobachten sei vielleicht doch das kleinere Übel. Er hatte den Kopf gedreht, so dass sie einen Teil seines Gesichts erkennen konnte. Aufmerksam fixierte er eine der Kontrollanzeigen, und Melissa gefiel die Art, wie er dabei die Stirn runzelte, überhaupt nicht. „Stimmt was nicht?“ fragte sie verunsichert. Insgeheim rechnete sie damit, er würde ihre Besorgnis mit einem gelangweilten KeinGrundzurAufregung wegwischen, wie er es vorhin auch getan hatte. Doch stattdessen klopfte er zum wiederholten Mal gegen eines der Anzeigegeräte. „Ich weiß es nicht. Sieht so aus, als ob der Treibstoffdruck sinkt.“ „Was bedeutet das?“ Nick betätigte einen Regler, was allerdings nicht den gewünschten Erfolg brachte. „Es bedeutet, dass wir die nächstbeste Landebahn ansteuern werden.“ „Und wo ist die?“ „Zehn Meilen hinter uns.“ Das Flugzeug kippte zur Seite, als Nick versuchte, es zu wenden. Plötzlich spürte Melissa ein heftiges Ruckein, begleitet von einem klappernden Geräusch, das jedoch sofort durch das schrille Heulen einer Alarmsirene übertönt wurde. An einer der Armaturen blinkten rote Buchstaben auf, die Melissa bis auf das Wort „Warnung“, das besonders groß war, nicht entziffern konnte. Nick drückte hastig einen Knopf, woraufhin der Alarm verstummte, dann zog er an einem Hebel. Vergeblich. Das Ding rührte sich nicht. Er zerrte ein zweites Mal daran und konnte gerade noch verhindern, dass die Cessna ins Trudeln geriet. Die Landebahn zu erreichen war nicht länger wichtig. Jetzt ging es nur noch darum, irgendwie zu landen. Egal, wo. Melissa verfolgte atemlos Nicks Bemühungen, das Flugzeug wieder in den Griff zu bekommen. Ihn womöglich abzulenken, indem sie fragte, was eigentlich los sei, wagte sie nicht. Sie hätte sowieso keine Gelegenheit dazu gehabt. Der Motor stotterte, bevor er schließlich ein letztes Röcheln von sich gab. Der Propeller blieb stehen. Und mit ihm Melissas Herz. Zumindest kam es ihr so vor.
2. KAPITEL Nicks erster Impuls war, den Steuerknüppel nach hinten zu reißen, doch zum Glück hielt seine Erfahrung ihn davon ab. Jede unbedachte Handlung könnte das Ende bedeuten. Er musste die Ruhe bewahren und den natürlichen Auftrieb unter den Tragflächen so lange wie möglich nutzen, um das Flugzeug irgendwie im Gleichgewicht zu halten. Und den verdammten Alarm abschalten. Er betätigte den entsprechenden Knopf, und das zermürbende Geräusch verstummte. Nick spulte in Gedanken sämtliche NotfallSzenarien ab, die er kannte, während er durch das Fenster nach unten sah, um das Gebiet nach einer geeigneten Landemöglichkeit abzusuchen. Doch zwischen den schroffen Felsen und undurchdringlichen Wäldern gab es nicht eine einzige freie, einigermaßen ebene Fläche. Jedenfalls nicht in Nicks Sichtfeld. Vielleicht konnte Dr. Porter ja von ihrem Platz aus etwas entdecken. Vorrausgesetzt, sie war überhaupt noch ansprechbar. Hoffentlich schaffte sie es, sich zusammenzureißen. Er brauchte sie jetzt. „Schauen Sie aus dem Fenster, und sagen Sie mir, was Sie sehen“, wies er Melissa an. „Bäume“, antwortete sie, wobei Panik deutlich hörbar in ihrer Stimme mitschwang. „Und ein paar kleine Seen.“ Die Gebirgskette, die direkt vor ihnen in den Himmel ragte, kam immer näher. Ein Ausweichmanöver würde wahrscheinlich zur Folge haben, dass sie noch schneller sanken, aber das war immer noch besser als ein Frontalzusammenstoß mit einer Bergkuppe. „Irgendwelche Lichtungen?“ drängte Nick und steuerte die Cessna vorsichtig nach rechts. „Da ist eine!“ rief Melissa. „Wie groß?“ „Schwer zu sagen aus dieser Höhe.“ „Wo?“ fragte Nick, doch Melissa hatte bereits nach vorn gegriffen und seinen Arm gepackt, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen. Mit der anderen Hand deutete sie am Kopilotensitz vorbei nach rechts. „Da vorn.“ Nick ließ seinen Blick ihrem ausgestreckten Zeigefinger folgen. Unmöglich! Die Fläche war nicht annähernd lang genug, um ein Flugzeug darauf zu landen, ohne in einen der angrenzenden Bäume zu krachen. Sie mussten etwas anderes finden. Wenn die Maschine weiterhin so gleichmäßig an Höhe und Geschwindigkeit verlor, wie sie es im Moment tat, und sich nicht plötzlich entschloss, einfach wie ein Stein zu Boden zu fallen, dann könnten sie mit viel Glück noch ungefähr eine Meile im Gleitflug zurücklegen. Allerdings wohl kaum weit genug, um ein Wunder in Form einer passenden Lichtung aus dem Ärmel zu schütteln. „Suchen Sie weiter.“ „Tue ich ja schon“, gab Melissa mit zitternder Stimme zurück. „Aber es sieht alles gleich aus“, fügte sie kläglich hinzu. Es würde also kein Wunder geschehen. „Prüfen Sie Ihren Sicherheitsgurt“, befahl Nick. „Sitzt er fest?“ Wenn wir schon abstürzen, dann wenigstens angeschnallt, dachte er. „Ja. Und Ihrer?“ Dr. Porters unerwartete Besorgnis um ihn überraschte Nick, aber er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Da war eine silbrig glänzende Fläche in einiger Entfernung. Sie sah schmal aus, dafür schien sie aber relativ lang zu sein. Ein
See. Das Wasser würde die Wucht des Aufpralls vielleicht so weit abfangen, dass sie ihn überlebten. „Ich hasse Fliegen“, bemerkte Melissa tonlos. „Ist mir aufgefallen.“ „Ich habe Höhenangst.“ „Das wird in ein paar Sekunden kein Problem mehr sein.“ „Oh, Gott!“ „Beten ist eine gute Idee“, bemerkte Nick und drückte entschlossen den Steuerknüppel nach vorn. Er hatte nur diesen einen Versuch. Wenn er sein Ziel verfehlte… „Festhalten. Wir gehen runter.“ „Runter? Wo wollen Sie denn hier landen?“ „Da ist ein See. Das ist unsere einzige Chance, einigermaßen heil unten anzukommen. Ich hoffe, Sie können schwimmen!“ Schwimmen? Kann ich schwimmen? Melissa wusste es nicht. Alles, woran sie denken konnte, waren die Kojoten. Konnten die schwimmen? „Aber die Tiere…“ „Bleiben Sie, wo Sie sind!“ herrschte Nick. „Also, können Sie schwimmen?“ fragte er ein zweites Mal. „Ich bin noch nicht dazu gekommen, es zu lernen“, gab Melissa zu. Da sie ihre Arme schützend um ihren Kopf gelegt hatte, konnte sie Nicks Kommentar nicht genau verstehen, aber es klang, als ob er fluchte. Ihr wurde schlagartig bewusst, dass es viele Dinge gab, zu denen sie bisher nicht gekommen war. Zum Beispiel hatte sie noch nie echten Schnee gesehen. Oder ein eigenes Haustier gehabt. Oder einen Mann, der sie liebte. Natürlich auch keine Kinder. Sie hätte die Liste endlos fortsetzen können, doch wozu wäre das gut gewesen? Jetzt war es zu spät. Die Cessna raste im Sinkflug auf den See zu. Melissa spürte, wie sich ihr Magen umdrehte. Im nächsten Moment stieß sie hart mit dem Ellenbogen gegen ihre Armlehne, als die Maschine eine Reihe von Baumwipfeln niedermähte. Das markerschütternde Kreischen von Metall und das Bersten von Holz dröhnten in Melissas Ohren. Sie wurde wild hin und hergeschleudert. Es war so gut wie unmöglich, den Kopf unten zu halten. Wie in Zeitlupe sah sie Nick vor sich, seine großen Hände, die unnachgiebig den Steuerknüppel festhielten – körperliche Stärke, vereint mit purer Willenskraft. Dann kam der Aufprall, und Melissa wurde gegen die Rückenlehne ihres Sitzes geworfen. Um sie herum war plötzlich überall Wasser. Es strömte durch die Scheiben, die schon bei der Landung zerborsten waren, und klatschte gegen diejenigen Fenster, die dem Druck noch standhielten, was zweifellos nicht mehr lange der Fall sein würde, denn es bildeten sich bereits Risse im Glas, und es knirschte und knackte bedrohlich. Eine Kiste trieb an Melissa vorbei auf das Cockpit zu, blieb in dem klaffenden Loch in der Frontscheibe stecken und verdeckte die Sicht. Alles, was Melissa erkennen konnte, war, dass sich die Cessna bis zu den Tragflächen zwischen zwei Felsen am Ufer des Sees verkeilt hatte. Der Rest des Flugzeuges befand sich im Wasser und schaukelte leicht auf und ab. Nick befreite sich von seinem Sicherheitsgurt und stolperte durch allerlei schwimmende Gegenstände auf Melissa zu. „Sind Sie in Ordnung?“ fragte er. Seine Stimme klang besorgt. „Ja, ich… ich denke schon.“ Sie sah Nick prüfend an. „Und Sie?“ „Es ist noch alles dran, glaube ich“, sagte er mit einem schiefen Lächeln, erleichtert zu sehen, wie Melissa sich daran machte, ihren eigenen
Sicherheitsgurt zu lösen. Er wandte sich zur Tür des Cockpits um und begann, daran zu rütteln. Das Wasser stieg immer höher. Sie mussten hier raus. Schnellstens. Die Tür bewegte sich nicht. Kein Wunder, denn sie wurde von einem dicken Ast durchbohrt, der ein gutes Stück ins Innere der Maschine hineinragte. Nick warf sich mit aller Kraft gegen das verzogene Metall in der Hoffnung, dadurch den verklemmten Schließmechanismus zum Nachgeben zu bringen. Keine gute Idee, wie Nick augenblicklich zu spüren bekam. Ein scharfer Schmerz durchzuckte seine linke Seite und trieb ihm kleine Schweißperlen auf die Stirn. Er hatte tatsächlich vergessen, dass besagter Ast auf seinem Weg durch die Flugzeugwand ihn genau zwischen Brust und Schulter getroffen und dort eine äußerst schmerzhafte Prellung hinterlassen hatte. Das wird der größte blaue Fleck, den die Welt je gesehen hat, dachte Nick sarkastisch. Er musste sich also etwas anderes suchen. Etwas, was stabiler war als einer seiner Körperteile. Und eine andere Tür. Sein Blick fiel auf die Kiste, die in der Frontscheibe steckte. Er zog sie heraus und rammte sie gegen die verhältnismäßig unbeschädigt aussehende Haupteinstiegsluke für die Passagiere. Sie flog mit einem gewaltigen Krachen auf. Nick drehte sich um. Hinter ihm stand Melissa und starrte ihn verblüfft an. „Los, kommen Sie!“ rief er und wollte sie ins Freie schieben. Doch Melissa dachte gar nicht daran, das Flugzeug zu verlassen. „Ich muss die Tiere befreien!“ protestierte sie, stieß Nicks Hand weg und watete hastig zurück zum Transportkäfig. Mit fliegenden Fingern zerrte sie an den Lederriemen, die ihn an seinem Platz hielten. „Wie geht diese Klappe da auf?“ Sie zeigte auf eine Luke, durch die kleinere Gepäckstücke in den Frachtraum befördert werden konnten. „Das wird so nichts“, warnte Nick, der sofort erkannte, dass die Ladeöffnung viel zu schmal für den Käfig war. Ein Mensch würde allerdings hindurchpassen. Nick bückte sich, betätigte einen Riegel und packte Melissa am Arm. „Raus“, befahl er. „Springen Sie!“ Melissa beachtete ihn überhaupt nicht. Sie interessierte sich für nichts anderes als die beiden Kojoten, die sich eng aneinander gedrängt hatten und sich mit großen, runden Augen neugierig umsahen. Ein rührender Anblick, wie Nick zugeben musste. „Ich werde sie nicht ertrinken lassen!“ beharrte Melissa. „Und ich werde Sie nicht ertrinken lassen!“ gab Nick ärgerlich zurück. Niemand konnte sagen, wie lange es noch dauern würde, bis die beiden Felsblöcke die Cessna freigaben und das Flugzeug vollends ins Wasser rutschte. Er seufzte. Diese Frau würde eher sterben, als ihre Tiere im Stich zu lassen, und er konnte sie zu nichts zwingen, selbst wenn er es gewollt hätte. „Also gut“, lenkte er ein. „Ich kümmere mich darum. Sie gehen schon vor, verstanden?“ Nick wartete nicht auf eine Antwort. Er hatte keine Zeit, länger zu diskutieren. Es gab nur eine Möglichkeit, den Käfig aus diesem Wrack zu schaffen, das innerhalb der nächsten Minuten auf dem Grund des Sees versinken würde – die Tür für die Passagiere, die Nick gewaltsam aufgebrochen hatte. Dazu musste das schwere Behältnis mitsamt seinem Inhalt über die Sitze hinweggehoben werden, denn es war zu breit für den Mittelgang. Nick fluchte leise. Seine Verletzung tat wirklich verdammt weh. Aber es half alles nichts. Ohne ihre Schützlinge würde Melissa sich nicht vom Fleck rühren. Erwartungsgemäß hatte sie auch dieses Mal nicht seiner Anweisung gehorcht und
sich in Sicherheit gebracht. Sie war Nick gefolgt und versuchte nun, ihm zu helfen, den sperrigen Gegenstand durch die Luke auf die Tragfläche des Flugzeuges zu wuchten, von der aus man an Land springen konnte. Nachdem das geschafft war, kletterten Nick und sein Fluggast hinterher. Kaum war Melissa nach draußen geschlüpft, begann sie auch schon, den Käfig vorwärts zu schieben. Sie verlor dabei fast das Gleichgewicht, doch das schien sie nicht zu kümmern. Nick kniff entsetzt die Augen zusammen. Wollte sie sich umbringen? Sie konnte nicht mal schwimmen. Das Wasser unter ihnen war nicht blau, sondern schwarz. Ein Zeichen dafür, dass es sehr tief sein musste. Nick griff kurzerhand an Melissa vorbei nach dem Schnappschloss an der Vorderseite des Käfigs. „Was machen Sie da?“ „Was schon“, antwortete Nick ruhig. Ohne ein weiteres Wort öffnete er die Käfigtür. Die Kojoten begriffen schneller als ihre Tierärztin. Mit einem Satz waren sie auf der Tragfläche, flitzten bis zur Spitze und verschwanden im nächsten Augenblick zwischen den Bäumen. Melissa starrte Nick fassungslos an. Wie hatte er das nur. tun können! Doch anstatt ihn anzuschreien, warf sie einfach nur in einer entsetzten Geste die Hände in die Luft und rannte ebenfalls aufs Ufer zu. Nick sah sie hinter den Kojoten herstürmen und fluchte. Melissa war ebenfalls nach Fluchen zu Mute, als sie sich durch das undurchdringliche Dickicht kämpfte. Äste, die sie ungeduldig zur Seite drückte, schnellten zurück und schlugen ihr ins Gesicht. Sie stolperte an Dornenbüschen vorbei, in denen sich ihre Kleider verfingen, und es wurde immer dunkler, je tiefer sie in den Wald vordrang. Melissas Herz pochte wie wild, und ihre Lungen brannten, aber sie durfte nicht stehen bleiben. Verlier die Tiere bloß nicht, dachte sie panisch. Sie war nur noch zwei Schritte von dem seichten Bach entfernt, den ihre Schützlinge soeben überquert hatten, da wurde sie von hinten gepackt und unsanft zurückgerissen. Nick drehte sie mit einer Heftigkeit zu sich um, die keinen Widerstand duldete. „Sie Vollidiot!“ brüllte Melissa und versuchte zappelnd, sich aus seinem Griff zu befreien, doch es war zwecklos. „Ist Ihnen überhaupt klar, wie…“ „Ihnen ist anscheinend nicht klar, wo Sie hier sind“, unterbrach Nick sie. „In der gottverdammten Wildnis“, gab Melissa trotzig zurück. „Ganz genau. Und niemand weiß, wie lange. Also müssen wir alles tun, um zu überleben. Wertvolle Zeit damit zu verschwenden, hinter zwei Kojoten herzurennen und sich am Ende irgendwo im Busch zu verirren, das gehört bestimmt nicht dazu. Es wird bald dunkel, und wir brauchen einen Platz zum Schlafen.“ „Hätten Sie die Tiere nicht entwischen lassen, müsste ich sie nicht wieder einfangen!“ „Und was dann?“ „Verstehen Sie denn nicht? Die beiden waren noch nie auf sich allein gestellt. Sie werden vielleicht verhungern!“ „Haben Sie mir überhaupt zugehört? Wir könnten wochenlang hier festsitzen. Womit hatten Sie denn vor, die Tiere zu füttern? Wenn wir nicht schleunigst machen, dass wir zum Flugzeug zurückkommen und irgendetwas Essbares retten, sind wir diejenigen, die verhungern. Und das nicht nur vielleicht.“ Melissa schaute Nick bestürzt an. Er hatte Recht. Nick beobachtete, wie sie den Mund öffnete, um etwas zu sagen, ihn dann aber
langsam wieder schloss. Ihre Lippen waren voll, wohlgeformt und sahen sehr
weich aus. Es war nur zu offensichtlich, dass sich hinter ihrer energischen,
starrköpfigen Fassade eine zarte, sensible Frau verbarg, die sich – wie jeder
Mensch – wünschte, geliebt zu werden. Wie jeder Mensch. Dieser Gedanke
erinnerte Nick daran, wie einsam er selbst sich im Grunde seines Herzens fühlte,
seit seine Ehe in einem Desaster geendet hatte.
„Kommen Sie“, forderte er sie sanft auf. „Die beiden werden es schon schaffen.“
Melissa blickte wehmütig in die Richtung, wo die Kojoten zuletzt gewesen waren,
bevor sie die beiden Tiere aus den Augen verloren hatte.
Sie seufzte. „Es sah nicht so aus, als wären sie bei dem Absturz verletzt worden,
oder?“
„Nein. Auf mich wirkten sie absolut gesund.“ Nick drückte aufmunternd ihre
Schulter. „Okay?“
Melissa nickte schwach.
Außer Nicks breitem Rücken konnte sie kaum etwas von dem erkennen, was sich
vor ihnen befand. Um ein Haar wäre sie mit ihm zusammengestoßen, als er einen
hohen Busch zur Seite schob und plötzlich abrupt stehen blieb. Melissa zwängte
sich ebenfalls durch das Gestrüpp. Und dann sah sie es.
Der See schimmerte golden in der Spätnachmittagssonne. Doch obwohl es völlig
windstill war, kräuselte sich die Wasseroberfläche, und kleine Wellen schwappten
gegen die Felsen rundherum. Sie wurden durch die Luftblasen verursacht, die
blubbernd aus der Tiefe aufstiegen, genau an der Stelle, wo eigentlich das
Flugzeug hätte sein sollen.
„Das Funkgerät“, flüsterte Melissa fassungslos.
„Mein Ticket“, brummte Nick.
„Ihr Ticket?“
„Es war in meiner Tasche. Ich wollte heute Abend nach Denver zurückfliegen“,
murmelte Nick. Das kann ich jetzt wohl vergessen, dachte er resigniert. Aber dies
war nicht der richtige Moment für Selbstmitleid. Und gegen Enttäuschung half
nur eines: Handeln. Nicks Blick fiel auf den orangefarbenen, rechteckigen
Plastikbehälter, den er noch schnell ans Ufer geworfen hatte, bevor er hinter
dieser verrückten Tierärztin hergelaufen war. Entschlossen steuerte er darauf zu.
Melissa jedoch rührte sich nicht. Vorhin, aus der Luft, hatte sie weder Häuser
noch sonstige Anzeichen für Zivilisation entdecken können. Nicht mal eine
Straße. Nur endlose Wälder. Die Gedanken überschlugen sich förmlich in Melissas
Kopf, als ihr schlagartig bewusst wurde, wie ernst die Lage tatsächlich war, in der
sie sich befand. Sie saß hier fest. Mit einem Mann, den sie nicht kannte, einem
Mann, der von Anfang an kein Hehl daraus gemacht hatte, dass er keinen
gesteigerten Wert auf ihre Anwesenheit legte. Vielleicht war es doch keine so
gute Idee gewesen, ihn einen Vollidioten zu schimpfen.
Er hatte sich hingekniet und kramte in dem orangefarbenen Behälter herum.
Melissa ging zu ihm.
„Was ist das?“
„Ein Notfallkasten.“
„Sie haben nicht zufällig ein Handy da drin, oder?“
Eigentlich hatte sie einen Scherz machen wollen, doch Nick schien ihn entweder
nicht zu verstehen, oder ihm war nicht nach Lachen zu Mute.
„Ich hatte eins“, antwortete er, ohne aufzusehen. „Dummerweise war es
zusammen mit meinem Ticket in meiner Tasche.“
„Also haben wir keine Möglichkeit, Hilfe zu rufen“, stellte Melissa entmutigt fest.
„Nein.“ Nick legte ein paar Suppentüten zu den anderen Gegenständen, die er
bereits im Sand neben sich zu einem kleinen Haufen gestapelt hatte.
Melissa schluckte hart, um das aufkommende Gefühl der Verzweiflung niederzukämpfen. Dank ihrer Familie, die hauptsächlich aus mehr oder weniger gescheiterten Existenzen bestand, in deren Leben eine Katastrophe die nächste jagte, hatte Melissa gelernt, wie wichtig es war, nicht die Kontrolle zu verlieren. „Und was machen wir jetzt?“ fragte sie. Endlich schien Nick gefunden zu haben, wonach er suchte. Er breitete eine Karte aus und richtete sie mit Hilfe des Kompasses, den er soeben hervorgezogen hatte, nach Norden aus. „Zuerst sollten wir herausfinden, in welche Richtung wir am besten gehen“, antwortete er und studierte die Karte. Kurze Zeit später faltete er sie wieder zusammen und stand auf. „Waren Sie schon mal zelten?“ „Nein“, erwiderte Melissa bissig. Als ob er ihr nicht zutrauen würde, im Freien zu übernachten. Für ihn war sie offensichtlich nichts weiter als ein verwöhntes Mädchen aus der Großstadt. „Sonst hätte ich bei dieser Gelegenheit wohl schwimmen gelernt. Ich bin aus Los Angeles, schon vergessen? Da gibt es keine Wälder.“ Melissa musste den Kopf in den Nacken legen, um Nick direkt ins Gesicht sehen zu können. Sie war höchstens einen Meter sechzig groß, doch das tat ihrem forschen Auftreten keinen Abbruch. Ganz im Gegenteil. Insgeheim bewunderte Nick ihre Stärke. Nach einer Notlandung wie dieser wäre so manch anderer bereits mit den Nerven am Ende gewesen und weinend zusammengebrochen. Es war nur dem Zufall zu verdanken, dass sie noch lebten. Sie hätten genauso gut mit zerschmetterten Gliedern und eingeklemmt zwischen zerquetschtem Metall enden können. Nick schauderte innerlich. Je länger er darüber nachdachte, desto verlockender erschien es ihm, sich einfach teilnahmslos auf einen der Felsen zu setzen und ein Weilchen am ganzen Körper zu zittern. „Nick?“ „Hm?“ „Sollten wir nicht besser hier bleiben? Vielleicht ein Feuer machen oder so, damit sie uns leichter finden?“ Er schaute sich um. Außer ein paar abgeknickten Baumwipfeln, die man aus der Luft nicht mal bemerken würde, erinnerte nichts daran, dass an dieser Stelle ein Flugzeug abgestürzt war. „Nein. Ich glaube nicht, dass sie schon nach uns suchen. Und selbst wenn, mit einem Feuer, das groß genug ist, damit man es von oben sieht, stecken wir wahrscheinlich aus Versehen den halben Wald in Brand. Hier sind überall Bäume ringsum. Zu gefährlich.“ Er kniete sich hin und begann, alles wieder in den Notfallkasten zu stopfen. Alles, bis auf eine Feldflasche aus Aluminium, die er Melissa reichte. „Hier. Wir werden dem Bach folgen. Dort können Sie die Flasche auffüllen.“ „Dem Bach?“ „Ja, erinnern Sie sich an die Landebahn, die wir von oben gesehen haben? Da werden wir hingehen. Wo eine Landebahn ist, ist ein Flugplatz. Und wo ein Flugplatz ist…“ „Sind Menschen“, vervollständigte Melissa den Satz. Er hatte Recht. Ob es ihr gefiel oder nicht. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als nach Hilfe zu suchen, denn die Wahrscheinlichkeit, dass sie gefunden wurden, wenn sie hier blieben, war äußerst gering. Sie waren auf sich allein gestellt.
3. KAPITEL Melissa war ein Großstadtmensch. Verstopfte Autobahnen, mit Graffiti übersäte Häuserfronten, Smog, Wolkenkratzer, Menschengewimmel, das alles war ihr vertraut, inmitten eines solchen Chaos fand sie sich mühelos zurecht. Doch die Wildnis stellte andere Anforderungen. Natürlich hatte sie das gewusst, als sie Los Angeles verließ. Sie hatte sich sogar auf die Veränderung gefreut, auf neue Menschen, neue Erfahrungen, vielleicht sogar das eine oder andere Abenteuer. So allerdings hatte sie sich diese Abenteuer nicht vorgestellt. Während sie hinter Nick herstapfte und die feuchte, kalte Luft atmete, die nach modrigem Laub und Baumharz roch, fiel ihr das alte Sprichwort wieder ein: Sei vorsichtig mit dem, was du dir wünschst, es könnte in Erfüllung gehen. Missmutig schaute Melissa auf ihre Armbanduhr, zum dritten Mal innerhalb der letzten halben Stunde. Genau in diesem Moment drehte Nick sich um und blickte über seine Schulter, ob Melissa noch hinter ihm war. „Vergessen Sie die Uhrzeit“, bemerkte er abfällig. „Alles, was uns interessieren muss, ist, dass es bald dunkel wird. Und um das zu sehen, braucht man keine Digitalanzeige.“ „Für uns ist es vielleicht unwichtig, wie spät es ist, aber nicht für meine Schwester. Sie wollte heute Nachmittag mit der Fähre nach Harbor kommen, um mich zu treffen“, erklärte Melissa niedergeschlagen. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn Cam feststellte, dass sie versetzt worden war. Jeder andere hätte sich wahrscheinlich Sorgen gemacht, wenn die sonst so zuverlässige Schwester nicht auftauchte. Cam dagegen würde entweder zutiefst verletzt sein oder einen Tobsuchtsanfall bekommen. Offenbar hatte ihr nie jemand gesagt, dass sie nicht die einzige Person auf der Welt war. Cam mochte ein egoistisches Luder sein, aber sie gehörte nun mal zur Familie, und Melissa liebte sie trotz allem. „Bei Ihnen gibt es doch sicher auch jemanden, der sich wundern wird, wo Sie geblieben sind, oder?“ erkundigte sie sich. „Ich wüsste nicht, wer“, antwortete Nick achselzuckend. Der jähe Schmerz in seiner linken oberen Körperhälfte erinnerte ihn sogleich daran, dass er derartige Bewegungen besser unterlassen sollte. Vor allem, solange er den Rucksack mit dem Notfallkasten auf dem Rücken trug. „Außer Sam natürlich.“ Und mein Anwalt, dachte Nick. Er hatte am nächsten Morgen einen Termin bei ihm. Andererseits wäre es nicht das erste Mal, dass er einfach nicht erschien. Man würde sein Wegbleiben also wahrscheinlich als Feigheit abtun und sich nicht weiter damit befassen. „Sonst niemand?“ fragte Melissa ungläubig. „Nein. Niemand.“ Nick ignorierte den prüfenden Blick, den Melissa ihm zuwarf. „Wie wäre es, wenn Sie zur Abwechslung vorgehen, dann kann ich Sie sehen und brauche nicht immer Angst zu haben, Sie könnten mir verloren gehen.“ Auch gut, dachte Melissa. Dann eben keine Unterhaltung. Sie schob sich an Nick vorbei, so dass sie nun voranging, wie er es vorgeschlagen hatte. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, und feine Nebelschwaden begannen sich am Boden zu bilden. Bald schon hatte Melissa Schwierigkeiten, nicht ständig über niedrige Baumstümpfe oder Steine zu stolpern, denn die Hindernisse waren nur noch als vage Umrisse zu erkennen. „Lassen Sie uns ein Feuer machen“, schlug Nick seufzend vor. „Wir kommen heute sowieso nicht mehr weiter. Es ist schon zu dunkel.“ Mit dem Verschwinden des letzten Tageslichts schien die Temperatur schlagartig auf Minusgrade gesunken zu sein. Vielleicht war Melissa die Kälte aber vorher
auch nur nicht aufgefallen. Solange sie in Bewegung gewesen war, hatte sie nicht gefroren. Jetzt, da sie Halt gemacht hatten, fühlten sich ihre Hände wie Eisklumpen an. Der Bach war inzwischen zu einem Fluss geworden. Melissa blickte abwesend in das tiefschwarze Wasser, zog den Kragen ihrer Weste so weit es ging hoch und rieb sich zitternd die Oberarme. „Ich habe nichts dagegen“, stimmte sie Nicks Vorschlag fröstelnd zu. „Gut. Holen Sie uns ein bisschen Holz, während ich uns mit den Steinen da eine Feuerstelle baue.“ Das klang in Melissas Ohren wie Musik. Ein Feuer. Wärme. Etwas zu essen. Ohne zu zögern, lief sie zum Ufer des Flusses und tastete auf der Suche nach Brennmaterial auf dem Boden herum. Wie im Film, dachte sie unwillkürlich. Als Nächstes würde Nick sie losschicken, um Beeren zu sammeln, während er einen dicken Lachs angelte. Melissa schüttelte lächelnd den Kopf, hob einen Ast auf und ließ ihn wieder fallen. Dann einen zweiten. „Das ist alles feucht“, rief sie Nick zu. „Macht nichts“, erwiderte er. „Wir haben Kohleanzünder.“ Kurz darauf hörte Melissa, wie Nick den Rucksack auf die Erde fallen ließ. Dem lauten Plumps nach zu urteilen, musste das Gepäck schwerer sein, als es aussah. Sie wusste, dass Nick stark war. Trotzdem schien er erleichtert zu sein, die Last auf seinem Rücken loszuwerden. Er rieb sich die Schulter, dann trug er ein paar Steine zusammen, die er kreisförmig anordnete. In der Zwischenzeit hatte Melissa einen ansehnlichen Haufen Äste herangeschafft. Nick kürzte sie auf die richtige Länge, indem er sie mühelos durchbrach, und stapelte sie im Inneren des Steinkreises fachmännisch aufeinander. In die Mitte schob er einige Kohleanzünder. Melissa ging unterdessen erneut zum Fluss, um mehr Holz zu holen. Es versprach, eine lange und kalte Nacht zu werden. Als sie zurückkam, knisterte bereits ein gemütliches Feuer. Nick sah auf, als er Melissas Schritte hörte. Er schien alles in seiner Umgebung aufmerksam zu beobachten, die Bäume, die Schatten, die sie warfen, den pechschwarzen Himmel. Nichts konnte seinem wachsamen Blick entgehen. Das gab Melissa ein gewisses Gefühl von Sicherheit. Er passte nicht nur auf sich selbst auf, sondern auch auf sie, ob ihm das nun bewusst war oder nicht. Auf eine Weise fand Melissa diese Erkenntnis seltsam. Für gewöhnlich war sie diejenige, die sich um andere Menschen kümmerte. „Sie essen die Suppe“, erklärte sie prompt und deutete auf eine Tüte mit Suppenpulver. „Mir reicht ein Müsliriegel.“ „Davon werden Sie nicht satt“, widersprach Nick. „Dann nehme ich gegrillten Lachs“, erwiderte Melissa augenzwinkernd. Einen Moment lang dachte sie, Nick könnte sagen, das sei kein Problem, sie müsse nur ein paar Kartoffeln dazu auftreiben. Doch stattdessen hob er verwirrt die Augenbrauen. Dann grinste er. „Tut mir sehr Leid, Ma’am. Fisch steht heute nicht auf der Karte. Es gibt Erdnuss oder Rosinen/Haferflocken. Was darf es sein?“ Mit diesen Worten hielt er ihr zwei Müsliriegel vor die Nase. Melissa entschied sich für Erdnuss, obwohl sie insgeheim ein Auge auf die Schokolade geworfen hatte, die sie vorhin aus dem Rucksack hervorlugen gesehen hatte. Es gab nichts Besseres gegen Stress und Kälte. „Was möchten Sie trinken?“ fragte Nick. „Kaffee oder Kakao?“ Hatte er ihre Gedanken gelesen? „Kakao, bitte!“ Nick ließ sich auf die Rettungsdecke nieder, die er vor der kleinen Feuerstelle
ausgebreitet hatte, und bedeutete Mel, dasselbe zu tun. Wenn sie dicht genug
am Feuer sitzen wollte, um im Laufe der Nacht nicht zu erfrieren, blieb ihr nichts
anderes übrig, als direkt neben ihren Piloten zu rutschen, denn die metallisch
glänzende Decke war kaum größer als ein Strandlaken. Melissa beobachtete aus
dem Augenwinkel, wie Nick nachdenklich in seinem Becher mit Suppe rührte,
wozu er einen kurzen, schmalen Ast benutzte. Ein Löffel galt scheinbar nicht als
unbedingt notwendig zum Überleben und war nicht im Notfallkasten enthalten
gewesen.
„Mir ist gerade jemand eingefallen, der sich wahrscheinlich Sorgen um mich
macht“, sagte Nick plötzlich.
„Wirklich? Wer?“
„Meine Mutter. Und meine Schwestern. Mom wird mir wochenlang Vorwürfe
machen und mir erzählen, ich hätte die zwei zu Tode erschreckt, weil ich nicht
aufgetaucht bin.“
Er lächelte gequält.
Melissa schmunzelte mitleidig. Insgeheim jedoch freute sie sich darüber, dass er
ihr etwas Persönliches erzählt hatte. Seine Distanziertheit hatte sie nervös
gemacht und noch mehr verunsichert, als sie es durch die ganze Situation
sowieso schon war.
„Wie alt sind Ihre Schwestern?“ fragte sie schnell, denn sie befürchtete, Nick
könne wieder in sein übliches Schweigen verfallen, wenn sie jetzt nichts sagte.
„Jünger als ich“, antwortete er.
„Verstehe. Über das Alter von Damen spricht man nicht.“
„Nein, aber am Ende wollen Sie noch wissen, wie alt ich bin“, gab Nick
überraschend verschmitzt zurück.
So viel Sinn für Humor hätte Melissa ihm gar nicht zugetraut. Ihr Blick fiel erneut
auf den Ast, der aus Nicks Becher hervorschaute.
„Haben Sie an der Flugschule einen Kurs gemacht?“
„Was?“
„Ich meine einen Überlebenskurs oder so etwas? Sie scheinen genau zu wissen,
wie man sich in der Wildnis zurechtfindet.“
„Mein Vater hat mich früher oft zum Campen mitgenommen.“
„Als Sie klein waren?“
„Auch später noch. Um genau zu sein, waren Dad und ich jedes Jahr zelten. Bis
er gestorben ist. Das war vor fünf Jahren.“
„Das tut mir Leid“, sagte Melissa leise.
„Mir auch. Er fehlt uns allen sehr.“ Nach einer kurzen Pause sprach Nick weiter,
und seine Stimme klang wieder zuversichtlicher. „Jetzt mache ich diese Ausflüge
dafür mit Mike, meinem Neffen. Er ist ein richtiger kleiner Naturbursche.“
Melissa lächelte.
„Verraten Sie mir wenigstens, wie alt Ihr Neffe ist?“
„Weil Sie es sind. Dreizehn.“
Nick runzelte die Stirn, als Mel ein Stück von ihrem Müsliriegel abbiss. Er fühlte
sich versucht, ihr etwas von seiner Suppe anzubieten, ließ es aber dann doch. Er
wusste, sie würde ablehnen. Dabei musste sie mindestens ebenso hungrig sein
wie er selbst. Sie befürchtete doch nicht etwa, dass sie zu dick werden könnte?
Das wäre absurd. Sie hatte eine perfekte Figur. Das flackernde Licht des
Lagerfeuers schmeichelte ihren weichen Gesichtszügen, ihren vollen Lippen und
gab ihren großen blauen Augen einen ganz besonderen Ausdruck. Sanft und
verführerisch zugleich.
„Sie sagten vorhin, Sie wollten eigentlich nach Denver. Bevor ich
dazwischenkam, meine ich“, unterbrach Melissa seine Überlegungen. „Wollten
Sie dort Urlaub machen?“ „Nein. Ich war auf dem Weg nach Hause.“ „Ich hoffe, es ist niemand krank?“ fragte Melissa vorsichtig. Sein verdrossener Tonfall deutete auf einen Unglücksfall in der Familie hin. Nick schüttelte den Kopf. „Oh. Also eine Beerdigung“, schlussfolgerte Melissa mitfühlend. Doch ehe sie ihr Bedauern ausdrücken konnte, ließ Nicks verständnisloser Blick sie innehalten. „Wie kommen Sie darauf, dass jemand krank oder tot ist?“ „Ich dachte… Sie klingen so niedergeschlagen.“ Nick antwortete nicht sofort. „Gut, ich formuliere es anders“, sagte er schließlich. „Ich war auf dem Weg zurück nach Hause.“ Er hatte erwartet, dass Melissas besorgte Miene verschwinden würde, jetzt, wo er das Missverständnis aufgeklärt hatte. Doch das Gegenteil geschah. „Dann muss Ihr ganzer Besitz im Flugzeug gewesen sein“, vermutete sie geknickt, als ob sie persönlich für den Verlust von Nicks Hab und Gut verantwortlich sei. „War kaum der Rede wert“, beruhigte er sie. „Ich hatte nicht viele Dinge nach Harbor mitgenommen. Nichts, was sich nicht ersetzen ließe. Ich war ja nur ein paar Monate hier. Und Sie können mir glauben“, beharrte er, „ich freue mich darauf, nach Hause zu kommen.“ Das stimmte sogar. Wenigstens zum Teil. So willkommen ihm sein Aushilfsjob bei Sam auch gewesen war, auf die Dauer reichte das nicht. Er brauchte eine Arbeit, die ihn forderte und eine stabile Grundlage bot, um darauf eine Existenz aufzubauen. Alles, was er noch tun musste, bevor er einen sauberen neuen Anfang machen konnte, war, den nötigen Papierkram zu erledigen, um endgültig den Vertrag mit seinem Geschäftspartner Reed Archer aufzulösen. Reed war ein genialer Ingenieur, und das wusste er auch. Er hatte eine unerschütterlich hohe Meinung von sich. Und daran hatte Nick sich nicht so sehr gestört, denn er fand es wichtig, dass man auf seine eigenen Fähigkeiten vertraute. Reed allerdings war über die Jahre offenbar zu dem Schluss gekommen, er sei nicht nur unfehlbar, sondern darüber hinaus auch in keinster Weise an ethische Grundsätze gebunden. Er ging buchstäblich über Leichen. Und mit so jemandem konnte und wollte Nick nicht mehr zusammenarbeiten. Melissa beobachtete Nick, der in Gedanken versunken zu sein schien. Sie hatte ihm keinen Augenblick geglaubt, als er behauptete, er freue sich darauf, zurück nach Denver zu gehen. Niemand wusste besser als sie, dass das Zuhause eines Menschen nicht unbedingt immer gleichbedeutend mit einem Ort war, an dem man sich wohl und geborgen fühlte. Zuhause konnte auch das genaue Gegenteil bedeuten. Aus der Ferne drang ein vertrautes Geräusch an Melissas Ohr: Kojoten, die den Mond anheulten, der inzwischen hoch über den Baumwipfeln am Himmel stand. Er war groß und rund und verbreitete weißlichblaues Licht, das ab und zu von ein paar vorbeiziehenden Wolken getrübt wurde. Melissa schauderte. Trotz des Feuers, an dem sie versuchte, ihre Hände zu wärmen, fror sie erbärmlich. Das würde eine lange, kalte Nacht werden. Blieb nur zu hoffen, dass es den beiden kleinen Kojoten da draußen gut ging.
4. KAPITEL Mel wurde durch das für sie ungewohnte Geräusch von plätscherndem Wasser geweckt. Und von dem Gefühl, jeden einzelnen Knochen in ihrem Körper zu spüren – ganz besonders diejenigen, mit denen sie auf den kleinen spitzen Steinen lag, die überall aus dem Boden ragten. Schläfrig versuchte sie, eine bequemere Position zu finden, als sie plötzlich ein Rascheln in den Büschen am Flussufer hörte. Wie in den vergangenen Stunden schon unzählige Male zuvor, schreckte Melissa hoch und war von einer Sekunde zur anderen hellwach. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, doch sie wagte nicht, sich zu rühren. Reglos spähte sie in die schwache Morgendämmerung hinaus, aber es war noch nicht hell genug, um mehr als ein paar verschwommene Umrisse zu erkennen. Etwas kam auf sie zu. Etwas Großes. Sie schloss die Augen und hoffte, was immer es war, würde sie nicht bemerken, wenn sie sich ganz still verhielt. „Guten Morgen“, hörte sie eine ihr bekannte Stimme sagen. Nick stand vor ihr und sah sie fragend an. „Alles in Ordnung?“ Erst jetzt wurde Melissa bewusst, dass sie den Atem angehalten hatte. Erleichtert ließ sie die Luft aus ihren Lungen entweichen und blickte auf. „Ja, alles in Ordnung“, antwortete sie. Nick fuhr sich mit den Fingern durch seine dunklen Haare, doch der Kämmversuch führte nur dazu, dass jetzt noch mehr Wirrwarr auf seinem Kopf herrschte. Kleine Bartstoppeln zeigten sich auf seinem Kinn, und auf einer Gesichtshälfte hatten sich die Fältchen um die Wangen herum vertieft. Er musste wohl auf der Seite geschlafen haben. Eigentlich hätte Melissa ihn in diesem Zustand alles andere als attraktiv finden sollen, doch zu ihrer Überraschung war das Gegenteil der Fall. All das ließ ihn sogar noch männlicher wirken. Dem Kribbeln in ihrem Bauch, das bei diesem Gedanken aufgetaucht war, schenkte sie kaum Beachtung. Es hatte nichts weiter zu bedeuten. Natürlich war sie glücklich darüber, in dieser Wildnis einen Mann wie Nick bei sich zu haben. Wer wäre das an ihrer Stelle nicht gewesen? Ihre steifen Glieder protestierten, als sie – ein bisschen zu schwungvoll – aufstand, aber sie ignorierte den dumpfen Schmerz in ihren Muskeln und ging an Nick vorbei zum Flussufer hinunter. Dort kniete sie sich hin, wusch ihr Gesicht und putzte behelfsmäßig ihre Zähne mit dem Finger. Das Wasser war so kalt, dass es sich auf ihrer Haut anfühlte wie tausend kleine Nadelstiche. Ein halbes Königreich für ein richtiges Badezimmer, eine heiße Dusche und einen Kaffee, dachte sie wehmütig. Nun ja, wenigstens Letzteres würde es geben. Sie hatte am Tag zuvor das Päckchen mit dem braunen Instantpulver zwischen all den Gegenständen gesehen, die Nick im Sand aufgestapelt hatte, als er nach dem Kompass suchte. Ich hole am besten gleich Feuerholz, überlegte Mel. Schließlich brauchte man für einen Kaffee heißes Wasser. Auf dem Rückweg sammelte sie alles auf, was einigermaßen trocken und brennbar aussah, doch als Nick sie so schwer bepackt auf sich zukommen sah, runzelte er die Stirn. „Das werden wir nicht brauchen.“ Was hatte sie denn nun schon wieder falsch gemacht? „Aber ich dachte…“ „Um ehrlich zu sein, hatte ich nicht damit gerechnet, dass Sie so praktisch veranlagt sind und gleich Holz mitbringen würden“, sagte Nick. Sollte sie das jetzt als Kompliment oder als Beleidigung .auffassen?
„Sonst hätte ich es Ihnen vorher gesagt“, fuhr er fort. „Was vorher gesagt?“ „Wir müssen über den Fluss. Ans andere Ufer. Ich habe mich vorhin ein bisschen umgeschaut. Auf dieser Seite kommt in ein paar hundert Metern ein Sumpf, der nicht sehr Vertrauen erweckend aussieht. Wir könnten ihn vielleicht umgehen, aber das würde ziemlich viel Zeit kosten.“ „Oh. Ich verstehe“, meinte Melissa zerknirscht. Also kein Kaffee. Nick schien ihre Enttäuschung bemerkt zu haben. „Besser, wir bringen es hinter uns und frühstücken dann drüben. Das Wasser ist kalt, und wenn wir uns jetzt zuerst aufwärmen, frieren wir nachher umso mehr.“ Selbstverständlich hatte er Recht, auch wenn Melissa die Vorstellung nicht sonderlich gefiel, den Tag damit zu beginnen, durch einen eisigen Fluss zu waten. „Ist das bei Ihnen eigentlich immer so?“ fragte sie und konnte den leicht griesgrämigen Unterton in ihrer Stimme nicht ganz verbergen. „Was?“ „Dass Sie aufwachen und sofort voller Tatendrang sind.“ „Bei Ihnen klingt es, als sei das etwas Schlimmes.“ „Für jemanden wie mich ist es das, glauben Sie mir“, brummte Mel und schnitt eine Grimasse. „Ich sehe schon. Typischer Fall von Morgenmuffel“, meinte Nick mit einem Grinsen. „Ein bisschen mehr Begeisterung, wenn ich bitten darf“, ermunterte er sie betont fröhlich. „Ziehen Sie Ihre Schuhe aus. Es reicht, wenn wir nasse Füße bekommen.“ Melissa ließ sich auf einem Stein nieder, machte jedoch keine Anstalten, ihre Schuhbänder zu öffnen. Stattdessen zerrte sie genervt an ihrem Haarband. „Das Ding macht mich noch wahnsinnig, ständig ziept es irgendwo“, erklärte sie, als sie Nicks verwunderten Gesichtsausdruck sah. „Kann ich mir vorstellen“, meinte Nick, obwohl er das natürlich nicht konnte. Endlich gelang es ihr, das widerspenstige Ding zu lösen. Nick beobachtete sie aus dem Augenwinkel und dachte unwillkürlich daran, wie weich sich ihr langes blondes Haar, das nun locker über ihre Schultern fiel, in seinen Händen anfühlen musste. Eine besonders helle Strähne umspielte kurz ihre Wange, bevor Mel sie achtlos hinters Ohr schob. Ohne den praktischen, aber strengen Zopf wirkte sie noch zerbrechlicher und weiblicher. Weiblich. Nick verdrängte diesen Gedanken sofort wieder. Es war die Situation, in der sie sich befanden, die schlichtweg seinen Beschützerinstinkt geweckt hatte, das war alles. Jedenfalls gefiel ihm diese Erklärung für seine wachsende Zuneigung zu der jungen Tierärztin weit besser als die anderen möglichen Gründe, die einem in diesem Zusammenhang in den Sinn kommen könnten. Mel griff nach ihrer Baseballkappe, die ihr in der Nacht vom Kopf gerutscht war, setzte sie auf und zog ihr Haar geschickt zu einem Pferdeschwanz durch die hintere Öffnung. Erst dann machte sie sich an den Schnürsenkeln ihrer Wanderschuhe zu schaffen. Nick warf einen prüfenden Blick zum Himmel. Die düsteren grauen Wolken, die am Abend zuvor aufgezogen waren, schienen noch dunkler geworden zu sein. Es würde bald regnen. „Also dann. Fertig?“ fragte er und stand auf. „Ja, fertig.“ Melissa erhob sich mit einer Beherztheit, die Nick ihr, wenn er ehrlich war, nicht zugetraut hatte. Nun war es ihm fast peinlich, insgeheim erwartet zu haben, sie würde nörgeln oder zumindest versuchen, die Flussüberquerung hinauszuzögern. Es imponierte Nick, dass sie nichts Derartiges tat. Noch bevor Melissa eine Chance hatte, ihn zu fragen, ob sie ihm beim Tragen helfen konnte,
hatte er schon seine Arme durch die Riemen des schweren Rucksacks gesteckt und stapfte auf den Bach zu. Melissa folgte ihm. „Halten Sie sich an mir fest“, bot er an und streckte ihr eine Hand hin. „Der Grund sieht ziemlich glitschig aus. Ich möchte nicht, dass Sie ausrutschen.“ Doch Mel dachte nicht daran. „Ich schaffe das schon.“ Unerschrocken stieg sie ins Wasser, das nicht sehr tief, dafür aber eiskalt war, und arbeitete sich vorsichtig voran. Als nur noch ein Schritt sie vom anderen Ufer trennte, fühlte sie ihre Füße nicht mehr. Bis sie auf einen großen, kantigen Stein trat und ins Schwanken geriet. Sie ruderte mit den Armen in der Luft und erwischte in letzter Sekunde einen Zipfel von Nicks Jacke. Nick reagierte sofort. Er packte Melissa, um ihren Sturz aufzuhalten, und zog sie zu sich heran. „Na, na. Immer langsam mit den jungen Pferden“, meinte er, nicht zuletzt, um seinen eigenen Schreck zu überspielen. „Haben Sie sich wehgetan?“ Als er sie forschend musterte, glaubte Melissa noch etwas anderes als Besorgnis in seinem Blick zu erkennen. Mel spürte deutlich die Wärme, die von Nicks kräftigem Körper ausging, und auch die Wärme, die sich in ihr selbst ausbreitete. Wohlig, prickelnd. Sie erkannte das Gefühl wieder, wehrte sich aber dagegen, es anzuerkennen. Einen kurzen Moment lang standen sie wie erstarrt da und sahen einander in die Augen. Dann ließ Nick sie abrupt los. „Geht’s wieder?“ fragte er knapp. „Ja“, flüsterte Melissa. „Danke.“ Innerhalb kürzester Zeit hatte Nick ein kleines Feuer nicht weit vom Ufer entfacht, und Mel ließ sich dankbar davor nieder. Sie langte nach dem Metallbecher mit der braunen, lauwarmen Flüssigkeit, der ganz dicht neben der mickrigen Glut stand, und nippte daran. Wortlos setzte Nick sich neben sie, holte etwas aus seinem Rucksack und reichte es ihr. Es war ein Müsliriegel. Nachdenklich begann Melissa, ihr kärgliches Frühstück auszuwickeln. Nick benahm sich, als sei nichts geschehen. Vielleicht war aus seiner Sicht ja auch nichts geschehen. Vielleicht hatte sie sich das erregte Glimmen in seinen Augen nur eingebildet. Allerdings passierte es ihr nicht alle Tage, dass die bloße Berührung eines Mannes sie elektrisierte, als hätte er sie unter Strom gesetzt. Was für ein lächerlicher Gedanke. Angenommen, er interessierte sich tatsächlich für sie, würde das einen Unterschied machen? Sie war erst kürzlich nach Harbor gezogen, er dagegen im Begriff, von dort wegzuziehen – sobald sie wieder in der Zivilisation wären. „Sie haben mir noch gar nicht gesagt, wie weit es eigentlich bis zu dieser Landebahn ist, wo wir hingehen wollen.“ Weil ich es selbst nicht weiß, dachte Nick schuldbewusst. „Das kommt darauf an, wie viele Hindernisse wir noch umgehen müssen“, antwortete er vage. „Meinen Sie, wir können es schaffen, bevor es dunkel wird?“ Die Hoffnung in ihrer Stimme war nicht zu überhören. Nick fand es schrecklich, sie zu entmutigen, aber er konnte sie auch nicht belügen. „Darauf würde ich nicht wetten.“ Melissa starrte in die züngelnden Flammen vor ihr. Dann hob sie das Kinn und lächelte tapfer. „Das Feuer ist herrlich. Ich kann schon fast wieder meine Zehen fühlen.“ Nick wusste, dass sie fror. Er wusste auch, der beste Weg, dem abzuhelfen, wäre es, sich dicht aneinander zu kuscheln. Nicht, dass er das wirklich ernsthaft vorschlagen würde. Allein die Vorstellung genügte jedoch, um ihn unbehaglich die Knie anziehen zu lassen. Gewissen Teilen seines Körpers schien diese Idee zu gefallen, wie er bestürzt feststellen musste. Dabei war er doch kein Teenager,
dem beim Anblick eines üppigen weiblichen Hinterteils die Hormone überkochten
– obwohl die blonde Tierärztin in der Tat einen äußerst wohlgeformten Po hatte,
das konnte er nicht leugnen. Wie auch immer, ihm war jegliches Bedürfnis nach
sexuellen Betätigungen vergangen, seitdem seine Exfrau zum Schluss sogar das
dazu benutzt hatte, ihn unter Druck zu setzen und zu manipulieren.
Wenigstens ein Gutes hatte die Erinnerung an Ellen. Nick brauchte nicht mehr zu
befürchten, sich zu blamieren, wenn er aufstand. Die verräterische Wölbung in
seiner Hose war verschwunden.
Er erhob sich, zog seine Lederjacke aus und hielt sie Melissa hin. „Hier, ziehen
Sie die an.“
„Warum sollte ich?“ fragte Melissa empört. War er verrückt geworden? Wollte er
erfrieren?
„Weil ich es sage.“
„Nein.“
„Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass Sie stur sind wie ein Esel?“
„Ja. Und ich fasse das als Kompliment auf“, gab Mel schnippisch zurück.
„So war es aber nicht gemeint“, murmelte Nick. Na schön, wenn sie es so wollte.
Er konnte auch starrköpfig sein. Er legte die Jacke beiseite und begann, das
Jeanshemd aufzuknöpfen, das er darunter trug.
„Dann nehmen Sie wenigstens mein Hemd“, beharrte er.
„Aber…“
„Keine Widerrede. So wie ich das sehe, haben Sie nicht sonderlich viel Speck auf
den Rippen, der Sie gegen die Kälte schützen könnte. Ich bin größer als Sie und
habe mehr Masse, also kann mein Körper auch mehr Wärme erzeugen als Ihrer.“
Mel sah davon ab, etwas zu Nicks Bemerkung über ihre Figur zu sagen, denn ihre
Aufmerksamkeit galt weniger seinen Worten als dem blauen Fleck, der an seinem
Oberarm sichtbar wurde, nachdem er sein Jeanshemd abgestreift hatte.
„Sie sind ja verletzt!“
Nick hob die Augenbrauen, dann verstand er, was sie meinte. „Das ist nichts.
Bloß ein Kratzer.“
„So? Ich will mir das mal ansehen.“
„Hören Sie…“
„Keine Widerrede.“
Nick war sich nicht sicher, ob sie absichtlich dieselben Worte gebraucht hatte wie
er, aber sie zeigten bei ihm eindeutig bessere Wirkung, als sie es bei ihr getan
hatten. Mit einem resignierten Seufzer krempelte er sein TShirt hoch.
„Du meine Güte!“ entfuhr es Melissa. „Was ist?“ Verwirrt blickte Nick an sich hinunter, konnte aber nichts Dramatisches entdecken. „Nun, es scheint nicht schlimm zu sein. Ein Glück.“ „Das klingt, als hätten Sie irgendetwas Bestimmtes befürchtet?“ „Ja, ein heftiger Stoß gegen die linke Brust kann ein Blutgerinnsel in den Herzgefäßen verursachen. Aber das hier ist zu weit oben dafür, das Herz sitzt
tiefer.“
„Ich dachte, Sie sind Tierärztin.“
„Und hätte von der menschlichen Anatomie keinen blassen Schimmer, was?“
„So meinte ich das nicht“, erwiderte Nick schnell. „Es ist nur… Wollten Sie jemals
Humanmedizinerin werden?“
„Nein, nie“, antwortete Melissa ohne Zögern. „Es hat mich schon immer zu den
eher pelzigen Patienten hingezogen.“
„Warum das?“
„Weil ich als Kind kein Haustier haben durfte“, erklärte sie und betastete
behutsam Nicks Schlüsselbein. „Tut das weh?“ „Nicht besonders.“ „Hm“, machte Melissa abwesend. Eigentlich gab es jetzt keinen Grund mehr, Nick zu berühren, doch alles, woran sie denken konnte, war die Wärme seiner Haut und sein Herzschlag, den sie unter ihren Fingern spürte. Er war schnell, aber gleichmäßig. „Es geht mir gut. Ehrlich“, hörte sie Nicks Stimme, die aus weiter Ferne zu kommen schien. Sie zog ihre Hand weg. „Gibt es noch irgendwelche ,Kratzer’, die Sie nicht für erwähnenswert hielten?“ fragte sie halb scherzhaft, halb vorwurfsvoll. „Melde gehorsamst, keine weiteren Beschädigungen, Ma’am“, konterte Nick. Er hielt ihr abermals sein Jeanshemd hin. „Würden Sie das jetzt bitte anziehen?“ Melissa war gerade dabei, die Knöpfe des ihr viel zu großen Kleidungsstückes zu schließen, als sie sah, dass Nick sich nach dem Rucksack bückte. „Den nehme ich“, sagte sie entschieden und schnappte flink nach einem der Gurte. „Trinken Sie den Rest Kaffee aus.“ Nick hob beschwichtigend die Arme. Er hatte nichts dagegen, solange sie trotzdem mit ihm Schritt halten konnte. Es lag noch ein weiter Weg vor ihnen. Das Einzige, womit er ein Problem hatte, war, wieder zu vergessen, wie sanft und weich sich ihre Finger auf seiner nackten Brust angefühlt hatten. Kaum hatte er den Kaffee ausgetrunken, nahm Melissa ihm den Becher auch schon ab und ging damit geschäftig zum Fluss hinunter, um ihn auszuspülen. „Sie können gleich ein bisschen Wasser mitbringen“, rief er und fing an, schon mal mit dem Fuß ein wenig Erde auf die Glut zu schieben. „Wir müssen das Feuer ausmachen, bevor wir gehen.“ Plötzlich gab es ein lautes Zischen, gefolgt von einem dumpfen Klatschen. Das Ganze wiederholte sich einige Male, dann betrachtete Melissa kritisch ihr Werk. Die ehemalige Feuerstelle glich einem winzigen Tümpel, in dessen Mitte sich eine Art Matschburg erhob. „Reicht das?“ fragte Mel. Nick starrte sprachlos auf das Ergebnis ihrer Löschaktion. „Ja, ich glaube, das reicht“, sagte er langsam. „Sind Sie immer so effizient?“ „Ich versuche es zumindest“, erwiderte Melissa unbekümmert. Den schrägen Blick, den Nick ihr zuwarf, sah sie nicht mehr, denn sie hatte bereits den Rucksack geschultert und sich umgedreht, um vorauszugehen. Außerdem war sie viel zu beschäftigt damit, darüber nachzudenken, warum er ihr seine Verletzung verheimlicht hatte. Gegen Mittag, nach einem weiteren Müsliriegel und zahlreichen Begegnungen mit wild lebenden, jedoch weitestgehend harmlosen Tieren – bis auf das Stinktier vielleicht –, vermutete sie, dass Nick einfach zu der Art von Männern gehörte, die es vorzogen, sich über ihre persönlichen Probleme auszuschweigen, solange es ging. Und am frühen Nachmittag bestätigte sich ihr Verdacht. Sie standen am Fuße eines Gebirgskammes, als Nick es endlich für angebracht hielt, ihr gegenüber zuzugeben, dass er keine Ahnung hatte, wo sie waren.
5. KAPITEL Melissa hatte bisher immer geglaubt, in guter Form zu sein. Jetzt musste sie sich eingestehen, dass das wohl nicht der Fall war. Ihre Lungen brannten, und der ziehende Schmerz in ihren Oberschenkeln wurde mit jedem Schritt unerträglicher. Der Wind hier oben war schneidend kalt, aber er war nicht der Grund, weshalb Mel am ganzen Leib zitterte. Sie hatte Nick nicht mal gefragt, wie hoch er zu steigen gedachte. Wahrscheinlich, weil sie Angst vor der Antwort hatte. Verzweifelt versuchte sie sich einzureden, dass, selbst wenn sie stolperte, ihr Sturz von den umstehenden Bäumen mit Sicherheit rasch abgefangen werden würde und sie sich mit etwas Glück nicht gleich den Hals brach. Das funktionierte so lange, bis der Wald schließlich auf ein paar vereinzelt wachsende, morsche Pinienstämme zusammengeschrumpft war, die aussahen, als könnte die nächste Böe sie wie Streichhölzer umknicken. „Gehen Sie vor“, verlangte Nick plötzlich. „Und geben Sie mir den Rucksack.“ „Ich…“ Ich komme schon klar, hatte Mel sagen wollen, aber ein kurzer Blick nach oben auf das vor ihr liegende Gelände ließ sie ihre Meinung schlagartig ändern. Schroffe Felsen, die von tiefen Rissen durchzogen wurden, und Geröll – das war alles, was sie sah. Keine Büsche, keine Baumwurzeln, nichts, woran man sich festhalten konnte, nur nasses, bröckeliges Gestein. Nichts, was den Blick auf das verdeckte, was unter ihnen lag. Melissa fühlte, wie ihre Handflächen feucht wurden. Nicht runterschauen, nur nicht runterschauen, murmelte sie lautlos zu sich selbst. Sie sah ja ein, dass man von einem erhöhten Platz aus am besten feststellen konnte, wo man sich befand und in welche Richtung man von dort aus weitergehen sollte. Aber musste es unbedingt so hoch sein? Und überhaupt, hätte Nick ihr nicht früher sagen können, dass sie sich verlaufen hatten? „Ich hoffe bloß, Sie wissen, was Sie tun“, zischte sie, als sie an Nick vorbeikletterte. Die Bemerkung klang viel wütender, als sie beabsichtigt hatte. Verbissen tastete sie nach einem Vorsprung, an dem sie sich hochziehen konnte, als ein heftiger Windstoß ihre Baseballkappe erfasste und sie ihr vom Kopf fegte. Mel reagierte, ohne zu überlegen, und schnappte danach. Nur in letzter Sekunde verhinderte ihre Reaktionsschnelligkeit, dass sie den Halt verlor. Panisch krallte sie sich an dem erstbesten Stein fest, der ihr zwischen die Finger kam. Wie aus dem Nichts tauchte Nick direkt neben ihr auf und berührte ihren Arm, woraufhin sie erschrocken zusammenzuckte. „He, he“, flüsterte Nick. Der Schreck war seiner Stimme deutlich anzuhören. „Ist ja noch mal gut gegangen. Alles wieder in Ordnung?“ Mel öffnete zögernd die Augen, die sie vor Schreck fest zusammengekniffen hatte. „Wie… wie weit noch?“ brachte sie keuchend heraus. „Nicht mehr weit.“ Sie nickte und pustete sich ungeduldig das Haar aus dem Gesicht, doch es war sinnlos, der Wind blies es immer wieder zurück. „Haben Sie noch dieses rosa Ding?“ „Welches Ding?“ „Das Haargummi.“ Melissa deutete mit einer Kopfbewegung auf die Brusttasche des Jeanshemdes, das Nick ihr gegeben hatte. Sie traute sich nicht, den glitschigen Stein loszulassen, an den sie sich klammerte. Stirnrunzelnd griff Nick in die Tasche und versuchte, Mels flatternde Haare zu einem Pferdeschwanz zusammenzubinden, was sich als schwierig herausstellte.
Seine diesbezüglichen Erfahrungen beschränkten sich darauf, die Frisur einer Frau durcheinander zu bringen. Sie zu richten, das war etwas völlig anderes. Zumindest hielt die Tierärztin still und beschwerte sich nicht über seine Ungeschicklichkeit. Doch genau das beunruhigte Nick. Er hatte ihre Höhenangst unterschätzt. Das war leichtfertig und obendrein rücksichtslos von ihm gewesen. Er hätte sie jedoch genauso wenig allein unten zurücklassen können. Was, wenn ihr in der Zwischenzeit etwas zugestoßen wäre, bis er wiederkam? „Wir sind fast da, okay?“ redete er ihr gut zu. „Kommen Sie schon. Sie verpassen eine herrliche Aussicht, wenn Sie die ganze Zeit nur den Felsen anstarren.“ Diese letzte Bemerkung war zwar nicht besonders taktvoll gewesen, aber Nick hoffte, Melissa dadurch aus der Reserve zu locken. Sollte sie ruhig böse auf ihn sein, ihn seinetwegen sogar anschreien. Hauptsache, sie erwachte aus diesem Zustand der totalen Teilnahmslosigkeit. Nach zwei Minuten, die Nick wie Stunden vorkamen, atmete Mel tief durch und setzte sich wortlos wieder in Bewegung. Sie ist ein zähes Persönchen, dachte Nick anerkennend. Einzig und allein der Gedanke daran, festen und vor allem ebenen Boden unter den Füßen zu haben, war es, der Mel zum Weitergehen antrieb. Das und Nicks Hand, die auf ihrem Po lag. Nicht, dass er sie voranschob, er stützte sie lediglich. Unter anderen Umständen hätte sie ihm vermutlich eine Ohrfeige verpasst, aber momentan gab es wichtigere Dinge, auf die sie sich konzentrieren musste. Zum Beispiel, nicht vor schierem Entsetzen in Ohnmacht zu fallen, als sie sich mit letzter Kraft über die Kante des Abhangs quälte, um sich im nächsten Augenblick auf einem höchstens einen halben Meter breiten, dafür aber mehrere Kilometer langen Grat wiederzufinden, der auf der gegenüberliegenden Seite steil in die Tiefe abfiel. Melissa bemerkte weder, wie Nick sich zu ihr hinunterbeugte, noch bemerkte sie, dass er sie an der Schulter rüttelte. Sie saß einfach da, die Arme um ihre angezogenen Beine geschlungen. „Melissa! Sie müssen mir helfen. Hören Sie?“ Helfen? Sie blinzelte. „Was…?“ Nick setzte den Rucksack ab, holte die Karte daraus hervor und hielt sie Melissa hin. „Hier, breiten Sie die Karte auf dem Boden aus, und halten Sie die Ecken gut fest!“ Er musste beinahe brüllen, um das Heulen und Tosen des Windes zu übertönen, der unerbittlich über die völlig ungeschützte Fläche hinwegfegte, auf der sie sich befanden. „Je eher wir rausgefunden haben, wo wir sind, desto eher können wir von hier verschwinden, ja?“ Mel nickte. Sie klemmte eine Hälfte des Papiers unter ihre Knie und drückte die andere mit zitternden Händen flach auf den steinigen Untergrund. Nick stand auf und suchte die Umgebung nach Orientierungspunkten ab, die sich auf der Karte wiederfinden ließen. „Melissa, sehen Sie ein Gewässer in der Form eines Hufeisens?“ „Ja, einige“, kam die Antwort, schneller, als Nick erwartet hatte. „Einen See, der zwischen zwei Bergen liegt? Ich glaube, es führt so etwas wie eine Straße entlang. Könnte auch ein Forst weg sein.“ „Eine Straße ist hier nirgends eingezeichnet.“ Nick bückte sich, um selbst einen Blick auf die Karte zu werfen, aber Melissa hatte Recht. Doch ob eingezeichnet oder nicht, dort unten war tatsächlich eine Straße, und sie führte scheinbar in Richtung des Flugplatzes, den Nick ursprünglich hatte ansteuern wollen. Zumindest hoffte er das. „Macht nichts“, meinte er. „Der Kurs stimmt jedenfalls, und wenn wir Glück
haben, kommt sogar ein Auto vorbei.“ Ein Auto, überlegte Melissa. Das wäre die Rettung. „Allerdings müssen wir noch ein Stückchen geradeaus, bevor wir auf der anderen Seite runtersteigen können. Hier ist es noch zu steil.“ Geradeaus? Er meinte doch nicht etwa auf diesem Drahtseil aus losem, brüchigem Felsgestein! Schon beim bloßen Anblick des sich vor ihr wie eine Schlange durch die Landschaft windenden schmalen Gebirgskammes wurde Melissa schwindelig. Alles, nur das nicht. „Was ist?“ fragte Nick skeptisch. Machen Sie mir jetzt nicht schlapp, dachte er, alarmiert durch die Art, wie Melissa ihre Schuhspitzen fixierte und alles um sich herum auszublenden schien. Sie wollte sich dazu zwingen, wieder aufzustehen, aber ihre Beine gehorchten nicht. Verdammt, er musste sie für vollkommen hysterisch halten. Sie würde es ihm nicht verdenken, wenn er von ihren Sperenzchen langsam genug hatte. Reiß dich zusammen, befahl sie sich. Nichts. Sie konnte nicht mal den kleinen Zeh bewegen. „Ich weiß, dass Sie Angst haben, Melissa.“ Zu ihrer Überraschung klang dieser Satz überhaupt nicht vorwurfsvoll. Oder ungeduldig. Nur aufrichtig besorgt. Nick hockte sich hin und hob mit einem seiner Zeigefinger ihr Kinn sanft an, so dass sie ihm in die Augen sehen musste. „Ich möchte, dass Sie etwas für mich tun“, sagte er eindringlich. „Erzählen Sie mir, was das Schlimmste war, das Sie jemals erlebt haben. Machen Sie das? Ja?“ „Ich… ich kann mich nicht erinnern“, stammelte Mel. „Versuchen Sie es.“ „Alles, woran ich denken kann, ist, ob man den Aufprall noch spürt oder schon vorher an Herzversagen stirbt.“ „Ich werde nicht zulassen, dass Sie fallen. Wenn es sein muss, kriechen wir auf allen vieren vorwärts, okay? Also, das Schlimmste überhaupt, was war das?“ „Als meine Mom ins Gefängnis kam und ich ihr nicht helfen konnte.“ Nick schluckte. „Das muss furchtbar gewesen sein.“ Er hätte gerne erfahren, wie es dazu hatte kommen können, aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um danach zu fragen. „Aber Sie haben es überlebt“, bemerkte er stattdessen. „Sie werden auch das hier überleben. Tun Sie einfach nur, was ich sage, und ich verspreche Ihnen, Sie heil nach Hause zu bringen.“ Er strich aufmunternd mit dem Daumen über ihre Wange. „Einverstanden?“ Melissa runzelte die Stirn. Er hatte ihr soeben ein Versprechen gegeben. Das allein hätte ihr eigentlich Grund genug sein müssen, sich keinen Millimeter von der Stelle zu rühren. Wann immer sie einen Mann beim Wort genommen und sich darauf verlassen hatte, dass er es halten würde, konnte sie davon ausgehen, sich damit direkt ins Verderben gestürzt zu haben. So war es jedes Mal gewesen. Doch dann geschah etwas, woran Melissa schon längst nicht mehr geglaubt hatte. Sie verabschiedete sich von der über Jahrzehnte gewachsenen Überzeugung, Hilfe von anderen anzunehmen sei ein Zeichen von Schwäche, die einem irgendwann zum Verhängnis wurde. Nun, dann war sie eben schwach. Außer Nick war niemand hier, um es zu sehen. Und er war kein Mensch, der ihr später einen Strick daraus drehen würde, das spürte sie plötzlich ganz deutlich. „Einverstanden“, flüsterte sie. Erleichtert half Nick ihr auf. Diese Entscheidung zu treffen war ihr nicht leicht gefallen, dessen war er sich sicher. „Ich gehe vor, und Sie halten sich an mir fest. Sie treten exakt da hin, wo ich
hintrete, klar?“ „Klar.“ „Inzwischen können Sie mir erklären, was es mit dieser Sache auf sich hat“, sagte Nick, als Melissa hinter ihm in Position ging und mit beiden Händen die Seiten seiner Lederjacke packte. „Welche Sache?“ „Dass Sie Tierärztin geworden sind, weil Ihre Mom Ihnen verboten hat, ein Haustier zu halten. Das war doch nicht der einzige Grund, oder?“ Melissa durchschaute sofort, was er mit dieser Frage bezweckte. Er wollte sie von ihrer Furcht ablenken, indem er sie in ein Gespräch verwickelte. Warum eigentlich nicht, dachte sie. Einen Herzschlag erleiden und tot umfallen, das konnte sie auch später noch, falls Nicks Plan fehlschlug. „Nein, das war nicht der einzige Grund“, gab sie zu, während sie ihre Augen angestrengt auf Nicks Füße gerichtet hielt und ihre Schritte den seinen anglich. „Es ist manchmal leichter, mit Tieren umzugehen als mit Menschen. Ein Tier tischt Ihnen keine Lügenmärchen darüber auf, wo es war und mit wem. Und ein Tier zieht auch nicht los und kauft sich von dem Geld für die Miete einen Monatsvorrat Whisky.“ „Reden Sie von dem Kerl, wegen dem Sie L.A. verlassen haben?“ „Kerl?“ „Die Leute in Harbor glauben, Sie wären deshalb so weit von zu Hause weggezogen. Um einen Mann loszuwerden.“ Melissa zog die Stirn kraus. Wie kamen sie denn darauf? „Ich spreche von meiner Mom und meiner Schwester“, erwiderte sie. Nick hob den Kopf und beäugte misstrauisch die Wolkenformation am Himmel. „Es wird jede Minute anfangen zu regnen“, bemerkte er zähneknirschend. Wie um seine Worte zu bestätigen, traf ein kleiner Tropfen Mels Nasenspitze. Ein weiterer Tropfen landete auf ihrer Wange. „Ich weiß ja nicht, was Sie denken, aber hier oben könnte es ziemlich bald ziemlich ungemütlich werden. Ich hätte da einen Vorschlag zu machen, aber er wird Ihnen nicht gefallen, fürchte ich.“ Melissas Magen krampfte sich zusammen. Es war nicht schwer zu erraten, was Nick vorhatte. Mehr als die Idee selbst beunruhigte Mel allerdings, dass sie im Begriff war, sich darauf einzulassen. Er hatte ihr versprochen, sie nach Hause zu bringen. Und sie hatte versprochen, ihm nicht zur Last zu fallen und ihn unnötig aufzuhalten. „Wir nehmen den direkten Weg nach unten?“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Nick drehte sich zu ihr um, und sie sah die winzige Andeutung eines Lächelns in seinen Augen aufflackern. Oder war das etwa ein Blitz gewesen? Mel erinnerte sich daran, wie sie als Kind immer gezählt hatte, bis der Donner folgte. Daran konnte man erkennen, wie weit das Gewitter entfernt war. Eins, zwei – weiter kam sie nicht. Der ganze Berg schien unter dem gewaltigen, ohrenbetäubenden Krachen zu erbeben. Mel rannte los. Sie hatte nur einen Gedanken: das rettende Tal zu erreichen. Sie strauchelte und landete unsanft auf ihrem Hinterteil. Schnell musste sie einsehen, dass alle Versuche, wieder auf die Füße zu kommen, zwecklos waren, die Böschung war einfach zu steil. Aber wenn sie es sich recht überlegte, würde sie auf diese Weise sowieso schneller unten ankommen. Sie durfte nur nicht vornüberkippen. Indem sie ihre Fersen als Bremse benutzte, kämpfte sie darum, auf dem Rücken zu bleiben. Die rechts und links an ihr vorbeipurzelnden Kiesel verrieten ihr, dass Nick dicht hinter ihr war. Sie konnte sich gut vorstellen, dass ihm diese Rutschpartie sogar Spaß machte. Ihrer Ansicht nach musste jeder, der sich
freiwillig in ein Flugzeug setzte und das auch noch genoss, eine ausgeprägte Vorliebe für Abenteuer haben. Noch ehe Mel richtig bewusst wurde, dass sie die halsbrecherische Aktion heil überstanden hatte, zog Nick sie auf die Füße und schob sie auf einen niedrigen Felsvorsprung zu, der sich als eine Art Höhle herausstellte. Sie war nicht besonders groß, bot aber ausreichend Schutz vor dem draußen tobenden Unwetter. Selbst im schummrigen Nachmittagslicht, das von den Steinwänden fast gänzlich verschluckt wurde, konnte man deutlich die dicke Schmutzkruste auf Melissas Handflächen sehen. „Zeigen Sie mal her“, verlangte Nick und nahm, ohne auf eine Antwort zu warten, Mels Hände in seine. „Sie sollten das abwaschen“, riet er. „Vielleicht haben Sie sich unterwegs verletzt. Einen Moment.“ Er setzte den Rucksack auf den Boden, holte eine Tube mit antibakterieller Salbe heraus und gab sie Melissa. „Wie geht es Ihnen? Wieder alles in Ordnung?“ „Ja“, versicherte sie schnell. Er brauchte nicht zu wissen, dass sie ein heftiges Bedürfnis verspürte, sich an etwas anzukuscheln. An etwas Stabiles, was Halt versprach. Noch weniger brauchte er zu wissen, dass sie seine muskulöse Brust für durchaus geeignet hielt. Seine Brust? Hatte sie das wirklich gedacht? Und, was noch wichtiger war – hatte Nick womöglich bemerkt, was in ihrem Kopf vorging? Die Todesangst, die Mel noch vor wenigen Augenblicken fast um den Verstand gebracht hätte, machte schlagartig einem anderen Gefühl Platz, das beinahe ebenso schrecklich war: Scham. „Es tut mir Leid wegen meines Aussetzers da oben“, murmelte sie verlegen. „Ich wollte nicht…“ „Machen Sie sich keine Sorgen darum“, winkte Nick ab. „Es gibt viele Dinge, mit denen ich auch nicht zurechtkomme.“ „Zum Beispiel?“ „Menschen, die vorgeben, jemand zu sein, der sie nicht sind. Schlaflose Nächte“, zählte Nick auf. Er lehnte sich gegen die steinerne Wand zu seiner Linken und fuhr abwesend mit den Fingern über die feuchte Moosschicht, die darauf wuchs. Melissa hatte diese Angewohnheit schon öfter bei ihm beobachtet. Wie er die Rinde eines Baumes berührte, im Vorbeigehen ein Blatt von einem Busch zupfte und es betrachtete, ein verlassenes Schneckengehäuse aufhob und seine Form bewunderte. „Dann muss die letzte Nacht furchtbar für Sie gewesen sein“, vermutete sie. „Ich bezweifle, dass diese viel besser wird“, brummte Nick und warf einen abschätzenden Blick auf die hohen Pinien ringsum, deren Kronen sich im Sturm bedrohlich zur Seite neigten. Lose Äste wirbelten durch die Luft, und überall flog Laub umher. „Wussten Sie, dass hier eine Höhle ist?“ fragte Mel. „Nein.“ Nick wischte sich mit dem Ärmel seiner Jacke die Wassertropfen von der Stirn. „Ich nehme an, es war an der Zeit für uns, zur Abwechslung mal ein wenig Glück zu haben.“ Melissa lächelte. Zwar nur schwach, aber es reichte, um ihn wissen zu lassen, dass sie derselben Meinung war. „Machen wir ein Feuer“, schlug sie vor. „Ich erfriere.“ „Gute Idee“, stimmte Nick zu. Er wühlte im Rucksack und brachte ein paar leicht eingedrückte Tannenzapfen zum Vorschein. „Was halten Sie davon, mir beim Essen zu erzählen, wer von Ihrer Verwandtschaft es mit der Wahrheit nicht so genau nimmt und wer gern zu tief ins Glas schaut?“
6. KAPITEL So, er wollte also über ihre Familie reden. Melissa stand im Ausgang der Höhle
und hielt ihre Hände in den Regen hinaus. Hinter sich hörte sie leises Knistern,
als die Tannenzapfen langsam anfingen zu brennen, und ein Kratzen, als Nick mit
dem Taschenmesser die Rinde von einem herumliegenden Ast abschabte und sie
ins Feuer warf.
Er hatte in diesen knapp 48 Stunden bereits mehr über sie erfahren als die
meisten anderen Männer in vielen Wochen. Er wusste, wie sie nach einer
miserablen Nacht und einem noch grauenhafteren Tag aussah, ungeduscht,
ungekämmt und mit verschmierter Wimperntusche. Sofern davon inzwischen
überhaupt noch etwas übrig war. Ihre Kleidung war voll mit eingetrocknetem
Schlamm. Und mein Gesicht sieht wohl kaum besser aus, dachte Mel nüchtern.
Was machte es also für einen Unterschied, ob er den Rest ihrer schmutzigen
Wäsche ebenfalls zu sehen bekam?
Sie drehte sich um und hockte sich neben dem kärglichen Lagerfeuer auf die
Erde. Holz knackte, als Nick mit Hilfe seines Knies einen Zweig zerbrach.
„Irgendwelche Kratzer abbekommen?“ fragte er.
„Nur ein paar. Und Sie?“
„Nicht der Rede wert“, antwortete Nick, während er sich die Hände an seiner
Jeans abwischte.
„Was Sie nicht sagen“, argwöhnte Melissa. Ohne ein weiteres Wort hielt sie seine
Handflächen ins Licht und untersuchte sie eingehend. Dieses Mal hatte er nicht
geschwindelt, es waren tatsächlich nur einige kleine Schrammen zu sehen. Aber
die schmale Vertiefung an seinem Ringfinger erregte ihre Aufmerksamkeit. Es
dauerte lange, bis so eine bleibende Druckstelle entstand.
„Glauben Sie mir etwa nicht?“
Mel lächelte über die berechtigte Anschuldigung.
„Ich wollte nur sichergehen“, meinte sie augenzwinkernd. Sie riss ein Päckchen
Tomatensuppe auf, schüttete den Inhalt in den Metallbecher und goss Wasser
aus der Feldflasche dazu. Dann suchte sie nach einem Zweig zum Umrühren,
ganz wie sie es am Abend zuvor bei Nick gesehen hatte. „Meine Schwester ist
diejenige, die einen Hang zum Flunkern hat, und Mom kann nicht mit Alkohol
umgehen“, erzählte sie unvermittelt. „Jedenfalls war das früher so. Aber heute
hat sie es im Griff.“
Mel schraubte den Verschluss der Tube auf und drückte einen erbsengroßen
Klecks Salbe heraus. „Es war nicht leicht für sie, einen festen Job zu finden, aber
sie hat ihn jetzt seit über einem Jahr und lebt mit einer sehr lieben, älteren Dame
zusammen.“
„Wie alt waren Sie, als sie ins Gefängnis kam?“
Melissa seufzte.
„Fünfzehn“, sagte sie so beiläufig wie möglich. „Na gut, fast. Mein Geburtstag
war erst am nächsten Tag.“
Nettes Geschenk, dachte Nick.
„Und wo war Ihr Vater?“
„Der ist abgehauen, als ich fünf war. Dann kam Cams Dad, aber ein Jahr,
nachdem Mom angefangen hatte zu trinken, machte er sich auch aus dem Staub.
Oder, um genau zu sein, nachdem ihre Trinkerei völlig außer Kontrolle geriet.“
„Cam ist Ihre Schwester?“
„Ja.“ Melissa fischte einen Müsliriegel aus dem Rucksack.
Es waren nur noch zwei Stück übrig. „Teilen wir uns einen?“ schlug sie vor.
„Sicher.“
Mel brach eine Ecke ab und reichte Nick den Rest. „Sie haben mehr Masse“, erklärte sie. „Also brauchen Sie auch mehr zu essen.“ „Wie Sie meinen. Und warum ist Ihre Mutter im Gefängnis gelandet?“ Melissa beugte sich vor und schlang die Arme um ihre Knie. Sie hatte seit langer Zeit nicht mehr an diese Ereignisse aus ihrer Kindheit gedacht, aber sie erinnerte sich trotzdem sehr gut an die Gefühle, die damit verbunden gewesen waren. Die Verzweiflung und Hilflosigkeit. Vor allem jedoch die Hilflosigkeit. „Mom war betrunken und hat unserem Vermieter einen Zahn ausgeschlagen, als er kam, um sein Geld einzutreiben.“ Sie schüttelte den Kopf. „In nüchternem Zustand tut sie keiner Fliege etwas zuleide. Wenig später hat die Polizei sie dann festgenommen.“ „Und Sie mussten sie rausholen?“ „Ich habe es wenigstens versucht. Sie ist meine Mutter. Was sollte ich machen?“ sagte Melissa leise. „Gab es keine Erwachsenen, die das hätten regeln können?“ „Mom flehte mich geradezu an, weder meinem Dad noch Bill etwas zu sagen.“ „Was passierte dann?“ „Gar nichts. Niemand nahm mich ernst, weder die Behörden noch sonst irgendjemand. Ich war ja noch minderjährig. Mir blieb nichts anderes übrig, als abzuwarten, bis Mom ihre Verhandlung hatte und auf Bewährung freigelassen wurde. Danach fing ich an, die Schecks mit dem Kindergeld zu verstecken, damit wir wenigstens immer die Miete bezahlen konnten.“ Nick zog die Augenbrauen zusammen, so dass eine tiefe Falte auf seiner Stirn entstand. Wie konnte eine Mutter nur so verantwortungslos sein? „Klingt, als sei Ihre Mom damals nicht in der Lage gewesen, für Sie und Ihre Schwester zu sorgen. Wer hat es dann getan?“ „Ich“, antwortete Melissa wie selbstverständlich. „Obwohl Cam nicht unbedingt begeistert davon war“, fügte sie hinzu. „Im Alter von zwölf Jahren entschied sie endgültig, dass sie auf niemanden zu hören brauchte. Ganz besonders nicht auf mich. Sie entwickelte ein erstaunliches Talent, genau das Gegenteil von dem zu tun, was man ihr sagte.“ Mel lächelte schief. „Ich glaube, sie hat nur angefangen die Schule zu schwänzen, weil sie wusste, ich würde Mom nichts erzählen.“ „Wieso nicht?“ „Wenn es Probleme gab, trank Mom noch mehr als sonst.“ „Aber weshalb hat Ihre Schwester Ihnen das Leben noch zusätzlich schwer gemacht? Ich dachte, man hält in so einer Lage eher zusammen?“ Nick war sichtlich verwirrt. Melissa nestelte an einem Pinienzapfen herum, riss kleine Stückchen davon ab und schnippte sie nachdenklich ins Feuer. Nach einer langen Pause antwortete sie endlich. „Der Schulseelsorger sagte, sie versuchte dadurch die Aufmerksamkeit und Liebe zu bekommen, die ihr zu Hause fehlten.“ Mel schmiss die Überbleibsel des Zapfens in die Glut. Ihre Stimme klang plötzlich sehr ernst. „Ich habe mein Bestes gegeben, um ihr all das zu geben, was Mom ihr nicht geben konnte.“ Zu dieser Tatsache hatte der Seelsorger auch eine Meinung gehabt. Nämlich, dass es nicht Melissas Aufgabe war, in die Mutterrolle zu schlüpfen. Aber wer hätte es denn sonst tun sollen? Die verschiedenen Männer, die im Laufe der Jahre gekommen und wieder gegangen waren, hatten keinerlei Interesse daran gezeigt, auch nur die geringste Verantwortung für eine rebellische Jugendliche und ihre überfürsorgliche große Schwester zu übernehmen, worauf die beiden wiederum ohnehin gut verzichten konnten. Das war wahrscheinlich das Einzige, worin Melissa und Cameron sich jemals einig
gewesen waren.
Nick gegenüber erwähnte sie von alledem jedoch nichts. Sie hatte schon viel zu
viel von sich preisgegeben.
„Wissen Sie“, meinte sie und rang sich ein Lächeln ab, „das ist wirklich alles
schon sehr lange her.“
Sie versuchte, das Thema zu wechseln. Nick konnte es ihr nicht verdenken.
Dennoch gab es da eine Sache, die er sich nicht erklären konnte.
„Nur eins noch.“
„Was?“
„Wie haben Sie es trotz dieser ganzen Misere fertig gebracht, nebenbei noch zu
studieren?“
„Sie meinen das Finanzielle?“
„Auch.“
„Ich habe nebenbei gearbeitet. Allerdings habe ich für meinen Abschluss doppelt
so lange gebraucht wie üblich. Als Mom die Entziehungskur gemacht hat, musste
ich mich ja ganz allein um alles andere kümmern. Die Miete, den Haushalt und so
weiter.“
Nick begann zu mutmaßen, dass die Stärke, die Melissa nach außen zeigte, ein
Resultat der Umstände war, unter denen sie hatte aufwachsen müssen. Und er
nahm an, dass sich dahinter ein sehr empfindsamer, verletzlicher Mensch
verbarg. Ihre Schwester war schließlich nicht die Einzige gewesen, die unter den
Eskapaden der Mutter gelitten hatte. Melissa aber verlor kein Sterbenswort über
ihr eigenes Leid von damals.
„Wann sind Sie ausgezogen?“
„Letzte Woche.“
Nick zog verblüfft die Augenbrauen hoch. Er hatte mehr an ein „vor ein paar
Jahren“ gedacht.
„Kein Wunder, dass Sie sich ausgerechnet Harbor ausgesucht haben.“
Jetzt war es an Melissa, überrascht zu sein. Sie legte fragend den Kopf schief.
„Sie wollten offenbar so weit weg von L.A. wie nur möglich“, folgerte Nick.
„Absolut verständlich“, fügte er rasch hinzu. „Nebenbei, Harbor ist genau der
richtige Ort, wenn man für eine Weile abtauchen möchte.“
Melissas Befremden über seinen Kommentar machte einer plötzlichen Erkenntnis
Platz. Das, was er sagte, klang verdächtig nach eigener Erfahrung.
„War es das, was Sie in Harbor gemacht haben? Abtauchen?“
Nick wich abrupt ihrem Blick aus. Anscheinend hatte sie mit ihrer spontanen
Äußerung direkt ins Schwarze getroffen.
„Ich ziehe es vor, meinen Aufenthalt dort als Urlaub zu betrachten“, antwortete
er wenig überzeugend.
„Ah“, machte Melissa. „Wie lange dauerte dieser Urlaub denn ungefähr?“ bohrte
sie weiter.
„Länger, als ich geplant hatte“, kam die nichts sagende Antwort. Es gab eine
Pause, dann seufzte er resigniert. „Sechs Monate.“
Ein riesiger Blitz zuckte über den Himmel und ließ Mel erschrocken
zusammenfahren. Gleißendes, weißblaues Licht blendete ihre Augen. Ein lautes
Donnergrollen folgte nur wenige Sekunden später.
„Mann o Mann, bin ich froh, dass wir jetzt nicht da draußen sind“, murmelte Nick.
Über das Wetter zu reden war eindeutig angenehmer als über sich selbst, fand
er. Ganz besonders in Anbetracht der Tatsache, dass seine Gesprächspartnerin
ihm scheinbar mühelos auf den Kopf zugesagt hatte, warum es ihn in Wirklichkeit
nach Harbor verschlagen hatte.
„Ich auch“, schauderte Melissa. „Das klang ziemlich nah.“
„Vielleicht zieht es schnell vorbei.“ „Vielleicht“, wiederholte Mel. Ja, dachte er, über das Wetter reden ist gut. Das war es immerhin, was Fremde normalerweise zu tun pflegten, wenn sie irgendwo zusammen feststeckten. Im Fahrstuhl zum Beispiel. Oder eben in einer winzigen Höhle. Seltsam war nur, dass die junge Frau, die beklommen den draußen wütenden Sturm beobachtete, ihm überhaupt nicht mehr wie eine Fremde vorkam. „Stimmt was nicht?“ fragte sie, als sie sein Stirnrunzeln bemerkte. „Nein, nein“, stritt er ab. „Würden Sie mal schauen, ob unser Hauptgang schon heiß ist?“ Er deutete auf den Metallbecher mit der Tomatensuppe, der auf einem Stein in der Glut stand. Mel steckte ihren kleinen Finger hinein und verzog den Mund. „Lauwarm“, erklärte sie abwesend. Sie war mit den Gedanken bei etwas anderem. Nick wirkte auf sie nicht wie jemand, der bei dem kleinsten Anzeichen von Schwierigkeiten seine Koffer packte und davonlief. Solche Männer hatte sie zur Genüge kennen gelernt, und keiner von ihnen hatte auch nur eine Spur der inneren Stärke, geschweige denn der Verlässlichkeit besessen, die von Nick ausgingen. Trotzdem war er geflüchtet. Vor was konnte sie nicht sagen, aber es musste schlimm gewesen sein. Ein heftiges Platschen riss sie aus ihren Gedanken. Matsch spritzte auf ihre Schuhe. Rein instinktiv griff Mel nach dem Becher, sprang zur Seite und rettete damit die Suppe vor dem enormen Wasserschwall, der dicht neben der Feuerstelle über die Kante des Felsvorsprungs schwappte. Es zischte laut, und blassblauer Rauch stieg in die Höhe. Nick war ebenfalls aufgesprungen. „Tja. Wer hätte das gedacht“, bemerkte er trocken. „Es kommt doch nicht immer nur Gutes von oben, was?“ Mel warf ihm einen befremdeten Blick zu. Sie selbst fühlte sich, im Gegensatz zu ihm, einfach nur elend. Nachdem sie den ganzen Tag lang fast ununterbrochen gelaufen war, den Großteil der Strecke bergauf, war sie erschöpft, müde und deprimiert. Sie wollte Schokolade. Und ein warmes, gemütliches Feuer. Am meisten aber wünschte sie sich Nicks beispiellose Gleichmütigkeit. Was auch immer passierte, er nahm es hin und machte das Beste daraus. Jetzt tippte er gegen den Becher, den sie noch immer umklammerte. „Ich würde vorschlagen, wir essen, solange es noch warm ist.“ Melissas Stimmung war ihm nicht entgangen. Nick hockte sich auf den sandigen Boden, so weit wie möglich entfernt von der schlammigen Pfütze, in die der unerwartete Guss ihre Feuerstelle verwandelt hatte. „Stellen Sie sich vor, Sie wären im besten Restaurant von Los Angeles und könnten alles haben, was Sie wollen. Was würden Sie nehmen?“ Er praktizierte das, was sich schon mal bewährt hatte: die Ablenkungsmethode. „Fettuccine mit Pilzen. Und einen gigantischen Salatteller“, antwortete Mel. „Keine Proteine?“ „Ein Käsebrot. Ich esse nichts, was mir vorher hätte in die Augen sehen können.“ Nick schien darüber nachzudenken. „Hm, gar nicht so abwegig. Immerhin arbeiten Sie mit Tieren. Sams Frau ist auch Vegetarierin. Wie sieht’s mit Nachtisch aus?“ „Eine luftige Schokoladenmousse. Und Sie? Was würden Sie sich gern bestellen?“ „Steak. Medium. Überbackene Kartoffeln mit extra viel Käse, Baguette, gegrillten Spargel und ein Glas Cabernet.“ Sofort hatte Melissa ein Bild im Kopf: Nick an einem vornehm gedeckten Tisch sitzend, einen zerbrechlichen Kristallkelch mit dunkelrotem Wein in einer seiner großen Hände. Diese Vorstellung erinnerte sie daran, wie er mit denselben
Händen ihre Taille umfasst hatte, als sie im Fluss fast gestolpert wäre. Seitdem sie einen Unterschlupf für die Nacht gefunden hatten, schien er es allerdings nicht mehr für notwendig zu halten, sie in irgendeiner Weise zu berühren. Notwendigkeit, dachte sie. Das war es, was nahezu jede seiner Handlungen bestimmt hatte. Außer dem Versprechen, er würde nicht zulassen, dass ihr etwas zustieße. Es raschelte, als Nick die Rettungsdecke aus dem Rucksack zog und Melissa entgegenstreckte. Erst jetzt bemerkte sie, wie sehr sie fror. Die Luft war feucht und ungemütlich, und draußen donnerte und blitzte es noch immer. „Danke“, murmelte Mel und stieß aus Versehen gegen Nicks Ellenbogen. Nun, da das Feuer endgültig erloschen war, war es fast völlig dunkel in der Höhle. „Entschuldigung.“ „Macht nichts“, meinte Nick in seinem üblichen, ruhigen Tonfall. Melissa hob die Decke an und warf sie über ihrer beider Schultern, so dass Nick ebenfalls davon eingehüllt wurde. Er trug nur ein dünnes TShirt unter seiner Lederjacke, und wenn er sich nicht erkälten wollte, war es notwendig, dass er sich aufwärmte. Nick spürte ihr Zittern mehr, als dass er es sah. Bei jedem Blitzschlag zuckte sie ängstlich zusammen und schlang die Arme enger um ihre angezogenen Beine. „Sie fürchten sich bei Gewitter, nicht wahr? Was meinen Sie, würde es helfen, wenn ich Sie ein bisschen halte?“ „Mir geht’s gut, danke.“ „Hmm. Falls Sie es sich doch anders überlegen, ein Wort genügt.“ „Danke“, wiederholte Melissa höflich, aber bestimmt. Sie hatte sich schon viel zu oft von ihm trösten und ermutigen lassen. Jedenfalls redete sie sich das ein, als sie ein paar Minuten später wie von selbst näher zu ihm heranrutschte, weil ihr so kalt war. Nick schlang schweigend einen Arm um sie und zog sie an sich, so dass ihr Kopf auf seiner Brust zu liegen kam. Unter dem weichen Leder seiner Jacke konnte sie seinen ruhigen, kräftigen Herzschlag hören. Seine Kleidung war feucht und klamm. Genau wie ihre. Aber das kümmerte sie nicht. Die Umarmung bot eine andere Art von Wärme, die weit über die rein körperliche hinausging. Mel fühlte sich plötzlich sehr sicher. Zum ersten Mal seit vielen Stunden entspannte sie sich. Vollständig. Jeder einzelne verkrampfte Muskel. Nick spürte, wie Melissa sich erschöpft an ihn lehnte und ihre Atemzüge kurz darauf flacher und gleichmäßiger wurden. In diesem Moment erinnerte sie ihn an seine fünfjährige Nichte, die zuerst erbittert darum gekämpft hatte, länger aufbleiben zu dürfen, nur um dann prompt vor dem Fernseher einzuschlafen. Angesichts der Entschiedenheit, mit der Melissa sein Angebot abgelehnt hatte, hatte es ihn nicht viel Überzeugungsarbeit gekostet, sie schließlich doch dazu zu bewegen, es anzunehmen. Ihre Haare kitzelten ihn im Gesicht, und er strich sie behutsam beiseite. Sogar ungekämmt und durchnässt, wie sie waren, fühlten sich die feinen Strähnen zwischen seinen Fingern wie pure Seide an. Er seufzte unhörbar und streckte die Beine aus, um es sich ein wenig bequemer zu machen. Dort oben auf dem Plateau hatte sie zwar gesagt, sie vertraue ihm, doch wenn man es nüchtern betrachtete, war ihr zu diesem Zeitpunkt auch keine andere Wahl geblieben. Jetzt aber schlief sie ruhig und selig in seinen Armen, und er konnte nicht leugnen, dass dies ein enormer Beweis ihres Vertrauens zu ihm war. Dieses Wissen berührte ihn, berührte einen Teil von ihm, von dem er schon nicht mehr gewusst hatte, dass er überhaupt existierte.
Das Gewitter war irgendwann im Laufe der Nacht vorübergezogen, der Regen aber prasselte weiterhin vom Himmel. Melissa öffnete vorsichtig die Augen und blinzelte schlaftrunken. Sie wachte auf einem warmen, weichen, aber zugleich festen Körper auf. Nick. Wann genau sie aus ihrer ursprünglich halb sitzenden Position in die Horizontale gewechselt waren, wusste Mel nicht, jetzt jedenfalls lagen sie wie ein Liebespaar eng aneinander gekuschelt da. Einer ihrer Oberschenkel war zwischen Nicks Knie gerutscht, sein rechter Arm war um ihren Rücken geschlungen, und seine Hand ruhte auf ihrer Taille. Er hatte sie am Abend zwar tröstend umarmt, aber höchstwahrscheinlich war das nicht als Einladung gemeint gewesen, ihn praktisch als Bett zu benutzen. Melissa seufzte träge und entschied, dass es viel zu früh am Morgen war, um vernünftig zu denken. Sie wollte nur eins – so schnell wie möglich zurück ins Land der Träume abdriften, die Realität noch für ein kurzes Weilchen vergessen. Womit sie allerdings nicht gerechnet hatte, waren Nicks Finger, die ihren Busen streiften, als sie unbekümmert den Kopf abermals auf seine Schulter sinken ließ und er sie im Schlaf fester an sich drückte. Ihre Brustwarzen wurden fest, und ein Kribbeln durchfuhr sie, das bis in ihren Bauch zog. Sie hatte kaum begonnen, wieder zu atmen, da hörte Nick plötzlich damit auf. Seine Hand erstarrte in der Bewegung, dann zog er sie sehr langsam zurück. Ebenso langsam gab er seinen Atem wieder frei. Melissa spürte sein Herz gegen ihre Wange pochen. Es schlug schnell und kräftig, genau wie ihr eigenes, wenn sie sich unerwartet in einer unangenehmen oder peinlichen Lage wiederfand. Sie wollte aufspringen, besann sich dann aber eines Besseren. Diese Situation verlangte nach ein wenig mehr Fingerspitzengefühl, also beschloss Mel, so zu tun, als wäre sie gerade eben erst aufgewacht. Sie gähnte ausgiebig und rollte sich – wie zufällig – auf die Seite, so dass sie von Nick wegglitt. „Regnet es immer noch?“ murmelte sie schläfrig und hoffte, er würde ihr das Theater abkaufen. „Sie sind wach“, stellte Nick fest und räusperte sich unbehaglich. „Das ist ein relativer Begriff“, brummelte Melissa. Sie setzte sich auf, kehrte Nick den Rücken zu und massierte ihren steifen Nacken. Das Haarband hatte sich gelöst, und ihr blondes langes Haar fiel ihr ungebändigt über die Schultern. Nick stützte sich auf die Ellenbogen und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Er wünschte sich den Wasserfall von gestern zurück, der mittlerweile zu einem dünnen Rinnsal geworden war. Eine eiskalte Dusche wäre jetzt genau das Richtige, wobei es ihm nicht in erster Linie darum ging, sauber zu werden. Das Verlangen war schon da gewesen, bevor er die Augen geöffnet hatte, und es wollte einfach nicht verschwinden. „Danke übrigens“, hörte er Melissa sagen. „Wofür?“ „Dass Sie mich gehalten haben. Ich fürchte mich wirklich bei Gewitter.“ Missmutig betrachtete sie den aufgeweichten Boden neben sich. „Ein Feuer ist wohl nicht drin, wenn ich mir das so anschaue.“ Sie hatte direkt auf ihm gelegen. Es war nahezu unmöglich, dass ihr entgangen war, wie sein Körper auf ihre Nähe reagierte, auch oder gerade weil sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Weshalb sonst sollte sie jeglichen Blickkontakt vermeiden? Natürlich fühlte sie sich unwohl wegen dem, was eben geschehen war. Aber warum war er so enttäuscht darüber? Was habe ich denn erwartet, dachte Nick irritiert.
„Ich fürchte, nein“, bestätigte er. „Es ist kein einziger trockener Zweig übrig.“ Melissa nickte und konzentrierte sich darauf, ihre Haare wieder zusammenzubinden. „Ich habe einen Kamm, wenn Sie möchten“, bot Nick an. „Das wäre fantastisch.“ Wortlos langte Nick in seine Hosentasche und hielt Melissa den Kamm hin. Er musste aufhören, sie so anzustarren, egal, ob sie es sah oder nicht. „Ich werde mal rausgehen und nachschauen, ob es schon aufgehört hat zu regnen.“ Mel schien nicht hingehört zu haben. Angestrengt arbeitete sie sich durch einzelne Haarsträhnen, um wenigstens die ärgsten Kletten auszukämmen. Als sie gerade dabei war, sich einen Zopf zu machen, kam Nick zurück. „Sieht so aus, als halten die Pinien hier das Gröbste ab. Es gießt in Strömen.“ Er streckte die Hand in den dünnen Wasserstrahl am Höhleneingang und wusch sich notdürftig das Gesicht. Melissa gab ihm den Kamm und ging ihrerseits nach draußen. Sie würde weder eine Toilette noch eine Heizung jemals wieder als selbstverständlich betrachten. Natürlich hatte sie als Kind harte Zeiten erlebt. Sie konnte sich zum Beispiel nicht daran erinnern, dass irgendwann mal genug Geld für ein Auto da gewesen wäre. Oder für eine Stereoanlage. Bis zu dem Tag, an dem sie L.A. verlassen hatte, war sie daran gewöhnt, ihre Kleidung ausschließlich in Secondhandläden zu kaufen. Aber sie und ihre Schwester hatten niemals frieren oder hungern müssen. Sie stapfte zurück und fand Nick über den Rucksack gebeugt vor. Er hatte seine Haare nach hinten gekämmt und wäre wahrscheinlich problemlos in jeden ausgewählten Club eingelassen worden, wenn man sich die schmutzige Jeans und die Stoppeln auf seinen Wangen wegdachte. Er stand auf und reichte Melissa den letzten Müsliriegel. „Den essen Sie“, protestierte Melissa. „Mir reicht ein Kaffee, auch wenn er kalt ist. Hauptsache Koffein.“ „Vergessen Sie es“, sagte Nick, und es war klar, dass er keinen Widerspruch duldete. „Wir teilen.“ Zum ersten Mal an diesem Morgen blickte Melissa ihm direkt in die Augen, und was sie sah, überraschte sie. Nachdem Mel jedoch gehorsam die Hälfte des Riegels genommen hatte und erneut hochschaute, war der gereizte und ungeduldige Ausdruck schon wieder verschwunden. War er überhaupt da gewesen? Oder bildete sie sich das nur ein? „Wie geht’s Ihrer Schulter?“ fragte sie. Immerhin war er verletzt und hatte sicherlich Schmerzen. Außerdem musste er mindestens genauso viel Hunger haben wie sie selbst. Kein Wunder, wenn er da ein wenig übellaunig war. Nick antwortete mit einem Brummen, das wohl so viel heißen sollte wie „alles in Ordnung“, aber eigentlich konnte es so gut wie alles bedeuten. Er lehnte sich gegen eine Felswand am Eingang der Höhle und betrachtete gedankenverloren die Tannen, von deren Zweigen dicke Wassertropfen fielen. Melissa hatte keine Ahnung, wie lange er abwarten wollte, bis sie ihren Weg fortsetzten, aber mit jeder Minute, die verstrich, wurde ihre Beklemmung größer. Tags zuvor war dieser Unterschlupf ein willkommener Schutz vor dem Unwetter gewesen, aber jetzt erschien er ihr plötzlich furchtbar eng zu sein.
7. KAPITEL Melissa kannte sich mit heiklen Situationen aus. Als sie noch studierte, war sie mal ins Chemielabor gegangen, um etwas zu holen, und hatte einen ihrer Professoren dabei überrascht, wie er einer anderen Studentin eine Privatstunde auf dem Tisch gab. Ein anderes Mal hatte sie ausgerechnet den Mann mit einer atemberaubend schönen Frau in einem Cafe sitzend angetroffen, der an demselben Tag eine Verabredung mit ihr abgesagt hatte unter dem Vorwand, er sei krank. Doch noch nie hatte sie sich so sehr gewünscht, sie könne sich einfach in Luft auflösen, wie jetzt. Nick tat ohnehin so, als sei sie Luft für ihn, aber gerade das verursachte ihr Unbehagen. Und sie konnte nirgendwohin flüchten, um seiner plötzlichen Distanziertheit zu entkommen. Melissa hockte sich auf die Rettungsdecke, raffte die Enden um ihre Schultern und rieb sich abwesend die schmerzenden Waden. Die Möglichkeit, sich einfach wieder hinzulegen und noch ein paar Stunden zu schlafen, erschien ihr äußerst verlockend. Nicht so der kalte, steinige Boden. Ohne Nicks warmen Körper als Unterlage hätte sie wahrscheinlich die ganze Nacht über kein Auge zugetan. Da, sie dachte schon wieder an ihn. Obwohl sie doch wirklich alles tat, um genau das zu vermeiden. Endlose Minuten verstrichen, bis er sich schließlich umdrehte und sie mit einem flüchtigen Blick bedachte, bevor er in den Rucksack langte und einen Stapel Spielkarten herausnahm. Was die in einer Überlebensausrüstung zu suchen hatten, war Melissa schleierhaft, aber sie ging davon aus, dass sich jemand etwas dabei gedacht haben musste. In Anbetracht der inneren Unruhe, die Nick an diesem Morgen ausstrahlte, war ihr jedoch klar, wozu die Karten da waren: damit ein Pilot die Zeit totschlagen konnte. Oder um ihn davon abzuhalten, wie ein gefangenes Tier die Felswände hochzugehen. Nicks Stimme klang heiser, als er fragte, ob sie Lust hätte zu spielen. In der festen Überzeugung, er wolle nur höflich sein, erklärte Melissa, sie hätte seit Jahren nicht mehr Karten gespielt. „Ich könnte es Ihnen beibringen“, schlug Nick vor. „Wenn Sie sich unterhalten möchten, warum erzählen Sie mir nicht einfach ein bisschen von Harbor?“ antwortete sie, schnippischer als sie eigentlich vorgehabt hatte. „Und was?“ Nick ließ sich ihr gegenüber auf den Boden sinken und winkelte die Beine zu einem Schneidersitz an. „Egal was. Ich hatte noch nicht viel Gelegenheit, mich umzuschauen.“ Nick nahm sieben Karten vom Stapel und legte sie mit dem Rücken nach oben auf den sandigen Boden. „Im Sommer ist es ziemlich überlaufen. Die Touristen fallen wie die Heuschrecken über den Ort her. Die meisten kommen mit der Fähre. Einige chartern sich auch ein Flugzeug bei Sam, aber das ist für ihn nur ein Nebenverdienst. Hauptsächlich bringt er Post und manchmal auch Passagiere zu den abgelegeneren Inseln im Umkreis.“ „War es das, was Sie in diesen sechs Monaten gemacht haben? Passagiere von Insel zu Insel fliegen?“ „Genau“, bestätigte er, die Augen stur auf die Karten vor sich gerichtet. „Jedenfalls ist Harbor sehr ruhig, sobald die Saison vorbei ist. Die Einheimischen bleiben sowieso mehr unter sich. Dennoch haben sie einen großen Gemeinschaftssinn. Sie schließen niemanden aus, sie drängen sich allerdings
auch nicht auf.“ „Ich glaube, das verstehe ich nicht so richtig.“ „Hätte ich auch nicht, wenn ich nicht selbst dort gewesen wäre.“ Nick drehte einige Karten um. Dann ordnete er sie so übereinander an, dass man noch die Farbe der jeweils unteren Karten erkennen konnte. „Es ist der perfekte Ort für Aussteiger. Oder für Einzelgänger. Oder für Menschen, die ihre Kinder in Ruhe und Frieden aufwachsen lassen wollen.“ Er dachte an Sam und Zach. Melissa schwieg einen Moment. Wahrscheinlich studierte sie die Karten, um zu verstehen, wie das Spiel funktionierte. Oder seinen Gesichtsausdruck, das konnte Nick nicht mit Sicherheit sagen, denn er widerstand der Versuchung, aufzublicken und sich zu vergewissern. „Ich nehme an, Sie sind kein Einzelgänger“, stellte Mel fest. „Sagen wir, ich habe nichts gegen meine eigene Gesellschaft“, erwiderte er beiläufig. „Ich würde es nur schade finden, wenn ich mein einziger Freund wäre.“
Er hatte das Gefühl, dass sie lächelte. Obwohl er dieses Lächeln gern gesehen
hätte, erlaubte er sich noch immer nicht, den Blick zu heben.
„Und da Sie nicht vorhaben zu bleiben, sind Sie wohl auch kein Aussteiger“,
vermutete Melissa.
„Absolut nicht. Eher das Gegenteil.“
„Dann kann ich mir vorstellen, warum Harbor nichts für Sie ist.“
„Das habe ich nicht gesagt. Es ist im Augenblick nur nicht mit meinen sonstigen
Plänen vereinbar, noch länger dort zu bleiben.“
„Wo wir gerade von Plänen sprechen… Wie steht es mit Kindern? Haben Sie vor,
irgendwann eine Familie zu gründen?“
„Nicht wirklich.“
„Wieso nicht?“
Nick drehte drei weitere Karten um. „Ich bin zu alt“, meinte er achselzuckend.
„Wie alt sind Sie denn?“
„Fast siebenunddreißig.“
Melissa schnaufte verächtlich. „Das ist kein Alter, das ist eine Ausrede“,
korrigierte sie. „Die schwarze Sechs auf die rote Sieben.“ Sie zeigte auf die
beiden Karten.
„Ich dachte, sie wüssten nicht, wie das Spiel funktioniert?“
Mel lächelte spitzbübisch.
„Mein Gedächtnis ist doch nicht so schlecht, wie ich dachte. Also, wie wäre es,
wenn Sie mir jetzt die Wahrheit sagen. Mögen Sie keine Kinder? Liegt es daran?“
Die Wahrheit war, dass Nick schon lange nicht mehr den Wunsch verspürte,
Vater zu sein. Dieser Traum gehörte der Vergangenheit an.
„Das ist es nicht. Ich mag Kinder. Besonders die anderer Leute. Aber es wäre
eine große Verantwortung, und ich glaube nicht, dass ich genug Zeit hätte, ihr
wirklich nachzukommen.“ Er deckte eine schwarze Fünf auf und legte sie auf die
Sechs. „Wollten sie nicht eigentlich mehr über Harbor wissen?“
„Ja, wollte ich.“
Nick hätte ohne Zögern sein gesamtes Hab und Gut verwettet, dass sie sich viel
mehr dafür interessierte, warum er willentlich auf etwas so Grundlegendes wie
eine eigene Familie verzichtete. „Und was?“ fragte er wie beiläufig.
„Die Einheimischen, wie sind sie so? Ich habe ein paar von ihnen in der Stadt
getroffen, aber wenn ich ehrlich bin, war T.J. die Einzige, die mich wirklich
freundlich empfangen hat.“
Er hatte gar nicht bemerkt, wie sehr seine Muskeln sich im Laufe des Gesprächs
verkrampft hatten, bis der leichte Schmerz in seiner Schulter es ihm bewusst
machte. Glücklicherweise hatte Melissa es sich nicht in den Kopf gesetzt, mehr
als die allgemein gehaltenen Antworten aus ihm herauszuholen, die er ihr auf ihre Fragen gegeben hatte. „Es gibt eine kleine Gruppe von Leuten, die so gut wie alles über so gut wie jeden wissen.“ „Diese Frau, der das Road End Cafe gehört. Sie ist nicht zufällig eine von ihnen, oder?“ „Ist sie. Maddy meint es nur gut, glauben Sie mir.“ Sogar ihr Versuch, ihn mit Melissa zu verkuppeln, war Maddys Art, dem Glück anderer auf die Sprünge zu helfen, wann immer sie eine Chance dazu sah. „Sie ist bloß einer von diesen Menschen, die sich für Amors rechte Hand halten und alles daran setzen, ihre Mission zu erfüllen.“ Melissa ließ nachdenklich das Kinn auf ihre Knie sinken. „Reden wir hier über ein Volk von notorischen Klatschbasen, oder sind sie nur neugierig?“ Die Beunruhigung in ihrer Stimme war Nick nicht entgangen. Ebenso wenig wie der nervöse Ausdruck in ihren schönen blauen Augen. „Nur neugierig würde ich sagen.“ „War sie diejenige, die behauptet hat, ich würde vor einem Mann davonlaufen?“ „Ich bin mir nicht sicher, wer darauf gekommen ist“, gab Nick zu. Normalerweise interessierte er sich nicht sonderlich für diese Art von Gerede. „Entweder sie oder Winona Sykes. Aber das ist doch egal, oder? Es war nichts weiter als eine Mutmaßung.“ „Was ein anderes Wort für Gerücht ist“, erwiderte Melissa bedrückt. „Und Gerüchte haben die unschöne Angewohnheit, ein Eigenleben zu entwickeln. Heute heißt es, ich laufe vor einem Mann davon, und morgen wird darüber spekuliert, welchen Grund ich dafür habe. Was, wenn er mich geschlagen oder betrogen hat. Oder mich einfach vor die Tür gesetzt hat, als er genug von mir hatte.“ „Niemand denkt so etwas.“ „Bis jetzt vielleicht nicht.“ Nick glaubte nicht, dass ihr bewusst war, was für einen niedergeschlagenen Eindruck sie machte. Noch weniger konnte er glauben, wie sehr sie ihm Leid tat. Die Bewohner von Harbor kannten sie überhaupt nicht. Alles, was sie sahen, war eine junge, allein stehende Blondine in schicken Klamotten, die aus L.A. kam, wo es vor Prominenten nur so wimmelte. Und schon hatten sie sich eine Meinung über sie gebildet, bevor sie auch nur ein Wort mit ihr gewechselt hatten. Nick hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Er selbst war nicht viel besser gewesen als diejenigen, vor denen er Melissa nun innerlich in Schutz nahm. „Was wird sonst noch gemunkelt?“ fragte sie leise. „Nun ja, es gibt eine zweite Version. Nämlich, dass Sie hier sind, weil Sie einen Mann suchen. Aber das würden bestimmte Leute von jeder unverheirateten jüngeren Frau annehmen.“ Mel fuhr sich mit einer Hand über die Stirn und schüttelte resigniert den Kopf. „Sieht so aus, als hätte ich es vermasselt, bevor ich die Praxis überhaupt eröffnet habe. Sie werden mich nie akzeptieren. Wie soll ich mit jemandem Freundschaft schließen, der sich schon vornherein ein Urteil über mich gebildet hat“, flüsterte sie. Am liebsten hätte Nick sie wieder in den Arm genommen. Dieser Impuls war viel stärker, als er erwartet hatte, aber sie könnte es missverstehen, und es würde alles nur noch schlimmer machen. „Hey. Sie haben bereits Freunde auf Harbor. Schon vergessen? TJ. und Sam. Und die geben nichts auf dieses Geschwätz. Also sollten Sie es auch nicht tun.“ Er hob hilflos einen Arm, erinnerte sich daran, dass es falsch wäre, sie jetzt zu berühren,
und entschied sich stattdessen, es mit einem Scherz zu versuchen. „Aber wenn Sie einen Mann suchen, bin ich sicher, Maddy findet im Handumdrehen einen netten Junggesellen für Sie.“ „Danke für die Warnung“, murmelte Melissa. „Nur werde ich Maddys Dienste nicht brauchen. Jedenfalls nicht in naher Zukunft. Ich hatte nämlich vor, eine Weile lang die Vorzüge des SingleDaseins zu genießen.“ Nick hob interessiert die Augenbrauen, doch Mel verstand die Geste als dezenten Hinweis darauf, wie sie noch vor ein paar Minuten auf seine Äußerung bezüglich der Gründung einer Familie reagiert hatte. „Ich weiß, das klingt selbstsüchtig“, gestand sie ein. „Aber ich habe noch nie allein gelebt, wissen Sie? Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es ist, nur für sich selbst sorgen zu müssen.“ Sie schnitt eine Grimasse. „Außerdem hatte ich noch nie sonderlich viel Glück mit Männern. Mein Urteilsvermögen ist in diesem Punkt ziemlich miserabel. Daran muss ich noch ein bisschen arbeiten.“ Seltsam, dachte Nick. Zum ersten Mal in ihrem Leben war Melissa wirklich frei und konnte tun und lassen, was sie wollte. Doch anstatt diese Freiheit in vollen Zügen auszukosten, hatte es sie ausgerechnet nach Harbor gezogen. Einem kleinen, ruhigen, abgelegenen Ort, an dem so gut wie niemals etwas Aufregendes passierte. „Was meinen Sie mit ,miserabel’?“ fragte er nach. Mel zuckte mit den Achseln. „Ich neige dazu, mich mit Männern einzulassen, die schnell das Handtuch werfen, sobald es Schwierigkeiten gibt.“ Beiläufig griff sie nach dem Stapel Spielkarten und mischte ihn neu. „Um ehrlich zu sein, hatte ich bisher nur mit zwei Männern eine Beziehung, die man als ernsthaft bezeichnen könnte. Der Erste hat mich verlassen, weil ich mich seiner Meinung nach zu viel um meine Familie gekümmert habe, und der zweite Mann fand es nicht akzeptabel, mit einer Frau zusammen zu sein, deren Mutter eine Trinkerin ist.“ Sie deckte drei Karten auf. „Natürlich ist ihm das erst in den Sinn gekommen, nachdem ‘er mich im Bett gehabt hatte.“ Melissa erzählte all dies so unberührt und gelassen, als würde sie den Wetterbericht vorlesen, doch sie konnte Nick nicht täuschen. Diese beiden Männer hatten sie verletzt. Besonders der zweite. Dennoch schien sie nicht verbittert oder voller Hass zu sein. Weder auf ihre ehemaligen Partner noch auf ihre Mutter oder ihre Schwester. Allenfalls enttäuscht. „Ich glaube nicht, dass es an Ihrem Urteilsvermögen liegt. Manche Menschen können sich gut verstellen, und es dauert lange, bis sie ihr wahres Gesicht zeigen.“ Ein harter Unterton lag in seiner Stimme. Er wusste genau, wie es sich anfühlte, wenn man herausfand, dass der Mensch, den man liebte, einen nur an der Nase herumgeführt hatte. „Vielleicht sollten Sie besser an Ihrem Selbstschutz arbeiten.“ Mel blickte auf. „Ich bin mir nicht sicher, was Sie damit sagen wollen.“ „Sie kümmern sich zu sehr um andere“, antwortete Nick mit einer Bestimmtheit, die sie überraschte. „Und Sie sind zu vertrauensselig. Beides macht Sie zu einem leichten Ziel für Leute, die jemanden suchen, den sie ausnutzen können.“ Es war wirklich kaum zu glauben, wie offen sie ihm, einem völlig Fremden, ihr Privatleben sozusagen auf dem Silbertablett serviert hatte. „Wenn Sie nicht so viel von sich preisgeben, bieten Sie auch weniger Angriffsfläche.“ Der Zynismus in Nicks Worten erschütterte Mel. Für sie gab es keinen Zweifel daran, dass er seine Gefühle die meiste Zeit über hinter einer dicken Schicht „Selbstschutz“ versteckte und dies für den einzig richtigen Weg zu halten schien. „Wenn das so ist, hoffe ich, dass ich niemals so werde“, sagte sie leise. „Ich habe
zu viele Menschen kennen gelernt, die Selbstschutz mit Abschottung verwechseln und vereinsamt sind, weil niemand mehr etwas mit ihnen zu tun haben wollte. Und irgendwann haben sie angefangen, ihre Einsamkeit im Schnaps zu ertränken. Nein, danke.“ Einen Moment lang herrschte Schweigen, dann fügte sie hinzu: „Und wenn wir schon davon reden. Das, was ich Ihnen erzählt habe, weiß sonst kaum jemand außer denen, die damals dabei waren. Sie können mein Mitteilungsbedürfnis also getrost der Tatsache zuschreiben, dass wir hier mitten im Nirgendwo festsitzen und ich mich langweile.“ Dieser Umstand musste ihr tatsächlich zu schaffen machen. Sie konnte jedenfalls keine andere Erklärung dafür finden, warum sie Nick von ihren miesen Exfreunden erzählt hatte. Oder von ihrer Familie. Diese Dinge gingen niemanden etwas an. Energisch stand sie auf. „Ich glaube, der Regen hat nachgelassen“, stellte sie fest, während sie sich die Rettungsdecke schnappte und sie säuberlich zusammenlegte. „Wenn es wahr ist, was man über diese Gegend sagt, und es hier so gut wie ständig regnet, sollten wir jetzt losgehen, sonst kommen wir womöglich bis zum Sommer nicht mehr aus dieser Höhle raus.“ Nick erhob sich ebenfalls. Melissas Gesichtsausdruck war ernst, ihr Makeup endgültig verschwunden. Nicht, dass sie es gebraucht hätte. Sie stopfte die Decke in den Rucksack, aber Nick holte sie sofort wieder heraus. Dabei streifte er ihren Arm. „Es ist wahr“, bestätigte er. Er kam sich wie ein gemeiner Schuft vor. Alles, was sie getan hatte, war, die Fragen zu beantworten, die er ihr gestellt hatte. Wie war er nur darauf gekommen, dass sie grundsätzlich jedem gegenüber so offenherzig war? „Und deshalb werden wir uns am besten ein paar Regenmäntel basteln.“ Er holte sein Taschenmesser hervor und bedeutete Melissa, die Decke festzuhalten, so dass er sie in der Mitte durchschneiden konnte. Es raschelte, als Mel kurz darauf in ihren behelfsmäßigen Poncho schlüpfte. Er reichte ihr knapp bis zu den Knien. Sie hätte allen Grund gehabt, sich abzuschotten, wie sie es ausgedrückt hatte. Mehr noch als er selbst. Die Tatsache, dass sie es nicht tat, gab Nick zu denken. Er warf sich seine Hälfte der Decke über. Das Stück Folie bedeckte gerade mal seine Taille und ließ seine Schultern noch breiter wirken, als sie ohnehin waren. Unwillkürlich dachte Melissa daran, wie es sich angefühlt hatte, an eine dieser breiten Schultern gelehnt aufzuwachen. Sie erwischte sich dabei, wie sie fast wehmütig feststellte, dass sich so etwas nicht wiederholen würde. In dem Vorhaben, diesen Gedanken zu verscheuchen, griff sie nach dem Rucksack, doch Nick nahm ihn ihr aus der Hand. „Ich bin dran.“ Mel warf einen skeptischen Blick auf seinen Oberarm. Die Verletzung war noch immer frisch, er musste einfach Schmerzen haben. Nick bemerkte es, sagte aber nichts. Er drehte sich um und trat durch den Ausgang der Höhle ins Freie. Der feine Sprühregen, bei dem sie aufgebrochen waren, hatte sich nach zehn Minuten in ein gleichmäßiges Nieseln verwandelt, das innerhalb kürzester Zeit sämtliche Kleidungsstücke durchnässt hatte, die nicht durch ihre provisorischen Überwürfe geschützt wurden. Der Himmel war grau und sollte es auch für den Rest des Tages bleiben. Sie brauchten vier Stunden, um die Stelle zu erreichen, die Nick vom Plateau aus entdeckt hatte. Weitere drei Stunden vergingen, bis sie endlich auf das stießen, was von oben wie eine Straße ausgesehen hatte, sich jedoch als schlichter Wanderweg entpuppte, der so überwuchert war, dass sie immer wieder anhalten
und die Umgebung nach seinem weiteren Verlauf absuchen mussten, um ihn nicht völlig aus den Augen zu verlieren. Im Vergleich zu den Kilometern, die sie insgesamt – einschließlich aller unfreiwilligen Umwege – zurücklegten, brachten sie nur eine erstaunlich kurze Strecke hinter sich, wie Melissa bei einem Blick über ihre Schulter feststellen musste. Jeder Schritt verursachte ein unangenehmes Ziehen in ihren Waden, das sie daran erinnerte, wie viele tausend Schritte sie gestern bereits gegangen war. Nick, der voranging, arbeitete sich durch ein weiteres dichtes Gebüsch und blieb dann plötzlich stehen. „Passen Sie auf, wo Sie hintreten“, warnte er. „Könnte sein, dass es hier Treibsand gibt.“ Vor ihnen lag ein Sumpfgebiet, das von vielen kleinen Pfuhlen mit schmutzig braunem Wasser durchzogen wurde. Nick schob den Ärmel seiner Jacke hoch und schaute auf die Uhr. Es war den ganzen Tag über bedeckt gewesen, und bei dem durchgehend trüben, eintönigen Licht konnte man unmöglich sagen, wie spät es wohl sein mochte. „In einer halben Stunde wird es dunkel.“ Er sah Melissa prüfend an, wie er es an diesem Tag schon unzählige Male zuvor getan hatte, wahrscheinlich um sicherzugehen, dass sie noch hinter ihm war. „Wir sollten uns langsam Gedanken über ein Nachtlager machen“, meinte er und blickte sich suchend um. „Und wo?“ „Wie wäre es mit der Schonung da drüben?“ Er zeigte auf eine Ansammlung niedriger, nicht allzu eng gewachsener Tannen. „Wir schichten Zweige zwischen ein paar von denen auf. Es wird natürlich nicht so schön wie ein richtiges Zelt, aber ich denke, es wird einigermaßen den Regen abhalten.“ Auch gut, dachte Melissa und folgte ihm wortlos. Sie liefen Zickzack. Immer so dicht wie möglich an den Bäumen entlang, da Nick meinte, dies sei der sicherste Weg, um die schlammigen, mit dünnen Schilfhalmen gesäumten Tümpel zu umgehen, die möglicherweise tiefer waren, als sie aussahen. Mel hatte sich eigentlich mehr so etwas wie eine kleine Hütte aus Zweigen vorgestellt. Mit drei Seiten und einem Dach. Doch als sie die selbst gebaute Konstruktion betrachtete, ähnelte die eher einer wackeligen Strandmuschel. Das machte jedoch keinen Unterschied. Mel war an einem Punkt, an dem sie ihre müden Glieder auch auf einen Haufen Glasscherben gebettet hätte. Hauptsache, sie konnte sich endlich ausruhen. Ihr war kalt, ihre Hosen klitschnass, ebenso ihre Füße, und ihre Waden fühlten sich an wie Betonklötze. Sie registrierte es kaum, als Nick sich noch mal auf den Weg machte. Er wollte gucken, ob er den Bach fand, den er glaubte, gehört zu haben. Solange nichts Großes, Pelziges auftauchte und sie zum Abendbrot verspeisen wollte, würde Melissa sich bis zum nächsten Morgen nicht mehr von der Stelle rühren. Sie beugte sich vor, legte den Kopf auf die Knie und knetete kraftlos ihre schmerzenden Unterschenkel. Wäre da nicht die Bewegung ihrer Hände gewesen, Nick hätte geglaubt, sie sei eingeschlafen. Ein Ast knackte unter seinen Schuhen, als er den Eingang des Unterstandes betrat. Mel hob müde den Kopf. „Und? Haben Sie Ihren Bach gefunden?“ Triumphierend hielt Nick die Feldflasche hoch, die er aufgefüllt hatte. „Ja. Er war nicht weit weg.“ Mit einem leisen Stöhnen ließ er sich neben Melissa nieder. „Aber es gibt auch eine schlechte Nachricht. Wir können kein Feuer machen. Es ist nur noch ein Anzünder übrig, und hier ist weit und breit kein einziger Ast, der nicht völlig durchnässt wäre.“ Mel sah ihn ausdruckslos an, als hätte sie mit nichts anderem gerechnet.
„Tja, was lernen wir daraus?“ seufzte sie missmutig. „Regel Nummer eins, wenn du mit dem Flugzeug abstürzt: Nimm immer einen Kanister Benzin mit.“ „Nicht ganz“, konterte Nick. „Regel Nummer eins lautet nämlich: Stürz gar nicht erst ab.“ „Auch wieder wahr“, brummelte Melissa. „Alles in Ordnung?“ „Ja, ja. Mir geht’s gut.“ „Sie lügen“, behauptete Nick nachsichtig. „Also schön. Ich friere, mein ganzer Körper tut weh, und ich würde am liebsten tot umfallen. Besser?“ „Auf jeden Fall ehrlicher.“ Mel warf einen düsteren Blick auf Nicks verletzte Schulter. „Das müssen Sie gerade sagen.“ „Es sieht übler aus, als es sich anfühlt“, beteuerte er, rutschte ein Stück nach links, packte eines ihrer Beine und legte es quer über seine Oberschenkel. Langsam begann er, Melissas Wade zu massieren. „Wie weit ist es noch?“ fragte sie und sah, wie Nick im fahlen Abendlicht den Kopf schüttelte. Aus seinen nassen Haaren, die durch die Feuchtigkeit noch dunkler wirkten, perlten kleine Wassertröpfchen und landeten auf seiner Stirn. „Denken Sie jetzt nicht darüber nach“, riet er. Plötzlich nahm sein Gesicht einen ernsten Ausdruck an. „Ich hätte nicht gedacht, dass Sie so lange durchhalten“, gab er anerkennend zu. Es klang, als täte es ihm Leid, dass er ihr so wenig zugetraut hatte. „Die meisten Frauen, die ich kenne, wären spätestens heute zusammengebrochen.“ „Vielleicht unterschätzen Sie diese Frauen ganz einfach“, sagte Melissa. „Ich meine, in einer Situation wie dieser bleibt einem gar nichts anderes übrig, als durchzuhalten.“ „Das sehe ich anders. Vielleicht unterschätzen Sie sich selbst. Mir fallen auf Anhieb mindestens vier Frauen ein, die den ganzen Weg über nur gejammert hätten.“ „So? Wer?“ „Meine ehemalige Sekretärin zum Beispiel. Ich meine, sie war die Beste in ihrem Job. Kein noch so schwieriger Kunde konnte sie aus dem Konzept bringen, sie hatte immer alles perfekt unter Kontrolle. Aber wehe, wenn ihr Wagen kaputtging und sie ihn für ein paar Tage in die Werkstatt bringen musste. Das war der Weltuntergang für sie.“ Melissa lächelte schwach. Ein fahrbarer Untersatz wäre genau das, was sie sich im Moment wünschte. „Und die Frau meines früheren Geschäftspartners. Zweifellos eine resolute Person“, fuhr Nick fort. Na ja, wie man es nimmt, dachte er. Im Vergleich zu seiner Exfrau war sie geradezu liebenswürdig. Aber das sprach er nicht laut aus. „Und dann wären da noch meine Schwestern. Verstehen Sie mich nicht falsch. Die beiden sind großartig. Es ist nur, dass sie unter ,Wildnis’ ein Hotel ohne Zimmerservice verstehen.“ Sekretärin? Geschäftspartner? Mel hatte gedacht, er sei Pilot. Sie war neugierig geworden, aber sie wollte nicht riskieren, dass Nick wieder in seine übliche Reserviertheit verfiel, wenn sie ihn darauf ansprach. „Ihre Schwestern sind also damals nicht mit Ihnen und Ihrem Dad zum Camping gefahren?“ „Doch. Ein Mal. Es war ein Familienausflug. Danach sind sie und Mom lieber zum Einkaufen gegangen, während Dad und ich ,in der Einöde herumirrten’, wie sie es nannten.“
„Clevere Mädels“, kommentierte Melissa, unschlüssig, ob sie sich auf die
wohltuende Massage konzentrieren oder doch lieber ihrer Neugierde nachgeben
und ihn nach diesem mysteriösen Geschäftspartner fragen sollte. Sie entschied
sich dagegen. Fürs Erste.
„Und die Männer Ihrer Schwestern? Gehen die gern zelten?“ wollte sie wissen.
„Einer von ihnen. Der andere ist eher der akademische Typ. Er findet, Sport sei
Mord.“
„Das ist dann wohl der Vater von Ihrem Neffen, nehme ich an?“
„Richtig. Mike ist froh, dass er einen Onkel hat, der mit ihm Abenteuerurlaub
macht, und meine Schwester hat auch nichts dagegen, wenn sie ein paar Tage
mit Jeff allein verbringen kann. Die beiden fahren dann nach Frankreich oder an
sonst einen romantischen Ort.“ .
„Klingt, als würden sie eine wundervolle Ehe führen.“
„Das tun sie. Meine andere Schwester ist auch glücklich verheiratet.“
Und seine Eltern wahrscheinlich auch, dachte Melissa. Ihr fiel die Einkerbung an
Nicks Ringfinger wieder ein und wie vehement er behauptet hatte, dass es nicht
gut sei, anderen zu viel über sich selbst anzuvertrauen. Sie fragte sich, was wohl
in seiner eigenen Ehe schief gegangen sein mochte.
„Was ist los?“ Nick wunderte sich offenbar darüber, dass sie plötzlich so still war.
„Nichts.“
„Tun Sie das nicht.“
„Was soll ich nicht tun?“
Er rollte mit den Augen. „Na, das! Keine Frau sagt ,nichts’, wenn sie nicht
irgendetwas auf dem Herzen hat. Also raus damit.“
Der Mann hatte Grips, das musste man ihm lassen.
„Melissa?“ drängte er, als sie noch immer zögerte.
„Warum nennen Sie mich immer Melissa? Ich habe Ihnen doch gesagt, dass
meine Freunde ,Mel’ zu mir sagen dürfen.“
Sie betrachtete ihn also als Freund? Er überlegte kurz. Wahrscheinlich versuchte
sie nur, das Thema zu wechseln.
„Weil Sie nicht wie eine ,Mel’ aussehen“, erklärte er. „Und lenken Sie nicht ab.“
„Schon gut. Ich hatte überlegt, wie lange Sie wohl verheiratet waren. Diese
Kerbe an Ihrem Finger sieht aus, als käme sie von einem Ring.“
Sie hatte es geahnt. Er erstarrte in der Bewegung, sein Blick verfinsterte sich,
und im nächsten Moment zog er langsam die Hände fort, obwohl er eben noch
ihren Unterschenkel massiert hatte.
„Sie wollten es ja unbedingt wissen“, erinnerte sie ihn leise, während sie ihr Bein
von seinem Schoß hob und die Arme um ihre Knie schlang.
„Neun Jahre“, sagte Nick müde. „Wir haben uns vor ein paar Monaten scheiden
lassen.“
„Hatte es etwas mit diesem Geschäftspartner zu tun, den Sie erwähnt haben?“
fragte Mel mitfühlend.
Erstaunlich. Merkte sie sich eigentlich alles, was er sagte?
„Er hatte sogar eine Menge damit zu tun“, bestätigte er bitter.
„Oh, Mist“, entfuhr es Melissa. „Ihre Frau hat Sie mit ihm betrogen. Und er war
auch noch Ihr bester Freund, richtig?“
Nick war nicht gerade in einer fröhlichen Stimmung, und es war sicherlich auch
nicht fair Melissa gegenüber, aber die Bestürzung, die in ihrer Äußerung
mitschwang, amüsierte ihn. Jetzt war ihm klar, warum sie solche Angst vor
Klatsch und Tratsch hatte.
„Das wäre wahrscheinlich leichter zu verschmerzen gewesen“, löste er das
Missverständnis auf. „Kommen Sie, geben Sie mir Ihr anderes Bein.“ Er streckte
auffordernd die Hand aus. „Na los. Ich weiß, dass der Muskelkater Sie fast
umbringt.“
Das Angebot war nicht ganz so uneigennützig, wie man hätte meinen können.
Nick fand es auf eine seltsame Weise tröstlich, sie zu berühren.
„Reed und ich hatten eine Meinungsverschiedenheit darüber, wie bestimmte
Dinge zu handhaben seien.“
„Reed ist der Name Ihres Partners?“
„Ja. Aber er ist nicht mehr mein Partner. Jedenfalls hat sich meine Frau… meine
Exfrau“, korrigierte er sich, „auf seine Seite geschlagen.“
Es war inzwischen beinahe dunkel geworden, und Nick konnte Melissas
Gesichtszüge nur noch schemenhaft erkennen.
„Was für ein Unternehmen ist das überhaupt? Ich dachte, Sie seien Pilot“, fragte
sie.
„Interessante Schlussfolgerung“, bemerkte Nick augenzwinkernd. „Bloß weil ich
fliege, muss das noch nicht mein Beruf sein. Nicht jeder, der gern Auto fährt,
verdient seinen Lebensunterhalt als Taxifahrer. Ich habe Sam und Zach ein bisschen ausgeholfen“, erklärte er. „Reed und ich haben Flugzeugteile hergestellt.“ „Sie sind Ingenieur für LuftfahrtTechnik?“ „Das steht jedenfalls auf meinem Diplom. Und Betriebswirt.“ Die gedämpften Geräusche der Nacht drangen zu ihnen herüber. Ein leichter
Wind strich durch die Baumwipfel, aufgewirbelte Blätter raschelten leise, und in
der Ferne erklang der Ruf einer Eule.
„Worum ging es bei dieser Meinungsverschiedenheit?“
„Um einen Defekt in einem von uns entwickelten Radarhöhenmesser. Reed
wusste, dass das Gerät nicht einwandfrei funktionierte, aber er hat ,vergessen’,
mir davon zu erzählen. Ich bin nur durch einen Zufall dahinter gekommen.
Eine Woche, bevor das System in Produktion gehen sollte.“
„Radarhöhenmesser?“
„Es misst die Höhe des Flugzeuges über dem Boden“, erklärte Nick. „Und wenn
es falsche Messwerte liefert, kann das sehr gefährlich werden.“
„Aber warum sollte Reed verhindern wollen, dass der Fehler behoben wird?“
„Das war sogar der Hauptgrund für unsere Auseinandersetzung.“
Nick berichtete, wie er versucht hatte, seinen Partner davon zu überzeugen, dass
der Auslieferungstermin verschoben werden müsste. Aber Reed hatte davon
nichts hören wollen. Er war der Ansicht gewesen, die Fehlfunktion sei minimal
und es bliebe schließlich immer ein Restrisiko, mit dem man eben leben müsse.
Und falls es tatsächlich zu einem Unfall käme, würde die Versicherung dafür
aufkommen.
Weder er noch Nicks Frau schienen sich darum zu scheren, dass dieses
„Restrisiko“ unter Umständen den Tod von Menschen nach sich ziehen könnte.
Die beiden interessierte nur, wie viel Geld die Firma durch eine Verzögerung
einbüßen würde.
Letztendlich hatte Nick dann im Alleingang einen Produktionsstopp angeordnet.
Als Reed davon erfuhr, hatte er vor versammelter Belegschaft einen Wutanfall
bekommen, und kurz darauf waren die wildesten Gerüchte in Umlauf gewesen.
„Die Fluggesellschaften bekamen natürlich auch Wind von der Sache“, erzählte
Nick. „Sie zogen ihre Aufträge zurück. Danach stieg Reed einfach aus und
verlangte, dass ich ihn auszahle. Ich habe versucht, Ellen die Situation zu
erklären, aber…“
Er brauchte den Satz nicht zu beenden. Melissa konnte sich den Rest
zusammenreimen. Nachdem Nick alles verloren hatte, war er für Ellen wertlos
geworden, und sie hatte ihn verlassen, ohne mit der Wimper zu zucken. „Schäbig.“ Das war alles, was Mel dazu einfiel. Sie schluckte. „Wie lange ist das jetzt her?“ fragte sie. „Etwas mehr als ein halbes Jahr.“ Zumindest der letzte Akt des Dramas, dachte er. Ellen und er waren schon viel früher an einem Punkt angelangt, den man als Ende ihrer Ehe bezeichnen konnte. Doch Nick hatte es damals nicht bemerkt. Er war zu beschäftigt damit gewesen, Geld zu verdienen, und Ellen beschäftigt damit, es auszugeben. „Vor sechs Monaten habe ich die Scheidung eingereicht und die Partnerschaft mit Reed gekündigt.“ „Etwa beides am selben Tag?“ „Ja.“ Nick suchte vorsichtig nach verhärteten Muskeln in Melissas Wade, fand eine bisher unbehandelte Stelle und massierte sie sachte. „Ich betrachte das als meinen persönlichen Unabhängigkeitstag.“ Kein Wunder, dass er ein so überzeugter Anhänger von „Selbstschutz“ geworden war. Auch wenn er es niemals zugegeben hätte, Melissa konnte den Schmerz und die Enttäuschung hinter seinen zynischen Worten spüren. Er hatte auf einen Schlag alles verloren, worin er viel Zeit, Mühe und Liebe investiert hatte. „Für mich klingt das eher wie der Tag, an dem all Ihre Träume wie Seifenblasen zerplatzt sind“, entgegnete sie. „Träume werden eindeutig überbewertet, wenn Sie mich fragen.“ „Zu dem Schluss kommt man seltsamerweise immer erst dann, wenn man keine mehr hat“, gab Mel zu bedenken. „Was haben Sie jetzt vor? Wieder ganz von vorn anfangen?“ „Das ist der Plan. Aber zuerst muss ich das Geld auftreiben, um Reed auszuzahlen, damit ich endlich seinen Namen von meinem Firmenschild kratzen kann. Ich hoffe bloß, das Ganze wird ohne Prozess über die Bühne gehen.“ „Jetzt verstehe ich, warum Sie es so eilig haben, zurück nach Denver zu kommen.“ Nick sah Melissa nachdenklich an. „Was würden Sie tun, wenn wir für alle Zeiten hier festsitzen würden?“ Die Frage kam unerwartet, aber Melissa antwortete, ohne zu zögern. „Daran werde ich nicht mal denken“, antwortete sie entschlossen. „Sie haben versprochen, dass Sie mich nach Hause bringen, und ich vertraue Ihnen.“ Sie machte eine Pause. „Was würden Sie denn tun?“ Nick schwieg einen Augenblick lang. Dann nahm er langsam die Hände von ihrem Bein und strich ihr stattdessen sanft mit den Daumen über die Wangen. „Das“, raunte er.
8. KAPITEL Weich wie Samt, dachte Nick. Er hatte schon andere Frauen geküsst, aber keine hatte so weiche Lippen gehabt wie Melissa. Sie bog bereitwillig den Kopf zurück, und Nick spürte, wie ihre Schultern sich entspannten. Sie erwiderte den Kuss, als hätte sie darauf gewartet. Der Gedanke ließ Nicks Herz schneller schlagen, und sein Verlangen nach mehr wurde immer größer. Mit einer Hand strich er zärtlich über Melissas Haar, während er seine Zunge zuerst zögernd, dann immer herausfordernder um die ihre kreisen ließ. Er stöhnte leise. Ein tiefes, erregendes Geräusch, auf das Mels Körper ganz automatisch reagierte. Ein wohliger Schauer lief ihr über den Rücken, und sie schmiegte sich noch dichter an Nicks breiten, muskulösen Oberkörper. Sie konnte seinen Herzschlag spüren, aber das reichte ihr nicht. Sie wollte, dass er sie umarmte, sie an sich presste, so fest er nur konnte, und sie nie wieder losließ. Doch zu ihrer Enttäuschung löste Nick sich ausgerechnet in diesem Moment von ihr. Er küsste noch ein letztes Mal zart ihre Unterlippe, dann hob er den Kopf und sah sie an. „Du hast gefragt“, sagte er entschuldigend und fuhr sanft mit dem Daumen über ihr Kinn. Es war so dunkel, dass Melissa sein Gesicht nicht erkennen konnte, und ihr blieb nichts als der Klane seiner Stimme, um zu erraten, was in ihm vorging. Dafür wusste sie umso genauer, was in ihr selbst vorging und was sie sich jetzt wünschte. „Nick?“ „Ja?“ „Würdest du mich in den Arm nehmen, bitte?“ „Ist dir kalt?“ Das würde ich so nicht sagen, dachte Mel insgeheim. „Ja, ich erfriere.“ Eine schamlose Lüge, aber sie erfüllte ihren Zweck. Mehr als das. Anstatt sie bloß zu umarmen, wie sie erwartet und gehofft hatte, rutschte Nick hinter sie, streckte sich lang auf dem Boden aus und zog sie zu sich hinunter, so dass sie auf ihm lag, den Rücken an seiner Brust. Er hielt es für klüger, sie so zu drehen, dass er ihre vollen, einladenden Lippen nicht sah. Sonst hätte er sie noch ein weiteres Mal küssen wollen. Noch ein Mal? Tausend Mal, die ganze Nacht lang. Und das hätte zwangsläufig dazu geführt, dass ihm auch das irgendwann nicht mehr genügt hätte. Leider ging Nicks Plan nicht ganz auf, denn die weiblichen Rundungen ihrer Rückseite, die gegen seinen Oberschenkel drückten, bedeuteten für ihn mindestens ebenso eine Tortur. Er legte die Hand auf ihre Hüfte, und Melissa verschränkte ihre eiskalten Finger mit seinen. „Lange können wir so nicht liegen bleiben“, warnte Nick leise. „Ich weiß. Wir müssen was essen.“ Das auch, überlegte er. „Jetzt, wo wir kein Feuer haben, um wilde Tiere fern zu halten, sollte ich den Rest unserer Vorräte außer Reichweite bringen. Sonst bekommen wir am Ende noch ungebetenen Besuch. Wir sind bestimmt nicht die Einzigen, die einen nahrhaften Müsliriegel zu schätzen wissen.“ „Aber es ist stockfinster, wie willst du da etwas sehen?“ Gutes Argument, gab Nick ihr innerlich Recht. Und außerdem ein Problem, auf dessen Lösung er sich konzentrieren konnte, was ihn hoffentlich von dem Bild
ablenken würde, das seit dem Kuss in seinem Kopf herumspukte und das es ihm schwer machte, seine Hände ruhig zu halten. Am liebsten hätte er nämlich begonnen, die Knöpfe des Jeanshemdes zu öffnen, das er Melissa geliehen hatte. „Ich werde mir was einfallen lassen“, sagte er. Mel nickte, mehr, zu sich selbst. Nicht, dass sie eine hilfreiche Idee gehabt hätte, aber selbst wenn, hätte sie die für sich behalten. Jede Minute, die Nick nachdachte, bedeutete für Mel eine weitere Minute in seinen Armen. Behaglich kuschelte sie sich an seinen warmen Körper. Sie wollte nicht, dass er aufstand und diesen Moment der Geborgenheit beendete. Wenn er wenigstens wartete, bis sie eingeschlafen wäre. Eine Sekunde später gab sie der bleiernen Müdigkeit nach, die sie bis jetzt ignoriert hatte. Sie seufzte zufrieden. Nick spürte, wie ihm ebenfalls die Augen zufallen wollten. Das eintönige Prasseln des Regens und Melissas gleichmäßige, ruhige Atemzüge machten es ihm nicht leichter, der Versuchung zu widerstehen, Vorräte einfach Vorräte sein zu lassen und liegen zu bleiben. In den Regen hinauszugehen, wenn man stattdessen eine wunderschöne schlafende Frau im Arm halten konnte, war keine besonders verlockende Vorstellung. Er brummte widerwillig und zog vorsichtig seinen Arm unter Melissas Rücken weg, wobei er darauf achtete, dass er sie nicht weckte. Kein Mond schien, keine Sterne waren am Himmel zu sehen, es blitzte nicht mal. Nichts, was die Finsternis auch nur ein bisschen erhellt hätte. Selbst schuld, dachte Nick missmutig. Du hättest das Essen gleich in irgendeinen Baum hängen sollen, als es noch hell war. Er tastete nach der Taschenlampe, fand sie und betätigte den Einschaltknopf. Natürlich funktionierte sie nicht, die Batterien hatten schon vor einer Weile nachgelassen und waren nun offenbar so gut wie leer. Ärgerlich klopfte er gegen das Metallgehäuse, dann gegen das Glas. Endlich erwachte die Glühbirne dahinter zum Leben, wenngleich sie kaum mehr Licht als eine Kerze spendete. Immerhin besser als gar nichts. Auf dem Rückweg erlosch die Birne immer wieder, aber Nick schaffte es jedes Mal, sie dazu zu überreden, noch ein paar Sekunden länger zu funktionieren. Als er zurück in ihren Unterschlupf kroch, fand er dort Melissa vor, die mit angezogenen Knien auf ihn wartete. In dem matten Licht der Taschenlampe sah sie fast wie ein Engel aus. Ein Engel, der erleichtert lächelte, weil Nick heil wieder zurückgekommen war. Noch bevor sie die Augen öffnete, wusste Mel, dass Nick fort war. Sie hatte keine Ahnung, wohin er gegangen sein könnte. Vorsichtig blinzelte sie. Es war bereits hell geworden. Melissa seufzte matt und zog die Knie dichter an ihren Körper. „Was ist los?“ Nicks tiefe Stimme weckte sie endgültig auf. „Es regnet immer noch“, stöhnte sie. „Ist mir aufgefallen“, entgegnete Nick, als er in gebückter Haltung in die kleine Höhle aus Zweigen und Blättern schlüpfte. „Aber wir haben noch ein anderes Problem.“ Dieser Mann kannte keine Gnade. Er schien irgendwie nicht zu begreifen, dass die Reihenfolge eigentlich lauten sollte: Erst Kaffee trinken, dann Schwierigkeiten besprechen. Kaffee und etwas zu essen. Selbst der Gedanke an Suppe aus der Tüte hatte etwas ungemein Appetitanregendes für Melissa. Egal was, Hauptsache es war essbar. Sie waren am Abend zuvor so müde gewesen, dass sie das Essen einfach hatten ausfallen lassen. Das rächte sich jetzt. Melissa setzte sich auf. Sie hätte nicht gedacht, dass so etwas möglich wäre, aber es schien ihr, als täten ihr heute nicht nur sämtliche Knochen weh, sondern
sogar jeder einzelne Muskel und jede Sehne dazwischen. Kein Wunder, der
Boden war hart wie Beton.
Nick streckte auffordernd die Hände aus und half Mel auf.
„Du siehst ein bisschen steif aus“, bemerkte er, als wolle er sich dafür
entschuldigen, sie unaufgefordert berührt zu haben. Er trat einen Schritt zurück,
und das eigenartige Unbehagen in seinem Gesichtsausdruck spiegelte sich in
Melissas wider.
„Was für ein Problem haben wir noch. Außer dem Regen?“ fragte sie zögerlich.
„Es gibt eine gute und eine schlechte Nachricht. Welche zuerst?“
„Die schlechte.“
„Unser Frühstück ist futsch.“
Melissas leerer Magen knurrte, wie um ihre Enttäuschung zu bekräftigen.
„Und die gute Nachricht?“ Mel konnte sich nicht vorstellen, was das noch sein
konnte.
Nick griff unter seinen Poncho und holte drei handtellergroße rote Päckchen
hervor. Zwei von ihnen waren unbeschädigt, das dritte Paket hatte ein paar
winzige runde Löcher, die offensichtlich von kleinen, spitzen Zähnen stammten.
„Welches Tier auch immer uns ausgeraubt hat, es mochte keinen Kaffee.“
Der Gedanke daran, dass sie nicht mal gehört hatten, wie der nächtliche Dieb
sich über ihre Vorräte hergemacht hatte, beunruhigte Melissa. Sie musste
geschlafen haben wie ein Stein. Prüfend betrachtete sie die Abdrücke der Zähne.
„Wenigstens war es nicht besonders groß“, stellte sie fest.
„Ich glaube, die hier stammen von einem Tier, das sich über das hergemacht
hat, was sein Vorgänger übrig gelassen hat.“ Nick hielt die völlig zerfetzte
Plastiktüte hoch, in der er ihren Proviant gestern verstaut und in einen Baum
gehängt hatte.
„Das sieht jedenfalls mehr nach der Handschrift eines ziemlich starken, ziemlich
hungrigen Zeitgenossen aus. Ich bin mir nicht sicher, ob er nicht vielleicht noch
in der Nähe ist. Wir sollten also besser machen, dass wir verschwinden.“
Eilig packten sie ihre wenigen Sachen zusammen und machten sich auf den Weg.
Sie stapften durch hohes Gras, immer darauf bedacht, nicht aus Versehen in
eines der gut getarnten Löcher zu treten, unter denen sich die Höhlen der
Biberratten verbargen, die sich in dieser Gegend offenbar pudelwohl fühlten –
der Anzahl der Löcher nach zu urteilen. Den unaufhörlichen Regen nahm Melissa
kaum noch wahr. Ebenso wenig den ziehenden Schmerz in ihren Waden. Sie
konzentrierte sich ausschließlich darauf, wohin sie als Nächstes trat. Und auf den
Mann, der schweigend neben ihr ging.
Sie konnte nicht fassen, dass er sie tatsächlich geküsst hatte. Und noch weniger,
was für ein Gefühlschaos dieser Kuss in ihr ausgelöst hatte. Natürlich wusste sie,
dass es keine Rolle spielte, was sie empfand, denn sobald sie wieder in der
Zivilisation waren, würden ihre Wege sich unweigerlich trennen. Trotzdem
wünschte Melissa, oder besser gesagt der weniger rationale Teil von ihr, sich
nichts sehnlicher, als dass Nick sie berührte. Und wenn er nur ihre Hand nehmen
würde.
Nick dagegen wollte viel mehr als das. Er war mit einem Verlangen aufgewacht,
das er seit Ewigkeiten nicht mehr verspürt hatte. Wäre er jemand gewesen, der
zum Grübeln neigte, hätte er sich eingestehen müssen, dass es auch jetzt noch
da war. Aber Melissa vertraute ihm mit ihrem Leben.
Im wahrsten Sinne des Wortes. Dieses Vertrauen durfte er nicht missbrauchen.
Er hatte versprochen, sie zu beschützen. Wenn es sein musste, auch vor sich
selbst.
Endlich entdeckte Melissa eine verblichene Markierung an einem Baum, die ihnen
den Weg zu dem überwucherten Pfad wies, dem sie bereits am Vortag gefolgt waren. Dichte Nebelschwaden stiegen von den kleinen Tümpeln auf und waberten über moosbewachsene, morsche Baumstümpfe und Felsblöcke. Die massiven, dicken Stämme der hohen Tannen ragten wie die Beine jahrhundertealter Riesen in den Himmel. Der Wald hatte etwas so Unwirkliches, Geheimnisvolles an sich, als sei die Zeit an diesem Ort in einer längst vergangenen Epoche einfach stehen geblieben. Fast rechnete Melissa damit, dass im nächsten Augenblick Trolle und Kobolde aus den Büschen sprangen, um die Eindringlinge aus ihrem Territorium zu vertreiben. Es wurde Mittag, dann Nachmittag, und mit jeder Stunde, die verstrich, wurde Melissa bewusster, wie erschöpft sie war. Und wie hungrig. Nick schlug vor, nach Beeren Ausschau zu halten, obwohl die Chance, dass zu dieser Jahreszeit noch etwas Genießbares wuchs, nicht allzu groß war. „Hat dein Dad dir beigebracht, was essbar ist und was nicht?“ fragte Melissa in der festen Überzeugung, dass Nicks Fähigkeiten als Jäger und Sammler die ihren bei weitem überstiegen. „Nicht direkt. Er hatte eine sehr einfache Methode, das zu unterscheiden. ,Iss nichts, was du nicht auch in einem Supermarkt finden könntest.’ Das war seine Devise.“ „Klingt einleuchtend.“ Obwohl beide von nun an die Augen nach allem, was dieses Kriterium erfüllte, offen hielten, blieb ihre Suche erfolglos. Hin und wieder entdeckte einer von ihnen etwas, was zunächst viel versprechend aussah, aber bei genauerer Begutachtung stellte sich jedes Mal heraus, dass weder Nick noch Melissa mit Sicherheit sagen konnten, was es war. Bei Anbruch der Dämmerung hätte Mel schwören können, dass sich dort, wo ihr Magen hätte sein sollen, inzwischen nichts weiter als ein leeres, taubes Loch befand. Zumindest fühlte es sich so an. Sie erwähnte trotzdem mit keinem Wort, wie hundsmiserabel es ihr ging. Jammern war noch nie ihre Art gewesen. Das Zittern ihrer eiskalten Finger blieb Nicks scharfem Blick dennoch nicht verborgen. „Warte“, sagte er und blieb stehen. Er legte die Arme um sie und rubbelte ihren Rücken warm. Sie seufzte und ließ ihren Kopf an seine Brust sinken. „Besser?“ fragte er sanft. „Viel besser. Danke.“ Nick schälte sich aus seinem Poncho und breitete ihn unter einem Baum auf der Erde aus. „Komm“, forderte er Mel auf, während er sich auf das Stück Folie setzte. „Wir müssen ein bisschen schlafen. Es wird sowieso gleich dunkel.“ Wie er ausgerechnet jetzt an Sex denken konnte, war ihm selbst unerklärlich, aber als er seine Jacke öffnete, so dass er und Melissa gemeinsam von dem dicken Leder eingehüllt eng aneinander geschmiegt dasaßen, konnte er durch den Stoff seines TShirts hindurch ihre festen Brüste an seinem Bauch spüren. Er streichelte zärtlich über ihr Haar. Das war alles, was er sich an unnötigen Berührungen gestattete, bevor er die Augen schloss. Und einschlief. Die Nächte waren für Mel mittlerweile deutlich leichter zu ertragen als die endlosen, verregneten Tage. Sie war sich allerdings nicht sicher, wie Nick darüber dachte. Oder, um genau zu sein, über die Art, wie sie diese Nächte neuerdings verbrachten. Normalerweise war er nach dem Aufwachen zwar nicht unbedingt das, was man als frisch und ausgeruht bezeichnen würde, aber im Vergleich zu Melissa doch voller Energie und Tatendrang. An diesem Morgen wirkte er jedoch still und verschlossen, als sei er gar nicht richtig bei der Sache, als sie sich einen Becher kalten Kaffee teilten und
anschließend aufbrachen. Es war nach wie vor grau und bewölkt, aber der Regen hatte eine – hoffentlich längere – Pause eingelegt. Melissa spürte die unterschwellige Distanziertheit, die von Nick ausging. Sie fühlte sich zunehmend unwohl deswegen. Und weil er nur dann sprach, wenn es unbedingt notwendig war. Müde trottete sie hinter ihm her und fragte sich, ob es einen bestimmten Grund für sein hartnäckiges Schweigen gab. Zum Beispiel, dass er wieder mal über gewisse „Nebensächlichkeiten“ nachgrübelte, die er so lange für sich zu behalten versuchte, bis er entweder eine Lösung gefunden hatte oder das Problem dermaßen akut wurde, dass er nicht mehr abstreiten konnte, dass sie in Schwierigkeiten steckten. Mel wollte gerade eine entsprechende Andeutung machen, als sie in wenigen Metern Entfernung etwas ausmachte, das sowohl bekannt als auch ungemein appetitanregend aussah. Vor lauter Entzücken achtete sie nicht darauf, wo sie hintrat. Ihr Schuh verfing sich in einer Baumwurzel, und sie rutschte aus. Sofort war Nick an ihrer Seite. „Hast du dir wehgetan?“ Melissa hörte die Frage überhaupt nicht. Sie war bereits dabei, sich wieder aufzurappeln, und wischte flüchtig, ihre Hände an ihrer Jeans ab. „Da! Siehst du das?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, marschierte sie auf einen Strauch zu, dessen Blätter in einem satten Herbstrot leuchteten, und machte sich daran, eine unscheinbare kleine Ranke zwischen dem am Boden liegenden Laub hervorzuzerren, Nick wischte sich eine feuchte Haarsträhne aus der Stirn, um besser sehen zu können. „Brombeeren?“ fragte er erstaunt. „Frühstück!“ verkündete Melissa triumphierend. Nick hatte fast schon vergessen, was für ein strahlendes, ansteckendes Lächeln sie hatte. Er konnte gar nicht anders, als es zu erwidern. Voller Eifer pflückte sie eine Hand voll Beeren ab und hielt sie ihm hin. „Guten Appetit“, wünschte sie grinsend. Ihre Augen leuchteten wie die eines Kindes, dessen Eltern ihm erlaubt hatten, nach Herzenslust in einem Süßigkeitenladen zu stöbern und zu kaufen, was immer es wollte. Sie drehte sich um und steckte abermals den Kopf ins Gebüsch. „Hier sind noch mehr“, rief sie. „Pass auf die Dornen auf“, warnte Nick. „Ja, ja. Mache ich. Haben wir irgendwas zum Aufbewahren?“ Nick ging in Gedanken kurz die Liste der Gegenstände durch, die sie bei sich hatten. „Wir könnten den Becher nehmen“, schlug er vor. „Gute Idee.“ Während Nick den Rucksack von seinen Schultern gleiten ließ, um den Metallbecher herauszuholen, dachte er daran, wie lange es her war, dass er sich mit jemandem so sehr über etwas so Einfaches wie ein paar Brombeeren gefreut hatte. Dass er sich überhaupt mit jemandem über etwas gefreut hatte. Die Fröhlichkeit und Unbeschwertheit war schleichend aus seinem Leben verschwunden, und als er es bemerkt hatte, war es schon zu spät gewesen, um das Unglück abzuwenden. Er sah auf, und in der nächsten Sekunde gefror ihm das Blut in den Adern. Melissa hatte sich inzwischen ungefähr zehn Meter weiter vorgearbeitet und war emsig damit beschäftigt, alle ihre Taschen mit Beeren voll zu stopfen, so dass sie die Gefahr nicht erkannte. „Melissa“, zischte Nick. „Komm wieder her! Langsam.“ „Was…“ „Psst! Mach schon.“
Melissas Instinkt sagte ihr, dass jetzt nicht die Zeit war, um Fragen zu stellen. In gebückter Haltung bewegte sie sich zögernd auf Nick zu, wobei sie sich nervös umschaute. „Nein, nicht umdrehen. Sieh mich an“, flüsterte Nick, gerade so laut, dass Mel ihn hören konnte. Erst, als sie sich neben Nick ins hohe Gras duckte, sah sie, wovor sie geflüchtet war. Ein riesiger Grizzlybär beschnupperte interessiert einen verrotteten Baumstumpf, wahrscheinlich auf der Suche nach einem kleinen Snack in Form eines Käfers oder sonstiger Insekten, die zwischen dem morschen Holz überwinterten. „Oh, Mann“, wisperte Mel. Der Wind schien sich gedreht zu haben, denn der Bär hob den Kopf und schnüffelte aufmerksam. Nick fluchte innerlich. Sollte das Tier sie entdecken und sich zu einem Angriff entschließen, hatten sie verdammt schlechte Karten. Weglaufen wäre zwecklos, denn kein Mensch konnte schneller rennen als ein ausgewachsener Grizzly. Auf einen Baum klettern, das stand ebenfalls außer Frage, denn auch in dieser Disziplin war der zottige Koloss ihnen haushoch überlegen. Also blieb nur eines: sich verstecken. „Los, da rüber“, kommandierte Nick und schob Melissa auf ein nahe gelegenes Dickicht ein Stück bergab zu. „Was hast du vor?“ fragte sie skeptisch. „Gar nichts. Solange Meister Petz da drüben sich ruhig verhält, werde ich das auch tun. Verschwinde. Er kann nicht uns beide gleichzeitig verfolgen.“ „Nick“, begann Mel, doch Nick schnitt ihr sofort das Wort ab. „Jetzt!“ Der Bär hatte jedoch bereits Witterung aufgenommen. Gemächlich schlurfte er auf die beiden reglosen Menschen zu. Nick versetzte Melissa einen Stoß. Sie kullerte abwärts und wurde kurz darauf von einer kleinen Tanne abgebremst. Hastig schnappte Nick sich die Landkarte und warf den Rucksack in einem hohen Bogen von sich, so dass er mit einem dumpfen Poltern direkt vor dem Bären landete. Wie Nick gehofft hatte, fand das Tier Interesse an dem leuchtenden orangefarbenen Stoffbeutel und war somit für einen Moment abgelenkt. Nick spurtete los. Hinter sich hörte er, wie der Rucksack von mächtigen Pranken durch die Luft geschleudert wurde. Entweder spielte der Bär damit, oder er war enttäuscht, weil sich nichts Essbares darin befand. Außer Kaffee. Nick schlidderte die Böschung hinab und kam keuchend an der Stelle an, wo Melissa zwischen den dichten Espen hockte. Sie war kreidebleich. Ungeduldig drückte Nick einige Äste beiseite, doch einer von ihnen federte zurück und traf ihn knapp oberhalb des linken Auges. Nick ignorierte den stechenden Schmerz. Er rollte sich neben Melissa und lauschte angestrengt. Bis auf das leise Pfeifen des Windes war nichts zu hören. Offensichtlich hatte ihr Verfolger beschlossen, Käfer seien doch die bequemere Beute, und die Verfolgung aufgegeben. „Ich schlage vor, wir treten den Rückzug an“, flüsterte Nick. „Uns wird nichts anderes übrig bleiben. Wir sind unbewaffnet.“ „Stimmt. Die Signalpistole ist weg.“ „Was soll’s. Es gibt sowieso keine Flugzeuge, die wir auf uns aufmerksam machen könnten.“ Es hätte Nick auch gewundert, wenn es anders wäre. Die Wetterverhältnisse waren denkbar schlecht, um von der Luft aus nach Überlebenden eines Absturzes zu suchen. „Du blutest ja“, stellte Melissa bestürzt fest. Nick machte jedoch nur eine wegwerfende Handbewegung.
„Das lässt sich im Moment nicht ändern. Die ErsteHilfeAusrüstung war im
Rucksack, und ich werde nicht zurückgehen und sie holen. Los jetzt.“
Gemeinsam krochen er und Melissa bäuchlings durch den Matsch, bis sie eine
Lichtung erreichten und unbeabsichtigt einige friedlich äsende Rehe
aufscheuchten, die erschrocken über einen schmalen Fluss sprangen, um sich am
anderen Ufer in Sicherheit zu bringen.
„Ich wette, der führt direkt bis zu dem See, den wir vom Berg aus gesehen
haben“, sagte Nick.
Am Fluss angekommen, packte Melissa ihn am Arm und zog ihn auf den Boden.
„Halt still“, wies sie ihn an, während sie ein Taschentuch hervorholte, es ins
Wasser tauchte und vorsichtig die lange Platzwunde über seiner Augenbraue von
Schmutz und eingetrocknetem Blut reinigte. Mehr konnte sie nicht tun. Das und
unaussprechlich dankbar dafür sein, dass ihm nichts Schlimmeres passiert war.
Sie fragte nicht, ob es wehtat, denn er sollte sich nicht genötigt fühlen, ihr
vorzumachen, es ginge ihm blendend. So, wie er es getan hatte, als sie ihn auf
die Verletzung an seiner Schulter angesprochen hatte.
„Was schätzt du, wie weit ist es noch bis zum See?“ wollte sie wissen.
„Acht oder neun Meilen.“
„Neun Meilen?“ wiederholte Melissa. Die Entmutigung stand ihr buchstäblich ins
Gesicht geschrieben. Es fiel ihr immer schwerer, sich selbst zu beweisen, dass ihr
Lebensmotto nicht nur leeres Gewäsch war und dass auch das größte Unglück
irgendetwas Gutes barg. Halbherzig redete sie sich ein, hier auf der Lichtung
wäre die Gefahr, von einem angreifenden Raubtier überrascht zu werden,
deutlich geringer als vorhin im Wald.
Nick beobachtete aus dem Augenwinkel, wie Mel das Taschentuch auswusch,
bevor sie es ein weiteres Mal gegen seine Wunde drückte. Als sie abgestürzt
waren, hatte er in ihr nichts weiter als einen Fluggast gesehen, für den er als
Pilot verantwortlich war. Eine ganz simple Angelegenheit: Der Passagier bezahlte
für den Flug, und der Pilot brachte ihn wohlbehalten an sein Ziel. Oder, wenn das
nicht möglich war, zumindest in Sicherheit.
Doch so einfach war es schon lange nicht mehr. Was anfangs reines Pflichtgefühl
gewesen war, hatte sich zu echter Zuneigung vertieft. Wenn er ehrlich war, sogar
zu mehr als das. Ihr Wohlergehen lag ihm am Herzen, und er war fest
entschlossen, alles dafür zu tun, dass sie heil nach Hause käme.
„Du musst lernen, wie man mit Karte und Kompass umgeht“, sagte er ernst.
„Warum das?“
„Für den Fall, dass mir etwas…“
„Red keinen Unsinn“, unterbrach Melissa ihn schroff. „Dir wird nichts passieren.
Wir werden das hier entweder zusammen schaffen oder gar nicht.“
Nick seufzte. Sie war so starrköpfig. Und so zärtlich. Ihre sanften Berührungen,
während sie seine Wunde versorgte, fühlten sich unglaublich gut an. Er schloss
die Finger um ihr Handgelenk.
„Melissa, die Sache mit diesem Bären hätte auch anders ausgehen können“,
sagte er eindringlich.
„Ist sie aber nicht.“
„Hör mir doch…“
„Nein. Nick, bitte, tu das nicht.“ Er war alles, was sie hatte. Sie konnte, sie durfte
ihm nicht erlauben, ihr unerschütterliches Vertrauen in ihn zu zerstören. „Ich
brauche die Gewissheit, dass wir es schaffen. Ich brauche…“
Dich.
Sie sprach dieses Wort nicht laut aus, aber Nicks Blick verriet ihr, dass er
zumindest ahnte, was sie empfand. Er streichelte ihr mit dem Daumen über die
Wange und sah sie mit seinen grauen Augen verständnisvoll an.
„Das ist ganz normal unter diesen Umständen. Du wirst sehen, nach einer Nacht
in einem richtigen Bett sieht die Welt schon wieder ganz anders aus.“
Melissa schluckte. Was er sagte, klang logisch. Und dennoch weigerte sie sich,
ihm zu glauben. Es lag nicht nur an der Situation. Sie hätte sich auch in ihn
verliebt, wenn sie sich auf andere Weise begegnet wären.
„Wir gehen hier nicht eher weg, bis ich dir erklärt habe, wie man diese Landkarte
liest. Verstanden?“ Nicks Tonfall duldete keine Widerrede.
„Okay“, gab Melissa nach.
Energisch schob Nick das Gefühl der Rührung beiseite, die in ihm aufkam. Er
hatte gesehen, wie Melissa aussah, wenn sie Angst hatte oder in Panik geriet.
Aber die Sorge, die jetzt ihre Züge überschattete, hatte er noch nie gesehen. Die
Sorge um ihn.
Umstände hin oder her, zwischen ihnen hatte sich etwas entwickelt, was sich
nicht mit reiner Logik erklären ließ. Es war eine Art unsichtbares Band.
9. KAPITEL Sie hatten den See noch am Abend zuvor erreicht, dort übernachtet und ihn
bereits vor Stunden hinter sich gelassen.
„Du hast gesagt, vom See aus wären es nur noch ein paar Meilen zum Flugplatz“,
erinnerte Melissa Nick. „Vielleicht solltest du ,ein paar’ etwas genauer definieren.“ „Ungefähr drei. Oder ein bisschen mehr.“ „Ein bisschen mehr trifft es wohl eher“, murmelte Mel. „Wir sind langsamer als sonst. Daran liegt es, dass es dir so weit vorkommt“, erklärte Nick achselzuckend. „Schon irgendwelche Beeren entdeckt?“
„Nicht eine einzige.“
„Ich auch nicht.“
Bibbernd rieb Mel sich die Oberarme. Es regnete zwar nicht, aber die Luft war
kühl und feucht und bildete dicke Kondenswassertropfen auf der beschichteten
Folie, die sie zum Poncho umfunktioniert hatten. Und auch auf Mels Stirn hing die
Feuchtigkeit. Sie wischte sie mit einem Zipfel von Nicks Jeanshemd fort, das sie
noch immer trug, und während sie das tat, kribbelte es plötzlich in ihrer Nase,
und sie musste niesen.
„Gesundheit.“
„Danke.“
„Du wirst mir doch jetzt nicht krank werden?“
„Ich hoffe, nicht.“
Natürlich wusste sie, dass man sich nicht erkältete, weil einem kalt war. Ein
Schnupfen deutete jedoch auf eine geschwächte Immunabwehr hin, was unter
diesen Gegebenheiten kein Wunder wäre. Nick hatte Recht, sie kamen tatsächlich
nicht mehr so schnell voran wie am Vortag. Mel fühlte sich schlapp, und ihre
Schritte waren dementsprechend schleppend. Ob Nick ebenfalls erschöpft war
oder nur aus Rücksichtnahme langsam neben ihr hertrottete, konnte sie nicht
sagen.
„Und du? Wie geht’s dir?“
Nick hob eine Hand und bedeutete ihr, still zu sein.
Sie erstarrte in der Bewegung und schickte gleichzeitig ein Stoßgebet zum
Himmel. Bitte, nicht schon wieder. Ihr Bedarf an drei Tonnen schweren
Grizzlybären war für die nächsten hundert Jahre gedeckt.
„Hörst du das?“ flüsterte Nick.
Mel lauschte konzentriert, doch außer dem stetigen Wind und dem Rauschen des
kleinen Wasserfalls, der aus einem nahe gelegenen Berg entsprang, konnte sie
nichts Ungewöhnliches hören. Doch irgendetwas war seltsam. Das Rauschen
schien näher zu kommen. Wie war das möglich? Und plötzlich begriff sie, dass es
nicht der Wasserfall war, der das Geräusch verursachte, sondern…
Ruckartig drehte sie den Kopf zu Nick, der dasselbe tat.
„Klingt wie ein Truck!“ riefen sie wie aus einem Munde.
Innerhalb weniger Sekunden schwoll das Geräusch zu einem Brummen an, dann
entfernte er sich und verschwand schließlich ganz.
„Hier entlang.“ Nick packte Melissas Arm und zog sie hinter sich her. „Ich glaube,
es kam von da drüben.“
Sie rannten los. Minuten später fanden sie sich auf einer Straße wieder. Sie
bestand hauptsächlich aus Kies und Schlaglöchern, aber es war eine Straße. Von
dem Truck, den sie gehört hatten, fehlte allerdings jede Spur. Hilflos blickte
Melissa sich in beide Richtungen um. Es war wieder Nebel aufgekommen, und sie
konnte kaum etwas erkennen. Nick lief ein Stück voraus um die nächste Kurve.
„Komm her!“ rief er aufgeregt.
„Das gibt’s doch nicht“, flüsterte Mel ungläubig.
Tatsächlich, da stand der Wagen. Und ein Mann, der eine große Holzlatte neben
sich abstellte, die er gerade aus dem Auto gewuchtet hatte. Jetzt hob er die
Hand, legte sie an die Stirn und spähte argwöhnisch in den Nebel.
„Warte“, warnte Nick und ging auf die Gestalt zu.
„Sind Sie sicher, dass Sie nicht ins Krankhaus wollen?“
Der Mann, der sich als Wildhüter Adams vorgestellt hatte, warf einen skeptischen
Blick in den Rückspiegel und auf die beiden Vermissten, die ihm so unerwartet
direkt in die Arme gelaufen waren. Er hatte natürlich von dem abgestürzten
Flugzeug gehört. Selbst wenn die Polizei nicht um die Mithilfe der Wildhüter bei
der Suche gebeten hätte, es wurde ständig in den Lokalnachrichten von dem
Unglück berichtet.
Der Ausdruck, mit dem er Melissa aus seinen haselnussbraunen Augen
bedachte, sagte ihr, dass sie schlimmer aussehen musste, als sie befürchtet
hatte.
„Sobald ich mich aufgewärmt habe, bin ich wieder okay. Ehrlich“, versicherte sie.
Wildhüter Adams nickte und drehte die Heizung auf die höchste Stufe.
„Noch mal danke, dass Sie uns mitnehmen“, sagte jetzt Nick. „Aber alles, was wir
brauchen, ist eine heiße Dusche und eine vernünftige Mahlzeit. Und ein Telefon.
Gibt es ein Hotel in der Nähe?“
„Irgendwas Bestimmtes?“
„Hm. Wie wäre es mit dem schönsten?“
Das Schönste? Nick musste sich irgendwo den Kopf angeschlagen haben, als
Melissa gerade nicht hingesehen hatte.
„Hältst du das für eine gute Idee?“ fragte sie vorsichtig. „Ich meine, wir sehen
aus wie…“ Sie musterte seinen mittlerweile beachtlichen Bart, dann ihre
schmutzverkrustete Jeans. „Rübezahl und Rumpelstilzchen.“
Nick grinste verschwörerisch.
„Genau deshalb brauchen wir ein Hotel mit einem anständigen Zimmerservice“,
erklärte er. „Bis wir uns wieder so weit in Menschen verwandelt haben, dass wir
im Restaurant essen könnten, hat es wahrscheinlich schon geschlossen“, fügte er
mit einem Blick auf seine Uhr hinzu.
„Am Ortseingang liegt das L’Auberge“, informierte Wildhüter Adams sie.
„Ziemlich vornehm und teuer. Dann gibt es noch ein Gasthaus, ein Stück die
Hauptstraße runter. Es ist nicht sonderlich exklusiv, aber die Zimmer sollen sehr
schön sein, habe ich gehört.“
Das Gasthaus, dachte Melissa.
„Das L’Auberge, sagte Nick. „Haben Sie zufällig ein Handy, das Sie mir leihen
könnten?“
„Natürlich. Ich will nur schnell Bescheid geben, dass die Kollegen aufhören
können, nach Ihnen zu suchen.“
Nachdem der Wildhüter sein Gespräch beendet hatte, reichte er Nick das Telefon
sowie ein kleines Lokalbranchenbuch aus dem Handschuhfach. Nick wählte die
Nummer des L’Auberge und ließ sich direkt mit dem Hotelmanager verbinden. Er
reservierte zwei Zimmer, erklärte die Situation und bat darum, dass die Presse
vorerst nicht informiert werden sollte. Wenigstens, bis er und Melissa
Gelegenheit gehabt hatten, zu duschen und etwas zu essen.
Kurze Zeit später rollte der Truck die Hotelauffahrt hinauf, die von einem großen,
kunstvollen Steinbogen aus weißem Marmor überspannt wurde. Augenblicklich
erschien ein schlanker, gut gekleideter Gentleman, um Nick und Melissa
persönlich zu begrüßen. Er tat sein Bestes, um sich nicht anmerken zu lassen,
wie erschrocken er über ihr heruntergekommenes Äußeres war. Galant schüttelte
er zuerst Mel, dann Nick die Hand, während er sich als Mr. Sheridan vorstellte.
„Wenn Sie mir bitte folgen würden“, sagte er, schob sie durch die Tür und rasch
am Empfangstresen vorbei, direkt in sein Arbeitszimmer. Es war, wie der Rest
des l'Auberge, ausgesprochen geschmackvoll eingerichtet. Edle Teakholzschränke
und hohe Bücherregale säumten die Wände, und auf dem spiegelblanken
Marmorboden lag ein dicker, flauschiger Teppich.
Mr. Sheridan ignorierte geflissentlich die Lehmklumpen, die seine Gäste auf eben
diesem Teppich hinterließen, als er sie zu seinem Schreibtisch führte.
„Nehmen Sie doch bitte Platz“, forderte er sie auf und deutete auf zwei Stühle,
deren Sitzpolster mit sehr teuer aussehendem Damast bezogen waren.
„Danke, aber ich stehe lieber“, lehnte Melissa ab, obwohl sie das Gefühl hatte,
sich kaum noch auf den Beinen halten zu können.
„Ich auch“, sagte Nick.
Mr. Sheridan lächelte höflich. Mel hätte schwören können, so etwas wie
Erleichterung in seinem Gesichtsausdruck zu sehen. Seine kostbaren Sitzmöbel
würden sauber bleiben.
„Wie Sie wünschen“, erwiderte er, nahm den Hörer von seinem Telefon und
drückte einen Knopf. „Miss Bailey? Wären Sie so liebenswürdig, in mein
Arbeitzimmer zu kommen? Und bringen Sie zwei Speisekarten mit.“
Die Tür wurde geöffnet, und eine attraktive junge Frau in einem dunkelgrünen
Kostüm kam herein. Sie reichte ihnen je eine Karte und wartete mit gezücktem
Stift und Schreibblock darauf, dass Nick und Melissa ihre Bestellung aufgaben.
„Sagen Sie Miss Bailey einfach, was Sie gerne hätten, und es wird Ihnen
umgehend auf Ihr Zimmer gebracht werden“, forderte Mr. Sheridan sie auf,
während er etwas in seinen Computer eingab. „Oh, Mr. Magruder, ich brauchte
Ihre Adresse und Telefonnummer.“
Nick machte die Angaben, die der Hotelmanager benötigte, und schob ihm dann
seine Kreditkarte hin.
„Sie können den Betrag für die beiden Zimmer und das Essen von diesem Konto
abbuchen.“
Melissa wollte protestieren, besann sich dann aber im letzten Moment darauf,
dass ihr eigenes Portemonnaie zusammen mit der Cessna auf dem Grund eines
Sees mitten im Nirgendwo lag. Sie würde Nick das Geld zurückzahlen, so schnell
es ging.
„Mit Vergnügen, Sir.“ Mr. Sheridan zog ein Blatt Papier aus seinem Drucker.
„Wenn Sie dann bitte noch hier unterschreiben möchten.“
Mel studierte derweil die Speisekarte. Sämtliche Gerichte hatten wohlklingende,
französische Namen, und die Preise waren dementsprechend astronomisch.
„Ich nehme an, damit wären dann alle Formalitäten erledigt“, sagte Nick.
„Selbstverständlich“, antwortete Mr. Sheridan. „Die Zimmer sind natürlich mit
den üblichen Körperpflegeprodukten ausgestattet, aber falls Sie noch etwas
benötigen, wird Miss Bailey sich gern darum kümmern.“
„Ausgezeichnet“, gab Nick in einem gleichermaßen distanziert höflichen Tonfall
zurück und wandte sich dann lächelnd der entzückenden Miss Bailey zu. „Ich
könnte einen Rasierapparat und eine Zahnbürste gebrauchen“, bemerkte er
augenzwinkernd. „Und ein Filet. Medium.“
„Welche Beilagen, Sir?“
„Das überlasse ich Ihrem Chefkoch. Hauptsache, es ist reichlich. Wie gut ist Ihr
Weinkeller ausgestattet?“
„Es ist der beste Keller in der Gegend“, versicherte Mr. Sheridan stolz.
„Cabernet Sauvignon, 86er Jahrgang?“ fragte Nick.
Sogar mit seinen schmutzigen Hosen, dem ungepflegten Bart und den schlammbedeckten Schuhen strahlte er Gelassenheit und Selbstvertrauen aus. Er ließ sich weder von dem eleganten Ambiente noch von dem kultivierten Gehabe des Hotelmanagers beeindrucken. Stattdessen verlangte er ohne falsche Scham nach dem, was er wollte. Und das, was er wollte, sprach für einen Mann mit einem erlesenen Geschmack. Er ist daran gewöhnt, dachte Melissa. Deshalb hatte er das L’Auberge der einfachen Gaststätte vorgezogen. „Gern“, sagte Miss Bailey. „Und Sie, Dr. Porter?“ Es war offensichtlich, dass die junge Frau krampfhaft versuchte, nicht auf Melissas strähnige, durchnässte Haare zu starren. Als Melissa zögerte, fügte Miss Bailey mit einem VonFrauzu FrauBlick diskret hinzu: „Die Badezimmer sind standardmäßig mit einem Föhn ausgestattet. Ich kann Ihnen auch etwas Makeup aus dem Hotelshop bringen lassen, wenn Sie möchten.“ Seit sie das L’Auberge betreten hatte, fühlte Mel sich wie etwas, was die Katze ins Haus geschleppt hatte. Jetzt, in Gegenwart der zuckersüßen Miss Bailey, kam sie sich noch elender vor. „Danke“, erwiderte sie tapfer. „Ist mir ein Vergnügen. Haben Sie schon gewählt?“ Mel schloss sich Nicks Vertrauen in den Chefkoch an und bat um ein vegetarisches Nudelgericht. Und eine Zahnbürste. Nick hatte sich in der Zwischenzeit ein Mobiltelefon von Mr. Sheridan geben lassen und Sam angerufen. „Ja“, sagte er. „Sie steht direkt neben mir. Keine Sorge, es geht ihr gut.“ Nach einer kurzen Pause, in der er dem Hotelmanager mit einer Handbewegung zu verstehen gab, dass er etwas zum Schreiben brauchte, kritzelte er etwas auf einen Zettel. „Ja, ich werde sie ihr geben. Hör mal, Sam, ich ruf dich später noch mal an, wenn wir gegessen haben, okay?“ Nick verabschiedete sich und gab Mr. Sheridan das Telefon zurück. „Darf ich Sie dann bitten, unserem Pagen zu folgen? Er wird Ihnen Ihre Zimmer zeigen“, sagte dieser. „Dort warten bereits ein Obstkorb und eine Käseplatte auf Sie.“ „Ihr Service ist außerordentlich“, bemerkte Nick anerkennend. „Das ist unser Motto. Sie wissen doch, der Gast ist König.“ Mr. Sheridan lachte gekünstelt und verbeugte sich leicht. Während sie und Nick von dem Hotelpagen eine Treppe hinaufgeführt wurden, fühlte Mel sich endgültig fehl am Platze. Nicht, weil sie aussah, als wäre sie gerade in eine Schlammgrube gefallen, sondern weil sie es schlicht und einfach nicht gewöhnt war, von allen Seiten bedient und hofiert zu werden. Es war völlig ungewohnt, dass man ihr quasi jeden Wunsch von den Augen ablas, noch bevor sie ihn ausgesprochen hatte. Vor noch gar nicht allzu langer Zeit hatte sie sich nichts sehnlicher gewünscht als eine heiße Dusche, eine warme Mahlzeit und ein weiches Bett. Nun, wo es so weit war, erkannte sie, wie unwichtig all diese Dinge waren. Es gab nur eines, was sie wirklich wollte: Nick. Was sie stattdessen bekam, war ein Zettel mit einer Telefonnummer darauf. „Sam hat mit deiner Schwester gesprochen. Du sollst sie so schnell wie möglich anrufen“, erklärte Nick. „Danke“, seufzte sie. „Ja, ich weiß. Mir geht’s genau so. Ich habe auch ein paar lästige Telefonate zu erledigen“, meinte er. „Könnte eine Weile dauern. Wir sehen uns morgen früh,“ Mel nickte schwach und versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Sie hatte das Gefühl, dass sie noch etwas sagen sollte, bevor Nick in
seinem Zimmer verschwand, das direkt neben ihrem lag. Sich für all das zu bedanken, was er für sie getan hatte, erschien ihr angebracht zu sein. Doch in Wirklichkeit brannte ihr etwas ganz anderes auf der Zunge. War morgen der Tag, vor dem sie sich so fürchtete? Würde es ein letztes gemeinsames Frühstück geben, und danach wäre alles vorbei? Für immer? Aber Nick schien es sehr eilig zu haben, und so zog Mel es vor, sich einzureden, dass auf sie ebenfalls dringendere Gespräche warteten als dieses. Wildhüter Adams hatte ihr die Durchwahl seines Kollegen Wyckowski gegeben, dem sie nun erklären musste, wo die beiden jungen Kojoten geblieben waren, für die sie die Verantwortung trug. Mel hielt ihr Gesicht in den himmlisch warmen Wasserstrahl der Dusche. Sie seifte und shampoonierte ihren geschundenen Körper gleich zwei Mal hintereinander großzügig ein und atmete genussvoll den Duft des dicken Schaums ein. Danach warf sie sich den flauschigen weißen Hotelbademantel über, den man auf ihrem Bett bereitgelegt hatte, schnappte sich den von ihrem ersten Heißhungeranfall schon arg geplünderten Obstkorb, der auf dem Tisch in ihrem feudal eingerichteten Zimmer stand, und aß alles, was noch übrig war, ratzekahl auf. Kaum hatte sie ihre schmutzigen Kleider vom Boden aufgeklaubt und in einen Wäschesack gestopft, wurden diese auch schon abgeholt, und ein Kellner brachte eine große, dampfende Schüssel Fettuccine mit frischem geröstetem Brot als Beilage herein. Er platzierte alles mit graziösen Bewegungen auf einem blau und cremefarben gehaltenen Sideboard neben dem Fernsehschränkchen und machte einen Diener, bevor er den Raum verließ. Das riesige, weiche Bett war ebenfalls in dezenten Blautönen bezogen und mit passenden Kissen bedeckt. Melissa nahm die Schüssel, stellte sie auf ihrem Nachttischchen ab und setzte sich auf eine Kante der herrlich bequemen Matratze. Während sie kaute, rief sie Wildhüter Wyckowski an. Zu ihrer Erleichterung meldete sich nur ein Anrufbeantworter. Sie hinterließ eine kurze Nachricht und faltete dann den Zettel auseinander, den Nick ihr gegeben hatte. Die Nummer darauf war ihr unbekannt, bis auf die Vorwahl, denn Harbor hatte dieselbe. Allerdings traf das auf gesamt WestWashington zu. Ihr graute davor, mit ihrer Schwester zu sprechen. Der bloße Gedanke daran wirkte sich augenblicklich auf ihren Appetit aus, und sie ließ seufzend die Gabel sinken, mit der sie gerade den nächsten Bissen zum Mund hatte führen wollen. Nach dem zehnten Klingeln legte Mel wieder auf. Es war offenbar niemand zu Hause. Doch sie wusste, so einfach konnte sie sich nicht aus der Affäre ziehen, auch wenn sie nichts lieber getan hätte als das. Immerhin bestand die Möglichkeit, dass Cam wirklich in Sorge um sie war. Sie wählte erneut die fremde Nummer und fühlte sich schuldig, weil sie insgeheim hoffte, dass auch dieses Mal niemand abheben würde. Während sie wartete, hörte Mel gedämpftes Wasserrauschen aus dem Nachbarzimmer. Nick war unter der Dusche. Sie wusste nicht, was sie in diesem Moment mehr beunruhigte. Dass sie sich von nun an wieder daran gewöhnen musste, ohne das wunderbare Gefühl totaler Geborgenheit zu leben, das sie in seinen Armen empfunden hatte, oder das plötzliche Klicken in der Leitung, als am anderen Ende abgenommen wurde. „Hi, Cam. Ich bin’s, Mel.“ „Mel!“ Wie konnte ein Mensch einem so kurzen Namen nur einen dermaßen schrillen Klang verleihen. „Ist das zu glauben! Ich hatte solche Angst, dass sie euch vielleicht nicht finden. Himmel, bin ich froh von dir zu hören!“ Cams
unerwartete Überschwänglichkeit tat gut. Zumindest dachte Melissa das. Für ungefähr zwei Sekunden. „Weißt du, ich muss nämlich spätestens übermorgen zurück. Ich dachte schon, es wird wieder nichts mit unserem Treffen. Es ist wirklich dringend, verstehst du?“ Natürlich verstand Mel. Sie unterdrückte die Enttäuschung, die in ihr aufstieg. Sie war schließlich nur mit einem Flugzeug mitten in einen See gestürzt und hätte dabei ebenso gut ertrinken können. Doch das war kein Grund für Cam, sich Sorgen um sie zu machen. Wenn überhaupt, so hatte sie Mel nur deshalb vermisst, weil sie ihre Hilfe brauchte. Und zwar möglichst bald. Anstatt jedoch geradeheraus zu sagen, wo das Problem lag, schlich Cam wie die Katze um den heißen Brei. „Es ist etwas, was man nicht am Telefon bereden kann“, flüsterte sie geheimnisvoll. Mel hätte schwören können, dass ihre Schwester noch etwas anderes hatte sagen wollen, es sich dann aber doch verkniff. Zum Beispiel eine Anspielung auf die Unannehmlichkeiten, die ihr entstanden waren, nachdem Mel nicht zum verabredeten Zeitpunkt in Harbor aufgetaucht war. Doch Cam war nicht dumm. Jemand, der sie nicht gut kannte, hätte die abrupte Änderung in ihrer Taktik kaum bemerkt. Mel allerdings wusste genau, was jetzt als Nächstes kommen würde. Und sie sollte Recht behalten. Cam verlegte sich erwartungsgemäß auf sinnlose Plaudereien über Nebensächlichkeiten, und es dauerte annähernd zwanzig Minuten, bis sie das Gespräch endlich beendete, ohne auch nur einen winzigen Hinweis darauf gegeben zu haben, wobei Melissa ihr dieses Mal helfen sollte. Mel hatte gerade aufgelegt und rieb sich entnervt die Schläfen, da klopfte es plötzlich an der Durchgangstür, die Nicks Zimmer von ihrem trennte. Barfuß, wie sie war, im Bademantel und mit einem HandtuchTurban auf dem Kopf ging sie auf die Tür zu und betätigte den kleinen Messingriegel, der als Schloss diente. Nick war frisch geduscht und rasiert. Er trug ebenfalls einen weißen Hotelbademantel. In einer Hand hielt er einen Kristallkelch mit dunklem Rotwein. Er sah fast so aus, wie sie ihn sich erst kürzlich in diesem Zusammenhang vorgestellt hatte. Außerdem hatte sie sich vorgestellt, wie Nicks Hände über ihre nackte Haut glitten… „Gibt es Schwierigkeiten?“ Diese Frage war ihr in den letzten Tagen zur Gewohnheit geworden. Sie rechnete schon fast automatisch damit, dass jeden Augenblick irgendetwas Unvorhergesehenes passieren könnte. Doch Nick schüttelte den Kopf. „Ich dachte nur, vielleicht möchtest du von diesem Wein probieren“, begann er und hielt ihr den Kelch hin. „Und ich wollte sehen, ob es dir gut geht.“ Mel fiel auf, dass er nur ein Weinglas mitgebracht hatte. Sie nahm es. „Danke.“ Er hatte also nicht vor, länger zu bleiben. Auch gut. Mel drehte sich um und ging zurück zum Bett. Es gab unter Nicks Gewicht nach, als er sich neben Mel auf die Kante setzte. Misstrauisch kniff er die Augen zusammen. „Es geht dir doch gut, oder?“ „Doch, doch“, versicherte sie scheinbar gelassen. „Ich habe nur gerade mit Cam gesprochen. Sie steckt mal wieder im Schlamassel.“ „Welche Art Schlamassel?“ „Sie meinte, das könne sie mir am Telefon nicht erzählen.“ Mel seufzte. „Mir ist jedenfalls nicht wohl bei der Sache.“ Nick sah jetzt anders aus, mit frisch gewaschenem, sorgfältig zurückgekämmtem Haar und glatt rasiertem Kinn.
Aufregender, dachte Mel unwillkürlich. Andererseits hatte auch der Bart etwas für sich gehabt. Nick gehörte zu den Männern, die einfach immer gut aussahen, fand sie. Unsinn. Sie war schlichtweg voreingenommen, wenn es um ihn ging. Mel zwang sich, den Blick von seiner Brust zu lösen, die durch den Bademantel nur teilweise bedeckt wurde. „Du hast keine Ahnung, was sie eigentlich von dir will?“ „Nicht die geringste Ahnung. Aber ich vermute, es hat entweder mit Geld zu tun, oder sie braucht eine neue Bleibe. Oder beides.“ Um nicht wieder auf Nicks Brust zu starren, griff Mel nach der Körperlotion, die auf ihrem Nachttisch stand, und begann, sich die Hände einzucremen. Übersät mit Schrammen und Abschürfungen, hatten sie die Pflege bitter nötig. „Und du? Hast du alle Leute erreicht, die du anrufen wolltest?“ fragte sie beiläufig. „Die meisten.“ Auf Nicks Stirn entstand eine tiefe Falte wie immer, wenn es um etwas ging, das mit Denver in Zusammenhang stand. „Aber ich habe noch mal mit Sam gesprochen. Er hat uns als vermisst gemeldet, aber wie ich mir schon gedacht hatte, hat das Wetter die Suche nach uns so gut wie unmöglich gemacht.“ „Er ist bestimmt nicht begeistert, dass sein Flugzeug hin ist, oder?“ „Ach was. Dafür gibt es Versicherungen. Und selbst, wenn die sich in diesem Fall weigert, für den Schaden aufzukommen, ist es Sam egal. Hauptsache, wir sind am Leben, hat er gesagt.“ Nick ließ seinen Blick unbewusst über Mels Beine wandern. Ihm fiel eine kleine Schürfwunde an ihrem Knöchel auf. Wahrscheinlich hatten ihre Stiefel an dieser Stelle gescheuert. Wären sie noch im Wald gewesen, hätte er sicherheitshalber ihre Hose hochgeschoben und nach weiteren Verletzungen gesucht. Da Mel allerdings keine Hose trug und auch sonst nicht viel –, wagte er nicht, sie zu berühren, denn er konnte nicht dafür garantieren, dass es bei einer einzigen Berührung bleiben würde. „Obwohl ich glaube, er hat ein wenig Angst, du könntest ihn verklagen“, fügte er schließlich hinzu. Mel sah ihn verständnislos an. „Wofür hält er mich? Ich denke nicht daran, ihn vor den Kadi zu ziehen. Er hat immerhin nicht einen Dollar für den Flug genommen.“ „Nein?“ „Er meinte, er schuldet T.J. noch immer ein paar Freiflüge aus der Zeit, als sie bei ihm Babysitterin war. Und sie fand, er könne einen davon ruhig mir geben.“ Mel verteilte den Rest der Lotion auf ihrer Handfläche und stellte die Flasche dann beiseite. Die Fröhlichkeit, die sie ausgestrahlt hatte, als Nick ihr zum ersten Mal begegnet war, war durch die Strapazen der vergangenen Tage einer deutlich sichtbaren Erschöpfung gewichen. Dennoch, für Nick war sie die schönste Frau der Welt, jetzt mehr denn je. „Was hast du?“ fragte er, nachdem er eine Weile zugesehen hatte, wie sie in Gedanken versunken die Lotion, die schon lange eingezogen war, in ihre Haut massierte. „Du bist froh, dass wir hier sind, nicht wahr?“ Diese Feststellung kam völlig unerwartet für Nick. Selbstverständlich war er froh, nicht mehr auf dem nackten Boden schlafen zu müssen. Doch bevor er etwas Unüberlegtes sagen konnte, bemerkte er den traurigen Ausdruck in Mels Augen. Wenn er darüber nachdachte, musste er zugeben, dass er keinesfalls so glücklich über die unverhoffte Rettung war, wie er es hätte sein sollen.
„Ich habe nichts gegen ein weiches Bett“, gestand er. „Aber ich bin nicht unbedingt wild auf das, was mich in nächster Zeit erwartet.“ „Geht mir auch so.“ „Du redest von deiner Schwester, stimmt’s?“ „Ja. Und ich werde mich für die Sache mit den Kojoten verantworten müssen. Und dann ist da noch der ganze Klatsch über mich, mit dem ich aufräumen sollte, bevor das Ganze völlig außer Kontrolle gerät.“ Nick hätte sie darauf aufmerksam machen können, dass er es gewesen war, der die Kojoten freigelassen hatte. Sie traf keine Schuld daran. Er hätte ihr sagen können, sie brauchte sich nicht um das zu kümmern, was die Leute daherredeten, der Tratsch würde ganz von allein aufhören, sobald sie Mel besser kannten. Und was ihre Schwester betraf, so war es sicher das Beste, zunächst einfach abzuwarten und sich nicht schon Sorgen zu machen, bevor man überhaupt wusste, worum es ging. Ihm war jedoch auch klar, all diese Weisheiten konnten Mel nicht davon abhalten, genau das zu tun. Sie war eben ein Mensch, der sich mehr für das Wohlergehen anderer interessierte als für sein eigenes. „Ich wünschte, ich wäre wieder da draußen im Wald“, murmelte sie niedergeschlagen. Das konnte sie nicht ernst meinen. Oder doch? Es klang zumindest so. Bestimmt war es die Übermüdung, die aus ihr sprach. Daran lag es. Nichts, was acht Stunden ungestörter Schlaf nicht wieder in Ordnung bringen konnten. „Im Wald, hm?“ meinte Nick mit einem herausfordernden Lächeln. „Na schön. Mal angenommen, wir hätten uns hoffnungslos verirrt und müssten für alle Ewigkeit dort bleiben. Was würdest du dann tun?“ Er hatte ihr schon mal eine ähnliche Frage gestellt, und sie hatte geantwortet, dass diese Möglichkeit für sie überhaupt nicht zur Debatte stand. Auch das hatte sich geändert. Wie so vieles in den vergangenen Tagen. Ohne zu zögern, nahm Melissa Nicks Gesicht in ihre Hände und strich mit einem Daumen über seinen Mundwinkel. Seine Haut fühlte sich glatt und geschmeidig an und duftete nach Seife und Rasierschaum. „Das“, sagte Mel. Sie beugte sich vor und konnte hören, wie Nick leise und erwartungsvoll einatmete. Er schmeckte schwach nach trockenem, würzigem Rotwein. Melissa ließ ihre Finger durch sein feuchtes Haar gleiten, dann über seine Stirn, wo noch immer die rötlichblaue Schramme sichtbar war. Die Verletzung erinnerte Mel an den Moment der Gefahr, in dem Nick sein eigenes Leben aufs Spiel gesetzt hatte, um ihr genug Zeit zu verschaffen, sich in Sicherheit zu bringen. Sie wollte gerade einen liebevollen Kuss auf diese Stelle hauchen, als Nick zurückwich, den Blick auf ihren vollen, samtigen Mund gerichtet, dessen Form er mit dem Daumen nachzeichnete. Er sah langsam auf. Die Erregung hatte ein Funkeln in seine grauen Augen gezaubert, die jetzt dunkler und noch tiefgründiger wirkten. „Was würdest du noch tun?“ fragte er. „Wenn wir für immer in der Wildnis verschollen wären?“ Er nickte. „Soll ich es dir sagen oder lieber zeigen?“ „Zeig es mir“, bat Nick heiser. Mel lächelte und streifte zärtlich mit den Lippen die Unterseite seines Kinns, die weiche Haut hinter seinem Ohr und schließlich seine Stirn. Sie spürte, wie Nick die Finger in ihrem nassen Haar vergrub und sie enger zu sich heranzog. Er küsste sie, ausgiebig und voller ungezügelter Leidenschaft. Nick hatte sich
geschworen, ihr nicht zu nahe zu treten. Allerdings wies sein sorgfältig zurechtgelegter Plan eine gravierende Schwachstelle auf. Die Möglichkeit, dass Melissa ihn verführen könnte, hatte er nicht bedacht. Geschweige denn, was er in diesem Fall tun sollte. Er hatte sie begehrt, lange bevor er an ihre Tür geklopft hatte, wo er sie mit nichts weiter als einem Bademantel bekleidet vorfand. Wann immer er sie verstohlen angesehen hatte, während sie unermüdlich neben ihm hergegangen war. Jede Minute, die er sie in den kalten Nächten im Arm gehalten hatte. Unzählige Male hatte er sich gefragt, wie sich ihre nackte Haut unter seinen Händen anfühlen mochte. Bestimmt war sie noch viel seidiger, als er es sich überhaupt vorstellen konnte. Er brauchte sie nur von dem störenden Stück Stoff zu befreien und… Es wäre wirklich besser, jetzt aufzuhören, versuchte er sich einzureden. Weshalb es besser wäre, wusste er jedoch schon nicht mehr, als Melissa ihre Zunge spielerisch um seine kreisen ließ. Mels Herz hämmerte wild, als Nick langsam den Gürtel öffnete, der ihr einziges Kleidungsstück zusammenhielt. Dann begann er, ihren Hals zu küssen, um sich anschließend behutsam bis zu der kleinen Mulde an ihrem Schlüsselbein vorzuarbeiten. Dort hielt er plötzlich inne und schaute Melissa forschend an. „Das würde ich tun“, flüsterte er. „Aber das wäre noch nicht alles.“ Ein warnender Unterton lag in seiner vor Verlangen rauen Stimme. „Längst nicht alles.“ Wortlos schob Mel den oberen Teil seines Bademantels zur Seite und streichelte über seine nackte Brust, an die sie sich so oft angekuschelt hatte. Sie wusste nicht genau, wann sie sich in ihn verliebt hatte. Vielleicht war es auf dem Plateau gewesen. Oder in der Nacht, als er das erste Mal den Arm um sie gelegt hatte, um ihr die Angst vor dem Gewitter zu nehmen. Sie konnte nur eines mit Sicherheit sagen: Noch nie in ihrem Leben hatte sie so tief für einen Mann empfunden wie für Nick. „Dann wäre ich auch sehr enttäuscht“, raunte sie und erwiderte das Lächeln, das Nick ihr daraufhin schenkte. Er entblößte ihre Brüste auf dieselbe Weise, wie Melissa es gerade bei ihm getan hatte, und betrachtete sie bewundernd. Dann drückte er Mel sanft aufs Bett. Sie erschauerte, als er ihren bebenden Körper mit zarten Küssen und Liebkosungen bedeckte. Mel hatte schon immer gedacht, dass Nick außergewöhnlich sensible Hände hatte. Jetzt entdeckte sie, dass diese Hände tatsächlich Wunder vollbringen konnten. Die Schmerzen in ihren überanstrengten Muskeln waren vergessen. Ebenso die Müdigkeit. Dort, wo er sie berührte, prickelte ihre Haut, als würde sie mit einer Feder gestreichelt. Und er berührte sie überall. Mit unglaublicher Zärtlichkeit ließ Nick seine Fingerspitzen über ihre Brustwarzen gleiten, die augenblicklich fest wurden vor Erregung. Besondere Aufmerksamkeit widmete er den blauen Flecken und Abschürfungen, die sie sich vom Schlafen auf dem Boden und beim Erklimmen steiler Felswände zugezogen hatte. Vorsichtig strich er über die Kratzer auf ihrem Handrücken, dann legte er ihre Arme um seinen Hals, umfasste ihre Taille, senkte abermals seine Lippen auf ihre und küsste sie atemlos. Nick konnte kaum glauben, wie perfekt ihr Zusammenspiel war. Die Art, wie jeder von ihnen instinktiv zu wissen schien, was der andere sich gerade von ihm wünschte, ohne dass auch nur ein Wort gesagt werden musste. Unerbittliches Verlangen pulsierte in ihm, als er Melissa umdrehte und sie rücklings auf seinen Schoß zog. Ungeduldig zerrte er an ihrem Bademantel und warf ihn achtlos auf den Teppich. Es sollte nichts mehr zwischen ihnen sein, was sie voneinander trennte.
Zitternd umfasste Nick ihre Hüften und biss vor Anspannung die Zähne fest aufeinander, während er langsam in sie eindrang. Sie flüsterte seinen Namen, sanft und flehentlich, und reckte sich ihm entgegen. Er flüsterte ihren und verstärkte seinen Griff. Dann verschwamm die Welt, und es blieb nichts außer hemmungsloser Lust und dem darauf folgenden bleiernen und doch süßen Schweregefühl, das sich über sie legte, nachdem die Wellen der Leidenschaft schließlich abgeebbt waren. Ein Blick zur Digitaluhr auf dem Nachttisch neben Melissas Bett verriet Nick, dass es fast Mitternacht war. Er musste eingeschlafen sein, ohne es überhaupt zu merken. Eine Weile lang lag er einfach da^ lauschte Mels tiefen, ruhigen Atemzügen und genoss die Wärme ihres dicht an ihn geschmiegten Körpers. Nur zu gut erinnerte er sich daran, wie sie die Nächte im Wald auf ähnliche Weise verbracht hatten, fest umschlungen, damit sie nicht erfroren. Und wie sehr er sie in diesen Nächten begehrt hatte. Und er begehrte sie auch jetzt. Ein zweites Mal. Nick legte die Hand auf ihren Bauch und begann, ihn mit sinnlichen, kreisenden Bewegungen zu streicheln. Dann hielt er plötzlich inne. Sie war erschöpft und brauchte den Schlaf. Und er selbst ebenfalls. Zumindest war es das, was der rational denkende Teil von ihm sagte. Als Melissa sich jedoch umdrehte und mit ihren weichen Lippen seinen Mund suchte und fand, konnte er sich beim besten Willen nicht mehr erklären, wie er ihr in den vorangegangenen Nächten jemals hatte widerstehen können.
10. KAPITEL Die triste Realität holte Mel viel früher wieder ein, als es ihr lieb war. Gegen acht Uhr klingelte das Telefon in Nicks Zimmer. Der aufdringliche Ton ließ Mel entnervt aufstöhnen. „Hör einfach nicht hin“, murmelte Nick verschlafen und drückte sie enger an sich. Das Telefon verstummte. Wenige Sekunden später begann der Apparat neben Mels Bett zu läuten. Nick streckte sich müde und fuhr mit der Hand über sein Gesicht. „Ich frage mich, ob das Sam ist“, vermutete er. „Warum sollte Sam mich anrufen?“ „Weil er gestern angeboten hat, dich zurück nach Harbor und mich nach Denver zu fliegen.“ Die Vorstellung, wieder in ein Flugzeug zu steigen, gehörte nicht zu den Dingen, über die Mel im Augenblick nachdenken wollte. Aber es sah so aus, als bliebe ihr keine andere Wahl, denn Nick schien offensichtlich zu erwarten, dass sie den Hörer abnahm. Am anderen Ende war jedoch nicht Sam, sondern eine Reporterin, die für eine Zeitung in Seattle schrieb. Die ausgesprochen professionell klingende Frau hatte vor, ein Interview mit ihnen zu machen, und hätte am liebsten sofort damit angefangen, wäre Mel ihr nicht ins Wort gefallen. Sie hatte prinzipiell nichts dagegen, die Fragen der Journalistin zu beantworten, wenngleich die Frau recht penetrant auftrat. Mel hatte nur keine Lust dazu, ausgerechnet jetzt mit ihr zu sprechen. Die wenigen Stunden, die ihr mit Nick blieben, waren einfach zu kostbar, um sie derartig zu verschwenden. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie, wie er neben ihr lag, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Er ließ unauffällig seinen Blick über die Ecke der Bettdecke huschen, die Mel mit einer Hand vor ihre Brust hielt. Sie bat die Reporterin darum, später zurückzurufen, als es plötzlich an der Außentür zu Nicks Zimmer klopfte. „Mr. Magruder? Ich habe hier Ihre Sachen. Sie sind gerade aus der Reinigung gekommen“, hörte Mel einen Mann sagen. Die Vermutung lag nahe, dass er ihre Kleider ebenfalls mitgebracht hatte und als Nächstes bei ihr klopfen würde. Mel glaubte, so etwas wie Enttäuschung in Nicks Gesicht zu sehen, doch bevor sie es mit Sicherheit hätte sagen können, war der Ausdruck auch schon wieder verschwunden. Nick hauchte ihr einen Kuss auf den Nacken. „Du kannst genauso gut jetzt mit ihr reden“, flüsterte er und stand auf. Vollkommen nackt streckte er sich noch mal kurz und ging dann auf die Durchgangstür zu, die die beiden benachbarten Räume miteinander verband. Auf dem Weg dorthin bückte er sich nach seinem Bademantel, zog ihn aber nicht an. „Bis gleich, beim Frühstück“, sagte Nick, ehe er in seinem Zimmer verschwand und die Tür hinter sich schloss. Der Morgen verging viel zu schnell. Direkt nach dem Frühstück fand in einem Tagungsraum des L’Auberge eine eilig einberufene Pressekonferenz statt. Melissa beantwortete die Fragen der Journalisten offen und ehrlich. Es waren dieselben, die ihr die Frau aus Seattle gestellt hatte. Trotzdem erwähnten weder Mel noch Nick den Zwischenfall mit dem Grizzlybären oder auf welche Weise sie sich in den klirrend kalten Nächten vor dem Erfrieren geschützt hatten. Während Mel zuhörte, wie Nick mit ruhiger, sachlicher Stimme die Einzelheiten des Absturzes berichtete, fiel ihr auf, dass er es absichtlich vermied, sie anzusehen oder gar zu berühren. Es war, als sei das, was ihnen zugestoßen war und wie sie es gemeinsam überlebt hatten, etwas Persönliches, was niemanden
sonst zu interessieren hatte. Jedenfalls fühlte es sich für Mel so an. Doch nachdem die Presseleute gegangen waren und Nick an der Rezeption stand und die letzten Formalitäten vor ihrer Abreise erledigte, stieg langsam der Verdacht in Mel auf, dass Nick möglicherweise bereits dabei war, sich emotional von ihr zu distanzieren, weil der Moment der Trennung immer näher rückte. Sie stand aus dem schweren Sessel mit der hohen Rückenlehne auf, der neben dem knisternden Kamin in der Lobby stand, als Nick auf sie zukam. Angestrengt zwang sie sich zu einem Lächeln. „Also“, begann sie, „wann kommt Sam uns abholen?“ „Wir treffen ihn in zwanzig Minuten am Flugplatz. Mr. Sheridan hat angeboten, dass der Fahrdienst des Hotels uns dorthin bringt.“ Mel nickte. „Es macht dir doch nichts aus, wieder zu fliegen, oder?“ wollte Nick wissen. „Mir wird wohl nichts anderes übrig bleiben“, antwortete Mel viel gelassener, als ihr bei dem Gedanken tatsächlich zu Mute war. Noch vor zwölf Stunden wäre sie überzeugt davon gewesen, sie könne nie wieder in ein Flugzeug steigen. Jetzt aber wusste sie, dass sie alles schaffen konnte, auch das Unmögliche. Der große Mann, der ihr aufmunternd zulächelte, hatte ihr geholfen, das zu erkennen. Sie lächelte zurück, doch der unruhige Ausdruck in ihren Augen wollte nicht verschwinden. Die Zeit, die ihr mit Nick noch blieb, war auf mickrige sechzig Minuten zusammengeschrumpft. Im günstigsten Fall. Nick bemerkte das Unbehagen, das sich auf Mels weichen Gesichtszügen widerspiegelte. Sie hatte ihr langes, glänzendes goldblondes Haar zwar wie immer aus dem Gesicht gekämmt, aber jetzt fiel es offen über ihre schmalen Schultern. Das wenige Makeup, das sie trug, ließ ihre warmen blauen Augen noch größer erscheinen, als sie es ohnehin schon waren. Ihr Mund schimmerte in zartem Rosa, voll und einladend. Nick verdrängte die Erinnerung daran, wie bereitwillig sie seine Küsse erwidert hatte, und lenkte seine Gedanken wieder zurück in die Gegenwart. „Wird schon schief gehen“, meinte er. „Wenn wir uns beeilen, können wir bis Mittag in Harbor sein.“ „Wir?“ „Ich komme mit“, erklärte Nick achselzuckend. „Immerhin habe ich versprochen, dich nach Hause zu bringen. Mein Dad hat mir beigebracht, dass man eine Lady immer bis vor die Tür begleitet, wenn man sie nach Hause bringt.“ Melissas Verwirrung ging in ein Lächeln über. Ein echtes Lächeln. „Was für ein Service“, erwiderte sie mit halb gespielter, halb aufrichtiger Rührung. „Ich lebe, um zu dienen“, bemerkte Nick grinsend und gestikulierte in Richtung Hotelausgang. „Nach Ihnen, bitte.“ Er hätte schwören können, dass das, was er eben in Melissas Augen hatte aufblitzen sehen, Erleichterung gewesen war. Über den Anlass allerdings konnte er nur spekulieren. Vielleicht war sie einfach froh, nicht allein fliegen zu müssen. Während des kurzen Fluges von Port Angeles nach Harbor wurde nicht viel gesprochen. Sam fragte zwar, warum Nick seinen Plan geändert hatte und er ihn nun doch nicht nach Denver bringen sollte, gab sich aber mit Nicks Antwort, er wolle sichergehen, dass Dr. Porter gut nach Hause käme, zufrieden. Knappe dreißig Minuten später setzte Sam die beiden vor dem Haus ab, das früher Doc Jackson gehört hatte, schüttelte herzlich Melissas Hand, gab Nick einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter und fuhr in seinem dunkel 1 blauen Truck davon. Er hatte noch einen weiteren Flug. Melissas neues Zuhause war ein niedriges, weißes Gebäude, in dessen vorderem
Teil sich die Praxis befand, im hinteren die Wohnräume. Es lag ganz am Ende der Pine Road, die direkt von der Hauptstraße abging, und war insgesamt deutlich renovierungsbedürftig. Besonders das Dach. „Ach du liebe Güte“, murmelte Melissa. Sie wirbelte herum und sah gerade noch die Rücklichter von Sams Wagen aufleuchten, als er um die Ecke am Blumenladen bog. „Meine Schlüssel sind…“ „Auf dem Grund eines Sees irgendwo im Wald“, beendete Nick ihren Satz. Noch bevor sie fragen konnte, wie es um seine Fähigkeiten als Einbrecher stand, wurde die Haustür plötzlich von innen geöffnet. Es war nicht der Schreck, der dazu führte, dass Mels Magen sich unangenehm zusammenzog. „Ich hab das Auto gehört. Ist ja auch so gut wie unmöglich, es nicht zu hören. Diese Straße ist so tot wie ein Friedhof“, bemerkte Cameron vorwurfsvoll. „Komm doch rein“, lud sie ihre Schwester in deren eigenes Haus ein. Sie hatte offensichtlich eine frühere Fähre genommen, als abgemacht gewesen war. Argwöhnisch musterte sie den Mann, der hinter Mel in der Eingangstür stand. Es war nicht schwer zu erraten, dass seine Anwesenheit ihr nicht gefiel, aber sie sagte nichts. Stattdessen winkte sie beide in das spärlich eingerichtete Wohnzimmer. Das Erste, was Mel auffiel, war der nasse Regenmantel, den Cam achtlos über das Sofa geworfen hatte, das Mel über alles liebte und für dessen Transport sie ein kleines Vermögen ausgegeben hatte. „Dein Fernseher funktioniert nicht“, stellte Cam fest. „Doch, tut er. Ich habe nur noch keine Satellitenschüssel, deshalb hat er keinen Empfang.“ Cameron trug schwarze Stiefel mit hohen Absätzen, in denen sie noch größer wirkte, als sie es mit ihren ein Meter fünfundsiebzig ohnehin schon war. Ihre schlanken, langen Beine steckten in einer engen Jeans, und der dicke Rollkragenpullover hob ihre Brüste hervor, die Mel irgendwie üppiger vorkamen als sonst. „Vielleicht sollte ich besser gehen“, meinte Nick unvermittelt. „Aber es regnet draußen“, versuchte Mel, ihn zum Bleiben zu bewegen. „Im Vergleich zu den letzten Tagen sind das nur ein paar Tropfen“, gab Nick zurück. Es war nicht Mels Absicht gewesen, so verzweifelt zu klingen. Aber sie konnte nichts dagegen tun. Ihr graute bei dem Gedanken daran, was ihre Schwester dazu gebracht haben könnte, den weiten Weg nach Harbor zu machen, nur um sie zu sehen. „Sie brauchen nirgendwo hinzugehen“, sagte Cam zu Nick. „Ich bin sowieso gleich weg. In einer Viertelstunde geht die nächste Fähre, und die muss ich erwischen.“ Melissa blinzelte irritiert. „Warum hast du es plötzlich so eilig? Du kommst extra hierher, und dann…“ „Ich habe einen Job in New York. Morgen ist mein erster Tag.“ Echte Begeisterung spiegelte sich auf Camerons makellosen Zügen wider, aber ihre vor der Brust verschränkten Arme verrieten, dass da noch etwas anderes war. „Das ist meine große Chance, und ich werde sie mir von nichts und niemandem kaputtmachen lassen.“ Jetzt war Mel erst recht durcheinander. Was hatte das alles zu bedeuten? In diesem Augenblick kam ein unverkennbares Geräusch aus dem Schlafzimmer. Das leise Weinen eines Babys. Mel sah ihre Schwester fassungslos an, erntete einen Blick, aus dem sowohl Schuldbewusstsein als auch Trotz sprachen, und
hastete ohne ein weiteres Wort in den kleinen Nebenraum. Dabei riss sie ein paar
Kartons um, die sie noch nicht ausgepackt hatte, aber das kümmerte sie nicht.
Vorsichtig näherte Mel sich dem winzigen Bündel, das auf der cremefarbenen
Bettdecke lag. Es war in einen rosa Strampelanzug gehüllt.
„Cameron?“ stotterte Mel leise.
„Ich bin hier“, erklärte Cam seelenruhig. Sie stand in der Tür. .
Mels Gedanken überschlugen sich förmlich. Sie hatte noch nicht mal gewusst,
dass ihre Schwester überhaupt schwanger gewesen war. Wie auch? Cam hatte
vor über einem Jahr von einem Tag auf den anderen den Kontakt abgebrochen.
„Weiß Mom Bescheid?“ fragte Mel, während sie behutsam eine Hand unter den
kleinen Kopf des Babys schob und es vom Bett hob.
Cam machte ein geringschätziges Geräusch. „Du machst wohl Witze. Was glaubst
du denn, was sie tun würde? Außer sich besaufen, natürlich. Mein Kind soll nicht
so aufwachsen müssen wie wir.“
Plötzlich stieg eine sehr böse Ahnung in Mel hoch.
„Was willst du damit sagen?“ fragte sie und fürchtete sich gleichzeitig vor der
Antwort.
„Dass ich sie nicht zu Mom geben kann. Ich habe keine Wahl, verstehst du denn
nicht? Dieser Job ist unglaublich wichtig für mich und…“
„Wo ist ihr Vater?“ fiel Mel ihrer Schwester ins Wort.
„Woher soll ich das wissen.“
„Cam. Wer ist der Vater?“
„Unwichtig.“
„Und ob es wichtig ist. Ihr könnt doch nicht einfach ein Kind in die Welt setzen
und dann so tun, als wäre nichts passiert. Ihr tragt eine Verantwortung. Ich weiß
nicht, was für ein Job das ist, den du da hast, aber alle möglichen Leute arbeiten
und schaffen es trotzdem irgendwie…“
„Ich weiß nicht, wer der Vater ist, okay?“ schnappte Cameron. „Und erzähl du
mir nichts über Verantwortung. Dir ist immer alles in den Schoß gefallen. Jetzt ist
endlich meine Chance gekommen, etwas aus meinem Leben zu machen, und
nichts wird mich daran hindern, sie zu ergreifen.“ Sie drehte sich auf dem Absatz
um, nahm ihren Mantel und ging auf die Haustür zu.
„Cam, warte!“
„Ich muss jetzt los.“ Camerons Schritte wurden schneller.
Mel eilte ihr in den Flur nach. Nick war nirgendwo zu sehen. Er war also doch
schon gegangen. Mel schluckte ihre Enttäuschung hinunter und packte Cam an
der Schulter.
„Sag mir wenigstens, wie alt sie ist.“
„Einen Monat.“
„Wie heißt sie? Ist sie gesund?“
„Sie wächst wie Unkraut. Und ihr Name ist Morgan. Ihre Sachen sind in der
blauen Tasche im Schlafzimmer.“
„Cam, bitte, ruf mich wenigstens an, wenn du in New York bist. Damit ich weiß,
dass es dir gut geht.“
Cameron sah Mel ausdruckslos an, wie sie es immer tat, wenn sie nichts mehr
hören wollte.
„Versprich es mir“, beharrte Mel.
„Hör auf damit“, murmelte Cam, als sie die Tür öffnete.
„Womit?“
„Mir Schuldgefühle einreden zu wollen. Ich habe gedacht, ich komme damit klar,
Mutter zu sein. Aber mir fehlt wohl irgendein entscheidendes Gen dazu. Glaub
mir, ich weiß genau, was ich tue. Es ist das Beste so.“ Ohne sich umzudrehen,
trat Cam durch die offene Tür und rannte die Auffahrt hinunter. Mel sah ihrer Schwester lange nach, selbst nachdem sie schon außer Sichtweite war. Dann starrte sie das Kind an, das mit seinen winzigen Fingern am Kragen ihres TShirts nestelte. Plötzlich hatte sie das dringende Bedürfnis, sich zu setzen. Sie ging zurück ins Haus, WQ Nick mit einem Glas Wasser an den Rahmen der Küchentür gelehnt stand. „Durstig“, sagte er, als würde das sein zwischenzeitliches Verschwinden erklären. „Ich dachte, es ist besser, wenn ich mich erst mal raushalte.“ Er kam näher, schaute Mel an, dann das Baby in ihrem Arm, und stellte das Glas auf dem hölzernen Küchentisch ab. „Dein schlechtes Gefühl von gestern Abend hat dich nicht getäuscht, wie es scheint“, stellte er trocken fest. Mel ließ sich auf einen der Stühle sinken. „Bei Cam muss man mit allem rechnen, aber das…“, sagte sie leise. Was sollte sie nur tun? Ihr Wissen über den richtigen Umgang mit Neugeborenen beschränkte sich auf das, was sie während ihres Studiums gelernt hatte. Sie bezweifelte, dass diese Kenntnisse ihr besonders viel nützen würden, denn dieses Baby hatte weder Fell noch Federn. Davon abgesehen ging es nicht nur um Morgans körperliches Wohlbefinden, sondern auch um ihr seelisches. Über Kindererziehung hatte Mel sich bisher noch nie Gedanken gemacht, aber jetzt wurde ihr schlagartig klär, was alles bedacht werden musste. Und dann konnte man trotzdem noch viel falsch machen. Was sie jedoch noch mehr beunruhigte, war der Ernst, mit dem Nick sie beobachtete. „Warum hast du sie nicht aufgehalten?“ fragte er. „Das wäre zwecklos gewesen.“ „Wie kannst du das wissen? Du hast es nicht mal versucht.“ Mel straffe unbewusst die Schultern. Nicks Vorhaltung hatte sie mehr getroffen, als sie zugeben wollte. Sie streichelte nachdenklich über die zarte Wange des Babys, dem dies offenbar gefiel. Es lächelte und beäugte interessiert Mels Finger. „Ich kenne Cam. Sobald sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat, kann nichts und niemand sie davon abbringen, es auch zu tun. Es ist ihr egal, ob sie jemanden dadurch verletzt.“ „Sogar, wenn es ihre Schwester ist? Und ihr eigenes Kind?“ „Offensichtlich.“ Insgeheim dachte Mel, dass Cam den größten Fehler ihres Lebens gemacht hatte. Aber das zählte nicht. Alles, worauf es ankam, war ihre Nichte. „In einem hatte sie jedenfalls Recht. Ihre Tochter hierher zu bringen war immer noch besser als das, was sie sich sonst womöglich hätte einfallen lassen, um das Problem zu lösen.“ „Du behältst sie also“, vermutete Nick. Mel wusste nicht, was sie von dem Unterton halten sollte, der in seiner Stimme lag. Es klang, als würde er abwägen, wie er selbst sich bei dem Gedanken daran fühlte, dass plötzlich ein Kind da war. Das Geräusch eines Wagens, der die Auffahrt hochkam, riss Mel aus ihren Überlegungen. Sekunden später klopfte es auch schon an der Tür. Mel war nicht sonderlich erfreut über den unerwarteten Besuch. Wer auch immer es für eine gute Idee hielt, ausgerechnet jetzt vorbeizukommen, hatte sich einen ziemlich schlechten Zeitpunkt ausgesucht. Außerdem herrschte in Mels Kühlschrank gähnende Leere. Als ob nicht schon genug Gerüchte über sie in Umlauf wären. Jetzt würde es auch noch heißen, sie sei unhöflich und hätte es nicht mal nötig, ihren Gästen eine Kleinigkeit anzubieten. Doch wie sich herausstellte, lag Mel mit ihren Befürchtungen völlig falsch. Nick hatte kaum die Tür geöffnet, da wurden auch schon eine Keksdose und eine
Auflaufform hindurchgereicht, die beide so riesig waren, dass die Überbringerinnen dahinter fast vollständig verschwanden. Es waren Maddy und Winona, die Frau des Bürgermeisters, dicht gefolgt von T.J. der Frau von Sam. Alle drei redeten wild durcheinander. Sie schienen überglücklich zu sein, dass Mel und Nick überlebt hatten und dass es ihnen gut ging. Maddy erklärte gerade, wie erleichtert auch der Rest der Stadt sei, als Winona sich mitten im Satz unterbrach und das kleine rosa Bündel anstarrte, das Mel auf dem Arm hielt. TJ. und Maddy verstummten ebenfalls. Sie folgten dem Blick ihrer Freundin. Abrupt drückte Maddy Nick ihren Mantel in die Hand und stürzte mit leuchtenden Augen auf Mel zu. „Was für ein goldiges kleines Mädchen. Kann ich sie mal halten?“ Noch ehe Mel antworten konnte, wurde Morgan vorsichtig aus ihren Armen gehoben. Sie begann zu weinen. „Na, meine Süße?“ sagte Maddy. „Was hast du denn?“ „Klingt, als hätte sie Hunger“, meinte Winona. „Ich glaube eher, da hat jemand einen nassen Popo“, widersprach Maddy. „Wer ist sie?“ fragte TJ. Mel lächelnd. „Meine Nichte. Sie wohnt bei mir.“ „Tatsächlich?“ Winonas Neugier war nun endgültig geweckt. Mel konnte spüren, wie sich zwischen den tadellos frisierten Haaren der Frau unsichtbare Antennen aufrichteten. Was sie jedoch noch nervöser machte, war der Anblick von Nicks Hand, die auf dem Türgriff lag. Doch anstatt hinauszugehen, wie Mel befürchtet hatte, ließ er einen weiteren Besucher herein. Es war Sam. Er berichtete, sein Partner Zach wäre so freundlich gewesen, seinen nächsten Flug für ihn zu übernehmen, dann deutete er warnend über seine Schulter und informierte Nick darüber, dass die örtliche Presse bereits auf dem Weg zu ihnen sei. „Und wo ist die Mutter der Kleinen?“ Winona Sykes blickte sich um, als erwarte sie, Cameron würde jeden Augenblick aus irgendeinem der angrenzenden Räume treten. „Wird sie bei Ihnen in der Praxis arbeiten? Wissen Sie, Hannah Baker war früher bei Doc Jackson angestellt. Sie arbeitet jetzt im Supermarkt, aber ich bin sicher, wenn Ihre Schwester Hilfe mit den Akten braucht, wird sie sich bestimmt gern zur Verfügung stellen.“ Mel spähte zu Nick hinüber, der mit Sam zusammen neben der Eingangstür stand. Er sah sie mitfühlend an. Ein Blick, der keinen Zweifel daran ließ, dass er jetzt begriff, was sie gemeint hatte, als sie sagte, Klatsch habe die unangenehme Angewohnheit, sich zu verselbstständigen. „Meine Schwester“, begann Mel unbehaglich, „hat andere Pläne.“ Sie setzte ein unpersönliches Lächeln auf, um zu signalisieren, dass sie nicht weiter darüber sprechen wollte. „Möchte jemand Kaffee? Ich kann…“ „Sie meinen, sie hat ihr Kind verlassen?“ Mel öffnete den Mund, doch eigentlich wusste sie nicht, was sie darauf erwidern sollte. Es stimmte, was die Frau des Bürgermeisters gesagt hatte. „Das erklärt, warum sie so merkwürdig war, als sie bei Maddy im Cafe nach Ihnen gefragt hat. Sie hat mir sogar Leid getan, ist das zu glauben.“ „Mir tut sie noch immer Leid“, sagte Mel traurig. Winonas Gesichtsausdruck wurde sanft. „Natürlich. Sie ist Ihre Schwester. Aber wenn Sie mich fragen, ist dieses Kind bei Ihnen eindeutig besser aufgehoben.“ Ein weiteres Fahrzeug näherte sich dem Haus. „Das wird dann wohl die Zeitung sein“, vermutete Winona. „Mike Tilley ist ein feiner Kerl, aber falls es Josie Heber ist, sagen Sie nichts, was Sie nicht am nächsten Tag schwarz auf weiß gedruckt sehen wollen“, riet sie. TJ. zwinkerte Mel aufmunternd zu, eine stumme Erinnerung daran, dass Harbors
Einwohner eben dazu neigten, mit guten Ratschlägen um sich zu werfen.
„Ich werde mal das Essen in die Küche bringen und ein paar kalte Platten fertig
machen“, sagte sie.
„Das wäre nett“, erwiderte Mel und nickte dankbar.
Bei dem Reporter handelte es sich offensichtlich um Mike Tilley, wie sie
erleichtert feststellte, als der untersetzte Mann von Nick hereingebeten wurde.
Morgan, die noch immer von Maddy gehalten wurde, fing wieder an zu weinen.
„Klarer Fall“, kommentierte Maddy wissend. „Zeit für eine neue Windel.“
Mel sah Nick an.
„Geh nur. Ich kümmere mich um Mr. Tilley.“
Im Schlafzimmer angekommen, übernahm Maddy sofort die Leitung des
Unternehmens.
„Dieses Schätzchen könnte ein bisschen Zinksalbe gebrauchen“, stellte sie mit
einem geübten Blick auf Morgans wundes Hinterteil fest.
Mel. durchsuchte die Tasche, die Cameron da gelassen hatte.
„Ich habe keine“, sagte sie. „Hier sind nur zwei Fläschchen und ein paar frische
Windeln drin.“
„Mehr nicht?“ fragte Winona, die Maddy und Mel gefolgt war, ungläubig. „Passt
auf, Mädels. Die Apotheke macht in einer halben Stunde zu, das schaffe ich. Was
fehlt sonst noch?“
„Öltücher, Babyseife und Puder“, zählte Maddy prompt auf.
„Ist notiert. Am besten fahre ich auch gleich bei Candace Johnson vorbei. Sie hat
noch die ganzen Sachen, aus denen ihre Kleine inzwischen rausgewachsen ist.“
„Wenn du schon da bist, halt bei meiner Tochter an, und frag sie, ob sie uns
ihren alten Kinderwagen leiht.“
„Geht klar. Ich bin in einer Stunde zurück.“
Maddy schloss fachmännisch die Klettverschlüsse an Morgans rosa
Strampelanzug und tätschelte dem nun deutlich zufriedener dreinschauenden
Säugling die Wange.
„Siehst du? Jetzt ist die Welt wieder in Ordnung, was?“
„Mel, da ist ein Wildhüter Wyckowski für dich am Telefon“, rief T.J. die ihren Kopf
zur Tür hereinsteckte.
„Ich komme.“
Als Mel das Wohnzimmer betrat, in dem sich mittlerweile halb Harbor tummelte,
fühlte sie plötzlich eine Hand auf ihrer Schulter.
„Es war nicht deine Schuld“, sagte Nick beruhigend. „Ich rede mit ihm, wenn er
dir nicht glauben will, ja?“
„Danke“, flüsterte Mel, gerührt von Nicks unerwartetem Angebot, und ging in die
Küche, um den Anruf entgegenzunehmen.
Kurz darauf kam sie zurück, ein strahlendes Lächeln erhellte ihr Gesicht. „Sie
wissen, wo die Kojoten sind!“ verkündete sie erleichtert. „Es geht ihnen gut, und
sie werden den Winter wahrscheinlich problemlos überstehen.“
Nick erwiderte ihr Lächeln. Es gab keinen Zweifel daran, dass er sich aufrichtig
für sie freute. Doch dann ging sein Blick zu dem Baby auf dem Arm von T.J. und
sein, Gesichtsausdruck verfinsterte sich.
Eine Stunde später war Mel endlich allein mit ihm. Und natürlich mit Morgan. Er
hatte gerade die Tür hinter dem letzten Besucher geschlossen und sich zu Mel
umgedreht, als Cams kleine Tochter lautstark nach Aufmerksamkeit verlangte.
„Mach nur“, murmelte Nick. „Ich müsste sowieso mal telefonieren. Stört es dich,
wenn ich deinen Apparat benutze?“
11. KAPITEL Melissa saß im Schlafzimmer auf der Kante ihres Bettes und wiegte Morgan sanft
hin und her, nachdem sie ihr erneut eine frische Windel angezogen und den
wunden Po mit der Zinksalbe versorgt hatte, die Winona mitgebracht hatte.
Während sie das tat, hörte sie durch die angelehnte Tür zu, wie Nick telefonierte.
„Ja, ich weiß, aber ich habe erfahren, dass heute Abend um neun Uhr vierzig ein
Flug nach Seattle geht.“ Nach einer kurzen Pause fuhr er fort. „Das wäre nett von
dir. Okay, bis gleich. Und sag T.J. danke von mir, dass ich dich so spät noch
,ausleihen’ darf.“
Mel schaute auf den Radiowecker auf dem Nachttisch. Es war sieben Uhr
fünfzehn.
Er wollte also nicht mal mehr über Nacht bleiben.
Vorsichtig hob Mel ihre Nichte auf den Arm und ging mit ihr in die Küche, wo Nick
damit beschäftigt war, das einzige Glas, das jemand versehentlich stehen
gelassen hatte, zu den anderen in die Spülmaschine zu räumen. Er drehte sich
um, sah Melissa an, dann Morgan und griff nach dem Behälter mit Babynahrung
und einem Fläschchen, die auf der Anrichte standen.
„Essenszeit, nehme ich an. Wie viel nimmt man ungefähr? Ist eine Weile her,
dass meine Nichte so klein war.“
„Maddy hat gesagt, bis zu dieser Markierung“, antwortete Mel und zeigte auf die
Einteilung der Babyflasche. „Und es sollte nicht heißer gemacht werden als
Körpertemperatur.“
„Maddy kennt sich aus, hm?“
„Zum Glück. Ich wüsste nicht, was ich ohne sie tun sollte.“
„Du unterschätzt dich. Ich fange langsam an zu glauben, dass du mit jedem
Problem fertig wirst, egal, wie unerwartet es auftaucht.“
Mel ignorierte das Kompliment. Das Letzte, was sie jetzt brauchen konnte, war
Nick, der ihr auf diplomatische Art beizubringen versuchte, dass sie in dieser
Sache nicht auf seine Hilfe hoffen durfte.
„Also“, stellte sie fest, so nebensächlich es ihr möglich war, „Sam holt dich ab?“
Nick wich ihrem Blick aus, bevor er antwortete. „Ja, er müsste jeden Augenblick
hier sein.“
Er hatte kaum den Satz beendet, als das Licht von Scheinwerfern durch das
Fenster neben der Eingangstür fiel.
„Das ist er wohl“, meinte Mel achselzuckend. Sie hatte gewusst, dass dieser
Moment kommen würde, und sie hatte ihn gefürchtet.
Plötzlich spürte sie Nicks Hände um ihre Wangen. Er drehte ihr Gesicht zu sich
und beugte sich zu ihr hinunter. Der Kuss war tröstlich und zugleich unendlich
qualvoll für Mel. Und viel zu kurz.
„Ich muss gehen“, sagte Nick leise.
„Ja. Geh nur.“
„Ich ruf dich an.“
„Das wäre schön.“ Aber es war das, was alle Männer sagten, bevor sie endgültig
aus dem Leben einer Frau verschwanden.
„Pass auf dich auf.“
Melissa schluckte schwer. Sie hatte das Gefühl, ihre Stimme würde versagen,
aber zu ihrer eigenen Überraschung schaffte sie es dennoch, „Du auch“
hervorzupressen. Nicks graue Augen ließen keinerlei Rückschlüsse auf das zu,
was in ihm vorging, als er Morgan über den Kopf streichelte, um sich auch von
ihr zu verabschieden. Dann öffnete er wortlos die Tür. Für den Bruchteil einer
Sekunde glaubte Mel, ihn zögern zu sehen, aber vielleicht hatte sie sich das auch
nur eingebildet.
Nick rief nicht an.
Anfangs dachte Mel sich noch nichts dabei, immerhin wusste sie, dass er eine
Menge in Denver zu erledigen hatte. Aber das hinderte sie nicht daran, pausenlos
an ihn zu denken. Die Sehnsucht war ihr ständiger Begleiter, auch wenn sie es
sich nicht eingestehen wollte. Am vierten Tag fing Mel an, jedes Mal wie eine
Besessene zum Telefon zu stürzen, wenn es klingelte.
Nach einer Woche wurde ihr klar, wie lächerlich sie sich benahm. Mit der Zeit
erlosch auch der letzte Funken Hoffnung, Nick könne sich melden. Doch der
Schmerz blieb.
„Mel?“
Melissa zuckte zusammen und blickte von dem Terminplaner hoch, der vor ihr
auf dem Anmeldetresen der Tierarztpraxis lag. Sie hatte heute von T.J. erfahren,
dass Nick in der Stadt war, um sich mit Sam zu treffen. Ihn so nahe zu wissen,
machte es ihr unmöglich, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Frustriert
schüttelte sie den Kopf.
„Entschuldige bitte, Hannah. Was hast du gesagt?“
Doc Jacksons frühere Praxishilfe lächelte nachsichtig.
„Ich sagte, vergiss nicht, dass ich morgen etwas später komme.“
Mel blinzelte verwirrt.
„Du weißt schon, wegen der Ladung Muffins, die ich vor der Arbeit in der Schule
abliefern muss“, half Hannah ihr auf die Sprünge. „Morgan hat dich wieder die
halbe Nacht wach gehalten, was? Du siehst müde aus.“
„Nein, nein. Es wird langsam besser mit ihr. Sie hat gestern sogar ganze sechs
Stunden durchgeschlafen. Was für Muffins machst du denn?“ Das interessierte
Mel wirklich, aber es war auch eine gute Gelegenheit, um das Thema zu
wechseln. So dankbar sie für Hannahs mütterliche Besorgnis war, im Augenblick
wollte sie nicht über das sprechen, was ihr auf der Seele lag.
„Schokolade.“
„Mit Streuseln?“
„Na klar. Unbedingt.“
Mels Augen nahmen einen Ausdruck an, den Hannah instinktiv richtig deutete.
„Ich bring dir welche mit“, versprach sie mit einem Zwinkern. „Andererseits“,
überlegte sie geheimnisvoll, „könnten wir die Muffins auch den Kindern lassen,
und ich kaufe uns eine Riesentüte Karamellbonbons. Wie wäre das?“
In ihrer aktuellen Verfassung hätte Mel problemlos eine ganze Konditorei leer
essen können.
„Du bist ein Engel.“
„Wetten, dass du das nicht mehr sagst, wenn wir beide als fette Tonnen bei den
Weight Watchers enden?“ Hannah grinste schief und nahm ihren Mantel von der
Garderobe.
„Bis morgen“, rief Mel und winkte ihr hinterher.
Es war ihr egal, ob sie fett wurde. Ihr wäre jedes Mittel recht gewesen, um nur
endlich die nagende Rastlosigkeit loszuwerden, die an ihren Nerven zerrte, seit
sie erfahren hatte, dass Nick in Harbor war. Mel atmete tief durch und ließ sich
gegen die himmelblaue Wand sinken, die sie irgendwann mal pastellgrün
streichen würde. Sie zog gerade in Erwägung, mit dem Kopf dagegen zu
schlagen, als die kleine Glocke über der Vordertür läutete.
Wahrscheinlich hatte Hannah etwas vergessen. Mel strich eilig ihren Kittel glatt
und rieb sich mit den Fingern die Augenwinkel, sollte ihr Makeup etwas
verlaufen sein. Hannah brauchte nicht zu wissen, dass ihre Arbeitgeberin kurz
davor stand, in Tränen auszubrechen.
„Zwei Tüten Bonbons wären auch nicht ü…“ Das Lächeln, das Mel aufgesetzt
hatte, gefror auf ihren Lippen. „H…hi“, stotterte sie.
„Hi“, erwiderte Nick. Er blieb in der Tür stehen und steckte unbeholfen die Hände
in seine Hosentaschen.
„Ich habe schon gehört, dass du hier bist“, sagte Mel. Alles, nur kein betretenes
Schweigen.
„Die Buschtrommeln funktionieren also noch“, meinte Nick und versuchte es mit
einem vorsichtigen Lächeln.
Mel verschränkte die Arme vor der Brust. Ihr Magen fühlte sich plötzlich an wie
ein Stein. Was, wenn Nick nur vorbeigekommen war, um kurz Hallo zu sagen?
Inzwischen waren so viele Dinge passiert, die sie mit ihm hätte teilen wollen.
Aber er war nicht da gewesen. Und jetzt, da sie endlich begonnen hatte, darüber
hinwegzukommen, schneite er einfach so herein und riss die Wunde wieder auf.
Er sah sie aufmerksam an, Verunsicherung spiegelte sich in seiner Miene wider.
„Habe ich einen ungünstigen Moment erwischt?“ fragte er stirnrunzelnd.
Ungünstig wofür?
„Nein, nein. Ich, ich wollte nur gerade abschließen.“ Sie blickte sich suchend um.
„Wartet Sam auf dich?“
„Ich bin zu Fuß gekommen. Ich wohne drüben in der Pension, ein paar Blocks
entfernt.“ Er machte einen Schritt auf Mel zu. „Wie geht es Morgan?“
„Gut“, antwortete Mel knapp.
Nick wusste, dass er hätte anrufen sollen. Er hatte aufgehört zu zählen, wie viele
Anläufe er gemacht und dann in letzter Sekunde wieder aufgelegt hatte. Ihm
wollten einfach nie die richtigen Worte einfallen, um Mel zu erklären, was er
empfand. Er hatte es ja selbst nicht verstanden.
„Mir nicht“, sagte er.
Die Sorge, die in ihren Augen aufblitzte, hatte etwas Vertrautes an sich. Und sie
gab Nick Hoffnung. Er konnte Mel nicht verdenken, dass sie ihm gegenüber
misstrauisch war. Aber vielleicht würde sie ihn trotzdem anhören.
„Ist etwas passiert? Hat dieser Reed dich etwa doch verklagt?“
„Nein.“
„Probleme mit deiner Exfrau?“
„Nicht, dass ich wüsste. Hab nichts von ihr gehört.“
„Deine Familie? Ist jemand krank?“
„Sie sind alle wohlauf.“
„Was ist dann los?“
Nick rieb sich die Stirn und seufzte. „Es ist… jetzt, wo alles so weit geregelt ist,
bin ich nicht sicher, wie es weitergehen soll.“
„Ich dachte, du hattest vor, eine neue Firma zu gründen?“
„Das dachte ich auch. Aber erinnerst du dich noch, wie du mir gesagt hast, dass
du nie so werden willst wie diese Menschen, die aus lauter Angst davor, verletzt
zu werden, niemanden an sich heranlassen und am Ende ganz allein sind?“
„Natürlich. Wir haben über Selbstschutz gesprochen.“
„Genau.“ Damals hatte er gedacht, Melissa würde sich nicht gut genug schützen.
Aber er hatte sich geirrt. „Ich glaube, ich war auf dem besten Weg, so jemand zu
werden. Ein einsamer alter Kauz, mit dem keiner etwas zu tun haben will.“
Nick machte einen weiteren Schritt auf Mel zu. Sie wich nicht zurück. „Sam hat
mich vor ein paar Wochen gefragt, ob ich Lust hätte, mich bei E&M einzukaufen,
als dritter Teilhaber. Das Angebot steht noch“, sagte er. „Ob ich zusage, hängt
von dir ab.“
„Von mir?“
„Ich weiß, du hast gesagt, du hättest momentan kein großes Interesse an einer
neuen Beziehung…“
Mel ließ sich auf ihren Bürostuhl fallen.
„Soll ich lieber gehen?“ fragte Nick, der ihr Verhalten vollkommen missverstand.
Sie schüttelte schnell den Kopf, unfähig, etwas zu sagen.
„Dann heißt das, ich kann Sam sagen, dass wir im Geschäft sind?“
Mel nickte. Sie brachte noch immer keinen Ton heraus.
Nick kniete sich vor sie hin und nahm zärtlich ihr Gesicht zwischen seine Hände.
„Ich werde dich zu nichts drängen. Versprochen. Aber ich hätte da einen Plan.“
Es hätte Mel auch gewundert, wenn es anders gewesen wäre. Der Mann, der
immer einen Plan hat, dachte sie lächelnd. Sie berührte sachte sein Kinn. Es
fühlte sich weich an. Er musste sich erst vor kurzem rasiert haben. Extra für sie.
„Und der wäre?“
„Also, wir wissen ja, dass wir ein gutes Team abgeben. Und das nicht nur im
Bett. Obwohl wir da auch gut zusammenzupassen scheinen.“ Nick streichelte mit
dem Daumen über ihre Schläfe. „Jedenfalls dachte ich mir, diese Kombination
könnte doch eigentlich eine gute Basis für eine Ehe sein.“
Mel zog erstaunt die Augenbrauen hoch. „Wie war das mit dem ,zu nichts
drängen’?“ fragte sie spitzbübisch.
„Das habe ich auch nicht vor“, versicherte Nick ernst. „Ich erwarte nicht, dass du
mir mein schäbiges Verhalten einfach so verzeihst. Das braucht Zeit. Und die
werde ich dir geben. So viel du brauchst.“
„Also, wenn ich dich richtig verstehe, meinst du, wir sollten einfach abwarten, ob
unsere Gemeinsamkeiten ausreichen, um uns ineinander zu verlieben?“
„Was mich betrifft, nein.“ Nick hob mit dem Zeigefinger Mels Kinn an und sah ihr
fest in die Augen. „Ich weiß bereits, dass ich dich liebe.“
Die Worte waren wie ein sanftes Streicheln, und der darauf folgende Kuss
unendlich liebevoll, als wolle Nick ihr damit beweisen, dass er wirklich geduldig
sein würde, warten würde, bis sie ihm wieder vertraute. Solange es auch dauern
mochte.
„Soll ich dir ein Geheimnis verraten?“ fragte sie leise.
„Welches?“ flüsterte Nick ihr ins Ohr.
„Ich liebe dich auch.“
Das Lächeln, das auf Nicks Gesicht erschien, ließ Mels Knie noch weicher werden,
als sie es ohnehin schon waren.
„Dann bleibt da nur noch eine Sache zu klären“, sagte er.
„Und zwar?“
„Wo möchtest du gern die Flitterwochen verbringen?“
Mel lachte und stupste Nick spielerisch gegen die Brust.
„Egal wo, Hauptsache wir gehen nicht Campen.“
ENDE