Frames und sprachliches Wissen: Kognitive Aspekte der semantischen Kompetenz
Alexander Ziem
Walter de Gruyter
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Frames und sprachliches Wissen: Kognitive Aspekte der semantischen Kompetenz
Alexander Ziem
Walter de Gruyter
Alexander Ziem Frames und sprachliches Wissen
Sprache und Wissen Herausgegeben von
Ekkehard Felder Wissenschaftlicher Beirat
Markus Hundt · Wolf-Andreas Liebert Thomas Spranz-Fogasy · Berbeli Wanning Ingo H. Warnke · Martin Wengeler 2
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Walter de Gruyter · Berlin · New York
Alexander Ziem
Frames und sprachliches Wissen Kognitive Aspekte der semantischen Kompetenz
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Walter de Gruyter · Berlin · New York
Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein
D 61
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-020275-5 ISSN 1864-2284 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandentwurf: Christopher Schneider, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen
Meinen Eltern
Vorwort Die kognitive Linguistik erlebt in den letzten Jahren auch im deutschsprachigen Raum einen kaum zu übersehenden Aufschwung. Umso erstaunlicher ist es, dass bislang kaum, oder nur sehr rudimentär, zentrale Thesen der Kognitiven Grammatik und der Konstruktionsgrammatik in die deutschsprachige Lingustik Eingang gefunden haben. Das zeigt ein Blick in die einschlägige Fachliteratur, das ergab sich auch immer wieder im Zusammenhang mit meinen Forschungsaktivitäten an verschiedenen Institutionen. Die vorliegende Arbeit versucht, diesem Defizit zu begegnen, indem sie mit semantischen Frames das vielleicht wichtigste Konzept der kognitiven Linguistik zu ihrem Gegenstand macht und in einem übergeordneten sprach- und kognitionswissenschaftlichen Kontext thematisiert. Sind Frames zuvorderst von semantiktheoretischer Relevanz, reicht die Erklärungskraft des hier präsentierten Frame-Modells weit darüber hinaus. Sie betrifft morphologische, syntaktische und allgemein-sprachtheoretische Aspekte nicht weniger. Frames bilden einen elementaren Bestandteil einer umfassenden Sprachverstehens- und Grammatiktheorie. Ihr Einsatz als (korpusanalytisches) Instrument zur Untersuchung gesellschaftlichen Wissens ermöglicht es zudem, Frames im Rahmen einer linguistischen Epistemologie nutzbar zu machen. Die vorliegende Studie bewegt sich im Schnittfeld von historischer Semantik, Psycholinguistik (insbesondere inferenz- und verstehenstheoretischer Ansätze) und kognitiv-grammatischen Theorien (Konstruktionsgrammatik, Kognitive Grammatik). Sie entstand im Dreistädteeck Düsseldorf, Berlin, Basel. In Düsseldorf waren Dietrich Busse und Martin Wengeler, die beiden Gutachter der Dissertation, stets mehr als Betreuer und Ideengeber; sie waren fachkundige Kollegen im besten Sinne. Wenn ich Rat brauchte, waren sie als Ratgeber da, und wenn es an Zeit mangelte, wurden Freiräume geschaffen. Dafür danke ich beiden sehr! In Berlin haben viele anregende Diskussionen, insbesondere in den Forschungskolloquien von Roland Posner, dazu beigetragen, so manchen Gedanken zu schärfen. In Basel arbeite ich seit nunmehr zwei Jahren als Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Kognitive Linguistik und Spracherwerbsforschung von Heike Behrens. Dort konnte ich meine in Düsseldorf begonnene und eingereichte Dissertation zu Ende bringen. Damit hat mir Heike Behrens eigentlich Unmögliches, sicherlich aber Ungewöhnliches ermöglicht. Die wunderbare Arbeitsatmosphäre hat mir in Basel den Abschluss sehr erleichtert; ohne meine Kolleginnen, insbesondere
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Vorwort
Mirjam Weder, Christina Cuonz und Regula Schmidlin, hätte ich die Schweizer Luft viel weniger genießen können. Moralische Unterstützung und konzeptuellen Rat erhielt ich immerfort von meinen Berliner ‚Leidensgenossen‘ Anne Kraume, Christian Luckscheiter, Cristina Fossaluzza, Paulo Panizzo und Margrit Vogt. War linguistische Expertise vonnöten, konnte ich mir zudem keine kompetenteren Gesprächspartner wünschen als Martin Reisigl (Wien) und Sven Staffeldt (Berlin). Im interdisziplinären Kontext hat diese Funktion Johannes Angermüller (Magdeburg) übernommen. Ekkehard Felder (Heidelberg) danke ich für die Aufnahme der Studie in die de Gruyter-Reihe „Sprache und Wissen“ sowie für die kritische Durchsicht des Manuskripts. Ohne die finanzielle Unterstützung verschiedener Stiftungen hätte die vorliegende Untersuchung – wenn überhaupt – nur sehr eingeschränkt durchgeführt werden können. Einen guten Start ermöglichte mir die Universität Düsseldorf, von der ich ein Rektoratsstipendium erhalten habe. Vor dem Antritt der Assistentenstelle in Basel erhielt ich zudem eine hilfreiche Übergangsfinanzierung der Fazit-Stiftung. Der größte Dank gilt aber drei langjährigen Förderern: meinen Eltern und Andrea Friedrich. Hätten meine Eltern meine Interessen und Neigungen nicht fortwährend unterstützt, wäre ich erst gar nicht auf die verwegene Idee gekommen, eine Art Orchideenfach (wie manche meinen, ich nicht!) mit dem Ziel der Promotion zu studieren. Von meinen Eltern habe ich gelernt, dass die nachhaltigste Förderung darin besteht, vorherrschende Vorlieben weiter zu stärken. Ihnen sei das Buch in Dankbarkeit gewidmet. Sicherlich habe ich das eine oder andere Mal meine fachlichen Interessen zum Mittelpunkt der Welt erklärt. Das kann man nur mit einer gehörigen Portion Toleranz und Geduld ertragen. Von beidem besitzt du, Andrea, eine schier unerschöpfliche Menge. Die unentbehrlichste Stütze warst du mir, gerade in Zeiten, in denen die Verzweiflung am größten war – du und der kleine Jonathan, dessen damals nur geplante Existenz die Endphase der Dissertation erstaunlich beschleunigt hat! Basel/Berlin/Düsseldorf, im Juni 2008
Alexander Ziem
Inhaltsverzeichnis Vorwort ................................................................................................................... VII Einleitung .................................................................................................................... 1
I. Das semantische Interesse an Frames............................................... 7 1. Evidenzen für Frames: einige Beispiele zur Einführung ........................... 7 2. Frames in der Forschung .............................................................................. 13 2.1 Zur Entwicklung der Frame-Forschung............................................. 14 2.2 Frames und andere Repräsentationsformate...................................... 22 3. Frames im kognitionswissenschaftlichen Kontext ................................... 35 3.1 Kognition, Repräsentation, Kategorisierung: zum Gegenstandsbereich ............................................................................... 35 3.2 Kognitionstheoretische Positionen...................................................... 43 3.3 Frames im Spannungsfeld modularistischer und holistischer Ansätze..................................................................................................... 51
II. Kognitionstheoretische Voraussetzungen .................................... 59 1. Holismus vs. Modularismus: ein Beispiel zur Illustration ....................... 60 2. Modularismus.................................................................................................. 66 2.1 Zwei-Ebenen-Semantik (M. Bierwisch).............................................. 67 2.2 Frame-Semantik vs. Zwei-Ebenen-Semantik: einige Problemfelder.......................................................................................... 73 2.3 Beispielanalysen....................................................................................... 78 2.4 Drei-Ebenen-Semantik (M. Schwarz) ................................................. 92 3. Holismus........................................................................................................ 103 3.1 Bedeutung als Konzeptualisierung..................................................... 105 3.2 Sprache als Konzeptualisierung (R. Langacker vs. R. Jackendoff) ....................................................................................... 108
III. Das holistische Paradigma........................................................... 117 1. Sind Sprachwissen und Weltwissen voneinander abgrenzbar?............. 119 1.1 Essenz vs. Akzidenz? ........................................................................... 125 1.2 Synthetische vs. analytische Urteile?.................................................. 128 1.3 Kulturelles vs. sprachliches Wissen?.................................................. 130
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Inhaltsverzeichnis
1.4 Semantik vs. Pragmatik? ...................................................................... 133 2. Der „Raum des Verstehens“ (C. Demmerling)....................................... 142 3. Das Postulat der Verstehensrelevanz........................................................ 150 3.1 Busses Konzeption einer explikativen Semantik............................. 151 3.2 Ansätze der psycholinguistischen Verstehensforschung................ 157 3.3 Wissenstypen im Vergleich ................................................................. 167
IV. Zeichentheoretische Aspekte...................................................... 173 1. Sprachliche Zeichen als „Konstruktionen“ ............................................. 177 1.1 Das „symbolische Prinzip“ in der Konstruktionsgrammatik und Kognitiven Grammatik ............................................................... 177 1.2 Was sind „Konstruktionen“ und „symbolische Einheiten“? ........ 180 1.3 Konstruktionen im „Raum des Verstehens“.................................... 192 2. Frames und „symbolische Einheiten“ ...................................................... 198 2.1 Konventionelle vs. kontextuelle Bedeutungsaspekte (R. Langacker) ....................................................................................... 200 2.2 Sind „Situationen“ und „Hintergründe“ Elemente semantischer Einheiten? (J. Zlatev)................................................... 211 2.3 Sind „Szenen“ Elemente semantischer Einheiten? (C. Fillmore) .......................................................................................... 221 3. Relationen ...................................................................................................... 229 3.1 „Aufgerufene“ Frames und „abgerufene“ Frames (C. Fillmore) . 231 3.2 „Bedeutungspotentiale“ (J. Allwood) ................................................ 237
V. Frames als Schemata ...................................................................... 247 1. Kategorisierung............................................................................................. 248 2. Schemata ........................................................................................................ 255 2.1 Schemata als modalitätsunspezifische Repräsentationsformate ... 258 2.2 Gemeinsame Charakteristika von Frames und Schemata.............. 266 3. Frames als Schemata: eine Beispielanalyse............................................... 272
VI. Strukturkonstituenten von Frames............................................. 283 1. Der Problemzusammenhang...................................................................... 283 2. Referenz ......................................................................................................... 288 2.1 Frames als Projektionsfläche der Referentialität.............................. 289 2.2 Jedes Wort evoziert einen Frame ....................................................... 294 3. Prädikationspotential: Leerstellen („slots“).............................................. 298 3.1 Was sind Leerstellen? ........................................................................... 299 3.2 Hyperonymtypenreduktion: zur Ermittlung von Leerstellen........ 308 3.3 Eine Beispielanalyse.............................................................................. 318 4. Explizite Prädikationen: konkrete Füllwerte („fillers“).......................... 325
Inhaltsverzeichnis
XI
4.1 Wann sind Prädikationen explizit?..................................................... 326 4.2 Sprachliche Ausprägungsvarianten .................................................... 330 5. Implizite Prädikationen: Standardwerte („default values“) ................... 335 5.1 Rekurrente Schema-Instanzbeziehungen: Token- und TypeFrequenz ................................................................................................ 339 5.2 Kognitive Trampelpfade als Phänomene der dritten Art .............. 348 5.3 Type-Frequenz: eine Beispielanalyse ................................................. 356
VII. Frames in Textkorpora: die Metapher der Heuschrecke........... 367 1. Präliminarien ................................................................................................. 369 1.1 Frames als korpuslinguistisches Analyseinstrument ....................... 369 1.2 Kognitive und diskursive Aspekte von Metaphern......................... 375 2. Die „Kapitalismus-Debatte“: Exposition des Gegenstandsbereichs... 387 2.1 Diskurs und Korpus............................................................................. 388 2.2 Untersuchungszeitraum, Diskursverlauf, Untersuchungskorpus.......................................................................... 392 2.3 Heuschrecke: eine diskurssemantische Grundfigur ............................ 395 3. Methodischer Leitfaden zur Korpusanalyse ............................................ 406 3.1 Annotation der Textbelege.................................................................. 407 3.2 Prädikationsanalyse............................................................................... 409 3.3 Hyperonymtypenreduktion ................................................................. 412 3.4 Klassifikation expliziter Prädikationen.............................................. 418 4. Empirische Ergebnisse................................................................................ 421 4.1 Der generische Frame .......................................................................... 422 4.2 Die Input-Frames „Heuschrecke/n“ und „Finanzinvestor/en“.. 425 4.3 Der Metapher-Frame „Heuschrecke/n“ .......................................... 432 5. Frame-Semantik und Diskursanalyse: einige Schlussfolgerungen........ 438 Zusammenfassung und Ausblick ........................................................................ 441 Literaturverzeichnis ............................................................................................... 449 Textkorpus (für die Metaphernanalyse in Kap. VII.) ................................. 449 Quellen ............................................................................................................... 452 Sekundärliteratur............................................................................................... 452 Register .................................................................................................................... 479
If someone said, „It’s raining frogs“, your mind would swiftly fill with thoughts about the origins of those frogs, about what happens to them when they hit the ground, about what could have caused that peculiar plague, and about whether or not the announcer had gone mad. Yet the stimulus for all of this is just three words. How do our minds conceive such complex scenes from such sparse cues? The additional details must come from memories and reasoning. (Minsky 1988, S. 244)
Einleitung Wenn wir die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks erfassen, verstehen wir immer mehr als nur diesen Ausdruck: Wir vergegenwärtigen uns einen ganzen Sach- und Wissenszusammenhang. „Es regnet Frösche“ – diesen Beispielsatz aus dem angeführten Zitat Marvin Minskys zu verstehen, bereitet uns keine großen Schwierigkeiten, obwohl die meisten wohl noch keine Erfahrung gemacht haben dürften mit Fröschen, die vom Himmel fallen. Selbst wenn wir den Satz „Es regnet Frösche“ zum ersten Mal hören bzw. lesen sollten, reichen drei Wörter aus, um eine recht präzise Vorstellung von dem beschriebenen Ereignis zu bekommen. Über die von Minsky genannten Wissensaspekte hinaus ließen sich mühelos zahllose weitere Details anführen. So haben wir eine Vorstellung davon, wie groß die herabfallenden Frösche sind (vielleicht faustgroß, sicherlich nicht so groß wie eine Fliege oder ein Bär), welche Farbe sie haben könnten (bräunlich, grünlich, nicht aber blau oder rosa), welche Körperteile sie besitzen und wie sich ihre Haut anfühlt. Wir wissen außerdem, dass Frösche typischerweise am oder im Wasser leben, sie aber, sollten sie vom Himmel fallen, genauso der Schwerkraft unterliegen wie viele andere Entitäten auch. Wir können uns weiterhin ein Bild davon machen, wie viele Frösche es regnet und uns abhängig von der Menge herabfallender Frösche das Ausmaß der Folgen – und zwar nicht nur für die Frösche – ausmalen. Um dem ungewöhnlichen Satz einen Sinn zu geben, mag schließlich die eine oder andere Person auf die Idee kommen, den Ausdruck Frösche oder regnet als eine Metapher zu interpretieren. Viele weitere Annahmen kämen dann ins Spiel. Evozieren Wörter wie Frösche und regnen und ebenso komplexe Ausdrücke wie es regnet Frösche Wissen, passiert dies nicht ohne unser Zutun. Wir, die Textrezipientinnen und -rezipienten, konstruieren Kontexte, in denen die rezipierten Ausdrücke typischerweise vorkommen. Zu diesem Zweck greifen
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Einleitung
wir auf ganz unterschiedliches Hintergrundwissen zurück, das uns zur Verfügung steht. Mit dem Wort Trinkgeld ist uns beispielsweise eine ‚Szene‘ präsent, in der es eine Szenerie (das Restaurant), Akteure (Gäste, den Ober), gewisse Requisiten (einen Tisch, Stühle, Besteck usw.), ein Skript (Essen bestellen, essen, bezahlen) und vieles mehr gibt. Denn jeder weiß, unter welchen Umständen und in welchen Alltagssituationen Trinkgeld gezahlt wird. Aus Alltagserfahrungen weiß jeder genauso – um ein Beispiel von Karl Bühler (1934, S. 171f.) aufzugreifen –, was das Wort Radieschen bedeutet, denn jeder kennt mögliche szenische Erfahrungszusammenhänge, in denen Radieschen prototypischerweise vorkommen. Man fühle sich beim Lesen oder Hören des Wortes Radieschen unvermittelt an den Esstisch oder in den Garten versetzt, bemerkt Bühler. Den Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit bildet die Annahme, dass Wissen, das zur Erfassung der Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks eingebracht wird, Strukturen aufweist, die sich mittels so genannter ‚Frames‘ linguistisch genau beschreiben lassen. Frames sind konzeptuelle Wissenseinheiten, die sprachliche Ausdrücke beim Sprachverstehen evozieren, die also Sprachbenutzerinnen und Sprachbenutzer aus ihrem Gedächtnis abrufen, um die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks zu erfassen. Zu wissen, was ein Ausdruck bedeutet und wie ein Ausdruck zu verwenden ist, heißt demnach, über eine bestimmte kognitive Struktur zu ‚verfügen‘, die mit einem Ausdruck konventionell assoziiert ist. Die linguistische Frame-Theorie geht auf zahlreiche Arbeiten des amerikanischen Sprachwissenschaftlers Charles Fillmore zurück. Mitte der 70er Jahre spricht Fillmore erstmalig von einer „Frame-Semantik“. Im deutschsprachigen Raum haben Frames in den letzten Jahren insbesondere durch die Arbeiten von Klaus-Peter Konerding (1993), Claudia Fraas (1996a) und Birte Lönneker (2003a) zunehmend an Popularität gewonnen. Stärker als Konerding, Fraas und Lönneker möchte ich aber an die angloamerikanische Kognitive Semantik anknüpfen, die sich v.a. im engen Zusammenhang mit der „Konstruktionsgrammatik“ und der „Kognitiven Grammatik“ herausgebildet hat. Frame-Semantik soll in dieser Arbeit in einem kognitiven Paradigma verankert werden, das trotz seiner inzwischen über 25-jährigen Geschichte bislang kaum Beachtung in der germanistischen Linguistik gefunden hat. Ausgehend von Fillmores Idee, dass Frames sowohl kognitive Organisationsstrukturen unserer Erfahrung als auch analytische Werkzeuge zur Untersuchung ebendieser Strukturen darstellen,1 besteht ein Ziel darin, framesemantische Theoreme direkt mit empirischer Analysepraxis zu verknüpfen. 1
Fillmore 1985, S. 232: „In addition to seeing frames as organizers of experience and tools for understanding, we must also see frames as tools for the description and explanation of lexical and grammatical meaning.“
Einleitung
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Neben zahlreichen Beispielanalysen, die fortlaufend die empirische Relevanz der theoretischen Befunde illustrieren sollen, führe ich im letzten Kapitel eine umfangreiche Korpusanalyse durch. In dieser soll der diskurs- und metaphernanalytische Nutzen des entwickelten Ansatzes exemplarisch zum Ausdruck kommen. Darüber hinaus dienen die Beispielanalysen insgesamt dazu, den integrativen Charakter des entwickelten semantischen Beschreibungsansatzes aufzuzeigen. Viele sprachliche Phänomene, darunter beispielsweise Metaphern, Präsuppositionen, diskurssemantische Grundfiguren, (indirekte) Anaphern und Kataphern, aber auch Argumentationsmuster, Sprachwandel, Kohärenzbildung, ästhetisch-semantische Effekte (am Beispiel von Haruki Murakamis Roman „Gefährliche Geliebte“) und vieles mehr, lassen sich unter dem Dach der Frame-Semantik thematisieren und mit frame-semantischen Mitteln erklären. Ein Vorteil besteht darin, für solche sprachlichen Phänomene einen einheitlichen terminologischen und methodischen Beschreibungsund Analysesapparat zu haben. Einen weiteren Vorteil sehe ich darin, dass mit dem Einsatz der entwickelten frame-semantischen Kategorien immer auch klar ist, unter welchen sprach- und kognitionstheoretischen Voraussetzungen die jeweilige Analyse steht. Diese Voraussetzungen werden in den ersten beiden Kapiteln herausgearbeitet. Leitend für die gesamte Arbeit ist das Postulat der Verstehensrelevanz. Dieses besagt, dass kein verstehensrelevanter Bedeutungsaspekt in der Analyse ausgeklammert werden darf, etwa mit der Begründung, dass die methodischen Prämissen der gewählten Theorie-Settings keine Erfassung des eingebrachten Hintergrundwissens zulassen. Frame-Semantik wird verstanden als eine nicht-reduktionistische Theorie sprachlicher Bedeutungen. Reduktionistisch ist eine Bedeutungstheorie dann, wenn ihre methodischen Prämissen zu einer unzureichenden Erfassung verstehensrelevanter Bedeutungsaspekte führen oder deren Erfassung sogar verhindern. Dieser Voraussetzung folgend soll es u.a. darum gehen, die kognitive und sprachliche Struktur von Frames genau zu beschreiben sowie anhand von Anwendungsbeispielen die fundamentale semantische Relevanz zu demonstrieren. Die vorliegende Arbeit gliedert sich in sieben Kapitel. Im Zentrum von Kapitel I steht neben der Vorstellung des Gegenstandsbereiches ein kurzer Überblick über die Forschungsliteratur sowie eine Beschreibung des übergreifenden kognitionstheoretischen Zusammenhangs, in dem Frames thematisiert werden. Frames, so wird sich zeigen, spielen in ganz unterschiedlichen kognitionswissenschaftlichen Ansätzen eine Rolle; was allerdings unter Frames genau verstanden wird und was Frames im Rahmen eines bestimmten Ansatzes leisten können, variiert abhängig vom gewählten Kognitionsmodell. Zwischen zwei Grundpositionen, einer modularistischen und einer holistischen, wird in Kapitel II unterschieden. Modulare Semantiktheorien vertreten im deutschsprachigen Raum u.a. Manfred Bierwisch und Monika
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Einleitung
Schwarz, deren Zwei- bzw. Drei-Ebenen-Modell zunächst daraufhin analysiert werden soll, inwiefern der methodische Rahmen auf die Konzeption einer Frame-Semantik Einfluss ausübt. Dieselbe Frage steht bei der Diskussion holistischer Modelle, v.a. der Kognitiven Grammatik Ronald Langackers und der Konzeptuellen Semantik Ray Jackendoffs im Vordergrund. Dem holistischen Paradigma widmet sich Kapitel III. Ausgangspunkt bildet die Frage, ob sich zwischen genuin semantischem und allgemein enzyklopädischem Wissen eine Grenze ziehen lässt. Verschiedene Unterscheidungskriterien werden auf ihre Stichhaltigkeit überprüft. Aus dem Befund, dass kein Kriterium eine scharfe Trennung von Sprach- und Weltwissen legitimiert, leitet sich eine konzeptualistische Semantiktheorie ab, derzufolge sprachliche Zeichen in einem „Raum des Verstehens“ eingebettet sind. Das heißt: Sprachliche Zeichen konstituieren sich inferentiell, indem auf vielfältiges Hintergrundwissen zurückgegriffen wird. Diskutiert werden in diesem Zusammenhang die nicht-reduktionistische Bedeutungstheorie Dietrich Busses sowie Ergebnisse der psycholinguistischen Inferenzforschung. Beide werden systematisch miteinander in Beziehung gebracht. Einem konzeptualistischen Semantikmodell liegt eine Zeichen- und Grammatiktheorie zugrunde, die davon ausgeht, dass die kleinsten Einheiten einer Sprache Form-Bedeutungspaare sind. Dieses von mir so genannte „symbolische Prinzip“ thematisiert Kapitel IV. Ausgehend von Überlegungen der Konstruktionsgrammatik und der Kognitiven Grammatik besteht die zentrale These darin, dass Frames die Inhaltsseite sprachlicher Ausdrücke strukturieren. Um die Struktur von Frames genau zu bestimmen, wird auf Fillmores Frame-Theorie sowie auf das Konzept der „Situation“ von Jordan Zlatev und das des „Bedeutungspotentials“ von Jens Allwood zurückgegriffen. In Kapitel V knüpfe ich an das zentrale Ergebnis des vorangegangenen Kapitels an, dass Frames schematische Einheiten darstellen, und verankere Frames in der kognitionswissenschaftlichen Schematheorie. Untersucht wird, inwiefern Frames kognitive Schemata sind und inwiefern beide gemeinsame Charakteristika aufweisen. Kapitel V ebnet den Weg für die Analyse der Strukturkonstituenten von Frames. Es hat deswegen den Charakter einer Einleitung zum Folgekapitel. Kapitel VI befasst sich mit den sprachlich-repräsentationalen Eigenschaften von Frames. Frames, so die Behauptung, bestehen aus drei Strukturkonstituenten, nämlich aus Leerstellen, konkreten Füllwerten und Standardwerten. Welche sprachliche Gestalt haben aber die Strukturkonstituenten? Welche verschiedenen sprachlichen Ausprägungsvarianten lassen sich voneinander unterscheiden? Wie können Frames, deren Leerstellen, Füllwerte und Standardwerte in Texten ermittelt werden? Diese Fragen stehen hier im Vordergrund.
Einleitung
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Im letzten Kapitel kommt die entwickelte Frame-Theorie als korpusanalytisches Werkzeug zum Einsatz. Untersucht wird, wie sich der konzeptuelle Gehalt der Metapher Heuschrecke in dem spezifischen Wissenszusammenhang der so genannten „Kapitalismus-Debatte“ herausbildet hat. Der damalige SPD-Parteivorsitzende Franz Müntefering hatte im Frühjahr 2005 Finanzinvestoren mit „Heuschreckenschwärmen“ verglichen und damit eine öffentliche Kontroverse ausgelöst. Inzwischen hat sich der Ausdruck der Heuschrecke als Metapher für rücksichtslose Finanzinvestoren etabliert. Welche Wissensaspekte vor dem Hintergrund der „Kapitalismus-Debatte“ für die Genese der Metaphernbedeutung relevant sind, wird hier zu zeigen sein. Im Schlusswort sind die wichtigsten Ergebnisse der einzelnen Kapitel zusammengefasst. Ein knapper Ausblick soll zudem einige Perspektiven aufzeigen, wo und in welcher Form sich in weiteren Studien an die Ergebnisse dieser Arbeit anknüpfen ließe.
I. Das semantische Interesse an Frames In diesem Kapitel soll zunächst durch einige Beispiele in die Thematik der vorliegenden Arbeit eingeführt werden. Weiterhin soll ein Überblick über die Frame-Forschung die Vielfalt der Anwendungsbereiche aufzeigen. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der speziellen Rezeptionssituation im deutschsprachigen Raum, insbesondere der germanistischen Linguistik. Im dritten Abschnitt steht schließlich der übergeordnete kognitionswissenschaftliche Zusammenhang im Vordergrund, in dem Frames thematisiert werden.
1. Evidenzen für Frames: einige Beispiele zur Einführung Statt einleitend mit technischen Definitionen, theoretischen Problemen und methodischen Finessen aufzuwarten, ziehe ich es vor, mit einigen Beispielen in die Thematik einzuführen: mit Beispielen, die – wie man so sagt – „aus dem Leben gegriffen sind“. In der Süddeutschen Zeitung ist am 4. August 2004 Folgendes zu lesen: (1)
„Mit einer gefährlichen Vokabelnotiz hat ein Englisch lernender Japaner am Flughafen von Chicago Bombenalarm ausgelöst. Der 60-Jährige hatte sich das Wort für die Bombe eines Selbstmordattentäters (Suicide bomb) in ein Heft geschrieben, um die Bedeutung nach dem Flug nachzuschlagen, wie die Behörden mitteilten. Sein Sitznachbar bemerkte die Notiz und alarmierte die Besatzung. Der Pilot kehrte zum Terminal zurück. Alle 120 Fluggäste mussten von Bord gehen, Sicherheitskräfte und Polizei nahmen den vermeintlich gefährlichen Fluggast fest. Der Japaner wurde jedoch schnell freigelassen.“ (Süddeutsche Zeitung, 4. August 2004)
Was ist passiert? Offensichtlich hat der Ausdruck suicide bomb beim Sitznachbarn des Englisch lernenden Japaners gewisse Assoziationen erweckt. Aber wohl mehr als das, denn nicht irgendwelche Assoziationen scheinen eine Rolle gespielt zu haben, nicht etwa Assoziationen darüber, wie schwer eine suicide bomb sein könnte, aus welchem Material sie bestehen und wer sie hergestellt haben könnte. Der Ausdruck suicide bomb hat vielmehr ganz bestimmtes
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I. Das semantische Interesse an Frames
Wissen über das Bezugsobjekt aufgerufen, etwa Wissen darüber, wozu der mit dem Ausdruck bezeichnete Gegenstand dient, wo er typischerweise benutzt wird und wer ihn üblicherweise aus welchen Gründen benutzt, welche Folge seine ‚Benutzung‘ nach sich ziehen kann usw. Dem Wissen, das der Sitznachbar des Japaners mit dem Ausdruck verbunden hat, scheint eine Ordnungsstruktur zugrunde zu liegen. Suicide bomb hat einen Frame aufgerufen, dem bestimmte, teils mehr, teils weniger relevante Informationen zugehören. Der aktivierte Frame hat Anlass dazu gegeben, eine folgenreiche Handlungskette in Gang zu setzen. Auslöser sind allein zwei Wörter, Wörter, die für den Japaner zum Zeitpunkt des Ereignisses nur als ‚leere Zeichen‘, als Form ohne Inhalt existiert haben. Dem Japaner blieb es verwehrt, mit seiner Vokabelnotiz Wissen über die Bombe eines Selbstmordattentäters zu verbinden, geschweige denn, einen Zusammenhang zwischen suicide bomb und den Geschehnissen am 11. September 2001 herzustellen. (Womöglich wäre dem Sitznachbarn des Japaners selbst die Vokabelnotiz vor dem 11. September nicht aufgefallen.) Denn um die Bedeutung von suicide bomb zu erfassen, muss der Japaner nicht nur den Frame kennen, der mit dem Ausdruck verbunden ist; er muss nicht nur über Wissen verfügen, das in seiner Erfahrungswelt verankert ist und das vorauszusetzen ist, um den Ausdruck zu verstehen. Darüber hinaus müsste der Japaner auch die Konvention kennen, dass dieses Wissen mit dem Ausdruck suicide bomb in der Regel verbunden wird. Welches Wissen Sprachbenutzerinnen und Sprachbenutzer mit der Formseite eines sprachlichen Ausdrucks verbinden, ist zwar konventionalisiert, gerade dadurch aber sprachgemeinschaftsübergreifend und in diachroner Hinsicht variabel. Die beiden Extreme sind in Beispiel (1) markiert: Der Ausdruck suicide bomb ruft bei dem Japaner keinen Frame auf; es ist ihm nicht möglich, sich einen Kontext (wie etwa den des Terroranschlags am 11. September 2001) zu vergegenwärtigen, der die Benutzung und das Verstehen des Ausdrucks motivieren könnte. Einen sehr differenzierten Frame hat der Ausdruck suicide bomb dagegen bei den anderen Personen aufgerufen wie der Flugzeugbesatzung, dem Piloten, den Sicherheitskräften und der Polizei. Zwischen diesen beiden Extremen gibt es graduelle Abstufungen. Man vergleiche hierzu die Bedeutung des Wortes Speisekarte in folgendem Witz: (2)
Ein Kannibale sitzt im Restaurant eines Luxusdampfers. Der Kellner kommt und fragt, ob er die Speisekarte bringen soll. Der Kannibale entgegnet: „Ja, bringen Sie mir doch bitte die Passagierliste.“
Worin unterscheidet sich die Bedeutung des Wortes Speisekarte von dem Verständnis des Wortes Passagierliste als Speisekarte? Benutzt der Kellner das Wort Speisekarte, so deswegen, weil er damit einen Frame verbindet, dem
1. Evidenzen für Frames: einige Beispiele zur Einführung
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allerlei kommunikativ relevante Informationen ‚anhängen‘. Eine Speisekarte ist für ihn eine Restaurant-‚Requisite‘, ein Hilfsmittel, das Bestellungen von jenen Speisen und Getränke erleichtert, die ein Restaurant seinen Gästen anbietet. Einen ganz ähnlichen Frame evoziert das Wort Speisekarte offensichtlich bei dem Kannibalen. Hat die Speisekarte für ihn auch einen Informationswert, stehen allerdings seiner Erwartung gemäß andere Speisen auf der Karte.1 Diese Erwartung leitet sich aus dem Umstand ab, dass er eben, abweichend von typischen Gästen eines Restaurants, ein Kannibale ist. Abgesehen vom unterschiedlichen Verständnis von „Speisen“ weichen die anderen Bestimmungen dessen, was sich der Kannibale und der Kellner unter dem Wort Speisekarte vorstellen, aber kaum voneinander ab (man denke an die typische materielle Gestalt, den typischen Auftretensort, den Zweck einer Speisekarte usw.): Für den Kannibalen ist die Passagierliste die Speisekarte, dennoch muss er den Kellner ausdrücklich um die Passagierliste (und nicht um die Speisekarte) bitten, da sein Wissen, was Speisen sind, vom konventionellen Wissen abweicht. Bei dem dritten Beispiel handelt es sich um eine Karikatur, die in der Tageszeitung Rheinische Post abgedruckt war: (3)
Die Karikatur zeigt einen Strand, auf dem zwei Männer nebeneinander auf Liegestühlen sitzen. Beide tragen einen Strohhut. Während einer der beiden eine Zeitung aufgeschlagen hat, hält der andere ein Cocktailglas in der Hand. Im Hintergrund sind Hotels zu sehen. Beide Männer schauen sich an. Der eine fragt: „Neckermann?“ Der andere antwortet: „Ruhrgas.“ (Rheinische Post, 4. August 2004)
Wie im ersten Beispiel haben wir es auch hier mit nur zwei Wörtern zu tun. Um aus der auf ein Minimum reduzierten Kommunikation zwischen den beiden Männern Kohärenz herzustellen, muss der Leser oder die Leserin auf alle ihm bzw. ihr zur Verfügung stehenden Daten zurückgreifen. Neckermann evoziert Wissen über einen Reiseveranstalter, und angesichts des bildlich dargestellten situativen Settings, in dem die Kommunikation stattfindet, scheint es wahrscheinlich zu sein, dass die fragende Person den Organisator der Reise seines Nachbarn herauszufinden beabsichtigt. Die Antwort konfligiert indessen mit typischerweise erwartbaren Antworten. Ruhrgas ruft einen Frame über einen Energieversorger auf. Ruhrgas ist keine Firma, die Reisen organisiert, sie hat vordergründig gar nichts mit Reisen zu tun. Jedoch moti1
Vorausgesetzt sei an dieser Stelle, dass es Kannibalen gibt und dass sich diese üblicherweise von Menschenfleisch ernähren. Beides kann natürlich bezweifelt werden; der Witz motiviert lediglich eine derart vereinfachte Typisierung von Kannibalen und macht diese zum Gegenstand der Pointe.
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I. Das semantische Interesse an Frames
vieren Kenntnisse über aktuelle politische Auseinandersetzungen eine mögliche Interpretation: In den Tagen, als die Karikatur in der Zeitung erschien, stand der Konzern „Eon-Ruhrgas“ in der Kritik, weil er Politiker gezielt zu touristischen Aktivitäten eingeladen haben soll, um auf diesem Weg mehr Einfluss ausüben zu können. In den aktivierten Frame „Ruhrgas“ gehen diese Informationen ein. Ebenso ist dadurch die antwortende Person als Politiker identifizierbar. Dass sie ferner so selbstverständlich auf die Frage ihres Nachbarn antwortet, legt nahe, dass das Sponsern von Politikerreisen gängige Praxis ist. All diese Informationen (und daneben noch viele andere) sind hochgradig kontextabhängig und nur aufgrund von Hintergrundwissen erschließbar. Nichtsdestoweniger erweisen sie sich als verstehensrelevant und gehen in den aktivierten Frame „Ruhrgas“ ein. Die Rolle von Inferenzen soll ein weiteres Beispiel aus der Werbung verdeutlichen: (4)
Bündnis 19. Die Lights von Lucky Strike.
Es mag vielen so gehen wie mir: Liest man (4) zum ersten Mal, täuscht die phonologische Ähnlichkeit von Bündnis 19 und Bündnis 90 zunächst über den semantischen Unterschied beider Ausdrücke hinweg. Bündnis 90 ruft einen Frame über eine Vereinigung von DDR-Bürgerbewegungen auf, die sich mit der Partei „Die Grünen“ zusammengeschlossen haben und seither die gemeinsame Partei „Bündnis 90/Die Grünen“ bilden. Über „Lucky Strike“ ist bekannt, dass es sich dabei um eine Zigarettenmarke handelt, während „Lights“ eine bestimmte Produktgruppe betrifft. Was aber haben DDRBürgerbewegungen mit Zigaretten zu tun? Dass es tatsächlich Bündnis 19 und nicht Bündnis 90 heißt, macht eine konzeptuelle Integration der semantischen Einheiten „Bündnis 19“ und „Lights von Lucky Strike“ über den Umweg „Zigarettenschachtel“ möglich. 19 Zigaretten umfasst eine Schachtel Zigaretten der Sorte „Lucky Strike Lights“, diese 19 Zigaretten bilden, metaphorisch gesprochen, ein „Bündnis“. Sprachlichen Ausdrücken kommt offenbar die Funktion ‚kognitiver Stimuli‘ zu. Sie veranlassen Rezipientinnen und Rezipienten dazu, eine Vorstellungseinheit zu konstruieren. Kleine Unterschiede auf der Formseite können große Unterschiede auf der Inhaltsseite nach sich ziehen (z.B. Bündnis 19 vs. Bündnis 90). Dabei ist es problemlos möglich, einmal erstellte kognitive Konstrukte (Frames) zu manipulieren, d.h. bestimmte Aspekte nachträglich zu modifizieren. Manchmal ist eine solche Modifizierung erforderlich, um einen Satz(-teil) verstehen zu können. Man betrachte folgendes Beispiel:2
2
Vgl. die ausführliche Diskussion des Beispiels in Kap. VI.5.
1. Evidenzen für Frames: einige Beispiele zur Einführung
(5)
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Alle hatten so viel Spaß daran, vom Baum in den Swimmingpool zu springen, dass wir uns dazu entschlossen haben, ein wenig Wasser einzulassen.
Nach der Lektüre des Hauptsatzes haben wir eine recht genaue Vorstellung von dem angesprochenen Swimmingpool. Die relevanten Informationen des aktivierten Frames „Swimmingpool“ haben zwar nicht den Charakter einzelner, unzusammenhängender Fakten, sondern sind uns als gestalthafte Einheit gegeben. Wir hätten Schwierigkeiten damit, die relevanten Charakteristika des Swimmingpools aufzulisten, viele würden wir wahrscheinlich gar nicht nennen, weil sie allzu selbstverständlich sind (man denke an die erwartbare Größe und die materiellen Eigenschaften des Swimmingpools, die Beckentiefe und Wassertemperatur). Trotzdem scheint Wissen dieser Art während des Lesens des Hauptsatzes eine Rolle gespielt zu haben. Denn der Nebensatz zwingt uns zu einer semantischen Reinterpretation des Ausdrucks Swimmingpool: Offensichtlich war es ‚falsch‘, sich einen Swimmingpool vorzustellen, der mit Wasser gefüllt ist. Würde der Nebensatz nicht auftauchen, bliebe die Standardinterpretation allerdings unberührt; „Swimmingpool“ würde als ein mit Wasser gefülltes Becken konzeptualisiert werden. Offensichtlich schreiben wir dem Referenzobjekt (hier: „Swimmingpool“) Prädikate zu, ohne dass diese Prädikate im Text auftauchen müssen. Auch der umgekehrte Fall ist möglich, dass ein Text Prädikate enthält, jedoch kein Referenzobjekt, auf das diese Prädikate zu beziehen wären. Hierzu ein weiteres Beispiel aus der Zigarettenwerbung: (6)
Meckert nicht, hat nie Kopfschmerzen und sieht auch gut aus.
Auch solche Fälle bereiten uns keine größeren Verstehensschwierigkeiten. Ignoriert man einen Moment lang, dass (6) eigentlich auf einem Werbeplakat geschrieben steht, dessen Hintergrund das Emblem von „Lucky Strike“ bildet, sehen wir uns vor die Aufgabe gestellt, die drei Prädikate meckert nicht, hat nie Kopfschmerzen, sieht auch gut aus einem Referenzobjekt zuzuschreiben, das erst noch zu erschließen ist. Im Raum stehen somit die Fragen: Welches Wort könnte die unbesetzte Subjektposition des Satzes einnehmen? Wer meckert typischerweise nicht, hat typischerweise nie Kopfschmerzen und sieht typischerweise gut aus? Anders als die Werbung es nahe legt, lautet die durchschnittlich erwartbare Antwort nicht „Lucky Strike Lights“. Aufgrund unserer Kommunikationserfahrung und unseres sozialen Wissens wissen wir vielmehr, dass Chauvinisten diese Prädikate gerne ihrer Traumfrau zuschreiben. Der ‚Witz‘ der Werbung entsteht durch zwei miteinander konkurrierende aktivierte Frames, den Frame „Lucky Strike Lights“ und „Traumfrau“, sowie
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I. Das semantische Interesse an Frames
dadurch, dass typisch menschliche Attribute einem Konsumgut zugeschrieben werden. Die an den sechs Beispielen dargelegten Aspekte illustrieren einige Charakteristika, die sprachliche Bedeutungen generell zu betreffen scheinen: (i) Die Formseite eines sprachlichen Zeichens bildet den Ausgangspunkt eines kognitiven Konzeptualisierungsprozesses der Inhaltsdimension desselben sprachlichen Zeichens. (ii) Welches Wissen (in Gestalt von Prädikaten) in die Inhaltsdimension eingeht, ist zwar variabel und hochgradig kontextabhängig, nicht aber beliebig, da es einen konventionellen Charakter haben muss (Neckermann vs. Ruhrgas, Speisekarte vs. Passagierliste). (iii) Standardinformationen erweisen sich für die Interpretation eines sprachlichen Ausdrucks solange als relevant, wie keine gegenteiligen Daten gegeben sind, die Standardinformationen ersetzen (etwa darüber, was ein „Swimmingpool“ und eine „Speisekarte“ ist). (iv) Ein Großteil bedeutungsrelevanten Wissens gründet in der Erfahrung der Sprachbenutzerinnen und Sprachbenutzer (z.B. Wissen über „suicide bomb“ in der Erfahrung des Terroranschlags am 11. September, Wissen über „Speisekarten“ in Essgewohnheiten). (v) Schließlich ist der konzeptuelle Bedeutungsgehalt sprachlicher Ausdrücke das Ergebnis kognitiv-inferentieller Prozesse wie konzeptueller Integrationen, Reinterpretationen und Modifikationen (Traumfrau vs. Lucky Strike Lights; Eigenschaften eines Swimmingpools). Den Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit bildet die Annahme, dass ein sprachlicher Ausdruck (wie suicide bomb, Speisekarte, Ruhrgas, Bündnis 19, Swimmingpool) Wissen in Gestalt von miteinander zusammenhängenden Informationseinheiten aufruft, deren Strukturzusammenhang mit linguistischen Mitteln beschrieben werden kann. Genauer: Das Bezugsobjekt eines sprachlichen Ausdrucks bildet eine konzeptuelle Vorstellungseinheit, die sprachlich mittels Prädikaten (im prädikatenlogischen Sinn) spezifiziert ist und mittels Prädikaten weiter spezifiziert werden kann. Im Anschluss an Fillmore (und viele andere kognitive Linguistinnen und Linguisten, die in der Tradition seiner Frame-Semantik stehen) nenne ich diese Vorstellungseinheiten Frames. Frames weisen ‚Leerstellen‘ (englisch: ‚slots‘) auf, d.h. das aufgerufene Vorstellungsobjekt kann hinsichtlich verschiedener (aber nicht beliebiger) Wissensaspekte näher bestimmt werden. Da Frames in diesem Sinne schematische Einheiten bilden, sollen prädikative Spezifizierungen von Frames „Werte“ oder „Instanzen“ genannt werden. Werte (bzw. Instanzen) ‚besetzen‘ bestimmte Leerstellen. Sprachbenutzerinnen und Sprachbenutzer kategorisieren Werte in bestimmte Leerstellen eines aufgerufenen Frames, um eine Vorstellungseinheit zu konkretisieren. Ruft beispielsweise das Wort Swimmingpool einen Frame auf, so sind Leerstellen wie „Größe“, „materielle Beschaffenheit“, „Inhalt“ und „Beckentiefe“ durch Werte wie „sechs mal fünf Meter“,
2. Frames in der Forschung
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„blaue Keramikkacheln“, „gechlortes Wasser“, „zwei Meter tief“ genauer bestimmt. In der vorliegenden Arbeit wird dabei zwischen zwei Typen von Werten unterschieden. Zum einen können Werte durch die gegebene Textbasis (d.h. durch sprachlich realisierte Prädikate) motiviert sein. In (5) ist beispielsweise die Leerstelle „Nutzen“ durch den Wert „vom Baum in den Swimmingpool springen“ näher bestimmt. Zwar kann der Swimmingpool vielfältig genutzt werden, genannt ist aber nur diese eine bestimmte Art der Nutzung. Solche in der Textbasis gegebene Spezifizierungen eines Frames werden fortan „(konkrete) Füllwerte“ (englisch: „fillers“) genannt. Zum anderen werden Werte aber auch inferiert, d.h. ‚hinzugedacht‘, um sprachliche Ausdrücke verstehen zu können. So gehen wir in Beispiel (5) davon aus, dass der erwähnte Swimmingpool von einer bestimmten materiellen Beschaffenheit ist, eine bestimmte Größe und Beckentiefe hat etc. Solche hinzugedachten, auf der Textbasis erschlossenen Werte heißen „Standardwerte“ (englisch: „default values“). Die drei Strukturkonstituenten von Frames „Leerstelle“ (bzw. „slot“), „konkreter Füllwert“ (bzw. „filler“) und „Standardwert“ (bzw. „default value“) werden seit den Anfängen der Frame-Theorie benutzt (z.B. in Minsky 1975) und haben auch in jüngere Publikationen Einzug erhalten (wie in Coulson 2001), wenngleich bisweilen terminologische Abweichungen festzustellen sind.3 Ungeachtet der Tatsache, dass keineswegs klar zu sein scheint, was genau „Leerstellen“, „Füllwerte“ und „Standardwerte“ sind, welcher Status ihnen zukommt, wie sie identifiziert werden können und welche sprachlichen Ausprägungsvarianten sich unterscheiden lassen, setze ich in den nächsten Kapiteln lediglich ein rudimentäres Verständnis der Strukturkonstituenten von Frames voraus. Wichtig werden die genannten Fragen vor allem dann, wenn es darum geht, Frames für Korpusanalysen zu nutzen. Auf sie gehe ich deshalb detailliert in Kapitel VI ein. Kapitel VI setzt allerdings nicht die Lektüre der vorangehenden Kapitel voraus, so dass interessierte Leserinnen und Leser jederzeit dort die entsprechenden Erläuterungen nachlesen können.
2. Frames in der Forschung Die nächsten beiden Abschnitte befassen sich mit der Forschungsliteratur zu Frames im Kontext kognitivistisch-semantischer Erkenntnisinteressen. Zunächst gibt Abschnitt 2.1 einen knappen Überblick über die Forschung seit Mitte der 70er Jahre. Der Schwerpunkt liegt auf der Darstellung der wesentli3
So spricht Minsky (1975) von „default assignments“, Coulson (2001) hingegen von „default values“; vgl. Kap. VI.5.
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I. Das semantische Interesse an Frames
chen Entwicklungsetappen innerhalb der Semantik, wobei dem ‚Begründer‘ der Frame-Semantik Charles Fillmore besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden soll. Statt einzelne Forschungspositionen ausführlich zu diskutieren, ziehe ich es vor, Entwicklungstendenzen im Verlauf der wechselhaften Geschichte des Frame-Begriffs herauszustellen und der besonderen Rezeption des Frame-Konzepts im deutschsprachigen Raum Rechnung zu tragen.4 In Abschnitt 2.2 stelle ich – ebenfalls in gebotener Kürze – alternative Konzepte zu Frames vor, die in den letzten 25 Jahren im Kontext der angloamerikanischen kognitiven Linguistik entwickelt worden sind, jedoch nur sehr rudimentär in die germanistische Linguistik Eingang gefunden haben. Im Einzelnen handelt es sich dabei um Fauconniers Theorie von „mental spaces“, Langackers Begriff „cognitive domain“ und Lakoffs Entwurf von „idealized cognitive models“. Es gilt, das Verhältnis von Frames zu diesen semantischen Repräsentationsformaten zu bestimmen. 2.1 Zur Entwicklung der Frame-Forschung Eine intensive Beschäftigung mit Frames fand zunächst ausschließlich in den Vereinigten Staaten statt und hier vorzugsweise an den Universitäten der Westküste. Als das Frame-Konzept Ende der 70er Jahre allmählich in der linguistischen Semantik Beachtung fand, wurde dessen Nutzen für die Künstliche Intelligenz-Forschung bereits intensiv diskutiert (vgl. etwa Bobrow/Collins 1975; Minston 1975; Metzing 1979). Auch in Nachbardisziplinen wie der kognitiven Psychologie und der Soziologie (Goffman 1974) wurden Frames und Schemata als analytische Kategorien schon dazu genutzt, Wissensstrukturen zu beschreiben, die es Menschen ermöglichen, ihre Erfahrungsdaten zu interpretieren. Neu war zu dieser Zeit aber allenfalls das Label „Frame“, denn die Grundidee, die sich dahinter verbarg, stammt aus den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts: Ohne den psychologischen Begriff „Gestalt“ sowie den Schema-Begriff, den der Psychologe Frederic Bartlett (1932) in seiner Gedächtnistheorie entwickelt hatte, hätten die verschiedenen frame-theoretischen Ansätze im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts wohl kaum in dem Maße Fuß fassen können, wie es tatsächlich der Fall war.5 Über Fillmores Studien zur Verbvalenz, die so genannte KasusrahmenTheorie, erhielt der Terminus „Frame“ Einzug in die Linguistik. 1968 erschien Fillmores einflussreiche Arbeit The case for case, die als wichtiger Vorläu4 5
Eine ausführliche, kritische Diskussion einzelner Forschungspositionen findet sich in Konerding 1993, S. 20-77. Zur Relevanz des Gestalt-Begriff vgl. Fillmore 1977a, S. 60, 1982a; auch: Lakoff 1977; Liebert 1992, S. 14-27; Roos 2001, S. 131-138. Auf die Schema-Theorie Bartletts gehe ich in Kap. V.1 und V.2.1 ein.
2. Frames in der Forschung
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fer seiner späteren „Frame-Semantik“ gelten darf. Der Beweggrund dafür, im Zusammenhang mit der Verbvalenz von „Frames“ zu sprechen, lag in der Beobachtung begründet, dass die syntaktische Funktion einzelner Satzelemente nicht allein auf der Basis der realisierten Satzelemente verstehbar ist, sondern ebenso jenen Elementen eine wichtige Rolle zukommt, die nicht realisiert, aber im entsprechenden Kasusrahmen angelegt sind. Kasusrahmen beschreiben also die semantische Valenz von Wörtern unabhängig davon, welche von den Wörtern ‚geforderten‘ Argumente in Sätzen tatsächlich syntaktisch realisiert sind. Man betrachte in diesem Zusammenhang (7): (7)
Er kauft das Haus.
In (7) sind zwar nur zwei Tiefenkasus des Verbs kaufen realisiert, nämlich „agentive“ und „objective“; daneben sind aber mindestens noch die Tiefenkasus „instrumental“ (nämlich das Geld, womit bezahlt wird) und „dative“ (nämlich der Verkäufer des Hauses) relevant, um das Verb zu verstehen. Mit der Bestimmung aller Tiefenkasus, die ein Verb ‚fordert‘, war das Ziel verbunden, einerseits Aufschluss über die lexikalisch-semantische Repräsentation des Verbs zu bekommen. Andererseits sollte eine angestrebte Hierarchisierung der geforderten Tiefenkasus als Hilfsmittel dazu dienen, grundlegende syntaktische Organisationsstrukturen von Sätzen zu ermitteln. Über viele Jahre hinweg wurde die Kasusrahmen-Theorie breit rezipiert und verschiedentlich erweitert. In der Kritik stand sie hinsichtlich zweier offener Fragen: Wann kann man davon ausgehen, dass die Liste möglicher Tiefenkasus exhaustiv erfasst ist? Wie lässt sich eine Hierarchie von Tiefenkasus erstellen und testen? Fillmore (1971c, 1977d) hat zwar versucht, den Kritikpunkten in revidierten Versionen seiner ursprünglichen KasusrahmenTheorie Rechnung zu tragen, doch der prinzipielle Einwand, dass es kein verlässliches Kriterium gebe, um die Tiefenkasus eines Verbs zu bestimmen, konnte kaum entkräftet werden. This failure to provide a well-motivated list of case notions became a central objection to the theory […]. Many writers have pointed out that one can always find both reasons for recognizing ever more refined distinctions and reasons for recognizing highlevel generalization, concluding that there could be no theoretically justified way of coming up with as single linear list. (Fillmore 2003, S. 466)
Rückblickend gab wohl diese Einsicht in die Unlösbarkeit zentraler Probleme den Ausschlag dafür, Grundzüge einer Bedeutungstheorie zu entwickeln, die sich nicht mehr, wie es noch bei Kasusrahmen der Fall war, an der syntaktischen, tiefenstrukturellen Realisierbarkeit von Argumenten orientiert.
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I. Das semantische Interesse an Frames
Von einer „Frame-Semantik“ war erstmals in Fillmore 1975 die Rede. Ohne Kasusrahmen in die Überlegungen einzuziehen,6 rückte die Idee in den Mittelpunkt, dass es Schemata gebe, which link together as a system, which impose structure or coherence on some aspect of human experience, and which may contain elements which are simultaneously parts of other such frameworks (Fillmore 1975, S. 123).
Stand die Kasusrahmen-Theorie wegen ihrer Ausrichtung an der valenzbedingten Tiefenstruktur noch in der Tradition der generativen Semantik, entfernte sich Fillmore mit der Konzeption einer „Frame-Semantik“ zunehmend von dieser (vgl. Fillmore 1976b, S. 22f.; 1982a, S. 112-119). Eine allgemeine Absatzbewegung von generativen Theoremen formierte sich aber erst im Laufe der 80er Jahre, als Fillmore und Linguisten wie George Lakoff, Ronald Langacker und Leonard Talmy gegenläufige kognitive Beschreibungsansätze entwickelten, die unter den Namen „Konstruktionsgrammatik“ und „Kognitive Grammatik“ inzwischen weithin bekannt geworden sind. Doch Fillmores Loslösung vollzog sich nicht bruchartig, sondern schrittweise. Der erste Schritt bestand darin, Kasusrahmen semantisch als sprachliche Mittel zu interpretieren, die abstrakte ‚Szenen‘ oder ‚Situationen‘ charakterisieren, „so that to understand the semantic structure of the verb it was necessary to understand the properties of such schematized scenes“ (Fillmore 1982a, S. 115).7 War Fillmore zunächst überzeugt davon, dass es ausreichen würde, eine „schematisierte Szene“ allein durch die beteiligten Tiefenkasus zu beschreiben, so musste er im Verlauf weiterer Studien feststellen, dass viele verstehensrelevante Wissensaspekte auf diese Weise nicht erfasst werden konnten. Bislang unbeachtete Aspekte betrafen die Bedingungen, die erfüllt sein müssen, um einen sprachlichen Ausdruck verstehen oder angemessen verwenden zu können. Als programmatisch darf in diesem Zusammenhang Fillmores Plädoyer für eine so genannte „U-semantics“8 gelten (Fillmore 1985), die ihren analytischen Fokus auf die zum Verstehen eines Ausdrucks relevanten Daten richtet, ohne schon im Vorhinein (vermeintlich) zu vernachlässigendes nicht-sprachliches Wissen auszuklammern. Fillmore kam zu dem Ergebnis, dass zur Erfassung verstehensrelevanter Daten eine sehr weite Perspektive erforderlich ist, nämlich „a general account of the relation between linguistic texts, the contexts in which they are instanced, and the process and products of their interpretation“ (Fillmore 1985, S. 222). Mit dieser 6 7 8
In einer Fußnote schreibt Fillmore nur lakonisch, dass „Frames“ in der Tradition seiner eigenen Kasustheorie sowie des Frame-Begriffs von Minsky und Goffman stünden (Fillmore 1975, S. 130). Eine detailliertere Diskussion des Zusammenhangs der Konzepte „Tiefenkasus“, „Szene“, „Situation“ und „Frame“ findet sich in Kap. IV.2.3. Das „U“ steht für „understanding“ und wird einer „T-semantics“ gegenübergestellt, womit ein bedeutungsreduktionistisches, an Wahrheitskonditionen orientiertes Modell gemeint ist.
2. Frames in der Forschung
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Erweiterung des Gegenstandsbereiches hat sich Fillmore endgültig von der am Satz orientierten Kasusrahmen-Theorie verabschiedet. Man mag darüber streiten, wie stark Fillmores Entwurf der FrameSemantik durch Arbeiten der „Künstlichen Intelligenz-Forschung“ inspiriert worden ist, insbesondere durch Minskys (1975) Rekurs auf Frames und durch die Skript-Theorie von Schank und Abelson (1977). Fest steht, dass Fillmore genauso wie zahlreiche Künstliche Intelligenz-Forscher wichtige Anregungen der Schema-Theorie Bartletts (1932) zu verdanken hatte. Darüber hinaus darf als gesichert gelten, dass Fillmore bereits 1975 Minskys Ideen rezipiert hat und spätestens ab 1982 die Skript-Theorie von Schank und Abelson kannte (vgl. Fillmore 1975, S. 124; 1982a, S. 137). Die Mitte der 70er Jahre einsetzende verstärkte Beschäftigung mit Frames in der Künstlichen IntelligenzForschung hat jedenfalls für die Entwicklung der Frame-Semantik eine so große Rolle gespielt, dass einige zentrale Ideen es wert sind, kurz referiert zu werden. Neben Minsky und Schank war eine ganze Reihe anderer Forscher (wie Benjamin Kuipers, Eugene Charniak, Patrick Hayes, Terry Winograd) daran interessiert, komplexe kognitive Prozesse wie das Verstehen von Texten auf Computern zu simulieren. Es zeichnete sich schnell ab, dass die Fähigkeit, einen Text zu verstehen, weit mehr Wissen beansprucht, als in der strukturalistisch orientierten Mainstream-Semantik sprachlichen Ausdrücken zugesprochen worden war. Für die praktischen Interessen der Künstlichen Intelligenz-Forschung erwies sich eine Trennung von rein sprachlichem Wissen (also Wissen um sprachinhärente semantische Merkmale) und allgemeinem enzyklopädischem Wissen als hinderlich. Es wuchs die Erkenntnis, dass ohne Berücksichtigung von typischem Alltagswissen, das Menschen während ihrer Sozialisation schrittweise erworben und anzuwenden gelernt haben, jeder Simulationsversuch von Sprachverstehensprozessen fehlschlagen muss. Um aber solches Weltwissen, d.h. Wissen von Situationen, Handlungsabläufen, Ereignissen, Gegenständen usw., auf Maschinen ‚implementieren‘ zu können, war es zunächst nötig, Grundlagenforschung zu betreiben. In diesem Kontext entstand die Frame-Theorie als Modell für menschliche Wissensrepräsentation. Auf die zum Teil sehr elaborierten und technischen Modellvorschläge in Minsky 1975 und Schank/Abelson 1977 soll an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden;9 stattdessen sei Minskys Frame-Begriff vorgestellt, insofern er sich für bedeutungstheoretische Fragen als relevant erweist. Mit Fillmore teilt Minsky ein Verständnis von Frames als standardisierten Formationen von Wissenselementen, die teilweise variabel sind und sich schnell verändern, teilweise aber auch resistenterer Natur sind. Minskys berühmt gewordene Definition lautet: 9
Eine kompakte Zusammenfassung findet sich in Konerding 1993, S. 24-40.
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I. Das semantische Interesse an Frames When one encounters a new situation […] one selects from memory a substantial structure called a Frame. This is a remembered framework to be adapted to fit reality by changing details as necessary. A frame is a data-structure for representing a stereotyped situation, like being in a certain kind of living room, or going to a child’s birthday party. Attached to each frame are several kinds of information. Some of this information is about how to use the frame. Some is about what one can expect to happen next. Some is about what to do if these expectations are not confirmed. (Minsky 1975, S. 212)
Dass der Frame-Begriff Minskys insgesamt recht vage bleibt – z.B. weder der Status noch die Beschaffenheit der Frame-Elemente ausgezeichnet werden und auch unklar bleibt, was eine „Situation“ ist und inwiefern sich ein Frame an diese anpasst –, hat wohl seine Rezeption eher befördert als behindert. Zumindest finden sich in späteren Ansätzen innerhalb der Semantik zahlreiche Charakteristika von Frames wieder, die Minsky bereits herausgestellt hat. So etwa die Netzwerkstruktur, in der nach Minsky jeder Frame eingebettet ist und die jeder Frame selbst bildet, weil seine Elemente (Füllwerte, Standardwerte) ebenfalls den Status von (Sub-)Frames haben. Allgemein anerkannt sind auch der Befund, dass die Elemente eines Frames hinsichtlich ihrer Stabilität und Dynamik variieren können, sowie die grundsätzliche Prämisse, dass Frames einen ganzheitlichen Charakter haben und auf der Basis rekurrenter Erfahrungen entstanden sind (und sich aufgrund neuer Erfahrungen verändern). Obwohl also viele Detailfragen offen bleiben, kann Minskys Beitrag rezeptionsgeschichtlich kaum hoch genug eingeschätzt werden. Minskys Frame-Bestimmungen übernehmen auch Schank und Abelson (1977) in ihrer stärker handlungsorientierten Skript-Theorie. Dieselben Bestimmungen liegen auch Charniaks (1976) Versuch zugrunde, ein System von Frames exemplarisch am Beispiel „Anstreichen“ zu illustrieren. Wurden Untersuchungen zu Frames schnell jenseits der disziplinären Grenzen rezipiert, sind innerhalb der Linguistik seit Fillmores frühen Veröffentlichungen zur Frame-Semantik fast zehn Jahre vergangen, bis sich ein größerer Forschungskreis herausgebildet hat. Einen gewissen Einschnitt markierte der Workshop „Round Table Discussion on Frame/Script Semantics“, den Victor Raskin 1983 im Rahmen des 13. Internationalen Linguistikkongresses in Tokio organisiert hat. Die zwei Jahre später anlässlich des Workshops herausgegebene Aufsatzsammlung (Raskin 1985) dokumentiert, dass Frame-Semantik dabei war, sich als eigenständiger Forschungsbereich zu etablieren, und dass es ein wachsendes Interesse an der Auseinandersetzung mit den angesprochenen Fragen gab. Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre begann eine Phase der allgemeinen Rezeption der Frame-Theorie. Sowohl im englischsprachigen als auch im deutschsprachigen Raum griff eine Reihe von Linguistinnen und Linguisten auf Frames als empirisches Analyseinstrument zurück, wenngleich die Vorzeichen, unter denen dies geschah, in beiden Sprachräumen andere waren. Im
2. Frames in der Forschung
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angloamerikanischen Kontext standen frame-basierte Studien im engen Zusammenhang mit der in Berkeley von Fillmore und anderen entwickelten Konstruktionsgrammatik (Fillmore/Kay/O’Connor 1988; Kay 1997; Kay/Fillmore 1999). Vereinzelt wurden Frames auch mit der Kognitiven Grammatik Ronald Langackers (1987) in Verbindung gebracht, die wesentliche Prämissen mit der Konstruktionsgrammatik teilt.10 In diesem theoretischen Rahmen kamen Frames u.a. in den Bereichen Lexikologie, Lexikographie, Syntax und Pragmatik zum Einsatz. Einige Untersuchungen seien exemplarisch genannt. Lexikologische Erkenntnisinteressen verfolgte Petruck in ihrer Arbeit über sprachliche Konzeptualisierungen von Körperteilen im Hebräischen (Petruck 1986, auch: 1995). Lexikographische Studien führte etwa Fillmore in Zusammenarbeit mit Sue Atkins durch, so zum englischen Lexem risk, dessen Frame durch zwei Sub-Frames, „chance“ und „harm“, charakterisiert wird (Fillmore/Atkins 1992, 1994). Auf der Basis großer Textkorpora ermittelten Fillmore und Atkins u.a. die lexikalisch-syntaktischen Strukturen, in denen risk auftritt. Eine solche korpusbasierte Analyseperspektive von FrameStrukturen wurde in dem groß angelegten „FrameNet“-Projekt an der Universität Berkeley konsequent und systematisch weiterverfolgt (vgl. Baker/Fillmore/Lowe 1998). Inzwischen gibt es eine kaum noch überschaubare Anzahl an Publikationen, die im Rahmen von FrameNet durchgeführt worden sind.11 Syntaktische Analysen standen dagegen in O’Connor 1994 und Goldberg 1995 im Vordergrund. Inzwischen ist Goldbergs konstruktionsgrammatischer Ansatz zur Analyse von Argumentstrukturen sehr einflussreich geworden. Goldberg hat aufgezeigt, dass auch Argumentstrukturen nur relativ zu Hintergrund-Frames verstanden werden können. Schließlich untersuchten einige Fallstudien den konzeptuellen Gehalt sprachlicher Ausdrücke in bestimmten Wissensdomänen. So analysierten aus frame-analytischer Perspektive beispielsweise Botha (1996) Fachausdrücke im Cricket-Sport und Tsohatzidis (1993) ausgewählte Sprechhandlungen. Die genannten Studien sollen die Bandbreite von Frame-Analysen verdeutlichen; viele andere Untersuchungen bleiben hier ungenannt.12 Eine neue Entwicklungstendenz scheint sich in den letzten Jahren abzuzeichnen. Auf der Basis von Gilles Fauconniers (1985) Theorie so genannter „mental spaces“ hat Fauconnier in den späten 90er Jahren in Zusammenarbeit mit Mark Turner eine allgemeine Theorie der konzeptuellen Integration („blending“) entwickelt (vgl. etwa Fauconnier/Turner 1998a, 1999). Auf die 10 11 12
Vgl. hierzu die Ausführungen in Kap. I.3.2 und IV.1.1. Vgl. hierzu das Literaturverzeichnis der offiziellen Website von FrameNet: http://framenet.icsi.berkeley.edu, letzter Zugriff am 14. Mai 2008. Vgl. die, allerdings ebenfalls selektiven, Literaturüberblicke in Fillmore 2006 und Petruck 1996.
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I. Das semantische Interesse an Frames
Beziehung zwischen Frames und „mental spaces“ gehe ich im nächsten Kapitel ein. Hier ist aus forschungsgeschichtlicher Sicht zunächst interessant, dass seit Ende der 90er Jahre zunehmend die Integrierbarkeit von Frames (Fillmore’scher Prägung) in die Theorie der konzeptuellen Integration thematisiert worden ist. So hat Coulson (2001) Frame-Semantik und „mental space“Theorie als komplementäre Ansätze betrachtet, was sie an zahlreichen sprachlichen Phänomenen wie Metaphern, Komposita, skalaren Implikaturen und Konditionalsätzen illustriert hat. Ähnliche Überlegungen finden sich etwa in Fauconnier/Turner 1998b und Sweetser 1999. Im Zusammenhang mit dem Bemühen, Frame-Semantik stärker mit kognitiven Operationen und anderen Repräsentationsformaten (wie „mental spaces“, aber auch „image schemas“, vgl. Watters 1996) in Verbindung zu bringen, muss auch die Dissertation von Baker (1999) gesehen werden. Um die konzeptuelle Struktur des Verbs see zu ermitteln, führte Baker über frame-semantische Analysen hinaus lexikologische Studien und psycholinguistische Experimente durch; ebenso kamen „mental spaces“ zum Einsatz. Eine solche integrative Perspektive ist der deutschsprachigen Literatur fremd, die sich mit Frames beschäftigt. Dies hängt einmal damit zusammen, dass der übergeordnete Zusammenhang der Konstruktionsgrammatik und der Kognitiven Grammatik, in dem Frames in der angloamerikanischen Literatur stehen, bis heute weitgehend ignoriert wird. Bezüge zu verwandten Konzepten, wie dem der „cognitive domains“ Langackers und dem des „mental space“ Fauconniers, sucht man infolgedessen vergebens. Ein weiterer Grund für dieses Rezeptionsdefizit liegt wohl darin, dass die spezifisch deutschen Forschungsbedürfnisse die Beschäftigung mit Frames einseitig gelenkt haben. Für semantische Fragestellungen im engeren Sinne wurden Frames erst sehr spät nutzbar gemacht. Immo Wegner hatte zwar bereits 1979 Frames mit Fragen der lexikalischen Semantik in Zusammenhang gebracht und dabei besonders auf Minsky 1975 und Fillmore 1975 Bezug genommen, doch dieser Aufsatz blieb weitgehend unbeachtet. Einige Jahre später legte Wegner (1984, 1985) zwei weitere Arbeiten vor, in denen Frames vorrangig zu lexikographischen Zwecken zum Einsatz kamen.13 Auch Konerdings (1993) linguistische Grundlegung der Frame-Theorie steht in dieser Tradition. In keiner der erwähnten Arbeiten sind weiterführende Überlegungen aus dem Umfeld der Konstruktionsgrammatik und der Kognitiven Grammatik rezipiert. Gleiches gilt für andere Monographien. Fraas (1996a), Lönneker (2003a) sowie Klein und Meißner (1999) haben sich in ihren korpusgestützten Fallstudien an dem von Konerding entwickelten Operationalisierungsvorschlag 13
Am Rande fanden Frames zu dieser Zeit ebenfalls in van Dijk 1980 (S. 178) und Scherner 1984 (S. 219) Erwähnung. Von Polenz (1985, S. 130ff., S. 156) sprach mit Bezug auf Fillmore 1968 und 1977a von „Bezugsrahmen“ und „Prädikationsrahmen“, vgl. hierzu die kritischen Anmerkungen in Kap. VI.3.1.
2. Frames in der Forschung
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orientiert.14 Forschungsgeschichtlich waren und sind diese Studien äußerst wichtig, da sie exemplifiziert haben, wie linguistische Frame-Analysen zu ganz unterschiedlichen Zwecken eingesetzt werden können; in kognitions- und sprachtheoretischer Hinsicht blieben sie indessen wirkungslos, weil sie über den empirischen Einsatz von Frames hinaus nicht die bedeutungs- und sogar sprachtheoretische Tragweite der einer Frame-Theorie zugrunde liegenden Prämissen deutlich gemacht haben. Was die Einsatzbereiche von Frames angeht, muss man feststellen, dass die Vielseitigkeit im deutschsprachigen Raum nicht hinter der im englischsprachigen zurücksteht. Die Bandbreite reicht von Metaphernanalysen (Klein 2002a) über die erwähnten lexikographischen und lexikologischen Untersuchungen (Wegner 1984, 1985; Konerding 1993) bis hin zu Argumentationsanalysen (Klein 2002b) und historisch-semantischen Einzelfallstudien (Blank 1999; Fraas 1996a). Hinzu kommt Konerdings (1996) Frame-Analyse von Sprechaktverben und die recht frühe, aber kaum beachtete gesprächsanalytische Studie von Müller (1982). Sogar zur Einbindung von Frames in eine Semiotik literarischer Texte sind Vorschläge unterbreitet worden (Müske 1991, 1992). Im Rahmen zunächst textlinguistisch inspirierter Studien thematisiert Busse (etwa in 1991a) Frames schon Anfang der 90er Jahre. In seinen neueren Untersuchungen entwickelt Busse (vgl. 2005a, 2006, 2008a, 2008b) im Anschluss an Fillmore und Minsky Grundzüge einer nichtreduktionistischen Bedeutungstheorie. Da in diesen die traditionelle Trennung zwischen Sprach- und Weltwissen aufgegeben wird, spricht Busse (2003a) von einer „semantischen Epistemologie“, der auch die vorliegende Arbeit verpflichtet ist. In einer frame-basierten semantischen Epistemologie eine neue Entwicklungstendenz zu sehen, wäre aber sicherlich noch verfrüht. Festzuhalten bleibt, dass der auffälligste Unterschied zwischen der deutschsprachigen und angloamerikanischen Frame-Forschung die Voraussetzungen betrifft, unter denen Frames thematisiert werden. Diese ändern sich in deutschsprachigen Untersuchungen von Fall zu Fall, da es kein gemeinsames (methodologisches, kognitions- und/oder sprachtheoretisches) Dach gibt, das die Untersuchungen vereint. Es fehlt die ‚normalisierende‘, aber auch ‚synergetische‘ Kraft eines gemeinsamen Paradigmas (im Sinne Kuhns). So kommt es zu einer Art ‚Parzellierung‘ der Einzelbeiträge. Im angloamerikanischen Kontext folgen Frame-Studien hingegen den Vorgaben einer konzeptualistischen Semantik (konstruktionsgrammatischer oder kognitiv-grammatischer Prägung).
14
Eine knappe Zusammenfassung der Vorgehensweise und Erkenntnisinteressen von Fraas (1996a), Klein und Meißner (1999) sowie einiger anderer empirischer Beiträge wie die von Holly (2001, 2002) und Klein (1999a, 2002a, b) findet sich in Kap. VII.1.1.
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I. Das semantische Interesse an Frames
Die im deutschsprachigen Raum fehlende Rezeption von konzeptualistischen Ansätzen jenseits der Frame-Theorie nehme ich nun zum Anlass, um die wichtigsten Repräsentationsformate zu erläutern. Die Kognitive Grammatik und die Konstruktionsgrammatik werden später in Abschnitt I.3.2 kurz vorgestellt und in Kapitel III ausführlicher thematisiert. 2.2 Frames und andere Repräsentationsformate In der Literatur kursieren verschiedene Bestimmungen von Frames,15 die teils in einem komplementären Verhältnis zu sehen sind, teils aber auch von unterschiedlichen theoretischen Voraussetzungen ausgehen und infolgedessen Aspekte akzentuieren, die für eine linguistische Bedeutungstheorie nicht oder kaum relevant sind. Inzwischen ist in verschiedenen Fachdisziplinen wie der Linguistik, der Soziologie, der Medienwissenschaft und der Künstlichen Intelligenz-Forschung kaum mehr die Literatur zum Thema „Frame“ zu überblicken. Aus den jeweils spezifischen disziplinären Anforderungen ergeben sich oft unterschiedliche Bestimmungen dessen, was Frames sind, was sie leisten und wie sie analytisch eingesetzt werden können (vgl. die Überblicke in Fisher 1997, Konerding 1993, S. 23-63). Mit Ausnahme von Minskys Ansatz gehe ich im Folgenden nur auf linguistische Theoriebildungen näher ein. Um der im letzten Abschnitt festgestellten mangelhaften Rezeption konzeptualistischer Beschreibungsansätze in der germanistischen Linguistik ein Stück weit Rechnung zu tragen, sollen Frames mit anderen, bislang wenig beachteten Repräsentationsformaten verglichen werden. Fillmore begreift Frames – wie bereits erwähnt – als konzeptuelle Strukturen, die sowohl Bedeutungen sprachlicher Ausdrücke zugrunde liegen als auch den Gebrauch sprachlicher Ausdrücke motivieren. In einer bekannten Passage heißt es: By the word ‚frame‘ I have in mind any system of concepts related in such a way that to understand any of them you have to understand the whole structure in which it fits; when one of the things in such a structure is introduced into a text, or into a conversation, all of the others are automatically made available. (Fillmore 1982a, S. 111)
Ein Frame ist somit immer Einheit von Vielheit. Um ein Beispiel Fillmores (1982a, S. 118) aufzugreifen: Ein Wort wie Wochenende zu verstehen, setzt einen Hintergrund-Frame voraus, der Konzepte wie „Woche“, „Tag“, „Samstag“, „Sonntag“, „Arbeit“ und „Freizeit“ umfasst. Nur vor dem Hintergrund, dass eine (zyklisch wiederkehrende) Woche sieben Tage hat, von denen fünf
15
Vgl. etwa Fillmore 1975; Minsky 1975; Charniak 1977, S. 362; van Dijk 1980, S. 233; Beaugrande/Dressler 1981.
2. Frames in der Forschung
23
als Arbeitstage gelten, kann verständlich werden, was das Wort Wochenende bedeutet. Fillmore (1985a, S. 223) betont, dass solche konzeptuellen Strukturen bereits andere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen wie Minsky (1975) beschrieben hätten, dabei allerdings z.T. andere Termini verwendet hätten; so spreche etwa Lakoff (1983) von „cognitive model“ und Langacker (1984) von „base“.16 Lassen sich aber „frames“ (Minsky) „cognitive models“ (Lakoff) und „bases“ (Langacker) ohne weiteres mit Fillmores „frames“ gleichsetzen? Wenn nicht, worin liegen die Unterscheide? Minsky (1975) legt dar, inwiefern Frames Ereignisstrukturen (z.B. die eines Kindergeburtstages) beschreiben, die Funktion eines Verbrennungsmotors erklären sowie die Verarbeitung visuell gegebener Daten (etwa eines Würfels oder eine Raumes) steuern. Nicht weniger zeigt Minsky die Relevanz von Frames bei Sprachverstehensprozessen auf (etwa beim Verstehen von Geschichten und bei der Konzeptualisierung lexikalischen Wissens), und schließlich sollen Frames dem Anspruch nach zur Repräsentation so abstrakter Wissensstrukturen wie Paradigmen im Sinne Kuhns taugen. Nach Minsky ist nicht nur Sprachverstehen, sondern Wahrnehmung überhaupt durch hoch komplexe kognitive Prozesse geleitet, die sich nicht allein auf die perzeptuell zur Verfügung stehenden Daten stützen können. Denn eine solche schmale Datenbasis reicht Minsky zufolge nicht aus, um zu erklären, warum uns das, was wir wahrnehmen, sinnvoll vorkommt und sich in unseren ‚Bewusstseinsstrom‘ scheinbar nahtlos einfügt (Minsky 1988, S. 257). Die empfundene Kohärenz entstehe erst im Rückgriff auf weitere, ‚hinzugedachte‘ Informationseinheiten. Kohärenz wäre demnach das Ergebnis einer erfolgreichen Korrelierung perzeptueller Daten mit diesen ‚hinzugedachten‘ Informationseinheiten. Our idea is that each perceptual experience activates some structure that we’ll call frames – structures we’ve acquired in the course of previous experience. We all remember millions of frames, each representing some stereotyped situation like meeting a certain kind of person, being in a certain kind of room, or attending a certain kind of party. (Minsky 1988, S. 244)
Unter „Frames“ versteht Minsky „a sort of skeleton, somewhat like an application form with many blanks or slots to be filled“ (Minsky 1988, S. 245). Da viele Leerstellen („slots“) eines Frames schon durch Standardannahmen („default assumptions“) spezifiziert sind, gleichen Frames typisierten, im Langzeitgedächtnis abgespeicherten Datenstrukturen, die Verstehensprozesse 16
Fillmore nennt darüber hinaus den Schema-Begriff Bartletts (1932), seinen eigenen Begriff „Szene“ (in Fillmore 1977a), den Gestalt-Begriff von Lakoff und Johnson (1980) und viele andere mehr. Es darf bezweifelt werden, ob Frames im Sinne Fillmores tatsächlich die mit diesen Begriffen beschriebenen konzeptuellen Strukturen umschließen. Zum Verhältnis der Konzepte „Frame“ und „Szene“ vgl. Kap. IV. 2.3.
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I. Das semantische Interesse an Frames
verschiedener Art steuern.17 Während Standardannahmen die Menge durchschnittlich erwartbarer Wissensaspekte repräsentieren – in der Summe also unserem typisierten Wissen über die Welt entsprechen –, sind konkrete Erfahrungsdaten jene Füllelemente der Leerstellen, die nicht vorausgesetzt werden und nicht inferiert werden müssen, da sie perzeptuell ‚gegeben‘ sind. Frames kommen überall dort ins Spiel, wo sich der Übergang von Wahrnehmungsdaten zu Erfahrungseinheiten vollzieht. Minskys These ist nun, dass sich dieser Übergang im Fall der visuellen Wahrnehmung von Gegenständen nicht anders als beim Sprachverstehen vollzieht. Dass Wahrnehmungsdaten Frames aktivieren, heißt in beiden Fällen, dass sie als Bestandteile einer umfassenderen Wissensstruktur begriffen werden, in der „stereotype Situationen“ repräsentiert sind. Minsky macht diesen Befund an einem einfachen Beispiel deutlich. Um verstehen zu können, was das Wort Stuhl bedeutet, ist es nötig, zunächst auf eine Menge an Informationen zuzugreifen, die verschiedene Eigenschaften eines Stuhles so beschreiben, wie wir ihn erwartungsgemäß – und das heißt relativ zu unseren bisherigen Erfahrungen – vorzufinden glauben (Minsky 1988, S. 245). Ein Stuhl hat etwa vier Beine, eine Rückenlehne, eine horizontale Sitzfläche usw. Dabei handelt es sich allerdings um Annahmen, die lediglich einen typischen Stuhl näher bestimmen. Sollten die kontextuell gegebenen Informationen spezifischer sein, können diese Annahmen jederzeit ersetzt werden. (So mag etwa ausdrücklich von einem dreibeinigen Stuhl die Rede sein.) Entscheidend ist an dieser Stelle, dass, analog zum Wort Stuhl, jede sprachliche Einheit semantisch stark unterspezifiziert ist, Verstehen aber erst dann einsetzt, wenn diese Unterspezifikation durch zumindest vorläufig gültige Annahmen aufgehoben wird. Bei der visuellen Wahrnehmung von Gegenständen verhält es sich ähnlich. Hier spielen Frames „with many blanks or slots to be filled“ (Minsky 1988, S. 245) eine nicht minder bedeutende Rolle. Um hinter einem Tisch einen Stuhl zu sehen und ihn als solchen zu identifizieren, reicht es normalerweise aus, seine Rückenlehne wahrzunehmen, die die Tischplatte überragt. Dass der Tisch die Sitzfläche und Beine des Stuhls verdeckt, stellt dabei kein Hindernis dar. Wir stellen uns dann den Tisch gewissermaßen als transparentes Objekt vor. Genauso gut könnte es sich aber bei der Rückenlehne um eine Holzplatte handeln, die an dem Tisch befestigt ist. Doch nichts veranlasst uns zu dieser untypischen Annahme, da wir anderes gewöhnt sind. Was also Minskys Frame-Theorie von der Fillmores abhebt, ist der Anspruch, Frames als allgemeines Format der Wissensrepräsentation auszuwei17
„Default assumptions fill our frames to represent what’s typical. As soon as you hear a word like ‚person‘, ‚frog‘, or ‚chair‘, you assume the details of some ‚typical‘ sort of person, frog, or chair. You do this not only with language, but with vision, too.” (Minsky 1988, S. 245)
2. Frames in der Forschung
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sen. Minsky nutzt Frames insbesondere, um Phänomene der visuellen Wahrnehmung zu erklären.18 Damit liegt nach meiner Kenntnis der bislang einzige elaborierte Versuch vor, Frames in einer allgemeinen Kognitionstheorie zu verankern. Minskys Überlegungen haben programmatischen Charakter, gerade deswegen bleiben jedoch viele Fragen unbeantwortet (vgl. Konerding 1993, S. 25): Welchen Status haben Leerstellen und Standardannahmen in visuellen und sprachlichen Frames? Wie treten sie phänomenal in Erscheinung? Lassen sich Minskys Postulate gedächtnistheoretisch und kognitionspsychologisch stützen? Wie können Frames analytisch eingesetzt werden? Obwohl Minskys Ansatz mehr Fragen aufwirft als beantwortet, ist er Vorbote einer methodischen Neuorientierung in der Kognitionswissenschaft. Frames gelten – im Sinne des holistischen Paradigmas (vgl. Kapitel III) – als modalitätsunspezifische Repräsentationsformate, die eine Trennung von sprachlichem und nicht-sprachlichem Wissen problematisch werden lassen. Anders als in Chomskys modularistischem Sprach- und Kognitionsmodell besteht eine weitere Grundannahme ferner darin, dass es grundlegende und allgemeine kognitive Fähigkeiten sind (wie die zu kategorisieren, zu schematisieren usw.), die für alle Wahrnehmungsmodalitäten gleichermaßen gelten. Frame-Typen perzeptuell psychologisch technisch soziologisch
wissenschaftsgeschichtlich
Beispiele visuell (wie das Bild eines Würfels) visuell-deiktisch (wie Perspektiven beim Eintreten in einen Raum) Gestalten Funktion eines Motors Ereignistypen (wie Geburtstagsfeier, Restaurantbesuch) Gewohnheiten (als Bestandteile sozialer Ereignisse) Paradigmen (im Sinne von Kuhn)
Tab. 1: Frame-Typen in Minsky 1975
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Minsky mit Frames ganz unterschiedliche Phänomenbereiche zu erfassen versucht, die in Tab. 1 zusammengefasst sind. Der Gegenstandsbereich von Fillmores Frame-Theorie beschränkt sich dagegen auf konzeptuelle Strukturen, die sich beim Verstehen sprachlicher Ausdrücke als relevant erweisen. Anders als Minsky begreift Lakoff (1987, S. 68ff.) seine Theorie „idealisierter kognitiver Modelle“19 (kurz „IKM“) ausdrücklich als einen Beitrag zur 18 19
Vgl. Minsky 1975, S. 211-230; 1977, S. 355-364; 1988, S. 244-259. Ich ziehe die inzwischen gängige deutsche Übersetzung dem englischen Terminus „idealized cognitive model“ vor. Lakoffs Theorieentwurf in Lakoff 1987 stellt eine Erweiterung des in Lakoff 1983 dargelegten Ansatzes dar.
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I. Das semantische Interesse an Frames
linguistischen Semantik. Dennoch muss man feststellen, dass IKM keineswegs jenen konzeptuellen Strukturen entsprechen, die Fillmore mit Frames zu erfassen beabsichtigt. Wie Frames sind zwar auch IKM modellhafte Wissenseinheiten, die Realitätsausschnitte nicht widerspiegeln, sondern idealisierte Repräsentationen rekurrenter Erfahrungen darstellen. In diesem Sinne besteht Lakoffs Hauptthese darin, „that we organize our knowledge by means of structures called idealized cognitive models, or ICMs, and that category structures and prototype effects are by-products of that organization” (Lakoff 1987, S. 68). Einige Zeilen weiter heißt es aber: Each ICM is a complex structured whole, a gestalt, which uses four kinds of structuring principles: - propositional structure, as in Fillmore’s frames - image-schematic structure, as in Langacker’s cognitive grammar - metaphoric mappings, as described in Lakoff and Johnson - metonymic mappings, as described by Lakoff and Johnson Each ICM, as used, structures a mental space, as described by Fauconnier. (Lakoff 1987, S. 68)
Mithilfe eines IKM versucht Lakoff offensichtlich, ganz verschiedene Wissensaspekte zu erfassen, deren bedeutungstheoretische Relevanz in unterschiedlichen Beschreibungsansätzen (wie in Fillmore 1982a; Fauconnier 1985; Langacker 1987; Lakoff/Johnson 1980) nachgewiesen worden ist. Ein IKM ist somit ein integratives Modell, das dem Umstand Rechnung zu tragen versucht, dass konzeptuelles Wissen durch verschiedene „Prinzipien“ („structuring principles“) strukturiert sein kann. Frames betreffen dabei nur ein Strukturierungsprinzip neben anderen. Wenn Lakoff Frames die Funktion zuweist, die propositionale Struktur eines IKM zu erfassen, meint er mit „propositionaler Struktur“ die Elemente (konkreten Füllwerte und Standardwerte) eines aktivierten Frames sowie die Beziehung zwischen diesen Frame-Elementen (Lakoff 1987, S. 285). Gerechtfertigt ist eine solche Vereinnahmung von Frames deswegen, weil Frames einen gestalthaften Charakter haben, der sich in propositionale Strukturen gewissermaßen ‚auflösen‘ lässt. Umfasst der Frame „Wochenende“ beispielsweise Konzepte wie „Tage“, „Samstag“ und „Sonntag“, lassen sich Propositionen wie (8) und (9) daraus bilden: (8) (9)
Ein Wochenende umfasst zwei Tage. Ein Wochenende besteht aus den Tagen Samstag und Sonntag.
Wichtig zu sehen ist aber, dass Lakoff (1987, S. 284) neben Frames vier weitere Gliederungsprinzipien propositionaler Strukturen ansetzt: (i) „Szenarien“ und „Skripte“ (womit er sich wohl auf Schank/Abelson 1977 bezieht), (ii) „Merkmalsbündel“, (iii) „Taxonomien“ und (iv) prototypisch organisierte Kategorien („radial category“). In Lakoffs Erläuterung bleibt jedoch völlig unklar, was genau unter „Merkmalsbündeln“ und „Taxonomien“ zu verste-
2. Frames in der Forschung
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hen ist und inwiefern diese integrale Bestandteile von IKM bilden. Umso ausführlicher wird hingegen thematisiert, dass IKM aus prototypisch organisierten Kategorien bestehen und verschiedene Protypizitätseffekte die Kategorienstruktur verändern können (vgl. den Überblick in Evans/Green 2006, S. 270ff.). Vergeblich sucht man allerdings nach einer Erklärung, in welchem Zusammenhang Frames und Prototypen stehen. Überhaupt werden Frames nicht weiter thematisiert, so dass letztlich auch die Frage unbeantwortet bleibt, inwieweit Frames für IKM tatsächlich relevant sind. Dass Frames in Lakoffs Theorie eine eher marginale Rolle spielen, dürfte zusätzlich die Tatsache stützen, dass Frames nicht nur eine von insgesamt fünf Möglichkeiten darstellen, IKM propositional zu strukturieren, sondern Propositionalität selbst nur als ein Strukturierungsprinzip neben anderen gilt. Ein zweites Strukturierungsprinzip stellen so genannte „Bildschemata“ („image-schemas“) dar. Unter Bildschemata versteht Lakoff sehr abstrakte Strukturen (wie z.B. das BEHÄLTER-Schema), die sich erfahrungsabhängig herausbilden und konzeptuellen Strukturen zugrunde liegen (so motiviert das BEHÄLTER-Schemata die Interpretation von Präpositionen wie in oder auf).20 Zwei weitere Strukturierungsprinzipien betreffen Beziehungen, die konzeptuelle Strukturen miteinander verbinden. So können propositionale oder bildschematische Strukturen auf andere Erfahrungsbereiche metaphorisch übertragen werden, etwa wenn seelische oder körperliche Zustände als Behälter konzeptualisiert werden (wie in Rage sein oder in Ohnmacht fallen). Von metaphorischen Beziehungen unterscheidet Lakoff metonymische. Eine solche liegt vor, wenn ein Teil für ein Ganzes steht, wenn etwa eine Mutter als Hausfrau stereotypisiert wird und dieser Stereotyp für die gesamte Kategorie „Mutter“ steht. Schließlich nennt Lakoff „symbolische“ Strukturen. Im letzten Zitat sind diese nicht erwähnt, an einer anderen Stelle hebt Lakoff (1987, S. 289) jedoch hervor, dass immer dann, wenn mit einem sprachlichen Ausdruck konventionell „konzeptuelle Elemente“ verbunden werden, das symbolische Strukturierungsprinzip eine Rolle spielt. Evans und Green (2006, S. 281) sehen interessanterweise Frames als Ordnungsstrukturen dieser konzeptuellen Elemente an, obgleich nach Lakoff Frames die propositionale Struktur von IKM bestimmen. Offensichtlich herrscht hinsichtlich der Funktionsbestimmung von Frames in IKM kein Konsens, wohl auch deswegen, weil Lakoffs diesbezügliche Erläuterungen sehr vage bleiben. Ein Vergleich zwischen 20
Vgl. auch Kap. II.1. Bildschemata sind nach Lakoff das wichtigste Strukturierungsprinzip von IKM. Die Rolle von Bildschemata erläutert Lakoff (1987, S. 284) folgendermaßen: „ICMs are typically quite complex structures, defined by image schemas of all the sorts […]. Some symbols in an ICM may be directly meaningful: the basic-level and image-schematic concepts. Other symbols are understood indirectly via their relationship to directly understood concepts. Such relationships are defined by the image schemas that structure the ICMs.“ Vgl. auch Lakoff 1987, S. 81.
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I. Das semantische Interesse an Frames
„propositionalen“ mit „symbolischen Strukturen“ legt die Vermutung nahe, dass beide gar nicht zu trennen sind, da beide inhärente Eigenschaften von sprachlichen Zeichen beschreiben. So beziehen sich propositionale Strukturen offenbar auf syntagmatische Beziehungen zwischen Zeichen, symbolische Strukturen hingegen auf paradigmatische Beziehungen. Ob Lakoff diesen Bestimmungen zustimmen würde, muss indes offen bleiben; Lakoff selbst bietet jedenfalls keine alternative Erklärung an. IKM-Typen bildschematisch propositional
metaphorisch metonymisch symbolisch
Art der Strukturierung/Beispiele z.B. BEHÄLTER propositionale IKM (Fillmores „frames“, Fauconniers „mental spaces“) Szenarien, Skripte Merkmalsbündel Taxonomien prototypisch organisierte Kategorien Projektionen (von einer Quelldomäne zu einer Zieldomäne) v.a. Teil-Ganzes-Beziehungen Frames (nach Evans/Green 2006, S. 281)
Tab. 2: IKM-Typen und deren Ausprägungen nach Lakoff (vgl. 1987, S. 284)
Die Ergebnisse der letzten Ausführungen sind in Tab. 2 zusammengetragen. Insgesamt bleibt unklar, inwiefern Frames IKM strukturieren, in welchem Verhältnis Frames zu anderen Strukturierungsprinzipien stehen und ob Frames tatsächlich, wie Lakoff suggeriert, alternative Konzepte zu „mental spaces“, „Szenarien“ und „Skripten“ darstellen. Zielt Lakoffs Entwurf von IKM ähnlich wie Minskys Frame-Theorie darauf ab, linguistische Frames (im Sinne Fillmores) in ein übergeordnetes Modell zu integrieren, scheint dabei der Einbezug vieler Theorien und Konzepte zusätzlich zu terminologischen Verwirrungen zu führen. Was sind „Merkmalsbündel“? Betreffen „Taxonomien“ nicht gerade die prototypische Organisation von Kategorien? Wodurch unterscheiden sich „Szenarien“ und „Skripte“?21 Taylor ist zuzustimmen, wenn er generell feststellt: The terminology in this area is confusing, partly because different terms may be used by different authors to refer to what seems to be the same construct, or the same term may be used to refer to very different constructs. Furthermore, it is not at all clear that it is possible to make clean conceptual distinctions in this area. Nevertheless, I found the term ‚frame‘ to be a useful theoretical term, denoting the knowledge network linking multiple domains associated with a given linguistic form. We can re-
21
An einer Stelle (Lakoff 1987, S. 284) deutet Lakoff an, dass die Begriffe „Szenario“ und „Skript“ gleichbedeutend seien. Sanford und Garrod (1981), die die beiden Begriffe als Termini technici eingeführt haben, unterscheiden zwischen beiden jedoch sehr wohl.
2. Frames in der Forschung
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serve the term ‚script‘ for the temporal sequencing and causal relations which link events and states within certain action frames. (Taylor 2003, S. 89)
Über die von Taylor thematisierte enge Beziehung zwischen Frames und „Skripten“ hinaus sollen abschließend „mental spaces“ und „cognitive domains“ mit Frames verglichen werden. Der Begriff „domain“ ist ein Terminus technicus der „Kognitiven Grammatik“ Langackers (1987).22 In Langackers Bedeutungstheorie kommt „kognitiven Domänen“23 dieselbe zentrale Rolle zu wie Frames in Fillmores Theorie. Dabei gehen beide, Langacker und Fillmore, von der Voraussetzung aus, dass sprachliche Bedeutungen rein konzeptuelle Strukturen sind und dass sich sprachliche Bedeutungen generell nur vor dem Hintergrund übergeordneter Wissensstrukturen erfassen lassen. Solche verstehensrelevanten Wissensstrukturen nennt Langacker „kognitive Domänen“. Domänen sind konzeptuelle Einheiten von variierendem Abstraktionsgrad. Sie stellen Hintergrundinformationen bereit, um einen sprachlichen Ausdruck verstehen zu können. Ohne Bezug auf Domänen lässt sich keine sprachliche Bedeutung – auch nicht rudimentär – erfassen. [S]emantic units are characterized relative to cognitive domains, […] any concept or knowledge system can function as a domain for this purpose. Included as possible domains, consequently, are the conception of social relationship, of the speech situation, of the existence of various dialects, and so on. (Langacker 1987, S. 63; kursive Hervorhebung im Original in Fettdruck)
In dieser Hinsicht unterscheiden sich Domänen nicht von Frames. Nach Fillmore (1985) sind es analog kontextuelle und kotextuelle Daten, aber auch allgemeines Hintergrundwissen und außersprachliche Faktoren, die das Verstehen eines Ausdrucks motivieren. Das Frame- und Domänen-Konzept erweisen sich also diesbezüglich als äquivalent. Die Bedeutung des Ausdrucks Daumen kann beispielsweise nur relativ zur Domäne bzw. zum Frame „Hand“ (und der Ausdruck Hand wiederum nur relativ zur Domäne bzw. zum Frame „Arm“ usw.) verstanden werden. Domänen unterscheiden sich indes von Frames in zweierlei Hinsicht. Zum einen betont Langacker stärker als Fillmore, dass jedes Konzept stets hinsichtlich mehrerer Domänen spezifiziert ist. Daraus ergibt sich eine so genannte „domain matrix“ (vgl. Clausner/Croft 1999, S. 7). So ist das Kon22
23
Langacker differenziert zwischen zwei Typen von „domains“: „abstract“ und „basic domains“. Im Folgenden werden nur erstere diskutiert. „Basic domains“ sind sehr abstrakte konzeptuelle Einheiten, die sich nicht auf andere konzeptuelle Einheiten zurückführen lassen. Als Beispiele führt Langacker (vgl. 1987, S. 147-152) „Zeit“, „Raum“, „Temperatur“, „Schmerz“ und andere mehr an. Matrixframes, die ich in Anlehnung an Konerding 1993 in Kap. VI.3.2 vorstelle, sind in dieser Hinsicht das frame-semantische Pendant zu „basic domains“. Ich ziehe im Folgenden die deutsche Übersetzung „kognitive Domäne“ vor. Den Begriff „mental space“ übersetze ich dagegen nicht, da mir die deutsche Übersetzung „mentaler Raum“ irreführend zu sein scheint.
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I. Das semantische Interesse an Frames
zept „Mensch“ beispielsweise relativ zu einer Vielzahl sehr unterschiedlicher Domänen bestimmt, wie etwa der Domäne „Fähigkeiten“, „Größe“, „körperliche Beschaffenheit“ usw. Zum anderen interessiert sich Langacker stärker für die Struktur und die Organisation unseres konzeptuellen Systems; ihm geht es, zumindest Evans und Green (2006, S. 231) zufolge, um eine „konzeptuelle Ontologie“. Fillmore bezieht in seinen Analysen dagegen verstärkt grammatische Strukturen (so genannte „Konstruktionen“) ein. Behaupten Evans und Green (2006, S. 231) weiterhin, dass Fillmore weniger als Langacker die hierarchische Organisation des konzeptuellen Systems berücksichtige, haben m.E. weder Langacker noch Fillmore diesem Aspekt genügend Aufmerksamkeit geschenkt. Langacker (1987, S. 68, 147ff.; 1991a, S. 61-64) hebt bisweilen zwar hervor, dass jede Domäne mindestens eine hierarchiehöhere Domäne voraussetzt. So ergeben sich konzeptuelle Hierarchien wie (10), wobei der Pfeil zu lesen ist als „setzt voraus“: (10) „(Finger-)Knöchel“ Ⱥ „Finger“ Ⱥ „Hand“ Ⱥ „Arm“ Ⱥ „Körper“24 Doch wozu konzeptuelle Hierarchien gebraucht werden können und durch welches empirische Verfahren sie erstellt werden, darüber gibt Langacker keine Auskunft. Schon früher als Langacker hat Fillmore die bedeutungstheoretische Relevanz konzeptueller Hierarchien – bzw. „Taxonomien“, wie er sie nennt – erkannt (vgl. Fillmore 1982a, S. 132); genutzt hat er sie für framesemantische Analysezwecke jedoch ebenso wenig.25 Strukturell stimmen Frames mit Domänen darin überein, dass beide Vordergrund- und Hintergrund-Dimension aufweisen. Diese auf die Gestaltpsychologie zurückgehende Unterscheidung (vgl. Metzger 1923) illustriert Langacker (1984) am Beispiel Hypothenuse. Das Begriffspaar Vordergrund/Hintergrund (bzw. Figur/Grund) spiegelt sich in Langackers Gegenüberstellung von einer semantischen „Basis“ („base“) und eines semantischen „Profils“ („profil“). Die Bedeutung des Wortes Hypothenuse kann man nur dann erfassen, wenn man weiß, was ein Dreieck und ein rechter Winkel sind (vgl. Langacker 1988b, S. 59). Bilden diese beiden Wissensdomänen die „Basis“, profiliert der Ausdruck Hypothenuse einen Ausschnitt der Wissensdomäne „rechtwinkliges Dreieck“: Er bezieht sich auf die Strecke, die dem rechten Winkel gegenüberliegt. Wenn Fillmore (1985, S. 228) das Beispiel Hypothenuse aufgreift, akzentuiert er zwar weniger die Figur/Grund-Unterscheidung als vielmehr kulturspezifisches Hintergrundwissen, das beim Verstehen einfließt. 24 25
Die Domäne „Körper“ setzt ihrerseits die „basic domain“ (siehe oben) „Raum“ voraus. In Kap. VI.3 wird sich zeigen, dass konzeptuelle Hierarchien gerade für eine Frame-Semantik unerlässlich sind.
2. Frames in der Forschung
31
Dennoch unterstreicht Fillmore, dass aktivierte Frames Wissen perspektivieren. Sometimes the perspective which a word assigns is not a perspective on the current scene – something that might be visible in a pictorial representation of the scene – but is that of a much larger framework. Thus, the description of someone as a HERETIC presupposes an established religion, or a religious community which has a welldefined notion of doctrinial correctness. (Fillmore 1982a, S. 123)
Ganz im Sinne von Langackers Profil/Basis-Unterscheidung profiliert der Ausdruck heretic die Eigenschaft einer Person vor dem Hintergrund des Wissens um eine etablierte Religion oder eine etablierte religiöse Gemeinschaft. Als „Basen“ spielen also mindestens die Domänen (oder Frames) „Person“ und „Religion“ eine Rolle. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Langackers Konzept der kognitiven Domäne in vielen wesentlichen Punkten mit Fillmores FrameKonzept kompatibel ist und dass zwischen beiden sogar einige Äquivalenzen auszumachen sind. Unterschiede leiten sich insbesondere aus dem übergeordneten theoretischen Rahmen ab, in dem Frames bzw. Domänen thematisiert werden. Domänen sind fest in Langackers „Kognitiver Grammatik“ verankert, während Frames fester Bestandteil von Fillmores „Konstruktionsgrammatik“ sind. Angesichts der festgestellten Ähnlichkeit von Domänen und Frames verwundert es jedoch, dass Langacker Domänen mit Lakoffs IKM gleichsetzt: An abstract domain is essentially equivalent to what Lakoff […] terms an ICM (for idealized cognitive model) and what others have variously called a frame, scene, schema, or even script (at least in some uses). (Langacker 1987, S. 150; kursive Hervorhebung im Original in Fettdruck)
Nach den vorangegangen Analysen dürfte evident sein, dass solche Gleichsetzungen kaum zu rechtfertigen sind. Ähneln sich Frames und Domänen in vielerlei Hinsicht, bestehen dagegen erhebliche Unterschiede zwischen Domänen und IKM sowie zwischen Frames und IKM. Abschließend soll Fauconniers Theorie von „mental spaces“ vorgestellt werden. Wie „mental spaces“ mit Frames und IKM in Beziehung zu setzen sind, scheint nicht klar zu sein. So behauptet Lakoff (1987, S. 68) en passant, dass „mental spaces“ von IKM strukturiert werden. Fauconnier und Turner (1998a, S. 137) betrachten Frames dagegen als Strukturierungsprinzipien von „mental spaces“. Im verbleibenden Teil des Abschnitts soll die Frage im Mittelpunkt stehen, inwiefern Frames und „mental spaces“ als komplementäre Ansätze gelten dürfen. Was sind „mental spaces“? Fauconnier, der als Hauptvertreter der Theorie von „mental spaces“ gelten darf, hat 1985 den Begriff „mental space“ eingeführt, um stärker als andere Ansätze den kognitiven Prozess der Bedeutungskonstruktion zu berücksichtigen. Auf diesen Überlegungen aufbauend
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I. Das semantische Interesse an Frames
hat Fauconnier in Zusammenarbeit mit Turner inzwischen eine allgemeine Theorie der konzeptuellen Integration („blending“) entwickelt (Fauconnier/Turner 1998a, 2002). „Mental spaces“ sind „partial structures that proliferate when we think and talk, allowing a fine-grained partitioning of our discourse and knowledge structures“ (Fauconnier 1997, S. 11). Von Domänen und Frames unterscheiden sich somit „mental spaces“ darin, dass sie erst während des Verstehensaktes entstehen. „Mental spaces“ greifen zwar auf Daten im Langzeitgedächtnis zurück, verändern sich aber während eines Gespräches oder einer Textlektüre fortwährend. Während also für „mental spaces“ kognitive Operationen elementar sind, die am Aufbau neuer konzeptueller Einheiten beteiligt sind, betreffen kognitive Domänen und Frames konzeptuelle Strukturen, auf die beim Aufbau zurückgegriffen wird. Es liegt nun nahe, Frames im Sinne von Sweetser als Strukturen von „mental spaces“ zu begreifen: Mental spaces have internal structure which includes frame […] structure; one could view Fillmore’s […] frame as a rather schematic (partially-filled) and conventional mental space, or as a possible internal structural component of more filled-out mental spaces. (Sweetser 1999, S. 135)
Machen Frames relativ stabiles Hintergrundwissen kognitiv verfügbar, enthält ein „mental space“ darüber hinaus sehr detailreiche, im Akt des Verstehens relevante Informationseinheiten. Fauconnier zufolge sind Bedeutungskonstruktionen durch zwei Prozesse geleitet: durch den Aufbau von „mental spaces“ einerseits und der Korrelation ausgewählter Elemente der aufgebauten „mental spaces“ andererseits. Den Prozess der Korrelierung von Elementen nennt Fauconnier „Projektion“ oder „Übertragung“ („mapping“). Erst der Einbezug von Projektionen erlaubt es, eine Vielzahl sprachlicher Phänomene (wie Metaphern, Metonymien, kontrafaktische Bezugnahmen, Wissensmodi) zu erklären. Zur Veranschaulichung soll Beispiel (11) dienen: (11) Wenn Peter Hans wäre, wäre Peter reich. Peter und Hans sind in Beispiel (11) die beiden sprachlichen Elemente, die jeweils den Aufbau eines „mental space“ veranlassen. Bei kontrafaktischen Bezügen des vorliegenden Typs werden konzeptuelle Wissenselemente aus beiden „mental spaces“ miteinander korreliert. Durch die Korrelation einzelner Elementen der beiden „mental spaces“ lässt sich eine Fülle von möglicherweise verstehensrelevanten Propositionen ableiten. In Anlehnung an die Notationsform von Fauconnier/Turner (1998b) sind in Abb. 1 zwei Projektionen durch gestrichelte Linien dargestellt.
33
2. Frames in der Forschung
„mental space“ I : Peter
„mental space“ II : Hans
d1
d1
•
•
• • • •b a • 1
• • •a •c
1
2
1
•a •b
1‘
1‘
•
a2‘
•c
1‘
„mental space“ III: Peter als Hans Abb. 1: Konzeptuelle Integration am Beispiel Wenn Peter Hans wäre, wäre Peter reich
„Mental space“ III ermöglicht die kontrafaktische Annahme, dass Peter mit Hans die Eigenschaft des Reichseins teilt. Die konzeptuelle Eigenschaft des Reichseins-von-Hans (in Abb. 1 „a2“) wird aus dem „mental space“ II in „mental space“ III projiziert. Aus dem „mental space“ I wird die konzeptuelle Eigenschaft des Nicht-Reichseins-von-Peter (in Abb. 1 „a1“) ebenfalls in „mental space“ III projiziert und dort durch a2 ersetzt.26 Aus dem aufgebauten „mental space“ III ergeben sich nun zahlreiche Korrelierungsmöglichkeiten von Wissenselementen, so etwa die, dass Peter dann wie Hans eine Villa besäße und täglich Golf spielen würde (in Abb. 1 „c1“), aber auch solche, die – wie b1 – nicht „mental space“ II zugehören.27 So könnte es etwa heißen Wenn Peter Hans wäre, wäre Peter reich und hätte vier Kinder, obwohl Hans in Wirklichkeit kinderlos ist. Das Konzept „Reichsein“ wäre in diesem Fall Aus26
27
Um deutlich zu machen, dass die in „mental space“ III projizierten Elemente derselben Leerstelle in „mental space“ I und II angehören (hier etwa: „finanzieller Status“), aber unterschiedlich spezifiziert sind (hier: „reich sein“ vs. „nicht reich sein“), verbinden Fauconnier und Turner diese Elemente in der graphischen Veranschaulichung mit einer durchgezogenen Linie (hier also zwischen a1 und a2); diese fehlen in Abb. 1. Außerdem fehlt ein übergeordneter, so genannter „generic space“, der gemeinsame Wissensaspekte der beiden Inputs enthält. Diese Einsicht ist ein Verdienst der „blending theory“ und in Fauconnier 1985 noch nicht expliziert. Jeder so genannte „blended space“ enthält neue, emergente Elemente, die keinem der beteiligten Inputs inhärent sind. Wie Fauconnier und Turner (2002) eindrücklich demonstrieren, gilt das auch für eine Vielzahl von Metaphern; vgl. auch Kap. VII.1.2.
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I. Das semantische Interesse an Frames
gangspunkt weiterer Inferenzen, die zwar dem „mental space“ III angehören, nicht aber mit Elementen aus dem „mental space“ II korreliert sind. Hier könnte zum Ausdruck kommen, dass Kinder viel Geld kosten und Peter sich deshalb keine vier Kinder „leisten“ kann, obwohl er gerne welche hätte, wenn er reich wäre. Schließlich gibt es konzeptuelle Elemente, die sowohl im „mental space“ I als auch im „mental space“ II enthalten sind und in beiden identisch sind. So mögen beide, Hans und Peter, eine Harley Davidson besitzen (in Abb. 1 dargestellt durch „d1“). Dieses Element d1 wird deshalb nicht in „mental space“ III projiziert, weil der Satz Wenn Peter Hans wäre, wäre Peter reich und besäße eine Harley Davidson keine neuen Erkenntnisse enthielte. Peter besitzt ja schon eine Harley Davidson, und es würde sich nichts ändern, wenn er so reich wäre wie Hans. Anders als Fauconnier und Turner (1998b, 2002) führt Fillmore (1975, 1977a) den Frame-Begriff nicht ein, um den Status sprachlich ausgedrückten Wissens (Glauben, Wünsche, hypothetische und kontrafaktische Annahmen) auszuzeichnen. Ihm kommt es vielmehr darauf an, dass auch Ausdrücke, deren Referenzbereich weniger komplex zu sein scheint (wie Wochenende, schreiben, Gift, rechts, vgl. Fillmore 1977a, 1982a), nur im Rahmen eines schematisierten Wissenszusammenhangs verständlich sind. Insofern Frames Hintergrundwissen strukturieren, das auch in „mental spaces“ eingeht, sind beide Ansätze als komplementär anzusehen (vgl. Coulson 2001). In dem angeführten Beispiel (11) betreffen Frames relevantes Hintergrundwissen über Peter und Hans. Die Frame-Theorie und die Theorie von „mental spaces“ gehen außerdem von denselben kognitionstheoretischen Voraussetzungen aus. Beide betonen den Konstruktionscharakter von konzeptuellen Integrationsprozessen, und für beide sind sprachliche Bedeutungen rein konzeptuelle Einheiten. Der Unterschied liegt in der Schwerpunktsetzung. Während Fillmores FrameTheorie stärker den konzeptuellen Gehalt fokussiert, tragen „mental spaces“ den beteiligten kognitiven Operationen Rechnung, die den Aufbau konzeptueller Strukturen leiten.28 Insgesamt bleibt festzuhalten: Ist Fillmores Frame-Ansatz sowohl mit Langackers Theorie „kognitiver Domänen“ als auch mit „mental spaces“ weitgehend kompatibel, trifft dies nicht im gleichen Maße auf Minskys Frame-Ansatz und Lakoffs IKM zu. Diesen letztgenannten Ansätzen mangelt es an theoretischer Reflexion über die (Möglichkeit der) Kompatibilität der vielen verschiedenen Beschreibungsmodelle, auf die Bezug genommen wird. Offen bleibt ebenso, wie die angesprochenen Phänomenbereiche (vgl. Tab. 1 28
Dies sind vor allem „mapping“, „blending“, „compression“, vgl. Fauconnier/Turner 1999, 2000, 2002.
3. Frames im kognitionswissenschaftlichen Kontext
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und 2) mit dem vorgeschlagenen Frame- bzw. IKM-Konzept untersucht werden sollen. Dennoch scheint es mir – wie von Minsky und Lakoff angestrebt – wichtig zu versuchen, verschiedene kognitive Phänomene im Rahmen eines einheitlichen Modells zu erklären. Ein derartiges Modell könnte entweder, wie Lakoff vorschlägt, verschiedene Repräsentationsformate (wie „Skripts“, „Szenarien“, „Frames“, „Domänen“, „mental spaces“ usw.) vereinheitlichen oder aber, im Sinne von Minskys Frames, ein allgemeines Format bereitstellen, das verschiedene Phänomenbereiche zu erfassen erlaubt. Von der Erstellung eines integrativ-holistischen Modells ist die derzeitige Forschung aber noch weit entfernt.
3. Frames im kognitionswissenschaftlichen Kontext Ging es in den letzten beiden Abschnitten um Frames im engeren Sinne, soll nun der Blick auf den übergeordneten, kognitionswissenschaftlichen Forschungszusammenhang gerichtet werden. Im Hinblick auf frame-relevante Fragestellungen wird im nächsten Abschnitt zunächst der Gegenstandsbereich der Kognitionswissenschaft erläutert. In der Linguistik lassen sich verschiedene kognitionstheoretische Positionen unterscheiden, die entweder durch eine holistische oder durch eine modularistische Sprachauffassung motiviert sind. Diese Positionen sollen in Abschnitt 3.2 vorgestellt werden. Dass in der deutschsprachigen Forschungsliteratur keineswegs Klarheit darüber herrscht, in welchem Kognitionsmodell Frames verankert sind, thematisiert schließlich Abschnitt 3.3. 3.1 Kognition, Repräsentation, Kategorisierung: zum Gegenstandsbereich Obgleich der menschliche Geist schon seit der Antike Gegenstand der Forschung ist, kognitive Prozesse wie Wahrnehmen, Denken und Sprechen also seit über 2000 Jahren thematisiert und erforscht werden, hat sich die Kognitionswissenschaft im engeren Sinne erst in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts allmählich herausgebildet. Zu dieser Zeit wandten sich zunehmend Forscherinnen und Forscher, zunächst der Psychologie, vom vorherrschenden behavioristischen Paradigma ab (vgl. Neisser 1967). Nur ein radikaler Bruch mit dem vorherrschenden positivistischen Wissenschaftsverständnis des Behaviorismus und mit dem daraus resultierenden Verständnis des menschlichen Geistes als unergründbare Blackbox konnte den Blick für spezifische Leistungen des menschlichen Geistes wieder öffnen. Vollzog sich die so genannte „kognitive Wende“ zunächst innerhalb der Psychologie, so
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I. Das semantische Interesse an Frames
wuchs auch in benachbarten Disziplinen wie der Künstlichen IntelligenzForschung, der Linguistik und Philosophie rasch das interdisziplinäre Interesse an mentalen Prozessen wie dem Speichern, Verarbeiten und Anwenden von Informationen. Als Vorläufer und Wegbereiter der kognitiven Linguistik gilt gemeinhin Chomskys frühe Kritik am Behaviorismus. Chomsky fordert eine explikative Sprachwissenschaft, die die geistig-mentalen Grundlagen der menschlichen Sprachfähigkeit zu untersuchen habe (Chomsky 1965, 1975). Unabhängig davon wiesen zeitgleich aber ebenso andere Linguistinnen und Linguisten auf den kognitiven Charakter von Sprache hin (vgl. etwa Bransford/Barclay/Franks 1972; Hörmann 1994).29 Seit Mitte der 70er Jahre hat sich das kognitive Forschungsparadigma über die disziplinären Grenzen der Psychologie und Künstlichen IntelligenzForschung hinaus ebenso in anderen Fachbereichen etabliert. Auch die Linguistik begann in den Folgejahren, ihre Forschung nach diesen neuen Vorgaben auszurichten. Kognition bezeichnet dabei die Menge aller Prozesse der Erkenntnis bzw. der Erfahrungs- und Informationsverarbeitung, und zwar unabhängig davon, ob diese durch spezifisch sprachliche oder andere Daten motiviert sind. Die menschliche Denk- und Sprachfähigkeit sowie Bereiche der traditionellen Gedächtnispsychologie sind mit diesem weiten Verständnis von Kognition gleichermaßen angesprochen. Im weitesten Sinn umfasst der kognitionswissenschaftliche Gegenstandsbereich all jene mentalen Strukturen und Prozesse, die zur Formation menschlichen Wissens beitragen, ohne zugleich auf die philosophischerkenntnistheoretische Unterscheidung wahr/falsch zu rekurrieren. In den kognitivistischen Ansätzen wird die menschliche Kognition als ein System mentaler Strukturen und Prozesse angesehen und im Rahmen von Modellen beschrieben, welche die Komplexität mentaler Aktivitäten berücksichtigen. […] Kognitivistischen Erklärungsmodellen liegt die Annahme zugrunde, daß kognitive Prozesse zielgerichtete Aktivitäten darstellen, die sich nicht einfach kausal aufgrund assoziativer Mechanismen beschreiben lassen. Kognitive Einheiten und Prozesse sind als Teile komplexer Zusammenhänge aufzufassen und lassen sich nicht auf isolierte, unstrukturierte Komponenten reduzieren. (Schwarz 1992b, S. 12)
Kognitive Prozesse sind keineswegs opaker Natur und infolgedessen empirisch unergründbar; sie formen vielmehr komplexe Strukturgebilde, denen eine eigene, psychologisch beschreibbare Realität zukommt. Neben der psychologischen Plausibilität gelten daher theoretische Konsistenz und empirische Erklärungsadäquatheit als maßgebliche Kriterien kognitionswissenschaftlichen Vorgehens. Zwar zeigte sich die kognitive Linguistik von Anfang an interessiert an neurophysiologischen Grundlagen sprachlicher Fähigkeiten; 29
Eine umfassende wissenschaftsgeschichtliche Darstellung, v.a. der interdisziplinären Entwicklung kognitionswissenschaftlicher Forschungen, findet sich in Gardner 1989.
3. Frames im kognitionswissenschaftlichen Kontext
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wichtig bleibt indes der methodische Ausgangspunkt, dass kognitive Wissensrepräsentationen prinzipiell auch unabhängig von ihren neurophysiologischen Voraussetzungen untersucht werden können. Sprachuntersuchungen können sich so die probaten, empirisch gestützten Methoden der experimentellen Psychologie zunutze machen (vgl. Danks/Glucksberg 1980). Mit der empirischen Ausrichtung trägt die kognitive Linguistik ihrer erkenntnistheoretischen Grundüberzeugung Rechnung, dass Wissensrepräsentationen jeglicher Art keine „Spiegel der Natur“ sind, um eine Metapher des Philosophen Richard Rorty (1987) aufzugreifen. Dies galt lange, etwa im Empirismus des 18. Jahrhunderts, als implizite erkenntnistheoretische Prämisse.30 Unser konzeptuelles Wissen setzt sich zwar maßgeblich aus Erfahrungsdaten zusammen, diese sind uns kognitiv aber nicht als isolierte Einheiten gegeben, sondern treten stets als in umfassenderen Wissenseinheiten (semantischen Netzen, kognitiven Modellen, Schemata, Domänen, Frames usw.) eingebettete Elemente auf und unterliegen beim Aufbau solcher repräsentationaler Wissensstrukturen spezifischen kognitiven Operationen, mit deren Hilfe sie mental verarbeitet werden. Das Wissen, das Lebewesen mit Hilfe ihrer Kognition aufbauen, wird in Form von mentalen Repräsentationen realisiert […]. Solche mentalen Repräsentationen sind kognitive Modelle der Objekte und Ereignisse, auf die sie sich beziehen. Kognitive Modelle haben für die Bewältigung komplexer Gegenstände eine wichtige Funktion, da sie diese auf ihre wesentlichen Eigenschaften reduzieren. (Rickheit/Strohner 1993, S. 15)
Kognitive Modelle bilden nicht Objekte oder Ereignisse außerhalb unseres Bewusstseins ab, sondern sind Abstraktionsprodukte, die allein aufgrund unserer kognitiv-konstruktiven Eigenleistungen zustande kommen. Sie sind repräsentationale Größen, da sie nicht außerhalb unseres Bewusstseins existieren. Die Funktion von kognitiven Repräsentationen ist deshalb kaum zu überschätzen, weil ohne Repräsentationen keine Informationsverarbeitung möglich wäre. It [a conceptual representation, AZ] stands at the centre of the information processing flow, with input from perceptual modules of differing kinds, and is centrally involved in memory, speech, planning, decision-making, actions, inductive inferences and much more besides. (Hampton/Moss 2003, S. 505)
Um spezifisch sprachliche Repräsentationen handelt es sich dann, wenn der perzeptuelle Input sprachlicher Art ist. Solche Repräsentationen sind individuell, sofern sie mentale Entitäten bilden, und interindividuell, sofern die Art der Modellierung selbst das Ergebnis einer kommunikativen Praxis ist (Har30
Vgl. hierzu den Überblick in Sinha 1999; zur philosophischen Debatte vgl. Putnam 1988, Rorty 1987. Der Philosoph Wilfrid Sellars (1999) spricht in diesem Zusammenhang vom „Mythos des Gegebenen“. Sinnesdaten seien nicht einfach gegeben, also keine „Spiegel der Natur“, sondern immer schon eingelassen in ein Netz epistemischer Überzeugungen, d.h. mehr oder weniger gestützter Annahmen über die Welt.
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I. Das semantische Interesse an Frames
ras/Herrmann/Grabowski 1996, S. 13). Dass kognitive Repräsentationen keineswegs unabhängig von vorgängigen sozialen Erfahrungen sind, in denen sie entstanden sind und durch die sie sich fortwährend modifizieren, wird noch für Frames – insbesondere im Zusammenhang mit Standardwerten – von Interesse werden. Kognitive Repräsentationen beschreiben demnach eine epistemische Relation. Sie können zwar durch perzeptuelle Daten (also auch durch wahrgenommene Wörter, Sätze, Texte) motiviert sein, haben selbst aber eine davon relativ unabhängige Existenz. Representation is, first and foremost, something that stands for something else. In other words, it is some sort of model of the thing (or things) it represents. This description implies the existence of two related but functionally separate worlds: the represented world and the representing world. The job of the representing world is to reflect some aspects of the represented world in some fashion. (Palmer 1978, S. 262)
Wenngleich Palmer hier von einer problematischen Zwei-Welten-Ontologie ausgeht, insofern er dem Repräsentatum eine objektive und damit kognitiv transzendente Existenz attestiert,31 macht er auf den wichtigen Aspekt der modellhaften Verfasstheit von Repräsentationen aufmerksam. Seine objektivistische Verkürzung ist dabei im Fall sprachlicher Repräsentationen gar nicht nötig, weil sprachliche Äußerungen das kommunikative Medium darstellen, das wiederum auf andere Modelle als Repräsentata verweist (vgl. Jackendoff 1983, S. 23-40). Unterhalten sich etwa zwei Personen darüber, inwiefern die Todesstrafe gerecht ist, beziehen sich beide auf kognitive Modelle davon, was Gerechtigkeit ist (oder sein sollte). Allgemeiner: Eine Äußerung verstehen heißt, die geäußerten Worte und Sätze in einen Zusammenhang zu setzen mit dem, was mit ihnen gemeint sein könnte. Und das ist kein Prozess der Approximation an Faktisches, sondern der Rekonstruktion von Unterstelltem. Es bedarf dabei zunächst weniger der Referenz auf eine außersprachliche Entität als der Referenz auf ein konzeptuelles Konstrukt (oder kognitives Modell, Frame), selbst dann, wenn wir es mit dem einfachen Fall eines Nomens zu tun haben, das mittels eines definiten Artikels (wie in der Mittwoch) in der Erfahrungswelt der Sprachbenutzer und Sprachbenutzerinnen verankert ist. Taylor bemerkt hierzu: „It is important to bear in mind, however, that the referent of a grounded nominal is not some object out there in the external world, but an entity in a mental space.“ (Taylor 2002, S. 347) Auch die Bedeutung eines solchen Nomens erschließt sich nur innerhalb eines aktivierten kognitiven Modells. Dieses Modell zeichnet sich durch spezifische Konturen aus. Wie bereits in Abschnitt I.2.2 ausgeführt, ist es dreidimensional, insofern es ein spezifisches Profil (das Denotat) von einer spezifischen Wissensdomä31
Vgl. hierzu die unter dem Aspekt einer Zwei-Welten-Ontologie durchgeführte Studie zahlreicher sprachtheoretischer Positionen in Krämer 2001.
3. Frames im kognitionswissenschaftlichen Kontext
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ne hervorhebt. So profiliert einerseits das Nomen Mittwoch einen Tag innerhalb der Wissensdomäne „Woche“; andererseits verankert der definite Artikel der das Denotat in der Erfahrungswelt der Kommunizierenden, insofern es in zeitlicher Hinsicht auf einen bestimmten Mittwoch verweist.32 Um unter anderem diesen kognitiven Vorgang der Referentialisierung auszuzeichnen, führt Gilles Fauconnier (1985) den Terminus „mental space“ ein, womit der mehrdimensionale Charakter des Denotationsbereiches sowie dessen kognitiv-repräsentationaler Status besonders deutlich zum Ausdruck kommt. Darauf nimmt Taylor im angeführten Zitat Bezug. Zu Recht betont Palmer unterdessen, dass zwischen Repräsentierendem (Repräsentans) und Repräsentiertem (Repräsentatum) kein Abbildverhältnis besteht. Repräsentata stellen vielmehr das Ergebnis des Versuchs eines gesteuerten Rekonstruktionsprozesses dar, dessen möglicher Ausgangspunkt perzeptuelle Daten sind. Solche kognitiven Verarbeitungen weisen eine relative Autonomie auf, und sie unterliegen spezifischen Prinzipien (wie dem der Kategorisierung). Hörmann drückt das pointiert so aus: Wer wahrnimmt […], versteht etwas. Das heißt: er erfaßt im physikalischen Substrat und durch es hindurch eine Bedeutung, die über dieses Substrat hinausgeht und eine Beziehung zu der sinnvollen Einheit herstellt, die im Hörer schon vorhanden ist. (Hörmann 1994, S. 198)
Eine Repräsentation ist folglich das, was kognitiv hergestellt wird. Das, was im Langzeitgedächtnis schon vorhanden ist, sind bereits abgespeicherte Sedimente vergangener Erfahrungen, genauer: schematisierte Repräsentationen höheren Abstraktionsgrades. Wenn aber Perzepte selbst aus kognitiv-konstruktiven Prozessen hervorgehen, inwiefern unterscheiden sie sich dann von Repräsentationen? Da Perzepte mentale Einheiten sind (und nicht objektive Einheiten außerhalb unseres Bewusstseins), ist es nicht sinnvoll, Perzepte Repräsentationen gegenüberzustellen. Umgekehrt sind beide ebensowenig äquivalent, denn nicht jede Repräsentation ist perzeptuell motiviert. So können wir uns mittels unserer Vorstellungskraft Objekte ins Gedächtnis rufen, die keine Korrelate in der aktuellen Wahrnehmungswelt haben. Monika Schwarz unterscheidet deshalb zwischen einem so genannten „internen“ und „externen Modus“. Ihr zufolge werden Perzepte im externen Modus erfahren, Repräsentationen (insofern sie nicht auf perzeptuelle Daten zurückgehen) hingegen im internen Modus. Die Gesamtheit aller Perzepte stellt die Welt Wp dar, die als realer Zustand im externen Modus erfahren wird. Die Menge aller Einheiten der repräsentationalen Kognition im internen Modus, die in der perzeptuellen Welt Referenten haben, bildet das 32
In Anlehnung an Pörings und Schmitz (2003, S. 76) ist „Verankerung“ hier die deutsche Übersetzung für das, was in der Kognitiven Grammatik „grounding“ genannt wird, also für die (etwa qua grammatische Morpheme, definite Artikel, Substantive usw.) sprachlich-indexikalisch vollzogene Lokalisierung des Aussagegehalts in Raum und Zeit (vgl. Brisard 2002).
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I. Das semantische Interesse an Frames mentale Weltmodell Wm. Dieses Weltmodell wird in seinem mentalen Charakter als interner Zustand des Organismus erfahren. (Schwarz 1992a, S. 44; kursive Hervorhebung im Original in Fettdruck)
Um Wp von Wm unterscheiden zu können, führt Schwarz das Kriterium der Manipulierbarkeit ein. Repräsentationen, die nicht perzeptuell motiviert sind, können (fast) nach Belieben verändert werden, so etwa Farbe, Größe und andere Eigenschaften eines vorgestellten Autos. Dagegen unterliegen perzeptuell motivierte Repräsentationen gewissermaßen äußeren Zwängen. Größe, Farbe usw. eines sinnlich wahrgenommenen Autos sind nicht beliebig veränderbar. Nichtsdestoweniger bleiben Perzepte kognitive Konstrukte. Welcher Farbton beispielsweise wahrgenommen wird, ist abhängig von unseren biologisch-physiologischen Voraussetzungen der Farbwahrnehmung. Kognitive Repräsentationseinheiten (wozu auch Frames zählen) haben keinen statischen Charakter, sie verändern sich vielmehr mit jeder neuen Erfahrung (vgl. Barsalou 1983, 1987, 1992a). Renate Bartsch (1998, 2002, 2005) hat nachdrücklich darauf hingewiesen, dass Kognition zuallererst ein Prozess sei, nämlich „understanding or conceptualizing, and herewith the ability to conceptualize“ (Bartsch 2005, S. 6). Nötig wird damit eine Theorie konzeptueller Strukturen, die nicht erst nachträglich dem Faktor der Prozessualität Rechnung trägt, sondern diesen vielmehr als eine wesentliche (Teil-) Komponente begreift. Streng genommen stellen Konzepte eher Inferenzbasen als Repräsentationsformate dar. Ganz kann ihnen der RepräsentationsStatus dennoch nicht abgesprochen werden. Das zeigt sich an einem einfachen Befund: Prinzipiell ist es problemlos möglich, auch während des Verstehens- und Konzeptualisierungsprozesses Auskunft darüber zu geben, worin denn gerade das Verstandene bzw. Konzeptualisierte besteht.33 In Kapitel III gehe ich auf dieses Problem separat ein und werde im Anschluss an inferenztheoretische Studien dafür plädieren, Inferentialität zum Ausgangspunkt einer linguistischen Frame-Theorie zu machen. Die Tatsache, dass Kognition ein Prozess ist, der immer schon auf bereits vorhandenem (und mithin schematisiertem) Wissen basiert, führt zu einer weiteren zentralen Eigenschaft konzeptueller Repräsentationen. Werden Repräsentationen ad hoc aufgebaut, wenn es darum geht, aus einer sprachlichen Äußerung eine kommunikative Sinneinheit (ein Kommunikat) zu konstruieren, spielen dabei andere konzeptuelle Einheiten eine wesentliche Rolle, die 33
Aus diesem Grund scheint mir die Position von Bartsch zu radikal zu sein; bewusst überspitzt behauptet sie, es gebe keine Konzepte (Bartsch 2005, S. 3ff.). Vergleiche dagegen Dominiek Sandra (dem ich mich hier anschließen möchte): „A mental representation seems, however, unavoidable in the synchronic semantic analyses. It is hard to believe that language users do not recognize the links between usages which are […] close to each other. If these analyses do not refer to mental representations (not their format but their content), it is hard to see what they could refer to.” (Sandra, 1998, S. 370)
3. Frames im kognitionswissenschaftlichen Kontext
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Sprachbenutzer und Sprachbenutzerinnen aus dem Gedächtnis abrufen. Die Aktivierung von Hintergrundwissen führt dazu, dass neue Wissenseinheiten, also neue Repräsentationen entstehen. Jede repräsentationale Einheit tritt als ganzheitliches Strukturgefüge auf, das auch Elemente umfasst bzw. umfassen kann, die zu Beginn der kognitiven Verarbeitung perzeptuell nicht zur Verfügung standen.34 Inwiefern ein sprachlicher Ausdruck ein Konzept (oder einen Frame) aufruft, illustriert das erwähnte Beispiel Mittwoch.35 Für den verstehenden Rezipienten und die verstehende Rezipientin übernimmt dieser Ausdruck lediglich eine sprachliche Markierungsfunktion zur Erschließung verstehensrelevanten Wissens (Busse 1997a; Langacker 1987, S. 163). Jedes Wort dient so gesehen dazu, dem Sprachrezipienten oder der Sprachrezipientin Zugang zu seinem bzw. ihrem konzeptuell bereits vorstrukturierten Bereich semantischen Wissens zu verschaffen, das im Langzeitgedächtnis abgespeichert ist. Das aufgerufene Konzept „stellt dabei das inhaltliche Potential für semantische Einheiten dar, die dann ausschnittartig konzeptuelle Informationen an sprachliche Formen binden“ (Schwarz 1994, S. 16).36 Im Anschluss an Roschs empirische Untersuchungen besteht ein wesentliches Verdienst der Prototypentheorie darin, die zentrale Funktion kognitiver Kategorisierungen für sprachliche Verstehensprozesse aufgezeigt zu haben (Rosch 1977, 1978).37 So erschließt sich die Bedeutung des Ausdrucks Mittwoch erst durch Bezugnahme auf die übergeordnete Wissensdomäne „Woche“. Dabei stehen die beiden Konzepte „Mittwoch“ und „Woche“ in einer Teil-Ganzes-Beziehung, und diese wird erst durch den Prozess der Kategorisierung bzw. Schema-Instantiierung kognitiv aufgebaut (vgl. hierzu Abb. 2). Dass konzeptuelle Strukturen auf kognitive Integrationsleistungen zurückgehen, die darin bestehen, verschiedene Konzepte miteinander in Beziehung zu setzen, lässt sich an jedem beliebigen Beispiel illustrieren. Im vorliegenden Fall handelt es sich um einen Kategorisierungsakt, genauer: um die Instantiierung eines Konzepts in ein übergeordnetes Schema, das seinerseits aus einem Verbund von Konzepten, nämlich den anderen Wochentagen, besteht. Seit Roschs frühen Studien zur Kategorienbildung gehört die menschliche Kategorisierungskompetenz zum festen Gegenstandsbereich kognitionswissenschaftlicher Forschung.
34 35 36 37
Im frame-semantischen Zusammenhang werde ich zwischen verschiedenen Strukturkonstituenten von Frames (als Repräsentationsformaten sprachrelevanten Wissens) unterscheiden, vgl. Kap. VI.3 bis VI.5. Zur Relevanz lexikalisch-kognitiver Analysen vgl. Cuyckens/Dirven/Taylor 2003. Zur linguistischen Fundierung der Konzept-Theorie vgl. Kap. VI. Eine umfassende Darstellung der sprachlichen Relevanz von Kategorisierungsprozessen gibt Taylor 2003. Einen Einblick in den engen und fundamentalen Zusammenhang von Kategorisierung und Kausalität gewährt Keil 2003.
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I. Das semantische Interesse an Frames
Samstag
Freitag
Donnerstag
Mittwoch
Dienstag
Montag
Sonntag
Woche
Abb. 2: Kategorisierung des Konzepts „Mittwoch“ in die Wissensdomäne (oder den Frame) „Woche“
Für eine kognitiv orientierte Sprachtheorie ergeben sich zwei mögliche Forschungsperspektiven: Einmal kann sie sich zum Ziel setzen, auf der Basis des untersuchten empirischen Materials jene kognitiven Prinzipien zu identifizieren, die das menschliche konzeptuelle System leiten. In der neueren angloamerikanischen Linguistik sind es vor allem George Lakoff (1987) und Ronald Langacker (1987), die in diesem Bereich Pionierarbeit geleistet haben. Ebenso gut können aber auch die konzeptuellen Strukturen selbst untersucht werden.38 Insbesondere Charles Fillmores Frame-Theorie ist hier anzusiedeln (zuerst in Fillmore 1975). Insgesamt stellen beide Perspektiven weniger alternative als vielmehr komplementäre Sprachbeschreibungen dar. Denn tatsächlich sind konzeptuelle Strukturen stets das Ergebnis kognitiver Operationen, und umgekehrt haben diese stets den Aufbau einer komplexen konzeptuellen Struktur zum Ergebnis. Schon wegen des hohen empirischen Aufwands ist es forschungspraktisch dennoch sinnvoll, beiden Forschungsperspektiven getrennt nachzugehen. In der vorliegenden Arbeit liegt der Schwerpunkt auf der Analyse konzeptueller Strukturen. Unter kognitionstheoretischen Voraussetzungen besteht der Gegenstandsbereich der linguistischen Semantik mithin aus dem konzeptuellen Systemzusammenhang verschiedener verstehensrelevanter Wissensformen und -elemente sowie den Arten ihrer Verknüpfungen untereinander.39 Aktua38 39
Diese Unterscheidung entspricht der Sandras (1998, S. 362) zwischen „mental predispositions of language“, also kognitiven Prinzipien des Sprachverstehens, und „mental representations“. Auf die Frage, welche Wissensformen potentiell relevant werden können, gehe ich in Kap. III.3.1 näher ein. Die Arten ihrer Verknüpfung betreffen im Wesentlichen jenen Themenbereich, der innerhalb konzeptualistischer Ansätze als „construal operations“ thematisiert werden: „focal
3. Frames im kognitionswissenschaftlichen Kontext
43
lisierte Bedeutungen sind das Ergebnis der Selektion und Kombination relevanter und konzeptuell gebundener Wissenselemente. Dabei spielt es zunächst eine nur untergeordnete Rolle, ob diese Informationseinheiten aus dem Langzeitgedächtnis stammen oder sprachliche und nicht-sprachliche Daten des Arbeits- oder Kurzzeitgedächtnisses darstellen.40 In der Kognitionsforschung ist es unbestritten, dass das Verstehen sprachlicher Bedeutungen einen kognitiv hoch komplexen Prozess darstellt, an dem ganz unterschiedliche Wissensformen beteiligt sind. Äußerst umstritten ist hingegen die Frage, ob dabei verschiedene Ebenen der semantischkonzeptuellen Wissensrepräsentation voneinander zu unterscheiden sind, ob also verschiedene Wissenstypen (soziales Wissen, Kontextwissen, Sprachwissen usw.) verschiedenen Ordnungsstrukturen unterliegen. Im einen Fall handelt es sich um eine holistische Position, im anderen Fall um eine modularistische. Im Zusammenhang mit Frames werde ich nun auf beide Grundpositionen näher eingehen. 3.2 Kognitionstheoretische Positionen Spätestens seit den 80er Jahren besteht ein breiter Konsens darüber, dass Sprachwissenschaft neben Psychologie die kognitionswissenschaftliche Disziplin par excellence darstellt. Was Sprache ist, was Sprachfähigkeit ausmacht und nach welchen Regeln oder Prinzipien sprachliche Äußerungen produziert (bzw. verstanden) werden, hängt eng damit zusammen, wie ein Sprecher oder eine Sprecherin Informationen mental verarbeitet, speichert und abruft. Deshalb ist Sprache (auch) ein kognitives Phänomen. Kognitive Fähigkeiten (im Sinne von knowing-how) entwickeln sich zum großen Teil in den ersten fünf Lebensjahren. Konzeptuelles Wissen (im Sinne von knowing-that) verändert sich permanent; der Lernprozess hält ein Leben lang an. Die menschliche Sprachfähigkeit ist vielleicht das beste Beispiel dafür, wie komplex Kognitionsprozesse sein können. Doch nur selten nehmen Sprachbenutzerinnen und Sprachbenutzer diese Komplexität wahr. Sprachliches Wissen bildet ein stabiles Kenntnissystem, dessen Funktionsprinzipien größtenteils unbewusst bleiben. Durch andauernde Sprachpraxis werden Sprechen und Sprachverstehen zu eingeschliffenen Routinen. Wann etwa eine
40
adjustment“ und „conceptualization“ (Langacker 1987), „frame-shifting“, „blending“ (Coulson 2001), „imaging systems“ (Talmy 1988) und „mapping“ (Fauconnier 1990). Schwarz (1994) schränkt den semantischen Gegenstandsbereich auf das im Langzeitgedächtnis abgespeicherte Kenntnissystem ein. Damit gehen jedoch große Teile potentiell verstehensrelevanten Wissens verloren. Ich sehe keine Notwendigkeit, diesen Wissensbereich auszugrenzen; dies scheint vielmehr ein stark theorieinduzierter Eingriff zu sein, der schon mit der vorgängigen Unterscheidung Kompetenz/Performanz und, im Falle Schwarz’, mit einem gestuften Semantikmodell operiert.
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I. Das semantische Interesse an Frames
sprachliche Äußerung grammatisch korrekt ist und was ein sprachlicher Ausdruck in einem gegebenen Kontext bedeutet, ‚weiß‘ ein Sprachbenutzer oder eine Sprachbenutzerin gleichsam intuitiv. Dennoch fällt es ihm bzw. ihr schwer anzugeben, worin dieses ‚Wissen‘ genau besteht. Welche kognitiven Voraussetzungen müssen erfüllt sein? Was ist das für ein Wissen, das uns befähigt, eine Sprache zu lernen? Welche kognitiven Strukturen (und Prozesse) tragen auf welche Weise dazu bei, dass sprachliche Verstehensprozesse gelingen? Dass Antworten auf diese Fragen keineswegs auf der Hand liegen, legitimiert eine kognitiv orientierte Betrachtung der Sprache. Ein übergreifendes Ziel der linguistischen Analyse besteht darin, die Komplexität sprachlicher Strukturen in ihrer Vieldimensionalität angemessen zu beschreiben. In empirischer Hinsicht erweist sich dies als ein äußerst aufwendiges und methodologisch voraussetzungsreiches Unterfangen. Entsprechend heterogen sind die Analyseverfahren und erkenntnisleitenden Prämissen innerhalb der kognitiven Forschung. Die fundamentalste Differenz betrifft die Frage, ob sich Kognition in autonome Module (und diese in SubModule) untergliedert oder durch übergreifende kognitive Operationen konstituiert ist. Eine konsensfähige Entscheidung für die eine oder andere Position ist angesichts des engen Zusammenhangs der in diesem Problemkomplex involvierten (neuro-)psychologischen, (sozial-)anthropologischen und philosophischen Fragestellungen in absehbarer Zeit nicht zu erwarten (Coulson 1995). Vielmehr scheinen sich derzeit die Fronten eher zu verhärten (vgl. Dölling 2005; Ritter 2005; Taylor 1995). Sucharowskis Einschätzung (1996, S. 158), dass der Modularitätskonzeption Vorrang eingeräumt werde, gilt allenfalls für den deutschen Sprachraum. In der angloamerikanischen Forschung gibt es dagegen eine wachsende Anzahl an Kognitionswissenschaftlern und -wissenschaftlerinnen, die im Rahmen des holistischen Paradigmas arbeiten.41 Interessant ist dabei der wissenschaftsgeschichtliche Befund, dass die Rezeption in Deutschland – und hier insbesondere in der germanistischen Linguistik – recht einseitig verlief. Während die generative Grammatik schon in den 70er Jahren auf eine starke Resonanz stieß, in semantischer Hinsicht insbesondere von Manfred Bierwisch, Ewald Lang und Dieter Wunderlich ausdifferenziert wurde und sich seither auch in den Lehrplänen festgeschrieben hat, wurde das Forschungsprogramm holistisch orientierter Ansätze zunächst nur sehr zögerlich zur Kenntnis genommen und, wenn überhaupt, äußerst eklektizistisch rezipiert.42 41
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Mit der Zeitschrift Cognitive Linguistics und der Buchreihe Cognitive Linguistics Research, die seit Anfang der 90er Jahre bei Mouton de Gruyter erscheint und inzwischen über 40 Bände umfasst, liegen zwei etablierte Publikationsorgane vor, die einer holistischen Position verpflichtet sind. Einen aktuellen Forschungsüberblick gibt ferner das Sonderheft Linguistic Review 22/2005. Vgl. auch Schwarz 1992a, b; Keller/Leuninger 1994; Strohner 1995; Sucharowski 1996. Einschlägige Sammelbände (wie Felix/Habel Rickheit 1994, Habel/Kanngießer/Rickheit 1996) ste-
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Über die Frontstellung holistisch/modularistisch hinweg sind folgende Punkte weitgehend unbestritten: x Menschliche Sprache ist ein ‚Fenster‘ zur Kognition. Kognition stellt kein Blackbox-Phänomen dar; vielmehr lassen sich durch Sprachanalysen empirisch valide Aussagen über Kognitionsprozesse machen. x Sprachliche Ausdrücke (rekursiv) zu bilden und zu verstehen, stellt eine besonders komplexe kognitive Fähigkeit dar, die sowohl prozedurale als auch repräsentationale Aspekte einschließt. x In prozeduraler Hinsicht steht die Analyse sprachlichen Verstehens und dessen, was diese Verstehensleistung mitbestimmt, im Mittelpunkt der Untersuchung. x Rechnung zu tragen ist dabei psychologischen Faktoren wie der Kapazität und Struktur des menschlichen Gedächtnisses sowie dem methodologischen Prinzip der kognitiven Ökonomie. (Denn eine begrenzte Anzahl kognitiver Fähigkeiten und ein begrenztes Inventar sprachlicher Ausdrucksformen ermöglichen die (Re-)Produktion potentiell unbegrenzt vieler Ausdrucksinhalte.) x Grammatik ist ein (hypothetisches, weil theorieabhängiges) Modell, mit dem Aspekte sprachlicher Verstehensprozesse psychologisch realistisch beschrieben und erklärt werden sollen. Aber diese Agenda der kognitiven Forschung verliert schon dann ihre einheitsstiftende Kraft, wenn es um die Frage geht, was denn die Grammatik als ein Modell dessen ausmacht, „of what a person who knows a language actually knows, and of what a speaker or listener actually does when speaking and listening“ (Taylor 1995, S. 4). Ist Grammatik eine autonome menschliche Fähigkeit, die sich unabhängig von anderen kognitiven Fähigkeiten untersuchen lässt? Oder stellt sie umgekehrt einen ausgezeichneten, weil hoch differenzierten und empirisch leicht zugänglichen Forschungsgegenstand dar, an dem sich übergreifende kognitive Prozesse studieren lassen, die „basic sensory motor, emotional, social, and other experiences of a sort available to all normal human beings“ (Lakoff 1988, S. 120) gleichermaßen umschließen? Beide kognitionswissenschaftlichen Grundpositionen seien im verbleibenden Teil dieses Abschnitts in Grundzügen erläutert. Wissenschaftsgeschichtlich haben die holistische und die modularistische Position zwar dieselben Wurzeln,43 sie könnten hinsichtlich der Beantwortung
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hen ebenfalls unter generativen Vorzeichen. Eine Ausnahme bildet die umfangreiche Arbeit von Konerding (1993) insofern, als sie ausgewählte holistische Positionen zur Sprache bringt. Vgl. Newmeyer 1986; Huck/Goldsmith 1998. Das Forschungsprofil holistischer Ansätze hat sich selbst in der Auseinandersetzung mit verschiedenen generativ ausgerichteten Theorieansätzen herausgebildet. So haben Holisten wie Charles Fillmore, George Lakoff und Ronald Langacker in den 70er Jahren zunehmend den Grundfesten einer generativen Grammatiktheorie abgeschworen. Mit Lakoff 1987 und Langacker 1987 liegt ein eigenständiges Forschungsprogramm
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der sprachtheoretischen Grundsatzfrage, in welchem Verhältnis Sprache und menschlicher Geist stehen, aber kaum stärker divergieren. Vertreter und Vertreterinnen der generativen Grammatik behaupten, dass der menschliche Geist eine streng modulare Organisationsform aufweist. Sie führen die Komplexität mentaler Prozesse auf das funktionale Prinzip der kognitiven Arbeitsteilung zurück. Dem steht die holistische These gegenüber, dass Perzeption, Motorik und Sprachfähigkeit stark interagieren, sich ontogenetisch in Abhängigkeit voneinander entwickeln und durch übergreifende kognitive Prinzipien geleitet sind. Diese divergierenden Ausgangsprämissen ziehen eine Reihe von methodischen Konsequenzen nach sich, in denen sich modular orientierte Ansätze fundamental von holistischen unterscheiden (vgl. Taylor 2002, S. 7; auch: Lakoff 1987, S. 584; Lakoff 1990). Zunächst ergibt sich aus dem methodologischen Vorsatz, mit möglichst wenigen Prinzipien alle grammatischen Sätze einer Sprache generieren zu wollen, ein gewisser Formalismus innerhalb modularistischer Theorien. In dem Maße, wie der Maxime der Formalisierbarkeit Rechnung getragen wird, gewinnen die postulierten, so genannten Tiefenstrukturen immer mehr an Abstraktheit, so sehr, dass sie schließlich mit der analysierten Oberflächenstruktur, den Äußerungseinheiten, kaum mehr etwas gemeinsam haben und nur über ein Set an rein formalen Operationen in diese überführt werden können. Da der Fokus auf generative Prinzipien gerichtet ist, rücken zudem (vermeintlich) idiosynkratische Phänomene in die Peripherie des Forschungsinteresses, insofern der in Ansatz gebrachte Regelapparat sie nicht erklären kann. In der Folge bildet sich ein Kernbereich grammatischer Phänomene heraus, zu dem historische und epistemologische Aspekte beispielsweise nicht zählen. Zum ‚Kern‘-Bereich einer modularen Semantiktheorie gehören ausschließlich sprachinhärente Faktoren. In verschiedenen Ebenen-Modellen werden diese von außersprachlichen Faktoren der Bedeutungskonstitution systematisch unterschieden (Bierwisch/Schreuder 1992, S. 30). Grob lassen sich drei Ausprägungsvarianten von Ebenen-Modellen unterscheiden: (i) Zwei-Ebenen-Semantik. Diese geht von einer grundsätzlichen Unterscheidung zwischen semantischem und konzeptuellem Wissen aus. Weist die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks eine interne sprachgebundene Komponentenstruktur auf, wird allgemeines Weltwissen erst auf der Ebene des konzeptuellen Systems relevant. Ein solches Modell vertreten insbesondere Manfred Bierwisch und Ewald Lang 1983a; Bierwisch/Lang 1987). Bierwisch stellt mehrfach in Aussicht, dass Wissen auf der konzeptuelle Ebene durch Frames strukturiert und organisiert ist, vor, das in Grundzügen allerdings schon in Lakoff/Johnson 1980 und Langacker 1979 enthalten ist, vgl. hierzu den Überblick in Lakoff 1991.
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ohne allerdings näher darauf einzugehen (vgl. Bierwisch 1979, S. 78-79; Bierwisch/Schreuder 1992, S. 32f.). (ii) Drei-Ebenen-Semantik. Eine Erweiterung des Zwei-Ebenen-Modells hat Monika Schwarz (1992a, 2000) vorgenommen. Auch sie unterscheidet zwischen semantischen Komponenten eines Ausdrucks, die durch sprachliche Prinzipien determiniert sind, und dem konzeptuellen Gehalt sprachlicher Ausdrücke. Der kommunikative Sinn eines sprachlichen Ausdrucks entsteht in ihrer Konzeption allerdings erst auf der Ebene der Äußerungsbedeutung, auf der Kontextdaten relevant werden. Grenzt Schwarz (1994, S. 15) ihr Drei-Ebenen-Modell ausdrücklich vom ZweiEbenen-Modell ab, sind doch die sprachtheoretischen Voraussetzungen letztlich identisch. Zudem scheint Bierwisch selbst bisweilen ein DreiEbenen-Modell zu favorisieren. So unterscheidet er an einer Stelle zwischen einer Ebene des Sprachwissens, des Alltagswissens und Interaktionswissens (Bierwisch 1979, S. 64ff.). Schwarz’ Konzeption weicht von diesem Entwurf kaum ab, auch was den möglichen Einbezug von Schemata (bzw. Frames) zur Erklärung konzeptueller Prozesse angeht (vgl. Schwarz 2000, 111f.). (iii) Mehr-Ebenen-Modell der Bedeutungsrepräsentation. Der Einfluss des konzeptuellen Systems bei der Bedeutungskonstitution ist in den Arbeiten von Schwarz, Bierwisch u.a. nur unzureichend erklärt. Ausgehend von ähnlichen sprachtheoretischen Voraussetzungen hat Johannes Dölling deshalb stärker konzeptuelle Phänomene wie Metaphern, Metonymien, systematische Polysemie und Vagheit einbezogen (Dölling 2001b). Dölling kommt zu dem Ergebnis, dass beim Bedeutungsverstehen sprachlicher Äußerungen Kompositionalität und Kontextsensitivität eng zusammenwirken und dass im Zuge der kontextuellen Spezifizierung der kontextunabhängigen Bedeutung eines Ausdrucks mehrere Stufen der „Informationsvervollständigung“ (Dölling 2001b, S. 14) zu durchlaufen seien. Sein so genanntes „Mehr-Ebenen-Modell der Bedeutungsrepräsentation“ sieht das Zusammenspiel einer lexikalischen, einer kompositionellen, einer konzeptuellen und einer kontextuellen Komponente vor. Unterscheidet auch Dölling wie im Zwei- und Drei-Ebenen-Modell strikt zwischen rein semantischem und konzeptuellem Wissen, liegt die Neuerung im Einsatz von Schemata, die Vorgaben zur kontextuellen Anreicherung bereitstellen. Bei diesen drei Ansätzen handelt es sich weniger um eigenständige als um aufeinander aufbauende Theorien. Als grundlegend muss die Zwei-EbenenSemantik angesehen werden. An ihren methodischen Prämissen orientieren sich sowohl Schwarz’ Drei-Ebenen-Modell als auch das Mehr-Ebenen-Modell Döllings.
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I. Das semantische Interesse an Frames
Gegen eine modulare Auffassung der Sprachfähigkeit wenden sich verschiedene holistische Ansätze, die ich fortan unter dem Begriff „Kognitive Linguistik“44 zusammenfasse. Den primären Untersuchungsgegenstand der Kognitiven Linguistik bildet die kognitive Realität des Sprachgebrauchs, ohne dass diese auf der Basis theoretischer Vorentscheidungen bereits in relevante und irrelevante (Teil-)Aspekte unterteilt wird. Sprechende und verstehende Individuen haben spezifische Bedürfnisse, sind geleitet durch soziale Interessen und greifen auf intersubjektiv geteilte symbolische Ressourcen zurück, um diesen Bedürfnissen und Interessen Ausdruck zu verleihen. Sie sind zudem bestimmt durch eine sehr spezifische psycho-physiologische Ausstattung, die ein gewisses Repertoire an kognitiven Fähigkeiten auszubilden erlaubt (und andere auszubilden unterbindet).45 Nach der Überzeugung holistisch orientierter Linguistinnen und Linguisten sollte eine kognitive Betrachtung der Sprache diesen Faktoren als Primärphänomenen Rechnung tragen. Beziehungen zur Umwelt unterhalten selbst die primitivsten Organismen (wie Einzeller); in der Art und Weise aber, wie diese Beziehungen aufgebaut und verarbeitet werden, bestehen beträchtliche Unterschiede. Besonders komplexe Beziehungen zur sozialen Umwelt stellt dabei Sprache her: Language is only the tip of a spectacular cognitive iceberg, and when we engage in any language activity, be it mundane or artistically creative, we draw unconsciously on vast cognitive resources, call up innumerable models and frames, set up multiple connections, coordinate large arrays of information, and engage in creative mappings, transfers, and elaborations. (Fauconnier 1999, S. 96)
Dass Sprache ein ‚Fenster‘ zur Kognition darstellt, meint in diesem Zusammenhang: ein ‚Fenster‘, durch das Facetten der sprachlichen Konzeptualierungskompetenz sichtbar werden. Unter der modularistischen Annahme angeborener Prinzipien (wie einer „Universalgrammatik“) bleibt der Blick durch dieses ‚Fenster‘ versperrt. Die radikale Alternative zum Angeborenheitspostulat besteht im so genannten gebrauchsbasierten Modell („usage-based model“) der Kognitiven Linguistik.46 Sprachliche Strukturen sind hiernach Emergenzphänomene, die allein durch den Sprachgebrauch (und nicht durch Universalien) motiviert sind. Weil psychologische Prozesse im Sprachgebrauch immer eine entschei44 45
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Das große „K“ in „Kognitive Linguistik“ (und analog in „Kognitive Semantik“) zeigt also die Ablehnung der modularistischen Ausgangsprämissen an. Ich folge hiermit einer Konvention, die sich im angloamerikanischen Sprachraum in den letzten Jahren durchgesetzt hat. Vgl. Evans/Green 2006, S. 27-50. Ein einfaches Beispiel ist die Farbwahrnehmung. Die Anzahl und Art der Fotorezeptoren legt das mögliche Farbspektrum fest, in dem Organismen ihre Umwelt wahrnehmen. Weil etwa Klapperschlangen einen Fotorezeptor mehr als Menschen haben, können sie auch Infrarot sehen. Vgl. hierzu die ausführlichen Darstellungen in Bybee 1995; Elman et al. 1996; Langacker 1988c, 2000; Barlow/Kemmer 2000; Tomasello 2003.
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dende Rolle spielen, wandelt sich die Grammatik ständig und bildet folglich kein prädeterminiertes, sondern ein dynamisches System. Es sind zwei prinzipielle Annahmen, die zu einer solchen Perspektive auf Sprache führen: [C]ognitive linguistics is defined by two primary commitments, what I will call the Generalization Commitment and the Cognitive Commitment. The generalization commitment is a commitment to characterize the general principles governing all aspects of human language. […] The cognitive commitment is a commitment to make one’s account of human language accord with other disciplines as well as our own. (Lakoff 1990, S. 40)
Mit der ersten Annahme ordnet sich die Kognitive Linguistik in einen Forschungszusammenhang ein, der stärker an die kognitive (Entwicklungs-) Psychologie und Anthropologie anschließt. Im Vordergrund steht eine kognitiv realistische Beschreibung der menschlichen Sprache. Die zweite Annahme besagt, dass solche kognitionswissenschaftlichen Analysen immer auch die Forschungsergebnisse in den benachbarten Disziplinen zur Kenntnis nehmen müssen. Innerhalb der Kognitiven Linguistik haben sich verschiedene bedeutungstheoretische Beschreibungsansätze herausgebildet, deren gemeinsamer Ausgangspunkt die Annahme bildet, dass sprachliche Bedeutungen mit konzeptuellen Strukturen gleichzusetzen sind. Sprachliche Bedeutungen sind zudem in der menschlichen Erfahrung verankert („embodiment“). Sprache wird als ein System von Zeichen, d.h. von Form-Bedeutungspaaren verstanden,47 und zwar sowohl auf der lexikalischen Ebene als auch hinsichtlich grammatischer Konstruktionen. Syntax gilt demnach nicht als autonomes System, da auch syntaktische Kategorien und syntaktische Konstruktionen primär bedeutungsrelevante Funktionen erfüllen. Die hiermit angesprochene ‚semantische Wende‘, d.h. die Hinwendung zur Semantik und die Infragestellung des Primats der Syntax, kennzeichnet bereits viele Arbeiten aus den späten 70er Jahren, insbesondere die von Wallace Chafe, Charles Fillmore, George Lakoff, Ronald Langacker und Leonard Talmy. Etabliert hat sich das holistische Kognitionsmodell aber erst durch Langackers (1987) umfassenden Entwurf einer „Kognitiven Grammatik“, Lakoffs (1987) Studie zur Prototypentheorie und dem Bemühen von Fillmore und Kay, grammatische Konstruktionen in die Analysen miteinzubeziehen. Vier Ansätze sind insgesamt zu unterscheiden:48
47 48
In der Konstruktionsgrammatik spricht man auch von „Konstruktionen“ und in der Kognitiven Grammatik von „symbolischen Einheiten“. Zur genaueren Differenzierung vgl. Kap. IV.1.2. Einen Überblick geben Croft und Cruse (2004, S. 257-290), Fischer und Stefanowitsch (2006) und Schlobinski (2003, S. 159-192 und S. 224-226). – Neben den vier genannten Strömungen gibt es in der jüngeren Forschung zudem eine ganze Reihe empirischer, insbesondere korpusbasierter Arbeiten, die im Paradigma der Kognitiven Grammatik und Konstruktionsgrammatik stehen (Boas 2003; Diessel 2004; Tomasello 2003). Diese fasse ich nicht als fünften Ansatz zusam-
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(i)
Konstruktionsgrammatik. Fillmore und Kay vertreten in verschiedenen Arbeiten (wie etwa in Fillmore/Kay/O’Connor 1988; Kay 1997; Kay/Fillmore 1999) ein Grammatikmodell, das sie erstmalig als „Konstruktionsgrammatik“ bezeichnet haben. Dabei handelt es sich um eine Variante der von Carl Pollard und Ivan Sag in Stanford entwickelten „Head-driven Phrase Structure Grammar“ (Pollard/Sag 1994). Fillmore und Kay verankern ihr Modell explizit in der Frame-Semantik (Kay/Fillmore 1999, S. 21). (ii) Radikale Konstruktionsgrammatik. William Croft hat eine so genannte „radikale Konstruktionsgrammatik“ entwickelt, die viele Aspekte der Konstruktionsgrammatik von Fillmore und Kay übernimmt (vgl. Croft 2001, S. 14-29) und sich zugleich in methodologischer Hinsicht an Langackers Arbeiten orientiert (Croft/Cruse 2004, S. 278f.). „Radikal“ ist Crofts Ansatz u.a. insofern, als er anders als Fillmore und Kay (1999, S. 1) postuliert, dass alle syntaktischen Kategorien nicht nur aus Konstruktionen – also aus Form-Bedeutungspaaren – abgeleitet sind, sondern darüber hinaus auch einzelsprachspezifischer, d.h. nicht-universeller Natur sind. Croft bestreitet ferner die Existenz rein sprachlicher Kategorien. Er argumentiert ferner, dass sich alle Kategorien – auch syntaktische – aus (dem Gebrauch von) Konstruktionen herleiten lassen. Zu diesen Ergebnissen kommt Croft auf der Basis sprachvergleichender, typologischer Studien.49 (iii) das Lakoff/Goldberg-Modell. George Lakoff (1987, S. 462-584) macht in Women, Fire, and Dangerous Things: What Categories Reveal about the Mind, seiner weithin bekannten Studie zur kognitiven Prototypentheorie, ebenfalls Gebrauch vom Konstruktionsbegriff. Diesen anhand einer Fallstudie (nämlich there-Konstruktionen) präsentierten Analyseansatz erweitert und systematisiert Adele Goldberg (1995). Stärker als die anderen Ansätze konzentrieren sich die Analysen Goldbergs und Lakoffs auf Beziehungen zwischen „Konstruktionen“ (so genannten „Kategorisierungslinks“). Beide nehmen dabei ausdrücklich auf die Frame-Semantik Bezug. (iv) Kognitive Grammatik. Ob schließlich Langackers Programm einer Kognitiven Grammatik (Langacker 1987, 1991a; auch: Taylor 2002) als eigene Schulbildung firmieren soll, mag sowohl negativ als auch positiv beantwortet werden. Dagegen spricht, dass die Kognitive Grammatik in wei-
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men, weil sie auf verschiedene Methoden zur Untersuchung ihres je spezifischen Gegenstandsbereiches zurückgreifen. Frames sind in Crofts radikaler Konstruktionsgrammatik zwar nicht ausführlich thematisiert, weil sich Croft ausschließlich auf Analysen syntaktischer Repräsentationen konzentriert. Dem Postulat der Untrennbarkeit von Form-Bedeutungspaaren folgend, betont Croft aber, dass diesen Analysen syntaktischer Formen Analysen von Form-Bedeutungspaaren als symbolischen Einheiten an die Seite gestellt werden müssten. Hier würde eine „Radical Frame Semantics“ (Croft 2001, S. 62), wie Croft sie in Anspielung an Fillmore nennt, ihren Platz finden.
3. Frames im kognitionswissenschaftlichen Kontext
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ten Teilen von denselben Voraussetzungen ausgeht wie die drei genannten konstruktionsgrammatischen Ansätze (Langacker 2005, S. 102), z.T. lediglich eine andere Terminologie verwendet. Für eine Unterscheidung spricht hingegen Langackers Betonung des Umstands, dass alle grammatischen Einheiten einen intrinsisch symbolischen Charakter haben.50 Anders als Croft (2001) und Goldberg (1995) bestreitet Langacker somit, dass grammatische Informationen (wie morphologische und syntaktische) auf der Formseite von „Konstruktionen“ anzusiedeln seien; vielmehr würden diese aus Form-Bedeutungspaaren als Ganzen resultieren (Langacker 2005, S. 104). Konsens herrscht in diesen Ansätzen darüber, dass erstens grammatischen „Konstruktionen“ nur hinsichtlich ihrer symbolischen Funktion Unabhängigkeit zukommt, „Konstruktionen“ zweitens kognitiv einheitlich repräsentiert sind und drittens in einer Grammatik eine taxonomische Organisation aufweisen. Wie „Konstruktionen“ und grammatische Informationen genau zu beschreiben sind, variiert allerdings abhängig vom gewählten Ansatz. Entsprechend große Varianzen gibt es in terminologischer Hinsicht. Zusammenfassend kann man festhalten, dass die holistisch orientierte Kognitive Linguistik, worunter insbesondere die Konstruktionsgrammatik und die Kognitive Grammatik zu zählen sind, in vielen grundsätzlichen Aspekten von modularen Modellen abweicht. Vergegenwärtigt man sich, dass die Unterschiede die Bildung des linguistischen Gegenstandsbereiches ebenso betreffen wie methodische Fragen zur Erforschung dieses Gegenstandsbereiches, so offenbart sich ein Dualismus, der die gesamte Kognitionsforschung durchzieht. Abhängig davon, unter welchen Voraussetzungen Frames thematisiert werden, dürften sich auch der Gegenstandsbereich und die Methode einer Frame-Semantik entsprechend verändern. 3.3 Frames im Spannungsfeld modularistischer und holistischer Ansätze Innerhalb der germanistischen Linguistik ist es wohl der sehr zurückhaltenden Rezeption der Kognitiven Linguistik und umgekehrt der intensiven Beschäftigung mit der generativen Grammatik zuzuschreiben, dass Frames eher selten mit Fillmores Ansatz in Zusammenhang gebracht werden. Noch seltener aber wird die konstruktionsgrammatische Grundposition reflektiert, für die Fillmore einsteht. Die Unkenntnis holistischer Erkenntnisziele führt oftmals zu einer Vermischung von modularistischen und holistischen Theoremen. Zwar 50
Vgl. Langacker 1987, S. 56-86. Ähnlich argumentieren auch Croft und Cruse (2004, S. 279): „The distinguishing feature of Cognitive Grammar as a construction grammar is its emphasis on symbolic and semantic definitions of theoretical constructs traditionally analyzed as purely syntactic.”
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ist bislang nicht ernsthaft der Versuch unternommen worden, kognitive Frames einer semantischen Ebenen-Theorie einzuverleiben. Wie bereits erwähnt, belässt es Bierwisch bei pauschalen Verweisen auf die mögliche Integrierbarkeit von Frames in sein Zwei-Ebenen-Modell.51 Dagegen haben aber andere Linguisten und Linguistinnen, die sich stärker für konzeptuelle Bedeutungsstrukturen interessieren, Frames unmittelbar mit modularen Modellen in Verbindung gebracht. Einige Beispiele stelle ich in diesem letzten Abschnitt des ersten Kapitels vor. Dabei geht es mir weniger um die partikularen Erkenntnisinteressen der einzelnen Untersuchungen als um den Befund, dass offensichtlich kaum Einigkeit über die kognitionstheoretischen Grundlagen der Frame-Semantik herrscht, die jeweils zugrunde gelegte Position aber trotzdem nicht hinsichtlich der Konsequenzen für den Einsatz von Frames reflektiert wird. Dieses Defizit nehme ich zum Anlass, um im nächsten Kapitel unter frame-semantischen Gesichtspunkten ausführlich auf die holistische und modularistische Position einzugehen. Ekkehard Felder (2006) leitet einen von ihm herausgegebenen Sammelband zu „semantischen Kämpfen“ mit einem Aufsatz ein, der das methodische Instrumentarium sowie die bedeutungstheoretische Grundauffassung erläutert, die dem Band zugrunde liegt. Ein bedeutungstheoretisch zentraler Stellenwert kommt dabei Frames zu. In unmittelbarer (wenngleich unausgewiesener) Anlehnung an Busse (1991a, S. 37) begreift Felder „Wissensrahmen“ als Oberbegriff für alle verschiedenen Formen von in der Textlinguistik bisher festgestellten verstehensrelevanten Wissensagglomerationen (Felder 2006, S. 19). Frames, so erläutert er weiter, setzen sich aus Konzepten zusammen, die jeweils eine Teilbedeutung des Frames ausmachen, insofern sie einen Aspekt des Frames beschreiben. Diese Teilbedeutungen wiederum begreift Felder ausdrücklich nicht als semantische Merkmale, da Bedeutung eine „interpretative Hypothese, die sich aus Text- und Situationsbedeutungen zusammensetzt“ (Felder 2006, S. 19), sei. Aufgrund der als falsch befundenen Annahmen der semantischen Komponententheorie geht Felder umgekehrt von einer „ganzheitlichen Bedeutungsauffassung (Holismus)“ (Felder 2006, S. 18) aus, derzufolge zwischen Semantik und Pragmatik nicht scharf getrennt werden könne. Trotz dieser Bestimmungen stellt Felder einige Seiten später fest, dass „die Nicht-Unterscheidung von sprachlicher und kognitiver Ebene mit Sicherheit beträchtliche theoretische Schwierigkeiten bereitet“ (Felder 2006, S. 26).52 Und wenige Zeilen weiter heißt es: 51 52
Dies wohl auch deswegen, weil die konzeptuelle Ebene, auf der Frames in der Zwei-EbenenSemantik wirksam werden würden, nach Bierwisch gar nicht mehr zum semantischen Gegenstandsbereich gehört. Felder stützt sich hier auf Fritz (1998), der seinerseits nach einer sehr knappen Erläuterung der Kognitiven Semantik resümiert: „Diese programmatischen Annahmen können hier nicht näher diskutiert werden. Ich will nur andeuten, daß die Nicht-Unterscheidung von sprachlicher und
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Ohne die programmatischen Annahmen hier näher zu diskutieren, lassen sich zwei Richtungen der kognitiven Semantik diagnostizieren: a) die semantische Struktur wird mit der kognitiven Struktur identifiziert, was meines Erachtens eine falsche Annahme ist, weil z.B. sprachungebundene Komponenten damit nicht erfasst werden; b) Zweistufenmodell: es geht von einer sprachgebunden gedachten semantischen Form und einer sprachunabhängig (übereinzelsprachlich) gedachten konzeptuellen Struktur aus. […]
Was aber sind „sprachungebundene Komponenten“, die die Kognitive Semantik nicht erfassen können soll? Handelt sich dabei um „nichttextualisierte Verstehensvoraussetzungen“ (Scherner 1979) im weitesten Sinne? Es ist festzustellen, dass die Kognitive Semantik diese Voraussetzungen sogar zum Ausgangspunkt ihrer Untersuchungen macht (vgl. etwa Croft im Druck). Geht umgekehrt das Zweistufenmodell, wie Felder richtig bemerkt, von einer sprachgebundenen semantischen Form aus, so stellt sich hier die Frage nach dem Status dieser Komponenten. Fest steht, dass diese jedenfalls nicht „interpretativen Hypothesen“ entsprechen (vgl. Kap. II.2 und III.1), sondern eher semantischen Merkmalen, deren theoretischen Wert Felder zuvor noch unter Berufung auf ein holistisches Bedeutungsmodell in Frage gestellt hat. Dass weder das holistische noch das Zwei-Ebenen-Modell diskutiert werden, gleichwohl aber mit dem Zweck eklektizistisch zusammengeführt werden, Frames sprachtheoretisch zu fundieren, darf als symptomatisch gelten. Statt einer kritischen Sichtung werden problematische, oft falsche Argumente angeführt. So behauptet Felder beispielsweise, dass sich eine konzeptualistische Semantiktheorie dem Vorwurf ausgesetzt sehe, „in der zugrunde gelegten Sprachauffassung einem unhaltbaren erkenntnistheoretischen Realismus der Abbildtheorie gefährlich nahe zu kommen“ (Felder 2006, S. 26). Gerade Gegenteiliges ist jedoch der Fall: Jackendoff hat gegen einen naiven Realismus sogar eigens den Begriff „projizierte Welt“ eingeführt.53 Weiterhin konstatiert Felder, dass in der Linguistik größtenteils Übereinstimmung darin herrsche, „dass eine Theorie der Konzepte nicht identisch sein kann mit einer Theorie der sprachlichen Semantik“ (Felder 2006, S. 26) (was auch immer letztere sein soll). Hierzu ist nur anzumerken, dass es nach einer über 25-
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kognitiver Ebene [...] und die daraus folgende problematische Gleichsetzung der idiosynkratischen einzelsprachlichen Gebrauchsregeln mit kognitiven Kategorien […] beträchtliche theoretische Schwierigkeiten machen.“ (Fritz 1998, S. 99) Abgesehen davon, dass mir keine Studie bekannt ist, die eine solche Gleichsetzung expressis verbis propagiert, ist bezeichnend, dass eine sachliche Darstellung und argumentative Auseinandersetzung einem pauschalen Urteil weichen. Vgl. hierzu die ausführliche Erläuterung in Kap. VI – doch die zentrale Passage sei auch hier zitiert: „We must take issue with the naive position that the information conveyed by language is about the real world. We have conscious access only to the projected world – the world as unconsciously organized by the mind; and we can talk about things only insofar as they have achieved mental representation through these processes of organisation. Hence the information conveyed by language must be about the projected world.“ (Jackendoff 1983, S. 29)
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jährigen Forschungsgeschichte im angloamerikanischen Raum inzwischen ebenso viele Anhänger und Anhängerinnen der Kognitiven Linguistik wie des modularistischen Modells geben dürfte. Felder fährt fort: „In den mitunter psychologisch dominierten ‚cognitive semantics‘ werden dahingegen nicht selten ohne Begründung Konzepte mit sprachlichen Kategorien wie ‚meaning‘ (Bedeutung) gleichgesetzt“ (Felder 2006, S. 26). Umgekehrt ist jedoch festzustellen, dass die Frage, inwiefern semantische (und grammatische) Strukturen konzeptueller Natur sind, das Kernthema der Kognitiven Linguistik ist. Sowohl die Beiträge in der Zeitschrift Cognitive Linguistics als auch die über 35 Bände, die bislang bei Mouton de Gruyter im Rahmen der Serie „Cognitive Linguistics Research“ erschienen sind, widmen sich diesem Thema. Festzuhalten bleibt, dass Felder einerseits – einer holistischen Bedeutungsauffassung folgend – Frames als zentrale Analysekategorie ansieht, andererseits aber eine Trennung zwischen einer semantischen und einer konzeptuellen Bedeutungsebene propagiert – und somit zugleich für ein modulares Modell einsteht. Wie lassen sich diese antagonistischen Ansätze miteinander vereinigen? Welchen theoretisch-methodischen Vorgaben folgt der Einsatz von Frames, den modularistischen oder den holistischen? Welche Konsequenzen bringt diese Entscheidung mit sich? Lassen sich überhaupt modularistische mit holistischen Theoremen vermengen? Diese Fragen bleiben nicht nur unbeantwortet, sie werden erst gar nicht gestellt. Ganz ähnliche Probleme ergeben sich in einer Reihe von anderen Untersuchungen, so etwa in der korpusanalytischen Studie von Fraas (1996a).54 Fraas setzt Frames als Werkzeug ein, um herauszufinden, wie sich die Konzepte „Identität“ und „Deutsche“ im Zuge der Wiedervereinigung verändert haben. Mit Bezug auf Konerding (1993) versteht sie dabei unter Frames konzeptuelle Wissenseinheiten, „die den rationalen Zugang zu stereotypischem Wissen ermöglichen, das an die Lexik gebunden ist“ (Fraas 1996a, S. 16). Im selben Zusammenhang macht sie deutlich, dass ihr Ansatz in der Tradition der Frame-Theorie Minskys (1975) und Fillmores (1977a, 1982a, 1985) sowie der Prototypentheorie Lakoffs (1987) und Roschs (1977) steht. So scheint es nur konsequent, dass sich auch Fraas von der Komponentialsemantik explizit abgrenzt: Bedeutungen sind nicht als Merkmalsmengen mit hinreichenden und notwendigen Merkmalen zu beschreiben, sondern als mentale Repräsentationseinheiten mit obligatorischen und fakultativen Bestandteilen, die durch Standardwerte (Defaults) mental begrenzt werden, jedoch Optionen zulassen und daher als instanziierbare Variablen fungieren, wobei der Kontext eine wesentliche Rolle spielt. (Fraas 1996a, S. 14f.)
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Auf die Studie von Fraas werde ich im weiteren Verlauf dieser Arbeit noch mehrmals zurückkommen.
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Umso überraschender ist aber, dass Fraas zugleich auf das mehrstufige Semantikmodell von Schwarz und Bierwisch rekurriert. Von diesem übernimmt sie die Annahme, dass sprachliche Bedeutungen drei Repräsentationsebenen aufweisen, eine lexikalische, eine konzeptuelle und eine Ebene, die die Äußerungsbedeutung betrifft (Fraas 1996a, S. 12). Enthält die erste Ebene rein sprachliche Informationen, so sind damit intensionale Bedeutungsaspekte gemeint: Die permanent im Langzeitgedächtnis gespeicherten Lexikonbedeutungen Semsyn können in konkreten Verwendungssituationen kontextuell ausdifferenziert werden […], was sich in Bierwischs Notation […] folgendermaßen darstellen läßt: sem (ct) = m. Die Äußerungsbedeutung m wird als Funktion der Intension einer Lexikoneinheit sem relativ zu einem Kontext ct aufgefaßt. (Fraas 1996a, S. 13)
Worin besteht die „Intension einer Lexikoneinheit sem“? Der erste Widerspruch, der sich innerhalb von Fraas’ Modell ergibt, resultiert – genauso wie bei Felder – aus dem Rekurs auf das Mehr-Ebenen-Modell. Denn die im Langzeitgedächtnis abgespeicherte Lexikonbedeutung „Semsyn“, daran lässt Bierwisch keine Zweifel, entspricht einem Bündel invarianter semantischer Komponenten.55 Wenn Fraas Anleihen bei modular ausgerichteten Theorien macht, nimmt sie somit in Kauf, eine Komponententheorie zu adaptieren, die sie eigentlich ablehnt. Fraas scheint ferner kein Problem darin zu sehen, Frames die Funktion zuzuschreiben, die kontextuelle Ausdifferenzierung der Informationseinheiten zu steuern, die die kontextabstrakte Lexikonbedeutung „Semsyn“ vorgibt. Da die konzeptuelle Ebene, wo Frames anzusiedeln wären, auf Informationen angewiesen ist, die „Semsyn“ auf der semantischen Ebene bereitstellt, wäre der Einfluss auf Frames entsprechend groß. Lassen sich wirklich die mannigfaltigen Wissensaspekte, die Fraas bei der Analyse der Konzepte „Identität“ und „Deutsche“ mithilfe von Frames erarbeitet, mit diesen Vorgaben vereinbaren? Generell gilt auch für Fraas: Welche Konsequenzen die Vermischung dezidiert holistischer Positionen (wie der Fillmores, Lakoffs, Minskys und Roschs) mit Theoremen modularer Ansätze für Frames nach sich zieht, bleibt offen. Der methodische Eklektizismus dürfte jedenfalls kaum zur Klärung der sprach- und kognitionstheoretischen Voraussetzungen der Frame-Semantik beitragen. Anhand von zwei weiteren Beispielen, die ich abschließend nur kurz anführen möchte, soll deutlich werden, dass es sich bei den dargestellten Positionen von Fraas und Felder keineswegs um zu vernachlässigende Einzelfälle handelt. Beide veranschaulichen vielmehr sehr treffend, wie sich der gegen-
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So schreibt Bierwisch in dem von Fraas zitierten Aufsatz: „Da ich bereits die Annahme getroffen habe, daß Wortbedeutungen keine unanalysierten Einheiten sind, ergibt sich zunächst, daß SEM eine Konfiguration semantischer Komponenten sein muß.“ (Bierwisch 1983a, S. 70)
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wärtige Stand der Diskussion über die kognitionstheoretischen Grundlagen der Frame-Semantik im deutschsprachigen Raum darstellt. Christina Gansel (2002) widmet sich in einem Aufsatz der Beziehung zwischen konzeptueller und semantischer Struktur am Beispiel des Verbalfeldes der „verba dicendi“ (Verben des Sagens und Meinens). Einleitend bemerkt Gansel, dass die Beschäftigung mit Semantik aus kognitiver Sicht eine Entscheidung für einen modularen oder holistischen Ansatz voraussetze. Ich gehe in meinen Darlegungen von Modularität aus und betrachte das semantische und das konzeptuelle System als voneinander trennbare Systeme, die über verschiedene Prozeduren und Operationen aufeinander beziehbar sind und damit interagieren. (Gansel 2002, S. 277)
Ihre These besteht nun darin, dass verba dicendi einen gemeinsamen „semantischen Kern“ bzw. ein „Archilexem“ (Gansel 2002, S. 280) aufweisen, dem im Deutschen das Verb sagen entspreche. Dieses Lexem sei nicht nur stilistisch neutral, es verfüge auch über eine „kaum dekomponierbare Allgemeinbedeutung“ und sei ein „Anwärter für eine semantische Universalie“. Die Richtigkeit oder Plausiblität dieser Annahme sei an dieser Stelle dahingestellt. Wichtiger ist in unserem Zusammenhang Folgendes: Handelt es sich bei einem „semantischen Kern“ oder einem „Archilexem“ offensichtlich um ein Element der semantischen Ebene,56 das allen verba dicendi zukommt, so unterscheiden sich diese Verben untereinander dadurch, dass sie auf der konzeptuellen Ebene verschieden ausdifferenziert sind. Nach Gansel leisten Frames diese Ausdifferenzierung, worunter die Autorin im Anschluss an Barsalou (1992a) eine generelle Instanz begreift, mit der die Organisation menschlichen Wissens beschrieben werden könne. Zieht man aber in Betracht, dass Barsalou – nicht anders als Fillmore – Frames als dynamische, rein konzeptuelle Einheiten begreift,57 offenbart sich derselbe Antagonismus, der auch die Konzeptionen von Felder und Fraas problematisch werden ließ. Während der semantische Kern dem Anspruch nach eine kontextunabhängige und übereinzelsprachliche Größe von möglicherweise universaler Gültigkeit darstellt, soll jeder lexikalisch-semantische Eintrag seinen Stellenwert erst in Bezug auf einen Frame erhalten, der dem lexikalisch-semantischen Feld zugrunde liege (Gansel 2002, S. 279). Wie strukturieren Frames aber die Bedeutung der verba dicendi, wenn sich die Verben durch eine „lexikalisch-semantische Basisstruktur“ auszeichnen? Was genau strukturieren Frames? Und abermals: Wie lässt sich eine holistisch
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Zum Gebrauch der „Kern“-Metapher in Mehr-Ebenen-Semantiken vgl. Bierwisch/Kiefer 1970, Schwarz 2000, auch: Kap. III.1.1. Vgl. Barsalou 1992a, S. 21: „Furthermore, frame theorists generally assume that frames are rigid configurations of independent attributes, whereas I propose that frames are dynamic relational structures whose form is flexible and context dependent.”
3. Frames im kognitionswissenschaftlichen Kontext
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angelegte Frame-Konzeption mit einem modularen Ansatz zusammenbringen? Wie in den drei bereits referierten Fallbeispielen thematisiert schließlich auch Andreas Blank (1999) Frames im engen Zusammenhang mit einem modularen Semantikmodell, ohne auf die daraus resultierenden Schwierigkeiten und Ungereimtheiten einzugehen. Blank interessiert sich für kognitive Faktoren, die zum sprachlichen Bedeutungswandel beitragen, und greift dabei u.a. auf Fillmores Frame-Theorie zurück, wobei er unter einem „Frame“ einen Verbund von Konzepten versteht, „die nach dem Kontiguitätsprinzip strukturiert sind“ (Blank 1999, S. 126). Zugleich hält er an der strukturalistisch motivierten Unterscheidung von Sprach- und Weltwissen fest und übernimmt eine abgeschwächte Komponententheorie, nach der Seme abstrahierte Wissensaspekte aus dem enzyklopädischen Wissen sind, „sich also substantiell von anderen Wissensaspekten unterscheiden“58. In direkter Anlehnung an Bierwisch (1983a) legt Blank seinen Überlegungen zum Bedeutungswandel ein Semantikmodell zugrunde, das zwischen der Ebene „einzelsprachlichsememischen Wissens“, „einzelsprachlich-lexikalischen Wissens“ und „außersprachlichen Wissens“ unterscheidet (vgl. Blank 1999, S. 129). Im weiteren Verlauf seiner Argumentation spielt die erste Ebene zwar keine Rolle, im Raum stehen aber die Fragen, wie die drei Ebenen zusammenspielen – und wie insbesondere Frames in das vorgeschlagene Ebenen-Modell integriert werden sollen. Eine Erklärung sucht man vergebens. Es ließen sich einige weitere Beispiele anführen,59 die hier Erwähnten sollten aber ausreichen, um zu belegen, worauf es mir ankommt: Frames spielen zwar im deutschsprachigen Raum eine zunehmend wichtigere Rolle, ungeklärt sind jedoch die sprach- und kognitionstheoretischen Voraussetzungen, unter denen sie thematisiert werden. Offen bleibt somit vor allem, welche Rolle konzeptuelles Wissen bei der Bedeutungskonstitution spielt und welchen Einfluss das gewählte Kognitionsmodell auf die Bestimmung der Funktion von Frames beim Sprachverstehen ausübt.
58 59
Blank 1999, S. 129, kursive Hervorhebung im Original in Fettdruck. Ein besonders interessantes Beispiel ist die umfassende Frame-Theorie von Klaus-Peter Konerding, auf die ich in Kap. VI.3. noch zurückkommen werde. Konerding (1993, S. 223-233) wendet seinen entwickelten Frame-Ansatz an, um ein von ihm so genanntes „Desiderat“ in Bierwischs Zwei-Ebenen-Semantik zu beseitigen, das die konzeptuelle Ebene betrifft. Offen bleibt, ob Konerding die sprach- und kognitionstheoretischen Prämissen des Modells teilt oder nicht.
II. Kognitionstheoretische Voraussetzungen Die Vereinnahmung von Frames in ganz unterschiedlichen Ansätzen legt die Vermutung nahe, dass Frames eine Art Lückenfüllerfunktion zukommt. Stößt eine Theorie an ihre Erklärungsgrenzen und bleibt insbesondere ungeklärt, wie Weltwissen in den Prozess der Bedeutungskonstitution einfließt, treten Frames auf den Plan. Im letzten Kapitel deutete sich aber schon an, dass der kognitionstheoretische Rahmen, in dem Frames thematisiert werden, einen erheblichen Einfluss darauf ausübt, was Frames in semantischer Hinsicht eigentlich sind und welches semantische Wissen sie beschreiben bzw. beschreiben können. Im Folgenden werde ich die These vertreten, dass die kognitionstheoretischen Voraussetzungen, unter denen Frames thematisiert werden, weitreichende Konsequenzen hinsichtlich der Fragen nach sich ziehen, x wie Frames zu modellieren sind, d.h. worin ihre Strukturelemente bestehen, welcher Status ihnen zukommt und welchen Bereich semantischen Wissens sie beschreiben, x wie semantisches Wissen kognitiv organisiert und repräsentiert ist, um überhaupt verstehensrelevant werden zu können, und welche kognitiven Operationen am Aufbau von Frame-Strukturen beteiligt sind, x was Frames über die spezifisch menschliche Fähigkeit aussagen, vermittelt über Sprache epistemische Bezüge zur Welt herzustellen, oder allgemeiner: was Sprachfähigkeit und Kognition insgesamt ausmacht,1 und x worin die spezifischen Probleme bestehen, denen sich eine FrameTheorie zu stellen hat. Angemessene Antworten auf diese Fragen sind erst im Rückgriff auf ein ganzes Kognitionsmodell zu erwarten. Da sich mit der Wahl des Kognitionsmodells u.a. entscheidet, wie weit die semantische Erklärungskraft von Frames reicht und welchen theoretisch-methodischen Vorgaben eine Frame-Theorie zu folgen hat, stellt das Kognitionsmodell weit mehr als nur einen theoretischen Orientierungsrahmen bereit. Ist es holistischer Art, so auch die Semantiktheorie. Ist es hingegen modularistisch motiviert, so wirkt sich dies zumin1
Es ist in diesem Zusammenhang erhellend, Bierwisch 1987a und Lakoff 1988 einer synoptischen Lektüre zu unterziehen. Beide etwa zeitgleich entstandenen Aufsätze haben einen für die Fortentwicklung der kognitiven Linguistik programmatischen Charakter, und beide Programmatiken könnten kaum unterschiedlicher ausfallen. Das betrifft vor allem auch die grundsätzliche theorieinduzierte Einschätzung dessen, was der menschliche Geist ist.
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II. Kognitionstheoretische Voraussetzungen
dest auf die Beziehungen aus, die semantische Strukturen zu anderen Modulen (insbesondere dem phonologischen und syntaktischen) unterhalten.2 Im Fall der Zwei-Ebenen-Semantik betrifft der Modularismus, wie wir sehen werden, sogar die interne Organisation semantischen Wissens. Vor dem Hintergrund des Holismus/Modularismus-Dualismus, der die gesamte Kognitionsforschung durchzieht, scheinen zwei Szenarien denkbar zu sein: Entweder Frames strukturieren „die konzeptuelle Ebene und bilden lediglich einen Rahmen für das Potenzial der Vertextung von Wissen“ (Fraas 1996a, S. 27); dann bestimmen Frames das, was Bierwisch (1979, S. 77) den „Aktualisierungskontext“ nennt, von dem er die rein „sprachliche Bedeutung“ eines Ausdrucks unterschieden wissen will. Oder aber Frames fungieren als übergeordnetes Repräsentationsformat für „alle verschiedenen Formen von in der Textlinguistik bisher festgestellten verstehensrelevanten Wissensagglomerationen“ (Busse 1991a, S. 37). Im ersten Fall übernehmen Frames die semantische Funktion, kontextuell das anzureichern, was die sprachlich determinierte so genannte „semantische Form“ vorgibt (vgl. Dölling 2005). Im zweiten Fall ist Frames hingegen keine semantische Repräsentations- und Determinationsebene vorgeschaltet; Bedeutungsaktualisierung ist hiernach immer eine Form der Konzeptualisierung (Langacker 1987, S. 156). Im Folgenden stelle ich verschiedene bedeutungstheoretische Modelle vor, in denen Frames thematisiert werden. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, unter welchen Bedingungen die jeweils vertretene Bedeutungstheorie reduktionistisch wird, also verstehensrelevantes Wissen nicht mehr zu explizieren imstande ist. Meine Argumentation wird darauf hinauslaufen, dass Frames ihr semantisches Erklärungspotential nur innerhalb eines holistischen Ansatzes voll entfalten können.
1. Holismus vs. Modularismus: ein Beispiel zur Illustration Bevor ich auf einzelne Positionen eingehe, sei der Widerstreit Holismus/Modularismus am Beispiel der Semantik von Präpositionen illustriert. Aus holistischer Perspektive kommt der Sprache kein entwicklungspsychologischer Sonderstatus zu. Leitend ist die Annahme, dass sich die Fähigkeit, zu 2
Jackendoff lehnt beispielsweise eine Trennung zwischen einer semantischen und konzeptuellen Bedeutungsebene (also die Ausgangsbedingung einer Zwei-Ebenen-Semantik) strikt ab (Jackendoff 1983, S. 110). Stattdessen plädiert er für einen dreigeteilten modularen Aufbau der menschlichen Sprachfähigkeit, in dem das konzeptuelle System eine direkte Schnittstelle zum syntaktischen System besitzt. Hierin besteht der wesentliche Unterschied zum Zwei-Ebenen-Modell, das zusätzlich eine rein sprachliche Ebene postuliert, die zwischen dem syntaktischen und semantischen System vermittelt. Vgl. hierzu Kap. III.2.
1. Holismus vs. Modularismus: ein Beispiel zur Illustration
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sprechen und Sprache zu verstehen, genauso wie andere menschliche Fähigkeiten in der sozialen Praxis und unter den Bedingungen unserer körperlichbiologischen Verfasstheit herausgebildet hat. Innerhalb ebendieser Matrix sind infolgedessen sprachliche Bedeutungen zu thematisieren. Statt die Bedeutungen von Präpositionen wie in, auf, vor, unter usw. durch erfahrungsunabhängige semantische Formen prädeterminiert zu sehen, hängen diese aus holistischer Sicht umgekehrt sehr eng mit unseren vielfältigen, sowohl perzeptuellen als auch sensomotorischen Umwelterfahrungen zusammen. Über die Nahrungsaufnahme lernen Säuglinge etwa schon früh, den eigenen Körper als „Container“ wahrzunehmen. So bilden sich bereits in diesem Entwicklungsstadium schematisierte Konzepte („image schemata“) heraus. Lakoff und Johnson argumentieren, dass diese später gleichsam als Konzeptualisierungsschablone für eine ganze Reihe sprachlicher Ausdrücke fungieren.3 Wie das Bedeutungspotential – hier der Präposition in – ausfällt, hängt also in ontogenetischer Sicht wesentlich von körper-basierten Erfahrungen ab. Erfahrungszusammenhänge gehen aber nicht nur mittelbar in die semantische Interpretation eines sprachlichen Ausdrucks ein. Im Prozess der Bedeutungsaktualisierung sind sie auch unmittelbar daran beteiligt. So erschließt sich die konkrete Äußerungsbedeutung der Präposition in aus der konzeptuellen Struktur, in der das Wort eingebettet ist. Die Aktivierung verstehensrelevanten Wissens verläuft dabei über den Umweg eines Frames, der relevante Standardinformationen (in Gestalt von Standardwerten, „default values“) enthält. Im genannten Beispiel aktiviert das Wort in den Container-Frame.4 Über zahlreiche Frame-Elemente (Leerstellen) sind verschiedene Informationseinheiten potentiell abrufbar: x Container-Typ: Um welchen Typ von Container handelt es sich (Thermosflasche, Müllcontainer, Hosentasche usw.)? Was unterscheidet diesen Container-Typ von anderen? x Gebrauch: Wozu wird der Container typischerweise gebraucht (zum Kochen, zum Trinken usw.)? Wie oft wird er genutzt? x Beschaffenheit: Aus welchem Material besteht der Container typischerweise (Porzellan, Stahl, Glas usw.)? Welche Eigenschaften weist das Material auf? x Größe: Welche Ausmaße hat der Container typischerweise? Welche Form hat er? Ist er geschlossen (Schrank, Koffer usw.) oder offen (Glas, Vase, Cabriolet usw.)? 3
4
Lakoff 1987, 1990; Johnson 1987, 1999; Lakoff/Johnson 1980, 1999; vgl. unter entwicklungspsychologischer Perspektive Mandler 2004, 2005. Das Container-Konzept stellt hierbei freilich nur ein Beispiel von vielen dar. Als konzeptuelle Metapher ist es uns allgegenwärtig (etwas in sich hineinfressen, etwas herausbrüllen, etwas platzt aus einem heraus, jemand explodiert usw.). Vgl. auch die Angaben zum Container-Frame in: http://www.cogling.com/index.php?title=F:Containers [letzter Zugriff am 21. April 2007].
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II. Kognitionstheoretische Voraussetzungen
x
Inhalt: Was beinhaltet der Container typischerweise (Kleider, Getränke, Müll usw.)? Wie lange/wann beinhaltet er es (vgl. Korb, Aufzug)? x Teil: Welche Teile des Containers lassen sich unterscheiden (Boden, Seitenwände, Flaschenhals)? x Benutzer: Wer ist der Benutzer des Containers (eine bestimmte Person, eine bestimmte Berufsgruppe usw.)? x Ort: Wo findet man den Container typischerweise (in Wohnzimmern, Küchen, im Garten, an Flughäfen usw.)? Aus dieser Datenmenge können Informationen variabel abgerufen werden.5 In dem komplexen Ausdruck ein Sprung in der Vase (ein Beispiel, auf das ich gleich noch zurückkommen werde) richtet sich der semantische Fokus auf die Beschaffenheit des Materials einer Vase unter gleichzeitiger Ausblendung anderer Wissensaspekte (wie des Container-Typs, Gebrauchs, Inhalts usw.). Dazu führt ein Prozess der konzeptuellen Integration: Ein Sprung ist eine nicht-stoffliche Entität und bezieht sich auf die materielle Beschaffenheit eines Gegenstandes, so dass nur dieser Bedeutungsaspekt des Ausdrucks Vase profiliert wird.6 In einem modularen Semantikmodell spielen dagegen solche konzeptuellen Strukturen und kognitiven Prozesse nur eine zweitrangige Rolle. Modularisten argumentieren, dass es neben dem konzeptuellen ein sprachliches Wissenssystem gibt, das ersterem bei der semantischen Interpretation vorausgeht. Ihr primärer Gegenstandsbereich ist darum die zugrunde liegende, rein sprachliche Bedeutungsrepräsentation eines Ausdrucks. In modularistischer Lesart handelt es sich im Fall der Präposition in um eine Argumentstruktur mit zwei Variablen, von denen eine für die lokalisierte Entität steht, während die andere die Region angibt, in der das Objekt enthalten ist. Neben diesen syntaktisch motivierten Komponenten enthält die formal-semantische Repräsentation außerdem mindestens ein semantisches Merkmal. Schwarz (2000, S. 32) gibt die Bedeutung von in so an: DAS ZU SITUIERENDE OBJEKT X IST ENTHALTEN IN EINER REGION VON Y.7 Während also X und Y 5
6
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Fillmore gibt ein illustratives Beispiel dafür, wie allein die Präposition in den Container-Typ spezifiziert. Vergleiche hierzu den Unterschied zwischen I saw it in the news und I saw it on the news. Fillmore bemerkt (1984, S. 128): „The difference is in no way directly explained by knowledge of any independently discoverable difference in meaning between in and on, but is rather the result of a complicated set of inferences involving the verb see, the recognition of contexts in which some segments of a larger domain can be referred to as the news […].“ In einer semantischen Detailanalyse müssten freilich über diese zwei Aspekte hinaus zahlreiche andere benannt werden. Vom Material hängt etwa ab, welche Auswirkungen ein Sprung auf den funktionalen Wert des Gegenstandes hat, vgl. der Sprung in der Vase versus der Sprung in der Schallplatte. Ein Hinweis zur Notation: Um zu kennzeichnen, dass es sich um semantische Komponenten handelt, werden üblicherweise Großbuchstaben benutzt; diese Konvention übernehme ich hier. Ob es sich dabei um eine primitive Komponente (semantische Konstante) oder um eine komplexe Komponente (konzeptuelles Element) handelt, ist damit nicht ausgesagt.
1. Holismus vs. Modularismus: ein Beispiel zur Illustration
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die Variablen der Argumentstruktur sind, stellt ENTHALTEN die semantische Konstante dar.8 Die These ist nun, dass dieses abstrakte Repräsentationsformat alle Bedeutungsvarianten der Präposition in prädeterminiert. Verschiedene Lesarten ergeben sich aus dem Umstand, dass unterschiedliche konzeptuelle Werte die Variablen der Argumentstruktur besetzen. Vergleiche hierzu folgende Beispiele, die Herweg (1988, S. 15ff.) im Rahmen einer modularen Theorie erläutert. (1) (2) (3)
der Sprung in der Vase die Blume in der Vase das Wasser in der Vase
Abhängig davon, ob die konzeptuelle Komponente SPRUNG, BLUME oder WASSER die erste Variable der Argumentstruktur von in besetzt, wird festgelegt, auf welche Weise der semantische Gehalt des Ausdrucks spezifiziert wird. Wie radikal semantische Repräsentationen unterspezifiziert sind, zeigt sich daran, dass sie hinreichend abstrakt sein müssen, um alle konzeptuellen Interpretationen gleichermaßen unter sich zu subsumieren. Zur Unterscheidung der drei Interpretationsvarianten (1) bis (3) tragen ausschließlich Inferenzen bei, die auf enzyklopädisches Wissen zurückgreifen. Dazu zählt etwa das Wissen, dass eine Vase, in der sich eine Blume oder Wasser befindet, normalerweise in aufrechter Position steht, was für eine Vase mit einem Sprung nicht in gleicher Weise gilt (vgl. Taylor 1995, S. 5ff.), aber auch, dass ein Sprung keine stoffliche Entität ist, sondern nur den Zustand eines Materials beschreibt, Wasser hingegen eine Flüssigkeit darstellt, die sich im Hohlraum einer Vase verteilt, während Blumen schließlich eine feste Substanz haben und aus einer Vase prototypischerweise herausragen. Formal-semantische Bedeutungsrepräsentationen erfassen solche Wissensaspekte nicht. Welcher Art soll das semantische Merkmal sein, das so unterschiedliche Formen von Enthaltensein umfasst, ohne selbst konzeptuelle Strukturen aufzuweisen? Welche verstehensrelevante Funktion erfüllt eine 8
Die semantische Konstante weicht damit hinsichtlich ihres Abstraktiongrades von üblichen Angaben (Lang 1991, S. 128; Herweg 1988, S. 74) ab. Herweg sieht folgende semantische Form für die Präposition in vor: Ox Oy [LOC [x, PLACE [y]]]. Solche ‚Übersetzungen‘ eines natürlichsprachlichen Ausdrucks in eine formal-logische Sprache werden uns später noch im Zusammenhang mit der Zwei-Ebenen-Semantik begegnen. Der Lambda-Operator (O) ist ein Funktionsausdruck, der die charakteristische Funktion der Menge von Individuen angibt, auf die ein Prädikat zutrifft. Genauer ist im genannten Beispiel in die lokalisierte Entität x in einer Region situiert, die der Raum beschreibt, den die Entität y einnimmt. Das entspricht ungefähr Schwarz’ Komponente „ENTHALTEN“. In den Beispielen (1) bis (3) wird die Variable x durch die Werte „Sprung“, „Blume“, „Wasser“ und die Variable y durch den Wert „Wasser“ ersetzt. Wichtig ist dabei, dass in der formalen Repräsentation keine Informationen über die Eigenschaften des Raumes enthalten sind, etwa darüber, ob, wie in (2) und (3), der Innenraum eines Gefäßes oder – wie in (1) – das Material des Gefäßes gemeint ist.
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II. Kognitionstheoretische Voraussetzungen
formale Repräsentation von in, die von all jenen Wissensaspekten abstrahiert, die die Bedeutungsnuancen von (1), (2) und (3) ausmachen? Fragen dieser Art werde ich in Abschnitt II.2.1 aufgreifen. Die holistische Gegenthese lautet, dass es keine solche rein sprachliche Ebene der Bedeutungsrepräsentation gibt und semantische Interpretationen im Kern enzyklopädisch motiviert sind und deshalb grundsätzlich aus Konzeptualisierungsleistungen hervorgehen. Mit dieser Thematik sind zahlreiche althergebrachte Streitfragen angerührt. Hoch brisant ist die Frage nach der kognitiven Organisation nicht zuletzt wegen ihrer erkenntnistheoretischen Implikationen. Ob der Geist ein unteilbares Ganzes darstellt und unabhängig vom menschlichen Körper betrachtet werden kann, gehört bekanntlich zu den widerständigsten Problemen der abendländischen Philosophie. Die Debatte geht auf frühidealistische Positionen wie die Descartes’ zurück. Auch in der kognitionswissenschaftlichen Auseinandersetzung zwischen dem Modularismus und Holismus geht es um diese Körper/Geist-Dichotomie. Die These von der Autonomie des sprachlichen Moduls rührt gerade daher, dass das sprachliche Regelsystem als vom konzeptuellen, sensomotorischen System nicht affiziert angesehen wird. Angewandt auf das Sub-Modul Semantik zieht diese Annahme einen rationalistischen Objektivismus nach sich,9 der darin besteht, eine prädeterminierte und rein sprachlich motivierte Bedeutungsebene anzusetzen. Diese hat völlig unabhängig von erfahrungsbasierter Kognition Bestand und lässt sich mit Hilfe der Prädikatenlogik algorithmisch als Manipulation arbiträrer abstrakter Symbole bestimmen (Bierwisch 1987). Modularitätstheoretische Konzeptionen stehen in diesem Sinn in der rationalistischen Tradition cartesianischer Prägung.10 Der Begriff der erfahrungsbasierten Kognition bezieht sich in Anlehnung an Lakoff und andere Vertreter der Kognitiven Linguistik zunächst auf einen sehr weiten und unspezifischen Bereich von Erfahrung, der sensomotorische, soziale, emotionale usw. Aspekte gleichermaßen umfasst.11 In der Konzeption einer Zwei-Ebenen-Semantik ist das Prinzip der Modularität dafür verantwortlich, dass dieser Erfahrungsbereich für die Grundfesten einer Semantiktheorie völlig belanglos bleibt. Das, was auf der ersten Ebene der semantischen Repräsentation festgelegt wird, wird auf der zweiten, konzeptuellen Ebene lediglich epistemisch „angereichert“ (Dölling 2005, S. 159ff.). Die holistische Gegenposition fasst Lakoff in drei Punkten zusammen:
9 10
11
Putnam (1975) spricht hier von einer objektivistischen Metaphysik; vgl. auch Lakoff 1988. Modularität schließt in der generativen Grammatik auch neurophysiologische Aspekte ein: Sie ist eine Beschreibung dessen, wie unser Gehirn neurologisch ausgestattet und strukturiert ist. Zur Kritik einer solchen Zwei-Welten-Ontologie aus philosophischer Sicht vgl. Krämer 2001, S. 3754, aus linguistischer Sicht die Beiträge in Linguistic Review 22/2005. Lakoff (1988, S. 120) selbst spricht von „experientialist cognition“.
1. Holismus vs. Modularismus: ein Beispiel zur Illustration
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- Where objectivist cognition views human thought as fundamentally disembodied, experientialist cognition sees human thought as essentially involving the kind of structured experience that comes from having human bodies, especially from innate human sensory-motor capacities. - Where objectivist cognition sees meaning in terms of a “correspondence theory”, as the association of symbols with external objects, experientialist cognition sees meaning as essentially involving an imaginative projection, using mechanisms of schematization, categorization, metaphor and metonymy to move from what we experience in a structured way with our bodies to abstract cognitive models. - Where objectivist cognition sees thought processes as the manipulation of abstract symbols by a great many highly-structured algorithms, experientialist cognition posits a small number of general cognitive processes whose application to abstract highly-structured cognitive models constitutes reason. (Lakoff 1988, S. 121)
Inzwischen sind diese programmatischen Aspekte einer holistischen Theorie in vielfacher Hinsicht diskutiert, differenziert und durch empirische Studien gestützt worden. Doch nicht alle erweisen sich für eine frame-semantische Konzeption, wie sie hier vorgeschlagen wird, als gleich wichtig. Besonders zentral sind die letzten beiden Punkte, weil es hier um kognitive Prozeduren geht, durch die Wissensrepräsentationen – etwa in Gestalt von Frames – zustande kommen. Der Aufbau konzeptueller Strukturen vollzieht sich als kognitiver Konstruktionsprozess, und es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, welche unterschiedlichen Operationen am Aufbau im Einzelnen beteiligt sind. Der erste Punkt geht einer Frame-Theorie voraus und betrifft den erwähnten Problemkreis der Körper/Geist-Dichotomie. Mit der erkenntnistheoretischen Grundüberzeugung, die unter dem Stichwort „embodiment“ (vgl. Johnson 1987; Lakoff 1987; Zlatev 1997; Lakoff/Johnson 1999; Wilson 2002; Ziemke/Zlatev/Frank 2007) in die Literatur eingegangen ist, vertreten Kognitive Linguistinnen und Linguisten die Ansicht, dass der menschliche Geist, und mithin Sprache, nicht isoliert vom menschlichen Körper sowie den spezifisch menschlichen Kognitionsstrukturen und ihrer Organisation betrachtet werden können.12 Sprachliche Fähigkeiten von unseren körperlichen, physischen, sozialen und kulturellen Erfahrungen zu isolieren, hieße demnach, eine Sprache zu untersuchen, die es nie gegeben hat (und wohl auch niemals geben wird). Umgekehrt besteht die zentrale Aufgabe darin, to ask how much of the structure of language is determined by the fact that people have bodies with perceptual mechanisms and memory and processing and limitations, by the fact that people have to try to make sense of the world using limited resources,
12
Dem „embodiment“-Theorem liegen nach Margaret Wilson (2002, S. 625) sechs Leitthesen zugrunde: „1) cognition is situated; 2) cognition is time-pressured; 3) we off-load cognitive work onto the environment; 4) the environment is part of the cognitive system; 5) cognition is for action; 6) off-line cognition is body-based.“ Als problematisch bewertet sie dabei die fünfte These.
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II. Kognitionstheoretische Voraussetzungen and by the fact that people live in social groups and have to try to communicate with each other. (Lakoff 1982, S. 155)
Sprachliche Kategorien sind folglich keine abstrakten, gleichsam entkörperten, d.h. objektiven Kategorien, sondern konstruierte Produkte, die fest in unserer Erfahrungswelt verankert sind. Die Kluft zwischen einem modularen und einem holistischen Modell ist also enorm. Ins Zentrum linguistischer Betrachtungen rückt im letzten gerade das, was im ersten weitgehend aus dem Blickfeld gerät (vgl. Langacker 1999a, S. 15-17):13 (i) Umweltfaktoren wie die Gravitation und die Interaktion mit der dinglichen Umwelt, (ii) biologische Faktoren anatomischer, physiologischer, neurologischer und perzeptueller Art, (iii) (entwicklungs-)psychologische Faktoren insbesondere hinsichtlich der Ontogenese kognitiver Fähigkeiten, (iv) historische Faktoren mit Blick auf die Begrenztheit kognitiv verfügbarer Wissensressourcen zum einen und auf die Dynamik von Grammatikalisierungsprozessen zum anderen, (v) soziokulturelle Faktoren, die dem unaufhebbaren Umstand Rechnung tragen, dass Sprache in erster Linie ein Werkzeug zur Kommunikation ist und als solches ein dynamisches Repertoire an konventionellen Zeichen bereitstellt. Dass die Unterschiede auch dann noch gewaltig sind, wenn es um Bedeutungsrepräsentationen im engeren Sinne – also auch um Frames – geht, werden wir im Folgenden sehen.
2. Modularismus Innerhalb des modularistischen Paradigmas gibt es verschiedene Ausprägungsvarianten. Mit Blick auf bedeutungstheoretische Fragestellungen hatte ich in Abschnitt I.3.2 zwischen unterschiedlichen „Ebenen-Modellen“ unterschieden. So beschreibt Bierwisch etwa sprachliche Bedeutungen als Zusammenspiel zweier Ebenen, einer rein sprachlichen und einer konzeptuellen. Dem hält Schwarz ein Modell entgegen, das drei Repräsentationsebenen vorsieht. Im Rahmen eines semantischen Holismus nimmt Jackendoff mit sei13
In ironischer Umkehrung der Programmatik Chomskys (1965, § 1) könnte man formulieren: Der Gegenstand einer linguistischen Theorie ist der alltägliche Sprecher-Hörer und die alltägliche Sprecherin-Hörerin, der/die in einer heterogenen Sprachgemeinschaft lebt und bei der Anwendung seiner Sprachkenntnis in der aktuellen Rede immer auch durch grammatisch relevante Bedingungen wie begrenztes Gedächtnis, Zerstreutheit, Verschiebung in der Aufmerksamkeit und im Interesse und typische und zufällige Fehler affiziert wird. Vgl. auch etwa Langacker 1988a.
2. Modularismus
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nem an gestaltpsychologische Überlegungen anschließenden Beschreibungsmodell eine Position ein, in der sprachliche Bedeutungen als konzeptualistische Einheiten gelten. Syntaktischen und phonologischen Strukturen spricht Jackendoff dagegen (ähnlich wie Bierwisch und Schwarz) denselben konzeptuellen Status ab. In diesem Punkt unterscheiden sich die holistischen Ansätze von Langacker, Fillmore und anderen. Im Folgenden werden zunächst zwei modulare Ausprägungsvarianten aus frame-semantischer Perspektive erörtert. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, inwiefern die vertretenen Ansätze einen semantischen Reduktionismus nach ziehen, der darin besteht, dass bedeutungsrelevantes Wissen nur in Teilen expliziert wird bzw. expliziert werden kann. 2.1 Zwei-Ebenen-Semantik (M. Bierwisch) Der modulare Ansatz ist aufs Engste mit der generativen Grammatik verknüpft (Bierwisch 1987). In generativer Perspektive ist Sprache als ein kognitives Subsystem von anderen Subsystemen unterschieden (Chomsky 1980, S. 3; 1986, S. 5). Jedes (Sub-)System funktioniert autonom, d.h. es ist konstituiert durch ein eigenständiges Regelsystem, das sich in weitere Subsysteme aufgliedert. Das Prinzip der Modularität gilt dabei für alle Abstraktionsstufen, nämlich für x die generelle Organisation der menschlichen Kognition (perzeptuelles, sensomotorisches, sprachliches System) x die spezifischere Organisation des sprachlichen Teilsystems (phonologisches, morphologisches, syntaktisches, semantisches System) x die noch spezifischere Organisation des semantischen Sub-Teilsystems (semantisches und konzeptuelles System). Relevant ist in unserem Zusammenhang natürlich vor allem der dritte Punkt. Dennoch ist es wichtig, den Gesamtzusammenhang im Auge zu behalten: Sprache wird verstanden als ein autonomes mentales Modul mittleren Abstraktionsgrades, das sich aus eigenständigen Kenntnissystemen zusammensetzt, die in der Sprachverarbeitung, also in der Sprachproduktion und -rezeption, miteinander interagieren.14 Vor diesem Hintergrund muss auch Bierwischs berühmt gewordene Formel zur Beschreibung der kompositionel-
14
Fodor (1983) hat hierzu den differenziertesten Theorieentwurf vorgelegt und dafür plädiert, Modularität nicht nur hinsichtlich struktureller, sondern auch hinsichtlich prozeduraler Eigenschaften kognitiver Systeme zu untersuchen. Er unterscheidet dabei drei kognitive Mechanismen (Transduktoren, Inputsysteme, zentrale Prozesse), allerdings für den weiteren Verlauf meiner Argumentation irrelevant sind. Ich gehe deshalb nicht weiter auf Fodors Ansatz ein und beschränke mich auf die Trennung eines semantischen Wissenssystems von einem konzeptuellen.
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II. Kognitionstheoretische Voraussetzungen
len Zusammensetzung einer Äußerungsbedeutung gesehen werden (vgl. Bierwisch 1983b, S. 33ff.; auch 1979): (((ins (phon, syn, sem)) ct, m) ias, ks). Ausformuliert: Eine sprachliche Äußerung hat eine grammatische Struktur, die sich aus dem Triple phonologische Struktur phon, syntaktische Struktur syn und semantischer Inhalt sem ergibt. Die Äußerung ist eine physikalisch beschreibbare Einheit ins, die sich innerhalb eines Kontextes ct zur aktuellen Bedeutung m ausdifferenziert. Diese erfüllt ihrerseits in einer konkreten Äußerungssituation ias über eine kommunikative Funktion ks. Das grammatikdeterminierte sprachliche System findet sich in dieser Formel in der innersten Klammer, also dem Triple phon, syn, sem wieder. Alle anderen Einheiten gehören dem konzeptuellen System an. Bierwisch unterscheidet hierbei zwar genauer zwischen dem konzeptuellen System C, konstituiert durch ct und m, und dem System der Kommunikationsregeln, konstituiert durch ias und ks. Beide greifen aber auf Weltwissen zurück. Im Gegensatz zum grammatischen System stellen sie somit beide konzeptuelle Größen dar. In dem Maße, wie die generative Grammatik in Anlehnung an Chomskys erweiterte Standardtheorie von der grundlegenden Prämisse ausgeht, dass Sprach- und Konzeptualisierungskompetenz zwei autonome kognitive Domänen konstituieren, genießt auch ein Teilbereich der semantischen Kompetenz einen kognitiv autonomen Status (vgl. Abb. 1).15 Diese Dimension semantischen Wissens bildet, gleich der Syntax und der Phonologie, ein grammatisches Modul. Anders als diese zeichnet es sich aber durch die Schnittstellenfunktion zum konzeptuellen System aus. In der Ausweitung der zunächst rein syntaxtheoretischen Überlegungen (Chomsky 1965) auf andere linguistische Beschreibungsebenen betrifft somit die generativ-grammatische Leitthese angeborener grammatischer Strukturen ebenso einen Teilbereich semantischen Wissens. Da dieser der menschlichen Konzeptualisierungsleistung vorgängig ist, operiert er in Sprachverstehensprozessen nicht nur modular, d.h. losgelöst von erfahrungsbasierter Kognition, sondern vermag in dieser Funktion ebenso als autonomes Regelsystem rekonstruiert zu werden.16 Innerhalb semantischen Wissens ergibt sich demzufolge auch eine MehrEbenen-Gliederung. So unterscheidet Bierwisch (1979, S. 64ff.) an einer Stelle 15
16
Bierwisch 1982, S. 13: „[S]emantic representations of lexical items in general have a certain amount of internal structure, i.e. they are configurations of semantic primitives determining the context dependent interpretation of linguistic expressions.“ Und er fährt mit der Feststellung fort, „that lexical items are in a sense self-contained structure units, whose categorization determines their possible function within larger units“. Eine frühe Kritik am modularen Modell findet sich etwa in McCawley 1968, Lakoff 1971, Seuren 1972, zusammenfassend auch Schnelle 1970 und Olson 1970.
69
2. Modularismus
zwischen drei semantisch relevanten Wissenstypen, „Sprachwissen“, „Alltagswissen“ und „Interaktionswissen“. Alle drei gehorchen autonomen Formationsregeln. Während dabei „Interaktionswissen“ und „Alltagswissen“ dem konzeptuellen System angehören, bildet „Sprachwissen“, worunter Bierwisch die rein sprachlich determinierte Bedeutung (oder „logische Form“) eines Ausdrucks versteht, das semantische System. In Abb. 1 ist die Beziehung der drei Ebenen zueinander bildlich veranschaulicht. „Sprachwissen“, „Alltagswissen“ und „Interaktionswissen“ – auch das zeigt Abb. 1 – stehen in einem einsinnigen Determinationszusammenhang. Was auf der Ebene des Sprachwissens angelegt ist, wird auf der Ebene des Alltags- und Interaktionswissens nur ausdifferenziert. Daraus ergibt sich das, was der Konzeption eines „Bedeutungsbehälters“ ähnelt.17
Determinationsrichtung
CS (t)
Ebene des Interaktionswissens: kommunikativer Sinn des Äußerungsexemplars t
M (t)
Ebene des Alltagswissens:
konzeptuelles System
Äußerungsbedeutung des Äußerungsexemplars t Ebene des Sprachwissens:
B (A)
sprachlich determinierte Bedeutung (logische Form)
semantisches System
Abb. 1: Das Konzept des ‚Bedeutungsbehälters‘ im Rahmen von Mehr-EbenenSemantiken, hier rekonstruiert auf der Basis von Bierwisch 1979, S. 64-72
Die Möglichkeiten und Grenzen, die dem semantischen Verarbeitungsprozess inhärenten Bedeutungskomponenten empirisch zu ermitteln, legen dabei jene methodischen Prinzipien fest, die sich ihrerseits aus dem generativgrammatischen Primat der Syntax ergeben. Zu nennen wäre insbesondere das an die syntaktische Struktur gebundene Prinzip der strikten Kompositionalität (vgl. etwa Bierwisch 1971, Dölling 2001a), wonach sich die Bedeutung kom17
Diesem Modell werde ich insbesondere in Kap. IV.2.4 die Konzeption des „Bedeutungspotentials“ entgegensetzen.
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II. Kognitionstheoretische Voraussetzungen
plexer Ausdrücke aus der Bedeutung ihrer Elementarzeichen in Abhängigkeit von der syntaktischen Struktur zusammensetzt. Zentral ist weiterhin die aus dem Strukturalismus übernommene methodische Voraussetzung „Eine Form – eine Bedeutung“ (Jacobson 1936; Saussure 2001), die eine gestufte Betrachtung sprachlicher Bedeutungen, also eine kategoriale Trennung von Ausdrucks- und Äußerungsbedeutung motiviert (vgl. Dölling 2001b, S. 7f.; Dölling 2005, S. 163f.). „Form“ bezieht sich auf die ausschließlich durch das Sprachsystem determinierte und algorithmisch errechenbare Bedeutungsdimension, „Bedeutung“ dagegen auf die kontextabhängige Dimension einer konkreten Äußerungseinheit. Wie bereits erwähnt, geht die Grundidee einer solchen methodischen Vorgehensweise auf Chomsky 1965 zurück. Chomsky legt hier die Basis für eine syntaxtheoretische Betrachtung der Semantik. In Anlehnung daran geht es Modularisten bei der Beschreibung semantischen Wissens zunächst um die Ebene der semantischen Form. Sprachliches Wissen ist Wissen um sprachliche Formen, und diese stellen ein kontextunabhängiges Bedingungsraster für die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks bereit, das durch das Zusammenspiel mit anderen Kenntnissystemen auf eine kontextspezifische Bedeutung – die Äußerungsbedeutung – abgebildet wird. (Meyer 1994a, S. 62-63)
In seinem Sprachmodell konkretisiert Chomsky dieses Bedingungsraster mit der Annahme einer syntaktisch motivierten „Basis-Komponente“ (Chomsky 1965, S. 88-90, 113-121), die den Input zur semantischen Komponente liefern soll, indem sie syntaktische Selektionsbeschränkungen angibt. Dann erst erzeugt die semantische Komponente aus dieser Tiefenstruktur eine semantische Repräsentation. Bereits in der Basis-Komponente werden also jene semantischen Merkmale einer lexikalischen Kategorie identifiziert, die die Selektion einer anderen, mit ihr kombinierbaren lexikalischen Kategorie festlegen. Weil beispielsweise das Verb schlafen einem möglichen Subjekt die Selektionsbeschränkung [– abstrakt] auferlegt, können Ideen nicht schlafen. Methodologisch läuft ein modularistisches Sprachmodell auf die Ausgrenzung enzyklopädischen Wissens aus der semantischen Theorie hinaus. Die möglichen Selektionsbeziehungen (etwa zwischen einem Nomen und einem Verb) determinieren nämlich rein grammatische Relationen, und diese genießen einen autonomen, d.h. von Bedeutungen unabhängigen Status (Chomsky 1965, S. 147-155). Als solche sind sie von konzeptuellem Wissen kategorial getrennt. Die Ermittlung der Selektionsbeschränkungen sichert dabei eine merkmalsemantische Checkliste. Widersprechen sich Merkmale zweier lexikalischer Kategorien (z.B. [+ abstrakt], [– abstrakt]), lassen sie sich nicht miteinander kombinieren. Lange Zeit spielte aber die Semantik in modularen Ansätzen eine nur nachgeordnete Rolle. Im Mittelpunkt der Untersuchungen stand vor allem die
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2. Modularismus
syntaktische Komponente der Sprachfähigkeit. In der Konzeption Chomskys weist diese keine Schnittstellen zu außersprachlichen Kenntnissystemen auf. Da dies offensichtlich für das semantische System nicht gilt, kommt diesem aus modularistischer Perspektive eine besondere Funktion zu. Die semantische Sprachkomponente vermittelt zwischen dem sprachlichen und außersprachlich-konzeptuellen System. In zahlreichen Studien haben insbesondere Bierwisch (1983a, 1983b) und Lang (1985, 1988) diese Schnittstellenfunktion („interface“) zu veranschaulichen versucht. Einerseits berücksichtigen sie die konzeptuelle Dimension relevanten Weltwissens bei der Bedeutungsaktualisierung; andererseits halten sie daran fest, dass die Kernbedeutung eines jeden sprachlichen Ausdrucks durch die Grammatik determiniert ist. Sie postulieren somit eine zweistufige Repräsentation sprachlicher Bedeutungen.18 Unter dem Namen „Zwei-Ebenen-Semantik“ ist dieses Modell in die Literatur eingegangen.
SYN
SEM = semantische Repräsentation Ox
CS
[BESUCHEN (peter, x)]
Fügungspotential
Sprachwissen
Referenzpotential
Weltwissen
Abb. 2: Trennung von Sprach- und Weltwissen in einer Zwei-Ebenen-Semantik, hier am Beispiel des Verbs besuchen
Die modularistischen Grundannahmen werden nunmehr auf die interne Struktur des semantischen Systems ausgeweitet. Einerseits werden semanti18
Dölling 1995, S. 128: „Damit wird auch vorausgesetzt, daß die semantische Repräsentation eines Lexems keinerlei Bestandteile enthält, die ihrem Urspruch nach als Kenntnisse von der außersprachlichen Welt klassifiziert werden müssen. Eine spezielle Konsequenz dieser Form von Modularität ist, daß jene Bedingungen, die traditionell als semantische Selektionsbeschränkung verstanden werden und dabei Wissen über die ontologische Kategorienzugehörigkeit von Entitäten beinhalten, nicht mehr als lexikalische Voraussetzungen zur Verfügung stehen.“
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II. Kognitionstheoretische Voraussetzungen
sche Merkmale als Prädikatskonstanten im Sinne des Prädikatenkalküls verstanden, andererseits so genannte Lambda-Operatoren als weitere Determinanten des Sprachsystems angesetzt, die syntaktische Leerstellen angeben. Zusammen legen sie fest, „welche Konzepte sprachlich wie ausgedrückt werden“ (Wiese 1999, S. 94). Wie die Interaktion zwischen dem semantischen und konzeptuellen System genauer zu fassen ist, zeigen etwa die Studien zur Bedeutungsrepräsentation von Dimensionsadjektiven (Bierwisch 1986; Bierwisch/Lang 1987). Die erste Ebene, die der semantischen Repräsentation „SEM“, ist rein sprachlicher Art, lexikonbasiert, d.h. in Form und Substanz an Prinzipien der Universalgrammatik gebunden und streng komponentiell aufgebaut, also in semantische Komponenten strukturell dekomponierbar (vgl. auch Lang 1994). Die zweite, konzeptuelle Ebene „CS“ ist dagegen sprachunabhängig und basiert auf menschlichem Erfahrungswissen. Sie „determiniert die mentale Repräsentation dessen, was durch sprachliche Äußerungen wiedergegeben wird“ (Bierwisch 1987, S. 6). Semantische Repräsentationen übernehmen hiernach insofern eine spezifische Schnittstellenfunktion zwischen dem konzeptuellen und dem syntaktischen System „SYN“, als sie zum einen über LambdaOperatoren solche Leerstellen anzeigen, die auf der syntaktischen Ebene durch Konstituenten besetzt werden können, und zum anderen einen Bereich möglicher konzeptueller Weltwissenselemente markieren, die bei der syntaktischen Kombination infrage kommen. Diese doppelte Funktion semantischer Repräsentationen bezeichnet Wiese deshalb als die Bestimmung des syntaktischen „Fügungspotentials“ einerseits und die Festlegung des konzeptuellen „Referenzpotentials“ andererseits (Wiese 1999, S. 93-94). Im Prozess der Bedeutungsaktualisierung wird dieses Referenz- und Fügungspotential durch Weltwissen spezifiziert. Weltwissen bildet die Menge möglicher konzeptueller Elemente, die zur Interpretation der semantischen Einheit herangezogen werden kann, Sprachwissen hingegen jene Menge rein sprachlicher Elemente (auch „Komponenten“, „Primitiva“ oder „semantische Konstanten“ genannt), die mögliche konzeptuelle Interpretationen eines sprachlichen Ausdrucks auf einen bestimmten Referenzkorpus einschränkt (s. Abb. 2). Vertreterinnen und Vertreter einer Zwei-Ebenen-Semantik verbinden diese Trennung von Sprach- und Weltwissen mit einer Theorie des mentalen Lexikons (Bierwisch/Schreuder 1992, S. 41ff.). Im mentalen Lexikon ist nur die kontextinvariante Kernbedeutung eines Wortes abgespeichert, wozu ausschließlich semantische Konstanten und Variablen zählen, die jene Anzahl und jenen Typ der Argumente spezifizieren, die bzw. den eine lexikalische Einheit fordert.19 Verschiedene kontextuelle Bedeutungsvarianten desselben 19
Bierwisch/Schreuder 1992, S. 28: „[W]hile constants have a fixed, albeit context-independent interpretation in terms of conceptual, perceptual, motoric, and possibly other mental structures,
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sprachlichen Ausdrucks leiten sich hieraus ab (so auch im Beispiel der Präposition in in Abschnitt II.1). Ihnen unterliegt dieselbe semantische Repräsentation; auf der Basis unterschiedlicher Kontextdaten werden sie aber unterschiedlich konzeptualisiert. Dahinter steht die Überzeugung, dass semantische Repräsentationen radikal unterspezifiziert sind und nur in dieser Gestalt Einträge im mentalen Lexikon besitzen. Das gilt für konzeptuelle Elemente nicht. In den beiden folgenden Abschnitten möchte ich diese Trennung an einigen Beispielanalysen veranschaulichen. Dabei geht es mir insbesondere darum aufzuzeigen, dass semantische Repräsentationen mögliche Konzeptualisierungen eines sprachlichen Ausdrucks so sehr prädeterminieren, dass das reichhaltige Bedeutungspotential von Frames, das diese als semantisches Format auszeichnet, stark eingeschränkt wird. 2.2 Frame-Semantik vs. Zwei-Ebenen-Semantik: einige Problemfelder Wie passen Frames in ein Zwei-Ebenen-Modell, wie es in Abb. 2 veranschaulicht ist? Nehmen wir zunächst mit Bierwisch an (Bierwisch 1979, S. 78f.; Bierwisch/Schreuder 1992, S. 32f., 47), dass sich Frames tatsächlich in die modulare Konzeption einer Zwei-Ebenen-Semantik integrieren lassen. Als erstes fällt auf, dass Frames aufgrund ihrer konzeptuellen Natur Sekundärphänomene darstellen würden. Ignoriert man alle ontologischen, funktionalen, methodischen und erkenntnistheoretischen Bestimmungen von Frames, die sich aus dem holistischen Paradigma ableiten, ergibt sich ungefähr folgendes Bild: Frames würden das Referenzpotential sprachlicher Ausdrücke strukturieren und dazu beitragen, dass der gestufte Übergang von unterspezifizierten semantischen Repräsentationen zu kontextuell angereicherten Konzepten kognitiv effektiv gelingt. Dieser Konzeptualisierungsprozess bliebe aber gebunden an die Vorgaben des zugrunde liegenden semantischen Repräsentationsformats SEM. Nur Variablen der Argumentstruktur könnten mit konzeptuellen Werten belegt werden, und nur semantische Konstanten (Komponenten) könnten mit Frames gerahmt und so semantisch ‚reicher‘ werden. Letzteres würden die Standardwerte („default values“) eines Frames leisten. Hier ist allerdings wichtig zu sehen, dass diese im Gegensatz zu den Variablen und semantischen Konstanten keinen Lexikoneintrag hätten. Der kognitive Status beider unterschiede sich damit wesentlich.20
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variables are open slots that are to be filled in one of the two ways: they are either specified by other linguistic expressions, or they are to be fixed by appropriate conceptual values.“ Bierwisch/Schreuder 1992, S. 28: „Both constants and variables are assigned to specific semantic categories determining on the one hand the type of conceptual interpretation that can be associated with them, and on the other hand the combinatorial structure of SF [semantic form, AZ] based on these assumptions.“
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II. Kognitionstheoretische Voraussetzungen
Konkreter wird dies in Beispielanalysen. Für Wörter wie Kirche, Theater, Gefängnis, Schule, Universität usw., also für Wörter, die verschiedene Typen von Institutionen bezeichnen, schlägt Bierwisch (Bierwisch 1983a, S. 86) folgende einheitliche semantische Repräsentation SEM vor. (1)
Ox [ZWECK [x w]]
Diese muss so abstrakt bleiben, um in ihrer formalen Struktur allen Institutions-Ausdrücken gemeinsam zu sein, ohne zugleich konzeptuelle Elemente zu enthalten. Schon die Komponente INSTITUTION beschreibt „einen verwickelten Komplex von Bedingungen“ und ist folglich – im Gegensatz zur semantischen Konstante ZWECK – Teil einer „Alltagstheorie“ (Bierwisch 1983a, S. 86). Das gilt ebenso für die Komponente LEHR_UND_ LERNPROZESSE, mit der (1) so spezifiziert werden kann, dass schließlich die (immer noch stark unterbestimmte) Bedeutung des Wortes Schule erfasst wird. (2)
Ox [INSTITUTION [X] & ZWECK [x w] & LEHR_UND_LERNPROZESSE [W]]
Wo verläuft nun die Scheidelinie zwischen Sprach- und Weltwissen? Im angeführten Beispiel verläuft sie offensichtlich zwischen (1) und (2). Die semantische Repräsentation kann über die in (1) enthaltenen Informationseinheiten nicht hinausgehen, da bereits die Komponente INSTITUTION einen komplexen Wissenszusammenhang voraussetzt, der etwa Antworten auf folgende Fragen bereithält: Wer schafft Institutionen? Welche Relevanz hat eine Institution für den Menschen? Wo gibt es Institutionen? Welche Institutionen gibt es? Inwieweit hat ein Individuum mit Institutionen zu tun? Um die Bedeutung des Wortes Schule von der Bedeutung des Wortes Universität oder Kirche unterscheiden zu können, bedarf es darüber hinaus semantischer Spezifikationen, die noch viel detailreichere Kenntnisse erfordern. So sind LEHR_UND_LERNPROZESSE sicherlich nicht nur Teil des Konzepts Schule, sondern ebenso des Konzepts Universität, und man mag sich darüber streiten, ob Priester die Lehre Gottes lehren und die Kirchengemeinde somit eine Gruppe von Lernenden darstellt, ob also auch Kirche ein konzeptuelles Element LEHR_UND_LERNPROZESSE enthält (oder dieses zumindest in bestimmten Äußerungskontexten enthalten sein kann). Inwiefern sich dennoch die Institutionsformen unterscheiden, die mit den Ausdrücken Schule, Kirche und Universität bezeichnet werden, mögen in einer ersten Annäherung Antworten auf folgende Fragen anzeigen: Wer geht in die Kirche, wer in die Universität, wer in die Schule? Was wird dort gelehrt? Warum wird dort gelehrt? Wer lehrt in einer Universität, wer in der Schule? Gibt es eine Verpflichtung, in die Schule zu gehen, wie es eine Verpflichtung gibt,
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die Kirche oder Universität zu besuchen? Warum (nicht)? Und so weiter. Ohne Zweifel verfügen wir über ein äußerst reiches konzeptuelles Wissen über Institutionen, das dabei hilft, Institutionstypen voneinander zu unterscheiden. Fest steht, dass dieses Wissen allein enzyklopädisch motiviert ist. Mit Hilfe von Sprachwissen ist es weder möglich, zwischen verschiedenen Institutionsformen zu differenzieren, noch lässt sich damit bestimmen, ob ein sprachlicher Ausdruck überhaupt eine Institution bezeichnet oder, noch allgemeiner, was eine Institution eigentlich ist. Das gesteht auch Bierwisch zu. Denn das angesprochene Wissen ist Wissen über die Welt, und es ist unerlässlich, um Ausdrücke wie Schule, Universität und Kirche zu verstehen und semantisch voneinander abzugrenzen. Bierwisch kommt es nun darauf an, von diesem enzyklopädischen Wissen einen Bereich rein sprachlichen Wissens abzusondern. Eine solche rein semantische Repräsentation des Ausdrucks Schule stellt (1) dar. Halten wir aber fest: Alles, was diese semantische Repräsentation zum Verstehen des Ausdrucks Schule beisteuert, ist das Wissen, dass diese eine Komponente ZWECK enthält. Sie enthält noch nicht einmal Angaben darüber, um welchen ZWECK es sich handelt, weil man hierzu schon auf konzeptuelles Wissen rekurrieren müsste; beide diesbezüglichen Argumentstellen bleiben folglich leer.21 So mag auch in den semantischen Repräsentationen der Ausdrücke Taschentuch, Hose, Kondom oder Fensterscheibe eine semantische Konstante ZWECK enthalten sein, insofern diese Ausdrücke menschliche Produkte bezeichnen, die angefertigt werden, um bestimmten menschlichen Bedürfnissen zu genügen. Und aus der Sicht eines Landwirtes birgt wohl auch die semantische Repräsentation des Ausdrucks Regen eine ZWECK-Komponente in sich (wenngleich Modularisten dem natürlich entgegenhielten, hier gehe es nicht um die Sicht einzelner Individuen, sondern um Universalien, weshalb eine ZWECK-Komponente hier nicht anzusetzen sei – aber was heißt hier „universal“ und wie kann man „Universalität“ empirisch nachweisen?). Wogegen sich Bierwisch und mit ihm alle Vertreter einer Zwei-EbenenSemantik richten, lässt sich zusammenfassen in dem, was Herweg (1988, S. 55) eine „Polysemie-Inflation“ nennt. Hiernach unterscheiden sich verschiedene Lesarten des Ausdrucks Schule lediglich im konzeptuellen Gehalt; ihre semantische Repräsentation bleibt dagegen immer dieselbe. Aus diesem Grund gilt der Ausdruck Schule nicht als polysem. Er wird in verschiedenen Kontexten nur unterschiedlich konzeptuell angereichert. Indem die Variablen der semantischen Repräsentation in (1) mit verschiedenen konzeptuellen Elementen besetzt werden, kann der Ausdruck Schule einmal als eine Instituti21
Die Argumentstruktur (Theta-Raster) eines Ausdrucks enthält Angaben über die Anzahl, Abfolge und Art der geforderten Argumente eines Ausdrucks; für ZWECK wird etwa eine zweistellige Argumentstruktur angenommen, hier x hat den ZWECK w.
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on, ein anderes Mal als ein Gebäude und ein drittes Mal als ein Prozess interpretiert werden. Vergleiche hierzu die formale Auflösung des Ausdrucks Schule, wie sie sich bei folgenden Beispielen im Rahmen eines Zwei-EbenenModells ergeben.22 (3) (4) (5)
Die Schule ist reformbedürftig. Ox [INSTITUTION [X] & ZWECK [x w] & LEHR_UND_LERNPROZESSE [W]] Die Schule liegt am Stadtrand. Ox [GEBÄUDE [X] & ZWECK [x w] & LEHR_UND_LERNPROZESSE [W]] Schule ist langweilig. Ox [PROZESS [X] & ZWECK [x w] & LEHR_UND_LERNPROZESSE [W]]
Inwiefern kommt nun der semantischen Repräsentation SEM ein autonomer Status zu? Eine autonome Ebene der semantischen Repräsentation wie in (1) kann es nur dann geben, wenn konzeptuelle Prozesse (metaphorische und metonymische Verschiebungen, konzeptuelle Integrationen und Verschmelzungen usw.) in diese Ebene nicht eingreifen. Aus modularer Perspektive handelt es sich in Beispiel (5) folglich nicht um einen Prozess der metonymischen Verschiebung. Denn dies würde voraussetzen, dass die semantische Interpretation des Ausdrucks Schule von der Institutions-Lesart (3) abgeleitet ist. Statt einen solchen Konzeptualisierungsprozess anzunehmen, besteht Bierwisch darauf, alle möglichen Lesarten eines Ausdrucks als prinzipiell gleichwertig und als nicht voneinander abgeleitet anzusehen. In allen Fällen wird eine konzeptuelle Lesart ausschließlich dadurch motiviert, dass ein konzeptuelles Element (INSTITUTION, GEBÄUDE, PROZESS) die erste Argumentstelle der semantischen Konstante ZWECK besetzt. Dabei handelt es sich um keine Besonderheit des angeführten Beispiels. Vielmehr gilt dies dem Anspruch nach in analoger Weise für die Semantik jedes beliebigen Wortes. Zwei Probleme treten hier auf. Erstens impliziert ein solcher Beschreibungsansatz eine ziemlich strikte Trennung zwischen repräsentationalen und prozeduralen Aspekten des Sprachverstehens. Semantische Repräsentationen stellen per definitionem die primäre Verstehensebene dar, konzeptuelle Inter22
Aus Darstellungsgründen diskutiere ich an dieser Stelle zunächst nicht problematische Vorannahmen, wie die, ob es überhaupt sinnvoll ist, eine Institutions-Lesart von einer Gebäude-Lesart zu isolieren: Inwiefern gibt es Institutionen ohne Gebäude? Und was meint die Komponente PROZESS in (5)? Die Brisanz der letzten Frage ergibt sich aus der Problematik, inwiefern die offenkundig präferierte Gebäude-Lesart des Satzes In der Schule ist es langweilig der Prozess-Lesart in (5) trotz des quasi-synonymischen Gehalts entgegengesetzt werden kann.
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pretationen die sekundäre. Streng genommen ist es aber schon problematisch, hinsichtlich der ersten Ebene von einem Verstehensakt zu sprechen, da ja keinerlei kognitive Konstruktionsleistungen beim Aufbau semantischer Repräsentationen mitwirken. Wenn aber tatsächlich, wie Dölling schreibt, „beim Verstehen einer Äußerung mehrere Ebenen durchlaufen werden“ (Dölling 2005, S. 163), muss sich dies in prozeduraler Hinsicht auch nachweisen lassen. Über rein theoretisch-methodologische Postulate hinaus müsste beispielsweise mit Hilfe psycholinguistischer Untersuchungen empirische Evidenz dafür erbracht werden, dass der konzeptuellen Verarbeitung prinzipiell eine rein semantische vorausgeht. Eindeutige Belege liegen dafür aber bislang nicht vor. Dölling (2005) argumentiert nicht ohne Grund rein methodologisch. Ebenso wenig ließ sich bislang auf der Basis empirischer Studien die These stützen, dass semantisch komplexere Verben – also solche, die eine oder mehrere Argumentstellen mehr als andere fordern – eine längere Verarbeitungszeit im Verstehensprozess benötigen (Kintsch 1980; Fodor et al. 1980). Das wäre aber eine notwendige Konsequenz aus den modularistischen Prämissen. Textlinguistische Studien deuten umgekehrt darauf hin, dass Inferenzen bereits am Anfang eines jeden Verstehensaktes eine elementare Funktion zukommt (vgl. Fillmore 1981, 1984). Priming-Experimente legen ferner nahe, dass der Verarbeitungsprozess nicht als ein Durchlaufen von „Ebenen“, sondern als Aktivierung von Ausschnitten semantischer Netze zu modellieren ist (vgl. Aitchison 1994, S. 82ff.; Rickheit/Strohner 1993, S. 117ff.; Rickheit/Sichelschmidt/Strohner 2004). Ein zweites Problem resultiert ebenfalls aus der modularen Trennung eines semantischen und konzeptuellen Systems. Hiernach ergeben sich verschiedene Lesarten eines Wortes, wie hier des Nomens Schule, aus grundsätzlich gleichwertigen Konzeptverschiebungen. Die Beispiele (3), (4) und (5) – und daneben ließen sich viele weitere konzeptuelle Varianten finden – unterscheiden sich allein dadurch, dass verschiedene Konzeptelemente in das bereitgestellte Formular (1) eingesetzt werden. Doch sicherlich differieren diese Elemente im Grad ihrer Salienz. Es ist in empirischer Hinsicht nicht unwahrscheinlich, dass metonymisch motivierte Verschiebungen tendenziell den Vorzug bei der semantischen Interpretation erhalten (dazu gleich mehr). Zusätzliche Motivationen resultieren aus Kontextdaten. In dem Satz Die Schule hat 13 Klassen sind zwar sowohl die Institutions- als auch die Gebäudelesart möglich, präferiert ist aber sicherlich die erste, weil diese die Standardannahme aktiviert, dass Schulen in der Regel sehr viel mehr Klassenzimmer haben. Zwei-Ebenen-Semantiken können solchen Phänomenen keine Rechnung tragen. Nach Meyer (1994b, S. 37) „würde eine Defaultlogik den Gebrauch adäquater widerspiegeln“ als eine Lambda-Konversion, mit der eine konzeptuelle Interpretation innerhalb einer Zwei-Ebenen-Semantik ermittelt wird. Weil man sich unter modularistischen Vorzeichen aber dem Prozess der Be-
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deutungserschließung aus Sicht der zugrunde liegenden formalen Repräsentation nähert, können keine kontextuellen Bedingungen angegeben werden, die zur Präferenz einer bestimmten semantischen Interpretation führen. Nicht erfasst wird im vorliegenden Fall etwa, dass die bevorzugte Gebäudelesart maßgeblich mit dem konzeptuellen Gehalt des komplexen Ausdrucks 13 Klassen zusammenhängt. Kommen wir nun auf die Frage zurück, was es hieße, Frames innerhalb einer modularen Kognitionstheorie zu thematisieren. Frames würden hier ein Hilfsmittel zur inhaltlichen Ausdifferenzierung semantischer Formen darstellen. Weil lexikalische Einheiten auf Grund ihrer einheitlichen semantischen Repräsentation aber prinzipiell nicht polysem sind, müssten alle potentiellen Frames in dieses Format eingebunden sein. Wie bereits festgestellt, dürften sie nur solche konzeptuellen Leerstellen besetzen, die die Argumentstruktur eines Ausdrucks vorgibt und durch dessen semantische Konstante(n) inhaltlich vorstrukturiert ist. Das Bestreben einer modularen Semantik besteht dabei darin, den Nachweis zu erbringen, dass die Interpretationsvarianz eines sprachlichen Ausdrucks prädeterminiert ist „by the system of available SFconstants and their combinatorial properties“ (Bierwisch 1986, S. 771). In dieser doppelten Hinsicht ist folglich die Auswahl möglicher Frames bereits beschränkt, bevor es überhaupt zu Konzeptualisierungen kommt, und das heißt: bevor der semantische Verstehensprozess einsetzt. Im nächsten Abschnitt versuche ich an einigen Beispielanalysen verschiedene Desiderata einer solchen modularen Bedeutungstheorie zu markieren. Im Vordergrund steht dabei die empirische Inadäquatheit modularsemantischer Beschreibungen. 2.3 Beispielanalysen Neben den angesprochenen kognitionstheoretischen Grundsatzfragen ist es letztlich eine empirische und keine theoretische Frage, ob es tatsächlich sinnvoll ist, ex hypothesi Prozesse der Bedeutungsaktualisierung durch eine Ebene der semantischen Repräsentation so stark zu restringieren. In unserem Fall müssten sich beispielsweise alle möglichen Äußerungsbedeutungen von Schule aus zwei Argumentstellen und der semantischen Konstante ZWECK herleiten lassen. Insbesondere müsste jedes verstehensrelevante Frame-Element (hier: Standardwerte wie „Institution“, „Lehrer“, „Unterricht“, „Klasse“ usw.) mittelbar, d.h. vermittelt über die konzeptuelle Frame-Einheit „Schule“, auf eine der beiden Argumentstellen zurückführbar sein. Dass es daneben keine
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anderen Leerstellen gibt, folgt direkt aus den dargelegten Grundannahmen einer Zwei-Ebenen-Semantik.23 Folgende Gebrauchsvarianzen des Wortes Schule stellen einen kleinen Ausschnitt möglicher Bedeutungsaspekte dar, die das Wort Schule aufrufen mag.24 (6) (7) (8) (9) (10) (11) (12) (13) (14) (15) (16)
Die Schule verfügt über helle, großzügig konzipierte Unterrichtsräume. Lena Kurz ist die neue Leiterin der Schule. Die Schule muss Kinder auf den Wettbewerb im Berufsleben vorbereiten. Die Schule veranstaltet an diesem Tag eine „Nacht der offenen Tür“. Die Schule bietet den Kursteilnehmern eine professionelle und fundierte Ausbildung. Auch Eltern haben vergleichsweise viele Möglichkeiten, die Schule mitzugestalten. Der Einfluss der Schule endet vor der Haustür der Kinder. Die Schule „Studio ImPuls“ ist dem Verband VdG angeschlossen. Während der Frühlingsferien in der Schule hat die 12jährige an einem Turnier teilgenommen. Der Arbeitskreis Schule der Vereinigung Deutscher Unix-Benutzer ließ sich die Domain „Schule.de“ weltweit reservieren. Das Brixlegger Beispiel könnte Schule machen.
Die ersten drei Sätze sind mehr oder weniger prototypische Beispiele für die drei diskutierten Lesarten, wie wir sie in (3), (4) und (5) kennengelernt haben. Gehen wir nun unter Einbezug weiterer Beispiele die Punkte durch, die die Annahme einer kontextinvarianten semantischen Repräsentationsstruktur problematisch erscheinen lassen. Erstens: Aufgrund der Prämisse, dass „jedes (wohlgeformte) Äußerungsexemplar t eine wörtliche Bedeutung hat“ (Bierwisch 1979, S. 70)25, also allen 23
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Um diesem Punkt noch einmal Nachdruck zu verleihen, ein weiteres Zitat von Bierwisch: „This view is very much in line with the traditional distinction between lexical and encyclopedic knowledge […]. Encyclopedic knowledge as a component of C [that is, the conceptual system, AZ] is a memory based system of concepts and beliefs that provides context dependent interpretations for SF-representations, which are not necessarily part of individual lexical items. These interpretations are channeled, so to speak, by SF-constants, but depend crucially on the conceptual context that fixes the parameters contained in SF-representations.“ (Bierwisch 1986, S. 779; Unterstreichung vom Autor) Die folgenden Belegstellen sind nicht frei erfunden, sondern nach dem Zufallsprinzip aus den über 140.000 Belegstellen des IDS-Korpus „Cosmas II“ ausgewählt, vgl. http://www.idsmannheim.de/cosmas2/ [letzter Zugriff: 1. Juli 2008].
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Beispielsätzen die semantische Repräsentation (1) unterliegt, gelten Metaphern und Metonymien als Randphänomene, die nicht primärer Gegenstand von Bedeutungsanalysen sind. Doch ist es hier nicht umgekehrt so, dass metonymische Prozesse ein intrinsisches Phänomen der Bedeutungsaktualisierung darstellen? Um in (9) und (10) das Wort Schule zu verstehen, ist es nicht nötig, zunächst die semantische Komponente ZWECK zu aktivieren. Vielmehr ruft Schule einen Frame auf, dessen Elemente „Lehrer“ oder „Schuldirektor“ sofort als Standardwerte der Leerstelle „Teil-Ganzes“ verfügbar sind. Dieser Erschließungsprozess über eine aktivierte kognitive Domäne bleibt der Zwei-Ebenen-Semantik deswegen versperrt, weil der inferierte Standardwert keine Variable der semantischen Repräsentation belegen kann. Folgenden Umweg muss ein Zwei-Ebenen-Modell deswegen einschlagen: (i) Aktivierung der Institutionslesart, (ii) Individualisierung auf eine bestimmte Institution, (iii) Spezifizierung des relevanten Zwecks dieser Institution durch eine konzeptuelle Komponente,26 (iv) Ableitung des verstehensrelevanten konzeptuellen Elements SCHULANGESTELLTE aus dieser Komponente. Dabei handelt es sich noch um eine Kurzfassung, weil im letzten Schritt Präsuppositionen des konzeptuellen Elements nicht expliziert sind. Entscheidend ist aber etwas anderes: Das konzeptuelle Element SCHULANGESTELLTE lässt sich nicht ohne weiteres in die semantische Repräsentation (1) instantiieren. Denn die erste Argumentstelle der Konstante ZWECK besetzt die konzeptuelle Einheit INSTITUTION, die zweite die konzeptuelle Einheit EIGENWERBUNG_MACHEN bzw. LEHR_UND_LERPROZESSE. Streng genommen gehört das Element SCHULANGESTELLTE damit nicht zum prädeterminierten Referenzpotential von Schule, und es müsste ein zusätzlicher Inferenzprozess zu seiner Erschließung angesetzt werden, der jenseits der Vorgaben der semantischen Repräsentation (1) liegt. Dass schon bei einem scheinbar so einfachen Phänomen wie dem Verstehen von Tropen wie Metonymien so fundamentale Schwierigkeiten auftreten, hängt mit der Einstufung von konzeptuellen Prozessen als Sekundärphänomenen zusammen. Was für die Sätze (9) und (10) gilt, gilt auch für die
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Das Wohlgeformtheitskriterium lässt allerdings keine Rückschlüsse auf eine autonome semantische Ebene zu – im Gegenteil, vgl. Fillmore (1973, S. 276): „[C]onversations, or discourse samples in general, are not well-formed or ill-formed as such, but only on particular interpretations. These interpretations have to be based on assumptions about what is going on in the conversation […]. There is no way, in short, of talking about grammaticality or well-formedness without getting in many ways involved in the details of social interaction by means of language.“ Zwei-Ebenen-Semantiker würden wohl im Fall von (9) die Komponente EIGENWERBUNG_MACHEN und im Fall von (10) die Komponente LEHR_UND_LERNPROZESSE ansetzen. Dabei handelt es sich um konzeptuelle Komponenten, die je nach Ko- und Kontextzusammenhang auch anders ausfallen können.
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anderen Beispiele.27 Diese Verfehlung primär verstehensrelevanter Daten liegt im theoretischen Grundsatz begründet: The exclusion of metaphor from the scope of the approach is possibly a reflection of the theory-internal requirement for semantic form to constrain conceptual interpretation. Metaphor is a creative, and highly unconstrained phenomenon. […] Nevertheless, metaphor is endemic in natural languages. A semantic theory that excludes metaphor is inherently impoverished. (Taylor 1994, S. 7)
Die konstitutive Rolle tropischer Verschiebungen im Fall der lexikalischen Einheit Schule zu ignorieren, bedeutet, eine offenkundig stark dominante Gebrauchsweise und jene kognitive Routine zu verkennen, mit der sich Segmente des Bedeutungspotentials erschließen lassen.28 Weitere Defizite schließen sich an diesen Punkt an. Zweitens: Vor dem Hintergrund des eben Gesagten muss die Frage neu gestellt werden, welche verstehensrelevante Funktion kognitiven Prozessen wie konzeptuellen Verschiebungen, Integrationen und Verschmelzungen zukommt. Es ist höchst unplausibel anzunehmen, dass semantische Konstanten wie ZWECK Objekte einer „straightforward interpretation in terms of conceptual pattern or operations“ (Bierwisch 1984, S. 777) sind. Ganz abgesehen davon, dass Interpretieren ohne Konzeptualisieren eine contradictio in adjecto ist, müsste Schule dann in den Sätzen (14) und (15) (wie in allen anderen natürlich auch) zuallererst hinsichtlich der Komponente ZWECK interpretiert werden. Fernab von der postulierten ZWECK-Komponente einer INSTITUTION geht es aber in (14) nur um die grundsätzliche Eigenschaft öffentlicher Einrichtungen, temporär zu schließen, während in (15) Schule unter anderem die semantischen Eigenschaften eines Namens hat und mittelbar auf einen Lebensbereich Bezug nimmt. Dabei werden spezifische Wissensdomänen aufgerufen, und aus diesen Domänen werden einzelne Wissensaspekte (Standardwerte) profiliert und andere in den Hintergrund gerückt, so dass eine spezifische „semantische Perspektive“ (Croft/Cruse 2004, S. 58ff.) entsteht.29 In diesem Sinne rücken auch in (14) und (15) nur einige Aspekte der Wissensdomäne „Schule“ in den Vordergrund. Mit der semantischen Konstante ZWECK haben diese indessen nichts zu tun, sehr wohl aber mit Prozessen der kognitiven Bedeutungskonstruktion. Die semantische Korrelierung von Schule und Frühlingsferien ergibt sich nicht aus „an initial structure“ des Ausdrucks Schule, aus „anchor points by means of which L [Sprachwissen, AZ] gets tied to C [Weltwissen]“ (Bierwisch 1986, S. 781). Die kon27 28 29
Vielleicht mit Ausnahme von (6) und (15), weil es hier ausreicht, „Schule“ als ein Gebäude bzw. eine Institution zu interpretieren, ohne auf einzelne Frame-Elemente zurückzugreifen. Vgl. hierzu das analoge Phänomen der Bedeutungskonstitution von Komposita durch kognitive Routinen, die allein auf Kontextdaten beruhen (Clark 1983). Diesen kognitiven Prozess nennt Langacker auch „focal adjustment“ (1987, S. 117), den er wiederum in drei Teilprozesse unterteilt: Selektion, Abstraktion und eben Perspektivierung.
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zeptuelle Profilierung und Perspektivierung, d.h. die kontextuelle Festlegung des Denotats, verläuft viel flexibler; insbesondere lässt sie sich nicht reduzieren auf ein durch Sprachwissen begrenztes Bedeutungspotential, das dem sozialen und kulturellen Erfahrungshorizont von Sprachbenutzerinnen und Sprachbenutzern keine Rechnung trägt (vgl. Clark 1997). Drittens sollte man sich an dieser Stelle noch einmal exemplarisch vergegenwärtigen, welchen Bereich verstehensrelevanten Wissens die erste Repräsentationsebene eigentlich umfasst. Nehmen wir hierzu einen Beispielsatz, in dem die postulierte Konstante ZWECK auch aktiv am Prozess der Bedeutungskonstruktion beteiligt ist. In (12) (Der Einfluss der Schule endet vor der Haustür der Kinder) ist das offensichtlich der Fall. Je nachdem, ob die konzeptuelle Komponente INSTITUTION oder PROZESS die erste Argumentstelle besetzt, ergeben sich zwei alternative Lesarten des Nomens Schule, auch dann, wenn die zweite Argumentstelle in beiden Fällen die Komponente LEHR_UND_LERNPROZESSE belegt. Im ersten Fall erhält der Bedeutungsgehalt von Satz (12) gewissermaßen einen soziologischen Anstrich; er bezieht sich auf den beschränkten Einflussbereich schulischer Institutionen, insofern dieser nicht (oder kaum) in den privaten Lebensbereich eindringt. Im zweiten Fall bleibt diese soziologische Dimension zwar ein Stück weit erhalten. Mehr in den Vordergrund rücken aber konkrete Lehr- und Lernprozesse, resp. der schulische Unterricht, dessen außerschulische Wirksamkeit hier in Frage gestellt wird. Die erste Lesart generalisiert somit stärker als die zweite. Was leistet hierbei die semantische Repräsentation SEM? Sie gibt lediglich an, dass ein x einen Zweck y erfüllt. Mögliche Füllelemente (INSTITUTION, PROZESS, LEHR_UND_LERNPROZESSE) sind konzeptueller Art und werden hier durch Kontextdaten motiviert und im Rückgriff auf Erfahrungswissen inferiert. Komponentiell erschließt sich deshalb auch kaum, was in diesem Beispielsatz entscheidend ist: Haustür steht meronymisch für „Elternhaus“ und metonymisch für das, was das Kind in diesem Haus erlebt und tut.30 Die Rede von einer Haustür macht nur Sinn, wenn klar ist, dass das „Elternhaus“ den einen Lebensmittelpunkt für Kinder darstellt und das „Schulgebäude“ den anderen. Dabei handelt es sich um komplexe Konzepte, die folgendermaßen miteinander in Verbindung stehen: In unserem Kulturkreis herrscht Schulpflicht. Es ist üblich, dass Kinder bis zum Abschluss der weiterführenden Schule bei ihren Eltern wohnen. Den Alltag strukturiert und bestimmt in dieser Zeit vor allem das Ritual des morgendlichen Gangs zur Schule und der nachmittäglichen Heimkehr nach Hause. Das Kind pendelt also gleichsam zwischen Schulgebäude und Elternhaus. Wenn es heißt, der 30
Zieht man zusätzlich in Betracht, dass Haustür metaphorisch für „Eingang zu einem Einflussbereich“ steht, liegt hier sogar eine „Metaphtonymie“ (Goossens 1995) vor, d.h. eine „metonymiebasierte Metapher“ im Sinne von Radden (2000, S. 93).
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Einfluss der Schule ende vor der Haustür der Kinder, ist damit genau dieser schematische Wissenskomplex evoziert. In Anspielung auf unseren v.a. visuell geprägten Erfahrungshorizont spricht Fillmore (1977a, S. 75) deshalb von „prototypical scenes“.31 Die aufgerufenen kognitiven Szenen sind in sich hoch differenziert und entscheidend dafür, den Sinn von (12) zu erschließen. Sie enthalten hier etwa Informationen über die Eigenschaften von zwei zentralen Lebensbereichen eines Kindes. Sie geben Auskunft darüber, dass in beiden Lebensbereichen, der Schule und dem Elternhaus, unterschiedliche erzieherische Prinzipien vorherrschen, die sich mitunter widersprechen können. In (12) ist „Elternhaus“ als abgeschlossener Raum konzeptualisiert, „Schule“ – bedingt durch den genitivus subjectivus – als räumlich situierte, quasi-personifizierte Entität und „Einfluss“ als Weg, genauer als eine Entität mit raum-zeitlicher Erstreckung, die an einem bestimmten Punkt ‚enden‘ kann.32 „Einfluss“ weist also physikalische Eigenschaften auf, die diesem Grenzen seiner Wirksamkeit setzen: Er kann nicht durch die Hauswand ins Elternhaus eindringen. Betritt das Kind, das sich zwischen „Schule“ und „Elternhaus“ bewegt, letzteres („Haustür“), befindet es sich nicht mehr in der schulischen Einflusssphäre. Diese endet dabei erst vor der Haustür und nicht bereits am Schultor, weil „Einfluss“ als unidirektionale Erstreckung konzeptualisiert ist. So wird ausgeblendet, dass der Schulweg eine Art dritten Lebensbereich darstellen kann, in dem sich bekanntlich allerhand zutragen kann.33 Die zum Satzverstehen notwendige Integration solcher komplexen Wissenszusammenhänge basiert auf unserem Erfahrungswissen, durch das wir die beschriebene „prototypische Szene“ perspektivieren. Es geht um den möglichen Einfluss, den Schule auf den privaten Lebensraum haben kann; es geht um konkrete Möglichkeiten und Grenzen der Beeinflussung; und es geht nicht weniger um Wissen, wodurch sich Privatheit und Öffentlichkeit auszeichnen. Zum Verstehen von (12) benötigt man deshalb ein kulturelles Modell, in dem relevante Informationen (Standardwerte) gebündelt sind und das diese Informationen im Verstehensprozess kognitiv zugänglich macht. Doch diese Fülle an verstehensrelevanten Daten liegt jenseits der Reichweite von 31
32 33
Auch für die Bedeutungskonstruktion in (12) heißt das: „The all important role of the notion of prototypical scenes in this process consists in the fact that much of this linking and filling-in activity depends, not on information that gets explicitly coded in the linguistic signal, but on what the interpreter knows about the larger scenes that is material activates or creates. Such knowledge depends on experiences and memories that the interpreter associates with the scenes that the text has introduced into his consciousness.“ (Fillmore 1977a, S. 75) Nach Lakoff/Johnson 1980 handelt es sich hierbei, ähnlich wie im Fall der angesprochenen Container-Metapher, um eine so genannte konzeptuelle Metapher. Irrelevant bleibt ebenso, dass „Schule“ zweifelsohne auch hinter der Haustür noch Einfluss ausübt. Doch offenkundig ist ein anderer „Einfluss“ gemeint als der, der etwa durch Hausaufgaben auf das Kind ausgeübt wird.
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II. Kognitionstheoretische Voraussetzungen
Zwei-Ebenen-Semantiken.34 Abgesehen davon, dass notwendige Prozesse der konzeptuellen Integration in keiner Hinsicht kompositionell motiviert sind, erschöpft sich der Beitrag der semantischen Repräsentation aus verstehenstheoretischer Sicht in Marginalien und verhindert durch Festlegungen adäquate Erklärungen. Denn: [T]he processes that accomplish this integration make use of any information they can find, and do not necessarily pass through a phase in which they deliberately restrict themselves to information of any particular kind. (Fillmore 1984, S. 133)
In idiomatischen Wendungen, wie in (16) Schule machen, verläuft die Bedeutungserschließung beispielsweise so routiniert, dass keine Phase der lexikalischen Dekomposition von Schule zu durchlaufen ist. Im Einzelfall kann man sich vielleicht ex post vergegenwärtigen, welche Bedeutungsaspekte eines Lexems (hier: Schule) in einen Phraseologismus eingegangen sind. Im aktuellen Verstehensprozess spielt die isolierte Wortbedeutung jedenfalls keine Rolle, weil der Phraseologismus Schule machen als Ganzer lexikalisiert ist (vgl. auch Cuyckens/Dirven/Taylor 2003, S. 10-17). Viertens: Im letzten Punkt habe ich einen Aspekt vernachlässigt, der alternative konzeptuelle Interpretationen von Schule in (12) maßgeblich motiviert. Durch die ko- und/oder kontextuelle Einbettung in konkreten Verwendungszusammenhängen werden die Nomina immer schon topisch verankert. So variiert etwa die Interpretation des Kollektivsingulars Schule, wenn (12) einmal in einem pädagogischen Lehrbuch zur Sozialisationsforschung steht und einmal von einer Lehrerin stammt, die sich besorgt über einen ihrer Schüler äußert. In beiden Fällen verankert der definite Artikel das Nomen Schule umgehend in der jeweiligen kommunikativen Situation, ohne dass eine Selektion von Lesarten stattfinden muss.35 Verschiedene Lesarten für Schule ergeben sich folglich erst unter der kontrafaktischen Annahme eines Nullkontextes. Als sinnvolles methodisches Konstrukt müsste sich dieser erst empirisch bewähren. In (12) besteht jedenfalls keine Notwendigkeit, einem Nullkontext irgendeine verstehensrelevante Funktion hinsichtlich der nominalen Einheit Schule zuzuschreiben. Und ob das in anderen Fällen anders ist, bleibt ebenso fraglich. Epstein bemerkt hierzu: Nominals are not used for evoking objective, preexisting, homogenous entities. Rather, speakers must construct discourse referents before they can call the hearer’s at34
35
Zu ähnlichen Ergebnissen kommt Börkel (1995) in der Analyse anderer Fallbeispiele wie etwa Oper und Zeitung: „If there should be found one abstract SF [semantic form, AZ] for all these readings this SF would be a very abstract one with hardly any useful information.“ (Börkel 1995, S. 71) Dieses Phänomen wird innerhalb der Kognitiven Linguistik unter dem Stichwort „grounding“ diskutiert. Hierzu Brisard 2002 (S. xi): „Grounding is proposed as a technical term in Cognitive Grammar to characterize grammatical predications that indicate the relationship of a designated entity to the ground or situation of speech, including the speech event itself, its participants, and their respective spheres of knowledge.“
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tention to those referents. […] Speakers employ various grounding predications – including definite articles – to facilitate the construction of discourse and, at the same time, to induce hearers to accept each referent into the discourse under the desired guise. (Epstein 2002, S. 41)
Es gibt also gute Gründe anzunehmen, dass Verankerungen („grounding“) generell eine primäre Funktion in Verstehensprozessen zukommt. Auf unseren Fall bezogen heißt das: Statt dem Ausdruck Schule eine objektive und homogene „Ebene“ (die etwa durch die Komponente ZWECK ausgezeichnet ist) zu unterlegen, spielen Konstruktionsleistungen schon ganz am Anfang eine entscheidende Rolle, insofern z.B. verfügbare Verankerungselemente („grounding predications“) wie definite Artikel Ausgangspunkte von Inferenzen darstellen. Verankerungselemente sind neben definiten Artikeln, die einen determinierten Wissensbezug herstellen, auch grammatische Morpheme, die Äußerungen personen- und zeitdeiktisch in der Sprechsituation verankern, sowie Namen, die Referenten singularisieren. Für letztere finden sich in (7) und (13) Beispiele. Die Namen „Lena“ und „Studio ImPuls“ beschränken die Interpretationsvarianz von Schule, ohne dass ein Umweg über semantische Repräsentationen nötig wäre. Hier sind noch einmal die Beispielsätze: (7) Lena Kurz ist die neue Leiterin der Schule. (13) Die Schule „Studio ImPuls“ ist dem Verband VdG angeschlossen. Für eine solche Konstruktion der Äußerungsbedeutung und gegen ein Ebenen-Modell spricht auch, dass – anders als in (7) und (13) – die Interpretationsvarianz oft nicht auf eine Lesart eingeschränkt wird.36 Wie wir gesehen haben, gilt das beispielsweise für die Sätze (10) und (11). Auf letzteren möchte ich nun näher eingehen. (11) Auch Eltern haben vergleichsweise viele Möglichkeiten, die Schule mitzugestalten. Entweder durch aktivierte Standardwerte („default values“) oder auf der Basis weiterer Kontextdaten ist entscheidbar, ob in (11) die Institution oder das Gebäude gemeint ist. Folgesätze der folgenden Art würden zu einer Disambiguierung beitragen: (11)a.
36
Viele treten dem Elternrat bei.
In (7) und (13) ist das die Institutionslesart, was sich aus der konzeptuellen Integration anderer Satzelemente ergibt; nur eine Institution kann einem Verband angehören, und nur eine Institution kann geleitet werden (denn ein „Hausmeister“ leitet keine Schule).
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(11)b.
Manche Eltern engagieren sich etwa durch freiwillige Gartenarbeit.
Zwei-Ebenen-Semantiker würden nun argumentieren, dass genau solche nachträglichen konzeptuellen Spezifizierungen durch semantische Repräsentationen motiviert sind, insofern unterschiedliche konzeptuelle Komponenten (hier: INSTITUTION, GEBÄUDE) die Variablen ersetzen. Doch Kontextdaten geben meist Anlass zu viel reicheren Konzeptspezifizierungen. Sie können sogar radikale Bedeutungsverschiebungen bewirken, wie durch alternative Folgesätze dieser Art: (11)c. (11)d.
Sie könnten etwa ihre Kinder erziehen. Sie könnten etwa aufhören, immer mitgestalten zu wollen.
Hierdurch rücken Bedeutungsaspekte von Schule in den Verstehensfokus, die in (11) nicht im Vordergrund standen. Was wird in der Schule mitgestaltet, wenn Eltern ihre Kinder erziehen? Inwiefern gestalten Eltern die Schule mit, wenn sie aufhören, immer mitgestalten zu wollen? Um die Bedeutung von Schule in diesen beiden Zusammenhängen zu erfassen, müssen viele Hintergrundannahmen aktiviert werden. Welche das im Einzelnen sind, bestimmen aber Kontextdaten und legt nicht Nullkontextwissen fest. Dem Kompositionalitätsprinzip folgend kann in (11d) das logische Paradoxon („mitgestalten durch Nicht-Mitgestalten“) nicht aufgelöst werden. Auf konzeptueller Ebene kommt dieser Widerspruch dagegen erst gar nicht auf. Diesen Problemkomplex hat aus frame-semantischer Sicht zuletzt Coulon (2001) ausführlich thematisiert. An zahlreichen Beispielen zeigt sie, dass solche Prozesse kompositionell nicht zu erfassen sind, sie haben vielmehr einen irreduzibel konstruktiven Charakter.37 Im Zusammenhang mit so genannten Verankerungselementen wird also erneut die Insuffizienz semantischer Beschreibungen innerhalb eines EbenenModells deutlich. Verankerungselemente erlauben einem Textrezipienten, „unter Bezugnahme auf sein gesamtes, für das Verstehen dieser kommunikativen Äußerung relevantes Wissen die Bedeutung dieser Äußerung zu (re)konstruieren“ (Busse 1997a, S. 23), und das heißt hier, zum einen den 37
Coulson 2001, S. 70: „Compositional accounts of natural language processing do not provide a mechanism for explaining how people are able to create novel meanings for words, phrases, and idioms. Nor do they provide a natural way of accounting for how frame-shifting can change the evaluative and sociocultural significance of actions.“ Bedeutungsverschiebungen, wie sie durch (11d) motiviert sind und so auch die semantische Reinterpretation der nominalen Einheit Schule in (11) betreffen, kennzeichnet Coulson als „frame-shifting“. Hierbei handelt es sich um besonders auffällige Prozesse der konzeptuellen Integration. Es gibt Grund zur Annahme, dass solche Prozesse sprachverstehenstheoretisch ein Kernphänomen darstellen; auch (11a), (11b) und (11c) motivieren in (11) nachträgliche Bedeutungsverschiebungen.
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kommunizierten Äußerungsgehalt in der ‚Textwelt‘ zu verankern, um so semantische Kohärenz herzustellen, sowie diesen Gehalt (etwa im Fall von deiktischen Ausdrücken) in der perzeptuell zugänglichen Dingwelt zu verankern. Ein letzter, fünfter Punkt greift schließlich eine fundamentale Frage auf, die in den letzten Jahren zu einer weitreichenden Revision des Zwei-EbenenModells geführt hat. Wenn auf der ersten Ebene die semantische Interpretation sprachlicher Ausdrücke durch semantische Konstanten prädeterminiert ist, welche kognitiven Operationen identifizieren diese dann? Da auf der Ebene der semantischen Repräsentation keine konzeptuellen Prozesse beteiligt sein dürfen, bleibt an dieser Stelle ein Erklärungsvakuum zurück, zu dem auch das ungelöste Problem gehört, wodurch semantische Repräsentationen ihrerseits determiniert werden. Um einen Rückfall in eine Vorstellungstheorie der Wortbedeutung (etwa im Sinne von Platons „ideai“) zu vermeiden (vgl. Busse 1991a, S. 25-30), liegt es nahe anzunehmen, dass semantische Konstanten Abstraktionsprodukte aus konzeptuellen Einheiten darstellen. Doch mit diesen Annahmen würde eine der beiden Säulen einer Zwei-Ebenen-Semantik fallen. Eine strenge Trennung von konzeptueller Struktur und semantischem Wissen wäre dann nämlich allein hinsichtlich des syntaktischen Fügungspotentials sprachlicher Ausdrücke möglich. Semantische Konstanten, also das Referenzpotential, unterlägen hingegen dem Einfluss konzeptueller Prozesse. Verschiedene Anhänger modularer Kognitionstheorien wie Ray Jackendoff (1983, 1997, 2002), Monika Schwarz (1992a, 2000) und Johannes Dölling (2001a, 2001b, 2005) haben diesen Schluss gezogen und damit der Semantik gegenüber der Syntax mehr Autonomie zugebilligt. Wir wollen uns abschließend anhand einiger Beispiele anschauen, was zu dieser Revision geführt hat. Inwiefern stellt die Komponente ZWECK eine semantische Konstante dar? Bierwisch geht von einem begrenzten, aber universalen Inventar semantischer Primitiva aus, das insgesamt den invariablen Teil des semantischen Wissens eines Sprachbenutzers oder einer Sprachbenutzerin bildet. Genauer differenziert Bierwisch (1986, S. 780f.) zwischen „created primes“ auf der einen Seite und „fixed primes“ auf der anderen. Während ersteren kein a priori-Status zukommt, sind letztere „part of the universal repertoire available to the language learner as his or her initial equipment on the basis of which linguistic knowledge can be acquired“ (Bierwisch 1986, S. 780). Auf unser Beispiel bezogen heißt das, dass die Komponente ZWECK den Stellenwert eines „fixed prime“ hat, wohingegen eine Komponente wie LEHR_UND_LERNPROZESSE ein „created prime“ darstellt (Bierwisch 1983a, S. 86). Motiviert ist diese Unterscheidung maßgeblich durch zwei Annahmen: erstens durch die Idee eines Strukturminimalismus, der darin besteht, dass semantische Primitiva keine komplexe interne Struktur aufweisen, sie also
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nicht mehr in weitere Komponenten zerlegbar sind und sich in dieser Eigenschaft von konzeptuellen Einheiten unterscheiden (vgl. Bierwisch 1971, S. 410-413); und zweitens durch die Invarianzprämisse, mit der Bierwisch davon ausgeht, dass solche kleinsten semantischen Einheiten („fixed primes“) konzeptuellen, perzeptuellen, motorischen und sonstigen erfahrungsbasierten Kognitionsstrukturen vorausgehen und deshalb – anders als diese – kaum Veränderungen ausgesetzt sind (Bierwisch/Schreuder 1992, S. 28).38 Zusammengenommen rechtfertigen es diese beiden Annahmen, neben den rein formalen Variablen der Argumentstruktur auch inhaltliche Restriktionen anzusetzen, die die kombinatorischen Eigenschaften eines sprachlichen Ausdrucks festlegen. Dabei handelt es sich um Festlegungen durch das grammatische System. Das Prinzip der Modularität gilt folglich auch hier: In dem Maße, wie Komponenten der Status semantischer Primitiva zukommt, entziehen sich diese dem Einflussbereich konzeptueller Operationen und gehören dem sprachlichen System an, und in dem Maße, wie semantische Komponenten umgekehrt komplexe Strukturgebilde darstellen, sind sie Teil des konzeptuellen Systems.39 Noch einmal: Inwiefern stellt die Komponente ZWECK eine semantische Konstante dar? Als solche dürfte sie sich zum einen nicht in weitere Komponenten zerlegen lassen. Zum anderen müsste sie – weil sie zum grammatischen System gehört – wesentlich rigider als konzeptuelle Einheiten sein. Selbst wenn man letzteres zugestehen würde,40 bliebe doch mehr als fraglich, ob sich die Redeweise von ZWECK als semantischem Primitivum rechtfertigen lässt. Dagegen spricht einmal, dass es für verschiedene Lesarten des Ausdrucks Schule gar keine einheitliche Repräsentation dessen gibt, was ein ZWECK ist (vgl. Blutner 1995, S. 45; Börkel 1995, S. 70). Während der Zweck eines Gebäudes, wie etwa im Beispiel (6), darin besteht, als Ort für Lehr- und Lernprozesse zu fungieren, besteht der Zweck von Schule im Sinne von „Unterricht“, wie in (10), in einer abstrakten bildungspädagogischen Zielsetzung. Was ein ZWECK im Einzelfall ist, kann also nur auf der konzeptuellen Ebene entschieden werden: „Dies bedeutet, daß die semantische Repräsentation im lexikalischen Eintrag keine vollständige ZweckRepräsentation darstellen kann.“ (Meyer 1994b, S. 37) Nun könnte man argumentieren, dass die Frage nach der semantischen Komponente ZWECK zu unterscheiden ist von der Frage nach dem spezifi38 39 40
Vgl. hierzu auch Meyer 1994b, S. 34. In elaborierter Form knüpft Bierwisch damit an eine strukturalistische Position an, die er schon Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre vertreten hat (Bierwisch 1969, 1971). Tatsächlich liegt es nahe, verschiedene Grade an Rigidität voneinander zu unterscheiden. Allerdings ist dazu keine Trennung von sprachlichem und konzeptuellem System nötig. Eine DefaultLogik, wie ich sie für die Frame-Semantik ansetze, erfüllt ähnliche Zwecke. Grade an Rigidität entsprechen hier Graden an kognitiver Salienz bzw. Prototypikalität, vgl. Kap. IV.5.
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schen ZWECK einer bestimmten Entität, und zwar deswegen, weil jeder spezifische ZWECK schon eine konzeptuelle Ausprägungsvariante der semantischen Konstante ZWECK darstellt. Doch einiges spricht dafür, dass ebenso die semantische Konstante ZWECK eine konzeptuelle Einheit sui generis darstellt. So ist ein Zweck ein bestimmter Typ von Kausalität, der sich dadurch auszeichnet, dass das Bezweckte intentional herbeigeführt werden soll (weshalb sich im Rahmen der Dekomposition von Nomina wie Sturm und Sintflut auch keine Komponente ZWECK ausmachen ließe).41 Neben dem Kausalitätstypus „Zweck“ identifiziert Talmy auf der Basis empirischer Analysen vierzehn weitere semantische Kausalitäts-Typen von unterschiedlichem Abstraktionsgrad und konzeptuellem Gehalt (Talmy 2000, S. 471-548). Die Differenziertheit des zugrunde liegenden konzeptuellen Gehalts sei im Folgenden anhand des Konzepts „Zweck“, wie es in (17) zum Ausdruck kommt und beim Verstehen von (18) und (19) wirksam wird, zumindest angedeutet. (17) Schulgebäude haben den Zweck, als (institutionell verankerter) Ort für Lehr- und Lernprozesse zu fungieren. (18) und (19) sind Beispiele für die Gebäudelesart: (18) Die Schule liegt ganz in der Nähe des Stadtwaldes. (19) Die Schule hat 48 Klassen, eine Sporthalle und zahlreiche Sondereinrichtungen. Welche genuin konzeptuelle Interpretation hinsichtlich des Zweckes von Schule liegt nun in (18) und (19) vor?42 (i) Das Konzept „Zweck“, wie es für die Fallbeispiele (18) und (19) in (17) formuliert ist, beschreibt eine relationale Verknüpfung. Insgesamt stellt es eine dreigliedrige Struktureinheit dar, insofern zwei Entitäten durch eine Relation miteinander verbunden sind. Lehr- und Lernprozesse (= das Resultat) finden an einem institutionell verankerten Ort statt, weil (= die Relation) es Schulgebäude (= die Vorbedingung) gibt.43
41
42 43
Komponentialisten würden so argumentieren: Ein Sturm hat nicht den Zweck, Häuser etc. zu zerstören, er verursacht ‚nur‘ den Schaden; ein Schulgebäude hat dagegen deshalb den Zweck, einen Ort für Lehr- und Lernprozesse bereitzustellen, weil dieses Gebäude einst dafür gebaut wurde (oder zu einem solchen Gebäude umfunktioniert wurde). Nichtsdestoweniger hängt diese Analyse vom zugrunde liegenden Weltbild ab. Innerhalb eines theokratischen Weltbildes wäre ein Sturm oder eine Sintflut eine Strafe Gottes. Beide würden dann also sehr wohl einen Zweck erfüllen. Vgl. Talmy 2000, S. 494f. Wobei Lernprozesse ihrerseits Resultate von Lehrprozessen sind.
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(ii) Die Vorbedingung ist selbst konzeptueller Art. Um verstehen zu können, welchen Zweck sie erfüllt, bedarf es gewisser Vorannahmen (Standardwerte). (iii) Vorbedingung und Resultat stehen in einem konzeptuell gegliederten Vordergrund/Hintergrund-Verhältnis. In (18) bildet das Konzept „Lehrund Lernprozesse“ den Verstehenshintergrund, das Konzept „Schulgebäude“ rückt dagegen in den Vordergrund (es bildet also die „Figur“ oder das „Profil“). In (19) verhält es sich genau umgekehrt. (iv) Die Relation zwischen Vorbedingung und Resultat muss während des Verstehensprozesses des Wortes Schule auch dann aufrechterhalten bleiben, wenn eine der beiden konzeptuellen Entitäten in den Vordergrund rückt. Wird sie unterbrochen, so findet eine semantische Reinterpretation statt und der Zweckzusammenhang wird revidiert. Dies geschieht etwa dann, wenn der Folgesatz den jeweiligen Verstehenshintergrund negiert, wenn also auf (18) z.B. der Satz Nun dient sie nur noch als Kaserne folgt oder auf (19) der Satz Sie wird gerade abgerissen. (v) Zum Resultat (institutionalisierte Lehr- und Lernprozesse) kann es kommen, wenn die Vorbedingung (die Existenz eines Schulgebäudes) erfüllt ist. Ist sie nicht erfüllt, finden keine institutionalisierten Lehr- und Lernprozesse statt. Hieran wird deutlich, um welche Art von Relation es sich handelt. Die Vorbedingung ist keine hinreichende, sondern nur eine notwendige Bedingung. (In anderen Kulturkreisen findet Schulunterricht auch ohne Schulgebäude statt.) (vi) Vorbedingung und Resultat stehen in einem spezifischen zeitlichen Zusammenhang. In den Beispielen (18) und (19) liegt der (eher seltenere) Fall vor, dass gerade dieser Zeitzusammenhang – zumindest bei einer Standardlesart – keine Rolle spielt. Die Schule muss nicht erst gebaut werden, damit dort Unterricht stattfinden kann; vielmehr geht in den Verstehensprozess von Schule eine Existenzpräsupposition ein. (Zur Verdeutlichung ein anderes Beispiel: Damit ein Medikament den Zweck der Heilung erfüllen kann, muss es wirken; es ist also eine gewisse Zeitdauer anzusetzen.) ZWECK ist also alles andere als eine primitive Komponente. Sie ist konzeptuell sogar komplexer organisiert als die vermeintliche semantische Konstante CAUS (für „Kausalität“), die Bierwisch immer wieder als Paradebeispiel anführt (vgl. etwa Bierwisch 1979, S. 75; 1983a, S. 90; 1986, S. 769). Die sechs erläuterten konzeptuellen Eigenschaften gelten für sie analog. Ähnliche Analysen ließen sich mit beliebigen anderen Komponenten durchführen.44 44
Vgl. hierzu etwa Börkel 1995, Meyer 1994a, aus kognitiver Perspektive auch Taylor 1994, 1996. Weil konzeptuelle Eigenschaften (im Sinne von a-f) sprachlichen Bedeutungen intrinsisch sind, spricht Fillmore (1971, S. 384) auch von Präsuppositionen: „Many of the features of spatial orientation treated by Bierwisch will take their place, in other words, in the presuppositional com-
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Um die Trennung zwischen konzeptuellem und semantischem Gehalt zu illustrieren, geht Bierwisch an einer Stelle sogar so weit zu behaupten, dass die Unterscheidung auf Eigennamen im gleichen Maße zutrifft. [L]inguistically, we know that John is a proper name by means of which we may refer to male persons identified by this name. This is the information represented in the corresponding lexical entry in the format discussed above. Conceptually, we have a varying amount of more specific knowledge about each John we happen to know. This knowledge is mentally organized in systematic ways, although it has nothing to do with the knowledge of English. (Bierwisch/Schreuder 1992, S. 31)
Ob ein Eigenname aber auf eine weibliche oder männliche Person Bezug nimmt, hängt ganz offenkundig entscheidend davon ab, was ein Sprachbenutzer oder eine Sprachbenutzerin über die Welt weiß. So muss eine deutsche Muttersprachlerin in Italien erfahren, dass Andrea auf männliche Personen referiert, und dies lernt sie – genauso wie im Fall von jedem anderen Eigennamen – nicht aufgrund irgendwelcher sprachlich-grammatischer Eigenschaften des Wortes, sondern im Rückgriff auf referentielles Wissen (vgl. Busse 1997a, S. 19f.). Sie lernt, auf welche sprachlichen oder außersprachlichen Wissenssegmente ein Ausdruck bezogen werden kann, und zwar ohne dabei vorab zwischen sprachlichen und enzyklopädischen Informationen zu unterscheiden.45 Eine solche Unterscheidung macht auch gar keinen Sinn, weil in jedem Akt der Referenzherstellung diese Dichotomie schon unterlaufen ist. Vor diesem Hintergrund ist es allzu verständlich, dass Bierwisch an keiner Stelle den außerkonzeptuellen Status von semantischen Konstanten näher bestimmt, sondern stattdessen vermutet, es handele sich „wahrscheinlich um dieselbe Substanz“46. Das heißt aber im Klartext: If constants may be grounded in conceptual knowledge, and if they are subject to interpretation in terms of conceptual knowledge, why not simply say that they are conceptual entities? (Taylor 1994, S. 13)
Um diese Konsequenz kommt man nach den vorangegangen Überlegungen nicht umhin, auch dann nicht, wenn Generativisten immer wieder behaupten, die Annahme semantischer Primitiva sei unumgehbar, um das Lernbarkeitsparadoxon zu vermeiden. Brigitte Löbach (2000) hat aber in ihrer Studie zum
45
46
ponents of the semantic descriptions of words usable as predicates.“ Mit „features of spatial orientation“ sind vermeintliche Komponenten wie „VERT“ (=vertikale Ausrichtung) und „MAX“ (= maximale Erstreckung) gemeint. In direkter Auseinandersetzung mit Bierwisch bemerkt Fillmore: „The question a lexicographer must face is whether these matters have to do with what one knows, as a speaker of a language, about the words in that language, or what one knows, as a member of a culture, about the objects, beliefs and practices of that culture.” Und er beantwortet die Frage wie folgt: „These are serious questions, but we can of course avoid facing them by making […] the decision not to insist on a strict separation between a dictionary and an encyclopedia. “ (Fillmore 1971, S. 383) Vgl. Schwarz 2000, S. 32. Schwarz verweist hier auf Bierwisch 1997 und eine mündliche Mitteilung Bierwischs.
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Semantikerwerb dargelegt, dass innerhalb eines holistischen Ansatzes der Erwerb konzeptueller Strukturen sehr wohl plausibel zu machen ist, ohne eine starke Dekompositionshypothese zugrunde legen zu müssen.47 Ich breche die Analyse an dieser Stelle ab, obwohl sich zu den einzelnen Beispielsätzen aus frame-semantischer Sicht sicherlich noch mehr sagen ließe. Ich verzichte an dieser Stelle auch auf eine Illustration dessen, wie in den vorliegenden Fällen eine Frame-Semantik dem Problem der Polysemie begegnet,48 weil es dazu noch einiger Vorklärungen bedarf. Die fünf zuletzt erläuterten Punkte sollten vor allem deutlich machen, wie stark die Prämissen einer modularen Kognitionstheorie in den Gegenstandsbereich einer FrameSemantik eingreifen. 2.4 Drei-Ebenen-Semantik (M. Schwarz) Die ausführlichen Beispielanalysen im letzten Abschnitt haben zu der Einsicht beigetragen, dass es nicht nur theoretische Gründe sind, die dazu führen, Frames nicht innerhalb einer Zwei-Ebenen-Semantik zu thematisieren. Es ist insbesondere die empirische Erklärungskraft von Frames, die durch die methodischen Voraussetzungen einer Zwei-Ebenen-Semantik erheblich eingeschränkt wird. Unzählige Aspekte verstehensrelevanten Wissens liegen außerhalb des Zugriffsbereichs dieses Beschreibungsansatzes. Mehr noch: Ein Zwei-Ebenen-Modell verhindert sogar, solche Aspekte zu erfassen. Thus, if semantics is restricted to what is algorithmically computable from linguistic units, the resulting semantic representations will be so limited and impoverished relative to how expressions are actually understood that we would hardly recognize them as reasonable approximations to their meanings. (Langacker 1988a, S. 17)
In diesem Sinne liegt einer Zwei-Ebenen-Semantik ein reduktionistischer Bedeutungsbegriff zugrunde. Bedeutungspotentiale sprachlicher Ausdrücke werden reduziert auf das Zusammenspiel eines prädeterminierten Fügungsund Referenzpotentials, das semantische Repräsentationen ex hypothesi festlegen. Monika Schwarz hat dieser Kritik ein Stück weit Rechnung getragen. Ähnlich wie Dölling (2001b, 2005) vertritt sie ein Modell, das keine strikte Trennung zwischen semantischer und konzeptueller Repräsentationsebene postuliert, sondern die repräsentationale Interdependenz und das prozes-
47 48
Vgl. insbesondere Löbach 2000, S. 174-182. Löbach argumentiert hier auch gegen Jackendoffs Annahme semantischer Primitiva (auf dessen Semantikkonzeption ich in Kap. II.3.2 noch eingehen werden). Vgl. Martin 1997. Zur Modellierung der Bedeutungsvarianten von Schule innerhalb eines Netzwerkmodells vgl. Pörings/Schmitz 2003, S. 34-38.
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suale Zusammenwirken dieser beiden Wissenssysteme berücksichtigt. (Schwarz 2000, S. 37)
Ein enger Zusammenhang zwischen dem semantischen und konzeptuellen System, zwischen Sprachwissen und Weltwissen wird also nicht mehr geleugnet. Beide, sowohl Schwarz als auch Dölling, geben damit aus ähnlichen Gründen das Postulat der Zwei-Ebenen-Semantik auf, dass sich bestimmte semantische Komponenten, nämlich Konstanten bzw. Primitiva, mit Elementen des rein sprachlichen Systems identifizieren lassen.49 Dennoch halten beide weiterhin an der Autonomie der Syntax fest. Danach determinieren syntaktische Prinzipien die Auswahl möglicher konzeptueller Elemente (also das „Fügungspotential“ von Ausdrücken), bevor es überhaupt zum Bedeutungsverstehen kommt. Ich werde im Folgenden an Beispielen zu zeigen versuchen, dass auch dieses Beschreibungsmodell Frames in ihrem Erklärungspotential unnötig restringiert. Genauer werde ich dabei auf die Position von Schwarz eingehen, während ich die diesbezüglich ohnehin ähnliche Argumentation Döllings vernachlässige. Schwarz plädiert für ein integratives Modell, das die Dichotomie holistisch/modularistisch zu unterlaufen scheint. Sie selbst spricht von einer DreiEbenen-Semantik (Schwarz 1992a, S. 91-106; 2000, S. 33ff.). Mit dieser Bezeichnung gibt sie allerdings schon zu erkennen, dass zentrale generativgrammatische Voraussetzungen unberührt bleiben. Neu im Vergleich zum Zwei-Ebenen-Modell ist ihre Auffassung, dass das semantische System nicht ein eigenständiges, sondern ein Semi-Modul darstellt, das mit anderen Kenntnissystemen interagiert. Die amodale konzeptuelle Ebene stellt die Basisebene dar und enthält die mentalen Inhalte für die Semantik einer Sprache. Lexikalische Bedeutungen stellen die zweite Stufe dar: Konzeptinhalte, die an phonologische Formen und syntaktische Raster gekoppelt sind. Die dritte Ebene ist die Ebene der aktuellen Bedeutungen. (Schwarz 1992a, S. 101)
Semantische und konzeptuelle Elemente unterscheiden sich hinsichtlich ihres Status nicht mehr. Sowohl Informationseinheiten der ersten als auch der zweiten Ebene sind im Langzeitgedächtnis abgespeichert. Im Gegensatz zur Zwei-Ebenen-Semantik betont Schwarz, dass semantische Inhaltsstrukturen, womit das „Referenzpotential“ im Sinne Wieses gemeint ist, nicht dem sprachlichen, sondern dem konzeptuellen System zugehören (Schwarz 1992a, 49
Dölling 2001b (S. 11) benennt die diesbezüglich zentralen Defizite von Zwei-EbenenSemantiken mit folgenden Fragen: „Wodurch werden die einer Interpretation in konzeptuellen Einheiten zugänglichen Konstanten der semantischen Form determiniert? Handelt es sich bei den letzteren um Einheiten von grundsätzlich anderer Art, oder stellen sie eher nur bestimmte sprachbezogene Abstraktionen über konkrete konzeptuelle Einheiten dar? Inwieweit ist dann aber eine strenge Separierung von konzeptueller Struktur und semantischer Form, von konzeptuellem und semantischem Wissen überhaupt sinnvoll?“
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II. Kognitionstheoretische Voraussetzungen
S. 89). Somit sei fraglich, ob Wortbedeutungen als dekomponierbare Mengen von notwendigen oder hinreichenden Merkmalen (SEM) zu beschreiben seien. Darin besteht aber das Kernargument der Vertreter einer ZweiEbenen-Semantik dafür, zwischen semantischem und enzyklopädischem Wissen zu unterscheiden. Folgende Beobachtungen lassen Schwarz diese Trennung problematisch erscheinen: x Um mögliche semantische Interpretationen sprachlicher Ausdrücke zu erklären, sei es nicht plausibel, einerseits semantische Repräsentationen als Träger verschiedenster Informationen und andererseits unflexible Aktivierungsprozesse anzusetzen. x Mit der These der Dekomponierbarkeit sprachlicher Ausdrücke gehe die Komplexitätsthese einher, nach der die Verarbeitung komplexerer Bedeutungen kognitiv aufwendiger sei und folglich mehr Zeit in Anspruch nehmen müsse. Empirische Belege könnten dafür aber bis heute nicht gefunden werden, vielmehr deuteten einschlägige Untersuchungen darauf hin, dass sich die Verarbeitungszeit nicht signifikant unterscheide. x Darüber hinaus fehle es an theoretischer und empirischer Evidenz für die Unterscheidung zwischen einer Ebene der semantischen und einer Ebene der konzeptuellen Repräsentation. Insbesondere würden neuere neurophysiologische Befunde darauf hinweisen, dass sich das Prinzip der Modularität biologisch nicht aufrechterhalten lasse.50 x Sprachverstehen sei schließlich ein kognitiv-konstruktiver Akt, der auf inferentielle Strategien zurückgreife, um Kohärenz zu etablieren. Aktivierung lexikalisch-semantischen Wissens spiele dabei nur eine untergeordnete Rolle; die zentrale Funktion übernehme vielmehr konzeptuelles Weltwissen. Schwarz zieht daraus Schlussfolgerungen, die auf eine Zwischenposition hinauslaufen, in der holistische und modularistische Annahmen miteinander kombiniert werden: Ich vertrete hier jedoch die Auffassung, daß die Ablehnung der Komplexitätshypothese nicht notwendigerweise zur Ablehnung der Dekompositionsannahme zwingt. Struktur- und Prozeßannahmen können bzw. müssen hier voneinander unterschieden werden. Die strukturelle Organisation im LZG determiniert zwar (in einer noch genauer zu erforschenden Weise) den Ablauf kognitiver Prozesse, doch spielen auch Faktoren wie Verarbeitungstiefe und kognitive Anforderung bei der jeweiligen Verarbeitungssituation eine große Rolle. Die Dekomposition in semantische Merkmale ist somit keine obligatorische, sondern eine fakultative Operation bei der Bedeutungsverarbeitung, die je nach situativer und kognitiver Anforderung vorgenommen wird […]. (Schwarz 1992a, S. 89)
50
In dem bereits erwähnten Sonderheft der Linguistic Review (22/2005) zum aktuellen Stand der kognitiven Linguistik distanziert sich deshalb jüngst eine Reihe kognitiver Linguisten von der Modularitätshypothese, selbst von der schwächeren Version, wie Schwarz sie vorschlägt.
2. Modularismus
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Die Zwischenposition besteht demnach darin, dass Schwarz einerseits bestreitet, Bedeutungen setzten sich aus einer festen Menge atomarer Komponenten zusammen. Sie widerspricht damit dem Postulat der strikten Kompositionalität, das eine Zwei-Ebenen-Semantik auszeichnet.51 Unklar bleibt dabei aber weiterhin, inwiefern Dekomposition eine „fakultative Operation“ sein soll und worin insbesondere die kognitive Realität dieser Operation bestehen soll. Wäre sie rein fakultativ, wäre sie kognitiv irrelevant, weil dann andere kognitive Prinzipien allein den Verstehensprozess determinierten. Doch offensichtlich zweifelt Schwarz die psychologische Realität kontextinvarianter Merkmale nicht per se an. Sie stellt nur in Frage, ob semantische Dekomposition eine eigene und prozessual abgetrennte Ebene des Sprachverstehens konstituiert. Ihre Unsicherheit zu bestimmen, welchen Status dann eine solche „kontextinvariante, unterspezifizierte Kernbedeutung“ (Schwarz 2000, S. 38) hat, kommt in dem Versuch zum Ausdruck, Kernbedeutungen sprachlicher Zeichen vom so genannten „konzeptuellen Skopus“ abzutrennen. Mit „konzeptuellem Skopus“ ist jene enzyklopädische Wissensdomäne (oder jener Frame) gemeint, in der (oder in dem) eine Kernbedeutung eingebettet ist. Die Kernbedeutung von Haus ist nach Schwarz (2000, S. 38) WOHNGEBÄUDE und von erschießen AGENS X TÖTET PATIENS Y MIT INSTRUMENT Z (SCHUSSWAFFE Z). Handelt es sich dabei um „fixed primes“ oder um „created primes“ im Sinne Bierwischs oder um konzeptuelle Einheiten? Schwarz gibt darauf keine eindeutige Antwort. Weil sie es aber ablehnt, in Anlehnung an Jackendoff semantische und konzeptuelle Struktur gleichzusetzen, und weil sie mit der Redeweise von kontextinvarianten Kernbedeutungen umgekehrt die Invarianzprämisse Bierwischs übernimmt, dürften Kernbedeutungen tendenziell im Sinne von „fixed primes“ zu verstehen sein. De facto läuft Schwarz’ Position damit aber auf ein Ebenenmodell hinaus, das die Korrelierung semantischer Konstanten mit konzeptuellen Wissenselementen zu klären hätte. Auch müsste ein solches Modell deutlich machen, inwiefern „kognitive Prozesse“ (Schwarz 1992a, S. 89) direkt auf die Ebene semantischer Repräsentationen zugreifen können. Fest steht: Aufgrund mangelnder empirischer Evidenz leugnet Schwarz die Komplexitätshypothese; je nach Kontext können semantische Komponenten auch selektiv aktiviert werden. Zugleich gibt sie das Prinzip der Dekomposition aber nicht preis und erbt damit alle Schwierigkeiten einer Zwei-Ebenen-Semantik, wie sie in den letzten beiden Abschnitten erläutert wurden. Daneben hält Schwarz die generativ-grammatische These aufrecht, dass semantische Einheiten an syntaktische Raster gekoppelt sind und so eine 51
Die hilfreiche Unterscheidung zwischen strikter und nicht-strikter Kompositionalität geht auf Taylor (2002, S. 97-116) zurück. In diesem Punkt weicht Dölling von Schwarz ab; er geht weiterhin von strikter Kompositionaliät aus (Dölling 2001b).
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II. Kognitionstheoretische Voraussetzungen
Argumentstruktur vorgeben, die nichts mit dem konzeptuellen System zu tun hat. Damit knüpft auch sie an Chomskys Prämisse an, der Syntax in semantischer Hinsicht eine Vorrangstellung einzuräumen. Das Theta-Raster eines sprachlichen Ausdrucks stellt zwar kein Merkmalinventar zur Verfügung, das Bedeutungsverstehen inhaltlich betrifft. Jedoch fungiert es als Schnittstelle zwischen Syntax und konzeptueller Struktur, und in dieser Funktion eröffnet es nur ganz bestimmte syntaktische Leerstellen, die sich dann konzeptuell spezifizieren lassen. Nicht inhaltlich, aber formal wirkt sich dies auf das Verständnis semantischer Strukturen aus. Das Theta-Raster stellt nämlich eine feste Matrix für mögliche syntaktische Realisierungen dar, und daraus ergibt sich – neben der gerade thematisierten Unterscheidung semantischer und konzeptueller Elemente – eine weitere gestufte Betrachtung, die diesmal die Menge konzeptueller Elemente betrifft. Entweder ein konzeptuelles Element gehört jenem „konzeptuellen Skopus“ (Schwarz 2000, S. 37) eines sprachlichen Ausdrucks an, das sein Theta-Raster vorgibt, oder es entzieht sich diesem Skopus und kann infolgedessen auch nicht verstehensrelevant sein. Im letzten Abschnitt hat sich gezeigt, dass damit eine stark reduktionistische Beschreibung semantischen Wissens einhergeht. Dieses bedeutungsreduktionistische Dilemma einer Zwei-EbenenSemantik versucht Schwarz zwar zu vermeiden, indem sie davon ausgeht, dass Kernbedeutungen über „prozedurale Routen“ (2000, S. 37f.) direkt mit konzeptuellen Einheiten (wie Frames) verknüpft sind. Doch in Wirklichkeit verringert sie damit allenfalls die Kluft zwischen semantischen und konzeptuellen Repräsentationen. Der bedeutungsreduktionistische Kern besteht aus dem einfachen Grund fort, weil konzeptuelle Wissensdomänen nur dann eine verstehensrelevante Funktion erfüllen können, wenn sie sich auf eine Argumentstelle des infrage stehenden Ausdrucks beziehen. Argumentstellen fungieren nämlich hiernach gleichsam als Ausgangspunkte der „prozeduralen Routen“; sie stellen Ankerpunkte lexikalischen Wissens dar, die den Weg zu anschließbarem konzeptuellem Wissen anzeigen. Schwarz folgend enthält etwa der kontextinvariante Lexikoneintrag von erschießen drei Variablen: x für das AGENS, y für das PATIENS und z für das INSTRUMENT (Schwarz 2000, S. 38). An ihnen würden sich nun kognitive Domänen variabel anschließen lassen (vgl. Abb. 3).52 Der große, untere Kasten in Abb. 3 beinhaltet die semantischen Informationen des Lexikoneintrags, während die drei kleinen Kästen drei mögliche konzeptuelle Domänen darstellen. Beide seien durch aktivierte prozedurale
52
Ich habe versucht, die Abb. 3 möglichst exakt aus Schwarz 2000 (S. 38) zu übernehmen. Aus der graphischen Darstellung ergeben sich einige – nicht nur für unseren Zusammenhang – zentrale Probleme, die Schwarz auch nicht in der Erläuterung der Skizze ausräumt.
2. Modularismus
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Routen, deren Richtung die Pfeile angeben, miteinander verbunden, substantiell aber gleich und im Gedächtnis eng aneinander gekoppelt gespeichert.
MOTIVE
FOLGEN
BEGLEITUMSTÄNDE
ERSCHIESS (x, y, z) (AGENS) TÖTET Y (PATIENS) MIT Z (INSTRUMENT) IST SCHUSSWAFFE Z
Abb. 3: Teil der kognitiven Domäne von ERSCHIESS nach Schwarz 2000, S. 38
Weder aus der Skizze noch aus deren Erläuterung wird jedoch deutlich, wie eine solche kognitive Kopplung genau verlaufen soll. Wenn die Substanz dieselbe ist, was rechtfertigt dann, semantische von konzeptuellen Informationen doch zu trennen? Und vorausgesetzt, beide sind voneinander zu unterscheiden, wodurch wäre dann eine „prozedurale Route“, also die Aktivierung einer konzeptuellen Domäne motiviert? Diese Fragen bleiben offen. Aus Abb. 3 ergeben sich aber zwei Antwortvarianten. Variante eins: Die Pfeile sind nicht einzelnen Argumentstellen, sondern dem Lexikoneintrag als Ganzem zugeordnet. In diesem Fall stellte sich das bedeutungsreduktionistische Problem von Zwei-Ebenen-Semantiken nicht im selben Maße, wie ich es vorhin erörtert habe. Nichtsdestoweniger müsste sich aber jede Domäne irgendwie von diesem kontextinvarianten Eintrag ableiten lassen. Aber wie? Die sehr allgemeine Rede von „Aktivitätszuständen“, in denen eine Domäne durch den Lexikoneintrag versetzt werde, hilft hier kaum weiter. Verstehenstheoretisch gewendet bedeutet das Festhalten an unterspezifierten Kernbedeutungen, dass diese als feste Inferenzbasen fungieren. In welcher Verbindung stehen dann aber solche als semantisch basal postulierten Informationen und konzeptuelle Domänen? Unter der Bedingung, dass beide dieselbe Substanz haben, käme es gerade darauf an, den intrinsischen Zusammenhang zu erklären, sonst wäre die Gefahr groß, dass beide doch – im Sinne einer Zwei-Ebenen-Semantik – zwei ontologisch differente Kenntnissysteme darstellen. Mit dieser ersten Variante, die Schwarz im Visier zu haben scheint, kommen also viele wichtige Fragen auf, die zwar einerseits die Eigen-
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II. Kognitionstheoretische Voraussetzungen
ständigkeit von Schwarz’ Modell demonstrieren, andererseits aber unbeantwortet bleiben. Variante zwei: Jede konzeptuelle Domäne ist direkt an eine Argumentstelle angeschlossen. Damit wäre dem Problem der ersten Variante ein Stück weit Rechnung getragen. Im behandelten Beispiel müssten sich die Domänen „Motive“, „Folgen“ und „Begleitumstände“ über prozedurale Routen auf eine der Argumentstellen x, y oder z zurückführen lassen. Das entspricht der Konzeption einer Zwei-Ebenen-Semantik, wie ich sie im Anschluss an Bierwisch diskutiert habe. Jeder Pfeil in Abb. 3 wäre einer oder mehreren Argumentstelle(n) fest zugeordnet. Offensichtlich macht es aber wenig Sinn, die Pfeile in Abb. 3 so zu interpretieren, als würden sich feste Zuordnungen wie in Tab. 1 ergeben: Argumentstelle/n Agens Patiens ERSCHIESS (x,y,z)
Ⱥ Ⱥ Ⱥ
Wissensdomäne Folgen Begleitumstände Motive
Tab. 1: Mögliche Zuordnung von Argumentstellen zu Wissensdomänen
Denn es dürfte äußerst fraglich sein, die Wissensdomäne „Motive“ dem gesamten Lexikoneintrag zuzuweisen; es sähe dann so aus, als ob sich diese zweifelsohne wichtige Domäne nicht der Variable x (AGENS) zuweisen lässt, weil diese Variable schon an die Domäne „Folgen“ angeschlossen ist. Auf den ersten Blick plausibel wäre hingegen, die Domäne „Motive“ an die Argumentstelle „Agens“ anzuschließen und für die Domäne „Folgen“ zwei Anschließbarkeiten zu postulieren, nämlich sowohl an die Argumentstelle „Agens“ (Stichwort: psychische und/oder juristische Folgen) als auch an die Argumentstelle „Patiens“ (Stichwort: Tod und/oder Folgen für die Hinterbliebenen usw.). Auf welche Argumentstelle bezöge sich dann aber die Domäne „Begleitumstände“? Hiermit angesprochenes Wissen betrifft offenkundig den Kontext einer Handlung (hier: des Erschießens), d.h. den situativen Zusammenhang, in dem eine Handlung stattfindet. Es liegt auf der Hand, dass solche Wissensaspekte keinen direkten Bezug zum vermeintlich invariablen Lexikoneintrag aufweisen müssen. Hält man also an der (etwa abduktiven) Erschließbarkeit konzeptuellen Wissens auf der Basis grammatikdeterminierter Kernbedeutungen fest, um das Problem der Polysemie in den Griff zu bekommen, tritt derselbe Bedeutungsreduktionismus auf, der auch die ZweiEbenen-Semantik auszeichnet. Neben diesen zwei heiklen Interpretationsvarianten des Bedeutungsmodells Schwarz’ stellen sich einige übergreifende Fragen. Wie werden die Argumentstellen ermittelt, und wie wird garantiert, dass diese alle denselben Status haben? Anders als die Variable x (= Agens) und y (= Patiens) ist z
2. Modularismus
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(= Instrument) im vorgeschlagenen Lexikoneintrag von erschießen bereits mit SCHUSSWAFFE Z spezifiziert. Im Vergleich zu den anderen Argumentstellen fiele diese also sehr viel konkreter aus, und ihr (potentieller) konzeptueller Skopus beschränkte sich infolgedessen auf relativ wenige Informationseinheiten, etwa auf Angaben darüber, um was für eine Schusswaffe es sich genau handelt, aus welchem Material sie besteht usw. Die Bestimmung der Argumentstellen scheint eher durch eine Art interpretative Heuristik als durch eine nachvollziehbare Systematik geleitet zu sein. Sonst müssten sich auch weniger marginale konzeptuelle Informationen aus der Kernbedeutung herleiten lassen, die offensichtlich an keine der drei Argumentstellen anschließen, so etwa Angaben zum Ort des Geschehens (z.B. Kanzleramt in Berlin vs. Einkaufsstraße in Bagdad), Angaben zum Handlungsrahmen im Sinne von Goffman 2000 (z.B. fingiertes Erschießen im Kinderspiel und Theaterstück vs. nichtfingiertes Erschießen im Krieg, bei einem Raubüberfall usw.), Angaben zum übergeordneten Handlungsrahmen bzw. zur Handlungsmotivation (z.B. Weltkrieg vs. Papst-Attentat) usw. In Schwarz’ Beschreibungsmodell müssten diese folglich als verstehensirrelevant gelten.53 Ein weiterer Punkt scheint mir aber noch zentraler zu sein. Ohne Bezug auf übergeordnete Wissensdomänen bleibt der vermeintlich abstrakte und grammatikdeterminierte Lexikoneintrag von erschießen selbst leer. (i) Jemanden erschießen ist eine Handlung, und nur als solche erfordert sie ein Agens und Patiens. Wie kann man aber eine Handlung von bloßem Verhalten unterscheiden, ohne auf Weltwissen zurückzugreifen? (ii) Die Bedeutung von erschießen impliziert deontisches Wissen. Jemanden erschießen kann ein intentional gerichteter Akt sein, dann handelt es sich um Mord, ansonsten etwa um Totschlag oder Notwehr. Was soll im einen Fall aber Intentionalität ohne Weltbezug sein? Und was ist Mord oder Totschlag, ohne einen Begriff von „Recht“ zu haben? (iii) Jemanden erschießen heißt, dass ein Agens x ursächlich für den Tod eines Patiens y verantwortlich ist. Im letzten Abschnitt zeigte sich aber, dass eine Fülle spezifischer konzeptueller Eigenschaften kausale Zusammenhänge kennzeichnet. Um nur ein Beispiel zu nennen: Wie soll der zeitliche Zusammenhang von Schießen und Erschossen-Werden ohne empirische Kenntnis desselben Vorgangs erfasst werden? Warum dauert der Vor53
Es ließen sich problemlos Kontextrahmen anführen, aus denen die zentrale Relevanz solcher Verstehensdaten hervorgeht. Man vergleiche etwa den Austausch folgender Angaben: Im Theaterstück X/im Kanzleramt/in Bagdad/im Bürgerkrieg hat heute ein Unbekannter einen Landstreicher/die Bundeskanzlerin/den Papst erschossen. Folgesätze könnten nun auf eine Fülle von Wissensaspekten von erschießen Bezug nehmen: - Im Theaterstück X erreicht die Kugel ihn/sie nicht, trotzdem fiel er/sie tot um. - Im Kanzleramt, wie in ganz Deutschland, löste dieser Mord größte Besorgnis aus. - In Bagdad werden solche öffentlichen Hinrichtungen zum Volkssport. Und so weiter. Ich halte die Verstehensrelevanz solcher Wissensaspekte für evident und verzichte an dieser Stelle auf weitere Beispielanalysen.
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II. Kognitionstheoretische Voraussetzungen
gang des Erschießens (anders als der des Erdrosselns) nicht mehrere Minuten? (iv) Erschießen kann man schließlich nur Lebewesen und für gewöhnlich auch nur bestimmte Lebewesen. Ein Pferd, einen Hund, einen Menschen kann man erschießen, einen Wecker oder eine Fliege nicht. Wie soll dazwischen aber differenziert werden, ohne über Wissen der Domäne „Lebewesen“ zu verfügen? Diese Beispiele illustrieren die „intrinsicness of conceptualisation to lexical meaning“ (Taylor 1994, S. 15). Auch ein Drei-Ebenen-Modell, wie es Schwarz vorschlägt, klammert große Teile verstehensrelevanten Wissens aus, weil Schwarz Konzeptualisierung als eine kognitiv nachgeordnete Leistung begreift. Das Festhalten an der Trennung einer semantischen von einer konzeptuellen Repräsentationsebene hat in Schwarz’ Theorie indirekter Anaphern ganz konkrete Folgen. Um beispielsweise den Verstehensprozess indirekter Anaphern zu erklären, muss sie unterschiedliche Aktivierungstypen ansetzen (Schwarz 2000, S. 98-117). Davon heißt einer „Verankerung durch verbsemantische Rollen“. Zur Veranschaulichung gibt sie folgendes Beispiel (2000, S. 99):54 (20) Ich wollte gerade die Tür aufschließen, als Moretti aus dem Gebüsch sprang. Vor Schreck ließ ich den Schlüssel fallen. Sie argumentiert, dass das Theta-Raster des Verbs aufschließen dafür verantwortlich ist, dass die mit dem Wort Schlüssel im Folgesatz verbundene indirekte anaphorische Referenz gelingt. Davon unterscheidet Schwarz Fälle wie diese (2000, S. 111): (21) In jenen letzten Augusttagen erwacht in einem kleinen Krankenhauszimmer das Mädchen Rita Seidel… Die Krankenschwester tritt an das Bett. Zur Erklärung greift sie dieses Mal auf Frames zurück (nennt diese allerdings „Schemata“). Ein aktivierter Frame stellt den Bezug zwischen Krankenschwester und Krankenhauszimmer her. Der Frame beinhaltet sowohl Informationen darüber, dass ein Krankenhaus ein Gebäude mit Zimmern ist, in dem kranke Menschen behandelt werden, als auch darüber, dass diese Behandlung Krankenschwestern durchführen. In der bisher eingeführten Terminologie stellen Krankenhauszimmer und Krankenschwester zwei Instantiierungen (oder „Füllwerte“ bzw. „fillers“) in zwei verschiedenen Leerstellen (slots) des Krankenhaus54
Inwiefern der Terminus „Anaphern“ auf diese Phänomene tatsächlich sinnvoll zu beziehen ist, sei an dieser Stelle dahingestellt.
2. Modularismus
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Frames dar. Doch wieso soll sich dieser Prozess der Schema-Instantiierung wesentlich von dem ersten Beispiel der Referenzetablierung unterscheiden? Auch dort aktiviert das Verb aufschließen einen Frame, und auch dort fungiert das Wort Schlüssel als instantiierter Füllwert. Löst man die beiden indirekten Anaphora auf, stehen sich folgende Sätze gegenüber: (20’) Ich wollte gerade die Tür mit dem Schlüssel aufschließen… (21’) … Die Krankenschwester tritt an das Bett im Krankenhauszimmer. Allein auf der Basis der für den Sprachverstehensprozess primären Daten55 ist kaum plausibel zu machen, warum die semantischen Beziehungen zwischen den lexikalischen Einheiten Schlüssel und aufschließen einerseits und Krankenschwester und Krankenhauszimmer andererseits grundsätzlich anders sein sollten. Dass in Krankenhauszimmern Krankenschwestern arbeiten, gehört genauso zum vorausgesetzten Weltwissen wie die Tatsache, dass zum Aufschließen einer Tür ein Schlüssel dient. Im ersten Fall sind beide Komposita determinativer Art. Ihr erstes Glied determiniert, welche Entität genau gemeint ist, und zeigt an, dass beide Ausdrücke demselben Frame zugehören. Dabei handelt es sich um einen kognitiv-interpretativen Akt, der ein Set an Annahmen in einen übergeordneten Frame integriert. Ein Krankenhaus ist ein Haus für die Pflege von Kranken, eine institutionelle Einrichtung mit Krankenzimmern, in dem Krankenschwestern arbeiten, die für die Pflege verantwortlich sind. Im zweiten Fall verhält es sich nicht anders. Der semantische Nukleus des Partikelverbs aufschließen und des Derivats Schlüssel weist beiden Ausdrücken denselben Frame zu. In welchem Bedeutungszusammenhang beide Ausdrücke innerhalb dieses Frames stehen, erschließt sich dann auf der Basis weltwissensbasierter Inferenzen. Nicht alle Türen lassen sich aufschließen, nur bestimmte Türen müssen überhaupt aufgeschlossen werden, und nicht immer ist dazu ein Schlüssel nötig (so ist etwa eine Zimmertür in der Regel nicht abgeschlossen). Eine konzeptuelle Integration relevanter Annahmen über die Welt findet also auch hier immer schon statt, und die macht es in diesem Fall gar nicht nötig, dass eine syntaktische Leerstelle besetzt ist, die angibt, womit eine Tür aufgeschlossen wird.56
55 56
Ich greife hier auf eine Unterscheidung von Fillmore (1984, S. 127; 1985, S. 235) zurück. Primär sind solche Daten, die zur Interpretation eines Ausdrucks verstehensrelevant sind, sekundär dagegen solche, die hochgradig theorieinduziert sind. In Beispiel (20) reichen die im Satz gegebenen Informationen aus, um die „indirekte Anapher“ eindeutig aufzulösen; eine Zuhilfenahme weiterer Kontextdaten (die ja in natürlichen Sprachverstehensprozessen immer schon vorhanden sind, hier handelt es sich etwa um ein Zitat aus dem Roman „Einmal ist keinmal“ von J. Evanovich) ist nicht nötig. Es heißt, „eine Tür“ soll aufgeschlossen werden und in ihrer unmittelbaren Nähe befinde sich „ein Gebüsch“. Ergo: Die Tür ist eine Haustür (denn in einem Zimmer befindet sich in der Regel kein Gebüsch).
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II. Kognitionstheoretische Voraussetzungen
Offensichtlich ist die getroffene Unterscheidung zwischen verschiedenen Typen indirekter Anaphora hochgradig theorieinduziert (vgl. Coulson 2001, S. 43ff.; Lakoff 1991). Sie ist nicht das Ergebnis der Typisierung primärer, verstehensrelevanter Daten, sondern das Resultat einer vorgängigen, syntaxtheoretischen Unterscheidung, also von „theory-defined data, which scholars of particular persuasions find manageable and regard as proper for their theories“: „data that are associated with single sentences that are used assertively and in separation from any context of use“ (Fillmore 1984, S. 128). Schwarz’ eigenem Anspruch, ein kognitiv ökonomisches Modell aufzustellen, wäre viel stärker entsprochen, wenn allen anaphorischen Referentialisierungs- bzw. Aktivierungsprozessen ein einheitliches Beschreibungsformat zugrunde läge. Hierzu drängen sich Frames geradezu auf.57 Auch die anderen beiden Typen, der so genannte inferenz-basierte und meronymie-basierte Aktivierungstyp (Schwarz 2000, S. 104-111, 114-117), können problemlos durch ein Frame-Modell erklärt werden. Schwarz diskutiert neben den aufgegriffenen Beispielsätzen (20) und (21) eine Reihe weiterer Fallbeispiele und muss am Schluss feststellen, dass sich die vier postulierten Typen nicht trennscharf unterscheiden lassen. Statt aber ein übergreifendes Erklärungsmodell anzusetzen, behauptet sie die Existenz von „Mischtypen“, die zu einem „anaphorischen Kontinuum“ (Schwarz 2000, S. 117) führen. Allein Schwarz’ syntaxzentriertes Sprachmodell verhindert eine uniforme Modellierung. Die konkreten Auswirkungen einer modularistischen Position zeigen sich hier abermals in aller Deutlichkeit. Ohne die Dekompositionsthese gänzlich aufzugeben, schiebt Schwarz Inhaltsstrukturen sprachlicher Bedeutungen auf die Seite des konzeptuellen Systems, Formstrukturen hingegen vorbehaltlos auf die Seite des Sprachsystems (vgl. Abb. 2). In zentralen Punkten bleibt sie damit einem modularistischen Kognitionsmodell verpflichtet. Fast alle Problemfelder einer Zwei-Ebenen-Semantik, die ich im letzten Abschnitt ausführlich thematisiert habe, gelten mithin auch für ihr Drei-Ebenen-Modell. Der Grund dafür dürfte nun ein wenig deutlicher geworden sein. Die Bestimmung des semantischen Gegenstandsbereiches sowie des zur Verfügung stehenden Methodenrepertoires hängt aufs Engste damit zusammen, ob – in welcher Form und Abwandlung auch immer – einem modularen oder einem holistischen Kognitionsmodell Vorrang eingeräumt wird. Diese Wahl legt auch die Möglichkeiten und Grenzen einer Frame-Semantik fest. Es gibt eine Position, für die die Dichotomie Holismus/Modularismus nicht in diesem Maße gilt: die so genannte „Conceptual Semantics“ von Ray Jackendoff. Wie im holistischen Modell ist der Ausgangspunkt hier die Identi57
In Kap. VI.5 werde ich kurz auf indirekte Anaphora zurückkommen und aufzeigen, dass Frames tatsächlich als einheitliches Beschreibungsformat dienen können, mit denen sich alle vier von Schwarz angesetzten Aktivierungstypen erklären lassen.
3. Holismus
103
tätsthese von semantischer und konzeptueller Struktur. Dennoch bettet Jackendoff ein solches Semantikverständnis in ein modularistisches Kognitionsmodell ein. Auf (frame-)semantische Beschreibungen wirkt sich dies zwar nur mittelbar aus.58 Konkret werden die Auswirkungen aber hinsichtlich übergreifender Fragen zum Kognitionsmodell (vgl. Deane 1996). Auf eine ausführliche Darstellung der „Conceptual Semantics“ Jackendoffs werde ich im Folgenden verzichten. Weil sich in Abhebung von ihr aber die holistische Position gut veranschaulichen lässt, soll Jackendoffs Ansatz in II.3.2 gleichsam als Folie für den holistischen Ansatz dienen. Anders als Jackendoff gehen Kognitive Linguisten davon aus, dass sprachliche Fähigkeiten stark mit allgemeinen Denkfähigkeiten korrelieren. Phonologische, morphologische und syntaktische Prozesse stellen demnach spezifische Ausprägungsformen von Konzeptualisierungsleistungen dar. In Abschnitt 3.1 soll die holistische Position zunächst nur im Hinblick auf die Semantik thematisiert werden. Sie richtet sich gegen Mehr-EbenenModelle und wird in dieser Form auch von Jackendoff vertreten.
3. Holismus Die Bezeichnung Holismus ist nur in der deutschen Literatur zu finden. Populär wurde sie durch Monika Schwarz (1992a, S. 16-19; 1992b, S. 49-51), die damit offensichtlich einen Gegenbegriff zum „Modularismus“ zu etablieren suchte.59 In der angloamerikanischen Literatur ist hingegen meist von einem integralen („integral“) oder einheitlichen („unitary“, „uniform“) Modell die Rede. Der Aspekt der Einheitlichkeit sollte in unserem Zusammenhang vielleicht besonders hervorgehoben werden. „Einheitlich“ meint, anders als gerade bei den Ebenen-Modellen illustriert, dass das Beschreibungs- bzw. Repräsentationsformat nicht verschiedenen Regelsystemen gehorcht. Uniform wäre die kognitive Beschreibung anaphorischer Referenzen nur dann gewesen, wenn allen Referenztypen ein und dasselbe Format unterläge und sie durch ein und dieselben kognitiven Operationen beschrieben worden wären.
58
59
So vertritt Jackendoff, ähnlich wie ich in dieser Arbeit, eine Default-Logik, die prototypentheoretische Überlegungen zur Erklärung semantischer Strukturen heranzieht (Jackendoff 1983; 1990, S. 283ff.). In Jackendoffs Konzeption weisen allerdings semantische Einheiten erstaunliche Ähnlichkeiten zu „fixed primes“ im Sinne von Bierwisch 1986 auf. Jackendoffs konzeptuelle Strukturen bestehen nämlich wie semantische Formen aus einem festen Set an semantischen Primitiva, die das syntaktische Verhalten eines sprachlichen Ausdrucks determinieren. Zu den Auswirkungen auf semantische Beschreibungen vgl. Taylor 1996. Lutzeier (1985, S. 105ff.) spricht zwar schon von „ganzheitlichen“ Semantikkonzeptionen, visiert damit aber keine kognitionstheoretische Position an, sondern nimmt allgemein Bezug auf stärker soziolinguistische Ansätze (wie Putnam 1975).
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II. Kognitionstheoretische Voraussetzungen
Das Prinzip der Einheitlichkeit kann sich einmal auf das ganze kognitive System beziehen. In diesem Sinne unterstreicht der Kognitionspsychologe John R. Anderson the unity of human cognition, that is, that all the higher cognitive processes, such as memory, language, problem solving, imagery, deduction and induction, are different manifestations of the same underlying system. (Anderson 1983, S. 1)
Die holistische Idee, dass sich die ontogenetische Entwicklung des kognitiven Systems auch in sprachlicher Hinsicht nur im Wechselspiel mit Umwelterfahrungen vollzieht, hat schon Jean Piaget (etwa in 1983) vertreten. Er lehnt Chomskys nativistische Position ab, nach der universale und spezifisch sprachliche Parameter angeboren sind. Umgekehrt bedeutet das für eine holistische Sprachtheorie, dass sie die Wirksamkeit allgemeiner kognitiver Prozesse auf allen Ebenen der Organisation sprachlicher Zeichen zu veranschaulichen hat. Insbesondere müssen sich verschiedene Phänomenbereiche (semantische, syntaktische, phonologische usw.) uniform beschreiben lassen. Dieser Ansatz bildet den methodologischen Ausgangspunkt der Kognitiven Linguistik und insbesondere der Kognitiven Grammatik, wie sie programmatisch erstmalig in Langacker 1987 vertreten wird. Das Prinzip der Einheitlichkeit besagt aber ebenso, dass Kognitionsdaten innerhalb ein und desselben Phänomenbereiches hinsichtlich ihres Status nicht voneinander abweichen. In Mehr-Ebenen-Semantiken ist natürlich auch dieses Prinzip verletzt. Denn zur Repräsentation sprachlicher Bedeutungen setzen sie zwei Formate an, ein logisch-formales und ein konzeptuellenzyklopädisches. Beide sind Manifestationen verschiedener Kenntnissysteme. Jackendoff zweifelt die Plausibilität semantischer Ebenen an, vertritt also diesbezüglich eine holistische Position, bestreitet aber zugleich die Uniformität semantikübergreifender Kognitionsprozesse. Ich nehme im Folgenden Schwarz’ terminologischen Vorschlag auf und beziehe mich mit dem Terminus Holismus ausschließlich auf das Kognitionsmodell der Kognitiven Linguistik. Dass damit unterschwellig auf eine philosophische Schule Bezug genommen wird, nehme ich wohlwollend in Kauf. Seit Quine (1979) dient der Terminus Holismus insbesondere dazu, eine erkenntnistheoretische Position des ‚Antifundamentalismus‘ zu kennzeichnen, nach der die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke nicht (wie dies noch Frege und Carnap annahmen) durch perzeptuelle Erfahrung bestätigt oder widerlegt (also ‚fundiert‘) werden kann. Was Sätze bedeuten, ist vielmehr abhängig von einem ganzen Netz epistemischer Überzeugungen, und diese werden niemals in toto in Frage gestellt.60 Schwarz hat dies mit der Verwendung des Begriffs 60
Sellars (1999) ergänzt: Erfahrungen können niemals Aussagen bestätigen oder widerlegen, weil sie selbst keinen propositionalen Gehalt haben. Eine Aussage können nur andere Aussagen bestätigen oder widerlegen. Hinzu kommt also immer eine kognitive ‚Mehrleistung‘.
3. Holismus
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Holismus sicherlich nicht impliziert. In weiten Teilen besteht aber eine erstaunliche (und bisher kaum beachtete) Übereinkunft in den epistemologischen Grundüberzeugungen der enzyklopädischen Semantikkonzeption der Kognitiven Linguistik und des semantischen Holismus der analytischen Erkenntnistheorie. 3.1 Bedeutung als Konzeptualisierung Dass der holistische Ansatz nicht nur die übergreifende Architektur der menschlichen Kognition betrifft, sondern in gleichem Maße ebenso Teilkomponenten derselben, heißt in unserem Zusammenhang: Wenn Mehr-EbenenSemantiken davon ausgehen, dass kontextabhängigen Gebrauchsvarianzen eines Ausdrucks ein grammatisch determiniertes Muster zugrunde liegt, das das Bedeutungspotential sprachlicher Ausdrücke auf bestimmte Lesarten einschränkt, muss diese Form von ‚Disambiguierung‘ in einem holistischen Modell allein durch konzeptuelle Prozesse geleistet werden (vgl. Langacker 1997; 1999b, S. 327-332). Fraglich blieb im modularen Modell, von welcher kognitiven Realität das Durchlaufen einer rein sprachlichen Repräsentationsebene sein soll, wenn daran keine konzeptuellen Prozesse wie etwa Kategorisierungen beteiligt sind. In holistischer Perspektive kommt dieses Problem erst gar nicht auf. Da Semantik ohne Kognition nicht möglich ist, Sprachverstehen aber letztlich mit Bedeutungsverstehen (und nicht etwa mit ‚Verstehen‘ formal-syntaktischer Strukturen) zusammenfällt, gelten die hierin involvierten Prozesse prinzipiell als konzeptuell motiviert. So if one does not accept a causal link between cognition and semantics, one has to accept the bizarre claim of semantic arbitrariness. If, however, one is willing to accept cognition as the motivation and the input for semantic categorisation, one may be able to avoid the deadlock. (Dirven 1994, S. 144)
Natürlich steht ein holistischer Ansatz damit vor der Aufgabe zu erklären, wie Sprachverstehen vor dem Hintergrund irreduzibler Polysemie sprachlicher Ausdrücke überhaupt möglich ist. Wichtig zu sehen ist allerdings, dass das Problem der Polysemie, wie es in Mehr-Ebenen-Semantiken aufkommt, ein hausgemachtes, d.h. stark theorieinduziertes Problem ist. Die Gefahr einer „Polysemie-Inflation“, wie Herweg sie nennt, kommt erst im Rahmen einer modularen Semantikkonzeption auf, weil hier solchen Daten Vorrang eingeräumt wird, die einem Ausdruck außerhalb jeden Kontextes und außerhalb jeder kommunikativen Funktion zugeschrieben werden.61 In dem Maße dürfen aber selbst Komposita oder einfache Phrasen (wie Schulleiter oder tolle 61
Zur Kritik an solchen wortsemantischen Theorien aus kommunikationstheoretischer Sicht vgl. z.B. Busse/Bickes 1984; Busse 1988.
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II. Kognitionstheoretische Voraussetzungen
Schule) nicht mehr als ambig gelten, und zwar deshalb nicht, weil diese durch ein kognitives Modell, bestehend aus einer Vielzahl von Hintergrundannahmen (Standardwerten), immer schon kontextualisiert werden. Die Aktivierung relevanter Hintergrundannahmen führt zu einer Hierarchisierung möglicher Interpretationsvarianzen. Kontextwissen, hier verstanden als „base of our understanding of a word“ (Fillmore 1976, S. 23), ist demnach unhintergehbar.62 Anders ausgedrückt: Tabula rasa und Verstehen schließen sich gegenseitig aus. Innerhalb eines holistischen Ansatzes verschiebt sich damit die Frage, wie Sprachverstehen ohne semantische Repräsentationen (im Sinne modularer Konzeptionen) möglich ist, zu der Frage, welche uniformen kognitiven Operationen Sprachverstehen (neben anderen kognitiven Leistungen) leiten. What is remarkable is that, by and large, subjects engage in quite similar constructions on the basis of similar prompts, and thereby achieve a high degree of effective communication. The reason seems to be that cultural, contextual, and cognitive substrate on which the language forms operate is sufficiently uniform across interlocutors to allow for a reasonable degree of consistency in the unfolding of the prompted meaning constructions. (Fauconnier 1999, S. 98)
Folgende kognitive Operationen, auf die z.T. im Zusammenhang mit Frames noch näher eingegangen wird, nennt Fauconnier: viewpoints and refererence points, figure-ground/profile-base/landmark-trajector organization, metaphorical, analogical other mappings, idealized models, framing, construal, mental spaces, counterpart connections, roles, prototypes, metonymy, polysemy, conceptual, fictive motion, force dynamics (Fauconnier 1999, S. 96).
Ausgangspunkt des gebrauchsbasierten Ansatzes der Kognitiven Linguistik bilden Äußerungseinheiten. Dadurch erhöht sich die Zahl jener potentiell relevanten Annahmen, die zur semantischen Interpretation eines Ausdrucks herangezogen werden können. Selbst dann, wenn man von einer maximal ‚dekontextualisierten‘ Kommunikationseinheit ausgeht (etwa von einem Zettel, der auf der Straße liegt und auf dem die Worte tolle Schule geschrieben stehen), verfügen wir über eine Fülle kontextrelevanter Annahmen, mit denen wir alternative kommunikative Kontexte konstruieren können.63 Die genann62
63
Busse (2007) schlägt in diesem Zusammenhang vor, den Begriff „Kontextualisierung“ als umfassende Analysekategorie in eine Sprachverstehenstheorie zu integrieren. Aus kognitiver Perspektive macht Langacker (1997) einen ganz ähnlichen Vorschlag. Jede Form von (sprachbasierter) Wissensaktualisierung ist demnach eine Form von Kontextualisierung. In dieser Sichtweise scheint m.E. die zentrale Fragestellung zu sein, wie kontextrelevantes Wissen kognitiv aufgebaut wird. Zu klären ist, welche konzeptuellen Kontextualisierungsformate und welche kognitiven Kontextualisierungsoperationen im Einzelnen zu unterscheiden sind. Frame-Semantik versteht sich (anders als Mehr-Ebenen-Semantiken) in diesem Sinne als eine Kontextualisierungssemantik. Scollon/Scollon 2003 führen in diesem Zusammenhang den Terminus „transgressive Platzierung“ ein. Mögliche kontextrelevante Fragen könnten hier sein: Ist die Äußerung für mich von irgendeiner Relevanz? Warum liegt der Zettel hier? Befindet er sich in der Nähe einer Schule, auf
3. Holismus
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ten kognitiven Operationen tragen dazu bei, dass diese Konstruktion gelingt, und sie restringieren zugleich die Interpretationsvarianz. Für Untersuchungen innerhalb der lexikalischen Semantik heißt das: Um Wortbedeutungen gebrauchsbasiert zu analysieren, ist es nötig, Wissenskontexte hinzuziehen, in denen sie auftreten. Unter der Prämisse, dass Wörter faktisch nie isoliert auftreten, sondern stets als Bestandteile von größeren Einheiten fungieren, dürfte es evident sein, dass jedes Modell, das gerade von diesen Wissenskontexten abstrahiert und eine invariante Komponentenstruktur zum Ausgangspunkt bedeutungstheoretischer Überlegungen macht, an der sprachlichen Realität vorbeitheoretisiert. Daraus resultieren dann rein theoretische Konstrukte wie das Problem einer „Polysemie-Inflation“. Ohne also vorab zwischen relevantem und nicht-relevantem bzw. zwischen zentral und marginal relevantem Wissen unterscheiden zu müssen, steht einem Sprachbenutzer oder einer Sprachbenutzerin umgekehrt ein schier unerschöpfliches Potential an verstehensrelevanten Daten zur Verfügung. Welche Daten davon tatsächlich in den konkreten Verstehensprozess eingehen, ist eine andere Frage. Für holistische Beschreibungsansätze verschiebt sich das semantische Problem der Polysemie dahingehend, dass sie kontextuelle Restriktionen anzugeben haben, die Kontextualisierungsprozesse leiten. Im Verlauf der Arbeit ist schon mehrmals betont worden, dass es sinnvoll ist, solche Restriktionen, die den kognitiven Aufbau konzeptueller Strukturen betreffen, von jenen zu unterscheiden, die sich auf das konzeptuelle Repräsentationsformat selbst beziehen. Dies entspricht der üblichen Unterscheidung von operationalen und repräsentationalen Aspekten der Sprachverarbeitung:64 (i) Kognitive Operationen: Dabei handelt es sich um fundamentale kognitive Prozesse (wie Mustererkennung, Schematisierung, Kategorisierung, Figur/Grund-Unterscheidung usw.), die an Sprachverstehensprozessen beteiligt sind. Da in holistischer Perspektive das sprachliche Wissenssystem nicht autonom ist, leiten diese Prinzipien nicht-sprachliche kognitive Prozesse gleichermaßen. (ii) Konzeptuelle Strukturen: Diese betreffen den aufgebauten konzeptuellen Gehalt. Konzeptuelle Strukturen existieren einmal als schematisierte Einheiten im Langzeitgedächtnis und einmal als wissensangereicherte semantische Repräsentationen einer sprachlichen Äußerungseinheit im Kurzzeitgedächtnis (also als Repräsentationen dessen, was Ausdrücke in einem kommunikativen Kontext aktual bedeuten).
64
die Bezug genommen wird? Wer könnte den Zettel geschrieben haben? Deutet die Interpunktion auf eine Illokution hin? Und so weiter. Vgl. hierzu die zusammenfassenden Bemerkungen in Fillmore 1984 (S. 125ff.) und Schwarz 1994.
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II. Kognitionstheoretische Voraussetzungen
Innerhalb der holistischen Theoriebildung lässt sich eine gewisse Prädominanz operationaler Aspekte feststellen. Konkret wirkt sich dies dahingehend aus, dass weniger der Versuch im Vordergrund steht, verschiedene Repräsentationsformate („mental spaces“, „idealized cognitive models“, „frames“, „domains“, „schemas“) zu vereinheitlichen, als die Zielvorgabe, diese durch ein einheitliches Set an kognitiven Operationen zu beschreiben (vgl. Croft/Cruse 2004, S. 40-73; Taylor 2002, S. 8-16). Dass dabei eine Reihe von Repräsentationsformaten miteinander konkurriert (oder schlichtweg nebeneinander existiert) sowie das aktuale Zusammenwirken repräsentationaler und prozeduraler Aspekte vernachlässigt wird, sehe ich als Defizit der aktuellen Forschung an (vgl. auch Abschnitt I.2.2). Insgesamt scheint die Ansicht vorzuherrschen, dass unterschiedliche Formate unterschiedliche Phänomenbereiche erklären und Strukturaspekte so lange zu ignorieren sind, wie kognitive Operationen nicht erschöpfend behandelt wurden. 3.2 Sprache als Konzeptualisierung (R. Langacker vs. R. Jackendoff) Es ist zunächst notwendig, die gemeinsamen kognitionstheoretischen Voraussetzungen zu skizzieren. In Abschnitt II. 3 gehe ich dann auf einzelne Punkte ausführlicher ein, die für eine Frame-Semantik im engeren Sinne relevant sind. Im Folgenden sollen nur die wichtigsten Aspekte eines holistischen Beschreibungsansatzes im Vordergrund stehen. Diese ergeben sich am klarsten, wenn man Jackendoffs Konzeption einer Conceptual Semantics mit der holistisch-enzyklopädischen Konzeption der Prägung Langackers kontrastiert. Die wichtigste Gemeinsamkeit der Konzeptionen Jackendoffs und Langackers besteht in der Gleichsetzung von semantischer und konzeptueller Struktur, der wichtigste Unterschied darin, dass Jackendoff (ähnlich wie Bierwisch und Schwarz) syntaktischen Strukturen einen quasi-autonomen Status zuspricht, wohingegen Langacker syntaktische Konstruktionen primär als semantische Funktionen begreift.65 In der holistischen Konzeption stellen also syntaktische Strukturen nicht das Ergebnis eines autonomen – d.h. insbesondere von semantischen Einflüssen unabhängigen – Regelsystems dar, sondern sind Ausdrucksformen für bedeutungsrelevante Konstruktionsprozesse. Grammatische Kategorien und syntaktische Konstruktionen indizieren,
65
Zur Gemeinsamkeit vgl. Jackendoff 1996, S. 96. Den Bezug zur Syntax kennzeichnet er so (1996, S. 93): „It [Jackendoff’s ‘conceptual semantics‘, AZ] is committed to the existence of an autonomous syntax, though one that interacts richly with meaning in a way that is potentially congenial to the findings of cognitive linguistics.“
3. Holismus
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wie ein sprachlicher Ausdruck (bzw. eine sprachliche Ausdruckskette) semantisch zu interpretieren ist.66 Kennzeichnend für Jackendoffs Ansatz ist somit ein semantischer Holismus unter Aufrechterhaltung eines kognitionstheoretischen Modularismus. In Auseinandersetzung mit Langackers Position formuliert Jackendoff seine Prämissen folgendermaßen: I diverge from Chomsky’s practice in not treating syntax as the principle of generative component of grammar, from which phonology and meaning are interpreted. Rather, I treat phonology, syntax, and conceptual structure as parallel generative systems, each with its own properties, the three kept in registration with one another through ‘interface rules’. (Jackendoff 1996, S. 96)
Die Ablehnung einer nicht-konzeptuellen, semantischen Repräsentationsebene ist motiviert durch seine Skepsis gegenüber einer Bedeutungstheorie, die in Anlehnung an Chomsky primär auf syntaxtheoretischen Überlegungen basiert. Jackendoff kritisiert einen solchen „syntactocentrism“ (Jackendoff 1997, S. 15-19) und hält dem ein konzeptuelles Semantikmodell entgegen, das eine direkte Schnittstelle zum syntaktischen Modul aufweist, ohne – wie in der Mehr-Ebenen-Semantik – auf eine Ebene der semantischen Repräsentation (SEM) zurückgreifen zu müssen. Nichtsdestoweniger hält er an dem Prinzip der modularen Organisation des menschlichen Geistes fest. Konkret zeichnet sich in seinem Modell Sprachfähigkeit dadurch aus, dass drei Module, vermittelt über Korrespondenzregeln (Interface-Module), miteinander interagieren und zum Aufbau von Repräsentationen sprachlicher Strukturen beitragen. Dabei handelt es sich um ein phonologisches, ein syntaktisches und ein konzeptuelles System. Was Jackendoff in dem angeführten Zitat als „parallel generative systems“ bezeichnet, nennt er später eine „tripartite parallel architecture“, kurz TPA (Jackendoff 1997). Innerhalb der TPA besitzt nur das konzeptuelle System Schnittstellen zu außersprachlichen Systemen wie der Emotion, dem perzeptuellen und motorischen System. Eine funktionale Autonomie aller Systeme gilt weiterhin.67 Anhand von Abb. 4 kann man sich dies verdeutlichen. Während im holistischen Kognitionsmodell intensive Austauschbeziehungen zwischen Sprache, Perzeption und Motorik angenommen werden, die zusammen am Aufbau konzeptueller Repräsentationen (ganz gleich welcher Art) beteiligt sind,68 gilt 66 67 68
Zur Übersicht vgl. Croft/Cruse 2004, S. 308-326, speziell zur Syntaxtheorie innerhalb der „Construction Grammar“ Goldberg 1995 und der „Radical Construction Grammar“ Croft 2001. Vgl. hierzu Abb. 10.5. in Jackendoff 2002, S. 305. Lakoff und Johnson (Lakoff/Johnson 1980, 1999) haben beispielsweise verdeutlicht, wie sich „image schemata“ (etwa das bereits erwähnte sensomotorisch motivierte Container-Konzept) ontogenetisch herausbilden und dann in Gestalt konzeptueller Metaphern für Sprachverstehensprozesse relevant werden. Weiterhin sprechen einige Studien dafür, dass auch off-line-Kognition (also Kognition ohne direkten perzeptuellen Input wie Tagträumen, Halluzinieren usw.) körperbasiert verläuft, weil diese auf sensomotorische Resourcen zurückgreift. Hier finden gewisserma-
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II. Kognitionstheoretische Voraussetzungen
in der TPA für das konzeptuelle, phonologische und syntaktische System das Prinzip der kognitiven Arbeitsteilung (resp. Autonomie). Da syntaktische Muster und phonologische Einheiten keine konzeptuellen Einheiten sind, spielen hier, laut Jackendoff, kognitive Fähigkeiten wie die der Kategorisierung überhaupt keine Rolle.69 Stattdessen bestimmen eigene Regelsysteme rein formaler Gestalt diese mentalen Module. Zeichen-Token
Sprache = Repertoire symbol. Einheiten
Objekte
Perzeption
Objekte
Motorik
Integration
Konzepte
KOGNITION WELT
Inferenzen
GEIST Kategorisierung
Figur/Grund- konzeptuelle Unterscheidung Verschmelzung
usw.
Restriktion durch kognitive Fähigkeiten
Abb. 4: Das holistische Kognitionsmodell
Aus dem dreigliedrigen Kognitionsmodell leiten sich auch die Charakteristika der Zwischenposition Jackendoffs ab, die weder ganz dem Modularismus noch dem Holismus zuzurechnen ist. Nach der TPA enthält jeder Lexikoneintrag phonologische, syntaktische und konzeptuelle Informationen. Da sprachliche Bedeutungen im konzeptuellen – und nicht in einem autonomen semantischen – System repräsentiert werden, unterscheidet sich hierin Jackendoffs Ansatz wesentlich vom Zwei-Ebenen-Modell (vgl. Wiese 1999) und lässt eher Ähnlichkeiten zur holistischen Position Langackers erkennen.
69
ßen sensomotorische Simulationen von on-line-Kognition statt (Glenberg 1997; Talmy 2000; einen Überblick gibt Wilson 2002). Dagegen haben Taylor (Taylor 2002, S. 243-261; 2003, S. 247-165) und Kumashiro (2000) Evidenzen dafür erbracht, dass auch phonologische Prozesse maßgeblich durch Kategorisierungen geleitet werden. Zur Konzeptualisierung syntaktischer Informationen vgl. Goldberg 1995; Fillmore/Kay/O’Connor 1988.
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Following the gestalt psychologists […] as well as more modern perceptual psychology […], I maintain that a theory of meaning must pertain to the “behavioural reality” of the organism, or more properly, the world as it is constructed by the organism’s mind. (Jackendoff 1996, S. 96)
Wenn Jackendoff sprachliche Bedeutungen mit gestaltförmigen Entitäten gleichsetzt und diese damit in die Nähe von Frames rückt (vgl. auch Jackendoff 1983, S. 23-29, 140-143), fallen zwei Konvergenzen ins Auge. Einmal spielen Kategorisierungen in den angesprochenen Konstruktionsprozessen eine zentrale Rolle. Bedeutungsgestalten ergeben sich aus konzeptuellen Integrationen sprachlicher, perzeptueller (etwa visueller, auditiver) und im LZG abgespeicherter Informationen.70 Weiterhin geht auch Jackendoff davon aus, dass konzeptuelle Repräsentationen, also die Ergebnisse dieser Kategorisierungsprozesse, (a) prinzipiell unscharfe Ränder aufweisen, (b) nach dem Prinzip der Familienähnlichkeit gradiert und (c) durch Standardwerte vorstrukturiert sind. Er teilt damit alle wesentlichen Annahmen der in dieser Arbeit vertretenen Konzepttheorie. In der TPA sind aber sprachliche Bedeutungen nicht im selben Maße in der menschlichen Erfahrung verankert wie in Langackers enzyklopädischer Semantik; sie stellen keine kulturellen Größen im Sinne von Langacker (1994) dar. Ein zentraler Unterschied besteht nämlich darin, dass Jackendoff der Syntax eine relative Autonomie zugesteht, was im Gegensatz zur zeichentheoretischen Prämisse der Kognitiven Linguistik steht, nach der Form und Bedeutung nicht nur auf der lexikalischen Ebene, sondern auch hinsichtlich grammatischer Konstruktionen konventionell miteinander verbunden sind (Langacker 1987, S. 56ff; vgl. Abschnitt VI.1.1 und 1.2). Nach Jackendoff haben folglich visuelle Informationen keinerlei Auswirkungen auf syntaktische Muster. Dagegen geht die Kognitive Linguistik hier ebenfalls von einem (auch ontogenetisch) intrinsischen Verhältnis aus (Lakoff 1987, S. 462-585).71 Dies symbolisieren in Abb. 4 die doppelten Verbindungspfeile zwischen Sprache, Perzeption und Motorik. Einem Verständnis von Sprache als „integral part of human cognition“ (Langacker 1987, S. 12) steht also in der TPA die modularistische Trennung von sprachlichem und nicht-sprachlichem Wissen bezogen auf syntaktische und phonologische Wissensrepräsentationen gegenüber. In dieser Hinsicht entspricht Jackendoffs „Conceptual Semantics“ der Mehr-Ebenen-Semantik von Schwarz und Bierwisch. Anders als diese lehnt Jackendoff allerdings syntaktische Restriktionen der Semantik ab. Weil 70 71
Analog zu prototypentheoretischen Überlegungen der Kognitiven Linguistik entwickelt Jackendoff (1983) eine Theorie so genannter „preference rules“, die – im Sinne der Frame-Theorie – die Aktivierung von semantischen Standardwerten erklären soll. Langacker (1987) argumentiert, dass lexikalische Einheiten, Idiome und syntaktische Konstruktionen analoge Phänomene darstellen, die nur hinsichtlich ihrer Spezifität variieren. Daran anknüpfende Fragestellungen werden in dieser Arbei nur am Rande behandelt.
112
II. Kognitionstheoretische Voraussetzungen
in der TPA semantische Strukturen konzeptuelle Strukturen sind, unterliegen sie allein den Restriktionen kognitiver Fähigkeiten.72 Wie im holistischen Modell entstehen somit semantische Konzepte (hier verstanden als wissensangereicherte semantische Repräsentationen einer Äußerungseinheit) durch inferentielle Prozesse der Konzeptintegration. In Abb. 4 symbolisieren dies einseitige Verbindungspfeile. Vor diesem Hintergrund ist es irreführend, dass Schwarz die Konzeption Jackendoffs insgesamt als „holistisch“ apostrophiert (Schwarz 1992b, S. 51). Es bedarf einiger genauerer Differenzierungen. Auch nach Schwarz ist eine Kognitionstheorie dann holistisch, wenn das kognitive Prinzip der Modularität abgelehnt und das sprachliche Wissenssystem durch allgemeine Kognitionsprinzipien erklärt wird, „die allen mentalen Fähigkeiten gleichermaßen zugrundeliegen“ (Schwarz 1992b, S. 49). Genau das gilt aber für die TPA nicht. Von ihr unterscheidet sich ein holistisches Sprachmodell, wie es Abb. 4 veranschaulicht, in fünf Punkten:73 (i) Sprache, Perzeption und Motorik interferieren und interagieren miteinander. Sie bilden keine autonomen Kenntnissysteme mit eigenen Verarbeitungsprinzipien, sondern sind Teil eines kognitiven Verarbeitungskreislaufes, der nach außen, d.h. zur dinglichen Umwelt, offen ist. Die Kognitive Linguistik hält in diesem Sinne an einem integrativen Modell (einer „experientialist cognition“, vgl. Lakoff 1988) fest, nach dem Sprachverarbeitung wesentlich durch perzeptuelle und sensomotorische Prozesse – etwa in Form von „image schemas“ (Johnson 1987; Lakoff 1987; Hampe 2005) oder „conceptual metaphors“ (Lakoff/Johnson 1980; Lakoff/Turner 1989; Johnson 1999) – mitbestimmt ist. (ii) Geist und Welt gehören nicht unterschiedlichen ontologischen Sphären an, die Grenze zwischen ihnen ist vielmehr durchlässig (Lakoff/Johnson 1999; Sinha 1999, 2004), aber nicht aufhebbar (Wilson 2002). Sowohl Sprache als auch perzeptuelle und motorische Fähigkeiten existieren nur, insofern sie extramentale Korrelate haben.74 Anders als im TPA-Modell 72
73 74
Deane behauptet zwar, dass Jackendoffs Modularitätsannahme zu einer Art Zwei-EbenenModell führe. Er schreibt (1996, S. 38): „[…] Jackendoff essentially splits meaning into two parts: a linguistic portion instantiated in conceptual structure and an extralinguistic portion encoded in the correspondences between conceptual structure and other mental modules.“ Doch sprachliches Wissen restringiert nicht den semantischen Prozess der Konzeptualisierung, sondern vermittelt nur zwischen konzeptuellen Einheiten und den anderen modular organisierten Informationseinheiten. Vgl. kontrastiv hierzu Jackendoffs (2002, S. 305) eigene Modellskizze. In Abb. 4 wird diese Korrelierung von kognitiven und extramentalen Entitäten durch doppelseitige Pfeile gekennzeichnet. Der Grund dafür besteht darin, dass ein einseitiges Wirkverhältnis gewissen Phänomenen nicht gerecht werden würde. Sprache, verstanden als kognitives Repertoire symbolischer Einheiten, verändert sich etwa nur im Sprachgebrauch, also vermittelt über extramentale Einheiten, die aber ihrerseits Resultate kognitiver Prozesse darstellen. Ähnliches gilt für perzeptuelle Konzepteinheiten wie visuelle oder auditive Eindrücke. Sie resultieren zwar aus
3. Holismus
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sind sprachliche Kognitionsprozesse unmittelbar – und nicht vermittelt über Interface-Module – in der menschlichen Erfahrung verankert („embodiment“, „grounding“). (iii) Dementsprechend ist Sprache nicht als Zusammenspiel differenter Kenntnissysteme zu verstehen, sondern als Repertoire symbolischer Einheiten, durch deren Korrelierung Sprachbenutzerinnen und Sprachbenutzer Kommunikate variabel (re-)konstruieren können. Insbesondere hat die Syntax keinen autonomen Status. Auch syntaktische Konstruktionen erfüllen vielmehr symbolische Funktionen; sie sind Ausdrucksformen von Konzeptualisierungsleistungen (Croft 2001; Kay/Fillmore 1999; Langacker 1999b; Goldberg 1995). (iv) Inferentielle Prozesse finden auf allen Ebenen der kognitiven Organisation statt. Sie betreffen sprachliche Konzeptualisierungen nicht weniger als den Aufbau spezifisch sensomotorischer und perzeptueller Konzepteinheiten (Anderson 1983, Minsky 1975). Die Prozessabläufe überlagern sich dabei, so etwa im Fall konzeptueller Metaphern (Lakoff 1987) oder der Konzeptualisierung von Deiktika und Präpositionen (Brugman 1988, Schulze 1991). Im Rahmen der TPA verlaufen dagegen solche Verarbeitungsprozesse separat. (v) In einem modularen Modell schränken schließlich modulspezifische Regelsysteme die konzeptuelle Interpretationsvarianz eines sprachlichen Ausdrucks ein. Weil Jackendoff semantische mit konzeptuellen Strukturen gleichsetzt, betrifft dies insbesondere syntaktische und phonologische Regeln, in Mehr-Ebenen-Semantiken darüber hinaus auch spezifisch semantische Restriktionen, die das Referenzpotential eines sprachlichen Zeichens determinieren (Bierwisch/Schreuder 1992, S. 28). In der holistischen Konzeption fällt indes die Interpretation eines Ausdrucks mit einem Prozess der Konzeptintegration zusammen, den übergreifende kognitive Prinzipien wie Kategorisierung, Schematisierung, Figur/Grund-Unterscheidung usw. steuern (Langacker 1987, S. 116-137; Talmy 1988, S. 165-205). Dies sind grundlegende Eigenschaften eines holistischen Kognitionsmodells. In einem Satz: Sprache ist auf allen Ebenen ihrer Organisation Konzeptualisierung. Welche Konsequenzen sich daraus im Einzelnen für eine framesemantische Konzeption ergeben, deutet sich hier bereits an. Unter holistischen Vorzeichen ist eine Trennung von enzyklopädischen und sprachlichen Wissensrepräsentationen genauso wenig haltbar wie eine Trennung von konzeptuellen und nicht-konzeptuellen kognitiven Prozessen. extramentalen Einheiten, sind aber zugleich auch Produkte spezifischer kognitiver Leistungen. So hängt etwa auch unsere Farbwahrnehmung entscheidend von der Anzahl unserer Farbrezeptoren ab.
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II. Kognitionstheoretische Voraussetzungen
Schon Mitte der 80er Jahre haben Lutzeier (1985) und Busse (1987) Beschreibungsmodelle entwickelt, die auf eine ähnliche enzyklopädische Semantikkonzeption hinauslaufen, wenngleich in beiden Ansätzen weniger kognitions- als kommunikationstheoretische Argumente im Vordergrund standen. In unserem kognitionstheoretischen Zusammenhang hat zu dieser Position v.a. die Erklärungsinadäquatheit semantischer Beschreibungen geführt, wie sie innerhalb eines modularen Ansatzes zu finden sind. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Im Zwei-Ebenen-Modell restringieren eine prädeterminierte Komponenten- und Argumentstruktur das Bedeutungspotential sprachlicher Ausdrücke so sehr, dass weite Teile verstehensrelevanten Wissens unerklärt und unerklärbar bleiben. Das haben die zahlreichen Beispielanalysen gezeigt. Schwarz hat die Problematik einer starken Dekompositionstheorie erkannt, ohne aber in ihrem Drei-Ebenen-Modell den „Synktaktozentrismus“ (Jackendoff) zu korrigieren, der zur semantischen Erklärungsinadäquatheit der Zwei-Ebenen-Semantik geführt hat. Diese Korrektur nimmt Jackendoff vor, indem er semantische Strukturen konsequent als konzeptuelle Strukturen versteht. Wenn diese allerdings prototypisch organisiert sind und eine solche Strukturierung das Ergebnis kognitiver Operationen ist, warum soll dann nicht zunächst die methodologisch näher liegende Variante den Vorzug erhalten, nach der Sprachverstehen nur unter der Bedingung psychologisch realistisch beschrieben werden kann, dass ein und dieselben Prinzipien alle Kognitionsprozesse leiten? Von einem holistischen Kognitionsmodell ist auch Jackendoff weit entfernt. Was bedeutet aber Holismus für eine Frame-Semantik? Interessanterweise hat Schwarz an einer Stelle die Konsequenzen klar umrissen, obgleich sich aus ihrem Drei-Ebenen-Modell diese Folgen in dieser Radikalität keineswegs ableiten lassen:75 Wortbedeutungen können nicht länger mittels Merkmalsmengen, die durch hinreichende und notwendige Merkmale definiert sind, dargestellt werden. Die einzelnen Bedeutungen sind als mentale Prototypen strukturiert. Es sind mentale Repräsentationseinheiten mit obligatorischen und fakultativen Bestandteilen, die durch Standardannahmen (Defaults) mental begrenzt werden, jedoch Optionen zulassen und daher als instanziierbare Variablen fungieren. Die einzelnen Bestandteile weisen (abhängig vom Grad ihrer Typikalität) unterschiedliche Aktivationshöhen (Schwellenwerte für Aktivierbarkeit) auf. Typische Einheiten haben einen niedrigeren Schwellenwert als untypische Einheiten. (Schwarz 1992a, S. 91)
75
Besonders pikant ist, dass sie die Konsequenzen als Annahmen auszeichnet, die „beim gegenwärtigen Stand der Forschung jedem semantischen Lexikonmodell zugrunde liegen [sollten]“ (Schwarz 1992a, S. 91; Hervorhebung von mir, AZ). Dabei vertritt Schwarz selbst eine schwache Dekompositionstheorie, die immerhin davon ausgeht, dass Ausdrücken kontextinvariante Merkmale innewohnen (vgl. die Lexikoneinträge von erschießen und Haus, Schwarz 2000, S. 38). Ferner steht ihr Drei-Ebenen-Modell diametral einem Netzwerkmodell entgegen, sowohl methodisch als auch empirisch.
3. Holismus
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Und sie fährt fort: Das gesamte semantische Kenntnissystem im LZG ist als Netzwerk zu modellieren, in dem die Bedeutungen untereinander durch bestimmte Relationen verbunden sind. Bei der lexikalischen Aktivierung nehmen sie Aktionspotentiale auf und geben sie an andere Bedeutungen weiter. (Schwarz 1992a, S. 91)
In der Tat sind das die zentralen Konsequenzen: Bedeutungen sind allein unter dem Gesichtspunkt der Prototypikalität zu untersuchen, wobei Bedeutungen nicht als Merkmalsmengen (wie in der strukturalistischen Merkmalssemantik oder der Standardversion der Prototypentheorie), sondern als Potential zu begreifen sind. Dieses Potential ist in mentalen Modellen durch Standardannahmen vorstrukturiert und dadurch in der Erfahrungswelt eines Sprachbenutzers oder einer Sprachbenutzerin verankert. Standardannahmen können flexibel aktiviert und durch andere Annahmen ebenso flexibel substituiert werden. Schließlich sind weder die Standardannahmen selbst noch das Modell, in dem sie eingebettet sind, autonome Entitäten, sondern bilden Ausschnitte eines umfassenden semantischen Netzwerkes. Aber: Wie lassen sich diese „semantischen Kenntnissysteme im LZG“ beschreiben? Welche „bestimmten Relationen“ verbinden sprachliche Bedeutungen in einem Netzwerk? Wie lassen sich „Standardannahmen“ bzw. „mentale Prototypen“ ermitteln? Wodurch sind die „Schwellenwerte der Aktivierbarkeit“ determiniert? Inwiefern fungieren Standardannahmen als „instanziierbare Variablen“? Wie ergeben sich sprachliche Bedeutungen durch die Aufnahmen von „Aktionspotentialen“? Wie können Aktionspotentiale „an andere Bedeutungen“ weitergeben werden? Und vor allem: In welchem mentalen Repräsentationsformat geschieht all das? Schwarz gibt keine Antworten auf diese Fragen, vielleicht auch deshalb nicht, weil sie diese innerhalb ihres quasi-modularen Modells so gar nicht stellen kann. Im Folgenden werde ich mich allmählich einigen Antworten auf diese Fragen zu nähern versuchen, indem ich Frames als uniforme Repräsentationsformate in einem holistischen Kognitionsmodell auffasse.
III. Das holistische Paradigma Als wichtigstes Ergebnis des letzten Kapitels bleibt festzuhalten, dass modulare Semantikmodelle nicht nur „reduktionistisch verfahren, d.h. bemüht sind, einen großen Teil des verstehensrelevanten Wissens aus der linguistischen Analyse auszuschließen und fernzuhalten“, wie es Busse (2005, S. 55) formuliert; noch entscheidender aus bedeutungstheoretischer Sicht ist, dass die ihr zugrunde liegenden methodischen Annahmen eine adäquate semantische Beschreibung sogar verhindern. Selbst dann, wenn die unterstellte logischformale Grundstruktur sprachlicher Zeichen nurmehr als bedeutungsfundierender Ausgangspunkt semantischer Beschreibungen gilt (wie es etwa in den Arbeiten von Dölling geschieht) und die Erklärungslast infolgedessen hierarchieniedrigeren Ebenen der semantischen Interpretation überantwortet wird (bei Schwarz z.B. mithilfe von Schemata, bei Dölling zusätzlich mittels abduktiver Inferenzen), kann keine exhaustive Bedeutungsexplikation erfolgen. Zwar suggerieren die etablierten, aber selbst nie reflektierten Metaphern „semantische Ebene“ und „semantischer Kern“, dass sich sprachliches und enzyklopädisches Wissen analytisch trennscharf unterscheiden lassen; sie suggerieren ferner, dass es einen nicht-inferentiellen Bereich bedeutungsrelevanten Wissens gebe, der zur biologischen Grundausstattung des Menschen gehöre, ohne selbst Ergebnis kognitiver Leistungen zu sein.1 In den letzten Kapiteln haben wir aber gesehen, dass die erkenntnisleitenden konzeptuellen Metaphern (durchaus im Sinne von Lakoff/Johnson 1980) der Ebene und des Kerns in vielerlei Hinsicht zur Modellierung des Gegenstandsbereiches unzureichend bleiben. Dies hängt nicht mit der Tatsache zusammen, dass es sich hierbei ‚nur‘ um Metaphern handelt. Metaphern stellen zwar EbenenTheoretikern zufolge kognitive Sekundärphänomene dar; nichtsdestoweniger motivieren sie hier offenkundig Axiome einer Bedeutungstheorie, wie die, 1
Wie weit die Strahlkraft solcher Metaphern in generativ ausgerichteten Ansätzen reicht, hat Langacker (2006, S. 108) jüngst deutlich gemacht: „There was first the conception of language as a distinct mental ‚organ‘ or ‚faculty‘. […] A language was represented as a box labled G, which imposed a partition on the set of possible sentences (strings of discrete symbols), dividing them into two discrete subsets: those which were (categorically) grammatical, and those which were (categorically) ungrammatical. The grammar of a language (G) was thought of as a machine, or assembly line, in which well-formed sentences were constructed step by step and given as ‚output‘. Of course, the objects being constructed took the form of inverted trees, from the bottom branches of which hung discrete lexical items (attached by asserting them into slots). These lexical items were thought of as containers […].“
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III. Das holistische Paradigma
eine scharfe Grenze zwischen Sprach- und Weltwissen zu ziehen und somit linguistisch vermeintlich primäre Daten von sekundären abzuheben. Der entscheidende Grund für das entstandene Erklärungsdefizit liegt vielmehr in dem fundamentalen Umstand begründet, dass semantisches Wissen erfahrungsbasiert, d.h. in konkreten kommunikativen Zusammenhängen und auf der Basis bereits bestehenden Vorwissens erworben und beim Sprachverstehen entsprechend holistisch in Ansatz gebracht wird.2 Alle Facetten bedeutungsrelevanten Wissens, auch die grundlegendsten, sind Emergenzphänomene. Sie resultieren aus dem Sprachgebrauch, und sie perpetuieren oder modifizieren sich durch den Sprachgebrauch. Dies gilt für alle sprachlichen Einheiten auf allen Ebenen der Zeichenorganisation. Aus dieser Einschätzung ergibt sich für ein Semantikmodell eine spezifische Ausgangsvoraussetzung, die unter frame-theoretischen Gesichtspunkten noch genauer zu thematisieren sein wird: die These von der Unmöglichkeit kontextabstrakter Bedeutungsbestimmungen. Wenn es überhaupt sinnvoll ist, von einem „Nullkontext“ (oder „neutralen Kontext“) zu sprechen, dann kann damit allenfalls ein Kontext mit (variablen) Standardbedingungen gemeint sein.3 Was manchmal „wörtliche Bedeutung“ genannt wird, ist somit selbst ein Ensemble von kommunikativ stabilisierten Wissenselementen: „Neutral-context“ interpretations are simply those which are so accessible from our entrenched conceptual structures that their construction requires very little help from a specific context in the outside world. (Sweetser 1999, S. 137)
Bei solchen verfestigten konzeptuellen Strukturen handelt es sich in dem in dieser Arbeit vorgeschlagenen frame-semantischen Modell um kommunikativ stabilisierte Frame-Instanzen, um so genannte „Standardwerte“ („default values“). Wie sich „Standardwerte“ herausbilden, werde ich in Abschnitt VI.5. darzulegen versuchen. Kommunikative Stabilisierung, so wird die Argumentation sein, ist im kognitiven Sinne als Routinisierung individueller Kategorisierungsleistungen zu verstehen.
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„Was gemeinhin als ‚Begrifflichkeit‘ bezeichnet wird, scheint ein Konglomerat an Merkmalszuschreibungen, Abstraktionen, Quer- und Situationsbezügen zu sein, welches Resultat der Kenntnis einer Vielzahl kommunikativer Akte ist, in denen einzelne Sprachzeichen als Auslöser bzw. Bezugspunkt Kristallisationen von (durch Verwendungskontexte konstituierten) Bedeutungsaspekten sein können, nie aber den ‚Gegenstand‘ (oder den ‚Begriff‘) als Einheit seiner Gesamtheit repräsentieren können.“ (Busse 1991b, S. 3). Ein solches Verständnis von „Nullkontext“ unterscheidet sich aber grundsätzlich von einem „Nullkontext“, wie er innerhalb einer semantischen Ebenen-Theorie thematisiert wird. Im ersten Fall bilden nämlich kommunikativ stabilisierte und erworbene Hintergrundannahmen Elemente des Nullkontextes, nicht aber sprachgebrauchvorgängiges ‚Wissen‘. Busse (2007) hat in diesem Zusammenhang auf die Unhintergehbarkeit kognitiver Kontextualisierungsleistungen aufmerksam gemacht, ohne die Bedeutungsverstehen nicht denkbar wäre, vgl. hierzu insbesondere Abschnitt 2.
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Zunächst ist entscheidend, dass es für jede Spielart einer semantischen Frame-Theorie weit reichende Konsequenzen hat, wenn das Ebenen-Modell zum methodischen Ankerpunkt erklärt wird wie etwa in Fraas 1996a. Im Fall von Fraas’ Konzeption müsste etwa das „Kontextualisierungspotential“ (Fraas 1996a, S. 5) sprachlicher Ausdrücke weitaus geringer ausfallen und weitaus stärker vorstrukturiert sein, als ihre empirischen Ergebnisse vermuten lassen. Wie sich gezeigt hat, ist im modularen Modell dieses Kontextualisierungspotential durch die jeweils zugrunde liegende semantische Repräsentation stark eingeschränkt. Letztlich deckt es sich mit dem von Wiese so genannten Fügungs- und Referenzpotential (vgl. Abb. 2 in Abschnitt II.2.2), überschneidet sich hingegen mit dem von Fraas anvisierten „Potential der kommunikativ sinnvollen Kontextualisierungen eines Konzeptes“ (1993, S. 5) nur in schmalen Teilen. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Das, was „kommunikativ sinnvoll“ sein kann, ist nicht im Sprachwissen angelegt, sondern ergibt sich aus dem konstruktiv-integrativen Zusammenspiel von erworbenem Vorwissen einerseits und aktuellem Kontextwissen andererseits.4 Kulturelles Wissen bildet das Fundament von beidem, Lexikon und Grammatik, wie Langacker (1994, S. 33) resümiert. Anschließend an Ergebnisse der neueren kognitiven Linguistik, insbesondere der Konstruktionsgrammatik und der Kognitiven Grammatik, möchte ich in den folgenden Abschnitten einen Beschreibungsansatz skizzieren, dessen Ausgangspunkte der Kreativität sprachlicher Bedeutungskonstruktionen Rechnung tragen. Am Anfang dieser Theorie steht die Infragestellung der Trennbarkeit von Sprachwissen und Weltwissen (Abschnitt III.1.). Sprachverstehen oszilliert nicht zwischen den Polen Sprachwissen und Weltwissen, sondern findet vielmehr in einem holistischen ‚Raum des Verstehens‘ statt (Abschnitt III.2.). In Anlehnung an den terminologischen Vorschlag Busses spreche ich in diesem Zusammenhang von einem Postulat der Verstehensrelevanz. Dies leitet ebenso semantisch-epistemologische wie inferenztheoretische Beschreibungsansätze (Abschnitt III.3.).
1. Sind Sprachwissen und Weltwissen voneinander abgrenzbar? Die hier vorgelegte Frame-Theorie zielt auf eine nicht-reduktionistische Beschreibung sprachlicher Bedeutungen. „Nicht-reduktionistisch“ heißt, dass nicht schon im Vorhinein auf der Basis theoretisch-methodologischer Vorannahmen bedeutungsrelevante Wissensaspekte aus dem semantischen Unter4
Einen Überblick über linguistische Ansätze, die dieses Zusammenspiel thematisieren, gibt Aschenberg (1999, S. 44-177); unbeachtet bleiben hier allerdings Aspekte kognitiv orientierter Kontexttheorien wie etwa Langacker 1997.
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suchungsskopus ausgegrenzt werden, etwa mit der Begründung, hierbei handele es sich um voraussetzbares, nicht-sprachliches Wissen.5 Mit dieser Erweiterung des Gegenstandsbereiches geht eine Neuorientierung semantisch zentraler Fragestellungen einher. Fillmore (1971a, S. 384f.; 1971b, S. 274) hat dies bereits in seinen frühen Aufsätzen dahingehend formuliert, dass nicht mehr danach zu fragen sei, was sprachliche Zeichen bedeuten, sondern welches Wissen nötig ist, um eine sprachliche Form angemessen verwenden bzw. verstehen zu können.6 In seinem Aufsatz Scenes-andframes semantics heißt es einige Jahre später: I think it is misleading to separate a word from its context just for the sake of capturing in one formulation the common features of these two kinds of scenes. It is misleading, that is, if we are trying to capture by the semantic description of a word what it is that a speaker of the language needs to know in order to use the word appropriately. (Fillmore 1977a, S. 68)
In Abgrenzung von reduktionistischen, am Systemparadigma orientierten Ansätzen formuliert Fillmore damit die Ausgangsprämisse einer holistischen Bedeutungstheorie. Dem Postulat der Verstehensrelevanz zufolge rückt ins semantische Blickfeld, „what one knows, as a member of a culture, about the objects, beliefs and practices of that culture” (Fillmore 1971a, S. 383). Anstatt nach strukturellen Eigenschaften von Zeichen als solchen zu fragen, steht der Zeichenbenutzer selbst im Fokus, genauer: sein Wissen, das er im Akt des Verstehens einbringt, und seine spezifischen Fähigkeiten, die er anwendet, um sprachliche Zeichen unter Einbezug kommunikativ relevanter Aspekte der „komplexen Voraussetzungssituation“ (Schmidt 1973, S. 104f.) zu interpretieren. Kurzum: Eine ontologische Perspektive auf Zeichen weicht einer kognitiven Perspektive auf Zeichenbenutzerinnen und Zeichenbenutzer.7 Nicht-reduktionistisch verfährt eine linguistische Bedeutungstheorie, wenn sie alle verstehensrelevanten Bedeutungsaspekte im gleichen Maße in die Analyse einbezieht und zudem deutlich macht, auf welche Weise in Verstehensprozessen die erforderliche konzeptuelle Integration gelingt. Das Pos5
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Die ausführlich dargestellten semantischen Ebenen-Modelle dürfen dabei als moderne Varianten strukturalistischer Reduktionismen gesehen werden. Es ist kein Zufall, dass Grundideen der Merkmalssemantik in generativen Ansätzen fortleben, nur dort in einer umfassenden Sprachtheorie eingebettet sind, die sogar nahe legt, semantische Komponenten mit dem Theorem der genetischen Prädeterminierung in Verbindung zu bringen. Freilich ohne zu sehen, dass er damit eine Position vertritt, für die bereits Ludwig Wittgenstein einstand – etwa mit dem Rekurs auf „Gepflogenheiten“ und „Lebensformen“ als sprachrelevante Bezugsgrößen (Wittgenstein 1989, S. 199, S. 241) – und für die nicht weniger Karl Bühlers Umfelder-Theorie (vgl. Bühler 1934, S. 154f.) zentral ist. Bransford, Barclay und Franks, die als frühe Vertreter einer holistischen Konzeption gelten dürfen, schrieben schon vor weit 35 Jahren: „In a broader sense the constructive approach argues against the tacit assumption that sentences ‚carry‘ meaning. People carry meaning.“ (Bransford/Barclay/Franks 1972, S. 207). Auf die von ihnen entworfene Konzeption einer maximalistischen Inferenztheorie komme ich später noch einmal zurück.
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tulat der Verstehensrelevanz und der Versuch, semantische Reduktionismen zu vermeiden, stellen demzufolge zwei Facetten desselben methodischen Bemühens dar, eine möglichst umfassende Bedeutungsexplikation sprachlicher Einheiten zu erreichen, ohne zugleich Bedeutungen wie atomisierte oder reifizierte Objekte zu behandeln.8 Dieses Bemühen mündet unweigerlich in einer semantischen Epistemologie, weil die Wissensformen, mit denen wir es hierbei zu tun haben, integrale Bestandteile kommunikativer, kultureller Praktiken sind und somit weit über die Grenzen des Sprachwissens im engeren Sinne hinausreichen. Verstehensrelevantes Wissen ist gesellschaftliches Wissen.9 In Kapitel II hat sich gezeigt, dass sich eine zentrale Frage nach den kognitionstheoretischen Grundlagen einer semantischen Epistemologie auf die Strukturierung des kognitiven Systems richtet. Anders als in modularistischen Modellen wird mit der hier vertretenen holistischen Konzeption bestritten, dass es sinnvoll ist, zwischen einer autonomen semantischen Repräsentationsebene und einer konzeptuellen, begrifflichen Repräsentationsebene zu unterscheiden. Obsolet wird damit ebenso eine Trennung von Sprachwissen und Weltwissen. Um eine solche Distinktion zu vermeiden, spreche ich im Folgenden von „verstehensrelevantem Wissen“. Der schon vorweggenommenen These, dass verstehensrelevantes Wissen rein enzyklopädischer Natur und mithin konzeptuell organisiert ist, möchte ich zunächst nachgehen. Sie legt den Grundstein für eine Frame-Theorie im holistischen Paradigma. Als erstes ist wichtig zu sehen, dass zwischen Sprachwissen und Weltwissen nur innerhalb einer Theorie mehr oder weniger sinnvoll unterschieden werden kann. Woraus Sprachwissen besteht, liegt keineswegs auf der Hand, auch dann nicht, wenn darunter – wie dies üblicherweise geschieht – Elemente des phonetischen (resp. graphischen), phonologischen (resp. graphematischen), morphologischen, syntaktischen und spezifisch semantischen Wissens subsumiert werden. Denn ein solches Verständnis von Sprachwissen setzt seinerseits vorgängige Bestimmungen der angesprochenen linguistischen 8 9
Zur Kritik daran vgl. Zlatev 2003 und Abschnitt II.2.3 und II.2.4. Im angelsächsischen Kontext wird Epistemologie (epistemology) meist synonym mit Erkenntnistheorie benutzt. Hier stehen stärker Fragen nach den subjektphilosophischen Bedingungen von Wissenskonstitution im Vordergrund. Sicherlich vertritt jede semantische Theorie – implizit oder explizit – eine erkenntnistheoretische Position (zum Verhältnis von Erkenntnistheorie und Kognitiver Semantik vgl. Geeraerts 1993). Eine semantische Epistemologie im hier gemeinten Sinne zielt indes eher auf historische Formationsbedingungen, etwa auf kognitive Muster, die semantische Intepretationen leiten. Geeraerts (1993, S. 73) hält fest: „Now, while the dynamic flexibility of protoypical categories does indeed demonstrate the interpretative potential of linguistic categories, it also constrains the set of possible interpretations, as these are required to link up with existing concepts. Interpretation does not go wild […] because speaker and hearer share a system of preferential interpretations that also constrains the form deviant readings may take.“ Aus historisch-epistemologischer Sicht kommt es darauf an, dieses geteilte Wissen – beispielsweise in Gestalt von Standardwerten (default values) – analytisch zu bestimmen.
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Teildisziplinen und mithin die Explikation einer ganzen Sprachtheorie voraus. So stellt sich u.a. die Frage, inwiefern beispielsweise syntaktische und morphologische Beschreibungen sinnvoll in Absehung von sprachübergreifenden Faktoren möglich sind. Modulare Ansätze, wie die Zwei- und Drei-EbenenSemantik, und holistische Ansätze, wie die Kognitive Grammatik und die Konstruktionsgrammatik, kommen in diesem Punkt zu völlig entgegengesetzten Einschätzungen. Kriterien, so können wir zunächst festhalten, die zur Bestimmung von Sprach- und Weltwissen herangezogen werden, weisen zurück auf methodologische Prämissen des vertretenen Beschreibungsansatzes (vgl. Dirven/Taylor 1988). Aufgrund dieser Verflechtung mit grundlagentheoretischen Fragen gilt insbesondere die Bestimmung dessen, was zum semantischen Wissen gehört, als „eines der schwierigsten theoretischen (wie – etwa in der Lexikographie oder Sprachlehre – auch praktischen) Probleme der Linguistik“ (Busse 1997a, S. 16).10 Wenngleich viele semantische Beschreibungsansätze auf eine heuristische Trennung von Sprach- und Weltwissen zurückgreifen, kann also die methodische Rechtfertigung für ein solches Vorgehen nur in sprachtheoretischen Vorannahmen gefunden werden.11 Intensiv reflektiert sind diese Annahmen in der Ebenen-Semantik, weil durch sie die Trennung von Ebenen zuallererst legitimiert werden kann (vgl. z.B. Bierwisch/Kiefer 1970; Bierwisch 1979, S. 64ff.; Bierwisch 1983a, S. 62f.; Bierwisch 1986; Bierwisch/Schreuder 1992, S. 30; Lang 1994, S. 26-29). Grundsätzlich gilt: In dem Maße, wie sich die Legitimation der Trennbarkeit von Sprach- und Weltwissen als brüchig erweist, verliert auch die Distinktivität von sprachlich-semantischen und konzeptuell10 11
Vgl. auch Baker 1999, S. 4f. Die kritische Reflexion derselben ist allerdings allzu häufig zu vermissen, in bedeutungstheoretisch orientierten Arbeiten nicht weniger als in textlinguistischen, vgl. exemplarisch Coseriu 1980, S. 41-47; Gansel/Jürgens 2002, S. 102-116; Heinemann/Viehweger 1991, S. 95; Reischer 2002, S. 97. Auch Scherner, der in seiner Arbeit „Sprache als Text“ (Scherner 1984) eine antireduktionistische Position vertritt und – durchaus dem Postulat der Verstehensrelevanz folgend – kognitive Konstruktivität als Grundleistung sprachlichen Verstehens herausarbeitet, muss sich in diesem Zusammenhang fragen lassen, auf welcher sprachtheoretischen Basis seine Unterscheidung von Sprach- und Weltwissen überhaupt sinnvoll ist. In einem 1994 erschienenen Aufsatz schreibt er: „Das ‚sprachliche Wissen‘ ermöglicht dem Rezipienten die Konstruktion einer […] noch nicht gesättigten Lesartenvorstufe, die dann durch die Hinzuziehung weiteren kognitiven Wissens durch den Rezipienten zu einer für ihn sinnvollen Lesart komplettiert wird. Die mit sprachlichem Wissen erzeugte Kohäsion fungiert metaphorisch gesprochen als eine ‚Spur‘, deren Verfolgung und komplettierende Ausdeutung erst der Rezipient für sich in kognitive ‚Kohärenz‘ überführt.“ (Scherner 1994, S. 328) Woraus besteht aber diese „Lesartenvorstufe“? Lässt sie sich empirisch nachweisen? In welchem Zusammenhang steht das postulierte lexikalische System mit dem übergeordneten semantischen System und mithin mit syntaktischen, morphologischen und phonologischen Prozessen? Inwiefern komplettiert – wie von Scherner suggeriert – Weltwissen erst nachträglich den Verstehensprozess? Alle Fragen, die sich auch im Zwei-Ebenen-Modell gestellt haben, wiederholen sich hier. Sie können nur im Rahmen einer Grammatiktheorie beantworten werden.
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enzyklopädischen Strukturen an Plausibilität. Anders als in der Lexikographie entspringt hier die Unterscheidung von Sprach- und Weltwissen nicht einem praktischen Kalkül, sondern einer sprachtheoretischen Programmatik.12 Die Frage muss also lauten: Wenn nicht außerhalb einer Sprachtheorie, welche Gründe mögen dann innerhalb einer Sprachtheorie eine Trennung von Sprach- und Weltwissen rechtfertigen? Um seinen Entwurf einer Kognitiven Grammatik als eine enzyklopädische Konzeption auszuweisen, setzt sich Langacker zunächst mit drei Gründen auseinander, die keiner spezifischen Sprachtheorie entstammen, sondern theorieübergreifend Geltung beanspruchen. Erstens sei damit ein genuin linguistischer Bereich markiert, gekennzeichnet durch „the privileged status of a restricted class of semantic properties” (Langacker 1987, S. 156), seien dies nun nach strukturellen Prinzipien geordnete Lexeme im Lexikon oder semantische Merkmale als Basiskonstituenten sprachlicher Ausdrücke wie im Fall der Zwei-Ebenen-Semantik. Dies führe dazu, dass Bedeutungen als Sekundärphänomene eines unterliegenden autonomen und formalen Systems identifiziert werden können, welches selbst aus einer eindeutig angebbaren Menge von Elementen und Relationen besteht. Der zweite Grund, den Langacker nennt, ist wissenschaftstheoretischer Art: „[H]uman conceptualization is not amenable to empirical inquiry and precise description”. Langacker spielt damit auf den ursprünglichen Beweggrund an, der schon Saussure motivierte, die langue von der parole zu trennen, nämlich das Streben nach einer objektiveren Form der Sprachforschung. Eine solche objektive Form könne im Rahmen einer Bedeutungstheorie, das ist der dritte Punkt, nur die formale Logik gewährleisten. Formale Logik biete „a rigorous account of semantic structure based on truth condition”. Diese Annahme geht freilich noch über die Setzung eines autonomen Sprachsystems hinaus, wird doch der Prozess der Bedeutungsbildung um ein Weiteres reduziert auf einen bestimmten, rein formalen Typ von Schlussprozessen. Langacker hegt Zweifel daran, ob es tatsächlich zur umfassenden Erschließung des Phänomenbereichs der Semantik sinnvoll ist, den Ausgangspunkt bei Sprachwissen anzusetzen. Denn: (i) Es sei völlig unbegründet, Sprache als ein autonomes System zu beschreiben; (ii) Bedeutungen seien genau das, was ihnen abgesprochen wird: Konzeptualisierungen;13 (iii) gewisse Bedeutungsaspekte ließen sich formallogisch nicht erfassen. Im Rahmen seines Programms einer Kognitiven Grammatik plädiert Langacker deshalb für eine „encyclopedic conception of linguistic semantics” (Langacker 1987, S. 12
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Unter lexikographischen Gesichtspunkten stellt sich die Frage nach der Abgrenzung von Sprachwissen vor allen Dingen als Frage nach der praktischen Realisierbarkeit der Erstellung von Wörterbüchern, vgl. Wiegand 1988; Bergenholtz/Kaufmann 1996. Mit der Nutzung neuer Medien eröffnet sich indes auch hier die Möglichkeit nicht-reduktionistischer Bedeutungsbeschreibungen, vgl. Atkins/Fillmore/Johnson 2003; Fillmore/Atkins 1994; Konerding 1993. Vgl. hierzu auch Langacker 1988b.
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156). Er folgt hiermit dem Postulat der Verstehensrelevanz, indem er eine doppelte These vertritt: hinsichtlich repräsentationaler Aspekte die, dass eine exhaustive Beschreibung verstehensrelevanten Wissens allein im Rückgriff auf eine umfassende Explikation menschlicher Kognition – zumindest annäherungsweise – gelingen mag, und hinsichtlich prozeduraler Aspekte die, dass der Objektbereich nur im engen Zusammenhang mit solchen kognitiven Prozessen adäquat beschrieben werden kann, die sich gleichermaßen auch bei außersprachlichen kognitiven Verarbeitungsprozessen wiederfinden lassen. Ich meine, dass uns Langacker an dieser Stelle in allen drei Punkten einige Argumente schuldig bleibt. Ad (i): Was genau spricht aus semantischer Sicht dagegen, ein komplementäres Verhältnis von Sprach- und Weltwissen anzunehmen? Warum kann eine modulare Semantikkonzeption sprachliche Bedeutungen nicht umfassend erschließen? Ad (ii): Inwiefern sind Bedeutungen allein das Ergebnis von Konzeptualisierungen? Und warum spricht dies prinzipiell gegen eine Trennung von Sprach- und Weltwissen? Ad (iii): Warum sollten nicht Wissenselemente, die sich der formallogischen Erfassbarkeit entziehen, das Verstehen eines sprachlichen Ausdrucks semantisch ‚komplettieren‘ oder ‚anreichern‘? Lässt sich also wirklich aus dem Umstand, dass formallogische Beschreibungen keine vollständigen Bedeutungsexplikationen liefern, ableiten, dass solche Beschreibungen unbrauchbar sind? Dass sich bestimmte Bedeutungsaspekte formallogisch nicht erfassen lassen, spricht m.E. zunächst weder für noch gegen eine enzyklopädische Semantik. Vertreterinnen und Vertreter einer formalen Semantik könnten stattdessen immer für eine Erweiterung und Ergänzung ihrer Position plädieren, ohne freilich die Prämissen einer enzyklopädischen Semantik, etwa der Prägung Langackers, teilen zu müssen. Vor dem Hintergrund der Ergebnisse aus Kapitel II kann man dem ersten und dritten Punkt schnell begegnen. Für die Zwei-Ebenen-Semantik zeigte sich, dass die vom sprachlichen System bereitgestellten Restriktionen so stark sind, dass die Erfassung einer Vielzahl verstehensrelevanter Wissensaspekte verhindert wird. Eine umfassende Bedeutungserschließung erwies sich deswegen aus methodologischen Gründen als unmöglich. Die dadurch zwangsläufig entstehende empirische Erklärungsinadäquatheit von EbenenModellen ist tatsächlich ein triftiges Argument dafür, die kategoriale Trennung von Sprach- und Weltwissen aufzuheben. Der zweite Punkt provoziert hingegen eine Reihe neuer Fragen, etwa nach den konzeptuellen Prozessen, die an der Bedeutungserschließung beteiligt sind, und den Wissensstrukturen, auf die dabei zurückgegriffen wird. Antworten darauf dürften nur im Rahmen einer umfassenden Bedeutungstheorie zu finden sein. Abweichend von Langackers Vorgehen sollen im Folgenden Argumente ins Feld geführt werden, die weniger pauschal sind, dennoch aber konkrete – und, wie ich zu zeigen versuche, problematische – Voraussetzungen zur Un-
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terscheidung von Sprach- und Weltwissen betreffen. John Haiman (1980) hat in einem inzwischen sehr einflussreich gewordenen Beitrag, auf den sich auch Langacker beruft, jene Argumente gesammelt und systematisiert, die in der Literatur angeführt werden, um eine Unterscheidung von Weltwissen und Sprachwissen zu rechtfertigen. Er fasst sie in sechs Distinktionen zusammen: (i) Essenz vs. Akzidenz (ii) analytische vs. synthetische Urteile (iii) linguistisches vs. kulturelles Wissen (iv) Semantik vs. Pragmatik (v) subjektive vs. objektive Fakten (vi) Eigennamen vs. Gattungsbezeichnungen. Haiman geht auf jede Unterscheidung (die mit ganz unterschiedlichen Interessen und in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen gemacht wurden) ausführlich ein, und er kommt am Ende zu dem Schluss, dass keine aufrechtzuerhalten ist. An dieser Stelle sollen nicht die einzelnen Argumente referiert werden, die Haiman letztlich zu dem Urteil bewegen, eine Trennung von Sprach- und Weltwissen sei nicht nur praktisch unmöglich durchzuführen, sondern ebenso methodologisch irreführend (Haiman 1980, S. 331). Stattdessen möchte ich auf ausgewählte Aspekte zu sprechen kommen, die den Versuch innerhalb einer Zwei-Ebenen-Semantik betreffen, Sprache als eine autonome kognitive Domäne zu veranschlagen.14 Weil dieser Versuch scheitert, sind die kognitionstheoretischen Grundlagen der Frame-Theorie in einer enzyklopädischen (oder konzeptualistischen) Semantik zu suchen. Ein solcher Ansatz ist zunächst von Lakoff (1987) und Johnson (1987) vertreten worden, wenngleich Fillmore (etwa 1984, 1985) und Langacker (etwa 1988b) zu ähnlichen Schlussfolgerungen gekommen sind. Eine enzyklopädische Semantik richtet sich direkt gegen zentrale Grundannahmen der generativen Grammatik.15 Die ersten vier der von Haiman angeführten (und oben aufgezählten) Dichotomien finden sich in der Ebenen-Semantik wieder. Diese werden im Folgenden der Reihe nach diskutiert. 1.1 Essenz vs. Akzidenz? Ein mögliches Argument für die Trennung von Sprach- und Weltwissen verbirgt sich hinter den von Bierwisch eingeführten Metaphern des „Bedeu14 15
Zur Diskussion anderer Versuche, Sprach- und Weltwissen voneinander zu trennen, vgl. neben Haiman 1980 auch Dirven/Taylor 1988 und die Überblicke in Scherner 1975 und Peeters 2000. Etwa gegen die Idee der kognitiven Modularität, der Grammatik als generatives System und der Möglichkeit einer maximalen Formalisierbarkeit sprachlicher Ausdrücke. Vgl. hierzu die Diskussion in Langacker 1988c.
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tungskerns“ und der „Bedeutungsperipherie“. Die Redeweise vom „Kern“ und von der „Peripherie“ findet sich erstmals in einem frühen Aufsatz von Bierwisch und Kiefer (1970). Bierwisch greift in späteren Beiträgen auf diese Unterscheidung zurück, und auch Schwarz (2000, S. 38) benutzt das Konzept der „Kernbedeutungen“, um die erste Ebene ihres Drei-Ebenen-Modells zu veranschaulichen. Inwiefern diese Metaphern in unserem Zusammenhang relevant sind, wird an einer Stelle in Bierwisch/Kiefer 1970 besonders deutlich: The core of a lexical reading comprises all and only those semantic specifications that determine, roughly speaking, its place in the system of dictionary entries, i.e. delimit it from other (non-synonymous) entries. The periphery consists of those semantic specifications that contribute to the meaning of a lexical entry without distinguishing it from other dictionary entries, i.e. of specifications which could be removed from the reading without changing its relation to other lexical readings within the same grammar. (Bierwisch/Kiefer 1970, S. 70)
Zwei Seiten später erläutern sie dies folgendermaßen: It seems reasonable to propose now that the distinction between C (E) [the semantic core C of a lexical item, AZ] and P (E) [the semantic periphery P of a lexical item, AZ] corresponds essentially to that between linguistic an encyclopaedic knowledge. In other words, the periphery of an entry E of the language L contains what might be called non-linguistic knowledge about the objects, facts, or properties of the speaker of L, conceptualized by the reading of E in the dictionary of L. The core of E, on the other hand, contains the linguistic knowledge associated with E in the sense that the core includes all and only those specifications that specify the delimitation of E within the dictionary of L.
Was zum „Bedeutungskern“ eines Ausdrucks gehört, ist also Teil des Sprachwissens, was zu seiner „Bedeutungsperipherie“ zu zählen ist, hat dagegen den Status von Weltwissen. Ist ein und derselbe sprachliche Ausdruck durch verschiedene semantische „Kerne“ spezifiziert, kommt ihm hiernach ein anderer Wert im sprachlichen System zu, und zwar völlig unabhängig davon, durch welche Elemente des Weltwissens er bestimmt ist. Bei polysemen Ausdrücken verhält es sich Bierwisch und Kiefer zufolge folgendermaßen:16 Polyseme Ausdrücke unterscheiden sich lediglich hinsichtlich ihrer „semantischen Peripherie“, der „semantische Kern“ ist indes identisch. Die entscheidende Frage ist nun: Wie wird im Einzelfall festgelegt, wo die Grenze zwischen Kern und Peripherie, zwischen Sprach- und Weltwissen verläuft? Bierwisch und Kiefer erkennen zwar, dass es einen gewissen Austausch geben mag zwischen Elementen, die dem Kern und der Peripherie zugehören, dass also die Grenze zwischen beiden nicht ein für alle Mal gezogen werden kann. So führen sie als Beispiel das Wort Löffel an, das einerseits über die semantischen Kernkomponenten „physisches Objekt“, „Artefakt“, 16
Vgl. hierzu etwa die in Abschnitt II.2.3 diskutierten Beispiele wie Schule.
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„gebraucht, um flüssige Nahrung zu essen“, und andererseits über periphere Elemente des Weltwissens wie „bestehend aus festem Material“, „von einer bestimmten Größe sein“ und „nicht in asiatischen Kulturen gebraucht“ verfüge (Bierwisch/Kiefer 1970, S. 70). Kann ein „peripheres“ Wissenselement durchaus zu einem „kernsemantischen“ werden, müssen Bierwisch und Kiefer dennoch an der prinzipiellen Distinguierbarkeit von „Kern“ und „Peripherie“ festhalten, wenn nicht die Unterschiede zwischen denselben eingeebnet werden sollen. Diese Grenzziehung muss objektiver und recht stabiler Natur sein. Sollte sich nämlich herausstellen, dass der „semantische Kern“ von Sprachbenutzer zu Sprachbenutzer und von Kontext zu Kontext variiert, wäre die Distinktivität von „Kern“ und „Peripherie“ gefährdet und letztlich hinfällig. Genau diese nötige semantische Invarianz ist aber nicht gewährleistet. Weder lassen sich im Einzelfall Spezifikationen „kernsemantischer“ von „peripheriesemantischer“ Art eindeutig voneinander unterscheiden noch mag sich eine vollzogene Trennung beider als objektiv, d.h. intersubjektiv gültig erweisen. Wenn nämlich, wie Haiman (1980, S. 340) erläutert, sich der „Kern“ durch nur essentielle und die „Peripherie“ durch nur akzidentielle semantische Spezifikationen auszeichnet – worauf die Bestimmungen Bierwischs und Kiefers hinauslaufen –,17 dann ist damit Tür und Tor für subjektive, also eben nicht-allgemeingültige semantische Zuschreibungen geöffnet: This distinction [between essence and accidence, AZ] is vitiated by the fact that what we consider essential to a category seems to vary from person to person, and even more from culture to culture. (Haiman 1980, S. 340)
Was sind essentielle semantische Spezifikationen des Ausdrucks Löffel? Der Grad der Rundung eines Löffels am vorderen Ende? Die Länge des Löffelgriffes? Der Umstand, dass sich ein Löffel bestens dazu eignet, gekochte Eier aus kochendem Wasser zu nehmen (weil ich ihn etwa nur in dieser Funktion kennen gelernt habe)? Oder die Tatsache, dass sich am Kopfende ein eingraviertes Bildnis von Maria Theresia befindet (weil ich zeitlebens mit einem solchen Löffel Eier aus kochendem Wasser genommen habe und davon ausgehe, dass dies jeder getan hat)? Was semantisch „essentielle“ Bestimmungen sind und was nicht, hängt offensichtlich entschieden von rekurrenten Erfahrungen ab, und nur auf der Basis dieser mag sich dann die eine oder andere semantische Spezifikation als mehr oder weniger plausibel erweisen. In diesem Sinne kann der Status eines jeden „semantischen Kernelements“ angezweifelt werden, sei es, weil historisch-kulturelle Veränderungen dazu Anlass geben, sei es, weil ein Sprachbenutzer oder eine Sprachbenutzerin dieses 17
Hierin zeigt sich der strukturalistische Einfluss auf die komponentensemantische Bedeutungstheorie Bierwischs. Bierwisch und Kiefer (1970) postulieren ihre Unterscheidung von „Kern“ und „Peripherie“ analog zur merkmalssemantischen Konzeption auf der Basis von essentiellen vs. akzidentiellen, von gegebenen vs. nicht-gegebenen semantischen Spezifikationen.
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Element als nur akzidentiell einstuft oder weil schlichtweg der gegebene Kontext dies erfordert. Das gilt auch für scheinbar einfachere und eindeutigere Beispiele. Definieren wir, wie Haiman kritisch mit Bezug auf Aristoteles anführt, Mensch als essentiell rational und akzidentiell zweibeinig, so müsste nicht-rationalen Menschen das Menschsein abgesprochen werden. Haiman fügt ironisch hinzu, dass er bislang keinen Kulturkreis kenne, in dem etwa geniale Geistesschwache aufgrund ihrer Irrationalität wie Tiere behandelt oder gar geschlachtet und gegessen werden würden. Die Dichotomie semantischer „Kern“ vs. semantische „Peripherie“ und die damit verbundene Gegenüberstellung von essentiellen und akzidentiellen semantischen Spezifikationen sind also unbrauchbar, um eine kategoriale Trennung von Sprach- und Weltwissen zu begründen. Tatsächlich handelt es sich hierbei um ein Gradphänomen,18 das zu zwei weiteren Begründungsmöglichkeiten überleitet: zu der Dichotomie zwischen synthetischen und analytischen Urteilen und der zwischen kulturellem und sprachlichem Wissen. Beide werden im Zwei-Ebenen-Modell ebenso zur Begründung der Autonomie von Sprachwissen herangezogen. 1.2 Synthetische vs. analytische Urteile? In Bierwisch/Kiefer 1970 erwähnen die Autoren den Bezug von „kernsemantischen“ Spezifikationen zu analytischen Urteilen und von „periphersemantischen“ Spezifikationen zu synthetischen Urteilen nur en passant. Dort heißt es lakonisch (S. 72): „We are touching here on the much disputed problem of a priori, analytic, synthetic, and empirical truth.” Dass es sich dabei durchaus um einen ernst zu nehmenden Begründungsversuch der Autonomie von Sprachwissen handelt, belegen spätere Verweise. So charakterisiert Bierwisch in einem 1983 publizierten Aufsatz semantische Repräsentationen – also semantische „Kerne“ in der alten Terminologie – als „Voraussetzungen, die Bedingungen über mögliche Kontexte festlegen“ (Bierwisch 1983a, S. 98). Drei Jahre später – die Terminologie hat sich inzwischen abermals geändert, die Rede ist nun von „semantischen Formen“, bestehend aus „fixed“ und „created primes“ – schreibt Bierwisch (1986, S. 780): „Let me call the two 18
Zu diesem Schluss kommt auch Cruse (1988, S. 79): „It seems undeniable that some aspects of lexical knowledge belong more intimately to the words themselves, while other aspects belong to words in a less direct fashion, being more intimately related to the things that the words refer to (or to our conception of these things). Some facts concerning word-meaning can be ascertained by observing things in the world; for instance that dogs bark, whereas cats do not […]. But there are some aspects of lexical knowledge that can only be studied by making some sort of observation on words: the information is not be found in the referents, nor in the concepts which mediate our dealings with referents.“ Dazu gehört etwa Wortartenwissen, jedoch kein Wissen um Grundbedeutungen im Sinne von Bierwischs Rede vom semantischen „Kern“.
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types fixed and created (or a priori and a posteriori) primes of SF [semantic forms, AZ].“ Und er ergänzt: „Fixed primes are part of the universal repertoire available to the language learner as his or her initial equipment on the basis of which linguistic knowledge can be acquired.“ Zunächst ist der Rückbezug auf Immanuel Kants transzendentalphilosophische Termini inhaltlich höchst fraglich. Zum einen hatte Kant mit seiner Lehre von den Möglichkeitsbedingungen der menschlichen Erkenntnis ‚nur‘ im Sinn, formale und keine materialen Bedingungen anzugeben. „Fixed primes“, Bierwisch nennt als Beispiele „DO“, „CAUSE“, „BECOME“, „KNOW“, sind aber offensichtlich inhaltssemantisch spezifiziert, so dass ihre semantische Restriktionskraft weit über formal-kategoriale Festlegungen hinausreichen.19 Zum anderen lag es Kant fern, Möglichkeitsbedingungen als angeboren, also letztlich biologisch verankert zu verstehen. Vielmehr sind sie Voraussetzungen, die sich allein aus erkenntnistheoretischen Reflexionen ergeben. Diese zu reifizieren, wäre ein nativistischer Fehlschluss. Genau dazu kommt es, wenn Bierwisch „fixed primes“ der angeborenen biologischen Grundausstattung zurechnet und argumentiert, sie könnten deshalb nicht erlernt sein. Abgesehen von diesen methodologischen Unstimmigkeiten stellt aber vor allem die Unterscheidung analytisch vs. synthetisch nicht das nötige Mittel bereit, um sprachliches Wissen von enzyklopädischem abzugrenzen. Der Grund dafür geht auf Quines fundamentale Kritik am philosophischen Konzept der Analytizität zurück (Quine 1979). Kant behauptete, dass analytische Urteile im Gegensatz zu synthetischen nicht erkenntniserweiternd seien. Nachzuweisen ist dies nach Quine aber nur über den Umweg der Synonymie. Wenn sich also ein analytisches Urteil (im Gegensatz zum synthetischen Urteil) dadurch auszeichnet, dass das Prädikat bereits im Subjekt enthalten ist, läuft dies auf die Frage hinaus, inwiefern Subjekt und Prädikat synonym sind. Quine (1979, S. 25, 29) illustriert das u.a. am Beispiel des Ausdrucks Junggeselle. (1)
Junggesellen sind unverheiratete Männer.
Wann sind die Ausdrücke Junggesellen und unverheiratete Männer synonym? Quines Antwort lautet: Wenn beide gleich definiert sind. Doch an dieser Stelle ergibt sich das Problem, dass eine Definition, die die Bedeutungsgleichheit von Definiens und Definiendum zu zeigen sucht, bereits vorgängige Synonymien enthalten muss, die ihrerseits vorausgesetzt und mithin unhinterfragt bleiben. Ansonsten bliebe unklar, wie denn das Definiens dem Defi19
Die Großbuchstaben sollen andeuten, dass es sich hierbei nicht um normalsprachliche Ausdrücke, sondern um semantische Komponenten handelt. TUN, VERURSACHEN, WERDEN, WISSEN sind nach Bierwisch Beispiele dafür.
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niendum entsprechen kann. Dieses Dilemma ändert sich auch dann nicht grundsätzlich, wenn man davon ausgeht, dass erst durch den Kontext die Bedeutung hervortritt. Denn auch hier kommt es zum Synonymieproblem, nur diesmal bezüglich des Kontextes. Zwar ist die Voraussetzung nicht mehr, dass das Definiens mit dem Definiendum in seinem vorgängigen Gebrauch synonym ist; jedoch muss nun der gesamte Kontext bedeutungsgleich sein, in dem beide benutzt werden. Folglich gibt es auch hier immer vorgängige, unexplizierte Synonymiebeziehungen. Mit der Klärung der einen Synonymie werden neue Synonymien vorausgesetzt, die der Erklärung bedürfen. Man endet infolgedessen in einem unendlichen Regress. Das Problem der Explikation von Analytizität ist nach Quine schließlich auch dann nicht gelöst, wenn angenommen wird, dass die Synonymie zweier Ausdrücke darin besteht, dass sie bei gleich bleibender Bedeutung der Aussage austauschbar sind. Das heißt in unserem Fall: Unverheiratete Männer und Junggesellen sind zwei Ausdrücke, die in allen Kontexten beliebig ausgetauscht werden können, ohne dass sich ihre Bedeutung verändert. Analytizität kann damit deshalb nicht erklärt werden, weil hier bereits ein Verständnis von ihr vorausgesetzt wird. Wie soll es sonst möglich sein zu beurteilen, ob beide Ausdrücke unter Einhaltung der (Satz-) Semantik austauschbar sind? Die Erklärung ist zirkulär. Analytische und synthetische Urteile, so lautet die unvermeidliche Schlussfolgerung Quines, lassen sich nicht voneinander abgrenzen: „Daß eine solche Abgrenzung überhaupt vollzogen werden sollte, ist ein unempirisches Dogma der Empiristen, ein metaphysischer Glaubensartikel.“ (Quine 1979, S. 42) Ein Glaubensartikel, der auch nicht dazu taugt, die Abgrenzung von Sprach- und Weltwissen zu legitimieren. 1.3 Kulturelles vs. sprachliches Wissen? Im Zusammenhang mit semantischen Spezifikationen „essentieller“ und „akzidentieller“ Art, also der ersten Dichotomie, hat es sich als unmöglich erwiesen, zwischen Sprach- und Weltwissen trennscharf zu unterscheiden. Mit Bierwischs Annahme von „fixed primes“, also von angeborenen semantischen Konstanten, scheint sich nun doch eine Möglichkeit zu eröffnen, diese Trennlinie zu ziehen. Haiman (1980, S. 331-336) subsumiert einen solchen Begründungsversuch unter die Dichotomie kulturelles vs. sprachliches Wissen. Die Unterscheidung von „created primes“ und „fixed primes“ ist schon aus Abschnitt II.2.3 bekannt. Bierwisch (1986, S. 780f.) hatte sie eigens eingeführt, um den Status semantischer Spezifikationen genauer auszuzeichnen. Das Kriterium, mit dem also nun entschieden werden könnte, ob semantische Spezifikationen zum kulturellen oder zum sprachlichen Wissen gehören, liegt
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in ihrem Status begründet. Dabei handelt es sich um einen Standpunkt, der für die generative Grammatik von Anfang an von zentraler Bedeutung war. Um das Erlernbarkeitsparadoxon lösen zu können, so argumentierte Chomsky, müsse eine Universalgrammatik, eine angeborene Fähigkeit existieren, Sprache zu lernen. Bierwisch formuliert diesen Standpunkt nun für die Semantik.20 Ohne auf die Diskussion im Detail eingehen zu wollen, bleibt festzuhalten, dass die Forschung im Bereich des Erstsprachenerwerbs in letzter Zeit zunehmend empirische Evidenz dafür gefunden hat, dass sprachliche Strukturen allein auf der Basis des sprachlichen Inputs induktiv gelernt werden können (Tomasello 2003). Das Erlernbarkeitsparadoxon erweist sich somit als Schimäre. Unabhängig davon stellt sich aber hinsichtlich des Ansatzes von Bierwisch die Frage, woher denn die durch semantische Primitiva gegebenen Informationen stammen sollen, wenn nicht aus der Erfahrung. Ich komme an dieser Stelle zurück auf die bereits angeführten Argumente in Abschnitt II.2.3. Sie sollen an dieser Stelle noch einmal aufgegriffen, nicht aber weiter vertieft werden. Inwiefern kann etwa „CAUS“ (Bierwisch 1986, S. 780), also Wissen um Kausalität, eine primitive, angeborene semantische Komponente sein? Mit Verweis auf Talmy (2000, S. 471-548) hatte ich bereits herausgestellt, wie komplex und durchaus heterogen Konzepte der Kausalität sind. Hinzu kommt: Welche Entitäten auf welche Weise in der Welt miteinander kausal verknüpft sind, ergibt sich zweifelsohne erst aus individuellen Erfahrungsund Lernprozessen. (Dies müssen wir leidvoll erfahren, etwa dann, wenn wir eine heiße Herdplatte anfassen.) Was soll „KNOW“ – eine weitere von Bierwisch als „fixed prime“ geadelte semantische Komponente – ‚bedeuten‘, ohne auf ein Vorverständnis von differenten Wissensmodi Bezug zu nehmen?21 Was soll „BECOME“ (von Bierwisch im Sinne von werden gebraucht) ‚bedeuten‘, ohne auf sinnlich wahrnehmbare Phänomene zu rekurrieren? Kenntnisse über Veränderungsprozesse der unterschiedlichsten Art gehen darauf zurück, dass wir unseren Körper als Erfahrungsmittelpunkt wahrnehmen und ihn in Relation zu ‚Nicht-Ichen‘ unserer empirischen Umwelt setzen. Angeboren, d.h. erfahrungvorgängig ist „BECOME“ also nicht. Um die Problematik an einem weiteren Beispiel zu verdeutlichen: Verstehen kann man das Verb unterrichten nicht, weil ein Prozess der lexikalischen Dekomposition stattfindet, der es in die Elemente „DO“, „CAUS“, „BECOME“, „KNOW“ zerlegt (vgl. Bierwisch 1986, S. 769), sondern weil erfahrungsgestützte Klassifikationsschemata aktiviert werden. Was unterrichten bedeutet, erschließt sich durch vielfache Kategorisierungsprozesse des Typs „x 20 21
Einen alternativen Versuch, sprachliche Primitiva als angeboren auszuzeichnen, legt Wierzbicka vor (erstmals in Wierzbicka 1972). Haiman (1980, S. 336) kommentiert ihren Ansatz mit den Worten: „Without experience, there is no thought, and certainly no language.“ Zur Differenzierung von Wissensmodi vgl. Busse 1991a, S. 187.
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gehört zur Kategorie y“ und „x ist eine Art y“ (Fillmore 1984, S. 141). Dass jemand etwas tut („DO“), gehört beispielsweise zur Kategorie „menschliche Handlung“. Dass eine Handlung dann etwas bewirkt („CAUS“), weiß ich, weil ich sie in Beziehung zu meinen alltäglichen, konkreten Erfahrungen setzen kann; sie ist sozusagen von der Art des Erfahrungstyps y.22 So weiß ich auch, dass Wissen erworben wird, dass ich nicht immer wissend war, dass ich täglich lerne, dass viele Handlungen meiner Eltern dazu dienten, mir das beizubringen, was sie schon beherrschten oder wussten, und so weiter. An diesen Schlussprozessen ist eine Fülle von Kategorisierungen beteiligt. Folgt man Bierwisch und nimmt an, dass „BECOME“ für das Verstehen von unterrichten relevant ist, kann damit nur ein sehr abstraktes Konzept gemeint sein, nämlich „Lehren“, verstanden als Übergang vom Zustand des Nicht-Wissens zum Zustand des Wissens. Wie sollte also „BECOME“ meinen Erfahrungen vorausgehen? Abzustreiten ist nicht, dass die von Bierwisch genannten Komponenten in irgendeiner Form verstehensrelevant sind. Abzustreiten ist vielmehr, dass sie erfahrungsunabhängig sind, den Status semantischer Primitiva haben und in keinem intrinsischen Zusammenhang mit der Lebenspraxis stehen. Den Ausgangspunkt des Gegenmodells formuliert Fillmore so: Whenever we use a word that has a classificatory function, we interpret its use by being aware of the classificatory schema within which it has a role. (Fillmore 1984, S. 142)
Dieser Interpretationsprozess findet vor dem Hintergrund (oder im ‚Raum‘, vgl. Abschnitt III.2) unserer Erfahrungen statt. Nötig ist dazu nicht eine Menge von „fixed“ und „created primes“. Diese kritisiert Fillmore (1975) zu Recht auch als semantische „Checkliste“. Für eine solche müssten Bedingungen angegeben werden, wann eine Komponente Teil einer Bedeutung ist, wann sie zum „Bedeutungskern“ oder zur „Bedeutungsperipherie“ gehört, wann sie einem Begriff analytisch oder synthetisch zukommt oder wann sie Teil unser biologischen Ausstattung oder kulturell kontingent ist. Um eine unendlich lange „Checkliste“ zu vermeiden (durch die Bedeutungsverstehen gerade nicht erklärt werden könnte), müssten ferner Kriterien zur exklusiven und exhaustiven Komponentenermittlung angegeben werden. Bei alldem dürfte außerdem kein Rückgriff auf enzyklopädisches Wissen stattfinden. Wie wir gerade gesehen haben, gelingt dieses Unterfangen auch nicht mit dem Versuch, Sprachwissen als Teil der biologischen Grundausstattung zu begründen.
22
Hieraus resultiert auch die Fähigkeit, zwischen perlokutionären Verben, wie jdn. überzeugen, und illokutionären Verben, wie jdn. schlagen, zu unterscheiden.
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1.4 Semantik vs. Pragmatik? Schließlich bleibt eine letzte Möglichkeit zur Verdeutlichung, inwiefern sprachliches Wissen eine – zumindest relative – Autonomie genießt. Diese gründet in der Idee, Semantik und Pragmatik einander nicht nur, wie das üblicherweise geschieht, forschungspraktisch, d.h. heuristisch, sondern systematisch gegenüberzustellen. In wichtigen Punkten greift dieser Begründungsversuch zwar auf Aspekte zurück, die sich schon in den letzten Abschnitten als problematisch herausgestellt haben. Das betrifft vor allem die Annahme eines starken Kompositionalitätsprinzips, also die auf Frege zurückgehende Hypothese, dass die Bedeutung eines komplexen Ausdrucks durch die Bedeutung seiner Teile sowie die Art und Weise der Zusammensetzung determiniert ist. Dennoch haben wir es bei der Entgegensetzung von Semantik und Pragmatik mit einem recht eigenständigen Begründungsversuch zu tun, weil dieser, anders als die anderen, die Autonomie der Semantik nicht aus sich selbst heraus zu legitimieren versucht, sondern zu diesem Zweck auf die Unabhängigkeit von anderen, nämlich pragmatischen Faktoren rekurriert. Inwiefern sich ein solcher Standpunkt tatsächlich aufrechterhalten lässt, wird noch zu diskutieren sein. Sprachliche Bedeutungen ‚entstehen‘ nach Bierwisch (und mithin allen Vertreterinnen und Vertretern einer Mehr-Ebenen-Semantik) nicht im Rahmen der kommunikativen Praxis; sie sind vielmehr das Ergebnis kommunikationsvorgängiger, autonomer Regelprozesse: Und in diesem Sinne ist meine These die, daß die sprachliche Bedeutung als ein eigenes Determinationsgefüge in das sprachliche Handeln eingeht und nicht durch Aufgabe einer Abstrakion auf dieses reduziert werden kann. (Bierwisch 1979, S. 64)
Der dann jeweils im Vollzug einer Sprachhandlung konstituierte kommunikative Sinn einer solchen „sprachlichen Bedeutung“ unterliegt, so muss man schlussfolgern, ebenso autonomen Regelprozessen, und zwar solchen, die den Regelprozessen zur Konstitution „sprachlicher Bedeutungen“ nachträglich sind. Bierwisch fasst das so zusammen: Sprachverhalten als sprachlicher Ausdruck von Gedanken und als Verstehen sprachlich formulierter Gedanken wird determiniert durch das Zusammenwirken von Sprachkenntnis und Alltagswissen. Kommunikatives Sprachverhalten wird determiniert durch das Zusammenwirken beider Systeme mit den Kenntnissen sozialer Interaktionsstrukturen. (Bierwisch 1979, S. 65)
Anstatt aber nun die Eigenständigkeit des sprachlichen Determinationsgefüges, also der so genannten „Sprachkenntnis“, über den Umweg ihres Status (wie mit dem Postulat von „fixed primes“) oder über den kompositionellen Charakter sprachlicher Bedeutungen zu rechtfertigen, nimmt die Argumentation hier eine andere Wendung. Behauptet wird, dass neben einer rein sprachlichen Bedeutungsdimension, die die „Ausdrucksbedeutung“ determiniert,
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eine pragmatische Funktion existiere, die die „Äußerungsbedeutung“ festlege (Bierwisch 1979, S. 66). Der entscheidende Schritt ist dann ein kleiner. Bis zur Erschließung des kommunikativen Sinns einer Ausdruckskette müssen laut Bierwisch (1979, S. 65-66) drei Ebenen mit je eigenen Wissenstypen und Determinationsgefügen durchlaufen werden, nämlich zunächst die Ebene des „sprachlichen Wissens“, auf der die „sprachliche Bedeutung“ fixiert wird, dann die Ebene der „Äußerungsbedeutung“, auf der „Alltagskenntnisse“ zur semantischen Spezifizierung der sprachlichen Bedeutung beitragen, und schließlich die Ebene des „kommunikativen Sinns“, auf der „Kenntnisse über Interaktionsbedingungen“ in den aktualen Verstehensprozess eingehen und so die Äußerungsbedeutung zu einer Einheit mit kommunikativem Gehalt anreichern. Demnach würden Sprachwissen und Weltwissen in dieser Konzeption differenten Regelsystemen gehorchen, die ebenso differente Theorien erforderten.23 Die Grenzlinie zwischen „sprachlichem Wissen“ einerseits und „Alltagskenntnis“ sowie „Interaktionswissen“ andererseits deckt sich dabei grob mit der zwischen Semantik und Pragmatik. So gehören Metaphernbildungen, wie Bierwisch an vielen Stellen deutlich macht, nicht zum engeren Bereich der Semantik, sondern gelten als Sekundärphänomene, insofern sie auf konzeptuellen Prozessen basieren, die ihrerseits durch sprachliches Wissen prädeterminiert sind. In späteren Arbeiten bekräftigt Bierwisch die eingeschlagene modularistische Argumentation,24 verzichtet jedoch darauf, die pragmatische Komponente genauer auszuweisen, und beschränkt sich weitgehend auf Analysen der ersten Ebene. Gegen eine solche prinzipielle Trennung von Semantik und Pragmatik spricht m.E. eine ganze Reihe von Gründen, und ich will versuchen, diese in drei Argumentationsstränge zusammenzufassen. Der erste Grund stützt sich auf eine Beobachtung, die Haiman in seiner Kritik an nicht-enzyklopädischen Semantikkonzeptionen anführt. Wenn Bierwisch eine methodologisch begründete Trennung von Semantik und Pragmatik propagiert, dann in dem Sinne, wie Haiman formuliert, that the distinction between them is not one of mere administrative convenience (like the difference between syntax and morphology, or between morphology and phonology), but one which is justified in principle. I believe that the maintenance of this 23
24
Nämlich erstens eine „Theorie der Sprache“, die „die lautliche, die morphologisch-syntaktische und die logische Struktur der Sprache“ erforscht, zweitens eine „Theorie der Alltagskenntnis“, die den „Aufbau des konzeptuellen Systems“ erfasst, und drittens eine „Theorie der sozialen Interaktion“, die „die Strukturen interindividueller Handlungen“ (Bierwisch 1979, S. 64) analysiert. Eine Theorie des Weltwissens würde demnach das „konzeptuelle System“ sowie „Handlungsstrukturen“ zu untersuchen haben. Am deutlichsten in der bereits erwähnten Formel „(((ins (phon, syn, sem)) ct, m) ias, ks)“ (vgl. Bierwisch 1983b, S. 33ff.), nach der ein Sprechakt das Ergebnis einer linear konzipierten Determinationskette ist, an dessen Ende erst der Kontext („ct“) und der Interaktionsbezug („ias“) eine Rolle spielen.
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point leads to a view of semantics which is indistinguishable from Chomsky’s view of syntax and hence entirely vacuous. (Haiman 1980, S. 344)
Haiman bezieht sich hier keineswegs auf Mehr-Ebenen-Semantiken, und doch trifft er einen zentralen Punkt in Bierwischs Ansatz. Der in Frage stehende autonome Status der Semantik ist in Bierwischs Modell maßgeblich durch Chomskys Syntaxtheorie motiviert. Innerhalb der Syntax entscheidet sich nämlich bereits, welchen Selektionsbeschränkungen ein sprachlicher Ausdruck unterliegt. Haiman weist aber zu Recht darauf hin, dass es äußerst fraglich ist, ob Selektionsbeschränkungen überhaupt syntaktisch motiviert sein können.25 Haiman greift zur Verdeutlichung einen Beispielsatz Makkais (1971, S. 487) auf: (2)
Der Fels ist schwanger.
Das Satzsubjekt verletzt zwar die zulässigen Selektionsbeschränkungen von schwanger, da es die Komponente [– lebendig] enthält. Aber auf welcher Basis ist entscheidbar, welche Komponenten dem Ausdruck zukommen? Und was führt zu der Annahme, das Satzsubjekt in (2) werde metaphorisch gebraucht? Haimans Kommentar ist nichts hinzufügen: But the categorization of rocks as inanimate and hence, a fortiori, barren, is a belief about the world, and one which is not necessarily shared by everyone. (I happen to know at least one myth, the Hittite story or monster Uli Kummi, in which a rock does get pregnant.) (Haiman 1980, S. 347)
Wenn die semantische Dekomposition eines Ausdrucks aber nur mit implizitem Bezug auf seine metaphorische Verwendungsweise durchgeführt werden kann, dann zeigt sich darin gerade die Abhängigkeit von konzeptuellem Wissen. Ganz ähnlich argumentiert Makkai (1971). Er weist darauf hin, dass es kein Prinzip der semantischen Devianz gibt, dass semantische Selektionsrestriktionen und Annahmen über die Welt nicht voneinander zu trennen sind und dass infolgedessen allein letztere determinieren, was semantisch akzeptabel ist und was nicht. In diesem Zusammenhang spricht Makkai vom „contextual adaptability principle“, unter dem noch die scheinbar semantisch anomalsten Ausdrücke sinnhaft werden können,26 wenn – wie es Olson for25
26
Dass dies nicht möglich ist, hatte schon die Analyse zahlreicher Beispiele in Kap. II.3 ergeben. – Die Skepsis, ob Selektionsbeschränkungen syntaktisch motiviert sein können, geht auf eine frühe Untersuchung Fillmores (1970) zur Grammatik der Verben hitting und breaking zurück. Fillmore kommt hier zu dem Schluss: „It looks very much as if for a considerable portion of the vocabulary of a language, the conditions determining the appropriate use of a word involve statements about the properties of real world objects rather than statements about the semantic feature of words.“ (S. 131) Makkai führt die Wirksamkeit des „contextual adaptability principle“ an einem Satz exemplarisch vor, der wohl kaum an vermeintlicher semantischer Devianz zu überbieten sein dürfte, dennoch
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muliert – eine „intellektuelle Neuordnung unserer perzeptuellen Erfahrung“ gelingt, wenn also ein angemessener Kontext konstruiert werden kann, „in dem dieser Satz ein intendiertes Bezugsobjekt spezifiziert“ (Olson 1974, S. 185). Entscheidend ist, was für normal gehalten wird, und dabei handelt es sich um eine kulturvariable Größe, die nur innerhalb eines Systems vorausgesetzter Überzeugungen und Annahmen Sinn macht. Entgegen der viel verfochtenen Hypothese muss der berühmte Beispielsatz Chomskys Farblose grüne Ideen schlafen wütend keineswegs ohne Bedeutung bleiben; er mutet lediglich ohne kontextuelle Einbettung absurd an. So könnte der referentielle Ausdruck Ideen problemlos ein Bezugsobjekt im Kontext einer politischen Persiflage spezifizieren. Man stelle sich vor, das Wort Ideen würde metonymisch verwendet und auf Personen Bezug nehmen, die Ideen haben, während farblos so viel heißt wie ohne Konturen und die Attribuierung grün auf eine politische Gesinnung verweist. Dass diese Ideen, wiederum metaphorisch gesprochen, wütend schlafen, bedeutet dann, dass der große Koalitionspartner – etwa die SPD – die Ideen grüner Politiker zunächst stark sanktioniert hat, diese damit hingegen alles andere als zufrieden sind und nur auf einen politisch opportunen Zeitpunkt warten, ihre Ideen ‚wieder aufzuwecken‘.27 Solche Beispiele schweben wohl auch Olsen vor, wenn er schreibt, dass „die Bedeutung einer Äußerung vom Kontext der Alternativen abhängig“ (Olson 1974, S. 192f.) ist.28 Folgerichtig plädiert er dafür, dass gerade „perzeptuelles Wissen die Grundlage semantischer Bedeutungen“ (Olson 1974, S. 186) bildet. Kommen wir zum zweiten Argument, das gegen eine Trennung von Semantik und Pragmatik spricht. Dies ist ebenfalls methodologischer Art und richtet sich aus einer anderen Perspektive auf denselben Sachverhalt. Verkürzt lautet es: Zu wissen, welche semantischen Komponenten einem sprachlichen Ausdruck zukommen, heißt zu wissen, welche Wissensaspekte dieser in spezifischen Wissenszusammenhängen aufruft. Zu einer gewissen Berühmtheit hat es der Ausdruck bachelor gebracht, an dem sich der Einwand illustrieren lässt. So zählt Fillmore (1977a, S. 67) verschiedene Bedeutungsvarianten desselben Wortes (im Amerikanischen) auf, darunter die folgenden: (3)
27 28
Ein Junggeselle ist ein unverheirateter, erwachsener Mann.
aber unter bestimmten – hier kulturell-spirituellen – Kontextannahmen semantisch wohlgeformt wird. Der Satz lautet: „It was five years before he was born and seven years after he died that the baby divorced his grandmother.“ Vgl. hierzu auch die frame-theoretischen Überlegungen in Minsky 1975, S. 231. Einen Absatz später ergänzt er: „Allgemein gesagt, kann eine Äußerung offenbar nie alle Möglichkeiten eines wahrgenommenen Bezugsobjektes ausschöpfen. Man findet so lange neue Eigenschaften irgendeines Ereignisses, wie das Ereignis zwischen unterschiedlichen Mengen von Alternativen gestellt wird.“ (Olson 1974, S. 193)
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(4) (5)
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Ein Junggeselle ist ein Ritter, der das Banner eines anderen Ritters trägt. Ein Junggeselle ist ein männlicher Seehund, der in der Paarungszeit kein Weibchen findet.
Anders als (4) und (5) ist (3) auch im Deutschen eine geläufige Gebrauchsvariante des Ausdrucks Junggeselle. Daneben lässt sich folgendes Bedeutungsspektrum ausmachen: (6) (7)
Ein Junggeselle ist ein junger Handwerksbursche. Ein Junggeselle ist ein Mann, der einen unsteten, vom Durchschnitt abweichenden Lebensstil pflegt.
Auch Bierwisch nennt an mehreren Stellen das Beispiel Junggeselle (z.B. in Bierwisch 1979, S. 78) und bemerkt, dass dessen semantische Dekomposition drei Komponenten hervorbringe: [+ unverheiratet], [+ erwachsen], [+ männliche Person]. Doch wie gelangen Mehr-Ebenen-Semantiker zu solchen Ergebnissen? In (3), (6) und (7), so müssten sie argumentieren, handelt es sich bei dem Wort Junggeselle nicht um systematische Polysemie (im Sinne von Dölling 2001), sondern lediglich um Homonymie, weil sich die „sprachliche Bedeutung“ dieses Ausdrucks in allen drei Fällen voneinander unterscheidet. (Gleiches gilt für die amerikanische Variante bachelor und die ihr zugeordneten Beispiele (3), (4), (5).) Dazu muss man jedoch wissen, welche Wissensaspekte in welchen Wissenszusammenhängen zentral sind. Sonst wäre nicht auszumachen, warum (6) und (7) keine Belege für die Polysemie von Junggeselle darstellen. Hierzu nötiges Wissen kann aber nur aus der pragmatischen Kenntnis der unterschiedlichen Gebrauchsweisen der Ausdrücke resultieren. So rückt in (6) – der bis ins 16. Jahrhundert geläufigen Bedeutung von Junggeselle – der Berufsstand einer Person in den Vordergrund, während der Familienstand keine wesentliche Rolle spielt. Zu verstehen, worauf sich der Ausdruck Junggeselle in (7) bezieht, setzt dagegen Wissen über bestimmte Lebensweisen voraus, nicht aber zwangsläufig Annahmen über den Familienstand oder das Alter der betreffenden Person. In beiden Fällen steuert der Kontext, in dem der Ausdruck Junggeselle auftritt, was mit ihm gemeint ist, und an diesem Prozess ist die Kenntnis lebensweltlicher Umstände (und nicht „rein sprachliches“ Wissen) maßgeblich beteiligt. Eine ganz ähnliche Schwierigkeit tritt bei kontextabstrakten Bedeutungsanalysen auch dann auf, wenn wir vom Fall der Polysemie absehen und uns nur auf Beispiel (3) konzentrieren. So machen Fillmore und auch Lakoff (1987, S. 70) auf zahlreiche Hintergrundannahmen aufmerksam, die neben den drei Komponenten ebenso erfüllt sein müssen, um eine Person einen Junggesellen nennen zu können. Es dürfte sehr seltsam sein, den Papst oder
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einen Mann, der seit zehn Jahren mit einer Frau zusammenlebt, ohne verheiratet zu sein, als Junggesellen zu bezeichnen, und das, obwohl es sich in beiden Fällen sehr wohl um unverheiratete, erwachsene, männliche Personen handelt. An einer anderen Stelle gibt Fillmore (1982b) ein weiteres Beispiel: Einen Jungen, der in den Dschungel verbannt wurde und dort fernab von unseren gesellschaftlichen Normen aufgewachsen ist, könne man sicherlich ebenso wenig als einen Junggesellen bezeichnen. So absurd derartige Beispiele auch erscheinen mögen, so sehr machen sie doch deutlich, wie weit verstehenskonstitutive Hintergrundannahmen reichen. Sie umfassen Annahmen über soziale, institutionalisierte Praktiken (Heirat, Scheidung, Zölibat) ebenso wie Vorstellungen über gesellschaftlich relevante Normen (Heterosexualität vs. Homosexualität, Monogamie vs. Polygamie). Und das heißt: Vermeintlich rein semantische Komponenten sind letztlich pragmatisch fundiert und für sich genommen völlig arbiträr. Verstehensrelevanten Hintergrundannahmen müsste folglich schon auf der Ebene der „sprachlichen Bedeutung“ Rechnung getragen werden. Doch dann wäre eine Trennung von Sprach- und Weltwissen hinfällig. Rudi Keller fasst dieses Dilemma in seiner zeichentheoretischen Auseinandersetzung mit dem Ebenen-Modell folgendermaßen zusammen: Woher aber wissen Sprecher und Hörer, welche durch diese Merkmale „spezifizierte“ „logische Form“ der Ausdruck Junggeselle „bezeichnet“? Und dank welcher Merkmale ist der Ausdruck in der Lage, genau diese Form zu „bezeichnen“? Die Antwort auf die zweite Frage ist das Geheimnis aller repräsentationistischen Ansätze. Die Antwort auf die erste Frage scheint mir lauten zu müssen: Sprecher und Hörer wissen, daß Junggeselle diese Merkmalmenge repräsentiert (wenn sie es denn wissen), weil sie gelernt haben, das Wort Junggeselle zu verwenden, um auf unverheiratete, erwachsene, männliche Personen zu verweisen, oder um von erwachsenen Männern auszusagen, sie seien unverheiratet. (Keller 1995, S. 191)
Die Kenntnis der „sprachlichen Bedeutung“ eines Ausdrucks gründet selbst in der kommunikativen Praxis.29 29
Keller differenziert allerdings nicht zwischen modularistischen und holistischen Modellen. An einer Stelle schießt seine Kritik deswegen an „repräsentationalistischen“ Ansätzen, wie er sie nennt und worunter er offensichtlich kognitiv orientierte Ansätze per se fasst (Keller 1995, S. 8286), weit über das Ziel hinaus. Es ist ein grundlegender Irrtum (und auch eine falsche Interpretation Langackers), holistischen Ansätzen die Annahme zu unterstellen, „der einzige Weg, eine objektivistische, wahrheitsfunktionale Semantikkonzeption zu vermeiden, [bestehe] darin, Bedeutungen in den Kopf des Sprechers zu verlegen“ (Keller 1995, S. 84). Es ist umgekehrt weithin bekannt und vielfach diskutiert, dass in Abhebung von generativen Ansätzen der Ausgangspunkt der Kognitiven Grammatik und der Konstruktionsgrammatik das so genannte „usage-based model“ bildet (vgl. den Überblick in Barlow/Kemmer 2000). Dessen Voraussetzung beruht gerade darauf, was Keller für sich reklamiert: Bedeutungen (aber auch grammatische Phänomene) als „Ergebnis[se] der Konventionalisierung vergangener kommunikativer Praxis“ (Keller 1995, S. 193) zu betrachten. Unter der kognitiv-holistischen Grundprämisse, dass sprachliches Wissen allein aus dem Sprachgebrauch resultiert, sind in den verschiedensten Bereichen Studien durchgeführt worden, so zum Spracherwerb (Behrens 2003; Lieven et. al. 2003), zur Morphologie (Bybee/Slobin 1982; Bybee 1985), zur Semantik (Langacker 1988c; Tuggy 1993) und zur Phonologie
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In dem Zitat von Keller ist das dritte Argument bereits angelegt. Semantik und Pragmatik lassen sich nur dann sinnvoll voneinander trennen, wenn es gelingt, aus dem Gegenstandsbereich der Semantik Bezugnahmen auf Referenzobjekte auszugrenzen und diese als rein pragmatisch zu qualifizieren. Denn Bezugsobjekte sprachlicher Zeichen sind nicht außersprachliche Entitäten (Gegenstände, Sachverhalte, Personen, Handlungen, Ereignisse usw.), sondern kognitive Konstrukte derselben, und solche epistemischen Konstruktionen, die ja immer schon hinsichtlich Relevanzbereichen strukturiert bzw. profiliert sind, basieren auf Weltwissen.30 Deshalb müsste in modularen Modellen die Ebene der sprachlichen Bedeutung „von jeder referentiellen ‚Verunreinigung‘ frei bleiben“ (Kleiber 1998, S. 13). Dies gelingt aber auch dann nicht, wie Kleiber ausführt, wenn versucht wird, semantische Merkmale in Absehung von ihrer referentiellen Interpretation ausschließlich dadurch herauszuarbeiten, dass Lexeme einander gegenübergestellt und hinsichtlich distinktiver Merkmale bestimmt werden. Der Grund liegt darin, dass die Bedeutung schon gekannt werden muss, bevor die Lexeme miteinander konfrontiert werden können. Eine Theorie der sprachlichen Referenz ist einer Bedeutungstheorie nicht äußerlich, sondern umgekehrt integraler und unabkömmlicher Bestandteil derselben. Da eine Semantik ohne die Berücksichtigung referenziellen Wissens nicht möglich ist, eine Sprachtheorie ohne begründete Semantik aber leer bleibt, kann eine sinnvolle Sprachtheorie nicht konzipiert werden, die von einer vorgängigen Unterscheidbarkeit von sprachlichem und außersprachlichem Wissen als Axiom ausgeht […]. (Busse 1997a, S. 20)
Natürlich lassen sich distinktive Merkmale von Ausdrücken etwa qua Kommutationsprobe bestimmen,31 aber nicht ohne Hinzuziehung des außersprachlichen, konzeptuellen Bezugsbereichs dieser Merkmale. Außerdem muss nicht nur eine semantische Standardinterpretation eines Ausdrucks schon vorliegen, um einen Ausdruck semantisch spezifizieren zu können. Im Einzelfall müssen auch kontextspezifische Hintergrundannahmen aktiviert sein, die den relevanten Spezifikationsbereich erst festlegen. Was bedeutet etwa der Ausdruck aufmerksame Kellnerin? Je nach Kontext mag
30
31
(Bybee 2001; Taylor 2002, S. 143-160). Vergleiche hierzu auch meine Ausführungen in Kap. VI.1 und VI.5. Man betrachte etwa das einfache Beispiel von Adjektiv-Nomen-Konstruktionen. Wenn von einer roten Ampel die Rede ist, gelingt die attributive Zuschreibung nur auf der Basis unseres Vorwissens: Nicht der Ampel als ganzer wird die Farbe rot zugeschrieben, sondern nur dem Leuchten einer Lampe; dies setzt Wissen über die Zusammensetzung und Funktion von Ampeln voraus. Vergleiche dazu Ausdrücke wie roter Kopf, rote Alarmstufe, rotes Auto usw. Wenngleich ich hier eher von „distinktiven Hintergrundannahmen“ sprechen würde, zum einen um begriffsontologische Implikationen zu vermeiden, zum anderen um deutlich zu machen, dass der vorausgesetzte methodologische Rahmen nicht den Voraussetzungen einer Komponentialtheorie verpflichtet ist.
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III. Das holistische Paradigma
die Bedeutung so stark differieren, dass sie mit der Standardinterpretation nichts mehr zu tun hat. Man stelle sich beispielsweise eine Bar vor, in der bekanntermaßen ein männlicher Transvestit bedient. Die Bar zeichnet sich dadurch aus, dass man Eintritt zahlt und sich dann mit Getränken selbst bedienen kann. Die Bedienung hingegen gibt nur darauf Acht, dass keine vollen Gläser unbeobachtet stehen, weil es in der letzten Zeit häufiger vorgekommen ist, dass Gästen heimlich Drogen ins Getränk geschüttet worden sind. Was bedeutet es dann, wenn ein Gast die Bedienung eine aufmerksame Kellnerin nennt? Doch wohl vor allem, dass ein Mann in einer Bar keine Getränke ausschenkt, sondern einsammelt.32 Ohne dass hier Metaphern im Spiel wären, verläuft die Bedeutungsaktualisierung allein vor dem Hintergrund einer intersubjektiv geteilten Lebenswelt. Dass die Kellnerin ein Mann und deswegen aufmerksam ist, weil sie ihre Kunden nicht bedient, stellt kein Problem dar. Das „Prinzip der kontextuellen Adaptabilität“, von dem ich bereits sprach, kann wie im angeführten Beispiel sogar dazu führen, dass sprachliche Ausdrücke Referenz zu kognitiven Modellen (oder Frames) etablieren, die den geläufigen Standardinterpretationen völlig widersprechen. Natürlich bedarf es dabei eines Minimums an Konventionalisierung des referentiellen Radius von Sprachzeichen. Es bedarf aber keineswegs präfixierter Bedeutungskomponenten, die in allen beliebigen Kontexten Geltung beanspruchen. Diese würden der Kreativität sprachlicher Bedeutungskonstruktionen nicht gerecht und verhinderten im Einzelfall sogar eine kontextangemessene Lesart (wie in unserem Beispiel die Komponente [+ weiblich] des Lexems Kellnerin). Für jede Komponente ließe sich ein Kontext angeben, in dem dieselbe getilgt ist. Auch hier zeigt sich, dass semantisches Wissen nicht einfach als modulares Determinationsgefüge zu verstehen ist, das sich von pragmatischen Faktoren abkoppeln lässt. Die Bedeutung eines jeden Ausdrucks ist abhängig von der konzeptuellen Struktur, auf die dieser verweist. A word’s meaning can be understood only with reference to a structured background of experience, beliefs, or practices, constituting a kind of conceptual prerequisite for understanding the meaning. Speakers can be said to know the meaning of the word only by first understanding the background frames that motivate the concept that the word encodes. Within such an approach, words or word senses are not related to each other directly, word to word, but only by way of their links to common background frames and indications of the manner in which their meanings highlight particular elements of such frames. (Fillmore/Atkins 1992, S. 76f.)
Wörter tragen weder selbst Bedeutung (auch nicht im abstraktesten Sinne), noch tragen sie Bedeutung, indem sie Relationen zu anderen Wörtern unterhalten, zumindest nicht im strukturalistischen Sinne von rein langue-basierten 32
Vgl. auch Searles bekannte Diskussion des Satzes Die Katze ist auf der Matte in Searle 1998 und Coulsons frame-semantische Reinterpretation desselben Beispiels in Coulson 2001, S. 4-10.
1. Sind Sprachwissen und Weltwissen voneinander abgrenzbar?
141
Bedeutungsrelationen. Sie werden allein dann zu bedeutungsvollen Einheiten, wenn man sie in Bezug zu einem (Hintergrund-)Frame setzt. Entgegensetzt zur Metapher der „Ebene“ argumentiert Fillmore deshalb für ein „Interpenetrationsmodell“, in dem enzyklopädisches Wissen am Anfang des Interpretationsprozesses steht und von dem sich auch vermeintlich ‚rein‘ grammatisches Wissen nicht isolieren lässt. Interpenetration findet derart statt, that linguistic knowledge including lexical and grammatical knowledge, enters at each of these levels, not only at the top, and that knowledge about worlds, contexts, and speakers’ intentions enter at every level, not only at the bottom (Fillmore 1984, S. 132).
Im Sinne einer holistischen Sprachtheorie könnte man das auch so formulieren: Alle sprachlichen Mittel, die uns zur Verfügung stehen, liefern einen spezifischen Beitrag zur Konstitution von Bedeutung und dienen letztlich dazu, den Übergang von Gesagtem zu Gemeintem zu erleichtern. Abschließend lässt sich aus den vier Versuchen, Sprachwissen von Weltwissen strikt voneinander zu trennen, die ich in den Abschnitten II.1.1 bis II.1.4 diskutiert habe, nur ein Fazit ziehen: Weil aus den verschiedensten Gründen alle Abgrenzungsversuche gescheitert sind, muss eine kognitive Sprachtheorie vom Ansatz her dem Umstand Rechnung tragen, dass Menschen in eine spezifisch strukturierte Lebenswelt (im weitesten soziokognitiven Sinn) hineingeboren werden und nur in der Interaktion mit dieser eine Sprache als soziales Instrument zu nutzen lernen. Unter dem Eindruck des Angeborenheitsdogmas gerät Mehr-Ebenen-Semantikern dieses banale Faktum aus den Augen. Dass sich Frames in ein Mehr-Ebenen-Modell integrieren lassen, wie Bierwisch an mehreren Stellen suggeriert, ist deshalb ganz und gar irreführend und unterstellt die Vereinbarkeit von Unvereinbarem. Bierwisch schlägt etwa vor, Frames als Repräsentationsformate von Interaktionswissen anzusetzen, und ignoriert dabei, dass Fillmores Ansatz in allen bisher beschriebenen Aspekten fundamental von seinem modularen Determinationsmodell abweicht. Fillmore gebe eine Reihe von Beispielen ähnlicher Art, für deren Analyse er das aus der künstlichen Intelligenz stammende Konzept ‚Frame‘ in einem Sinne verwendet, der dem von CA (t) [= Repräsentation des Interaktionswissens, AZ] ähnlich, wenn auch spezieller ist. (Bierwisch 1979, S. 78)
Bevor es zu dieser auf Interaktionswissen beruhenden Interpretation sprachlicher Ausdrücke aber kommt, sind nach Bierwisch bereits zwei modular organisierte Determinationsebenen durchlaufen.33 Abgesehen davon, dass Frames deswegen nur eine marginale Lückenfüllerfunktion zukäme, ließen sich diese aus prinzipiellen, methodologischen Gründen auf keiner Ebene modularistisch vereinnahmen. 33
Vgl. hierzu die Abb. 1 in Kap. II.2.1.
142
III. Das holistische Paradigma
Die Gegenposition einer enzyklopädischen, holistischen Semantik hatte Fillmore bereits zu einem Zeitpunkt entschieden vertreten, als die Grundidee einer Frame-Semantik noch gar nicht entwickelt war. Die (fast zynische) Schlussbemerkung seines Aufsatzes A grammarian looks to socio-linguistics lautet: My proposal for determining the boundary between linguistics and other disciplines connected with a speaker’s control of language use, is to start a project for writing an instruction manual for an Immigrant of the sort I have in mind, to have on this project a large and capable research team with workers from a great many academic disciplines, and to determine empirically which tasks the linguists can carry out without any help from the others. (Fillmore 1973, S. 285)
Der restliche Teil meiner Arbeit baut auf einer solchen holistischen, enzyklopädischen Semantiktheorie auf, die für sich keine disziplinäre Autonomie in Anspruch nehmen kann.
2. Der „Raum des Verstehens“ (C. Demmerling) Sprachwissen oder Weltwissen? Offenkundig handelt es sich hierbei um eine falsch gestellte Frage. Nicht-reduktionistisch ist ein Beschreibungsansatz dann, wenn er die Möglichkeit infrage stellt, zwischen Sprachwissen und Weltwissen zu unterscheiden. Eine Differenzierung und Typisierung verstehensrelevanten Wissens muss einer anderen Leitlinie folgen. Bevor ich aber zu dieser komme, sollen in einem ersten Schritt Ausgangspunkte des holistischen Gegenmodells zur Mehr-Ebenen-Semantik skizziert werden. Dazu greife ich auf die Metapher des „Verstehensraumes“ zurück, die der Philosoph Demmerling (2002) geprägt hat. Aus der vorangegangenen Argumentation ergeben sich in erkenntnistheoretischer Hinsicht zunächst zwei Konsequenzen. Kein Bereich semantischen Wissens lässt sich als verstehensvorgängig ausweisen, und ebenso wenig lässt sich ein Fundament des Verstehens ausmachen, das selbst nicht Resultat und Gegenstand von Verstehen ist. Beide Punkte gelten für generative und rein formal-semantische Ansätze nicht. In vielfacher Gestalt findet sich hier die Annahme verstehensvorgängiger Sprachstrukturen wieder. Syntaktische Tiefenstrukturen bestehen beispielsweise aus einem Repertoire abstrakter Symbole und rekursiver Regeln, die Kombinationsmöglichkeiten dieser Symbole festlegen. Weder die Regeln noch die Symbole müssen aber verstanden werden, sie können gar nicht verstanden werden, weil sie gemäß ihrer modularen Existenzbedingungen einen autonomen Status genießen und sich deswegen gerade dem semantisierenden Zugriff entziehen.34 Nicht anders verhält es sich 34
Dieselbe Kritik an formalen und generativen Ansätzen veranlasste spätere Vertreter der Kognitiven Grammatik und der Konstruktionsgrammatik dazu, syntaktische Konstruktionen nicht als
2. Der „Raum des Verstehens“ (C. Demmerling)
143
mit den von Mehr-Ebenen-Semantikern postulierten semantischen Primitiva; primitiv sind diese ja aufgrund ihrer Eigenschaft, selbst nicht erschlossen werden zu müssen. Mit dem Postulat der Verstehensrelevanz wird zum einen die Existenzmöglichkeit solcher verstehensvorgängigen Grundstrukturen überhaupt angezweifelt. Anstatt angeborene, also der kommunikativen Praxis vorgängige Prinzipien des Sprachverstehens anzunehmen, übernehmen kognitive Schemata (oder Frames) diese verstehensleitende Aufgabe.35 Bei solchen Mustern handelt es sich um emergente Strukturen, die qua induktive Abstraktionsprozesse aus authentischem Sprachmaterial gewonnen werden. Derartige Prozesse lassen sich in vielfacher Weise beim Erstsprachenerwerb nachweisen. Ausgangsprämisse gebrauchsbasierter Ansätze in der Spracherwerbsforschung ist, dass linguistische Kategorien induktiv auf der Basis der Informationsverteilung und der Auftretenshäufigkeit von Tokens im sprachlichen Input gewonnen werden können (Tomasello 2003; 2006, S. 27-32). Als grundlegende psycholinguistische Einheit, mit der Kleinkinder eine Sprache lernen, gilt die sprachliche Äußerung. Die Datenbasis für empirische Analysen bilden dementsprechend kommunikative Einheiten. Stellvertretend für einen gebrauchsbasierten Ansatz insgesamt fasst Michael Tomasello zusammen: Following the general strictures of cognitive linguistics, to identify the fundamental units of language use we must begin with basic processes of human cognition and communication. Following the general lead of many functionally oriented theorists, my candidate for the most fundamental psycholinguistic unit is the utterance […]. An utterance is a linguistic act in which one person expresses towards another, within a single intonation contour, a relatively coherent communicative intention in a communicative context. (Tomasello 2000, S. 63)
Was Tomasello hier am Beispiel der mündlichen Kommunikation formuliert, gilt natürlich analog für das Verstehen schriftsprachlicher Äußerungen; aus ontogenetischer Sicht sind diese jedoch für den Sprach- bzw. Bedeutungserwerb sekundär. In der Kritik steht das Ebenen-Modell nicht nur wegen der hiermit angesprochenen fehlenden Ausrichtung an kommunikativen Einheiten. Es hatte sich bereits herausgestellt, dass vor allem die empirische Erklärungsinadäquatheit eine grundlegende Revision nötig macht. Dies ergab die Auseinandersetzung mit Bierwischs und Schwarz’ Ansatz in Abschnitt II.2. Erklärungsadäquat im Sinne einer annäherungsweise erschöpfenden Beschreibung
35
autonome, sondern als bedeutungsrelevante, mithin konzeptuelle Phänomene einzustufen. Die Determinationsrichtung zwischen Syntax und Semantik dreht sich hier um; vgl. die programmatischen Ausführungen in Langacker 1987b. Vgl. Behrens (2006, S. 3): „In constructivist and emergentist approaches, no specifically linguistic innate representations are assumed. Instead, it is argued that children are very efficient pattern and intention recognisers so that they can induce linguistic structure based on the language they hear.“
144
III. Das holistische Paradigma
verstehensrelevanten Wissens kann eine Bedeutungstheorie nur dann sein, wenn sie holistisch verfährt. Syntaktische Konstruktionen unterliegen keinem eigenen Regelsystem, sondern erfüllen bedeutungsrelevante Funktionen, weil sie Form-Inhalt-Paarungen darstellen.36 Darin besteht die semantische Wende neuerer kognitiver Ansätze wie der Konstruktionsgrammatik und der Kognitiven Grammatik. Was heißt aber dann, eine Äußerung zu verstehen? Wie erfassen wir sprachlich vermittelte Bedeutungen, wenn mithilfe des Kompositionalitätsprinzips nur ein Bruchteil des verstehensrelevanten Wissens zu ermitteln ist? Anhand der Metapher des „Verstehensraumes“ soll im Folgenden deutlich werden, welche epistemologische Tragweite dem Postulat der Verstehensrelevanz zukommt. Jede sprachliche Äußerung, so lautet die Kernthese, ist in einem „Raum des Verstehens“ eingebettet und kann nur unter Einbezug jener Bedingungen hinreichend untersucht werden, die diesen Raum konstituieren. Aus Kapitel II können wir zunächst festhalten, dass semantische Interpretationen sprachlicher Ausdrücke nicht den restringierenden Vorgaben rein sprachlichen Wissens gehorchen, auch nicht ‚nur‘ in erster Instanz bzw. auf einer ersten Ebene. Von Anfang an bildet vielmehr das Gesamt desjenigen Wissens den Zugriffshorizont semantischer Interpretationen, das einem Sprachbenutzer oder einer Sprachbenutzerin zu einem Zeitpunkt zur Verfügung steht. Diesem mehrdimensionalen Voraussetzungsgefüge versucht Demmerling mit der Metapher des „Verstehensraumes“ Ausdruck zu verleihen. Er geht davon aus, dass wir uns als verstehende Individuen immer schon in diesem Raum bewegen und orientieren. Wir sind gewissermaßen in ihm eingeschlossen. Es ist der Raum des Verstehens, der unseren Gebrauch und unser Verstehen der Sprache wie auch unser Verstehen im allgemeinen trägt. Der Raum des Verstehens ist genauso weit und unerschöpflich wie der Raum des Lebens und umschließt alles, was wir denken, sagen, erfahren oder tun. (Demmerling 2002, S. 161)
Demmerling bezieht sich mit der Raum-Metapher einerseits auf die hermeneutische Philosophie (insbesondere der Prägung Heideggers und Gadamers), die in diesem Zusammenhang vom „Vorverstehen“ bzw. von der „Vorstruktur des Verstehens“ spricht.37 Andererseits verweist er auf sprachanalytisch orientierte Philosophen wie Richard Rorty, John Searle und Charles Taylor, 36
37
Vgl. etwa Goldberg 1995, S. 4. Lutzeier (1991, S. 83) schreibt mit Bezug auf seine so genannte CRMS-Theorie, die der Kognitiven Grammatik Langackers nahe steht: „We engage in syntax not for the sake of syntax, we engage in syntax for the sake of semantics.“ Zur hierin zum Ausdruck kommenden These von Form-Inhalt-Paarungen als Minimaleinheiten für die Syntax vgl. Kap. IV.1.1 und 1.2. Mit Bezug auf linguistische Theoriebildungen vgl. Scherner 1984, S. 57-71, 162-176. Einen frühen Überblick über „nichttextualisierte Verstehensvoraussetzungen“ gibt er in Scherner 1979.
2. Der „Raum des Verstehens“ (C. Demmerling)
145
die den Begriff „Hintergrund“ zur Kennzeichnung desselben Umstands vorziehen. Mit der Metapher des Verstehensraumes akzentuiert Demmerling aber bewusst ein sinnlich-sensomotorisches Moment, das in den Konzepten des „Hintergrunds“ und „Vorverstehens“ zu kurz kommt, gerade aber aus Sicht holistisch-kognitiver Ansätze besondere Aufmerksamkeit verdient. Die Arbeitsweise des Nicht-Propositionalen im Raum des Verstehens, sei es einer Situation, sei es einer sprachlichen Äußerung, einer Handlung oder einer Person, ist eng mit unserer Sinnlichkeit verbunden: die Fähigkeit, Situationen mit allen Sinnen genau wahrzunehmen, gehört dazu; dazu gehören auch die vielfältigen Möglichkeiten, sich affektiv auf Situationen, Äußerungen, Handlungen oder Personen zu beziehen, wie schließlich unsere Leiblichkeit insgesamt einen Resonanzboden des Verstehensraums bildet. (Demmerling 2002, S. 162)
Dass uns die Welt in unseren (auch sprachlichen) Handlungs- und Lebensvollzügen auf diese Weise immer schon zugänglich ist, meint keineswegs, dass nicht-propositionale Formen des Gegebenseins (etwa affektive Bezüge auf Situationen oder Personen, perzeptuell Erfahrenes, phänomenales Wissen von sich) nicht in sprachliche Ausdrücke überführbar sind. Im Gegenteil: Erst dadurch werden sie zu Einheiten des Bewusstseins, und nur in sprachlicher, also propositionaler Form lassen sich nicht-propositionale Elemente thematisieren. Trotzdem existieren beispielsweise Gemütszustände auch dann, wenn wir sie nicht sprachlich objektivieren, wenngleich sie durch diesen Vorgang erst den Status von Gewusstem erhalten. Sie im Nachhinein in Form von Überzeugungen zum Gegenstand unseres bewussten Erlebens zu machen, heißt aber nicht, dass sie uns auch vorher in propositionaler Struktur gegeben waren, sondern lediglich, dass sie sich prinzipiell in Überzeugungen oder Annahmen – also in sprachliche Strukturen – überführen lassen. Was man somit im Rückgriff auf Demmerling in Zweifel ziehen kann, ist die Möglichkeit, Verstehen auf Sprachverstehen, also auf sprachlich vermittelte und damit propositional gegliederte Weltbezüge zu reduzieren. Der „Raum des Verstehens“ reicht nach seinem Dafürhalten erheblich weiter. Nicht nur zwischen Sprach- und Weltwissen lässt sich keine feste Grenze ziehen. Auch eine kategoriale Trennung von propositionalen und nicht-propositionalen Weltbezügen erweist sich aus verstehenstheoretischer Perspektive als unhaltbar.38 Beide gehören in den „Raum des Verstehens“; nur gehört der Bereich des Nicht-Propositionalen freilich nicht zum engeren Gegenstandsbereich der Linguistik (sondern vielmehr der Wahrnehmungspsychologie und ggf. der Neuropsychologie, vgl. Lakoff/Johnson 1999). Man sollte sich nur bewusst sein, dass eine Abstraktion von Nicht-Propositionalen schon einen Reduktionismus im Kleinen darstellt.
38
So auch Busse (1994, S. 222), der von der „Nicht-Reduzierbarkeit von Sprachverstehen auf Symbol- oder Zeichendeutung“ spricht.
146
III. Das holistische Paradigma
Dass Gefühle und nicht-propositionale Einstellungen zu Elementen verstehensrelevanten Wissens werden können, ist aus der interaktionalen Linguistik etwa im Bereich der Arzt-Patient-Kommunikation oder der institutionellen Kommunikation hinreichend bekannt.39 Es ist zudem diese Dimension verstehensrelevanten Wissens, auf die sich „image schemas“ beziehen (Johnson 1987; Lakoff 1987; Lakoff/Turner 1989). „Image schemas“ („Bildschemata“) entfalten ihre verstehensrelevante Funktion schon im Bereich des Vorbewussten. Sie basieren zum großen Teil auf frühkindliche Körpererfahrungen, die neuronale Strukturen präfigurieren und auf diesem Wege die Grundlage für die sich entwickelnde Fähigkeit schaffen, sprachliche Ausdrücke zu verstehen (vgl. zusammenfassend Mandler 2005; Rohrer 2005). Neben derartigen nicht-propositionalen Strukturen, die auch im weiteren Verlauf dieser Arbeit eine nur untergeordnete Rolle spielen werden, umfasst der „Raum des Verstehens“ verschiedenste Überzeugungen, die wir haben, Absichten, die wir hegen, Verhaltensweisen, die uns geläufig sind, Kenntnisse, die wir erworben haben, und Fähigkeiten und Fertigkeiten, diese Kenntnisse im Alltag erfolgreich anzuwenden.40 Dabei handelt es sich insgesamt um uns zur Verfügung stehende ‚Hilfsmittel‘ zur erfolgreichen Bewältigung alltagsweltlicher Komplexität. Diese gehen nicht in der Eigendimensionalität der Sprache auf, wirken dennoch aber in vielfacher Weise auf diese ein, im Fall der mündlichen Kommunikation beispielsweise vermittelt durch paraverbale Elemente wie Intonation, Prosodie und Akzent oder durch nonverbale Elemente wie Augenkontakt, Gestik, Gesichtsausdruck. Um bei der Interpretation sprachlicher Ausdrücke das Prinzip der Sinnkonstanz (im Sinn von Hörmann 1994, S. 179-212) aufrechtzuerhalten, gibt es keinen Wissensbestand, der prinzipiell als irrelevant für die Sinnerschließung gelten könnte. Hörmann selbst bemerkte schon: Bedeutung ist nicht eine Assoziation, sondern das (in den Akten des Meinens und Verstehens aktualisierte) Wissen von Zusammenhängen. […] Gemeint ist eine kognitive Verfügbarkeit in dem Sinne, daß Beziehungen zwischen Erfahrungen, Handlungen und Handlungsfolgen mehr oder minder bewußt reflektiert zur Grundlage sinn39
40
Auf diesen Sachverhalt hat Fillmore schon angespielt: „In the first place, I would like to integrate a semantic theory with a theory of language understanding […]. I find, however, that this frequently involves appeals to information of the kind that is not strictly information about language. […] In the second place, I am convinced that an enormously large amount of natural language is formulaic, automatic and rehearsed, rather than propositional, creative or freely generated.“ (Fillmore 1976a, S. 8f.) Der Philosoph Oliver Scholz (1999, S. 277) bemerkt hierzu, dass sich „die Verflechtung des Bedeutungsbegriffs mit den Praxen des Verstehens und der Bedeutungserklärung“ (Scholz 1999, S. 278) nicht einfach auflösen lässt. Und er führt weiter aus: „Wenn die Bedeutung eines Ausdrucks erklärt wird, wird die korrekte Verwendung dieses Ausdrucks erklärt. Es wird nicht allein erklärt, wie ein Wort, eine Wendung oder ein Satz faktisch oder üblicherweise gebraucht wird, sondern es wird erklärt, wie der betreffende Ausdruck zu gebrauchen und zu verstehen ist. Ein normativer Begriff von Richtigkeit ist hier im Spiel.“
2. Der „Raum des Verstehens“ (C. Demmerling)
147
voll darauf aufbauenden Handelns und Erlebens gemacht werden können. (Hörmann 1977, S. 121)
Im Zusammenhang mit inferenztheoretischen Fragen werde ich auf den Aspekt der kognitiven Verfügbarkeit von Wissen noch zurückkommen. Sieht man einmal von Suprasegementalia und nicht-sprachlichen Faktoren ab und nimmt nur den einfachsten Fall einer kontextabstrakten wortsemantischen Bestimmung, fällt das Ergebnis keineswegs weniger komplex aus. Um etwa zu wissen, was das Wort Kerngehäuse bedeutet (d.h. um zu wissen, wie man das Wort angemessen verwendet), muss man die Überzeugungen haben, dass Äpfel (oder Birnen etc.) essbar und bekömmlich sind und dass sie entsprechende Eigenschaften aufweisen; erforderlich sind ebenso Kenntnisse über die Art und Weise, wie in unserem Kulturkreis üblicherweise Äpfel gegessen werden; und vorauszusetzen sind schließlich eine Reihe von Fähigkeiten, die nötig sind, um Äpfel überhaupt essen zu können. Würde auch das Kerngehäuse – genauso wie etwa das Fruchtfleisch eines Apfels – gegessen werden, existierte unter Umständen gar keine alltagssprachliche Unterscheidung zwischen den Ausdrücken Apfel und Kerngehäuse.41 Wenn Demmerling innerhalb des „Raumes des Verstehens“ zwischen Überzeugungen auf der einen Seite und Fertigkeiten und Fähigkeiten auf der anderen Seite unterscheidet, entspricht dies jener kognitiv-semantischen Trennung von Wissensrepräsentation und Wissenserschließung bzw. Wissensstruktur und Prozedur, die bereits im Zusammenhang mit dem Repräsentationsbegriff eingeführt worden ist. Auch Demmerling (2002, S. 168) betont, dass der Übergang zwischen beiden fließend ist, jedoch nicht eingeebnet werden kann. Wir verfügen nur deshalb über Überzeugungen oder Annahmen, weil wir die Fähigkeit haben, diese im „Raum des Verstehens“ zu situieren und sie dort mit anderen Elementen zu relationieren. Umgekehrt setzt die Fähigkeit, etwas im „Raum des Verstehens“ zu situieren, bereits Annahmen über die Welt bzw. über die Beschaffenheit des Raumes voraus. Das Beispiel des Apfels dient Demmerling (2002, S. 174) zur Illustration eines weiteren Umstands: „An Äußerungen ‚hängt‘ sozusagen immer eine bestimmte Art von Situation“. Was unter einer „Situation“ genau zu verstehen ist, bleibt zwar an dieser Stelle unklar; vor dem Hintergrund der Erläuterungen zum Verstehensraum scheint Demmerling damit aber eine geordnete Struktur von Elementen im Verstehensraum zu meinen, z.B. die Menge jener Annahmen, die relevant ist, um das Wort Kerngehäuse zu verstehen. Der Be41
Hierzu Fillmore (1976a, S. 26): „[I]f a language has a word, there must be some category of thought, identified by an associated cognitive schema current in the speech community, which this word activates.“ Und zum selben Beispiel des Kerngehäuses bemerkt Fillmore (1984, S. 138) an einer anderen Stelle: „In a sense, knowing what is meant by ‚apple core‘ requires knowing something about how people in our culture eat apples. If we ate apples, seeds and all, straight through rather than around the middle, we would probably not have formed such a category.“
148
III. Das holistische Paradigma
griff der Situation rückt somit ganz in die Nähe von Fillmores früher Konzeption von „case frames“ und deren spätere frame-semantische Erweiterung.42 Wie zuvor schon Tesnière betont Fillmore die zentrale Funktion des Verbs innerhalb eines Satzes. Beide, Fillmore und Tesnière, streichen heraus, dass das Verb eine Szene oder Situation evoziert, indem es bestimmte Aktanten (bei Fillmore reformuliert als Tiefenkasus) fordert. Tesnière vergleicht dies bekanntlich mit einer Bühnenaufführung: Es gebe ein Geschehen, das im Vordergrund stehe, und eine Kulisse, die den Geschehenshintergrund bilde, somit selbst zwar nicht zum Geschehen gehöre, aber dennoch zum Verstehen der zum Ausdruck kommenden Handlung nicht einfach ignoriert werden könne. Es ist kein Zufall, dass die Bühnen-Metapher auch auf das Wechselspiel von Propositionalität und Nicht-Propositionalität abhebt.43 Wie schon die Analysen in Kapitel II.2.3 nahe gelegt haben, bedarf es stets eines erheblichen Mehrs an semantischem Wissen, das sich nicht aus der kontextfreien Analyse der entsprechenden lexikalischen Einheit ableiten lässt, obgleich es für das Verstehen des Ausdrucks zentral ist. Als Angehöriger eines Kulturkreises verfügt jede Sprachbenutzerin und jeder Sprachbenutzer über dieses Wissen in typisierter Form, weil es dort Teil rekurrent auftretender Erfahrungszusammenhänge ist. Man könnte fast meinen, Demmerling bezöge sich auf Frames, wenn er schreibt: Weder die Struktur der Sprache, unsere Kenntnis des Verhältnisses von Satz- und Wortbedeutungen oder entsprechende Regeln der Zusammensetzung von Sätzen aus Wörtern, noch auch ‚mentale‘ oder organische Fundamente der Sprachkompetenz vermögen solche Hinweise [= Fertigkeiten und Fähigkeiten, AZ] bereitzustellen. (Demmerling 2002, S. 165) Handlungen und Tätigkeiten gewinnen ihren Sinn nur dadurch, daß sie sich in größere, jeweils vertraute Zusammenhänge einbetten lassen. Erst die Einbettung von Handlungen oder sprachlichen Äußerungen in einen umfassenderen Raum stiftet jene Teilnehmerperspektive, die für ein angemessenes Verstehen des Sinns einer Handlung oder Äußerung unerläßlich ist. (Demmerling 2002, S. 166) 42
43
Vgl. die Darstellung in Kap. IV.2.3. Zu „case frames“ schreibt Fillmore (1982a, S. 115) rückblickend: „In particular, I thought of each case frame as characterizing a small abstract ‚scene‘ or ‚situation‘, so that to understand the semantic structure of the verb it was necessary to understand the properties of such schematized scenes.“ Mit frame-semantischem Bezug taucht der Begriff „Situation“ schon in Fillmore 1975 (S. 127) auf, wird hier aber vom Begriff „Szene“ beerbt. Wenn Fillmore zufolge einem Wort eine kognitive Szene assoziiert ist, sind damit konzeptuelle Erfahrungseinheiten unterschiedlichster Art gemeint, die von visuellen Szenen über Körpererfahrungen bis zu Überzeugungen über die Welt reichen (Fillmore 1977a, S. 63), wobei zu fragen wäre, inwieweit eine Person über Überzeugungen bzw. „human beliefs“ nicht nur vermittelt über Sprache verfügen kann. Am Beispiel des Wortes Kerngehäuse, zeigt sich deutlich die Parallelität zwischen seiner FrameKonzeption und Demmerlings Theorie des Verstehensraumes. Übergreifend hält Fillmore fest (1977a, S. 75): „Such knowledge [which is relevant for understanding an expression, AZ] depends on experiences and memories that the interpreter associates with the scenes that the text has introduced into his consciousness.“
2. Der „Raum des Verstehens“ (C. Demmerling)
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Aus der Unhintergehbarkeit solcher „Einbettungsstrukturen“ (Scherner 1984, S. 239) folgert Demmerling, dass der „Raum des Verstehens“ unerschöpflich und im Rahmen einer Theorie deswegen nicht in allen Einzelheiten ergründbar sei, weil sich die epistemischen Elemente ständig neu in diesem „Raum“ positionieren und zueinander komplexe Verhältnisse aufbauen würden. Ein weiteres Indiz für die These der Unerschöpflichkeit wäre, dass jede (semantische) Erklärung wiederum von Voraussetzungen ausgeht, die ihrerseits genauso der Erklärung bedürfen; schließlich sind Erklärungen selbst sprachlich verfasst und mithin keineswegs selbsterklärend.44 Die Unerschöpflichkeit der Darstellung betrifft folglich zunächst den „Raum“ als Ganzen; Teilbereiche oder Ausschnitte des „Raumes“ lassen sich sehr wohl nahezu erschöpfend beschreiben, so etwa gebrauchte Wörter oder Sätze und vollzogene Handlungen. Einen sprachlichen Ausdruck zu verstehen, schließt die Aktualisierung verstehensrelevanten Wissens ein und setzt die Fähigkeit voraus, dieses Wissen miteinander in Beziehung setzen zu können: „Überzeugungen und Fähigkeiten bzw. Fertigkeiten, propositionale und nichtpropositionale sowie absolute und relative Voraussetzungen strukturieren diesen Raum“ (Demmerling 2002, S. 181). Gehegte Überzeugungen (oder Hintergrundannahmen) figurieren stets als Teilstrukturen innerhalb eines ganzen Netzwerks von Überzeugungen. Die Annahme beispielsweise, dass Äpfel essbar und bekömmlich sind, verweist u.a. auf Annahmen über unsere biologische Verfasstheit; diese setzen wiederum Überzeugungen über die Funktionsweise von menschlichen Organen wie Magen und Darm voraus und darüber, dass Nahrung diese Funktionsweise beeinflussen mag. Damit ist die Menge möglicherweise relevanter Annahmen keineswegs abgeschlossen. Sie ließe sich problemlos fortführen, bis hin zu sehr fundamentalen und deshalb kaum je hinterfragten oder bewussten Überzeugungen, die unser Welt- und Menschenbild betreffen. Medizinisch-physiologische Annahmen über das Funktionieren menschlicher Organe dürften beispielsweise in primitiven Kulturen oder innerhalb eines streng theozentrischen Weltbildes in einem ganz anderen Netz an Überzeugungen eingebettet und epistemisch gestützt sein. Verstehen charakterisiert Clemens Knobloch deshalb als ein „Gradphänomen“.45 Wir verstehen (die Bedeutung eines Wortes, Satzes, Textes) immer nur mehr oder weniger. 44
45
Ganz ähnlich Busse (1998, S. 535): „Immer aber erklären wir, was wir erklären wollen, mit demselben Instrument, auf das unsere Untersuchung sich richtet. Bedeutungen beschreiben können wir – indem wir neue setzen. Wir ersetzen also Bedeutungen durch Bedeutungen, kommentieren Wort mit Wörtern, Satz mit Sätzen, Text mit Texten, die alle wieder uns zurückwerfen auf die Fragen, von denen unser Bemühen seinen Ausgang nahm.“ Knobloch 1994, S. 182: „Verstehen ist ein Gradphänomen. Die Sprache verschafft uns mit ihren ganz allgemeinen Schematisierungen im Lexikon nicht zuletzt auch dann den Eindruck des Verstehens, wenn dieses hart unter der Oberfläche stehen bleibt: Wir kennen alle das ‚Ozonloch‘, ‚verstehen‘, daß es etwas für die Haut Bedrohliches ist, das von den FCKWs erzeugt wird, mit
150
III. Das holistische Paradigma
Ganz offensichtlich greift hier auch die eingeführte Raum-Metapher zu kurz, suggeriert sie doch eine gewisse Abgeschlossenheit und Überschaubarkeit. Semantisch-empirische Analysen können immer nur einen Teil der Verweisstruktur sprachlicher Zeichen erfassen. Welche Teile eine Analyse ausklammert, ist alles andere als überschaubar. Ein Ziel der Kapitel IV bis VI besteht darin, eine ausreichende theoretische Basis zu entwickeln, um semantische Fallanalysen unter holistischen Prämissen durchführen zu können. Dazu sind unter anderem einige zeichentheoretische Bestimmungen vonnöten. Denn es ist anzunehmen, dass die prinzipielle Offenheit zeichengebundener Sinngebungsprozesse mit bestimmten Eigenschaften sprachlicher Zeichen korreliert, die es dem Zeichenbenutzer oder der Zeichenbenutzerin erlauben, kommunikativ verwendete Tokens mit Wissen ‚aufzuladen‘. Bevor ich in Abschnitt IV.3.2 darauf zurückkommen werde, seien zuvor zwei linguistische Beschreibungsansätze vorgestellt, die dem Postulat der Verstehensrelevanz folgen und die für die weitere Argumentation zentral sind.
3. Das Postulat der Verstehensrelevanz Der nachfolgende Gedankengang dient dazu, das Postulat der Verstehensrelevanz aus semantisch-epistemologischer und inferenztheoretischer Perspektive zugänglich zu machen. Folgt ein holistischer Beschreibungsansatz dem Postulat der Verstehensrelevanz, so geht er davon aus, dass es sich bei der Gegenüberstellung von Sprachwissen und Weltwissen um eine falsche Dichotomie handelt. Sprachverstehen findet stets in einem umfassenden „Raum des Verstehens“ statt, in dem sich eine derartige Unterscheidung nicht sinnvoll treffen lässt. Wenn verstehende Individuen mittels Sprache in diesem „Raum“ ihre soziale ‚Wirklichkeit‘ konstituieren, heißt das konkret: Bei der Interpretation sprachlicher Zeichen greifen sie auf unterstelltes Vorwissen zurück, und dieser Rückgriff auf Vorwissen geschieht mittels zahlreicher Inferenzbildungen. Das Postulat der Verstehensrelevanz ist damit aufs Engste verknüpft mit einer epistemologischen und einer psychologischen Untersuchungsperspektive: mit der Untersuchung verstehensrelevanten Wissens (und dessen repräsentationalen Eigenschaften) einerseits und mit der Untersuchung am aktuellen Verstehensprozess beteiligter kognitiver Prozesse andererseits. Was Demmerling allein mit erkenntnistheoretischem, nicht aber mit linguistischem Interesse (und deshalb ohne jegliche zeichentheoretische Fundierung) formuliert, ist von unmittelbarer Relevanz für linguistische Bedeutungstheorien. Die Relevanz lässt sich in Fillmores schlichter Feststellung zusamdenen unser Bier gekühlt und die Hochleistungsgeräte der Militärs geputzt werden. Aber den eigentlichen Sachverhalt, der da bezeichnet wird, kann nur ein Experte erklären.“
3. Das Postulat der Verstehensrelevanz
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menfassen, „that linguistic semantics cannot be properly separated from an examination of people’s experiences with language in context“ (Fillmore 1977a, S. 72). Eine semantisch-holistische Perspektive auf Sprachverstehen geht im deutschsprachigen Raum auf zwei Forschungsrichtungen zurück, die trotz ähnlicher sprachtheoretischer Voraussetzungen lange Zeit einander kaum wahrgenommen haben – gemeint ist die historische Semantik und die psycholinguistische Verstehensforschung. Auf beide werde ich nun hinsichtlich ihrer Orientierung am Postulat der Verstehensrelevanz eingehen. Ziel ist zunächst, zwei für den frametheoretischen Zusammenhang relevante Forschungsperspektiven einander näher zu bringen. Beide, so lautet die Arbeitshypothese, bestimmen unter zunächst disparat erscheinenden Voraussetzungen eine spezifische Dimension des „Raumes des Verstehens“. Genauer handelt es sich dabei einerseits um eine epistemologische Bestimmung dessen, was sich in einem „Verstehensraum“ ‚befindet‘, und andererseits um eine inferenztheoretische Bestimmung der Art und Weise, wie diese epistemischen ‚Gegenständlichkeiten‘ zustande kommen. Ich beginne mit Busses epistemologischer Konzeption einer historischen (oder, wie er sie in späteren Arbeiten bezeichnet, explikativen) Semantik und gehe danach auf die psycholinguistische Inferenzforschung ein. 3.1 Busses Konzeption einer explikativen Semantik Der Begriff der Verstehensrelevanz, den ich als Leitbegriff zur Kennzeichnung des frame-semantischen Gegenstandsbereiches eingeführt habe, ist zuerst von Dietrich Busse im Rahmen seines kommunikationstheoretisch fundierten Konzepts einer explikativen Semantik geprägt worden.46 Zentral, auch für eine Frame-Theorie, ist hier ein Zeichenmodell, das erst gar keinen Bedeutungsreduktionismus wie in Ebenen-Semantiken zulässt. Ausdrucksund Appellfunktion (im Sinne von Bühler 1934, S. 24ff.) sind der Darstellungsfunktion von sprachlichen Zeichen gleich geordnet. Hinsichtlich der einzelnen Sprachzeichen heißt das, daß die KommunikationsBeteiligten durch Bezug auf ihre Erfahrungen des Sinns, der mit den (in der aktuellen Äußerung verwendeten) Sprachzeichen in vergangenen kommunikativen Akten verknüpft war, versuchen, unter Ansetzung aller bedeutungsrelevanter Faktoren die Zeichenfolge sinnvoll zu machen (die immer nur in einer Äußerung als geäußerte Zeichen-
46
Im Rahmen der „Historischen Semantik“ (Busse 1987) war zunächst nur von „bedeutungsrelevantem“ und „sprachrelevantem Wissen“ die Rede. In späteren Arbeiten, die jedoch andere Ziele verfolgen und auch unter dem Titel „explikative Semantik“ (Busse 1991a) oder „Tiefensemantik“ (Busse 2000a, 2000b) firmieren, fällt der Begriff „verstehenrelevantes Wissen“. Zentrale Stellen sind u.a. Busse 1991a, S. 138-140; 1994, S. 224-230; 1997a, S. 19-21; 2000a, S. 42; 2003a, S. 25-26; 2003b, S. 182-183; 2005a, S. 51ff.; 2005b, S. 38ff; 2007a, S. 95ff.
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III. Das holistische Paradigma folge mit Sinn gefüllt werden kann, d.h. eine Bedeutung bekommt). (Busse 1988, S. 258f.)
Das Fundament für eine solche kommunikationstheoretische Perspektive auf Semantik legt Busse in seiner 1987 erschienenen Arbeit „Historische Semantik“, ohne dass allerdings hier schon der Terminus Verstehensrelevanz auftaucht. In mehrfacher Hinsicht steckt aber bereits das Programm einer „Historischen Semantik“ den Horizont einer holistischen Bedeutungstheorie ab und zeigt damit wichtige Facetten des Postulats der Verstehensrelevanz auf. Ausgangspunkt der Überlegungen Busses bildet ein gebrauchsfundiertes Bedeutungskonzept, das dafür einsteht, dass sich sprachliche Bedeutungen erst im einzelnen kommunikativen Akt konstituieren, dass sie aber zugleich von einer Vielzahl an epistemischen Voraussetzungen zehren, die sich nicht allein dem je individuellen kommunikativen Akt verdanken. Zur Veranschaulichung rekurriert Busse auf verschiedene Theorieansätze aus dem semantisch-pragmatischen Grenzbereich (so auf Wittgensteins gebrauchstheoretischen Ansatz, auf Grices Theorie des Meinens, Hörmanns sprachpsychologische Überlegungen und Lewis’ Begriff der Konvention). Sein Fazit lautet: Weil sprachliche Bedeutungen soziale Tatsachen sind, lassen sie sich erst im Spannungsfeld ihrer sozialen Entstehungsbedingungen adäquat beschreiben, die „als Hintergrund und unabdingbare Voraussetzungen des individuellen Handlungsvollzugs bedeutungskonstituierende Funktion haben“ (Busse 1987, S. 272). Anders ausgedrückt: Semantische Analysen erreichen dann erst ein Mindestmaß an Vollständigkeit und Explizitheit, wenn sie situative und kommunikative Faktoren mit einbeziehen und diese nicht (etwa als bloße Konnotationen) ausgrenzen. Die kleinste Analyseeinheit bildet folglich eine sprachlich-kommunikative Einheit, aus deren multifaktoriellem Voraussetzungsraster Bedeutungen als emergente Produkte hervorgehen. Zur erfolgreichen Kommunikation ist deshalb eine gemeinsame Wissensbasis nötig, die als historische Möglichkeitsbedingung intersubjektiven (Sprach-)Verstehens fungiert. Der „Raum des Verstehens“, um die Metapher Demmerlings aufzugreifen, muss ähnliche ‚Koordinaten‘ und ‚Requisiten‘ aufweisen, miteinander kommunizierende Personen müssen also über ähnliche kognitive Fähigkeiten zur Erschließung sprachlichen Sinns sowie über ähnliche Hintergrundannahmen verfügen, wenngleich der „Raum des Verstehens“ der Kommunikationsbeteiligten niemals vollständig zur Deckung zu bringen ist. Schon aufgrund ihrer je individuellen Erfahrungs- und Kommunikationsgeschichten kann es dazu nur approximativ kommen. Doch gerade in den fundamentalsten Voraussetzungen muss eine maximale Übereinstimmung herrschen, wenn Verstehen überhaupt möglich sein soll.
153
3. Das Postulat der Verstehensrelevanz
Abstraktionsebenen verstehensrelevanten Wissens
Weltwissen
Aufmerksamkeitsfokus
Diskurswissen Relevanzbereich Fokusumfeld Kernfokus
Der Ein fluss der Schul e end et vor der Haus tür der Kind er. Zeitachse
Vorgeschichte
Jetztzeitpunkt
Nachgeschichte
Abb. 1: Differenzierung verstehensrelevanten Wissens nach Busse 1991a, S. 141ff., hier am Beispiel des Satzes Der Einfluss der Schule endet vor der Haustür der Kinder
Wie sich solche fundamentalen Möglichkeitsbedingungen genauer beschreiben lassen, macht Busse im Rekurs auf Foucaults Diskurstheorie deutlich. Diskurse markieren den kulturell geprägten, historisch variablen Rahmen, innerhalb dessen Sprachbenutzer und Sprachbenutzerinnen erst Sinn zu vermitteln möglich wird (Busse 1987, S. 248-251).47 Diskurse übergreifen somit einzelne Sprachhandlungen und Texte, was allerdings nicht ihre epistemische Wirksamkeit schmälert. Damit ist der Grundstein gelegt für eine Bedeutungstheorie, die ihren analytischen Schwerpunkt auf den verstehensrelevanten „Gesamtkomplex des notwendigen Wissens“ (S. 251) ausweitet, also alle Faktoren gleichermaßen berücksichtigt und erst in konkreten empirischen Analysen entscheiden kann, welchem Faktor das größte Gewicht bei der betreffenden Bedeutungskonstitution zukommt.48 Sprachzeichen selbst fungieren hiernach nicht als Bedeutungsträger; ihre Funktion besteht vielmehr darin, auf Wissen ‚anzuspielen‘, das Sprachverstehende auf der Basis ihres Vorwissens zu rekonstruieren haben (Busse 1991a, S. 90). Was also vor allen Dingen semantisch relevant ist, ist die Art und Weise, wie jene Teilbereiche 47 48
Zum Diskursbegriff (in theoretischer Hinsicht) vgl. Busse 1987 (S. 222-226) sowie Busse/Teubert 1994 (im Hinblick auf empirische Analysen), aus frame-semantischer Perspektive auch Ziem 2008. Busse selbst sieht seine Arbeit als umfassende theoretische Programmatik, der empirische Analysen wegen der Fülle an zu behandelnden Teilaspekten nur in Teilen gerecht werden können. Insofern stellt schon die Auswahl des Analysefeldes eine Schwerpunktsetzung im Sinne einer Faktorengewichtung dar, vgl. Busse 1987, S. 261-267.
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III. Das holistische Paradigma
des Weltwissens (Frames, kognitive Domänen), zu denen Sprachzeichen Beziehungen herstellen, verfügbar gemacht werden. Dieses erinnerte und durch Sprachzeichen evozierte Wissen muss strukturell geformt sein, und die strukturellen Formungen müssen ihrerseits überindividuelle Ähnlichkeiten und eine gewisse Stabilität aufweisen. Allein darin besteht der Garant dafür, dass der Textrezipient das versteht, was die Textproduzentin mit einem Ausdruck auch meint. Verstehen heißt, mit einem geäußerten Ausdruck annähernd den gleichen konzeptuellen Gehalt zu verbinden, den auch der Textproduzent oder die Textproduzentin damit zu übermitteln beabsichtigte. Aus dieser Sicht ist Busse gar nicht so weit von einer psycholinguistischen Inferenztheorie entfernt, wie sie im nächsten Abschnitt thematisiert wird. Anders als diese kommt es ihm aber auf die unmittelbare Relevanz epistemologischer Überlegungen für eine linguistische Bedeutungstheorie an. Eine epistemologische Perspektive auf Sprachverstehen ist begründet durch das intrinsische Verhältnis von Sprach- und Weltwissen einerseits und durch die Irreduzibilität kommunikativer Aspekte andererseits. In jeder semantischen Analyse ist deshalb eine Vielzahl verstehensrelevanter Faktoren zu berücksichtigen. Busse spricht in späteren Arbeiten von einer Analyse mannigfaltiger Faktoren, „welche all die Elemente aufzuschlüsseln erlaubt, die zur kommunikativen Konstitution von Bedeutungen beitragen“ (Busse 1997a, S. 19). In diesem Sachzusammenhang fällt schließlich auch der Terminus verstehensrelevantes Wissen. Hinsichtlich dreier Koordinaten lässt sich dieses Wissen phänomenologisch differenzieren (Busse 1991a, S. 139-159): (i) Ebenen des Wissens. Diese betreffen phänomenale Aspekte des Verstehensprozesses. Busse unterscheidet hier eine horizontale, zeitliche Achse von einer vertikalen, paradigmatischen Achse (vgl. Abb. 1). In zeitlicher Perspektive gliedert sich jeder Verstehensprozess in (a) eine kommunikative oder interaktive Vorgeschichte (das, worauf rückwärtsgewandt direkt oder indirekt sprachlich Bezug genommen wird), (b) den aktuellen Verstehensmoment und (c) die Nachgeschichte (das, was im späteren Kommunikationsverlauf relevant und worauf ggf. prospektiv verwiesen wird). Diese Dreigliedrigkeit ergibt sich aus dem Prinzip der Linearität (im Sinne Saussures) und betrifft somit den kognitiven Prozess der syntagmatischen Verknüpfung von Zeicheneinheiten. Die vertikale Achse beschreibt dagegen die „Aufmerksamkeitsverteilung (Fokussierung)“, womit verschiedene, nach Abstraktionsgraden gestaffelte Wissensdimensionen gemeint sind, die in die Bedeutungskonstitution eines sprachlichen Ausdrucks eingehen können. In dem Beispielsatz Der Einfluss der Schule endet vor der Haustür der Eltern mag etwa beim Ausdruck Schule der semantische „Kernfokus“ auf die gesellschaftliche Relevanz einer öffent-
3. Das Postulat der Verstehensrelevanz
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lichen Institution gerichtet sein;49 ebenso ist hier „Relevanzwissen“ erforderlich (etwa darüber, welchen Stellenwert die Schule in unserem Bildungssystem hat) sowie ggf. Diskurswissen (man denke an die Bildungsdiskussion im Zusammenhang mit „Pisa“). (ii) Typen von Wissen. Zugleich lässt sich verstehensrelevantes Wissen unabhängig von der ‚Ebene‘ ihres Auftretens typenspezifisch differenzieren. Da sich eine solche Typologie nicht deduktiv bestimmen lässt, versteht Busse sie als heuristische Annäherung. Sie ergibt sich aus empirischen Analysen und bleibt deswegen ergänzungsfähig. Busse nennt dreizehn Wissenstypen (Busse 1991a, S. 149-150): a. Wissen über Raum-/Zeitkoordinaten deiktischer Ausdrücke b. durch aktuelle Wahrnehmung gestütztes Wissen der Kommunikationspartner nicht-textueller Provenienz c. Wissen über Verwendungs- und Strukturierungsregeln von Textelementen d. Wissen über die bereits konstituierte Textwelt e. Wissen über gesellschaftliche Handlungs- und Interaktionsformen f. Wissen über Formen der Textgliederung und -strukturierung g. Erfahrungswissen über den Textproduzenten h. Wissen über alltagspraktische Handlungs- und Lebensformen i. Wissen über die sinnlich erfahrene Welt j. diskursiv-abstraktes Wissen k. Wissen über Emotionen der Kommunikationsbeteiligten l. Wissen über Bewertungen, Einstellungen m. Wissen über Absichten, Ziele, Motive (iii) Modi des Wissens. Schließlich variiert der Status des epistemischen Gehalts von sprachlich Mitgeteiltem. Auch dies zählt zum verstehensrelevanten Wissen. Busse (1991a, S. 187) unterscheidet zwischen acht Modi, die sich auf einer Skala zwischen den beiden Extrempunkten „für gewiss Gehaltenes“ und „für falsch Gehaltenes“ ansiedeln lassen. Weitere Modi wären Unterstelltes, Vermutetes, für wahrscheinlich oder unwahrscheinlich Gehaltenes und Mögliches oder Unmögliches. Auf solche Modi kann
49
Dies ist freilich abhängig von der syntagmatischen Einbettung des Ausdrucks; „Kernfokus“ darf wohl als synonymer Ausdruck für den in der Kognitiven Linguistik gebräuchlichen Terminus des semantischen „Profils“ („profile“) gelten. – Anders als in Busse 1994 (S. 227) unterscheidet Busse in Busse 1991a (S. 146-147) zusätzlich zwischen „Kernfokus“ und „Fokusumfeld“. Der Begriff „Fokusumfeld“ korrespondiert seinerseits mit dem kognitiven Terminus „Basis“ („base“). „Kernfokus“ und „Fokusumfeld“ (bzw. „Profil“ und „Basis“) bilden in diesem Sinne eine funktionale Einheit. Im genannten Beispiel ist hinsichtlich des Ausdrucks Schule der „Kernfokus“ auf die gesellschaftliche Relevanz der Schule als öffentliche Institution gerichtet. Diese Relevanz erschließt sich erst unter Hinzuziehung des „Fokusumfelds“, wozu hier etwa Hintergrundannahmen über Aufgaben und Funktionen von Schulen zählen.
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III. Das holistische Paradigma
mittels Partikeln, para- oder non-verbalen Signalen hingewiesen werden; manchmal ist die ‚Moduslesart‘ aber auch in Präsuppositionen angelegt.50 Mit einer solchen inneren Differenzierung des verstehensrelevanten Wissens liegt eine erste Bestimmung derjenigen Elemente vor, die den „Raum des Verstehens“ strukturieren. Allerdings handelt es sich dabei eher um eine Phänomenologie der Verstehensrelevanz, die weder konkrete Handlungsanweisungen für empirische Untersuchungen zur Verfügung stellt noch Auskunft darüber gibt, wie die Aspekte im konkreten Prozess der kognitiven Bedeutungskonstruktion zusammenwirken.51 Dennoch ist der Stellenwert dieser Phänomenologie vor dem Hintergrund des skizzierten holistischen Semantikmodells kaum hoch genug einzuschätzen. Busse unterläuft bewusst die Trennung von Sprach- und Weltwissen. Wissen über Verwendungs- und Strukturierungsregeln von Textelementen, also Sprachwissen im engeren Sinne, stellt nur einen verstehensrelevanten Wissenstyp von vielen dar und dient insbesondere zur Steuerung des Aufmerksamkeitsfokus. Morphologische und syntaktische Konstruktionen (man denke an Beispiele wie Zusammenrückungen und Passivkonstruktionen) erweitern den sprachlich evozierten Bereich verstehensrelevanten Wissens (also den Umfang des Kernfokus, Fokusumfeldes, Relevanzbereiches usw.) oder grenzen ihn ein. Damit erweisen sich Sprach- und Weltwissen letztlich als untrennbare Einheit. Ob freilich eine umfassende empirische Analyse im von Busse anvisierten Sinne realisierbar ist, bleibt schon aus Gründen der Zeit- und Ressourcenbeschränkung fraglich (vgl. Dieckmann 1989). Dies stellt m.E. aber keinen prinzipiellen Einwand gegen den Ansatz dar, sondern mag allenfalls dem jeweils empirisch Analysierenden die Grenzen und die Unerschöpflichkeit (im Sinne Demmerlings) der Analyse vor Augen führen. Ein berechtigter Kritikpunkt scheint mir dagegen in der Ausblendung fundamentaler kognitiver Fragestellungen zu liegen, obschon Busse diese insbesondere in jüngeren Arbeiten zunehmend thematisiert (Busse 2005a; 2006, b, c). Schon in frühen Studien (wie in Busse 1991a) scheint vom Ansatz her die kognitive Dimension eine große Rolle zu spielen.52 Denn ‚Ebenen des Wissens‘ verstehensphänomeno50
51 52
Für Fauconniers Theorie von „mental spaces“ sind solche modusanzeigenden Präsuppositionen zentral. Ein Beispiel wäre der Satz Ödipus möchte seine Mutter heiraten (vgl. Fauconnier 1985, S. 49); aufgrund von Präsuppositionen halten nur wir Leser (und nicht Ödipus selbst) den hier zum Ausdruck kommenden Sachverhalt für gewiss. Handlungsanweisungen für eine empirische Umsetzung des vorgestellten Programms gibt Busse an einer anderen Stelle (Busse 1987, S. 264-266). In einer stark an Wittgenstein orientierten, gebrauchstheoretischen Auffassung von Bedeutung ist der Einbezug kognitiver Aspekte jedoch nur bedingt möglich, vgl. hierzu Busse 1995. Trotz Wittgensteins Vorbehalt gegen jedwede Sprechweise von Mentalem oder Kognitivem bin ich gleichwohl der festen Überzeugung, dass der Graben zwischen dem Programm einer gebrauchsbasierten Kognitiven Linguistik und Wittensteins Bedeutungstheorie nicht unüberwindbar ist, vgl. hierzu die brückenschlagenden Studien von Garnham 1980, Sinha 1999 und Zlatev 2003.
3. Das Postulat der Verstehensrelevanz
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logisch als Zusammenspiel zweier Achsen zu charakterisieren, entspricht der in der kognitiven Linguistik üblichen Differenzierung zwischen kognitiven Prozessen und daran beteiligten repräsentationalen Strukturen. So vollzieht sich in zeitlicher Hinsicht das Verstehen eines Satzes als konstruktiver Prozess der konzeptuellen Integration. Daran sind immer repräsentationale Strukturen beteiligt, wie sich etwa am Beispiel der Schule gezeigt hat. Mit der Differenzierung zwischen verschiedenen Einbettungsstrukturen („Kernfokus“, „Fokusumfeld“, „Relevanzbereich“ usw.) hinsichtlich eines aktuellen „Aufmerksamkeitsfokus“ spricht Busse gerade diese repräsentationale Dimension an. Insgesamt verlagert sein gebrauchsbasierter Ansatz damit aber einen guten Teil der bedeutungstheoretischen Erklärungslast auf die Frage, wie bestimmte Ausschnitte verstehensrelevanten Wissens kognitiv relevant werden können. Wie sind konzeptuelle Einheiten, also Ausschnitte verstehensrelevanten Wissens, im Gedächtnis organisiert? Welche kognitiven Fähigkeiten sind an der Verknüpfung konzeptueller Einheiten beteiligt? Konkreter: Wie können etwa Ausschnitte des „Diskurswissens“ bedeutungskonstitutiver Teil des Ausdrucks Schule werden? Und welche Faktoren tragen dazu bei, dass sich konzeptuelle Strukturen verfestigen und mithin zum verfügbaren Repertoire verstehensrelevanten Wissens gehören? Daneben bleibt offen, welche Möglichkeiten es zur empirischen Erforschung dieser Aspekte gibt. Ohne den Fragen im Detail nachzugehen, betont Busse in diesem Zusammenhang, dass der Begriff „Frame“ „innerhalb einer epistemologisch orientierten Semantik ein Fundierungsbegriff erster Ordnung“ (2007, S. 95) sei. An einer anderen Stelle heißt es: Wissensrahmen sind im Gebrauch und Verstehen sprachlicher Zeichen an so elementarer Stelle und Funktion wirksam, dass sprachliche Verständigung und damit Ausdrückbarkeit von Wissen ohne sie nicht denkbar ist. (Busse 2005a, S. 47)
Damit stellt Busse Antworten auf die gestellten Fragen in Aussicht, die sich allesamt auf einen in der Kognitionswissenschaft verankerten Frame-Ansatz stützen. Ein Großteil der vorliegenden Arbeit geht den Grundlagen für einen solchen Beschreibungsansatz nach. Dazu gehören auch inferenztheoretische Überlegungen, auf die ich nun zu sprechen komme. 3.2 Ansätze der psycholinguistischen Verstehensforschung Vordergründig unterscheidet sich die psycholinguistische Verstehensforschung in mehreren Punkten fundamental von der Konzeption einer explikativen Semantik. Kognitive Psychologen und Psychologinnen modellieren Sprachverstehen als einen Informationsverarbeitungsprozess, bei dem der sprachliche Input in eine kognitive Struktur überführt und dabei vermittelt über diverse Prozeduren zu einer bedeutungsgesättigten konzeptuellen Struk-
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III. Das holistische Paradigma
tureinheit wird (vgl. Hoppe-Graff 1984, S. 15). Im Vergleich zu Busses Konzeption scheint damit zunächst eine erhebliche Faktorenreduktion einherzugehen. Der individuellen Kommunikationssituation, so hat es den Anschein, wird hier ebenso wenig Rechnung getragen wie einer differenzierten Betrachtung verschiedener Wissenstypen. Aus der Unterscheidung von sprachlichem Input und konzeptuellem Gehalt ergibt sich zudem die problematische Annahme zweier ‚Sprachen‘, „nämlich der wirklichen äußeren, mit der wir uns verständigen, und einer sozusagen ‚inneren Sprache‘“ (Busse 1994, S. 217). Der Eindruck eines Reduktionismus’ wird zusätzlich noch dadurch verstärkt, dass vielfach eine Trennung von sprachlich-festgelegter, d.h. expliziter (Wort-, Satz-, Text-)Bedeutung und sprachlich nicht ausgedrückter, d.h. impliziter, mithin zu erschließender (Wort-, Satz-, Text-)Bedeutung vorzufinden ist.53 Das führt zu dem grundsätzlichen Defizit einer fehlenden semantiktheoretischen Reflexion der vertretenen Inferenztheorien. Inwiefern kann es aber Bedeutungsaktualisierungen ohne Inferenzbildungen geben? Und welche zeichentheoretischen (und nicht kognitionstheoretischen) Voraussetzungen müssen dafür erfüllt sein? Ich teile die hier zum Ausdruck gebrachte Kritik und Skepsis nur zum Teil. Einige Kritikpunkte lassen sich theorieintern und theoriegeschichtlich entkräften; andere erledigen sich, wenn sie in einem größeren Zusammenhang (wie dem der Frame-Semantik) thematisiert werden. Ich meine aber umgekehrt, dass es ein Defizit wäre, der Rolle von Inferenzen beim Sprachverstehen nicht systematisch Aufmerksamkeit zu widmen. Inferenztheoretische Betrachtungen offenbaren eine bislang nicht beachtete Facette des Postulats der Verstehensrelevanz. Gerade in bedeutungstheoretischer Perspektive gibt es zudem systematische Anschlussstellen an die von Busse vorgeschlagene semantische Epistemologie. Der Begriff der Inferenz ist hierfür von entscheidender Wichtigkeit. Biere (1989, S. 101-124) hat ausführlich dargelegt, wo solche Anschlussstellen zu suchen sind: in der inferentiellen Struktur sprachlicher Zeichen. Die Orientierung an einem pragmatischen Zeichenbegriff macht nämlich die Idee der Inferenzbildung zum Ausgangspunkt von Verstehensprozessen. Ich hatte im letzten Abschnitt schon darauf hingewiesen, dass in einer nichtreduktionistischen Semantikkonzeption bereits der Brückenschlag zu einer kognitiven Sichtweise angelegt ist. Zeichen ‚haben‘ keine Bedeutung; erst verstehende Individuen ‚geben‘ Zeichen Bedeutung, wenn auch meist ohne 53
Die semantisch unreflektierte Vorstellung von sprachlichen Zeichen als Codes, also als festgefügte Form-Inhalt-Verknüpfungen, findet sich durchaus auch in der neueren psycholinguistischen Forschung, etwa dann, wenn von den im „Text explizit angesprochenen Konzepte[n]“ (Strohner 2006, S. 197) die Rede ist oder es heißt, dass „Textverstehen sowohl die die im Text enthaltene Information als auch das beim Rezipienten bereits vorhandene Wissen über die im Text angesprochenen Sachverhalte umfasst“ (ebd., S. 189).
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diesen Prozess eigens zu reflektieren oder zu kontrollieren. Bedeutungen drängen sich dem Verstehenden sozusagen auf und ergeben sich automatisch. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass selbst die alltäglichsten Kategorisierungsleistungen (wie etwa die Zuweisung eines Eigennamens zu einer Person) individuelle Verstehensleistungen bleiben und den Zugriff auf strukturierte Wissenseinheiten erfordern. Daraus leitet sich eine semantische Dimension ab, die genuin kognitive Züge hat. Jeder sprachliche Ausdruck fungiert als Ausgangspunkt von Schlussprozessen, mit deren Hilfe dieser Ausdruck abhängig vom gegebenen Kontext inhaltlich bestimmt wird. Inferenzen dienen also dazu, einen konzeptuellen Gehalt aufzubauen. Busse selbst stellt fest: Kommunikativ geäußerte Zeichen sind […] Orientierungspunkte, die stets in einem vordefinierten, meist schon vorhandenen epistemischen Raum situiert werden. Sie sind Anlässe für einen Verstehenden, die Bedeutung der Äußerung durch Bezugsetzung zu seinem Wissen selbst aufzubauen. Aus diesem Grunde ist Inferenzziehung nicht das Scheidekriterium zwischen Sprachverstehen und außersprachlichem Verstehen, sondern konstitutiv für jedes Zeichenverstehen und damit das Sprachverstehen schlechthin. Inferenz ist nicht mehr als eine Umschreibung für Deutung, und damit für die elementarste Fähigkeit, die Menschen für die Orientierung in der Welt brauchen. (Busse 1994, S. 232)
Wenn jedoch sprachliche Zeichen nur „Orientierungspunkte“ in einem „epistemischen Raum“ (im Sinne des „Raums des Verstehens“) darstellen, Zeichenformen also erst zu Wissen in Bezug gesetzt werden müssen, dann müsste Inferenzen ein zentraler Platz in einer Bedeutungstheorie zukommen. Denn jede nicht-inferentielle Zeichentheorie würde zurückfallen in ein problematisches Verständnis von Zeichen als ‚Behälter‘ von Bedeutung, wie es etwa in der nachrichtentechnischen Code-Metapher oder einem merkmalsbzw. komponentenreduktionistischen Bedeutungsmodell der Fall ist. Festzuhalten ist jedoch, dass der Begriff der Inferenz ein Terminus technicus der psycholinguistischen Verstehensforschung ist. In der linguistischen Semantik haben sich bislang keine eigenständigen Inferenztheorien herausgebildet; Inferenzen kommt hier lediglich eine semantische Kompensationsfunktion zu.54 Spätestens an dieser Stelle stellt sich also die Frage nach dem systematischen Zusammenhang zwischen sprachlicher Bedeutungskonstitution und Inferenzbildung. Es ist das Verdienst der psycholinguistischen Verstehensforschung, die Ubiquität von Inferenzen anhand zweier Elementarprozesse der Bedeutungskonstitution herausgearbeitet zu haben: der Referentialisierung und Kohä54
So etwa im Rekurs auf Abduktionschlüsse im erwähnten semantischen Ebenen-Modell von Dölling. Inferenzen erfüllen hier eine pragmatische Funktion der Bedeutungsanreicherung; das Gebiet der Semantik ist formallogisches Hoheitsgebiet. Ein fundamentaleres Verständnis von Inferenzen haben hingegen Sperber/Wilson (1986) in ihrer Relevanztheorie entwickelt.
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renzetablierung. Referenz betrifft die Bezugnahme eines sprachlichen Zeichens auf relevantes Wissen. Da sprachlich vollzogene Bezugnahmen (Referentialisierungen) kognitive Akte sui generis darstellen und nur im Rückgriff auf Vorwissen gelingen können, sind die Bezugsobjekte, also die Referenten, keine außersprachlichen Gegenstände oder Sachverhalte, sondern kognitive Modelle. Und diese ergeben sich ihrerseits aus etwaigen Inferenzprozessen. Kohärenz geht über den Aufbau eines kognitiven Modells hinaus und betrifft die Verknüpfung einer aufgebauten konzeptuellen Struktur mit einer anderen. Dass semantische Inferenzen dabei auf allen Ebenen der Sprachverarbeitung (des Wortes, des Satzes und des Textes) auftreten und diese Ebenen verschiedentlich aufeinander einwirken, darf als empirisch gesichertes Ergebnis der neueren Forschung gelten.55 Begnügen wir uns an dieser Stelle zunächst mit einem recht allgemeinen Inferenz-Begriff, der offenkundig zum Grundinventar einer explikativen Semantik gehört, und wenden uns seiner kognitionswissenschaftlichen Relevanz für die Semantik zu. Weil Inferenzen wissensbasiert realisiert werden, d.h. Zeichen nur zu dem Wissen eines Zeichenbenutzers oder einer Zeichenbenutzerin in Beziehung gesetzt werden, kommt die Frage auf, wie Wissen im Langzeitgedächtnis abgespeichert ist, damit es beim Sprachverstehen effektiv seine Wirksamkeit entfalten kann. Die kognitive Psychologie hat im Laufe der letzten drei Jahrzehnte eine ganze Reihe experimenteller Verfahren entwickelt, um empirisch gestützte Plausibilitätskriterien für verschiedene kognitive Repräsentationsformate zu entwickeln.56 Schema-orientierten Modellen ist dabei eine bedeutende Rolle zugesprochen worden. Schemata dienen dazu, bestimmte Inferenzen zu motivieren und andere zu blockieren. Die kognitive Wende, wenn man von einer solchen in diesem Zusammenhang reden möchte, besteht aus dieser Sicht in der Annahme einer Zwischenebene, auf der kommunikativ geäußerte Tokens zu kohärenten, konzeptuell wohl strukturierten Einheiten unseres bewussten Erlebens werden. Mit Bezug auf diese Zwischenebene spricht Jackendoff (1983) von einer „projizierten Realität“, einer mentalen Repräsentation von „Realität“, die wir vermittelt über unsere eigentümliche sensomotorische Verfasstheit konstruieren. Zeichen fungieren im Sinne von Busse (siehe letztes Zitat) als „Anlässe“, um mentale Repräsentationen des Gemeinten zu konstruieren. Um Projektionen (und nicht etwa um Abbildungen) handelt es sich deshalb, weil der Vermittlungsprozess zwi55
56
Zu Inferenzen auf der Wortebene vgl. Tabossi 1988, McKoon/Ratcliff 1992, auf der Satzebene McKoon/Ratcliff 1986 und auf der Diskursebene Revlin/Hegarty 1999. Zum Verhältnis dieser Ebenen zueinander halten Hess/Foss/Carroll (1994, S. 80) abschließend fest: „we do not need a separate account for word-level, sentence-level, and discourse-level phenomena. The language processing system is geared to discovering relations among the input items at all levels; coherence drives the system.“ Einen knappen Überblick gibt Coulson 1995, S. 128-131.
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schen ‚Realität‘ und der kognitiven Repräsentation dieser ‚Realität‘ schemageleitet verläuft. Zur Interpretation von Zeichen steht dem Zeicheninterpreten nur typisiertes Wissen zur Verfügung (was u.a. gedächtnisökonomische Gründe hat). Dazu zählen auch Frames, die semantische Inferenzbasen beim Sprachverstehen bilden. Hier zu argumentieren, es handele sich um eine problematische Annahme zweier ‚Sprachen‘, einer äußeren und einer inneren, erscheint mir wenig sinnvoll zu sein. Denn die ‚äußere Sprache‘ verdient gar nicht „Sprache“ genannt zu werden; alle linguistisch relevanten Prozesse sind kognitive Phänomene (im Sinne der Kognitiven Grammatik). Würden sprachliche Bedeutungen keine konzeptuellen Konstrukte darstellen, müsste man voraussetzen, dass Zeichen selbst Bedeutung tragen. In Wirklichkeit findet aber eine Art Übersetzungsprozess in dem Sinne statt, dass Sprachbenutzende auf der Basis aller ihnen verfügbaren Wissensressourcen Zeichen interpretieren. Dabei handelt es sich um einen kognitiven Vorgang par excellence. In den letzten Jahren wurden in der Psycholinguistik insbesondere drei inferenztheoretische Ansätze diskutiert, die sich darin unterscheiden, welche semantischen Funktionen Inferenzen zukommen und welche Faktoren Inferenzen auslösen können. Dass nach kritischer Sichtung viel dafür spricht, die Funktionen von Inferenzen beim Sprachverstehen sehr fundamental anzusetzen und Inferenzauslöser auch in nicht-textualisierten Parametern zu suchen, lässt Inferenzen für eine Frame-Theorie interessant werden und ganz in die Nähe einer explikativen Semantik rücken. Die folgenden drei inferenztheoretischen Ansätze beschreiben Tendenzen psycholinguistischer Theoriebildungen in der über 30jährigen Forschungsgeschichte. Sie sind weder als distinkte Forschungsgebiete noch als Entwicklungsetappen misszuverstehen. Bei der Unterteilung halte ich mich an den Klassifizierungsvorschlag von Rickheit/Strohner 1999, 2003 und Strohner 2006. (i) Minimalistische Inferenztheorien. Vertreter einer minimalistischen Inferenztheorie wie Kintsch (1988), Kintsch/van Dijk (1978) und McKoon/Ratcliff (1992) sehen die Funktion von Inferenzen lediglich darin, lokale Verstehenslücken im Text zu überbrücken und bereits aufgebaute Textrepräsentationen zu korrigieren. Inferenzen sorgen demnach nur für die Herstellung von lokaler Kohärenz, im Ansatz von Kintsch und van Dijk etwa durch die Verbindung unmittelbar aufeinanderfolgender Propositionen. Solche Inferenzen können beispielsweise kausale oder koreferentielle Verknüpfungen betreffen, wie Schwarz (2000) am Beispiel indirekter Anaphora gezeigt hat. McKoon/Ratcliff (1992, S. 440) erkennen daneben auch alle Inferenzen an, die ‚schnell und leicht‘ verfügbar seien. Konzeptmodulation ist deswegen unter Umständen ebenso eine inferentielle Leistung. So könnte beispielsweise der Kontext eines Umzuges nahe legen, dass das Konzept Klavier hinsichtlich
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III. Das holistische Paradigma
besonderer Eigenschaften wie Gewicht und Größe spezifiziert wird (Barclay/Bransford/Franks/McCarrell/Nitsch 1974). Insgesamt ist aber wichtig zu sehen, dass Inferenzen aus minimalistischer Perspektive keine Voraussetzung für Textverstehen darstellen, weil der vorgängige Aufbau mentaler Propositionen bzw. konzeptueller Einheiten nicht auf Inferenzen angewiesen ist. Inferenzen tragen nur zu einem umfassenderen Textverständnis bei. Ein solcher Ansatz verdient deswegen in doppelter Hinsicht minimalistisch genannt zu werden. Zum einen lässt er keine Inferenzen zu, die sich auf die globale Textkohärenz richten, wie etwa darauf, in welchem Zusammenhang der propositionale Gehalt eines Satzes mit dem Thema (oder der Makroproposition im Sinne von van Dijk 1980) des Textes oder übergeordneten Handlungszielen steht; zum anderen grenzt er von vorneherein viele Typen von Weltwissen aus, die als Wissensbasis von Inferenzen in Frage kämen. Die meisten der dreizehn von Busse genannten Wissenstypen können schon deswegen keine Rolle spielen, weil diese nicht-textualisierte Verstehensvoraussetzungen darstellen. Diese sind in Propositionen aber gar nicht repräsentiert. (ii) Maximalistische Inferenztheorien. Dieser Ansatz geht von einer weit fundamentaleren Funktion und semantischen Reichweite von Inferenzen beim Sprachverstehen aus. Inferenzen, so lautet die These, werden auch hinsichtlich Handlungsziele, Intentionen, thematischer und kausaler Zusammenhänge gebildet. Empirische Evidenz haben Bransford, Barclay und Franks (1972) dafür bereits in ihrer frühen Studie erbracht, wenngleich sie hier der Frage keine Aufmerksamkeit geschenkt haben, wann die ermittelten Inferenzen gebildet werden. Aus diesem Grund standen sie vielfach in der Kritik. Für psycholinguistische (kaum aber für semantische) Studien macht es einen Unterschied, ob Inferenzen während des Rezeptionsprozesses („on-line“) oder erst danach („off-line“) gezogen werden. Dass Bransford, Barclay und Franks diese Unterscheidung ignoriert haben, schmälert nicht ihre Einsicht in die Reichhaltigkeit und Konstruktivität von Inferenzprozessen. Inzwischen haben Graesser, Singer und Trabasso (1994) auf der Basis neuer Forschungsergebnisse die maximalistische Position konkretisiert und drei Prämissen formuliert, die die implizite Trennung von Kognition und Kommunikation in der minimalistischen Theorie überwindet. Demnach hat erstens das Motiv der Textrezeption Einfluss auf die Inferenztätigkeit („reader goal assumption“, Graesser/Singer/Trabasso 1994, S. 371). Zweitens kommen Inferenzen beim Versuch der Kohärenzetablierung zustande, und zwar sowohl in lokaler als auch in globaler Reichweite („coherence assumption“, Graesser/Singer/Trabasso 1994, S. 372). Und drittens führt die Frage nach den Gründen von Handlungen und
3. Das Postulat der Verstehensrelevanz
163
Ereignissen, die sprachlich zum Ausdruck kommen („explanation assumption“, Graesser/Singer/Trabasso 1994, S. 372), zu weiteren Inferenzen. Graesser, Singer und Trabosso (1994, S. 385-391) kritisieren damit direkt die Erklärungsinadäquatheit des minimalistischen Modells und führen eine Vielzahl empirischer Studien an, die ihre eigene Position belegen. Ihren Ergebnissen zufolge übernehmen Inferenzen eine viel fundamentalere Funktion beim Sprachverstehen, als dies der minimalistische Ansatz vorsieht. Der bedeutendste Unterschied besteht darin, dass Inferenzen nicht nur dort auftreten, wo es Kohärenz zwischen Textelementen herzustellen gilt, sondern auch dort, wo derartige Kohärenzlücken nicht existieren, wohl aber andere Inferenzbildungen möglich wären. Geht der minimalistische Ansatz von drei Inferenztypen aus, nämlich solchen, die sich auf die Interpretation von koreferentiellen Beziehungen, von Kasusrollen und von kausalen Beziehungen zwischen direkt aufeinander folgenden Propositionen beziehen, so nennen Graesser, Singer und Trabosso (1994, S. 375) neben diesen dreien weitere zehn Inferenztypen. Diese betreffen nicht nur die semantische Beziehung von Textelementen zueinander, sondern die Beziehung von Textelementen zu extratextuellem Wissen. Inferenzen treten auf hinsichtlich a. übergeordneter Handlungsziele (mit welchem Ziel findet eine textuell ausgedrückte Handlung statt?) b. Emotionen von Personen im Text (in welchem Gemütszustand befindet sich eine Person, von der die Rede ist, welche Gefühle hat sie zu einem bestimmten Zeitpunkt vor dem Hintergrund des Dargestellten?) c. kausaler Folgen einer Handlung oder eines Ereignisses (welche weiteren Konsequenzen lassen sich aus dem Dargestellten für bestimmte Personen, Ereignisse etc. ableiten?) d. Teil-Ganzes-Beziehungen (welches Wissen lässt sich auf der Basis meronymischer Relationen, die ein Ausdruck zu anderen unterhält, erschließen?)57 e. Instrumente (welche Instrumente oder Hilfsmittel sind nötig, um eine Handlung durchzuführen oder ein Ereignis zu bewirken?) f. untergeordneter Handlungsziele (welche Teilhandlungen enthalten komplexe Handlungen?) g. Charakteristika von Personen und Objekten (welche relevanten Eigenschaften lassen sich einer Entität sinnvoll zuschreiben?)
57
Graesser, Singer und Trabasso (1994, S. 375) nennen diesen Inferenztyp ein wenig unpassend „instantiation of noun category“. Am angeführten Beispiel wird klar, dass hiermit meronymische Relationen gemeint sind. So inferieren die Testpersonen aus breakfast die Instanzen bacon und egg.
164
III. Das holistische Paradigma
h. Emotionen der Textrezipienten und Textrezipientinnen (welche Emotionen löst ein Text aus?) i. Intentionen des Autors oder der Autorin (welche Absichten hegt der Textproduzent?) j. thematischer Bezüge (welcher inhaltliche Zusammenhang besteht zwischen dargestellten Entitäten und dem übergeordneten Thema oder der Makroproposition im Sinne von van Dijk 1980?). Diese Inferenztypen konnten Graesser, Singer und Trabasso in Lesestudien nachweisen. Es ist deswegen davon auszugehen, dass im Fall der mündlichen Kommunikation weitere Inferenztypen hinzukommen, die durch aktuelle Wahrnehmung gestütztem Wissen und aktuellen Raum-/ Zeitkoordinaten (im Sinne der ersten beiden Wissenstypen in Busses Typologie) Rechnung tragen. Hinsichtlich der Unterscheidung zwischen „off-line“ und „on-line“ gebildeten Inferenzen haben die Autoren empirische Evidenz dafür erbracht, dass Wissen des Typs (c) bis (g) „off-line“ inferiert wird, es sei denn, der Textrezipient verfolgt spezifische Ziele bzw. Interessen beim Rezeptionsprozess oder die Inferenzziehung wird stark durch vorangegangene Inferenzen gestützt. Ob Inferenzen des Typs (h) bis (j) „off-line“ oder „on-line“ gezogen werden, konnte indes nicht abschließend geklärt werden. (iii) Situierte Inferenztheorien. Ausgehend vom „Prinzip der Suche nach Sinn“58 kann aus maximalistischer Sicht das Gesamt an Weltwissen zur semantischen Interpretation sprachlicher Ausdrücke herangezogen werden. Die Funktion von Inferenzen gilt folglich als verstehenskonstitutiv und nicht nur verstehensfördernd. In jüngster Zeit ist innerhalb einer so genannten situierten Inferenztheorie eine Erweiterung des maximalistischen Modells hinsichtlich pragmatischer Aspekte geltend gemacht worden (Rickheit/Wachsmuth 2006). Schon in der grundlegend überarbeiteten Fassung ihres propositionalen Modells begreifen van Dijk und Kintsch (1983) Kohärenzetablierung stärker als einen kommunikativen Prozess. Inferenzziehungen folgen hiernach vorwiegend einem strategischen Kalkül. Die Einführung des Strategiebegriffes dient dazu, neben kognitiven auch kontextuelle Annahmen zu berücksichtigen. Dazu zählen u.a. die situative Einbettung eines Textes, soziale Parameter wie Motive, Normen sowie die Sprechaktfunktion eines Textes (Rickheit/Strohner 1999, S. 285), wobei m.E. fraglich bleibt, wie sich letztere – wenn überhaupt – analytisch bestimmen lässt. Zwei zusätzliche Aspekte lassen sich im maximalistischen Ansatz aus58
Graesser/Singer/Trabasso 1994, S. 372. Dieses „search-after-meaning principle“, wie es im Original heißt, geht auf Bartlett 1932 zurück. Weil mit verschiedenen Methoden experimentell überprüft wird, wie Testpersonen bestimmte Textpassagen semantisch interpretieren, scheint mir „meaning“ angemessener mit „Sinn“ übersetzt zu sein.
3. Das Postulat der Verstehensrelevanz
165
machen, die in van Dijk/Kintsch 1983 kaum zu finden sind. In seinem Inferenzkonzept hat Clark (1978) einmal stärker die bisweilen fast ausgeblendete Rolle des Textproduzenten bzw. der Texproduzentin für Inferenzprozesse thematisiert. Dadurch gelingt es ihm, die Intention eines Textverfassers bzw. einer Textverfasserin inferenztheoretisch stärker einzubinden. Vor allem, so argumentiert Clark (1978, S. 295), seien solche Schlüsse verstehenskonstitutiv, die der Textproduzent bzw. die Textproduzentin selbst intendiert hat. Dies scheint zwar die Gefahr einer intentionalistisch verkürzten Perspektive auf Inferenzen zu bergen, die im Verstehensprozess involvierte Hintergrundannahmen ignoriert.59 Dieser Gefahr beugt Clark aber in späteren Arbeiten (wie in Clark 1996) vor, indem er das gemeinsame Wissen der Kommunikationsbeteiligten als Basis von Inferenzziehungen anerkennt.60 Hintergrundwissen (wie z.B. diskursiv-abstraktes Wissen) mitzuteilen, gehört meist nicht zur kommunikativen Absicht eines Textproduzenten oder einer Textproduzentin, und doch mag es als Inferenzbasis fungieren. Der zweite zentrale Aspekt einer situierten Inferenztheorie macht diesen letzten Punkt deutlich. Inferenzbildungen erfolgen häufig nicht, weil die Textbasis dazu Anlass gibt, sondern weil ein Situationsmodell diese motiviert. Graesser, Millis und Zwaan (1997) und zuvor schon JohnsonLaird (1983) haben die Relevanz von Inferenzziehungen aufgezeigt, die der kommunikativen Situation entspringen, also situativ und sprachhandlungsbezogen motiviert sind. Das betrifft genau jene beiden von Busse herausgearbeiteten Wissenstypen, die im maximalistischen Modell durch das Untersuchungsraster fielen: Personen-/Zeit-/Ortsdeixis einerseits und durch die aktuelle Wahrnehmung gestütztes, also extratextuell gewonnenes Wissen andererseits. Die Rolle des nicht-sprachlichen Kontextes als Inferenzbasis findet im maximalistischen Ansatz kaum Beachtung, da dieser sich am Paradigma der schriftlichen Kommunikationssituation, nämlich des Leseverständnisses schriftsprachlicher Texte orientiert. Kommunikation ist hier reduziert auf Grundelemente der Kommunikationssituation.61 Zwei Typen von Situationsmodellen sind in der Literatur bislang diskutiert worden, die Theorie kognitiver Skripte (Schank/Abelson 1977) und 59 60
61
Vgl. hierzu auch Searles (1979, S. 70-73) Kritik an Grice. Zur Kontroverse zwischen einer konstruktivistischen Inferenztheorie in der Folge von Bransford/Barclay/Franks 1972 und Crothers 1978 und einem intentionalistischen Ansatz wie dem Clarks vgl. Biere 1989, S. 92-100. Die späteren Arbeiten Clarks (wie 1996) konnte Biere freilich nicht berücksichtigen. Grundelemente sind Elemente des Textformulars selbst; extratextuelle Faktoren treten allenfalls stark reduziert auf (vgl. Busse 1991a, S. 137f.). Zur Kompensation findet eine Extropolation auf den „idealtypisch generalisierten Textproduzenten“statt, wie Busse im Anschluss an George H. Mead formuliert.
166
III. Das holistische Paradigma
die Szenario-Theorie (Sanford/Garrod 1981). Skripte und Szenarien stellen globale Wissensstrukturen dar, die durch sprachliche Ausdrücke aktiviert und mithin verstehensrelevant werden können. So mag der Ausdruck Trinkgeld das Restaurant-Skript aufrufen und der Ausdruck Ankläger ein Gerichts-Szenario.62 Relevant ist an dieser Stelle vor allem, dass beide im Sinne der situierten Inferenztheorie zu Handlungs- und/oder Situationsinferenzen Anlass geben, die im Einzelfall nicht allein textuell motiviert sind, sondern auch konkreten, non-verbalen Situationsfaktoren geschuldet sind (vgl. hierzu auch Minsky 1975). Dies widerspricht nicht der Grundidee des maximalistischen Inferenzansatzes, erweitert nur dessen Liste inferenzauslösender Faktoren um textexterne Faktoren. Oder, wie es Rickheit und Strohner in ihrer Kritik an der Metapher des „semantischen Kerns“ formulieren: Die situierte Inferenztheorie dagegen lehnt die Annahme eines situationsunabhängigen semantischen Kerns ab und geht von einer durchgängigen Situationsabhängigkeit der Inferenzbildung aus. (Richkheit/Strohner 1999, S. 290)
Stellt man sich nun abermals die Frage, in welchem Zusammenhang das Postulat der Verstehensrelevanz mit der psycholinguistischen Inferenzforschung steht, liegt die Antwort auf der Hand. Inferenzen sind nicht verstehensstützend, sondern verstehenskonstituierend. Sprachverstehen ohne Inferenzbildung erweist sich als unmöglich, weil Inferenzen auf allen Ebenen der Sprachverarbeitung wirksam sind und sich nicht nur, wie es die minimalistische Variante vorsieht, auf die semantische Korrelation von Textelementen beschränken. Zweifelsohne sind zwar Inferenzen, die eine Proposition bzw. ein Textelement mit einer vorangegangenen Proposition bzw. einem vorangegangenen Textelement verbinden, für Textverstehen unerlässlich. Darüber hinaus gibt es aber starke empirische Evidenz dafür, dass so genannte „extratextuelle Inferenzen“ ebenso maßgeblich am Verstehensprozess beteiligt sind.63 Solche Inferenzen leiten sich von generischen und spezifischen Wissensstrukturen ab, die der Textrezipient bzw. die Textrezipientin vermittelt über kognitive Schemata (wie kognitive Modelle, Frames, Skripts, Szenarios) einbringt, um einzelne Ausdrücke und Ausdrucksketten zu interpretieren (Graesser/Singer/Trabasso 1994, S. 376).
62
63
Rickheit und Strohner scheinen sich unsicher zu sein, ob Frames, Skripts und Szenarios eher einer maximalistischen oder situierten Inferenztheorie zuzurechnen sind. In Rickheit/Strohner 2003 (S. 573f.) gelten diese als Typen von Situationsmodellen, in Rickheit/Strohner 1999 (S. 277f.) hingegen als mentale Modelle, die der Kommunikationssituation nicht gerecht würden. Zur Unterscheidung von „extratextual inferences“ und „text-connecting inferences“ vgl. Graesser/Bower 1990; Singer/Ferreira 1983; Trabasso/Suh 1993. Extratextuelle Inferenzen werden in der Literatur auch häufig unter dem Aspekt der Kohärenz, Textelemente verbindende Inferenzen unter dem Aspekt der Kohäsion betrachtet.
3. Das Postulat der Verstehensrelevanz
167
3.3 Wissenstypen im Vergleich Die Kluft zwischen einer explikativen Semantikkonzeption im Sinne Busses und der psycholinguistischen Verstehensforschung kann m.E. im Rahmen einer situierten Inferenztheorie überwunden werden. Beide fokussieren aus verschiedenen Blickwinkeln dasselbe Problem und stehen dadurch eher in einem komplementären Verhältnis zueinander. Was bei Busse in der Ausrichtung auf inhaltssemantische Bestimmungen die Gestalt epistemologischer Analysen annimmt, läuft in der psychologisch orientierten Inferenztheorie auf Analysen der kognitiven Repräsentation und Verarbeitung semantischen Wissens hinaus. Weil Wissen aber konzeptueller Natur und Resultat inferentieller Prozesse ist, ist der Gegenstandsbereich letztlich identisch. Der bedeutungstheoretischen Konzeption einer explikativen Semantik stehen kognitionspsychologische, empirisch gestützte Untersuchungen zur Inferenzbildung gegenüber, die verschiedene Möglichkeiten zur empirischen Überprüfung von Busses Typologie verstehensrelevanten Wissens bieten. Darin zeigt sich auch der Mehrwert der vorgeschlagenen Verknüpfung zwischen der Theorie einer explikativen Semantik und der empirischen Inferenzforschung. Busses Typologie verschiedener Wissenstypen ist introspektiv entstanden und von heuristischem Wert. Dabei stellt sich allerdings die Frage, wie man genau zu diesen Ergebnissen kommt, wie die angesetzten Wissensformen tatsächlich verstehensrelevant werden und, wenn dies der Fall ist, wie sich diese empirisch überprüfen lassen. Ich denke, dass die maximalistische und situative Inferenztheorie darauf Antworten geben können und Antworten gegeben haben. Nur: Die Inferenzforschung hat ihrerseits nie die unmittelbare Relevanz ihres Ansatzes für eine Semantiktheorie erkannt, weil sie allzu sehr mit psychologischen Fragestellungen beschäftigt war. Auf diese Relevanz kommt es Busse umgekehrt an. Wenn die Rolle von Inferenzen im Rahmen einer explikativen Semantik durch die fundamentale Skepsis gegenüber jedweder substantialistischen Zeichenauffassung augenscheinlich wird, so allerdings ohne dabei auf psychologisch gestützte, empirische Befunde zu rekurrieren. Neben dieser ‚Komplementarität‘ besteht ein zweiter Mehrwert darin, dass beide jeweils einen bestimmten Aspekt herausstreichen, den jeweils anderen dagegen tendenziell vernachlässigen: Die Inferenztheorie betont den Aspekt der Prozessualität, des Vorgangs der Wissenserschließung, während Busse den Aspekt der Repräsentationalität hervorhebt, der beteiligten Wissensformen beim Sprachverstehen. Beide Aspekte gehören aber ganz eng zusammen. Sie in der Verschränkung zu sehen, kommt insofern der ‚Realität‘ des Sprachverstehens ein Stück weit näher. Interessanterweise lassen sich alle von Graesser, Singer und Trabasso (1994) empirisch ermittelten Inferenztypen in Busses Wissenstypen überfüh-
168
III. Das holistische Paradigma
ren. Und auch jener situative Inferenztyp, den Graesser, Millies und Zwaan (1997) in ihrer erweiterten Studie zusätzlich herausarbeiten, findet in den beiden pragmatischen Wissenstypen („Wissen über Raum-/Zeitkoordinaten“ und „durch aktuelle Wahrnehmung gestütztes Wissen“) in Busses Typologie ein Pendant. Der Einwand einer Faktorenreduktion, wie er am Anfang dieses Abschnitts gegen die Inferenztheorie ins Feld geführt wurde, erweist sich somit als unbegründet (vgl. Rickheit/Wachsmuth 2006). Wissenstypen in Busse 1991a
Inferenztypen in GMZ und GST64
64
x Wissen über die aktuelle Kommunikationssituation [GMZ]
Ⱥ
Wissen über /Zeitkoordinaten Ausdrücke
x Wissen über Charakteristika von Personen/Objekten [GST] x Wissen über die aktuelle Kommunikationssituation [GMZ]
Ⱥ
durch aktuelle Wahrnehmung gestütztes Wissen der Kommunikationspartner nicht-textueller Provenienz
x Wissen über Teil-GanzesBeziehungen (meronymisches Wissen) [GST]
Ⱥ
Wissen über Verwendungs- und Strukturierungsregeln von Textelementen
x Wissen über thematische Bezüge zwischen sprachlich Dargestelltem und übergeordneten Themen [GST] x Wissen über die aktuelle Kommunikationssituation [GMZ]
Ⱥ
Wissen über die bereits konstituierte Textwelt
x Wissen über nötige Instrumente zur Durchführung einer Handlung bzw. Bewirkung eines Ereignisses [GST]
Ⱥ
Wissen über gesellschaftliche Handlungs- und Interaktionsformen
x Wissen über thematische Bezüge zwischen sprachlich Dargestelltem und übergeord-
Ⱥ
Wissen über Formen der Textgliederung und -strukturierung
Raumdeiktischer
Die Abkürzungen in Klammern geben an, welcher Publikation der Wissenstyp entnommen ist: „GST“ steht für „Graesser/Singer/Trabasso 1994“, „GMZ“ für „Graesser/Millies/Zwann 1997“.
169
3. Das Postulat der Verstehensrelevanz neten Themen [GST] x Wissen über Intentionen des Autors oder der Autorin
Ⱥ
Erfahrungswissen über den Textproduzenten oder die Textproduzentin
x Wissen über untergeordnete Handlungsziele bzw. Teilhandlungen von Handlungen [GST] x Wissen über übergeordnete Handlungen[GST]
Ⱥ
Wissen über alltagspraktische Handlungs- und Lebensformen
x Wissen über kausale Folgen einer Handlung oder eines Ereignisses [GST]
Ⱥ
Wissen über die sinnlich erfahrene Welt
x [keine Entsprechung]
Ⱥ
diskursiv-abstraktes Wissen
x Wissen über Emotionen von Personen im Text [GST] x Wissen über Emotionen der Textrezipienten [GST]
Ⱥ Wissen über Emotionen Kommunikationsbeteiligten
x Wissen über die aktuelle Kommunikationssituation [GST]
Ⱥ
Wissen über Bewertungen, Einstellungen
x Wissen über übergeordnete Handlungsziele [GST] x Wissen über untergeordnete Handlungsziele bzw. Teilhandlungen von Handlungen [GST] x Wissen über Intentionen des Autors oder der Autorin [GST]
Ⱥ
Wissen über Absichten, Ziele, Motive
der
Tab. 1: Überführung der in Graesser/Singer/Trabasso 1994 (= „GST“) und Graesser/Millies/Zwaan 1997 (= „GMZ“) herausgearbeiteten Inferenztypen in die von Busse gewonnenen Wissenstypen
In Tab. 1 sind die Inferenztypen mit den Wissenstypen aus Busses explikativer Semantik in Beziehung gesetzt. Dabei wird deutlich, dass keine Eins-zueins-Beziehungen bestehen. So betrifft beispielsweise der Inferenztyp „Wissen über die aktuelle Kommunikationssituation“ gleich drei verschiedene Wissenstypen in Busses Typologie (nämlich „Wissen über Raum-/Zeitkoordinaten“, „durch die aktuelle Wahrnehmung gestütztes Wissen“ und „Wissen über die bereits konstituierte Textwelt“). Abgesehen von diesem Inferenztyp
170
III. Das holistische Paradigma
handelt es sich in Busses Typologie meist um generische Wissenstypen, insofern die korrespondierenden Inferenztypen eher spezifischere Wissensaspekte betreffen. In diesem Zusammenhang erstaunt es nicht, dass ein Wissenstyp der explikativen Semantik, nämlich „diskursiv-abstraktes Wissen“, kein Pendant findet. Denn innerhalb der Inferenztheorie liegt bislang keine umfassende Studie zur Verstehensrelevanz von abstraktem Diskurswissen vor. Von Komplementarität einer explikativen und inferenzbezogenen Semantikkonzeption kann man mit Fug und Recht aber erst dann sprechen, wenn beide auch dieselben methodologischen Voraussetzungen zum Ausgangspunkt der Untersuchung machen. Das scheint weitestgehend der Fall zu sein. Erstens unterlaufen sowohl die Konzeption einer explikativen Semantik als auch psycholinguistische Inferenztheorien die Trennung von Sprach- und Weltwissen. Inferenzen kommen nur auf der Basis von Vorwissen zustande, das selbst Resultat sprachlich vermittelter Erfahrungen im weitesten Sinne ist. Aus der Sicht der explikativen Semantik ist zudem jeder Versuch, einen autonomen Bereich reinen Sprachwissens auszumachen, zum Scheitern verurteilt. Zweitens überwinden damit beide, die explikative Semantik sowie die Inferenztheorie, das, was Clark das Dogma der Satzzentriertheit genannt hat.65 Da Untersuchungen isolierter Wörter oder Satzeinheiten nur die Oberfläche desjenigen Wissens berühren, das zur semantischen Interpretation eines sprachlichen Ausdrucks nötig ist, ist rezipientenseitigem Vorwissen und der kontextuellen Einbettungsstruktur vom Ansatz her Rechnung zu tragen. Drittens erübrigt sich damit eine scharfe Trennung zwischen den semantischen Beschreibungsebenen Wort, Satz, Text.66 Kleinste Analyseeinheit bildet eine kommunikative Handlung – und mithin der gesamte Faktorenkomplex, der diese mitbestimmt. Schließlich favorisieren beide Ansätze eine prozessorientierte, antisubstantialistische Sicht auf Bedeutungskonstitution. Sprachliche Bedeutungen stehen am Ende eines dynamisch-kognitiven Konstruktionsprozesses, den Sprachzeichen initiieren. Anstatt eines gleich bleibenden semantischen „Kerns“ sorgen kognitive Routinen für eine effektive Erschließung sprachlicher Bedeutungen. Zur Routine wird Inferenzbildung dann, wenn sie durch rekurrent auftretende Wissens- und Handlungsmuster (also Schemata verschiedenster Art, vgl. Abschnitt V.II) motiviert ist. Wir werden im weite65
66
Clark (1997) spricht in diesem Zusammenhang von „dogmas of understanding“ und fordert eine Erweiterung der Untersuchungsperspektive, die der kommunikativen Komplexität sprachlicher Verstehensprozesse gerecht wird. Insbesondere die Annahmen, es gebe Satzbedeutungen unabhängig von Äußerungsbedeutungen, gerät hier in die Kritik. Vgl. hierzu auch den kurzen historischen Überblick in Rickheit/Sichelschmidt/Strohner 2004, S. 25-28. Rekurrierend auf Hörmann fasst Knobloch (1994, S. 182) zusammen: „[E]s wäre ganz und gar naiv, Sprachverstehen so zu modellieren, als ob es mit Wortbedeutungen begänne, die nach grammatischen Regeln zu Satzbedeutungen verknüpft und dann vielleicht auf die Situation bezogen werden. Zum unerläßlichen Unterbau des Sprach- und Redeverstehens gehört die Sinnorientierung unseres gesamten wachen Lebens.“
3. Das Postulat der Verstehensrelevanz
171
ren Verlauf dieser Arbeit sehen, dass Frames hierbei eine besondere Rolle zukommt. Unter dem Postulat der Verstehensrelevanz, so können wir zunächst festhalten, lässt sich der „Raum des Verstehens“ in zwei Hinsichten genauer beschreiben. Die eine richtet sich auf das Resultat der Bedeutungskonstitution und interessiert sich für die strukturellen und ‚materialen‘ Eigenschaften des involvierten semantischen Wissens. Weil es sich hier weitestgehend um Wissensanalysen im Rahmen konkreter gesellschaftlich-kulturell geprägter „Verstehensräume“ handelt, nimmt diese Untersuchungsperspektive die Gestalt einer semantischen Epistemologie an. Sie inspiziert gewissermaßen die epistemischen ‚Gegenständlichkeiten‘, die einen aktualen „Verstehensraum“ ausfüllen. Die Metaphern „Gegenständlichkeit“ und „Verstehensraum“ sollen natürlich keiner Reifizierung Vorschub leisten, sie sind also nicht dahingehend misszuverstehen, dass ‚Gegenständlichkeiten‘ zeitlich persistent wären und unabhängig von einem Zeicheninterpretanden existierten. Mit „Gegenständlichkeiten“ meine ich hier vielmehr Aspekte einer sprachlich konstituierten Wirklichkeit, die bestimmte Kommunikationsteilnehmerinnen und -teilnehmern zu einem bestimmten Zeitpunkt und im Rahmen eines bestimmten kontextuell-situativen Kontextes miteinander teilen. Die andere, zweite Perspektive richtet sich stärker auf kognitive Prozeduren, die zur Erschließung dieser ‚Gegenständlichkeiten‘ führen. Dies betrifft eine psychologische Sichtweise auf den Prozess der Bedeutungskonstitution, eben Inferenzbildungen solcher Art, wie ich sie thematisiert habe. Ohne das Zusammenwirken prozeduraler und repräsentationaler Verstehensleistungen könnte der „Raum des Verstehens“ nicht existieren. Er existiert nur dadurch, dass inferentielle Prozesse auf der Basis von sprachlich bereits vorher konstituiertem Wissen stattfinden. Anders ausgedrückt: Inferenzbildungen verlaufen wissensbasiert, insofern sie auf Standardrepräsentationen von relevantem Wissen (d.h. auf Frames mit ‚Standardwerten‘) zurückgreifen, und Inferenzbildungen münden selbst in Wissensrepräsentationen (d.h. in Frames mit ‚Standardwerten‘ und ‚Füllwerten‘). Sowohl repräsentationale als auch prozedurale Aspekte tragen dazu bei, den „Verstehensraum“ zu „strukturieren“, wie es Demmerling ausdrückt.67 Keines dieser beiden Strukturierungsprinzipien darf fehlen. Wir müssen einerseits über Hintergrundannahmen und Überzeugungen verfügen, um einen Ausdruck verstehen zu können, und wir müssen andererseits Fähigkeiten besitzen, einen sprachlichen Ausdruck, ganz gleich von welcher Komplexität er ist, mit diesen Annahmen inferentiell in
67
Wie bereits erwähnt, verzichtet Demmerling allerdings darauf, Strukturierungsprinzipien auszuweisen. Dies läge jenseits seines philosophisch-erkenntnistheoretischen Interesses am Sprachverstehen.
172
III. Das holistische Paradigma
Beziehung zu setzen. Repräsentationale und prozedurale Aspekte bedingen sich gegenseitig.
IV. Zeichentheoretische Aspekte Im letzten Kapitel hat sich gezeigt, dass Sprachverstehen ohne den Einbezug des „Raumes des Verstehens“ nur sehr unzureichend erklärt werden kann. Verstehenskonstitutiv sind Inferenzbildungen, an denen in der Regel sehr unterschiedliche Wissenstypen beteiligt sind. Busses Typologie verstehensrelevanten Wissens vermittelt einen Eindruck davon, wie vielfältig die am Verstehen sprachlicher Ausdrücke mitwirkenden Wissensressourcen sein können. Spricht Demmerling mit Blick auf diese Wissensressourcen davon, dass der „Raum des Verstehens“ epistemisch „unerschöpflich“ sei, führt er als Beleg die „Offenheit“ von Bedeutungserschließungen und -zuschreibungen an, ohne diese allerdings zeichentheoretisch näher zu begründen: Eine Bedeutungstheorie, die gleichzeitig erklären können möchte, wie es möglich ist, daß Sprecher etwas meinen und Hörer etwas verstehen, muß den Verstehensraum als ihr offenes Ende betrachten […]. (Demmerling 2002, S. 183)
Bedeutungsbeschreibungen seien schon deshalb letztlich unabschließbar, weil jede sprachliche Bedeutung in ein Netz epistemischer Annahmen über die Welt eingebettet sei. Anders formuliert: Jedes Explicans fordert ein neues Explicandum und kann aus diesem Grund nur vorläufig, nicht aber letztgültig bestimmt werden. Den Ausgangspunkt nachfolgender Überlegungen bildet die These, dass sich die semantische Unerschöpflichkeit des „Verstehensraumes“ in strukturellen Eigenschaften sprachlicher Zeichen niederschlagen muss. Denn dass die Inhaltsseite sprachlicher Zeichen epistemisch unerschöpflich ist, heißt zunächst nichts anderes, als dass sich die Ausdrucksseite zu potentiell unendlich vielen Annahmen in Beziehung setzen lässt, die zum Verstehen relevant sind. Die Unterscheidung zwischen einer sprachlich festgelegten (oder ‚expliziten‘) Bedeutungsdimension auf der einen Seite und einer sprachlich nicht ausgedrückten (oder ‚impliziten‘) Bedeutungsdimension auf der anderen Seite existiert in dieser Konzeption nicht. Sie würde auf eine Trennung von Sprachwissen und Weltwissen hinauslaufen, die sich theoretisch nicht begründen lässt und empirisch zu inadäquaten Erklärungen führt (im Sinne des Postulats der Verstehensrelevanz). Dennoch hat die Dichotomie explizite/implizite Bedeutungsdimension in psycholinguistische Inferenztheorien Eingang gefunden: Inferenzen würden nur auftreten, um die verstehensrelevante implizite Bedeutungsdimension zu erschließen, während der explizit
174
IV. Zeichentheoretische Aspekte
ausgedrückte semantische Gehalt gleichsam offen zu Tage liege. Von diesem weit verbreiteten Mythos vom expliziten Gegegebensein verstehensrelevanter Daten gehen durchaus auch Vertreter maximalistischer Inferenztheorien aus – so etwa Graesser, Singer, Trabasso (1994) und Schnotz (1994), die hier stellvertretend für viele andere stehen: The textbase provides a shallow representation of the explicit text but does not go the distance in capturing the deeper meaning of the text. Deeper meaning is achieved by computing a referential specification of each noun. […] Deeper comprehension is achieved when the reader constructs causes and motives that explain why events and actions occurred. (Graesser/Singer/Trabasso 1994, S. 373). Textverstehen erfordert die Aktivierung nicht nur von sprachlichem, sondern auch von inhaltlichem Vorwissen. Dadurch geht die beim Verstehen konstruierte mentale Repräsentation immer über die explizit vermittelte Information hinaus, und das Verstehen ist jeweils kontextabhängig. (Schnotz 1994, S. 50)
Die Autoren teilen offensichtlich die Annahme einer expliziten, gleichsam selbsterklärenden Textbedeutung, auch wenn diese nicht alle verstehensrelevanten Daten umfasst. Ganz ähnliche Formulierungen finden sich bei Vertretern von situierten Inferenztheorien. Wie ich bereits hervorgehoben habe, kritisieren zwar Rickheit und Strohner (1999) und auch andere (vgl. Rickheit/Wachsmuth 2006) mit der Konzeption einer situierten Inferenztheorie direkt die implizite bedeutungstheoretische Annahme eines „semantischen Kerns“. Die Kern-Metapher war uns ja schon im Zusammenhang mit Bierwischs Modell einer Zwei-Ebenen-Semantik begegnet und hatte dort sowohl in methodologischer als auch in empirischer Sicht zu sehr starken, letztlich unhaltbaren Prämissen geführt. Obwohl die metaphorischen Redeweisen vom „expliziten“ und „impliziten Bedeutungsgehalt“ und von einem „semantischen Kern“ und einer „semantischen Peripherie“ durchaus Ähnlichkeiten aufweisen, halten auch Rickheit und Strohner daran fest, dass es eine explizit gegebene Bedeutungsdimension gebe. Dasselbe gilt für Clark, wie folgende Textpassage belegt: In the study of comprehension, it is important to discover how we draw authorized inferences [that is, inferences the speaker intended the listener to draw, AZ] as we listen to people talk. […] We solve this problem […] using three main ingredients: 1. The explicit content of the sentence. 2. The circumstances surrounding the utterance. 3. A tacit contract the speaker and listener have agreed upon as to how sentences are to be used. (Clark 1977, S. 244)
Ähnlich äußern sich auch Rickheit und Strohner: Ein Aspekt von Inferenzen beim Textverstehen ist die kognitive Repräsentation der Information, die durch den Text übermittelt wird. Durch die expliziten Informationen des Textes werden gewisse semantische Wissensstrukturen aufgebaut, die gegebenenfalls durch Inferenzen erweitert und vervollständigt werden. Dadurch entstehen neue
IV. Zeichentheoretische Aspekte
175
semantische Strukturen, die im allgemeinen von den Textrezipienten als Bedeutung des Textes empfunden werden. (Rickheit/Strohner 1990, S. 534) Sowohl Referenz als auch Kohärenz werden weitgehend mithilfe von Inferenzprozessen hergestellt. Inferenzen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie auf Weltwissen, das im Text nicht explizit angesprochen wird, zurückgreifen. (Strohner 2006, S. 197)
Worin besteht der explizite Bedeutungsgehalt, die explizite Information, die ein Text übermittelt? Offensichtlich ist die Unterscheidung von explizitem und implizitem Bedeutungsgehalt durch eine bestimmte Auffassung von kognitiven Schemata motiviert. Schemata steuern Inferenzbildungen, und jedes Schema enthält, wenn es verstehensrelevant wird, schon ein Set an relevanten Hintergrundannahmen, die – so die fragliche These – selbst nicht erschlossen werden müssten, sondern dem Verstehenden gleichsam unmittelbar präsent sind. Garrod (1985) spricht in diesem Zusammenhang auch von „Pseudo-Inferenzen“. Andere Annahmen, die zwar auch verstehensrelevant sind, sich aber erst in Verbindung mit weiteren Textinformationen aus dem Schema ableiten lassen, müssen hingegen eigens erschlossen werden. Nach Garrod handelt es sich nur bei diesen im engeren Sinne um Inferenzen. Den Unterschied zwischen Inferenzen und Pseudo-Inferenzen kann man sich an Beispielen wie dem folgenden verdeutlichen: Wenn die Leserin oder der Leser eines Textes auf der Basis ihres oder seines textuellen Vorwissens erschließt, warum eine Person nach einem Restaurant-Besuch kein Trinkgeld hat hinterlassen können (etwa weil vorher im Text die finanzielle Verausgabung der betreffenden Person thematisiert wurde), handelt es sich um eine Inferenz; um eine Pseudo-Inferenz handelt es sich hingegen dann, wenn es um andere Annahmen aus dem Trinkgeld-Schema geht, beispielsweise über die Höhe des Trinkgeldes, den Zeitpunkt und die Art und Weise der Überreichens. PseudoInferenzen sind also nicht aus der gegebenen Textbasis motiviert, sondern ergeben sich aus vorgegebenen Schema-Angaben (also solchen, die ich Standardannahmen oder Standardwerte nenne). Ich meine, dass diese Unterscheidungen von Inferenzen und PseudoInferenzen, von explizitem und implizitem Bedeutungsgehalt in die Irre führen und letztlich nicht haltbar sind. Sie sind Relikte eines quasisubstantialistischen Bedeutungsverständnisses, das von einer semantischen Dimension ausgeht, die nicht erst erschlossen werden muss, weil sie eben völlig explizit ist. Wenn Pseudo-Inferenzen, wie Schnotz (1994, S. 176) schreibt, dem Leser oder der Leserin „unmittelbar präsent“ sind, handelt es sich dann etwa nicht um propositional gegliederte Strukturen? Oder heißt „unmittelbar präsent“ etwa vor-prädikativ? Der Schritt zu einer Begriffsontologie Platonischer Prägung wäre dann nur ein kleiner. Dieses Relikt einer quasi-substantialistischen Bedeutungsauffassung, wie es in der Dimension des „expliziten“ Bedeutungsgehalts zum Ausdruck kommt, erweist sich unterdessen als gar nicht so harmlos, wie es zunächst den
176
IV. Zeichentheoretische Aspekte
Anschein hat. Denn offenkundig sind auch andere Dichotomien damit eng verbunden. So stellt Schnotz in dem oben angeführten Zitat „sprachliches Wissen“ „inhaltlichem Vorwissen“ gegenüber, und Rickheit und Strohner suggerieren die Unterscheidbarkeit zwischen semantischen Wissensstrukturen, die ohne Inferenzen aufgebaut werden, und solchen, die inferentiell erweitert sind. Dabei handelt es sich scheinbar um neue Versuche, Abgrenzungen von Sprach- und Weltwissen durchzuführen. Gibt es Dimensionen sprachlichen Wissens (wie vielleicht das Wissen um die richtige Verknüpfung syntaktischer und morphologischer Zeicheneinheiten zu komplexeren Ausdrücken), die sich völlig unabhängig von ihrer semantischen Relevanz beschreiben lassen? Gibt es ferner einen Teilbereich aktueller Bedeutungen, der nicht Resultat inferentieller Prozesse ist? Und warum gibt es ihn (oder eben nicht)? Dass diese Fragen in der inferenztheoretischen Literatur kaum reflektiert sind, liegt m.E. vor allem in der fehlenden semantiktheoretischen Fundierung der empirischen Befunde begründet (vgl. auch Kindt 2001, S. 113). Es mangelt daran, die – wie wir gesehen haben, sehr weit reichenden – Forschungsergebnisse an die Eigenstruktur des sprachlichen Materials rückzubinden.1 Aufgrund welcher semiotischen Voraussetzungen werden die gefundenen Inferenzbildungen möglich? In den folgenden Abschnitten gehe ich Fragen dieser Art nach, indem ich den Bogen zurück zum sprachtheoretischen Dreh- und Angelpunkt der Frame-Semantik schlage: zur holistischen Semantikkonzeption der Konstruktionsgrammatik und der Kognitiven Grammatik. Genauer werde ich zum einen auf das so genannte „symbolische Prinzip“ eingehen, das auch die zeichentheoretischen Voraussetzungen der Frame-Semantik betrifft (Abschnitt II.1.). Ich werde weiterhin argumentieren, dass eine Unterscheidung zwischen konventionellen und kontextuellen Bedeutungsaspekten für semantische Analysen nützlich und nötig ist und dass nicht „Situationen“ und „Hintergründe“ die konventionelle Bedeutungsdimension strukturieren, sondern kognitive „Szenen“ bzw. Frames im Sinne Fillmores (Abschnitt II.2.). Statt von „expliziten“ Bedeutungen lässt sich auf dieser Basis nur sinnvoll von semantischen („Aufruf“-/„Abruf“-)Potentialen sprechen (Abschnitt II.3.).
1
Inwieweit der Mangel auch durch das systemtheoretische Paradigma, in dem sich Rickheit, Strohner und auch Schnotz verorten, begründet ist, sei an dieser Stelle dahingestellt. In Arbeiten wie Rickheit/Strohner 1993 und Strohner 1995 ist allerdings unübersehbar, dass systemtheoretische Beschreibungen von sprachlich-kommunikativen Prozessen offensichtlich ohne genuin linguistische Fundierungen auszukommen meinen; zeichentheoretische Reflexionen sucht man dort vergebens.
1. Sprachliche Zeichen als „Konstruktionen“
177
1. Sprachliche Zeichen als „Konstruktionen“ Mit der Konstruktionsgrammatik und der Kognitiven Grammatik liegen zwei kognitive Sprachtheorien vor, die holistischen Prämissen folgen. Vertreterinnen und Vertreter beider Ansätze gehen davon aus, dass verstehensrelevantes Wissen nicht modular aufgebaut ist.2 Form und Bedeutung bilden innerhalb der Konstruktionsgrammatik und der Kognitiven Grammatik eine „symbolische Einheit“, die von unterschiedlicher Komplexität sein kann. Auch syntaktische und morphologische Kategorien repräsentieren hiernach sprachliche Formen, die (im Sinne Saussures) konventionell mit bestimmten Bedeutungsaspekten assoziiert sind. Das einer solchen Sichtweise auf Sprache zugrunde liegende Theorem lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Die Struktur der menschlichen Sprache lässt sich auf allen Ebenen der Zeichenorganisation (also auch hinsichtlich morphologischer und syntaktischer Aspekte) erschöpfend als ein Inventar von variablen, konventionell miteinander gepaarten Form-Bedeutungsaspekten beschreiben, die „Konstruktionen“ (wie in der Konstruktionsgrammatik) bzw. „symbolische Einheiten“ (wie in der Kognitiven Grammatik) genannt werden. Die Erläuterung dieses Theorems, das ich fortan als „das symbolische Prinzip“ bezeichnen werde, steht im Mittelpunkt der drei folgenden Abschnitte.3 1.1 Das „symbolische Prinzip“ in der Konstruktionsgrammatik und Kognitiven Grammatik Zwar bilden weder die Kognitive Grammatik noch die Konstruktionsgrammatik bislang eine einheitliche, homogene Theorie; dennoch teilen beide Ansätze – und auch die verschiedenen Strömungen innerhalb dieser Ansätze – eine Reihe von sprach- und kognitionstheoretischen Annahmen, von denen 2
3
Es ist irreführend, wenn Schlobinski ohne Einschränkung feststellt, bei der Konstruktionsgrammatik von Fillmore und Kay handele es sich um einen „kompetenzbasierten“ Grammatikansatz, der „von mentalen Repräsentationen sprachlichen Wissens“ (Schlobinski 2003, S. 213) ausgehe und sich insofern von Langackers Paradigma einer Kognitiven Grammatik unterscheide. Wie wir gesehen haben, lehnt auch Fillmore Unterscheidungen wie Sprachwissen vs. Weltwissen und, in generativer Fassung, Kompetenz vs. Performanz ab; die Konstruktionsgrammatik von Fillmore und Kay unterscheidet sich vielmehr von Langackers Ansatz, aber auch von anderen Konstruktionsgrammatiken, darin, dass es sich dabei nicht um ein streng gebrauchsbasiertes Modell handelt. Die von mir gewählte Bezeichnung „symbolisches Prinzip“ lehnt sich an Taylors (2002, S. 38ff.) Terminus „symbolic thesis“ an, der sich in der angloamerikanischen Literatur zunehmend durchsetzt. Ich halte diesen Begriff aber, gerade in der deutschen Übersetzung „symbolische These“, für missverständlich. „Symbolisch“ ist ja nicht die vertretene These, sondern die Beziehung, die zwischen Form- und Inhaltsseite sprachlicher Zeichen der Konstruktionsgrammatik und Kognitiven Grammatik zufolge vorherrscht.
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IV. Zeichentheoretische Aspekte
ich nun allein die zeichentheoretisch relevanten diskutieren werde. Insbesondere teilen alle Ansätze die Ansicht, dass das symbolische Prinzip im oben dargestellten Sinn die Grundlage einer Grammatiktheorie bildet. Weitere grundlegende Voraussetzungen sollen zumindest kurz erwähnt werden. Eine gemeinsame methodische Überzeugung besteht darin, dass linguistische Beschreibungen durchweg gebrauchsbasiert („usage-based“) erfolgen sollten (z.B. Barlow/Kemmer 2000; Langacker 1987, 1988a; Tomasello 2003). Weil es als ausgemacht gilt, dass eine theoretisch begründete Grenzziehung zwischen Semantik und Pragmatik nicht möglich ist, erweist sich auch eine vorgängige Trennung von Kompetenz und Performanz als hinfällig. Bifurkationen dieser Art sind in generativen Ansätzen üblich und nehmen dort in bedeutungstheoretischer Hinsicht die Gestalt von Repräsentationsebenen semantischen Wissens an. Einer solchen theoriegeleiteten Betrachtung von Sprache setzen Vertreterinnen und Vertreter der Konstruktionsgrammatik und der Kognitiven Grammatik eine Analyseperspektive entgegen, die sich am tatsächlichen Sprachgebrauch orientiert. Der damit eingeschlagene Weg führt vom Sprachgebrauch zur Theorie und nicht umgekehrt von der Theorie zum Sprachgebrauch. Das Problem der nachträglichen Vermittlung zwischen verschiedenen Ebenen oder Modulen kommt so erst gar nicht auf. Wenn authentisches Sprachmaterial untersucht wird, geschieht dies oftmals auf der Basis großer Textkorpora. Introspektion – also Plausibilisierungen mittels einzelner, meist selbst konstruierter Beispiele – wird als alleinige Methode zunehmend abgelehnt (vgl. Gries/Stefanowitsch 2006). Korpusanalysen können zuverlässigeren Aufschluss über die Gestalt sprachlicher Konstruktionen geben. Alle Vertreterinnen und Vertreter der Kognitiven Grammatik und der Konstruktionsgrammatik folgen einer konzeptualistischen Position, wonach es kein sprachspezifisches Wissen gibt (Kay 1997, S. 124126). Sprachliches Wissen ist vielmehr ein Epiphänomen, das genauso konzeptuellen Prozessen unterworfen ist wie jede andere Wissensform auch. Unter diesen Vorgaben erweist sich eine Trennung von Sprach- und Weltwissen nicht nur als problematisch; sie ist vom Ansatz her sinnlos. Statt angeborenes sprachliches Wissen anzunehmen, besteht der zunächst provisorische Ausgangspunkt darin, „that human infants are endowed innately with a special ability to induce linguistic structures from linguistic data, that is, to acquire linguistic constructions“ (Kay 1997, S. 126). Dass sprachliche Strukturen induktiv erlernt werden können, diese Fähigkeit des induktiven Lernens selbst hingegen nicht erlernt ist, ist kein methodologisches Dogma, sondern lediglich eine vorläufige Arbeitshypothese, deren Gültigkeit sich erst empirisch zu erweisen hat. Inzwischen liegt aus zahlreichen Studien verlässliche Evidenz für die Richtigkeit dieser Annahme vor (vgl. Elman et al. 1996; Lieven et al. 2003; MacWhinney 1999; Tomasello 2003).
1. Sprachliche Zeichen als „Konstruktionen“
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Bei der Erläuterung der oben genannten These vom „symbolischen Prinzip“ schließe ich im Folgenden keine Strömung der Konstruktionsgrammatik und der Kognitiven Grammatik aus.4 Methodisch unterscheidet sich Langackers Kognitive Grammatik von den konstruktionsgrammatischen Ansätzen v.a. darin, dass er grammatische Einheiten (wie morphologische und syntaktische Kategorien) nicht auf der Formseite von „symbolischen Einheiten“ ansiedelt. Vielmehr resultierten diese aus Form-Bedeutungspaaren als Ganzen (Langacker 2005, S. 104); ich werde auf diesen Aspekt im nächsten Abschnitt kurz zurückkommen. Infolgedessen fokussiert Langackers Theorie stärker semantische Kategorien und Relationen. So wird auch in John Taylors umfassender Darstellung der Kognitiven Grammatik die Theorie „symbolischer Einheiten“ – Taylor spricht, wie gesagt, von der „symbolic thesis“ – zur methodologischen Grundlage erklärt (vgl. Taylor 2002, S. 38-120). Langacker und Taylor thematisieren die für eine Frame-Theorie relevanten semantisch-holistischen Voraussetzungen am ausführlichsten und prägnantesten. Hinsichtlich zentraler zeichen- und grammatiktheoretischer Aspekte, auf die es mir ankommt, gibt es in der Kognitiven Grammatik und den konstruktionsgrammatischen Ansätzen einen entscheidenden Minimalkonsens: Sie opponieren direkt gegen zentrale Voraussetzungen der „mainstream linguistic theory“ (Langacker 2005, S. 101), nämlich der generativen Grammatik. (Dazu gehören all jene Aspekte, die ich in der Auseinandersetzung mit Mehr-Ebenen-Semantikmodellen ausführlich kritisiert habe.) Und sie vertreten allesamt eine konstruktionsgrammatische Position, indem sie dem „symbolischen Prinzip“ folgen. „Konstruktionsgrammatik“, „Radikale Konstruktionsgrammatik“ oder „Kognitive Grammatik“? Um die Konzeption einer Frame-Semantik, wie ich sie hier entwickele, zeichentheoretisch zu fundieren, muss man sich nicht für einen kognitiven Ansatz entscheiden. Obwohl die begriffliche Konfusion groß ist, löst sie sich mit Blick auf Frames ein Stück weit auf, weil die relevanten zeichentheoretischen Voraussetzungen zum großen Teil innerhalb der Schnittmenge aller Ansätze liegen. Diese Schnittmenge beschreibt Langacker folgendermaßen: Cognitive Grammar is both construction grammar and radical, but is called neither. Construction Grammar is not limited to Construction Grammar, but it also includes Cognitive Grammar and Radical Construction Grammar. (Langacker 2005, S. 102)
Was eine „Kognitive Grammatik“ mit einer „Konstruktionsgrammatik“ in der Prägung Fillmores und Kays, aber auch Lakoffs und Goldbergs sowie mit Crofts „Radikaler Konstruktionsgrammatik“ teilt und mithin zu einer übergeordneten Theorie werden lässt, werde ich im nächsten Abschnitt thematisieren. 4
Vgl. den kurzen Überblick in Kap. I. 3.2.
180
IV. Zeichentheoretische Aspekte
Unterschiede zwischen diesen verschiedenen Strömungen existieren vor allem hinsichtlich der spezifischen (aber nicht grundsätzlichen) Bestimmung dessen, was „Konstruktionen“ als grammatische Einheiten auszeichnet, also der Frage, wie das Inventar von „Konstruktionen“ strukturiert ist, und hinsichtlich einiger theoretisch-methodologischer Aspekte, wie etwa der, inwieweit das vertretene Modell eher psychologische oder formale Beschreibungen leisten soll (vgl. Fischer/Stefanowitsch 2006, S. 8-14). Insgesamt kann man festhalten, dass zum einen Uneinigkeit bei der Präzisierung der Form-Seite von „Konstruktionen“ bzw. „symbolischen Einheiten“ herrscht: Welchen Status haben syntaktische Kategorien? Welche syntaktischen Relationen sind anzusetzen? Zum anderen gelten solche Fragen als kontrovers, die auf die Art der Beziehung zwischen „Konstruktionen“ und die Art der Taxonomie von „Konstruktionen“ abzielen (Croft/Cruse 2004, S. 257-290). Abgesehen von diesen Unterschieden ist es wichtig zu sehen, dass alle Ansätze von denselben grundlegenden Voraussetzungen ausgehen, die auch für die Frame-Semantik relevant sind. All of the theories conform to three essential principles of construction grammar […]: the independent existence of constructions as symbolic units, the uniform representation of grammatical structures, and the taxonomic organization of constructions in a grammar. (Croft/Cruse 2004, S. 265)
Dass „Konstruktionen“ (also kleinste Form-Bedeutungspaare) bzw. „symbolische Einheiten“ die Bausteine einer Grammatik bilden, einheitlich repräsentiert und taxonomisch organisiert sind, eröffnet die Möglichkeit, Frames direkt in eine Grammatiktheorie zu integrieren. Diesem Aspekt werde ich allerdings über nachfolgende Überlegungen hinaus nicht weiter nachgehen (vgl. hierzu etwa Goldberg 1995). Stattdessen soll ausschließlich das erstgenannte Prinzip in den Mittelpunkt rücken, nämlich die unabhängige Existenz von „Konstruktionen“ bzw. „symbolischen Einheiten“. Der Terminus der „symbolischen Einheit“ zur Kennzeichnung von Form-Bedeutungseinheiten unterschiedlicher Komplexität stammt aus der Kognitiven Grammatik Langackers, ist aber mit dem Terminus der „Konstruktion“ aus der Konstruktionsgrammatik weitgehend identisch. Fortan werde ich die erwähnten Unterschiede zwischen den Ansätzen ignorieren, zumindest soweit dies möglich und sinnvoll ist, und mich auf die Bestimmung des Konstruktionsbegriffs konzentrieren, insofern er für das Verständnis von Frames von Belang ist. 1.2 Was sind „Konstruktionen“ und „symbolische Einheiten“? Den Status einer Konstruktion hat jede sprachliche Form-Bedeutungseinheit, die sich nicht auf andere Form-Bedeutungseinheiten reduzieren lässt. Konstruktionen gelten als einzige und folglich basale Einheiten eines sprachlichen
1. Sprachliche Zeichen als „Konstruktionen“
181
Systems. Negiert wird somit die Existenz einfacher, atomarer, d.h. nichtzusammengesetzter oder nicht-konstruierter verstehensrelevanter Elemente (wie semantische Primitiva oder semantische Formen), weil diese keine Konstruktionen, sondern allenfalls Elemente von Konstruktionen darstellen. Jede Konstruktion setzt sich analytisch aus drei Elementen bzw., in der Terminologie Langackers, aus drei „grundlegenden Typen von Einheiten“ zusammen: Only three basic types of units are posited: semantic, phonological, and symbolic. A symbolic unit is said to be “bipolar”, consisting of a semantic unit defining one pole and a phonological unit defining the other: [[SEM]/[PHON]]. (Langacker 1991b, S. 16)
Die „phonologische“ und „semantische Einheit“ treten nie für sich, sondern nur zusammen als konstruierte komplexe Einheit auf. Sie konstituieren das, was Langacker eine „symbolische Einheit“ nennt. Der Begriff „symbolische Einheit“ ist ein Terminus technicus der Kognitiven Grammatik Langackers, genauso wie die Termini „phonologische Struktur“ und „semantische Struktur“ (oder alternativ „phonologischer Pol“ und „semantischer Pol“). Im einfachen Fall von lexikalischen Morphemen haben „symbolische Einheiten“ die erwähnte Struktur [[SEM]/[PHON]]. Das Wort Hund bildet beispielsweise insofern eine „symbolische Einheit“, als es eine phonologische Ausdrucksstruktur mit einer semantischen Inhaltsstruktur verbindet. Schon zwei Konstruktionen beinhaltet demnach der komplexe Ausdruck Hunde. Zusätzlich zeigt nämlich die Formseite des grammatischen Morphems [-e] an, dass es sich hierbei um eine Pluralbildung handelt. Die damit verbundene Inhaltsstruktur modifiziert die Konstruktion des lexikalischen Morphems Hund entsprechend. Genauer: Konzeptuell miteinander verschränkt formieren beide Konstruktionen zusammen die komplexe symbolische Einheit [[HUNDE]/[hunde]].5 Dies entspricht einer dreifachen Form-Inhaltskorrelierung, wie sie in der Abb. 1 zum Ausdruck kommt. Eine „symbolische Einheit“ (als Fachterminus der Kognitiven Grammatik) unterscheidet sich von einer „Konstruktion“ (als Fachterminus der Konstruktionsgrammatik) dadurch, dass sie möglicherweise aus mehreren symbolischen Einheiten besteht, während eine Konstruktion nicht weiter zerlegbar ist. Ein Wort, das sich aus zwei Morphemen, also zwei Form-Inhaltspaaren zusammensetzt, hat demnach nicht den Status einer Konstruktion, sondern einer komplexen symbolischen Einheit.
5
Ich folge hier dem Notationsvorschlag Langackers, die Inhaltsseite durch Großbuchstaben und die Formseite durch Kleinschreibung kenntlich zu machen. „Symbolische Einheiten“ sowie deren Teileinheiten werden durch eckige Klammern gekennzeichnet. Dass die phonologische Ausdrucksstruktur mit der semantischen Inhaltsstruktur eine „symbolische Einheit“ bildet, deutet der Querstrich „/“ an.
182
IV. Zeichentheoretische Aspekte komplexe symbolische Einheit komplexe Formstruktur („phonologische Struktur“)
symbol.
[-e]
symbol.
Form
symbol.
Form [hund]
Bedeutung
Bedeutung
[HUND]
[PLURAL]
komplexe Bedeutungsstruktur („semantische Struktur“) Abb. 1: Verbindung zweier Konstruktionen bzw. Form-Inhaltspaare, illustriert am Beispiel Hunde
Was ist symbolisch an einer „symbolischen Einheit“? „Symbolisch“ ist streng genommen nicht die Einheit selbst, sondern die Relation, die zwischen der „phonologischen“ und der „semantischen Struktur“ besteht (weshalb Langackers Terminologie an dieser Stelle unpräzise ist). Während Langacker den Begriff „phonologische Struktur“ sehr weit fasst und damit die kognitive Repräsentation materieller, sinnlich wahrnehmbarer (d.h. graphischer wie auch akustischer) Aspekte eines sprachlichen Ausdrucks im weitesten Sinne (vgl. Langacker 1987, S. 60f.) meint, bezieht er sich mit dem Terminus „semantische Struktur“ auf das Bedeutungskorrelat, das ein Zeichenbenutzer oder eine Zeichenbenutzerin mit der „phonologischen Struktur“ verbindet. Die „semantische Struktur“ konstituiert die Inhaltsseite, die Bedeutung einer „symbolischen Einheit“.6 Ein Form-Bedeutungspaar bildet dann eine „symbolische Einheit“, wenn die Verbindung zwischen Form und Inhalt (also zwischen „phonologischer“ und „semantischer Struktur“) zur Konvention 6
Langacker (etwa 1987, S. 77) unterscheidet zudem zwischen „semantischer Struktur“ („semantic structure“) und „Konzeptualisierung“ („conceptualization“) derselben. Diese Differenzierung ist ungefähr mit der Abgrenzung von wörtlicher (im Sinne von kontextabstrakter) Bedeutung und Äußerungsbedeutung als so genanntes „usage event“ identisch. Freilich handelt es sich dabei nicht um separate Ebenen, sondern um ein Übergangskontinuum. Terminologisch verwirrend ist allerdings die Bezeichnung „Konzeptualisierung“, weil „semantische Strukturen“ ja ebenso intrinsisch konzeptuelle Elemente darstellen. In Abschnitt IV.3.2 komme ich darauf zurück und plädiere in Anlehnung an Allwood 2003 für eine präzisere Bestimmung der „semantischen Struktur“ als Bedeutungpotential.
1. Sprachliche Zeichen als „Konstruktionen“
183
geworden ist, sie sich also durch frequenten Gebrauch so stark verfestigt hat, dass Form-Inhaltszuweisungen gleichsam automatisch erfolgen.7 „Symbolisch“ sind die Beziehungen zwischen Form und Inhalt folglich insofern, als sie arbiträr sind und gelernt werden müssen: Jede Konstruktion basiert auf Konvention. In diesem Punkt schließt sich die Konstruktionsgrammatik der Zeichenkonzeption Saussures an. In anderen Punkten weicht sie indes von dieser ab, wie wir gleich sehen werden. Hinsichtlich der kognitiven Prozesse, die zur Verfestigung symbolischer Strukturen führen, spricht Langacker von „kognitiven Routinen“ (Langacker 1987, S. 100). Deutschen Muttersprachlerinnen und Muttersprachlern fällt es beispielsweise nicht schwer, die phonologische Struktur des Ausdrucks Hund als distinktive Einheit wahrzunehmen. Und es bereitet ebenso wenige Schwierigkeiten, sich den konzeptuellen Bedeutungsgehalt zu erschließen, welches dasselbe Wort evoziert, sowie die Verbindung zwischen Ausdrucks- und Inhaltsseite herzustellen. Auf einem höheren Komplexitätsniveau spielen solche „kognitiven Routinen“ eine wesentliche Rolle, so etwa dann, wenn Frames an Konzeptualisierungsprozessen beteiligt sind. An dieser Stelle kommen wir zu einer ersten Antwort auf die Frage, welche Rolle Frames in Konstruktionen (und symbolischen Einheiten) spielen. Meine These ist, dass ein Frame die konzeptuelle Strukturgestalt der Bedeutungsseite einer Konstruktion (und einer symbolischen Einheit) beschreibt.8 Genauer: Die Formseite eines sprachlichen Zeichens oder einer sprachlichen Zeichenkette ruft einen Frame auf, d.h. ein Sprachbenutzer oder eine Sprachbenutzerin setzt eine sprachliche Form mit einem bestimmten konzeptuellen Gehalt in Beziehung. Darin liegt das evokative Moment der Formseite von Konstruktionen. Der aufgerufene konzeptuelle Gehalt kann äußerst komplexer Natur sein und sich aus einem Verbund zahlreicher Konzepte zusammensetzen. Ein Frame ist ein solcher Verbund von Konzepten. Beispielsweise verfügt im Fall des Ausdrucks Hund ein Sprachbenutzer oder eine Sprachbenutzerin über konzeptuelles Wissen, das Äußerlichkeiten (Farbe, Größe etc.), Fähigkeiten (bellen, beißen, rennen etc.), Einsatzbereiche (Jagd, Wache, Haustier) und diverse andere Überzeugungen über Hunde umfasst. Diese Annahmen formieren insgesamt eine integrale, gestalthafte Frame-Struktur, die in Verstehensprozessen abgerufen wird. Es liegt der Einwand nahe, dass innerhalb eines derartigen Konstruktionsmodells kein Platz mehr für Morphologie und Syntax ist, dass es nicht möglich ist, zwischen morphologischen, syntaktischen und phonologischen 7 8
„As a matter of fact, ‚unit‘ […] refers to a structure which has been entrenched and automated, through frequency of successful use. A structure with unit status can be accessed as an integrated whole, without a person having to pay attention to its internal composition.“ (Taylor 2002, S. 26) Aus diesem Grund werden grammatische Phänomene im Sinne komplexer Formstrukturen und ihrer Korrelierung mit der Bedeutungsseite nicht weiter verfolgt.
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IV. Zeichentheoretische Aspekte
Phänomenen hinreichend zu differenzieren. Dem ist aber nicht so. Lakoff und Croft machen in ihren Bestimmungen des Konstruktionsbegriffs deutlich, dass sowohl die Formseite als auch die Bedeutungsseite weit mehr Aspekte einschließen, als es zunächst in Langackers Redeweise von „phonologischer“ und „semantischer Einheit“ den Anschein hat. Zur „phonologischen Einheit” bemerkt Langacker (2005, S. 104) zwar: „I would of course generalize this to include other symbolizing media, notably gesture and writing.” Aber er macht in Abhebung von allen anderen konstruktionsgrammatischen Ansätzen zugleich deutlich, dass nach seinem Verständnis die Formseite von Konstruktionen keine grammatischen Formen einschließt.9 Grammatik sei vielmehr reduzierbar auf Zusammenfügungen von „symbolischen Einheiten“ als Ganzen.10 Somit stimmt in dieser Hinsicht Langackers Konzeption mit der in Abb. 1 präsentierten Darstellung der Formseite nicht überein. Morphologische und syntaktische Kategorien gelten in der Kognitiven Grammatik nicht als integrale Bestandteile der Formseite; sie sind symbolischen Einheiten vielmehr äußerlich und stellen gleichsam Effekte der Kombination von verschiedenen symbolischen Einheiten dar. Die Alternative zu Langackers Entwurf formulieren Cruse, Fillmore und Kay, Lakoff und Goldberg in ihren Ansätzen. So lautet Lakoffs Definition einer „Konstruktion“: Each construction will be a form-meaning pair (F,M), where F is a set of conditions on syntactic and phonological form and M is a set of conditions on meaning and use. (Lakoff 1987, S. 467)
Syntaktische Eigenschaften gehören demnach ebenso zur Formseite wie pragmatische Eigenschaften zur Bedeutungsseite. Einen weiteren Aspekt fügt Croft (2001, S. 19) hinzu: The term ‚meaning‘ is intended to represent all of the CONVENTIONALIZED aspects of a construction’s function, which may include not only properties of the situation described by the utterance but also properties of the discourse in which the utterance is found […] and of the pragmatic situation of the interlocutors […].
Neben semantischen und pragmatischen Elementen gehören auch diskursfunktionale Elemente zur Bedeutungsseite, und neben phonologischen und syntaktischen Elementen gehören auch morphologische Elemente zur Formseite. Eine symbolische Einheit lässt sich somit zwar weiterhin als ein FormInhaltspaar beschreiben; jedoch kann sowohl auf der Formseite als auch auf
9 10
Croft (2001, S. 62) nimmt an, dass Konstruktionen symbolisch seien, nämlich „a pairing of a morphosyntactic structure with a semantic structure“. Und Goldberg (1995, S. 51) spricht analog von „a pairing between a semantic level and a syntactic level of grammatical functions“. „Grammar is symbolic in nature, where symbolic structures reside in the pairings of semantic and phonological structures. On this view, grammar (or grammatical forms) does not symbolize semantic structure, but rather incorporates it as one of its two poles.“ (Langacker 2005, S. 105)
1. Sprachliche Zeichen als „Konstruktionen“
185
der Inhaltsseite zusätzlich zwischen verschiedenen Informationseinheiten, wie ich sie nennen möchte, differenziert werden. Vergleiche hierzu Abb. 2. Konstruktion Form Informationen syntaktischer Art Informationen morphologischer Art Informationen phonologischer Art symbol.
Verbindung
Bedeutung
Informationen semantischer Art Informationen pragmatischer Art Informationen diskursfunktionaler Art
Abb. 2: Symbolische Einheit als Form-Inhaltspaar (in Anlehnung an Croft 2001, S. 18)
Schon kleinste symbolische Einheiten, nämlich grammatische und lexikalische Morpheme, können sich auf unterschiedliche Informationseinheiten der Form- und Bedeutungsseite beziehen. Während beispielsweise das Morphem -e auf der Formseite die morphologische Informationseinheit [-e] darstellt und auf der Bedeutungsseite eine Pluralbildung anzeigt, in der Gestalt [PLURAL] also eine semantische Funktion übernimmt, kann ein definiter Artikel bedeutungsseitig diskursfunktional eingesetzt werden, insofern er beispielsweise deiktisch auf ein gemeinsames Bezugsobjekt der KommunikationsteilnehmerInnen verweist, sei es in Form einer Deixis am Phantasma, einer Personenoder Ortsdeixis.11 Komplexere symbolische Einheiten wie Guten Tag beinhalten schließlich auf der Formseite (neben morphologischen und phonologi11
Gewisse Ähnlichkeiten zum Bühlerschen Zeichenmodell, wie sie hier anklingen, lassen sich nicht von der Hand weisen. Weil Ausdrucks-, Appell- und Darstellungsfunktion sprachlicher Zeichen im gleichen Maße zeichenkonstitutive Größen darstellen, interferieren semantische und pragmatische Bedeutungsaspekte miteinander. Bühler scheint aber in seinem Organonmodell stärker die Rolle eines konkreten Zeichensenders und -empfängers zu berücksichtigen, als dies beim Konstruktionsbegriff der Fall ist (so argumentiert Reisigl (1999), dass Bühler in seinem Modell die Rolle des Zeichensenders ungleich stärker fokussiert als die Rolle des Zeichenempfängers). Allerdings erschwert dies umgekehrt eine zeichentheoretische Reflexion grammatischer Phänomene.
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IV. Zeichentheoretische Aspekte
schen Informationseinheiten) eine syntaktische Informationseinheit (die ihrerseits aus einfacheren „symbolischen Einheiten“ besteht). Auf der Bedeutungsseite erfüllt diese eine pragmatische Funktion, insofern sich die Phrase etwa hinsichtlich des Sprechakttyps näher bestimmen lässt und eine soziale Deixis einschließt – man darf wohl davon ausgehen, dass sich die KommunikationspartnerInnen siezen. Zugleich mag die Grußformel Guten Morgen diskursfunktional dazu dienen, ein Gespräch zu eröffnen.12 Unterschiede zu Langackers Kognitiven Grammatik, nach der morphologische und syntaktische Informationseinheiten gar nicht auf der Formseite von symbolischen Einheiten zu verorten sind, offenbaren sich hier am deutlichsten. Croft und Cruse (2004, S. 257f.) übersehen diese Differenzen völlig, wenn sie die Darstellung der Formseite in Abb. 2 ausdrücklich mit Langackers Begriff „phonologische Einheit“ gleichsetzen. Ich möchte die diesbezügliche Diskrepanz aber nicht weiter vertiefen. Sie betrifft zwar auch die Grundsatzfrage, bis zu welchem Grad Syntax und Morphologie eine relative Autonomie genießen;13 Croft, Goldberg und auch Fillmore und Kay gestehen grammatischen Formen insofern eine größere Eigenständigkeit zu, als sie davon ausgehen, dass sich diese ohne unmittelbaren Bezug zur Bedeutungsseite von Konstruktionen eigenständig organisieren können. Weil es hierbei aber ausschließlich um die Frage nach der Natur von grammatischen Phänomenen geht und folglich die Inhaltsseite von Konstruktionen nicht tangiert ist, spielt dieser Problemzusammenhang in meiner weiteren Argumentation keine Rolle. Nachfolgend wird nur der Bedeutungsseite von Konstruktionen (und symbolischen Einheiten) Aufmerksamkeit gewidmet. Frames werde ich als spezifische Schemata vorstellen, die die Bedeutungsseite von Konstruktionen und symbolischen Einheiten strukturieren und so dem Sprachbenutzer bzw. der Sprachbenutzerin gebündelte konzeptuelle Informationseinheiten verfügbar machen. Zunächst kann man verallgemeinernd für unseren Zusammenhang sicherlich eines festhalten: Verstehensrelevantes Wissen tritt strukturell immer in Gestalt von Konstruktionen und symbolischen Einheiten auf, und zwar auch dann, wenn es darum geht, phonologische, morphologische oder syntaktische Kategorien einer Sprache zu erklären. Hierin besteht einhelliger Konsens. Lexikon und Grammatik sind folglich im gleichen Maße dem symbolischen Prinzip unterworfen. Beide lassen sich nicht kategorial, sondern nur 12
13
Ob tatsächlich, wie es Croft annimmt, die pragmatische und diskursfunktionale Informationseinheit voneinander zu trennen sind, mag an dieser Stelle offen bleiben. Croft gibt selbst kein Unterscheidungskriterium an. Andere Ansätze, wie die Funktionale Pragmatik, würden in Zweifel ziehen, ob so eine Unterscheidung sinnvoll ist. Hier ist wohlgemerkt von „relativer Autonomie“ die Rede. „Autonomie“ im Sinne einer modularen Organisation nimmt kein Vertreter bzw. keine Vertreterin der Konstruktionsgrammatik an. Diese würde dem „symbolischen Prinzip“ widersprechen.
1. Sprachliche Zeichen als „Konstruktionen“
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graduell voneinander abgrenzen. Dass zwischen Lexikon und Grammatik ein Kontinuum besteht, ist eine Kernthese aller Konstruktionsgrammatiken. A pivotal claim of cognitive grammar is that grammatical units are also intrinsically symbolic. I maintain, in other words, that grammatical morphemes, categories, and constructions all take the form of symbolic units, and that nothing else is required for the description of grammatical structure. (Langacker 1991b, S. 16)
Grammatische Formen erfüllen symbolische Funktionen. Sie haben ein bedeutungsseitiges Korrelat, und sie sind niemals abstrakter Natur (im Sinne von selbstgenügsamen, rein formalen Einheiten). Hierin besteht der fundamentalste Unterschied zwischen einer konstruktionsgrammatisch und einer generativ inspirierten Sprachtheorie. Wie ich bereits festgestellt habe, geht Langacker, wenn er behauptet, dass grammatische Einheiten (wie syntaktische Kategorien) „symbolische Einheiten“ repräsentieren und somit bedeutungsrelevante Funktionen erfüllen, von einem sehr weiten Bedeutungsbegriff aus. Dieser umfasst beispielsweise auch semantische Profilbildungen auf der Satzebene. Alternative syntaktische Konstruktionen, wie variierende Vorfeldbesetzungen in den Beispielsätzen (1) und (2), unterscheiden sich etwa hinsichtlich ihres semantischen Vordergrunds und Hintergrunds. (1) (2)
Birgit geht nach Hause. Nach Hause geht Birgit.
In (2) handelt es sich um eine markierte Vorfeldbesetzung, weshalb die Ortsbestimmung satzsemantisch in den Vordergrund rückt. „Markiert“ heißt zunächst lediglich, dass eine solche Vorfeldbesetzung im Sprachgebrauch weniger frequent auftritt und aufgetreten ist als Subjekt-Prädikat-ObjektKonstruktionen und infolgedessen nicht im gleichen Maße eine verfestigte „Konstruktion“ darstellt wie diese.14 Dass sich die Informationsstruktur und somit die Semantik von (1) und (2) durchaus unterscheidet, zeigt sich daran, dass (2) Anlass zu spezifischeren Inferenzbildungen geben mag. In spezifischen Kontexten könnte aus (2) ableitbar sein, dass Birgit nach Hause und doch nicht woanders hingeht; auf der Basis von (1) sind derartige Inferenzbildungen, die natürlich in situativen Kontexten konkrete Gestalt annehmen, kaum möglich (d.h. zumindest vom SprecherIn oder SchreiberIn weniger intendiert). Wir haben es hier also mit dem interessanten Fall zu tun, dass die Formseite äußerst komplexer Konstruktionen, wie die Konstruktion [Subjekt Prädikat Objekt], zu der (1) zu rechnen ist, und [Objekt Prädikat Subjekt], zu 14
Dies muss freilich nicht so sein, und es wäre denkbar, dass sich die Frequenzverhältnisse umdrehen. Innerhalb eines gebrauchsbasierten Grammatikmodells („usage-based model“) ist das Verhältnis zwischen Deviation und Norm immer ein dynamisches.
188
IV. Zeichentheoretische Aspekte
der (2) gehört, bedeutungsseitige Korrelate haben. Daraus folgert Goldberg: „constructions themselves carry meaning, independently of the words in the sentence“ (Goldberg 1995, S. 1). Weil Satz (1) eine Instanz der Konstruktion [Subjekt Prädikat Objekt] ist, Satz (2) hingegen eine Instanz der Konstruktion [Objekt Prädikat Subjekt], unterscheidet sich der Bedeutungsgehalt beider. Zu ganz ähnlichen Resultaten kommen auch Kay und Fillmore (1999) in ihrer Studie zur Konstruktion „what’s X doing Y?“.15 Beispiele dafür wären im Deutschen Sätze wie die folgenden:16 (3) (4) (5)
Was macht das Buch auf meinem Tisch? Was macht die Fliege in meiner Suppe? Was macht das Staubtuch in meinem Bett?
Die Formseite der idiomatischen Wendung „what’s X doing Y?“ als Ganze beinhaltet syntaktische und semantische Informationseinheiten, die sich weder aus anderen Konstruktionen noch aus Teileinheiten dieser Konstruktion ableiten lassen. Das gilt etwa für die durch die Formseite des Idioms evozierte semantische Informationseinheit, dass das z.B. in (3), (4) und (5) zum Ausdruck gebrachte Vorkommnis unangemessen ist: Das Buch gehört nicht auf den Tisch, die Fliege nicht in die Suppe und das Staubtuch nicht ins Bett. Dass solche Vorkommnisse nicht zu tolerieren sind, die Konstruktion „what’s X doing Y“ also einen appellativen Charakter hat, ist Teil des pragmatischen Informationsgehalts. Ein Ober kann die Frage eines Gastes, was die Fliege in seiner Suppe mache, nicht mit der Feststellung beantworten, sie schwimme. Kay und Fillmore argumentieren, dass dies in der Besonderheit der komplexen Konstruktion „what’s X doing Y“ begründet liege, genauer in ihrem bedeutungsseitigen Informationsgehalt, der nicht durch konversationelle Implikaturen erklärt werden könne (Kay/Fillmore 1999, S. 4). (3), (4) und (5) bilden Instanzen der Konstruktion „what’s X doing Y“. Die Variablen X und Y sind flexibel besetzbar. Auf dieses Verhältnis von Schema und Instanz werde ich nun noch einmal im Zusammenhang mit einer anderen Frage zu sprechen kommen. Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit konventionalisierte sprachliche Ausdrücke (Morpheme, Wörter, Idiome usw.) den Status von „Konstruktionen“ bzw. komplexen „symbolischen Einheiten“ haben? Fischer und Stefanowitsch (2006, S. 6) nennen drei
15 16
Vgl. auch Fillmore/Kay/O`Connor 1988. Hier wird die Konstruktion „let alone“ diskutiert. Allerdings lässt sich die Konstruktion „what’s X doing Y“ nicht einfach ins Deutsche übertragen. Ein Satz wie Was macht Peter? wäre etwa keine Instanz der Konstruktion „what’s X doing Y“. Eine Besonderheit der englischen Konstruktion besteht darin, dass diese das Hilfsverb do in Gestalt einer Verlaufsform beinhaltet. Die englische Konstruktion ist weit flexibler und weniger restriktiv als ihr deutsches Pendant.
1. Sprachliche Zeichen als „Konstruktionen“
189
Bedingungen, die eng mit den drei erwähnten Teileinheiten von Konstruktionen – Form, Bedeutung, symbolische Verknüpfung – zusammenhängen: (i) ihre Form [die der Ausdrücke, AZ] ist direkt mit einer bestimmten Bedeutung oder Funktion gepaart, (ii) ihre Form lässt sich nicht (bzw. nicht völlig) aus anderen Formen der Sprache ableiten, und (iii) ihre Semantik ist nicht (bzw. nicht völlig) kompositionell.
Die erste Bedingung thematisiert die bereits erläuterte symbolische Beziehung zwischen Form und Bedeutung. Auch Aspekte der linearen (phonologischen, morphologischen, syntaktischen) Zeichenorganisation werden unter diesem symbolischen Prinzip behandelt, weil sprachliche Zeichen nur in der Gestalt einer symbolischen Einheit von Form und Bedeutung existieren. Daraus ergeben sich weit reichende Konsequenzen: From the symbolic nature of language follows the centrality of meaning to virtually all linguistic concerns. Meaning is what language is all about; the analyst who ignores it to concentrate solely on matters of form severely impoverishes the natural and necessary subject matter of the discipline and ultimately distorts the character of the phenomena described. (Langacker 1987, S. 12)
Dass Form und Bedeutung eine symbolische Einheit bilden, erinnert stark an Saussures bilateralen Zeichenbegriff. In der Kognitiven Grammatik erfährt Saussures Zeichentheorie allerdings insofern eine Korrektur, als angenommen wird, dass die Form- sowie die Bedeutungsseite durchaus eigenen – wenngleich freilich nicht autonomen – Organisationsprinzipien gehorchen. Form und Bedeutung stehen demnach nicht in einer Eins-zu-Eins-Beziehung zueinander, sondern weisen jeweils interne Strukturen auf, die in Abb. 1 die beiden horizontalen, gestrichelten Linien symbolisieren.17 Frames sind hier bedeutungsseitige Organisationsstrukturen. Die holistische Prämisse, dass weder phonologische noch semantische Strukturen modulare Repräsentationsebenen konstituieren, wird damit nicht tangiert; „the claim is, quite simply, that these levels may be organized in ways that are independent of the role in symbolic relations“ (Taylor 2002, S. 58). Die zweite und dritte der von Fischer und Stefanowitsch genannten Bedingungen, dass sich einerseits die Formseite sprachlicher Konstruktionen, also phonologische, morphologische und syntaktische Eigenschaften, nicht aus anderen Formen ableiten lassen dürfte, und andererseits die Bedeutung einer Konstruktion nicht kompositionell sein dürfe, hängt mit einer gewissen Auffassung von kognitiver Ökonomie zusammen. Der unmittelbare Bezug zum holistischen Paradigma wird daran besonders deutlich. Ausgangsüberlegung ist, dass die Menge der Konstruktionen einer Sprache insgesamt ein strukturiertes Inventar davon bildet, was Sprachbenutzerinnen und Sprachbenutzer über die Konventionen einer Sprache wissen 17
In Langackers Theorie werden diese Relationen genauer als Kodierungsrelationen charakterisiert.
190
IV. Zeichentheoretische Aspekte
(Croft/Cruse 2004, S. 262). Konstruktionen, so wird weiterhin angenommen, sind in einem taxonomischen Netzwerk organisiert, das psychologische Realität beansprucht.18 Damit ein solches Netzwerk systematisch erlernt werden kann, dürfen Konstruktionen aber weder mehrfach auftreten noch aufeinander reduzierbar sein. Jeder Knoten in diesem Netzwerk repräsentiert eine spezifische Konstruktion, die mit anderen Konstruktionen auf einer höheren bzw. niedrigeren Abstraktionsstufe durch Kategorisierungslinks verbunden ist. Anders ausgedrückt: Eine Konstruktion sowie ihre Teileinheiten, also ihre Form- und Bedeutungsseite, fungieren als Schemata, insofern weniger abstrakte Konstruktionen bzw. deren Teileinheiten in ihnen instantiiert sind; und umgekehrt fungieren eine Konstruktion sowie ihre Teileinheiten zugleich als Instanzen, insofern sie selbst in abstrakteren Konstruktionen instantiiert sind. Schema-Instanzbeziehungen kommen dabei durch die spezifischen Kategorisierungslinks zustande, die Konstruktionen miteinander relationieren. Die Annahme, dass in diesem Sinne grammatisches und semantisches Wissen in einem einheitlichen Format, nämlich Konstruktionen, organisiert ist, begründet das holistische Paradigma. Alle Aspekte verstehensrelevanten Wissens, die Busse (1991a, S. 139-159; vgl. Abschnitt II.3.1) nennt, müssten demzufolge in Gestalt von Konstruktionen und Kategorisierungslinks (SchemaInstanzbeziehungen) zwischen Konstruktionen kognitiv repräsentiert sein. Was dabei eine Konstruktion und den Aufbau komplexer Konstruktionen möglich macht, ist unsere Fähigkeit zu kategorisieren, also SchemaInstanzbeziehungen mannigfaltiger Art gleichsam automatisch herzustellen.19 Ein so verstandener sprachkonstruktivistischer Ansatz kommt (anders als die generative Grammatik) ohne Regeln aus. Er baut allein auf die menschliche Kategorisierungskompetenz auf, die sich ebenso in anderen Domänen – wie z.B. der kognitiven Verarbeitung visueller oder auditiver Daten – als konstitutiv erweist. Zur Illustration zwei Beispiele. Wie bereits erwähnt, bildet das lexikalische Morphem Hund eine Form-Bedeutungseinheit der Art [[HUND]/ [hund]]. Mit welchen Knoten sind nun die Form- und Inhaltsseite dieser „symbolischen Einheit“ verbunden? Die Formseite [Hund] ist zunächst im Schema [Nomen] instantiiert, und dieses bildet, auf einer noch höheren Abstraktionsstufe, eine Instanz im Schema [Wort].20 Über diese Kategorisierungslinks werden syntaktische Eigenschaften des lexikalischen Morphems Hund 18 19 20
Das ist bei allen vier genannten Ansätzen der Fall, wenngleich Kay diesen Anspruch an einer Stelle relativiert (Kay 1997, S. 129). Zur Relevanz von Kategorisierungen auf allen Ebenen der Zeichenorganisation vgl. Taylor 2003. Solche abstrakten „symbolischen Einheiten“ wie [Nomen] und [Wort] erlernen Kinder induktiv auf der Basis des sprachlichen Inputs. Einmal erlernt, bilden die Einheiten Schemata, die konkrete morphosyntaktische Funktionen übernehmen. Zum Erwerb von Wortarten vgl. Behrens 2005.
1. Sprachliche Zeichen als „Konstruktionen“
191
festgelegt (vgl. Abb. 3, Beispiel (b)). Von der Bedeutungsseite nenne ich nur die zwei wichtigsten Schema-Instanzbeziehungen, nämlich Hyperonym- und Hyponymbeziehungen (vgl. Abb. 3, Beispiel (a)). Neben anderen werden uns diese im engeren Zusammenhang mit Frames wieder begegnen. Die semantische Einheit [HUND] fungiert einerseits als Schema für untergeordnete Bezeichnungen wie Dogge, Golden Retriever, Schoßhund; andererseits bildet sie selbst eine Instanz im Schema [TIER] (welches wiederum eine Instanz im Schema [LEBEWESEN] bildet usw.). Je abstrakter bedeutungsseitige Schemata sind, desto unspezifischer fallen die semantischen Spezifikationen aus. In Abb. 3 sind die erläuterten Schema-Instanzbeziehungen auf der Bedeutungsseite unter Spalte (a) abgebildet, auf der Formseite unter Spalte (b). Die Pfeile symbolisieren Kategorisierungslinks und zeigen den steigenden Abstraktionsgrad von einer Instanz zu einem Schema an.
(a)
(b)
(c)
[LEBEWESEN]
[Wort]
[Satz]
[TIER]
[Nomen]
[Subj. Verb Präp.-Obj.]
[[HUND] /
[Hund]]
[Subj. beißen Präp.-Obj.]
[[DOGGE]
/
[Dogge]]
[Subj. beißt ins Gras]
Abb. 3: Schema-Instanzbeziehungen zwischen (a) Bedeutungsseiten von Konstruktionen, (b) Formseiten von Konstruktionen und (c) Konstruktionen als Ganzen, illustriert am Beispiel des Wortes Hund und des Idioms jmd. beißt ins Gras
Über die unter (a) und (b) dargestellten wortspezifischen Konstruktionen hinaus ist ein Idiom, das ein transititves Verb wie ins Gras beißen enthält, durch vier Knoten im Netzwerk repräsentiert (vgl. Abb. 3, Beispiel (c)). Erstens muss die idiomatische Konstruktion k1 ins Gras beißen als Ganze einen eigenen Knoten bilden, weil sie semantisch idiosynkratisch ist, d.h. ihre Bedeutung sich nicht kompositionell aus der Kenntnis der symbolischen Einheiten Gras und beißen ergibt. Ein zweiter Knoten ist abstrakterer Art und betrifft die hier relevante verbspezifische Konstruktion k2 [Subjekt beißen Objekt]. Noch
192
IV. Zeichentheoretische Aspekte
abstrakter ist eine dritte Konstruktion k3, die die Valenzeigenschaft des Verbs beißen abbildet, ein Subjekt und ein (Präpositional-)Objekt zu fordern: [Subjekt Verb Präp.-Objekt]. Schließlich ist diese ihrerseits eine Instanz im hierarchiehöchsten Knoten k4 [Satz]. Keine der vier Konstruktionen kann auf eine andere zurückgeführt werden.21 Miteinander verbunden sind sie durch Schema-Instanzbeziehungen. Ein Idiom bildet somit eine recht komplexe symbolische Einheit: Auf der niedrigsten Abstraktionsstufe befindet sich k1, dessen Form- und Inhaltsseite Instanzen des Konstruktionsschemas k2 bilden, das seinerseits als Instanz von k3 und dieses wiederum als Instanz von k4 fungiert, dem abstraktesten, ‚höchsten‘ Knoten des Netzwerkes. Auch diese Kategorisierungslinks sind in Abb. 3 unter (c) durch einseitig gerichtete Pfeile dargestellt. Anders als in (a) und (b) betreffen hier Schema-Instanzbeziehungen die Konstruktion als Ganze. Aus den drei Beispielen in Abb. 3 ist ersichtlich, dass die Komplexität von Konstruktionen in natürlichen Sprachen erheblich variiert. Während Morpheme kleinste Konstruktionen darstellen, die beispielsweise im Fall der Flexion bedeutungsrelevante Aspekte hinsichtlich Zeit, Person, Modalität usw. indizieren können, sind Idiome oder ganze Sätze recht komplexer Art (Langlotz 2006). Und auch abstrakte syntaktische Kategorien, wie beispielsweise Wortarten, bilden nicht weniger Konstruktionen, so dass man grundsätzlich mit Croft (2001, S. 17) festhalten kann: „everything from words to the most general syntactic and semantic rules can be represented as constructions“. Ein Morphem, ein komplexes Wort, ein Idiom oder einen Satz in Gestalt einer Konstruktion einheitlich zu repräsentieren, heißt, diese in eine symbolische Einheit zu überführen, die sich aus den drei gerade erläuterten Elementen zusammensetzt, nämlich aus einer Formseite, einer Bedeutungsseite und einer symbolischen Beziehung, durch die diese beiden Seiten miteinander assoziiert sind. 1.3 Konstruktionen im „Raum des Verstehens“ Bevor ich auf den Zusammenhang von Frames und Konstruktionen und symbolischen Einheiten zu sprechen komme, ist es sinnvoll, kurz den holistischen Zusammenhang zu rekapitulieren, in dem der „Raum des Verstehens“, eine konstruktionsgrammatische Zeichenkonzeption sowie eine semantischepistemologische und inferenztheoretische Perspektive auf Sprachverstehen zu sehen sind. In den letzten Abschnitten habe ich jeden dieser Aspekte ausführlich thematisiert, konnte dabei aber kaum auf den gemeinsamen Bezug 21
Umgekehrt können aber – um nur ein Beispiel zu nennen – alle Verbalphrasen mit einem transitiven Verb auf k3 und k4 zurückgeführt werden.
1. Sprachliche Zeichen als „Konstruktionen“
193
zum holistischen Paradigma eingehen. Dies soll an dieser Stelle nachgeholt werden. Wenn sich der „Raum des Verstehens“, von dem Demmerling sprach, dadurch auszeichnet, dass er sich phänomenologisch nicht in voneinander unabhängig bestehende Teilaspekte untergliedern lässt, sondern vielmehr stets als Einheit von Vielfalt präsent ist – als Einheit von kognitiven Fähigkeiten, Annahmen über die Welt, nicht-propositional gegliederten Körperwahrnehmungen usw. –, zieht dies auch in sprach- und kognitionstheoretischer Hinsicht Konsequenzen nach sich. Die vielleicht wichtigste Konsequenz besteht darin, eine Dichotomie zwischen Sprachwissen und Weltwissen aufzugeben, um so den Weg für eine konzeptualistische Sicht auf Sprache zu ebnen. Die spezifischeren Konsequenzen für eine Semantiktheorie kommen dabei in einer semantisch-epistemologischen Konzeption einerseits und einem inferentialistischen Verständnis der Bedeutungskonstruktion andererseits zum Ausdruck. In epistemologischer Perspektive geht es um die Bestimmung und innere Differenzierung derjenigen Segmente des Weltwissens, die am Aufbau einer semantischen Repräsentation („semantischen Einheit“ bzw. „semantischen Struktur“) aktuell beteiligt sind, die also ein sprachlicher Ausdruck bei einem Sprachbenutzer oder einer Sprachbenutzerin kognitiv aufruft. Holistisch ist hierbei die Ausgangsvoraussetzung, dass dieses ‚Evokationspotential‘ der Formseite sprachlicher Zeichen nicht durch vor-konzeptuelle Faktoren restringiert wird.22 Eine Inferenztheorie thematisiert die Art und Weise, wie ein solcher Prozess der kognitiven Aktivierung von Wissen verläuft. Die Ablehnung semantischer Primitiva (in welcher Form auch immer) zwingt dazu, den Aufbau repräsentationaler Strukturen als alleiniges Ergebnis inferentieller Prozesse zu verstehen. Hierbei kommt die holistische Position auch in der Ablehnung einer nicht-konzeptuellen Bedeutungsebene zum Ausdruck; sprachliche Zeichen werden qua Inferenzen konstruiert und erhalten so die Gestalt „symbolischer Einheiten“. Schon beim Verstehen einer so einfachen symbolischen Einheit wie [[HUNDE]/[hunde]]23 greifen fünf Inferenzprozesse ineinander, die sich auf unterschiedliche Teilaspekte der Zeichenkonstitution richten: x Phonologische Einheiten. Inferenzen sind nötig, um Teile der Formseite (seien diese phonologischer, graphischer oder anderer Art) sprachlicher Zeichen als diskrete Entitäten zu identifizieren, so wie hier die Einheiten [hund] und [-e]. 22 23
Der Begriff „Evokationspotential“ ist ein Terminus technicus, den ich in den Abschnitten IV.3.2 einführe. Er verbindet Fillmores Konzept der Frame-Evozierung mit Allwoods Vorschlag, sprachlichen Ausdrücken ein „Bedeutungspotential“ zuzuschreiben. Diese Einheit besteht – wie vorhin thematisiert – aus zwei Konstruktionen, also aus zwei ineinander integrierten symbolischen Einheiten. Formal ausgedrückt: [[[HUND] [-E]]/[[hund][e]]].
194
IV. Zeichentheoretische Aspekte
x
Semantische Einheiten. Analog formiert sich die Inhaltsseite sprachlicher Zeichen qua Inferenzen vor dem Hintergrund relevanten Hintergrundwissens (kognitiver Domänen). Das betrifft die Einheiten [HUND] und [-E]. x Symbolische Beziehungen. Form und Inhalt bilden eine konventionell verbundene Einheit, die durch einen symbolischen Konnex erst eigens gestiftet wird. Für die symbolische Beziehung zwischen [HUND] und [hund] gilt das im gleichen Maße wie für die symbolische Beziehung zwischen [-E] und [-e]. x Syntagmatische Beziehungen. Komplexe semantische (und auch phonologische) Einheiten entstehen dann, wenn der konzeptuelle Gehalt einer semantischen (bzw. phonologischen) Einheit mit dem konzeptuellen Gehalt einer anderen semantischen (bzw. phonologischen) Einheit kombiniert und in eine „Kompositionsstruktur“ inferentiell integriert wird, hier einerseits [HUND] und [-E] zu [HUNDE] und andererseits [hund] und [-e] zu [hunde].24 x Schema-Instanzbeziehungen. Jedes Form-Inhaltspaar (sowie die Form- und Inhaltsseite für sich genommen) ist dadurch spezifiziert, dass es als Instanz oder Schema eines anderen Form-Inhaltspaares (bzw. dessen Formoder Inhaltsseite) figuriert. Schema-Instanzbeziehungen sorgen dafür, dass sich phonologische und semantische Einheiten herausbilden können. Insofern sind solche Kategorisierungsbeziehungen nicht von jenen Inferenzprozessen unterscheidbar, mit denen phonologische und semantische Einheiten konstruiert werden. Unter zeichentheoretischen Gesichtspunkten bestätigt sich hier die These, die bereits im Abschnitt III.3 im Anschluss an Busses explikative Semantik und die psycholinguistische Inferenztheorie formuliert wurde: Inferenzen zu bilden, ist die fundamentalste Fähigkeit, die Sprachverstehen zugrunde liegt. Jede Form sprachlicher Kategorisierung ist inferentieller Art. Sie ist auf Wissen angewiesen und kann zugleich neues Wissen schaffen. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal auf die Unterscheidung von explizitem und implizitem Bedeutungsgehalt zurückkommen, die man in der inferenztheoretischen Literatur oft findet und die ich am Anfang dieses Kapitels bereits problematisiert hatte. Auf der Basis eines kognitivkonstruktivistischen Zeichenmodells, das ich gerade in Anlehnung an die Konstruktionsgrammatik und Kognitive Grammatik dargestellt habe, lässt sich ein quasi-substantialistisches Zeichenverständnis, wie es in der Redeweise von einer expliziten Bedeutungsdimension zum Ausdruck kommt, nicht mehr 24
„Syntagmatic combination is the integration of two or more component structures in semantic, phonological, or symbolic space to form a composite structure of greater size in the same domain. The integration of symbolic structures involves their integration at both the semantic and the phonological poles.“ (Langacker 1987, S. 94; Fettdruck im Original kursiv)
1. Sprachliche Zeichen als „Konstruktionen“
195
rechtfertigen. Eine Unterscheidung zwischen explizitem und nur implizitem Gegebensein von (Teilen der) Textbedeutungen unterstellt nämlich, dass es eine Dimension der Zeichenkonstitution gebe, die nicht-inferentieller Art ist. Wenn aber schon Konstruktionen – also kleinste Form-Bedeutungspaare – Produkte von Inferenzen darstellen, woher soll dann eine explizite, gleichsam selbst-gegebene Bedeutungsdimension stammen? Ausgangspunkte inferentieller Prozesse bilden maximalistischen Inferenztheorien zufolge Bezugnahmen auf Handlungsziele, Intentionen sowie thematische und kausale Zusammenhänge zwischen Textelementen, und wenn man situativen Inferenztheorien folgt, darüber hinaus auch Bezugnahmen auf Situationsmodelle. Ist der Blick hier auf abstrakte und z.T. außersprachliche verstehensrelevante Faktoren gerichtet, darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass schon sprachliche Zeichen selbst – und zwar unabhängig von ihrer Komplexität – kognitive Eigenleistungen von Sprachbenutzern und Sprachbenutzerinnen darstellen.25 Dass sich offensichtlich solche basalen Inferenzen, die am Aufbau einer jeden symbolischen Einheit beteiligt sind, schwer empirisch nachweisen lassen, berechtigt keineswegs zu dem Schluss, hierbei handle es sich um explizit gegebene Textinformationen. Denn sobald wir von Konstruktionen als Basiseinheiten von Grammatik und Lexikon ausgehen, wird der Begriff der Inferenz zu einem Fundierungsbegriff erster Ordnung. Inferenzen auf der Ebene von Konstruktionen zu bestimmen, scheint primär ein empirisches Problem der Operationalisierung zu sein; die Frage nach Existenz oder Nicht-Existenz von Inferenzen ist hierbei nicht tangiert. Unterscheiden lassen sich allerdings verschiedene Grade kognitiven Aufwands. Der kognitive Aufwand, der nötig ist, um einen symbolischen Konnex zwischen sprachlichen Form- und Inhaltsseiten zu stiften, steigt in dem Maße, wie die innere Komplexität von Form-Bedeutungspaaren wächst. Zwar ist die Inhaltsseite einer Konstruktion aus Inferenzen hervorgegangen und hat deswegen einen konzeptuellen Status; doch diese Bildung einer semantischen Einheit verläuft stark automatisiert und ist zunächst kaum als inferentielle Leistung erkennbar. Das ist auch noch bei der Verbindung zweier Konstruktionen zu einer symbolischen Einheit der Fall, wie im Fall der angeführten 25
Was ich hier wegen der Relevanz für die weitere Argumentation anhand des Konstruktionsbegriffs herausgearbeitet habe, nämlich dass Zeichen Ergebnisse konstruktiver, inferentieller Leistungen von ZeichenbenutzerInnen sind, wurde spätestens seit Humboldt an verschiedenen Stellen betont. Wegener (1885, S. 88f.) bemerkt, dass „in den sprachlichen Worten und Zeichen zunächst nichts [liege], was seiner Natur nach Substanz ausdrückte“, jedes Wort sei vielmehr ein Imperativ, der ein Anschauungsbild in unser Bewusstsein führe. Etwa siebzig Jahre später schreibt Hartmann (1958, S. S. 158f.): „Die Sprache soll das Wissen nur wecken, uns daran erinnern – wir würden sagen: sie soll nur eine Denkanweisung […] zum Gedankenvollzug geben.“ Vgl. hierzu Scherner 1994, der mit demselben Tenor betont, dass Signifikat und Signifikant der „Dynamik einer komplexeren inferentiellen Textverarbeitung“ (Scherner 1994, S. 321) entsprängen.
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IV. Zeichentheoretische Aspekte
komplexen symbolischen Einheit [[hunde]/[HUNDE]]. Auf der Satzebene sind allerdings die beteiligten kognitiven Routinen bereits weniger ausgeprägt. Der geringe kognitive Aufwand, der für den Aufbau einer Konstruktion nötig ist, hat wohl in der psycholinguistischen Inferenztheorie dazu beigetragen, die inferentielle Leistung bei der Bildung von Konstruktionen zu übersehen. Vor dem Hintergrund, dass in der inferenztheoretischen Verstehensforschung (egal ob minimalistischer, maximalistischer oder situativer Provenienz) äußerst komplexe Form-Bedeutungsbeziehungen fokussiert, jedoch semiotisch nicht genauer charakterisiert werden, hat die Analyse von Konstruktionen in der Kognitiven Grammatik und Konstruktionsgrammatik eher grundlagentheoretischen Charakter. Ich vertrete hier die Ansicht, dass die psycholinguistische Inferenztheorie und die kognitive Theorie symbolischer Einheiten in ein komplementäres Verhältnis gerückt werden können und dass dies zu einem differenzierteren Verständnis semantischer Konzeptualisierungsprozesse beiträgt. Einerseits kommt der Inferenzbegriff in der Konstruktionsgrammatik und der Kognitiven Grammatik zu kurz, obgleich er im konstruktivistischen Zeichenmodell angelegt ist. In der Inferenztheorie werden umgekehrt die zeichen-, kognitions- und grammatiktheoretischen Grundlagen unzureichend reflektiert. Die Theorie von Konstruktionen bzw. symbolischen Einheiten kompensiert dieses Defizit. Darüber hinaus lassen sich aus den vorangegangenen Überlegungen einige wichtige Schlussfolgerungen ziehen, die den Status einer Frame-Semantik betreffen. Frame-Semantik ist nicht nur eine hilfreiche Methode zur Bestimmung des semantischen Gehalts von sprachlichen Ausdrücken. Sie ist außerdem systematisch in einer umfassenden Grammatik- und Sprachtheorie verankert (wenngleich ich diese hier nicht im Detail behandeln kann). Frames einerseits als integrale Bestandteile von „Konstruktionen“ und. „symbolischen Einheiten“ zu betrachten und anderseits als Resultate weltwissensbasierter Inferenzen zu begreifen, beugt einem semantischen Reduktionismus vor. Denn semantische Prinzipien und Prozesse (wie in einer Mehr-EbenenSemantik) zu autonomisieren und eine modulare Unabhängigkeit von syntaktischen, morphologischen, phonologischen usw. Prinzipien und Prozessen zu stipulieren, heißt, ihnen einen „konstruktiven“ – und mithin verstehensrelevanten Charakter im umfassenden Sinn – abzusprechen. In einem solchen Modell bleiben konzeptuelle Prozesse immer nur sekundäre Phänomene und setzen erst dann ein, wenn auf einer Beschreibungsebene rekursive Regeln keine Anwendung mehr finden. Regeln – zumindest das, was generative GrammatikerInnen darunter verstehen – bilden den Dreh- und Angelpunkt reduktionistischen Vorgehens. Konstruktionsgrammatische Ansätze verzichten deshalb auf einen regelbasierten Erklärungsansatz. An seine Stelle setzen sie Kategorisierungslinks, die zwischen Schemata und Instanzen bestehen. Beide, Schemata und Instanzen, haben den Status von Konstruktionen, die als
1. Sprachliche Zeichen als „Konstruktionen“
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Basiseinheiten unserer sprachlichen Kompetenz gelten.26 Sprachliches Wissen ist folglich Wissen um Konstruktionen, also Wissen um konventionalisierte Form-Bedeutungseinheiten unterschiedlichen Komplexitätsgrades. Natürlich lässt sich verstehensrelevantes Wissen in seiner angesprochenen Vieldimensionalität nicht auf einen Schlag untersuchen. Schon aus praktischen Gründen muss man arbeitsteilig vorgehen. Entscheidend ist aber, dass eine solche Praxis der Arbeitsteilung nicht mit der modularen Organisation des Gegenstandsbereichs, also mit kognitiver Arbeitsteilung zu verwechseln ist. Auf der Gegenstandsebene herrschen vielmehr holistische Prinzipien. Holismus, so können wir festhalten, heißt, x dass sprachliches Wissen in einer einheitlichen Struktur repräsentiert ist, nämlich in Konstruktionen x dass diese Konstruktionen selbst emergente Produkte unserer individuellen sowie sozial geteilten Umwelterfahrungen sind27 x und dass übergreifende kognitive Fähigkeiten – wie die zu kategorisieren, zu schematisieren, Vordergrund von Hintergrund zu unterscheiden – an Prozessen des Sprachverstehens entscheidend beteiligt sind. Aus einem solchen Verständnis von Holismus leitet sich allerdings nicht zwangsläufig eine strikt anti-nativistische Position ab. Es gibt vielmehr gute Gründe anzunehmen, dass die Herausbildung grundlegender kognitiver Fähigkeiten neurophysiologisch angelegt ist (vgl. Langacker 1987, S. 148-150; Rohrer 2005). Es ist aber wichtig zu sehen, dass es sich bei diesen Fähigkeiten nicht um sprachspezifische, sondern nur um übergreifende kognitive Fähigkeiten handelt, die sich zudem erst durch körperbasierte Umwelterfahrungen herausbilden können. Repräsentationsstrukturen haben ferner einen rein konzeptuellen Status und sind nicht angeboren.28 In beiden Punkten unter-
26
27 28
In der Mainstream-Linguistik hat sich der Begriff „Kompetenz“ als Teil eines Frames etabliert, in dem etwa der Standardwert enthalten ist, dass sprachliche Kompetenz einen modularen Bereich konstituiere, dem der Bereich der Performanz nachgeordnet ist. Hier meine ich indessen mit „Kompetenz“ schlicht die spezifisch menschliche Fähigkeit, ein so komplexes symbolisches System wie das der Sprache zu erlernen, zu nutzen und fortlaufend zu modifizieren. Dem hier vertretenen Ansatz gemäß sind sprachliche Kompetenz und Performanz aufs Engste miteinander verbunden. Diese Einsicht führt jüngst zu einer soziokognitiven Erweiterung der hier diskutierten konstruktionsgrammatischen Ansätze; Bergen und Chang (2005) sprechen in diesem Zusammenhang von einer „embodied construction grammar“. Das gilt auch für so abstrakte Strukturen wie „image schemas“, weil sich diese ja zuallererst in der Ich-Welt-Interaktion ontogenetisch herausbilden müssen. Repräsentationsstrukturen haben durchaus neuro-physiologische Korrelate: Aus neurophysiologischer Perspektive lässt sich Konzeptformierung ohne neuronale Musterbildung nicht erklären. „[T]o say that I have formed a concept is merely to note that a particularly pattern of neurological activity has become established, so that functionally equivalent events can be evoked and repeated with relative ease.“ (Langacker 1987, S. 100) Es gilt der Grundsatz: Je abstrakter die Repräsentationsstruktur, desto stärker die Verfestigung des neuronalen Musters.
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IV. Zeichentheoretische Aspekte
scheiden sich holistische Ansätze fundamental von semantischen MehrEbenen-Modellen. Die Ergebnisse der letzten Abschnitte legen nahe, dass Frames eine wichtige verstehensrelevante Funktion erfüllen und dass sie insbesondere im engen Zusammenhang mit Konstruktionen thematisiert werden können. Der Überlegung, dass Frames den konzeptuellen Gehalt der Inhaltsseite von Konstruktionen strukturieren, gehe ich nun nach.
2. Frames und „symbolische Einheiten“ In der Kognitiven Semantik wurde bislang der Unterscheidung zwischen Konstruktionen als strukturiertes und mithin ‚virtuelles‘ Inventar auf der einen Seite und deren aktualisierte Bedeutung innerhalb konkreter Kommunikationszusammenhänge auf der anderen Seite wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Eine Ausnahme bildet Langackers zeichen- und grammatiktheoretisches Grundmodell, das in leicht veränderter Form in Abb. 4 skizziert ist (Langacker 1987, S. 77). Dieses darf immer noch als die bislang ausdifferenzierteste Konzeption gelten. Wie bereits bemerkt, verwendet Langacker nicht den Terminus „Konstruktion“, sondern „symbolische Einheit“. Eine Konstruktion lässt sich per definitionem nicht in weitere Konstruktionen zerlegen. Langackers Begriff der „symbolischen Einheit“ deckt dagegen einfache und komplexe FormInhaltspaare gleichermaßen ab. Auch ein komplexer sprachlicher Ausdruck (ein mehrgliedriges Wort, eine Phrase, ein Satz, ein Text), der sich aus einer Vielzahl von Konstruktionen zusammensetzt, bildet somit eine symbolische Einheit. Um im Folgenden alle sprachlichen Ausdrücke ungeachtet ihrer Komplexität einzubeziehen, werde ich den Terminus der „symbolischen Einheit“ dem der „Konstruktion“ bevorzugen. Der in den letzten Abschnitten dargelegten Überlegung folgend, dass symbolische Einheiten Form-Inhaltspaare darstellen, nimmt Langacker eine Unterscheidung zwischen symbolischen Einheiten und so genannten „Gebrauchsereignissen“ („usage events“) vor. Während es sich bei symbolischen Einheiten um Konventionen handelt, die in der Summe die Grammatik einer Sprache konstituieren, bezeichnet er mit „Gebrauchsereignissen“ jene detailreiche, kontextualisierte und sprachlich vermittelten Informationseinheiten, die eine Sprecherin oder ein Sprecher mit Hilfe symbolischer Einheiten in einer konkreten kommunikativen Situation tatsächlich vermitteln will bzw. die eine Rezipientin oder ein Rezipient auf der Basis der verwendeten symbolischen Einheiten in einer konkreten kommunikativen Situation tatsächlich versteht. Konzentriert man sich ausschließlich auf die in unserem Zusammenhang relevante Inhaltsseite von Form-Inhaltspaaren (also darauf, was
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2. Frames und „symbolische Einheiten“
Langacker den „semantischen Raum“ bzw. „semantic space“ nennt), so ergibt sich daraus die wichtige Differenzierung zwischen „semantischen Einheiten“ einerseits und „[semantischen] Konzeptualisierungen“ andererseits. Statt des von Langacker gewählten Terminus „[semantische] Konzeptualisierung“ ziehe ich den Terminus „Gebrauchsbedeutung“ vor.29 Dieser macht besser deutlich, dass hier weniger der Prozess als das Resultat einer Bedeutungsaktualisierung gemeint ist. symbolischer Raum semantischer Raum Grammatik (sprachl. Konventionen) symbolische Einheit semantische Einheit
kod. kod.
kod.
Gebrauchsbedeutung qua [semantische] Konzeptualisierung symb.
symb. phonologische Einheit
Gebrauchsereignis
phonolog. Konzeptualisierung
sanktionierende Struktur phonologischer Raum
Ziel-Struktur
Abb. 4: Das Verhältnis von symbolischen Einheiten und Gebrauchsereignissen in der Kognitiven Grammatik Langackers (in Anlehnung an Langacker 1987, S. 77)
Die anfänglich nur beiläufig gemachte Beobachtung, dass die Inhaltsseite von symbolischen Einheiten komplexer Art und keineswegs amorph ist, rückt nun in den Mittelpunkt der folgenden Ausführungen. Die Arbeitshypothese lautet, dass Frames eine fundamentale Funktion zukommt, und zwar sowohl beim Aufbau der Inhaltsseite einer einzelnen Konstruktion als auch dabei, mehrere Konstruktionen in eine komplexere Bedeutungseinheit (symbolische Einheit) konzeptuell zu integrieren. Mindestens sechs Teilaspekte sind damit tangiert:
29
Irreführend ist Langackers Terminologie an dieser Stelle insofern, als der Terminus „Konzeptualisierung“ zur Charakterisierung der Äußerungsbedeutung eines sprachlichen Ausdrucks dienen soll, jedoch suggeriert, eine semantische Einheit sei ihrerseits nicht das Resultat eines Konzeptualisierungsprozesses. Dies ist freilich schon deshalb nicht der Fall, weil der methodische Ausgangspunkt eine enzyklopädische Semantiktheorie bildet. Auch semantische Einheiten haben einen konzeptuellen, enzyklopädischen Status (vgl. Langacker 1987, S. 63, 87).
200
IV. Zeichentheoretische Aspekte
(i)
Inwiefern unterscheiden sich symbolische Einheiten vom kommunikativen Sinn, der auf Basis eines vollzogenen Sprechaktes konstruiert wird? (ii) Wie lässt sich aus frame-semantischer Sicht die Inhaltsseite einer symbolischen Einheit genauer charakterisieren? (iii) Wie lässt sich aus frame-semantischer Sicht die Verbindung zwischen Form- und Inhaltsseite einer symbolischen Einheit sowie die Verbindung zwischen Inhaltsseite und übermitteltem kommunikativen Sinn („Gebrauchsbedeutung“) genauer charakterisieren? (iv) Welche Rolle spielen Schemata bei der Konstruktion einer semantischen Einheit? (v) Woraus bestehen Schemata? (vi) Vorausgesetzt, die Konstruktion einer symbolischen Einheit sowie die Konstruktion ihres kommunikativen Sinns verläuft schemageleitet, wie können dann die Bestandteile dieser Schemata empirisch bestimmt werden? Den ersten beiden Fragen widmen sich die nächsten drei Abschnitte. In Abschnitt IV.3 gehe ich dann auf Frage (iii) ein. Es wird sich zeigen, dass die weiteren Fragen (iv) bis (vi) zu diesem Zeitpunkt noch nicht zufrieden stellend behandelt werden können.30 2.1 Konventionelle vs. kontextuelle Bedeutungsaspekte (R. Langacker) Inwiefern unterscheiden sich symbolische Einheiten vom kommunikativen Sinn, der auf der Basis eines vollzogenen Sprechaktes konstruiert wird? Mit dieser Frage wende ich mich zunächst dem Bereich zu, den Langacker in Abb. 4 den „semantischen Raum“ nennt. Gekennzeichnet ist der „semantische Raum“ durch eine Bipolarität. „Semantische Einheiten“ auf der einen Seite stehen „Gebrauchsbedeutungen“ auf der anderen gegenüber, wobei erstere für letztere als „Kode“ dienen (dafür steht die Abkürzung „kod.“ in Abb. 4). Verbunden sind beide durch einen Kategorisierungslink. In Abb. 4 steht dafür der einseitig gerichtete Pfeil. Gemessen an dem zentralen Stellenwert, den die Unterscheidung zwischen „semantischen Einheiten“ und „Gebrauchsbedeutungen“ in Langackers Arbeiten einnimmt, bleibt die Darstellung der differentia specifica ziemlich ungenau. So bestimmt Langacker „semantische Einheiten“ an einer Stelle folgendermaßen:
30
Dennoch biete ich in den folgenden Abschnitten schon einige Teilantworten an (ohne allerdings allzu sehr ins Detail gehen zu können). Dazu gehört, dass Frames kognitive Schemata mit drei Strukturkonstituenten sind – Leerstellen („slots“), Werte („fillers“) und Standardwerte („default values“). Vgl. die ausführliche Diskussion in Kap. VI.
2. Frames und „symbolische Einheiten“
201
[S]emantic units are characterized relative to cognitive domains, and […] any concept or knowledge system can function as a domain for this purpose. Included as possible domains, consequently, are the conceptions of social relationship, of the speech situation, of the existence of various dialects, and so on. Second, linguistic semantics is held to be encyclopedic. […] Finally, units are acquired through a process of decontextualization. […]. If a property (e.g. the relative social status of a speaker and hearer) is constant to the context whenever an expression is used, the property may survive the decontextualization process and remain a semantic specification of the resultant unit. (Langacker 1987, S. 63; kursive Hervorhebung im Original in Fettdruck)
Dem steht folgende Bestimmung von „Gebrauchsbedeutung“ gegenüber: The task of finding appropriate linguistic expression for a conceptualization can be referred to as the problem of coding; its solution is a target structure […]. The target is therefore a usage event, i.e. a symbolic expression assembled by a speaker in a particular set of circumstances for a particular purpose: this symbolic relationship holds between a detailed, context-dependent conceptualization and some type of phonological structure […]. Conventional units provide an essentially unlimited range of symbolic potential […]. (Langacker 1987: 65f.; kursive Hervorhebung im Original in Fettdruck)
Beide, semantische Einheiten und Gebrauchsbedeutungen, haben einen enzyklopädischen, konzeptuellen Status; nur vor dem Hintergrund mindestens einer Wissensdomäne können sie ihren Status als kognitive Einheiten behaupten. Gebrauchsbedeutungen weisen ferner eine komplexe interne Struktur auf. Auch darin unterscheiden sie sich nicht wesentlich von semantischen Einheiten.31 Unterschiede scheint es vielmehr hinsichtlich dreier Charakteristika zu geben. Im Gegensatz zu Gebrauchsbedeutungen sind semantische Einheiten erstens konventionelle Einheiten. Zweitens sind letztere gegenüber ersteren semantisch unterspezifiziert; sie weisen „an essentially unlimited range of symbolic potential“ auf. Schließlich handelt es sich bei Gebrauchsbedeutungen aufgrund ihrer Kontextabhängigkeit um weitestgehend singuläre und emergente Phänomene. Begrifflich lassen sich diese drei Charakteristika einfach auf den Punkt bringen: Entspricht die Gebrauchsbedeutung eines sprachlichen Ausdrucks seiner „kontextuellen Bedeutung“ (Langacker 1987, S. 157), so entspricht die semantische Einheit eines Ausdrucks seiner „konventionellen“ Bedeutung (Langacker 1987, S. 66). Ich werde darauf nun näher eingehen, und dabei wird sich herausstellen, dass die angeführten Bestimmungen im Rahmen von Langackers holistischer Bedeutungstheorie unzulänglich bleiben, jedoch mit frame-semantischen Mitteln konkretisiert werden können. Welche semantische Einheit mit einer sprachlichen Form symbolisch assoziiert ist, ist arbiträr und kann von Sprachgemeinschaft zu Sprachgemeinschaft variieren. Die konventionelle Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks 31
Vgl. hierzu auch Langacker 1987, S. 87: „Despite the effective simplicity of a unit (in the sense of requiring no constructive effort), it is explicitly conceived as an integrated system, possibly very complex internally. Semantic units are defined relative to knowledge structures […].“
202
IV. Zeichentheoretische Aspekte
ist nicht gleichzusetzen mit einer möglichen Gebrauchsbedeutung desselben Ausdrucks in einem spezifischen Kontext, weil Gebrauchsbedeutungen weitaus mehr und detailreichere semantische Spezifikationen enthalten (Coulson 2001, S. 89; Clark/Gerrig 1983).32 Die Anzahl möglicher Spezifikationen ist letztlich unendlich groß. So dürfte es etwa schon unüberschaubar viele Möglichkeiten geben, die semantische Einheit [HUND] allein hinsichtlich des schematischen Bedeutungsaspektes [GRÖSSE] zu spezifizieren. Während die Information, wie groß ein Hund durchschnittlich, d.h. auf der Basis rekurrenter Erfahrungen ist, Eingang in die konventionelle Bedeutung [HUND] gefunden hat, enthalten Gebrauchsbedeutungen konkretere Informationen und sind deswegen konzeptuell komplexer als semantische Einheiten. Das ist etwa dann der Fall, wenn ein Sprachbenutzer oder eine Sprachbenutzerin mit dem Ausdruck Hund auf Nachbars Hund Glamis referiert, der eine Größe von genau 50 cm Schulterhöhe hat.33 In welchem Abhängigkeitsverhältnis stehen semantische Einheiten und Gebrauchsbedeutungen? Da semantische Einheiten konventioneller Natur sind, gehen sie Gebrauchsbedeutungen zeitlich und logisch voraus. Semantische Einheiten sind schematischerer Art, insofern hier von spezifischen Informationen abstrahiert ist, die einem einzelnen Ko- oder Kontext entspringen. Ferner ist der konzeptuelle Gehalt, den semantische Einheiten repräsentieren, intersubjektiv relativ stabil. Gleichwohl resultiert dieser ausschließlich aus der sozialen (Sprachhandlungs-)Praxis miteinander interagierender Individuen.34 Genauer: Zum konventionellen Wissen gehört ein Wissensaspekt dann, wenn dieser beim Gebrauch eines sprachlichen Ausdrucks in einem bestimmten Kontextrahmen rekurrent auftritt und Sprachbenutzerinnen und Sprachbenutzer ihn infolgedessen memorieren. Semantische Einheiten ergeben sich somit aus dem Sprachgebrauch, aus Dekontextualisierungen von Gebrauchsbedeutungen: Thus, it is not that the expression intrinsically holds or conveys the contextual meaning [= “Gebrauchsbedeutung”], but rather, that conventional units [= “semantische Einheiten”, AZ] sanction [the] meaning as falling within the open-ended class of conceptualizations they motivate through judgements of full or partial schematicity. […] From 32
33 34
Analog zur Unterscheidung von konventionellen und Gebrauchsbedeutungen kontrastieren Clark und Gerrig (1983) zwei Prozesse der Bedeutungskonstruktion miteinander: „sense selection“ und „sense creation“. Beide unterscheiden sich durch dieselben Eigenschaften wie konventionelle und Gebrauchsbedeutungen (Clark/Gerrig 1983, S. 606). Allwood (2003) weist allerdings zu Recht darauf hin, dass die Redeweise von „Selektion“ eine reifizierende Tendenz aufweise, sofern sie von präexistenten semantischen Bausteinen ausgehe. Um dagegen die kognitivkonstruktive Eigenleistung zu betonen, zieht es Allwood vor, von „Aktivierungen“ zu sprechen. Dass ein Ausdruck innerhalb einer Sprachgemeinschaft eine konventionelle Bedeutung hat, hob bekanntlich schon Saussure in seiner Zeichentheorie hervor, vgl. hierzu Pörings/Schmitz 2003, S. 13; Taylor 2002, S. 38-42. Langacker 2000, S. 22. Gleiches gilt für Saussures Bedeutungstheorie, vgl. hierzu die ausführliche Diskussion in Busse 2005b.
2. Frames und „symbolische Einheiten“
203
the encyclopedic nature of contextual meaning that of conventional meaning follows fairly directly. The latter is simply contextual meaning that is schematized to some degree and established as conventional through repeated occurrence. (Langacker 1987, S. 158)
Am Beispiel Hund könnte man diesen Konventionalisierungsprozess folgendermaßen exemplifizieren. Ausgehend von der Kenntnis vieler Gebrauchsweisen des Ausdrucks Hund haben wir die Fähigkeit, auf induktivem Wege eine schematische Bedeutung des Ausdrucks zu gewinnen, die Informationen über typische Vertreter der Kategorie [HUND] enthält. Solche schematischen Bedeutungsaspekte „emergieren über soziale Interaktionen und reflektieren gemeinsam geteilte Erfahrung“ (Schlobinski 2003, S. 165), insofern die Erfahrungs- und Handlungskontexte innerhalb einer Sprachgemeinschaft einigermaßen homogen sind und genauso rekurrent auftreten wie die prädikativen Zuschreibungen, die Sprachbenutzerinnen und Sprachbenutzer mit dem Ausdruck Hund in einem bestimmten Erfahrungs- und Handlungskontext treffen. Langacker betont, dass sich konventionelle Bedeutungsaspekte weder auf eine wohl bestimmte, zeitlich persistente Struktur reduzieren lassen könnten noch allein mit jenen Wissensaspekten deckungsgleich seien, die sich aus der Kenntnis eines abstrakteren Schemas (hier etwa aus [TIER] oder [LEBEWESEN]) ableiten. Aus diesem Grund schlägt Langacker (1991b, S. 3) vor, konventionelle Bedeutung als Netzwerkstruktur zu begreifen:35 „The conventional meaning of a lexical item must be equated with entire network, not with any single node.“ Konventionelle Bedeutungsaspekte ergeben sich folglich nicht allein aus vertikalen Beziehungen zwischen semantischen Einheiten (Schema-Instanzbeziehungen), sondern ebenso aus horizontalen Beziehungen. Letztere charakterisiert Langacker (1991b, S. 266f.) als semantische Ähnlichkeitsbeziehungen. Ähnlichkeit liegt dann vor, wenn zwei semantische Einheiten zumindest hinsichtlich eines Wissensaspektes voneinander abweichen, in vertikaler Hinsicht jedoch trotzdem demselben Schema zugehören. Solche Beziehungen bestimmen beispielsweise das Verhältnis zwischen den semantischen Einheiten [HUND], [KATZE], [AFFE]. Denn diese haben einerseits selbst den Status eines Schemas (so dass etwa [GLAMIS] als Instanz von [HUND] fungieren mag), dienen andererseits aber zugleich als Instanzen desselben Schemas, nämlich [Tier], dessen Leerstellen sie mit je spezifischen Werten besetzen.36 In Abb. 5 sind mögliche Ähnlichkeits- und SchemaInstanzbeziehungen skizziert, die [HUND] zu anderen semantischen Einhei35 36
In Tuggy 1988 finden sich ähnliche Überlegungen, dargestellt am Beispiel des englischen Verbs run. Im Zusammenhang mit Standardwerten werden wir später sehen, dass der Abstraktionsebene, denen [HUND], [KATZE] und [AFFE] zugehören, eine wichtige verstehensrelevante Funktion zukommt. Denn diese semantischen Einheiten stellen (im Sinne der Prototypentheorie von Eleanor Rosch und ihren MitarbeiterInnen) so genannte „basic level categories“ dar und weisen deshalb eine höhere kognitive Salienz (oder „cue validity“) als andere Kategorien auf.
204
IV. Zeichentheoretische Aspekte
ten unterhält. Zusammen bilden sie einen Ausschnitt aus einem semantischen Netzwerk.
[LEBEWESEN]
[AKTIVITÄT] [MIAUEN]
[BELLEN]
[TIER]
Schema-Instanzbeziehungen
[VIERBEINER]
[KATZE]
[HUND]
[ZWEIBEINER]
[AFFE]
[GOLDEN RETRIEVER] [GLAMIS] Ähnlichkeitsbeziehungen
Abb. 5: Netzwerk von Ähnlichkeits- sowie Schema-Instanzbeziehungen ausgehend von der semantischen Einheit [HUND]
Schema-Instanzbeziehungen symbolisieren in Abb. 5 einseitig gerichtete Pfeile. Einseitig gerichtet müssen sie deshalb sein, weil nur Instanzen in Schemata, nicht aber umgekehrt Schemata in Instanzen kategorisiert werden können. Das Verhältnis zwischen Schema und Instanz entspricht dabei der semantischen Hyperonym-Hyponym-Relation. Es gilt: Eine Instanz (Hyponym) eines Schemas (Hyperonym) fungiert auf einer niedrigeren Abstraktionsstufe zugleich als Schema (Hyperonym) für andere Instanzen (Hyponyme). Dabei zeichnet sich ein Schema [A] durch abstraktere Wissensspezifikationen aus als eine Instanz des Schemas [A]. Dies hat rekursiv Bestand, eben weil diese Instanz selbst wiederum ein Schema [B] für andere Instanzen bildet. Nach diesem Muster ergibt sich die oben abgebildete Hierarchie von SchemaInstanzbeziehungen: [GLAMIS] Ⱥ [GOLDEN RETRIEVER] Ⱥ [HUND] Ⱥ [VIERBEINER] Ⱥ [TIER] Ⱥ [LEBEWESEN]. Schema-Instanzbeziehungen herrschen auch zwischen [HUND] und [BELLEN] sowie zwischen [KATZE] und [MIAUEN] vor, obwohl die miteinander korrelierten semanti-
2. Frames und „symbolische Einheiten“
205
schen Einheiten gewissermaßen unterschiedlichen ontologischen Kategorien zugehören.37 Ähnlichkeitsbeziehungen symbolisieren in Abb. 5 gestrichelte Pfeile. Die beidseitige Ausrichtung macht deutlich, dass jeweils beide semantischen Einheiten dasselbe Schema, dem sie angehören, verschieden spezifizieren. Sind [HUND] und [AFFE] beispielsweise Instanzen im Schema [TIER] und teilen deswegen alle allgemeinen Wissensaspekte, die dieses Schema bereitstellt, so unterscheiden sie sich hinsichtlich spezifischerer Wissensaspekte, was sich etwa in der unterschiedlichen Zugehörigkeit zum Schema [VIERBEINER] bzw. [ZWEIBEINER] zeigt.38 An diesem Punkt angelangt stellen sich mehrere Fragen. Wenn die schematische, konventionelle Bedeutung eines Ausdrucks den Bereich möglicher Gebrauchsbedeutungen einschränkt, wie genau „sanktioniert“ dann – wie Langacker (1987, S. 158) im oben angeführten Zitat schreibt – die Kenntnis der konventionellen Bedeutung eine mögliche Gebrauchsbedeutung? Und inwiefern „motiviert“ dieselbe Kenntnis zugleich bestimmte Konzeptualisierungen, ohne bereits spezifische Konzepte mit konkreten Werten vorzugeben? Anders gefragt: Welche Gestalt müssen konventionelle, schematische Bedeutungen annehmen, damit sie die Bedingung erfüllen, semantisch unterspezifiziert zu sein, ohne eine eigenständige semantische Ebene mit autonomen Prinzipien (im Sinne der Mehr-Ebenen-Semantik) zu konstituieren? Um den holistischen Ausgangsprämissen von Langackers enzyklopädischer Bedeutungstheorie Rechnung zu tragen, müssen konventionelle Bedeutungen und Gebrauchsbedeutungen ein und demselben Repräsentationsformat angehören. Aus welchen Strukturelementen besteht aber dieses einheitli37
38
Offen bleibt hier, ob es sich bei der Korrelierung von [HUND] und [BELLEN] (und [KATZE] und [MIAUEN]) um eine einseitige Schema-Instanzbeziehung handelt. So kann [BELLEN] in einer schematischen Beziehung zu [HUND] stehen, beispielsweise dann, wenn bestimmte Hunde – im Gegensatz zu anderen – der Menge bellender Tiere zugerechnet werden wie in Bellen tun unsere Hunde nicht. Man könnte aber genauso gut argumentieren, dass [BELLEN] auch als Instanz des Schemas [HUND] auftritt, so etwa in dem Satz Der Hund hat das Bellen nicht verlernt. Offensichtlich gibt es hier eine gewisse Flexibilität. Generell gilt (vgl. Abschnitt VI.4.2): Das Subjekt eines Satzes (auf der Wortebene: der Kopf eines Determinativkompositums) ruft einen Frame auf und fungiert mithin als Schema, in dem das Prädikat eines Satzes (das Determinans eines Determinativkompositums) instantiiert wird, so dass diesem die Funktion einer Instanz (bzw. „fillers“, Wertes) zukommt. Neben Ähnlichkeits- und Schema-Instanzbeziehungen nennt Langacker (Langacker 1991b, S. 266-272; 1988c, S. 134) einen dritten Typus: Extensionsbeziehungen. Extension „implies some conflict of specification between the basic and the extended values“. Extension findet etwa beim metaphorischen Gebrauch des Wortes Hund statt. Bezeichnet man einen Menschen als Hund, so liegt zwischen [HUND] und der metaphorischen Einheit [HUND’] zwar eine Ähnlichkeitsbeziehung vor, aber nicht im oben explizierten Sinne. Beide bilden keine Instanzen im Schema [TIER]. So enthält [HUND’] Spezifikationen („extended values“), die in der konventionellen Bedeutung keine Rolle spielen, vgl. hierzu auch Taylor 2002, S. 464f. Im hier skizzierten Theorierahmen lassen sich ohne weiteres Metapherbildungen erklären. Dazu später mehr.
206
IV. Zeichentheoretische Aspekte
che Repräsentationsformat? Und wie wird sichergestellt, dass das Repräsentationsformat tatsächlich einheitlich ist? Auf diese Fragen gibt Langacker zwar keine zufrieden stellenden Antworten; seine Ausführungen halten aber einige Hinweise darauf bereit, wo nach möglichen Antworten zu suchen ist. So hebt er, wie sich gerade schon gezeigt hat, die wichtige Rolle von Schemata hervor: Schematicity can be equated with the relation between a superordinate node and a subordinate node in a taxonomic hierarchy; the concept [TREE], for instance, is schematic with respect to the concept [OAK]: [[TREE] Ⱥ [OAK]]. In such relationships I call the superordinate structure a schema, and the subordinate structure an elaboration or instantiation of the schema. (Langacker 1987, S. 68; kursive Hervorhebung im Original in Fettdruck)
Neben Schemata lässt Langacker in der Kognitiven Grammatik nur zwei weitere Elemente zu (Langacker 1987, S. 53f.): (a) symbolische Strukturen (die sich ihrerseits aus semantischen und phonologischen Strukturen zusammensetzen) und (b) Kategorisierungsbeziehungen, die zwischen diesen Strukturen herrschen. Wie schon bei der Erläuterung von Konstruktionen deutlich wurde, kommt Schemata in holistischen Theorien insgesamt eine zentrale Funktion zu, weil die Inhaltsseite einer Konstruktion die Instanz einer abstrakteren Inhaltsseite einer Konstruktion bildet. [GLAMIS] mag etwa als Instanz des Schemas [GOLDEN RETRIEVER] fungieren, das seinerseits im Schema [HUND] instantiiert ist. Nur: Auch wenn [GLAMIS] spezifischere Informationen verfügbar macht als [HUND], ist damit noch nichts über die gemeinsame Repräsentationsstruktur gesagt, die der konventionellen Bedeutung dieser Ausdrücke und möglichen Gebrauchsbedeutungen derselben zugrunde liegt. Vor dem skizzierten Hintergrund liegt es nahe anzunehmen, dass ganz ähnliche Schema-Instanzbeziehungen es erlauben, eine Gebrauchsbedeutung durch die Kenntnis der konventionellen Bedeutung eines Ausdrucks zu konstruieren. Kontextuelle Informationen fungieren gleichsam als Instanzen im konventionalisierten Bedeutungsschema. Und hier kommen Frames als gemeinsames Repräsentationsformat ins Spiel. Frames fungieren als einheitliches Repräsentationsformat, wenn ko- und kontextrelevantes Wissen in eine bereits etablierte Frame-Struktur, bestehend aus konventionalisierten Bedeutungsaspekten, zu integrieren sind. Abb. 5 stellt einen Ausschnitt einer solchen etablierten Frame-Struktur dar. Schauen wir uns in diesem Zusammenhang zunächst an, wie Langacker selbst den Prozess begreift, der von der konventionellen Bedeutung eines Ausdrucks zu einer möglichen Gebrauchsbedeutung führt. Coding […] takes place across the boundary between convention and usage. It is a matter of finding an appropriate target structure that “fits” a sanctioning unit within some expected range of tolerance. […] [T]he conceptualization must be plausibly categorized by the semantic unit to which it corresponds […]. (Langacker 1987, S. 77f.)
2. Frames und „symbolische Einheiten“
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Was hier „Kodieren“ genannt wird, ist die Aufgabe, vor der ein jeder Sprachbenutzer oder jede Sprachbenutzerin beim Verstehen eines Ausdrucks steht.39 Einerseits motiviert die Kenntnis konventioneller Bedeutungen bestimmte Konzeptualisierungen und schließt andere aus. Die Kenntnis der konventionellen Bedeutung des Ausdrucks Hund motiviert etwa Konzeptualisierungen, die abstrakte Schemata wie [GRÖSSE], [AKTIVITÄT], [FARBE] usw. betreffen.40 Sie schließt dagegen Konzeptualisierungen aus, die auf Schemata wie [DAUER], [TEILEREIGNISSE] etc. zurückgreifen (solche würden bei symbolischen Einheiten relevant, die Instanzen des Schemas [EREIGNIS] bilden wie etwa [[SPAZIERGANG]/[spaziergang]]). Andererseits motivieren ko- und kontextuelle Faktoren zugleich sehr spezifische Konzeptualisierungen. Die Gebrauchsbedeutung resultiert dann aus der konzeptuellen Integration dieser Wissensaspekte in die bereits etablierte Frame-Struktur. Einiges spricht dafür, dass Frames ein einheitliches Format zur Repräsentation von konventionellen und kontextuellen Bedeutungsaspekten bilden. Erstens erhält eine semantische Einheit ihren Einheitsstatus nicht nur relativ zu mindestens einer anderen Wissensdomäne; sie repräsentiert auch selbst eine konzeptuelle Wissensdomäne, die wiederum den Verstehenshintergrund für andere semantische Einheiten bildet, und zwar sowohl hinsichtlich Schema-Instanzbeziehungen als auch hinsichtlich Ähnlichkeitsbeziehungen. Zweitens fungieren semantische Einheiten selbst als Wissensdomänen und weisen in dieser Funktion alle zentralen Charakteristika eines Frames auf (Taylor 2002, S. 203), nur lassen sich frame-theoretisch wichtige Differenzierungen vornehmen, die Langackers allgemeine Sprechweise von „kognitiven Domänen“ kaschiert. So bleibt in seinen Ausführungen noch unklar, wie konventionelle Bedeutungsaspekte zu bestimmen sind und welcher Status ihnen zukommt.41 Die frame-semantischen Antworten darauf lauten: Konventionelle Bedeutungsaspekte sind Standardwerte (default values), und diese haben eine prädikative Struktur.42 Die Menge von Standardwerten, die einem Frame innerhalb einer bestimmten Sprachgemeinschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt zukommt, entspricht den konventionalisierten Bedeutungsaspekten, die die interne Komplexität von semantischen Einheiten ausmachen. 39 40 41
42
Vgl. auch Langacker 1991a, S. 294-298. Später werden wir sehen, dass solchen abstrakten Schemata innerhalb der Frame-Semantik eine zentrale Funktion zukommt; vgl. hierzu meine Ausführungen zu „Leerstellen“ in Abschnitt VI.3. Langacker spricht pauschal von „entrenchment“ („Verfestigung“) und „routinization“ („Routinisierung“); ein Gebrauchsereignis sei dann „subject to entrenchment or routinization when it recurs with sufficient frequency“ (Langacker 187, S. 349). Vgl. auch Langacker 1987, S. 59f.; 1991b, S. 3. Wie alle Prädikationen weisen auch Standardwerte eine Struktur des Typs a ist b auf (zumindest lassen sie sich in diese Struktur überführen) und entsprechen, epistemologisch gewendet, Annahmen über die Welt (vgl. hierzu Abschnitt VI.5) bzw. Konzeptualisierungen im Sinne Langackers (1988b, S. 54).
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IV. Zeichentheoretische Aspekte
Tritt dasselbe Prädikat frequent auf, verfestigt sie sich und wird zum Standardwert. Ohne auf die Rolle von Standardwerten im Einzelnen einzugehen, drückt das Fillmore so aus: The conventional (or ‚literal‘ or ‚properly linguistic‘) meaning of a sentence is that set of conditions on the interpreter’s understanding of the sentence which figure in all of its contexts; in determining the situated meanings of uses of the sentence, one integrates the sentence’s conventional meaning with its linguistic and extralinguistic context. (Fillmore 1985, S. 233)
Deswegen können wir als dritten Punkt festhalten: Standardwerte fungieren als Bedingungsraster, mithilfe dessen Sprachbenutzerinnen und Sprachbenutzer symbolische Einheiten unterschiedlichen Abstraktionsgrades – vom Morphem bis zum Text – verstehen. Standardwerte entstehen dabei durch den Sprachgebrauch. Es besteht keine Notwendigkeit, ihnen einen ontologischen Sonderstatus („semantische Primitiva“, „semantische Kerne“, „rein sprachliche Komponenten“ usw.) zuzuschreiben. Der Einbezug von Standardwerten beugt vielmehr der Gefahr vor, konventionelle und kontextuelle Bedeutungsaspekte als separate, eigenständige Entitäten zu behandeln. Zwischen Werten und Standardwerten herrscht genauso ein Kontinuum wie zwischen Lexikon und Grammatik. Auch hinsichtlich der strukturellen Verfasstheit von Werten und Standardwerten besteht kein Unterschied. Gebrauchsbedeutungen können ebenso als Menge von Prädikationen aufgefasst werden. Spricht Fillmore in diesem Zusammenhang von „Situationsbedeutungen“, so betont er zusätzlich, dass nicht nur Informationen aus dem sprachlichen, sondern auch aus dem außersprachlichen Kontext verstehensrelevant werden (können). Wenn Sprachbenutzerinnen und Sprachbenutzer Wissen aus dem sprachlichen und außersprachlichen Kontext in eine schematisierte, konventionelle Bedeutung eines Ausdrucks integrieren, aktualisieren sie auch solche Standardwerte, die nicht durch kontextuelle Informationen ersetzt, d.h. spezifiziert worden sind. Strukturell unterscheiden sich somit kontextuelle Bedeutungsaspekte (Werte) und konventionelle Bedeutungsaspekte (Standardwerte) nicht. Beide treten in Gestalt von Prädikationen auf.43 Der Unterschied liegt allein in ihrem kognitiven Status begründet. Nur Standardwerte haben einen konventionellen Charakter. Betrachten wir zur Illustration noch einmal die Inhaltsseite der symbolischen Einheit [[HUND]/[hund]]. In unserem Sprach- und Kulturkreis hat sich eine Reihe von Standardprädikationen verfestigt, die Angaben über die Größe, Farbe, Tätigkeit, Fähigkeit usw. von Hunden betreffen. Das heißt: Ein Sprecher oder eine Sprecherin motiviert mithilfe der phonologischen Einheit 43
Hier etwa dergestalt: Ein Hund ist ein x, wobei x etwa durch Prädikate wie Vierbeiner, bellendes Tier, so und so großes Tier usw. ersetzt werden kann.
2. Frames und „symbolische Einheiten“
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[hund] bei HörerInnen eine Konzeptualisierung der Inhaltsseite, indem abstrakt-schematische semantische Einheiten wie [GRÖSSE], [FARBE], [TÄTIGKEIT] und [FÄHIGKEIT] mit Standardwerten wie [50 cm SCHULTERHÖHE], [BRAUN], [BELLEN], [WACHEN] belegt werden.44 Im Einzelfall können zwar auch frequent aufgetretene Einzelerfahrungen in Form von Standardwerten in eine semantische Einheit Einzug erhalten (Busse 2007).45 Der weitaus größte Teil ist aber konventioneller Art und gehört zum geteilten sozialen Wissen einer Sprachgemeinschaft (was sich eben durch gemeinsame, rekurrent auftretende Erfahrungszusammenhänge erklärt). Die im Frame repräsentierten Standardwerte erzeugen demnach eine schematisierte Bedeutung des Ausdrucks Hund, die funktional Langackers Konzept einer „semantischen Einheit“ entspricht. Bei der Aktualisierung einer Gebrauchsbedeutung fungiert diese gleichsam als konzeptuelle Projektionsfläche. Referiert beispielsweise eine Sprachbenutzerin innerhalb eines Sprechaktes mit dem Ausdruck Hund auf Nachbars Hund Glamis, kann die Gebrauchsbedeutung dieses Ausdrucks – abhängig vom Vorwissen der KommunikationsteilnehmerInnen – in vielerlei Hinsicht Spezifizierungen erfahren. Glamis hat eine bestimmte Größe, eine bestimmte Farbe, bestimmte Fähigkeiten usw., so dass die Standardwerte in den korrespondierenden abstrakten semantischen Einheiten durch konkrete Werte entsprechend ersetzt werden. Vor dem Hintergrund relevanter Kontextannahmen konzeptualisieren SprachbenutzerInnen die Bedeutung des Ausdrucks Hund umfassender. Werden so im Vergleich zur konventionellen Bedeutung weitaus spezifischere Informationen relevant, bleiben zugleich kontextuell nicht konkretisierte Bedeutungsaspekte als Standardwerte erhalten und gehen ebenso in die Gebrauchsbedeutung ein. Da z.B. [GLAMIS] eine Instanz im Schema [LEBEWESEN] bildet und wir diese Kategorisierungsbeziehung problemlos herstellen, können wir beispielsweise auch Standardprädikationen über die biologische Beschaffenheit eines Hundes ableiten. Im Fall des Ausdrucks Hund mag das zwar trivial erscheinen, und weil Hunde in unserem Kulturkreis eine allzu bekannte Spezies sind, mag sich der Umweg über das Schema [Lebewesen] erübrigen, da entsprechende Wissensaspekte in Form von Standardwerten direkt über [Hund] zugänglich sind. Doch für Sprachbenutzerinnen und Sprachbenutzer aus anderen Kulturkreisen kann die Relevanz der 44 45
Abstrakte semantische Einheiten wie [GRÖSSE], [TÄTIGKEIT] usw. entsprechen den Leerstellen eines Frames, vgl. hierzu Abschnitt VI.3. So etwa das Schema [ANGST]. Busse spricht hier von „syn-kognizierten kognitiven Repräsentationen“. Sein schönes Beispiel lautet: „Wenn Nachbars Deutsche Dogge Arko jedes Mal, wenn ich mich als Kind ihrem Zwinger näherte, mit wütendem Gegeifere auf mich zusprang, und nur dank der Stabilität des Gitterzauns davon abgehalten wurde, mich zu zerfleischen, dann beeinflusst dies möglicherweise meine zukünftigen kognitiven Repräsentationen anlässlich des Konzepts Hund stärker, als dies alle zukünftige Harmlosigkeit des Schoßhündchens meiner jetzigen Nachbarin jemals wieder wett machen könnte.“
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IV. Zeichentheoretische Aspekte
Schema-Instanzbeziehung zwischen [HUND] und [LEBEWESEN] etwa dann sehr wohl relevant sein, wenn der konzeptuelle Gehalt nur rudimentär ausgeprägt ist. (Viele Mitteleuropäer haben umgekehrt sicherlich nur eine vage Vorstellung davon, was das Wort Yak bedeutet; durch die Kategorisierungsbeziehung [YAK] Ⱥ [LEBEWESEN] könnten wir aber zumindest einige Urteile über die angesprochene Entität fällen und weitaus konkretere schon mithilfe des Kategorisierungslinks [YAK] Ⱥ [OCHSE].46) Ich hatte bereits erwähnt, dass Standardannahmen, anders als ko- und kontextinduzierte Informationen, als kollektives, intersubjektiv geteiltes Wissen einer Sprachgemeinschaft gelten dürfen. Dennoch unterliegen auch sie im Laufe der Zeit zahlreichen Veränderungen, und es ist selbst innerhalb einer weitestgehend homogenen Sprachgemeinschaft nicht anzunehmen, dass Sprachbenutzer und Sprachbenutzerinnen über dasselbe System an symbolischen Ressourcen bzw. konventionellem Wissen verfügen (Taylor 2002, S. 66). Semantische Einheiten sind so gesehen „Phänomene der dritten Art“ im Sinne Kellers (2003, S. 87-94). Sie bestehen aus verfestigten Segmenten semantischen Wissens, die nicht dem Einflussbereich individueller Sprachhandlungen unterliegen, sich wohl aber innerhalb (eines Teiles) einer Sprachgemeinschaft aufgrund rekurrent vollzogener Prädikationen verändern können.47 Wenngleich die angeführten Beispielanalysen auf introspektiv gewonnenen Plausibilitäten fußen und sich mithin auf Common Sense-Wissen verlassen, haben sie doch – so hoffe ich – den angestrebten illustrativen Zweck erfüllt. Welche Standardwerte dem Frame „Hund“ tatsächlich zuzurechnen sind, ist letztlich eine Frage, die sich nur auf der Basis von quantitativen Korpusanalysen beantworten lässt. Eine solche führe ich exemplarisch im letzten Teil der vorliegenden Arbeit am Beispiel Heuschrecke durch. Ebenso erfolgt später eine ausführlichere frame-semantische Bestimmung von Füllwerten („fillers“) und Standardwerten („default values“). Festzuhalten bleibt an dieser Stelle zunächst, dass die Inhaltsseite von symbolischen Einheiten eine intern komplexe Netzwerkstruktur aufweist, die einem Frame mit gegebenen Standardwerten entspricht. Mithilfe von Frames wird auch erklärbar, wie sich die Aktualisierung von ko- und kontextinduzierten verstehensrelevanten Wis46 47
Vgl. Husserls (1980, S. 38) Unterscheidung zwischen „bedeutungserfüllenden“ und „bedeutungsverleihenden“ geistigen Akten; auch: Busse 2008a. Keller illustriert dies anhand der Entstehung eines Trampelpfades. Ein Trampelpfad ist nicht das intendierte Resultat einzelner BenutzerInnen, sondern ein emergentes Phänomen, das erst entsteht, weil eine Menge von BenutzerInnen ähnlich handelt. Kellers (2003, S. 100) diesbezügliche Erklärung lautet deswegen, „daß das System der Trampelpfade die nicht-intendierte kausale Konsequenz derjenigen (intentionalen, finalen) Handlungen ist, die darin bestehen, bestimmte Ziele zu Fuß zu erreichen unter der Maxime der Energieersparnis.“ – Wie ich in Kap. VI.5.2 ausführen werde, sind Standardwerte genau in diesem Sinne Phänomene der dritten Art. Standardwerte sind kognitive Trampelpfade.
2. Frames und „symbolische Einheiten“
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sensaspekten vollzieht, ohne die holistische Prämisse zu verletzen, dass sowohl konventionelle als auch kontextuelle Bedeutungsaspekte strukturell in ein und demselben kognitivem Format repräsentiert sind. 2.2 Sind „Situationen“ und „Hintergründe“ Elemente semantischer Einheiten? (J. Zlatev) Meine Argumentation läuft bislang auf folgenden Befund hinaus: Um den kommunikativen Sinn eines sprachlichen Ausdrucks zu erfassen, ist es nötig, enzyklopädisches Vorwissen einzubringen, das im Verlauf vorgängiger Kommunikationprozesse erworben worden ist und das in Form von schematisiertem Bedeutungswissen zur Verfügung steht. Verstehensrelevant wird dieses schematisierte Wissen über die Aktualisierung der Inhaltsseite einer symbolischen Einheit. Diese Inhaltsseite wird von Frames strukturiert. Auslöser des Aktualisierungsprozesses ist eine sprachliche Form, die mit der Inhaltsseite arbiträr assoziiert ist. Mit einer sprachlichen Form einen bestimmten sprachlichen Inhalt zu verknüpfen, heißt, einen Frame mit vordefinierten Standardwerten zu aktivieren. Langacker lässt keinen Zweifel daran, dass semantische Einheiten keinen rein sprachlichen Charakter haben, sondern aufs Engste mit unserem allgemeinen Weltwissen verflochten sind. Als Quellen möglicherweise verstehensrelevanten Wissens erwähnt er unter anderem Wissen über die soziale Beziehung zwischen SprachproduzentIn und SprachrezipientIn sowie Wissen über den soziolinguistischen Status, das Register, dem ein sprachlicher Ausdruck zuzurechnen ist (Langacker 1987, S. 63). Diese Beispiele erfüllen in Langackers Argumentation jedoch nur eine Stellvertreterfunktion. In seiner enzyklopädischen Semantik kann buchstäblich jede Form von Wissen eine verstehensrelevante Funktion erfüllen. Im Anschluss an Busses explikative Semantik und die psycholinguistische Inferenzforschung können wir dies dahingehend konkretisieren, dass zehn der dreizehn oben genannten Wissenstypen potentiell ihren Niederschlag in semantischen Einheiten finden können (vgl. Abschnitt III.3.1). Ausgenommen sind lediglich drei Wissenstypen: (a) (b) (c)
„Wissen über Raum-/Zeitkoordinaten deiktischer Ausdrücke“ „durch aktuelle Wahrnehmung gestütztes Wissen der Kommunikationspartner nicht-textueller Provenienz“ „Wissen über Verwendungs- und Strukturierungsregeln von Textelementen“.
(a) und (b) können aufgrund ihrer kontextuellen Varianz nicht Gegenstand von Konventionalisierungsprozessen sein. Ebenso wenig kann Wissen vom
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IV. Zeichentheoretische Aspekte
Typ (c) in semantische Einheiten Eingang finden. Dieses umfasst Wissen formaler Art, etwa morphologisches, syntaktisches sowie Textstrukturierungswissen, und konstituiert deshalb maßgeblich die Formseite symbolischer Einheiten. Einen streitbaren Fall mag „Wissen über die bereits konstituierte Textwelt“ darstellen. Kann dieses Wissen in konventionalisierter Gestalt Eingang in semantische Einheiten finden? Oder handelt es sich bei ihm schon um einen Wissenstyp, der einem aktuellen Kommunikationskontext entspringt? Ich meine, dass dieser Wissenstyp durchaus konventioneller Art sein kann, denn geht man davon aus, dass jedes Textelement – explizit oder implizit – als Teil eines diskursiv geprägten Textuniversums (im Sinne von Busse/Teubert 1994) figuriert, so dürfte es nicht schwer fallen, auch hier Formen schwacher Konventionalisierung auszumachen. Die in bestimmten diskursiven Zusammenhängen gezielte Verwendung gewisser Schlüsselwörter oder Argumentationsmuster wären Beispiele dafür.48 In beiden Fällen stammt konventionalisiertes Wissen aus einer vorgängig konstituierten Textwelt. Obgleich nach den vorangegangenen Erörterungen der Stellenwert konventioneller Bedeutungsaspekte innerhalb eines kognitiven Ansatzes deutlich geworden sein sollte, stellt sich doch die Frage nach ihrem Status vor dem Hintergrund der kritischen Auseinandersetzung mit semantischen MehrEbenen-Modellen in verschärfter Form. Dadurch, dass Langacker die konventionelle Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks mit einem semantischen Netzwerk rekurrenter Ähnlichkeits- und Schema-Instanzbeziehungen identifiziert, nährt er den Verdacht, konventionelle Bedeutungsaspekte würden tendenziell zu festen, gebrauchsunabhängigen Einheiten reifiziert und atomisiert. Denn jeder Knoten eines solchen Netzwerkes bildet zumindest in der graphischen Veranschaulichung (wie in Abb. 5) eine eigenständige Entität. Zwar ist jeder Knoten mit anderen qua Kategorisierungslinks verbunden; zugleich muss er aber einen hohen Grad an Distinktivität aufweisen, ohne den eine Kategorisierungsbeziehung gar nicht zustande kommen könnte. Dieser Umstand hat zu einer Kontroverse über die empirische Bestimmbarkeit von Knoten in einem semantischen Netzwerk geführt sowie erneut die Frage nach dem Status von Knoten und mithin von konventionellen Bedeutungsaspekten aufgeworfen (zusammenfassend vgl. Langacker 2006). Sandra und Rice (Rice 1996; Sandra/Rice 1995) kommen in ihrer Kritik zu dem Schluss, dass es keine klaren Kriterien gebe, bestimmte Knoten und 48
Vgl. etwa den Überblick in Wengeler 2005, insbesondere S. 272-276, S. 278-280. – Statt von Argumentationsmustern spricht Wengeler auch von „Topoi“. Diese zeichnen sich durch eine im Zuge häufigen Gebrauchs verfestigte, mithin schwach konventionalisierte Verbindung einer Formseite (formales Schlussmuster) und einer Inhaltsseite (der Bedeutung der Elemente des Schlussmusters) aus. Es liegt deswegen nahe, „Topoi“ als komplexe Ausprägungen symbolischer Einheiten (bzw. Konstruktionen) zu begreifen.
2. Frames und „symbolische Einheiten“
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Relationen anzunehmen, weshalb verschiedene Untersuchungen zum selben Gegenstandsbereich zwangsläufig zu unterschiedlichen Ergebnissen führten.49 Einen methodologischen Anstrich bekommt dasselbe Argument mit dem Vorwurf, dass viele Ergebnisse weniger auf empirischen, korpusbasierten Studien beruhten als vielmehr auf introspektiv gewonnenen Evidenzen. In eine andere Richtung, aber auf denselben Problemzusammenhang, weist das Plädoyer von Zlatev (2003) und Allwood (2003), konventionelle Bedeutungsaspekte eines sprachlichen Ausdrucks stärker als Bedeutungs- oder Gebrauchspotentiale zu begreifen, um die Gefahr reifikatorischer Tendenzen vom Ansatz her zu vermeiden.50 Zur Disposition stehen damit die Eigenschaften von semantischen Einheiten selbst. In seiner Replik auf diese Einwände macht Langacker (2006, S. 142-146) zunächst darauf aufmerksam, dass die Beziehung zwischen Knoten stets auf Kategorisierungsleistungen einzelner Sprachbenutzerinnen und Sprachbenutzer basiere. Und das heißt: Ob ein Element einer Kategorie zugehört, geht auf Urteile einzelner Personen zurück. Kategoriale Zugehörigkeit ist somit ein Gradphänomen und kein objektives Faktum. Jede Kategorie weist unscharfe Ränder auf, weil sie selbst ein Abstraktionsprodukt individueller Erfahrungen darstellt. Die Realisierung einer Schema-Instanzbeziehung hängt maßgeblich von dem Wissen eines Sprachbenutzers oder einer Sprachbenutzerin ab, das er oder sie im Kategorisierungsvollzug einbringt. Manche mögen die Beziehung [YAK] Ⱥ [LEBEWESEN] realisieren, wenige sicherlich dagegen die zwischen [YAK] Ⱥ [OCHSE]. In diesem Sinne dürfen Knoten in einem semantischen Netzwerk also keineswegs als distinkte Einheiten gelten. A lexeme does define a field of potential for meaning and use that for all intents and purposes is continuous. The network model is inappropriate if pushed too far. In particular, it is wrong to “reify” the senses in a network by viewing them as welldelimited islands representing the only linguistic meanings a lexeme can assume. Such atomization of the field of meaning- or use-potential is artificial and leads to pseudoproblems, e.g., the problem of ascertaining which discrete sense a given use instantiates. (Langacker 2006, S. 145)
Damit stimmt Langacker den angeführten Kritikpunkten im Wesentlichen zu, nimmt letzthin aber eine Zwischenposition ein, die Zlatevs radikal gebrauchs49
50
Ein Beispiel dafür wären verschiedene Studien zur Bedeutung des Verbs run im Amerikanischen: Gries 2006, Langacker 1988c, Taylor 1996, Tuggy 1988. Trotz ähnlicher kognitionstheoretischer und methodologischer Voraussetzungen weichen die Ergebnisse z.T. substantiell voneinander ab. Vgl. auch Peirces Unterscheidung zwischen Quali-, Sin- und Legizeichen bzw. zwischen Tones, Tokens und Types. Qualizeichen bzw. Tones fasst Peirce als noch nicht realisierte Potentiale auf. Ein Qualizeichen ist ein potentielles Zeichen, ein Zeichen, das über die fünf menschlichen Sinne der Möglichkeit nach sinnlich rezipiert werden kann (Peirce 1985, S. 151; 1993, S. 123 f.). Für Peirces Begriff „Qualizeichen“ sind sowohl die (sinnliche) Qualität als auch die Potentialität (im Gegensatz zur Aktualität bzw. Tatsächlichkeit) bestimmende Elemente.
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IV. Zeichentheoretische Aspekte
basierter Argumentation nicht in jeder Konsequenz folgen kann. Diesen Schluss muss man zumindest ziehen, wenn man beide Bedeutungsmodelle einander gegenüberstellt. In Zlatevs antirepräsentationalistischem Ansatz, der sich konzeptionell an Wittgensteins „Sprachspiel“ orientiert, ersetzen nämlich „criteria of appropriateness“ (Zlatev 2003, S. 457) weitestgehend jene Bedeutungsaspekte, denen Langacker einen konzeptuellen und repräsentationalen Status zuschreibt. Die Gebrauchsbedeutung einer sprachlichen Einheit zu kennen, heißt nach Zlatev, einen Ausdruck angemessen verwenden zu können. Überflüssig wird damit die Annahme, dass die Bedeutungsseite einer symbolischen Einheit repräsentationaler Natur ist, also selbst aus rekurrenten Konzeptualisierungsprozessen hervorgeht und im Langzeitgedächtnis abgespeichert ist. Hiernach ist vielmehr der Gebrauch eines Wortes konventionalisiert, nicht – wie bei Langacker – das konventionelle Wissen, das man unabhängig vom individuellen Gebrauch mit diesem Wort verbindet. Streng genommen könnten Standardwerte deshalb nicht Teil einer semantischen Einheit sein. Standardwerte sind nämlich nicht nur konventionelle Wissensaspekte, die zwar erst durch den Gebrauch entstehen, aber nichtsdestotrotz unabhängig vom Gebrauch Bestand haben. Sie sind vielmehr auch Repräsentationseinheiten von Wissen im Langzeitgedächtnis. Langackers Netzwerkmodell ist ein Versuch, die Verknüpfung von semantischen Einheiten miteinander zu veranschaulichen.51 Anders als in Zlatevs Modell lautet also die gebrauchsbasierte repräsentationistische Variante: Man muss ein Wort zwar schon oft verwendet bzw. verwendet gehört haben, um sagen zu können, was es bedeutet; nur auf diesem Wege kann man wissen, worin das Prädikationspotential dieses Wortes besteht. Man muss es aber nicht erneut verwenden, um schematisiertes Bedeutungswissen zu aktualisieren, weil man darüber aufgrund vorangegangener Verwendungen schon verfügt, und zwar in Form repräsentationaler Wissenseinheiten wie Frames. Zlatev streitet eine solche repräsentationale Dimension semantischen Wissens ab. Dennoch ebnet er nicht konventionelle und kontextuelle Bedeutungsaspekte ein, obwohl dies nur konsequent wäre.52 Stattdessen identifiziert 51
52
Auch die Metapher des „Netzwerkes“ zur Veranschaulichung semantischen Wissens stösst freilich an ihre Grenzen, und wie jede Metapher führt auch sie in die Irre, wenn Analogisierungen Detailphänomene betreffen. Dessen ist sich Langacker vollauf bewusst. Die alternative Metapher eines „Felds von Kontinuitäten“ („continuous field“, vgl. Langacker 2006, S. 145) dürfte allerdings vom Ansatz her unangemessen sein, da sie einmal die dritte Dimension kaschiert (weshalb auch Demmerling die Metapher des „Raumes“ der des „Hintergrundes“ vorzieht) und außerdem suggeriert, dass es keine vorübergehenden distinkten Einheiten (Phoneme, Morpheme, Wortbedeutungen usw.) gäbe. Der Kritik an der Feld-Metapher stimmen auch Zlatev (2003, S. 458) und Allwood (2003, S. 56) zu. Vgl. Zlatev 2003, S. 454: „[T]he relationship between (elements of) form and (elements of) meaning is a matter of social convention, whereby the latter – rather than ‚truth conditions‘ or ‚conceptualizations‘ of individual minds – constitute conditions (criteria) of appropriate use of the former.“
2. Frames und „symbolische Einheiten“
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er die semantische Seite einer symbolischen Einheit mit einer „Situation“ bzw. einem „Situationstyp“: However, the semantic pole does not consist of a ‚conceptualization‘, but of a situation (type), which can be either real or virtual, and constitutes a humanly significant, in part linguistically construed aspect of reality, not an objective, language-independent state of affairs. Situations can be partially analyzed into semantic categories […]. These categories are assumed to be mutually dependent, forming aspects of meaningful wholes as in frame semantics […]. On the utterance level, a similar partial analyzability is assumed. (Zlatev 2003, S. 455f.)
Besteht zwischen der Bedeutungsseite einer symbolischen Einheit und ihrer möglichen Gebrauchsbedeutung ein Unterschied und ist erstere selbst keine Konzeptualisierung, sondern eine „Situation“ oder ein „Situationstyp“, fragt sich allerdings, welcher Status der Bedeutungsseite dann zukommt. Dass sie weder konzeptueller noch repräsentationaler Natur ist, gründet in Zlatevs Annahme, dass sprachliche Bedeutungen nur relativ zu einem sozial geteilten Hintergrund fixiert sind. Wie schon bei Demmerling steht auch hier Searles Begriff vom „Hintergrund“ Pate (vgl. Searle 1992, S. 179ff.). „Hintergrund“ meint hier Hintergrund geteilter Praktiken und mithin Fähigkeiten, Praktiken auszuüben und Handlungen zu vollziehen.53 Analog zu Demmerlings „Raum des Verstehens“ betont Zlatev deswegen, dass das Gebrauchspotential letztlich unerschöpflich sei und nicht in allen Einzelheiten expliziert werden könne. Den „Hintergrund“ im Sinne von Searle 1992 als notwendige Voraussetzung für das Verstehen semantischer Einheiten zu betrachten, geht aber weit über Demmerlings Entwurf hinaus. Dient Demmerling der „Raum des Verstehens“ als phänomenologisch irreduzible Bezugsgröße, weil jeder Gebrauch und jedes Verstehen von Sprache erheblich mehr als nur Kodieren oder Dekodieren von Zeichen umfasst, so siedelt Zlatev den „Hintergrund“ im Zeichen selbst an. Die konventionelle Bedeutung eines sprachlichen Zeichens 53
Setzt Searle (1992) „Hintergrund“ mit nicht-intentionalen Fähigkeiten gleich, die intentionale erst ermöglichen, verkompliziert sich diese Bestimmung allerdings dadurch, dass er abgrenzend den Begriff „Netzwerk“ einführt. Damit sind verstehensnotwendige Hintergrundannahmen, „intentionale Zustände“ gemeint. Abweichend von der Hintergrund-Definition in Searle 1992 versteht Searle jedoch an einer anderen Stelle (Searle 1998) „Hintergrund“ ausdrücklich im Sinne von Hintergrundannahmen, die nicht in der semantischen Struktur eines Satzes realisiert sind; der Hintergrund wäre hiernach also doch propositional strukturiert und mehr oder weniger identisch mit „Netzwerk“. Diesen terminologischen Verwirrungen und Inkonsistenzen wäre im Rahmen des kognitiven Paradigmas, in dem die vorliegende Frame-Semantik angesiedelt ist, vielleicht am sinnvollsten durch den Vorschlag Johnsons (1987, S. 178-190) zu begegnen. Johnson zieht Parallelen zwischen kognitiven „image schemas“ (Bildschemata) und Searles „Hintergrund“ sowie „Netzwerk“: „Image schemata, as structures emerging in our perceptual interactions and bodily movements, fall clearly into Searle’s notion of Background. But […] they are sometimes conceptualized and drawn up within a representational Network, too.“ (Johnson 1987, S. 183).
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IV. Zeichentheoretische Aspekte
kann demzufolge nicht nur vor dem „Hintergrund“ sozialer Praktiken etc. verstanden werden; ein solcher „Hintergrund“ ist vielmehr Teil der konventionellen Bedeutung selbst. Gleiches gilt, wie das letzte Zitat deutlich macht, nicht weniger für „Situationen“ bzw. „Situationstypen“. Auch diese gehen in die semantische Seite einer symbolischen Einheit ein. Neben (a) dem „Hintergrund“ und (b) „Situationen“ bzw. „Situationstypen“ bestimmen schließlich, so argumentiert Zlatev, (c) „andere Wörter einer Äußerung“ das, was er das „Gebrauchspotential“ eines Ausdrucks nennt.54 Diese drei Wissenseinheiten legen den konventionellen Teil einer sprachlichen Bedeutung fest, denn das Gebrauchspotential eines sprachlichen Ausdrucks entspricht dessen konventionalisierten Gebrauchsmöglichkeiten. Der Begriff „Situation“ dient dabei offensichtlich als Sammelbecken für alle nichtsprachlichen Faktoren, die beim Verstehen eines sprachlichen Ausdrucks relevant werden können oder auch nur sprachbegleitend auftreten, ohne im Einzelfall verstehensrelevant sein zu müssen. Eine „Situation“ weist damit eine gewisse Ähnlichkeit mit Fillmores Begriff der Szene auf – ein Aspekt, auf den ich gleich zurückkommen werde. Was mit „anderen Wörtern einer Äußerung“ gemeint ist, erläutert Zlatev nicht weiter. Damit zielt er wohl auf usuelle Wortverbindungen ab, die dazu beitragen können, dass semantische Einheiten eng miteinander assoziiert sind, also im Sinne von Langackers Netzwerkmodell direkt, d.h. ohne vermittelnden Zwischenknoten durch einen Kategorisierungslink verbunden sind.55 Bei allen drei Wissenstypen ist Zlatev zweifelsohne dem Prinzip der Rekurrenz verpflichtet. Nur unter der Voraussetzung, dass ein Ausdruck mit einer hohen Frequenz (a) vor dem gleichen oder einem ähnlichen „Hintergrund“, (b) innerhalb der gleichen oder einer ähnlichen „Situation“ und (c) in Kookkurrenz mit den gleichen oder ähnlichen Wörtern aufgetreten ist, können entsprechende Aspekte zu Bestandteilen des Gebrauchspotentials werden. Die Ähnlichkeit zum „Sprachspiel“ Wittgensteins besteht darin, dass das qua Rekurrenz konstituierte Gebrauchspotential ein unentwirrbares Gemenge von sprachlichen und außersprachlichen Elementen darstellt und allein in der Praxis sprachhandelnder Menschen gründet. Im Sinne des Postulats der Verstehensrelevanz ist somit die Position Zlatevs radikaler als die Langackers, weil sich außersprachliche Faktoren direkt in der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke niederschlagen. 54
55
Zlatev 2003, S. 454-459. Zu „Situationen“ bzw. „Situationstypen“ und „andere Wörter einer Äußerung“ heißt es im Original (Zlatev 2003, S. 458): „lexical meaning is not only relative to scenes, but to MDLG [=„minimally differentiated language games“, also zu Sprachspielen im Sinne Wittgensteins, AZ], consisting of (i) situations, (ii) other words of the utterance, and (iii) backgrounds.“ Inwiefern Kookkurrenzen als Indikatoren von Bedeutungswissen fungieren können, hat beispielsweise Fraas (2001) an zahlreichen Beispielen aufgezeigt.
2. Frames und „symbolische Einheiten“
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Aber diese Radikalität birgt auch Gefahren. Inwiefern kann der „Hintergrund“ oder eine „Situation“ dazu beitragen, dass ein Ausdruck ein spezifisches Gebrauchspotential ‚hat‘? Und um was für ein Wissen, das hier relevant wird, handelt es sich dabei? Ganz im Gegenteil zu Demmerling nimmt Zlatev keine Differenzierung zwischen verschiedenen Formen verstehensrelevanten Wissens vor. Demmerling unterscheidet zwischen Wissen, das uns in Gestalt von Annahmen über die Welt propositional gegeben ist, und Wissen, das einen nicht-propositionalen Charakter hat, insofern es zum primären, unreflektierten Handlungsvollzug gehört. Hierzu schreibt er Folgendes: Allenfalls einzelne Teile oder Elemente dieses Raums [des Verstehens, AZ] sind propositional strukturiert; andere lassen sich zwar prinzipiell mit Hilfe propositionaler Sätze, mit Hilfe von Aussagen zum Ausdruck bringen, was aber nicht heißt, daß diese uns darum auch in verschiedenen primären Handlungs- und Lebensvollzügen propositional gegeben wären oder gar in dieser Form gegeben sein müßten. Aus der bloßen Möglichkeit, etwas im nachhinein in Form von Sätzen oder Überzeugungen auszudrücken, die Sachverhalte zum Gegenstand haben oder auf Sachverhalte gerichtet sind, läßt sich nicht ohne Umstände auf die propositionale Struktur der betreffenden Sachverhalte selbst schließen. (Demmerling 2002, S. 161)
Stellen wir uns vor dem Hintergrund dessen, dass sich propositionale und nicht-propositionale Elemente des Verstehensraumes in der Art und Weise ihres Gegebenseins unterscheiden, erneut die Frage, um was für ein Wissen es sich handelt, wenn Zlatev von einem „Hintergrund“, einer „Situation“ und „anderen Wörtern in einer Äußerung“ spricht, muss die Antwort folgendermaßen ausfallen. Weder „Situationen“ noch „Hintergründe“ sind Sprachbenutzerinnen und Sprachbenutzern als solche gegeben. Kognitiv wirksam sind vielmehr Annahmen über eine „Situation“ oder einen gemeinsamen „Hintergrund“ (im Searleschen Sinne von geteilten Praktiken). Für usuelle Wortverbindungen gilt Gleiches im verstärkten Maße, weil es sich dabei um Verbindungen zwischen symbolischen Einheiten handelt und die Herstellung solcher Verbindungen ja das Resultat kognitiver Leistungen ist. Anders als usuelle Wortverbindungen können zwar „Situationen“ und „Hintergründe“ für sich genommen auch in Gestalt nicht-propositionaler Elemente in – wie Demmerling schreibt – „primären Handlungs- und Lebensvollzügen“ verstehensrelevant sein.56 In dieser Form können sie jedoch nicht in das „Gebrauchspotential“ eingehen. Denn die Konstitution desselben bleibt angewiesen auf die Fähigkeit eines Sprachbenutzers oder einer Sprachbenutzerin, das Potential zu erkennen und relevante Annahmen auf der Basis vorangegangener Erfahrun56
Im Moment des sprachlichen Handlungsvollzuges muss uns dieses Wissen nicht propositional gegeben sein, um verstehensrelevant werden zu können. Man denke etwa an Beispiele aus der institutionellen Kommunikation. Natürlich ‚weiß‘ ein Patient, der einer Ärztin sein Anliegen schildert, um das situative Setting, und dieses Wissen hat sicherlich Einfluss auf sein sprachliches Verhalten. Aber es hat dabei nicht zwangläufig die Form „dass p“. Es lässt sich nur im Nachhinein in diese Form überführen.
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IV. Zeichentheoretische Aspekte
gen zu rekonstruieren, was wiederum Konzeptualisierungen von Erfahrungszusammenhängen voraussetzt. Schematisierungsprozesse spielen hierbei eine entscheidende Rolle, sofern Erfahrungszusammenhänge nämlich nicht in allen Einzelheiten und Details, sondern nur in typischen Einzelheiten und typischen Details für das „Gebrauchspotential“ eines sprachlichen Ausdrucks relevant sind. Wenn Zlatev folglich von einem „Situationstyp“ spricht, resultiert dieser gerade aus Konzeptualisierungsprozessen und ist selbst nichts anderes als konzeptuelles Wissen. Mit Demmerling könnte man formulieren: Nur in primären Handlungsund Lebensvollzügen können „Situationen“ und „Hintergründe“ als implizites, d.h. nicht propositional gegebenes Wissen verstehensrelevant sein. Sie gehören dann gemäß Busses Klassifikation zum Wissenstyp „Wissen über Raum-/Zeitkoordinaten“ oder „durch aktuelle Wahrnehmung gestütztes Wissen der Kommunikationspartner“. Sobald sie aber über primäre Handlungs- und Lebensvollzüge hinaus verstehensrelevant werden, befinden wir uns sozusagen im Modus der Nachträglichkeit, und hier können wir uns Wissen nur propositional und urteilshaft vergegenwärtigen: mittels Annahmen oder Überzeugungen über „Situationen“ oder „Hintergründe“. Daraus folgt, dass konventionelle Bedeutungsaspekte eines Ausdrucks stets propositionale Elemente im „Raum des Verstehens“ sind und mithin einen konzeptuellen Charakter haben. Diesen Befund stützen auch neuere gedächtnistheoretische Studien, die auf den gegenseitigen Bedingungszusammenhang von Sprache und Gedächtnis hinweisen. Dass Wissen im Modus der Nachträglichkeit verstehensrelevant wird, setzt Gedächtnisleistungen voraus. Jeder Wissensaspekt, der beim Sprachverstehen aktualisiert wird und auf den nicht situationsdeiktisch Bezug genommen werden kann, muss in irgendeiner Form im menschlichen Gedächtnis abgespeichert sein. Weil solche Gedächtnisleistungen ohne Sprache nicht erklärbar sind, kommt Roger Schank (1999, S. 3) zu dem Schluss: „Any theory of language must refer to a theory of memory […].” Das hat die weitreichende Konsequenz, dass unser Gedächtnis selbst homolog oder zumindest ähnlich wie Sprache ‚strukturiert‘ sein muss. Durch die Annahme der propositionalen Verfasstheit von Gedächtnisstrukturen erklärt sich auch die inhärente Dynamik fortlaufender Lernprozesse, ein Aspekt, den Schank als basal für ein erklärungsadäquates Gedächtnismodell ansieht (vgl. auch Busse 2008a).57 Entgegen Zlatevs Position können im Modus der Nachträglichkeit jedenfalls keine nicht-propositionalen Elemente des Verstehensraumes (auch nicht als „Gebrauchspotential“) ihre Wirksamkeit entfalten. Denn dies würde 57
„No human memory is static; with each new input, with every experience, a memory must readjust itself. Learning means altering memory in response to experience. It thus depends upon the alteration of knowledge structures reside in memory.“ (Schank 1999, S. 3-4)
2. Frames und „symbolische Einheiten“
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bedeuten, dass sich derartige Elemente aktivieren ließen, ohne dabei eine Gedächtnisfunktion in Anspruch nehmen zu müssen. An dieser Stelle hilft auch Zlatevs Vorschlag nicht weiter, „Kriterien der Angemessenheit“ („criteria of appropriateness“, Zlatev 2003, S. 457) als einzige semantische Analysekategorie für die Bedeutungsseite von symbolischen Einheiten einzuführen, um so ihren konzeptuellen Status abzustreiten. Denn die entscheidenden Fragen sind dann: Wie können „Kriterien der Angemessenheit“ im Verstehensprozess wirksam werden, ohne dass auf Vorwissen Bezug genommen wird? Woher weiß ein Sprachbenutzer oder eine Sprachbenutzerin, ob er oder sie einen sprachlichen Ausdruck angemessen verwendet hat bzw. was es heißt, einen Ausdruck angemessen zu verwenden? Und welche Kenntnis erlaubt es, zwischen verschiedenen semantischen Einheiten zu unterscheiden? Auf diese Fragen kann Zlatev deshalb keine Antworten geben, weil die Antworten auf eine repräsentationale Dimension semantischen Wissens zurückgreifen müssten, die wir in Anschlag bringen, um ein Wort angemessen gebrauchen zu können. Zlatev ist zweifelsohne Recht zu geben, wenn er betont, dass praktische Fähigkeiten und situative Faktoren in den Prozess der Bedeutungsaktualisierung involviert sind, und es steht auch außer Frage, dass sich diese Fähigkeiten nicht in Repräsentationsstrukturen auflösen lassen (vgl. Abb. 6). Das ist aber auch gar nicht nötig. Würde Zlatev stärker zwischen repräsentationalem und prozeduralem und zwischen propositionalem und nicht-propositionalem Wissen unterscheiden, ließe sich seine starke These, dass es keine repräsentationale Dimension semantischen Wissens gebe, schnell relativieren. An ihre Stelle würde die differenziertere These treten, dass beide Wissensformen beim Sprachverstehen stets zusammenwirken und dass beide innerhalb einer holistischen Bedeutungstheorie im gleichen Maße zu berücksichtigen sind. Die Frage, ob „Situationen“ und/oder „Hintergründe“ Elemente semantischer Einheiten sind, hat sich also in unserem frame-theoretischen Zusammenhang folgendermaßen zugespitzt: Gesetzt den Fall, dass (a) Inhaltsseiten symbolischer Einheiten, also semantische Einheiten, einen konzeptuellenzyklopädischen Status haben, (b) die Einheit ihrer inneren Komplexität durch Frames beschrieben werden kann und (c) diese Einheit das Ergebnis eines Schematisierungsprozesses von Gebrauchsbedeutungen darstellt – inwiefern mag dann der außersprachliche Kontext von einem Frame ferngehalten werden? Nach den vorangegangenen Überlegungen muss die Antwort lauten: „Situationen“ und/oder „Hintergründe“ können keine Elemente semantischer Einheiten bilden, weil sich semantische Einheiten gerade durch ihren konventionellen Status auszeichnen und sich so von Gebrauchsbedeutungen abheben. Doch das Ergebnis der letzten Überlegungen fällt nicht nur negativ aus, denn die Beantwortung der erwähnten Frage hat auch zu der Einsicht geführt, dass semantische Einheiten spezifische Elemente im „Raum
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IV. Zeichentheoretische Aspekte
des Verstehens“ bilden. Semantische Einheiten weisen eine propositionale Struktur auf, zumindest lassen sie sich in eine solche überführen.
Situation
Hintergrund von Praktiken
b Hund… Gebrauchsbedeutung
[[[a] / [B]] [[hund] / [HUND]]… ] symbol. Einheiten
Abb. 6: Dimensionen des „Raumes des Verstehens“ im Prozess der Konstruktion einer Gebrauchsbedeutung, hier am Beispiel Hund (vgl. auch Zlatev 2003, S. 457)
Richten wir die Aufmerksamkeit nicht mehr auf konventionelle, sondern auf kontextuelle Bedeutungsaspekte, so kann man festhalten, dass im Sinne Zlatevs sowohl der „Hintergrund von Praktiken“ als auch die „Situation“ einen wesentlichen Beitrag zur Konstruktion einer Gebrauchsbedeutung leisten. Wie Abb. 6 illustriert, gliedern diese den aktuell gegebenen „Raum des Verstehens“. Ohne die Korrelierung semantischer Einheiten (hier: [HUND] und [B]) mit Elementen des situativen Settings (oder der „Einbettungsstruktur“ im Sinne Scherners) kommen keine Gebrauchsbedeutungen zustande.58 Referentielle Ausdrücke (wie in Abb. 6 Hund) sind nur ein Beispiel dafür. Zugleich involviert der Vollzug einer Sprachhandlung die Kenntnis (sozialer) Praktiken. Wir müssen wissen, welche Sprachhandlungstypen in einer Situation erwartbar sind, um selbst Praktiken anwenden zu können. Eine höchst fundamentale praktische Fähigkeit besteht darin, semantische Einheiten mit außersprachlichen Entitäten der Situation bzw. kognitiven Modellen derselben zu korre58
Um einen bereits erwähnten Extremfall aufzugreifen: Ein situatives Setting (oder eine „Einbettungsstruktur“) ist auch dann gegeben, wenn jemand versucht, die Wörter auf einem Zettel zu verstehen, den sie oder er auf der Straße gefunden hat. Das situative Setting besteht dann genau darin, dass dieser Zettel an einer bestimmten Stelle zu einem bestimmten Zeitpunkt von einer bestimmten Person und unter bestimmten Umständen gefunden worden ist.
2. Frames und „symbolische Einheiten“
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lieren. Auch die Assoziation phonologischer Einheiten (wie hier [hund] und [a]) mit semantischen Einheiten (wie [HUND] bzw. [B]) ist das Ergebnis einer sehr fundamentalen kognitiven Fähigkeit. So gesehen sind kognitive Fähigkeiten, ganz im Sinne von Searle 1992, Teil des „Hintergrundes“. Sie helfen, auf der Basis von vorhandenem Wissen (semantischen Einheiten) Gebrauchsbedeutungen zu konstruieren. 2.3 Sind „Szenen“ Elemente semantischer Einheiten? (C. Fillmore) Dass „Situationen“ und „Hintergründe“ selbst keine Elemente semantischer Einheiten bilden, sondern nur in Gestalt sprachlich verfasster Annahmen über „Situationen“ und „Hintergründe“ (Propositionen) in semantische Einheiten Eingang finden, bedeutet freilich nicht, dass beide deswegen zum Sprach- und nicht zum Weltwissen gehören. Denn außerhalb individueller Erfahrungsprozesse können verstehensrelevante Annahmen nicht zustande kommen. Weiter differenzieren kann man allerdings hinsichtlich des konzeptuellen Status von verstehensrelevantem Situations- und Hintergrundwissen. So hat Fillmore (1975, 1976a, 1977a, 1977b) in seinen frühen Aufsätzen begrifflich zwischen „Frames“ und „Szenen“ („scenes“) unterschieden, um eine sprachlich-konzeptuelle von einer nicht-sprachlichen konzeptuellen Dimension abzuheben.59 Zlatev (2003, S. 458) bringt seinen Ansatz zwar ebenfalls mit diesem Terminus technicus „Szene“ in Verbindung, verkennt dabei jedoch, dass dieser in Fillmores Konzeption genauso wie der Begriff „Frame“ konzeptuelle und repräsentationale Einheiten beschreibt (vgl. Fillmore 1976a, S. 13, 19; 1977a, S. 63). In unserem Zusammenhang stellt sich nun die Frage, ob neben „Frames“ auch „Szenen“ semantische Einheiten bilden und, sollte dies der Fall sein, inwieweit sich beide voneinander unterscheiden. Zunächst sieht es so aus, als wolle Fillmore mit dem Begriff „Szene“ auf die Relevanz außersprachlicher Verstehensfaktoren hinweisen und ihm somit gar keine kognitive oder konzeptuelle Dimension zusprechen. So macht er auf die enge Verbindung zwischen Sprache und außersprachlicher Wirklichkeit im Prozess des Erwerbs lexikalischer Bedeutungen aufmerksam. Die Art und Weise, wie jemand die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks erlerne, übe großen Einfluss darauf aus, welche konkrete Gestalt ein Frame annehme, d.h. welche Standardwerte dieser aufweise: It appears […] that in meaning acquisition, first one has labels for whole scenes, then one has labels for parts of particular familiar scenes, and finally one has both a reper59
Tatsächlich taucht der Terminus „Szene“ schon in Aufsätzen vor 1975 auf, so etwa in Fillmores bekannter kasusgrammatischer Studie (Fillmore 1968). Es besteht Grund zur Annahme, dass der Szene-Begriff letztlich auf Tèsniere (1959) zurückgeht, obwohl sich bei Fillmore diesbezüglich nur am Rande ein Verweis findet (vgl. Fillmore 1982a, S. 114).
222
IV. Zeichentheoretische Aspekte tory of labels for schematic or abstract scenes and a repertory of labels for entities or actions perceived independently of the scenes in which they were first encountered. (Fillmore 1975, S. 127)
Fillmores Begriff der Szene scheint sich hier weitestgehend mit Zlatevs der Szene und der Situation zu decken.60 Zumindest der erste Teil des Zitates legt nahe, „Szene“ als „Teil der außersprachlichen Wirklichkeit“ zu interpretieren. Hinzu kommt, dass Fillmore (1975, S. 127; 1977a, S. 61; 1982a, S. 115) ebenso den Terminus „Situation“ verwendet, ohne dass ein Bedeutungsunterschied zu dem der „Szene“ erkennbar wäre. Fillmore argumentiert, dass ein Kind nicht isolierte Wortbedeutungen lerne, sondern die Assoziation einer Bedeutung mit einer Wortform vielmehr relativ zu einem situativen Setting erfolge. Mit dem Wort Bleistift, so eines seiner Beispiele, mag ein Kind etwa die Erfahrung verbinden, mit seiner Mutter in einem bestimmten Raum zu sitzen und Kreise zu malen, ohne in der Lage zu sein, zwischen diesen Teilaspekten zu differenzieren. Erst später erwerbe es Wörter zur Bezeichnung von Teilen dieser „Szene“, wie Papier, malen, Kreise, und erst dann könne es diese unterscheiden und separat benennen.61 Bedeutungserwerb würde sich demzufolge als allmählicher Abstraktionsprozess vollziehen. Dieser, so Fillmore, „consists in developing schematic scenes with some of the positions ‚left blank‘, so to speak“ (Fillmore 1977a, S. 63). Das Wort Bleistift versteht ein Kind also vor dem Hintergrund einer aktivierten „schematischen Szene“, die zwar nicht immer in allen, aber in einigen Einzelheiten kognitiv präsent sein muss. An dieser Stelle zeigt sich aber deutlich, dass Fillmore mit dem Begriff „Szene“ nicht nur auf außersprachliche, situative Faktoren abzielt, sondern vielmehr konzeptuell-schematische Kognitionsstrukturen im Visier hat. Aufgrund ihrer schematischen Beschaffenheit teilen „Szenen“ wesentliche Eigenschaften mit „Frames“. Sie weisen etwa Leerstellen („positions“) auf, die variabel besetzt werden können. Worin liegt dann aber der Unterschied zwischen „Frames“ und „Szenen“? Mirjam Petruck schlägt vor, Fillmore so zu interpretieren, dass „Szenen“ konzeptuelle, „Frames“ dagegen sprachliche Entitäten darstellen. In the early papers on Frame Semantics, a distinction is drawn between scene and frame, the former being a cognitive, conceptual, or experiential entity and the latter being a linguistic one […]. (Petruck 1996, S. 1)
60 61
Zur „Szene” bemerkt Zlatev (2003, S. 458): „[L]exical meaning is […] relative to scenes.“ Und später heißt es (S. 482): „[W]ords are learned in particular linguistic and situational contexts (language games) whose parts co-determine each other’s meaning.“ Eine ähnliche Theorie induktiven Lernens vertrat übrigens schon Quine. Quine (1960, S. 56) schreibt: „We learn ‚bachelor‘ by learning appropriate associations of words with words.“
2. Frames und „symbolische Einheiten“
223
Diese Interpretation legt nahe, „Frames“ einen nicht-kognitiven und einen nicht-konzeptuellen Status zuzuschreiben, womit dieselben Probleme auf den Plan träten, die ich im letzten Abschnitt diskutiert habe. Ich meine, dass Petrucks Bestimmungen nicht nur aus diesem Grund am Kern der Sache vorbeigehen. Meines Erachtens bestreitet Fillmore in seinen frühen Aufsätzen keineswegs, dass „Frames“ primär kognitive Funktionen erfüllen. Der wesentliche Unterschied zwischen „Szenen“ und „Frames“ scheint dagegen in einem anderen Punkt zu liegen. Während Fillmore sich mit „Frames“ zunächst auf sprachliche Ausdrucksformate (im Sinne von „case frames“) bezieht, reserviert er den Begriff „Szene“ für relevante Vorannahmen, die nötig sind, um einen sprachlichen Ausdruck zu verstehen. In most natural conversations, the participants have, already ‚activated‘, a number of shared, presupposed, scenes that we can speak of as being in their consciousness as they speak. (Fillmore 1975, S. 126)
Weil solche Vorannahmen, oder Präsuppositionen, weit über die Argumente, die ein sprachlicher Ausdruck in seiner prädikativen Funktion fordert, hinausgehen, grenzt Fillmore an einer anderen Stelle „sprachliche Frames“62 ausdrücklich von „Szenen“ ab. [P]eople, in learning a language, come to associate certain scenes with certain linguistic frames. I intend to use the word scene […] in a maximally general sense, to include not only visual scenes but familiar kinds of interpersonal transactions, standard scenarios, familiar layouts, institutional structures, enactive experiences, body image; and, in general, any kind of coherent segment, large or small, of human beliefs, actions, experiences, or imaginings. I intend to use the word frame for referring to any system of linguistic choices (the easiest cases being collections of words, but also including choices of grammatical rules or grammatical categories – that can get associated with prototypical instances of scenes). (Fillmore 1977a, S. 63)
Zwar betont Fillmore, dass sich „Frames“ und „Szenen“ gegenseitig aktivieren und dass „Frames“ genauso wie „Szenen“ untereinander vernetzt sind. Hierin gründet die Unentwirrbarkeit von sprachlichem und enzyklopädischem Wissen. Dennoch gewinnt man den Eindruck, als seien allein „Szenen“ gestalthafte, mithin visuellen Wahrnehmungseindrücken vergleichbare Einheiten, während „Frames“ vor allem sprachliche Korrelate oder, in Fillmores Worten, „Labels“ darstellen, um einzelne Elemente aus „Szenen“ sprachlich zu benennen und aus einer „Szene“ herauszuheben. Wenngleich der konzeptuelle Status beider unhinterfragt bleibt, ist zugleich festzuhalten, dass Fillmore den Begriff „Szene“ bewusst unscharf lässt. An einer Stelle kontrastiert er sogar kognitive „Szenen“ mit „real-
62
Im Original: „language frames“ oder „linguistic frames“, vgl. Fillmore 1975, S. 123, 126; 1977a, S. 63, 66.
224
IV. Zeichentheoretische Aspekte
weltlichen Szenen“ („real-world scenes“).63 Eine „Szene“ könnte demnach genauso gut die Flora und Fauna in einem Garten sein wie eine Filmszene oder nicht unmittelbar wahrnehmbare Entitäten wie innere Organe eines Menschen (Fillmore 1977a, S. 71). Wie vorhin ausgeführt, können „realweltliche Szenen“ selbst nur unter bestimmten Umständen verstehensrelevant werden, nämlich nur im Modus der Nachträglichkeit, von dem ich in diesem Zusammenhang gesprochen habe, und nur in Gestalt von Annahmen oder Überzeugungen über „real-weltliche Szenen“. Fillmore ist sich dessen vollauf bewusst und meint mit „Szenen“ deshalb meistens keine real-weltlichen Gegebenheiten, sondern mentale Modelle derselben. Gleichwohl steckt hinter der Redeweise von „real-weltlichen“ und „visuellen Szenen“ ein bestimmtes Kalkül. Im Gegensatz zu „Frames“ zeichnen sich nämlich „Szenen“ durch einen gewissen Überschuss an epistemischer Information aus. Sie enthalten mannigfaltige Details: eine Vielzahl von Entitäten mit verschiedensten äußeren Formen und farblichen Abschattierungen, Entitäten, die sich räumlich durch vielfache Figur-Grund-Relationen voneinander abheben. Unser sehendes Auge erfasst solche Einzelheiten einer „visuellen“, „real-weltlichen Szene“, obgleich sie im nächsten Moment wieder unserer bewussten Wahrnehmung entzogen sein mögen. Im Fall einer „schematisierten Szene“ verhält es sich nicht grundsätzlich anders. Schematisiert ist eine „Szene“ zwar gerade deswegen, weil nur einige Elemente dem Bewusstsein im Modus der Nachträglichkeit zugänglich, also im Gedächtnis abgespeichert sind. Dennoch ist die Fülle an gegebenen Informationen immer noch beträchtlich.64 In diesem Punkt unterscheiden sich „Szenen“ und „Frames“ fundamental voneinander. Denn mit letzteren bezieht sich Fillmore lediglich auf ein „system of linguistic choices“ (1977a, S. 73; Hervorhebung von mir, AZ) und eben nicht auf den mit Worten („collection of words“) oder grammatischen Kategorien („grammatical categories“) assoziierten Erfahrungszusammenhang. Das ändert sich in seinen späteren frame-semantischen Schriften. Eine interessante Umbruchstelle markiert Fillmores 1982 erschienener programmatischer Aufsatz „Frame Semantics“ (Fillmore 1982a). Rückblickend reflektiert Fillmore (1982a, S. 116f.) hier über seine Kasusrahmen-Theorie, erläutert in diesem Zusammenhang aber ausschließlich den Begriff „Szene“, bevor er unter dem Label „cognitive frames“ (S. 117) eine dezidiert semantische Kategorie einführt, die er folgendermaßen erläutert: A ‚frame‘, as the notion plays a role in the description of linguistic meanings, is a system of categories structured in accordance with some motivating context. […] The 63 64
„Communicators operate on theses scenes and frames by means of various kinds of procedures, cognitive acts […], comparing presented real-world scenes with prototypical scenes, and so on.“ (Fillmore 1977a, S. 66) Man denke etwa an eine typische Wohnzimmer-Szene, wie sie Minsky (1975; 1988, S. 249f.) beschreibt.
2. Frames und „symbolische Einheiten“
225
motivating context is some body of understandings, some pattern of practices, or some history of social institutions, against which we find intelligible the creation of a particular category in the history of the language community. (Fillmore 1982a, S. 119)
Nach dieser Neubestimmung erscheint es nur folgerichtig, dass in Fillmore 1984 die Begriffe „Szene“ und „Frame“ den Termini „Schema“ bzw. „Schematisierung“ weichen.65 „Schemata“ bestimmt Fillmore als komplexe kognitive Einheiten, die Wörter – d.h. phonologische Einheiten in der Terminologie Langackers – bei Rezipientinnen und Rezipienten aufrufen (Fillmore 1984, S. 143).66 Ein Jahr später gibt Fillmore (Fillmore 1985) den Begriff „Szene“ schließlich ganz auf. „Frames“ fungieren nunmehr als Inbegriff für verstehensrelevantes Wissen überhaupt. Vor diesem Hintergrund möchte ich im Folgenden die These vertreten, dass der Begriff „Szene“ Fillmore als Mittel dient, um allmählich einen weiten Frame-Begriff zu etablieren, der nicht mehr auf die v.a. an der Valenz von Verben ausgerichteten „Case Frames“ beschränkt ist. Kasusrahmen beschreiben, welche Tiefenkasus (oder „semantischen Rollen“67) die kombinatorischen Eigenschaften von Verben in semantischer Hinsicht ausmachen (Fillmore 2006, S. 616). Dabei begreift Fillmore Kasusrahmen schon als Konstruktionsschemata, „that structure our experience independently of language“ (Fillmore 1977c, S. 102). Auch Kasusrahmen sind folglich eng mit einer bestimmten (Welt-)Wissensdomäne verbunden und nicht als ‚rein‘ syntaktisches Format misszuverstehen. Deshalb setzt Fillmore Kasusrahmen mit Schemata gleich, die uns erlauben, eine Domäne unseres Weltwissens sprachlich zu erschließen: Our knowledge of [a] domain consists in knowing what the […] schema is and in knowing how particular lexical items index particular parts of it. I see no particular advantage in separating out one part of this as strictly semantics and another part as something else. (Fillmore 1977c, S. 102)
Obwohl demnach bereits die Kasusrahmentheorie für das Postulat der Verstehensrelevanz einsteht und mithin einer Trennung von Sprach- und Weltwissen eine Absage erteilt, bleiben in Kasusrahmen dennoch viele Wissensaspekte unberücksichtigt, die in „Szenen“ enthalten sind. So gibt ein Kasusrah65
66 67
An einer Stelle tauchen die Begriffe „frame“ und „scene“ noch auf: „The language we use reflects the ways in which we ‚frame‘ or ‚schematize‘ the world of the text […].“ (Fillmore 1984, S. 137) Und eine Seite weiter heißt es: „[S]cenes and schematizations introduced quite incidentally in one part of a text can provide major scaffolding for later parts of the text’s envisionment.“ Ganz im Sinne des diskutierten „symbolischen Prinzips“ verläuft nach Fillmore auch hier die Aktivierung über Kategorisierungslinks (die etwa zwischen Schemata und Instanzen bestehen). Statt von „Tiefenkasus“ sprechen Dirven und Radden (1977) konsequent von „semantischen Rollen“ – eine Redeweise, die der satzsemantischen Ausrichtung der Theorie Fillmores besser gerecht wird. Semantische Rollen sind etwas grundsätzlich anderes als grammatische Kasus. Insofern ist der Begriff „Tiefenkasus“ irreführend.
226
IV. Zeichentheoretische Aspekte
men nur Auskunft darüber, wie viele und welche semantische Rollen ein sprachlicher Ausdruck, meist ein Verb, fordert. Ohne Vollständigkeit zu beanspruchen, nennt Fillmore (1968, S. 24-25) sechs verschiedene Tiefenkasustypen.68 Es dürfte aber zum einen evident sein, dass mit diesen sechs Leerstellen nicht alle Bereiche verstehensrelevanten Wissens abgedeckt werden können. Zum anderen sagt ein Kasusrahmen überhaupt nichts über den epistemischen Reichtum möglicher Elemente aus, die die Funktion einer semantischen Rolle übernehmen. Man denke in diesem Zusammenhang etwa an das Element „Verkäufer“, das im Kasusrahmen des Verbs verscherbeln die semantische Rolle „dative“ besetzt. Das Verb verscherbeln motiviert sicherlich Inferenzen über mögliche Eigenschaften des Verkäufers und mögliche Gründe dafür, warum dieser etwas verscherbelt. Ich komme auf ähnliche Beispiele gleich zurück. Fillmores späterer Frame-Begriff zielt dagegen auf einen umfassenden semantischen Beschreibungsansatz, der auch vorausgesetztes, beim Verstehen aktualisiertes Wissen und dessen strukturell-kognitive Eigenschaften erfasst: Such a frame represents the particular organization of knowledge which stands as a prerequisite to our ability to understand the meanings of the associated words. (Fillmore 1985, S. 224)
Wie stark sich Fillmores frühe frame-semantische Aufsätze (etwa Fillmore 1975, 1976a, 1977a) im Gegensatz dazu noch an die Konzeption von Kasusrahmen anlehnen, macht die dortige Reduzierung von „Frames“ auf Formate sprachlich-grammatischer Ausdrucksmöglichkeiten deutlich. Innerhalb einer „Szene“ könne man Orientierung durch „the kinds of frames known as case frames, and a set of procedures or cognitive operations“ (Fillmore 1977a, S. 66) gewinnen. Anders als in der Kasusgrammatik bilden zwar keine semantischen Rollen den Bezugsgegenstand für Frames, sondern situative Rollen.69 Situative müssen nicht wie semantische Rollen morphologisch markiert sein; sie können auch unabhängig von valenzbedingten Eigenschaften Elemente eines Frames bilden. Dennoch lassen sich oftmals situative Rollen von semantischen Rollen ableiten. Dies zeigt sich etwa am Beispiel des „Commercial Transaction Frame“, ein Beispiel, das Fillmore an mehreren Stellen zur Veranschaulichung anführt.70 Dieser „Frame“ enthalte die Elemente (a) Käufer, (b) Verkäufer, (c) Ware und (d) Geld, denen Verben wie kaufen, verkaufen, kosten und ausgeben jeweils korrespondieren (vgl. Tab. 1). Jedes Verb ruft den ganzen „Commer68 69 70
Nämlich „agentive“, „instrumental“, „dative“, „factitive“, „locative“ und „objective“. An anderen Stellen werden einige durch andere ergänzt (vgl. Fillmore 1971a; 1971c). Vgl. auch Petruck 1996, S. 1. Fillmore 1976b, S. 25; 1977a, S. 58-60; 1977b; 1977c, S. 99, 101-102; 1982, S. 117. In seinen späteren Aufsätzen, in denen der Begriff „Szene“ nicht mehr auftaucht, greift Fillmore interessanterweise auch auf dieses Beispiel nicht mehr zurück.
2. Frames und „symbolische Einheiten“
227
cial Transaction Frame“ auf, perspektiviert ihn jedoch auf eine je spezifische Weise.71 Vergleiche hierzu folgende Beispiele: (1) (2) (3) (4)
Peter hat für zwanzigtausend Euro von Hans ein Auto gekauft. Hans hat Peter für zwanzigtausend Euro ein Auto verkauft. Das Auto hat Peter zwanzigtausend Euro gekostet. Peter hat zwanzigtausend Euro für ein Auto ausgegeben.
In (1) führt das Verb kaufen dazu, dass man den beschriebenen Vorgang unter der Perspektive des Käufers betrachtet, während die anderen FrameElemente (b), (c) und (d) in den Hintergrund rücken, weiterhin aber verstehensrelevant bleiben. Analoges gilt für die Beispiele (2)-(4). Entscheidend ist: Was Fillmore mit Blick auf semantische „Frames“ zu veranschaulichen versucht, unterscheidet sich nicht fundamental von Kasusrahmen. In (3) und (4) eröffnet der Kasusrahmen von kosten bzw. ausgeben auf der Oberflächenebene keine syntaktische Leerstelle für das Frame-Element „Käufer“, während in beiden anderen Fällen alle vier Elemente realisiert werden können. Das heißt freilich nicht, dass das Frame-Element „Käufer“ in (3) und (4) keine Rolle spielen würde. Gerade weil alle genannten Verben, also auch kosten und ausgeben, den ganzen Frame, also auch das Bedeutungspotential eines Ausdrucks, aufrufen, darf auch dieses Element in der Bedeutungsanalyse nicht ignoriert werden. Beachtlich ist nur, dass sich alle vier Frame-Elemente in einen Tiefenkasus überführen lassen (siehe Tab. 1). Frame-Elemente Käufer Verkäufer Ware Geld
Ⱥ Ⱥ Ⱥ Ⱥ
Verben kaufen verkaufen kosten ausgeben
Ⱥ Ⱥ Ⱥ Ⱥ
Tiefenkasus „agentive“ „dative“ „objective“ „instrumental“72
Tab. 1: Beziehungen zwischen Elementen des „Commercial Transaction Frame“, Verben und Tiefenkasus (der Typisierung in Fillmore 1968 folgend)
71
72
Perspektivieren meint hier Füllen syntaktisch relevanter Leerstellen mit Werten. Leerstellen eines Frames, die aufgerufen, aber nicht gefüllt werden, haben den Status eines Bedeutungspotentials (sie sind also mit Standardwerten belegte Leerstellen). Dies ermöglicht es etwa, Kohärenz zwischen Sätzen herzustellen. Vergleiche folgende Beispielsätze, in denen der gemeinsame Standardwert „Geld“ entscheidend ist: Das Auto kostet 10.000 Euro. Er bezahlte bar. Das Auto kostet 10.000 Euro. Er gab dafür den letzten Cent aus, den er hatte. Mit „instrumental“ meint Fillmore v.a. das nötige Mittel für den Vollzug einer Handlung (und nicht den Zweck einer Handlung). – Sofern in Verbindung mit dem Verb ausgeben das Nomen Geld nicht in der Satzsubjektstellung vorkommt, unterscheidet sich der „instrumental“ von den drei anderen Tiefenkasus. Entscheidend ist hier, dass das Verb ausgeben (anders als die anderen Verben) den instrumentalen Tiefenkasus semantisch in den Vordergrund rückt bzw. profiliert.
228
IV. Zeichentheoretische Aspekte
Der Mehrwert, von „Schemata“ oder „Frames“ statt von Kasusrahmen zu sprechen, bleibt folglich äußerst gering. Er beschränkt sich weitgehend darauf, den Analysefokus von valenz- zu bedeutungstheoretischen Fragestellungen zu verschieben, allerdings ohne den damit abgedeckten Bereich verstehensrelevanten Wissens signifikant zu erweitern. Allein durch die Einführung des Begriffs der „Szene“ kommt der Bereich des verstehensrelevanten Wissens in seiner ganzen Breite in den Blick. Um semantisch nicht (wie ich das schon in der Auseinandersetzung mit MehrEbenen-Modellen diskutiert habe) reduktionistisch zu verfahren und einem „syntaktozentristischen“ Fehlschluss zu obliegen,73 dient der Begriff „Szene“ in Fillmores frühen Aufsätzen gleichsam als Regulativ und erfüllt hinsichtlich des auch von Fillmore (etwa in 1985) vertretenen Postulats der Verstehensrelevanz eine kompensatorische Funktion. Zum Verstehen eines einzelnen Frame-Elements bedarf es einer Fülle von Wissensaspekten. Natürlich ist es plausibel und innerhalb kasustheoretischer Überlegungen durchaus sinnvoll, davon auszugehen, dass etwa das Verb kosten nicht nur auf das FrameElement „Ware“ Bezug nimmt, sondern vielmehr den ganzen Frame aufruft. Doch darin erschöpft sich das verstehensrelevante Wissen nicht. Kosten mögen hoch oder niedrig, angemessen oder überzogen sein; sie mögen etwas über den Status der „Ware“ sagen (man denke an die Kosten eines Gemäldes auf einer Kunstauktion) und mithin den Käufer in vielfacher Hinsicht auszeichnen; und sie mögen nicht weniger hinsichtlich ihres Bezugsgegenstandes differenziert sein (laufende Kosten, Folgekosten, deckende Kosten, Zusatzkosten). Die Liste ließe sich endlos fortführen.74 Fillmore hat jüngst sehr treffend charakterisiert, wie sich der FrameBegriff in seinen Arbeiten gewandelt hat: The case frames started out as clusters of participant roles using, initially, names from an assumed universally valid finite inventory of such roles and it was thought that any verbal meaning could be seen as using some collection of these. The frames of current frame semantics, in contrast, are described in terms of characteristics of the situation types themselves, including whatever could be said about the background and other associations of such situations. (Fillmore 2006, S. 616)
„Szenen“, verstanden als mentale Modelle, sind „Situationstypen“ in dem hier von Fillmore explizierten Sinne. Sie enthalten jene notwendigen Hintergrundannahmen, die nötig sind, um einen sprachlichen Ausdruck innerhalb eines
73
So Jackendoffs Kritik am Standardmodell der generativen Grammatik. „Syntactocentrism“ sei ein „scientific mistake“ (Jackendoff 2003, S. 654), „just an assumption that itself was partly a product of historical accident“ (Jackendoff 1997, S. 19). 74 Entschieden anders als in der Kasusrahmentheorie hat Fillmore mit der Frame-Semantik einen Ansatz verfolgt, „in which there can be an unlimited number of semantic role systems, associated with individual frames, an approach which even allowed some frames to be unique to single lexical items“ (Fillmore 2003, S. 466).
3. Relationen
229
bestimmten Kontextes zu verstehen.75 Sobald aber ein genuin framesemantischer Frame-Begriff eingeführt ist, erübrigt es sich, dem Terminus der „Szene“ weiterhin einen Platz innerhalb der Theorie einzuräumen. Der Terminus ist überflüssig geworden, weil er einem neuen Verständnis von Frames als Repräsentationsformate verstehensrelevanten Wissens gewichen ist. Die Frage, ob „Szenen“ Elemente semantischer Einheiten bilden, lässt sich demnach nicht eindeutig mit ja oder nein beantworten. Fillmores Begriff der Szene ist dafür zu undifferenziert und zu ambigue. Ist mit einer „Szene“ ein (weitestgehend konventionalisierter) Erfahrungszusammenhang gemeint, den ein Sprachbenutzer oder eine Sprachbenutzerin mit einem sprachlichen Ausdruck verbindet, und kann dieser auch im Modus der Nachträglichkeit in Gestalt von (propositional gegliederten) Hintergrundannahmen auftreten, so sind „Szenen“ in der Tat integrale Bestandteile semantischer Einheiten.76 Der Begriff „Szene“ ist dann allerdings gleichbedeutend mit dem Begriff „Frame“ in Fillmores späteren Publikationen. Ist mit einer „Szene“ hingegen eine „real-weltliche Szene“ gemeint, so handelt es sich zwar um eine wahrnehmungsphänomenologisch relevante Größe, die zweifelsohne als implizites Bezugsobjekt „primärer Handlungs- und Lebensvollzüge“ (Demmerling 2002, S. 161) fungieren mag. Sie findet so aber keinen Niederschlag in semantischen Einheiten, weil sie aufgrund ihrer nicht-propositionalen Verfasstheit im Modus der Nachträglichkeit nicht verstehensrelevant werden kann. Insgesamt ist es also nicht nötig, neben „Frames“ ein zweites Organisationsformat semantischer Einheiten anzusetzen.
3. Relationen Um letztlich auszumachen, ob Fillmores „Frames“ (oder eben „kognitive Szenen“) semantische Einheiten strukturieren, muss sichergestellt sein, dass diese konventionalisierte und nicht nur kontextuell bedingte Hintergrundannahmen bündeln. Diesem Einwand vorbeugend hatte ich in Abschnitt VI.2.1 argumentiert, dass es Frames mit Standardannahmen seien, die eine semantische Einheit formieren. Fillmore selbst spricht allerdings, wie im Zitat oben, 75
76
Den Begriff „Hintergrund“ („background“) verwendet Fillmore hier – anders als etwa Zlatev – nicht im Sinne von Searle. Er meint mit ihm eher, im weitesten Sinn, Präsuppositionen, also propositional strukturierte Einheiten, weshalb ich den Terminus „Hintergrundannahmen“ vorziehe. Searle zielt dagegen, zumindest in Searle 1979 eher auf soziale Praktiken ab; in Searle 1998 (S. 147) setzt Searle jedoch „Hintergrund“ mit Hintergrundannahmen gleich. Diese Sichtweise dominiert in der Literatur. Ungeachtet der aufgezeigten Ambiguität setzt beispielsweise Post (1988, S. 38) „Szenen“ mit „mentalen Repräsentationen“ gleich: „Fillmores scenes are chunks of knowledge of varying size, stereotypical, simplified, representing a common sense understanding of real world situations. Scenes are intended to be mental representations of language user’s real world experiences, i.e. scenes are also experientially based.”
230
IV. Zeichentheoretische Aspekte
nur sehr allgemein von einem „Hintergrund“ und „Assoziationen“, die mit einer „Situation“ verbunden seien. Der Status eines solchen „Hintergrundes“ und solcher „Assoziationen“ bleibt dabei unbestimmt. Erst Seana Coulson (2001, S. 47) führt in ihrer frame-semantischen Arbeit die Unterscheidung zwischen Standardelementen („default values“) und emergenten, kontextabhängigen Elementen eines Frames („nonce sense“) ein.77
Gebrauchsereignis
symbolische Einheit semantische Einheit
(a)
phonologische Einheit
(b)
Gebrauchsbedeutung qua [semantische] Konzeptualisierung
(a)‘
phonologische Konzeptualisierung
Abb. 7: Relationen: (a) zwischen einer semantischen und einer phonologischen Einheit; (a)’ zwischen einer Gebrauchsbedeutung und einer phonologischen Konzeptualisierung; (b) zwischen (Elementen) einer semantischen Einheit und (Elementen) eines Gebrauchsereignisses
Setzen wir diese Unterscheidung zunächst als gegeben und sinnvoll voraus und richten unsere Aufmerksamkeit noch einmal auf das zeichentheoretische Grundmodell Langackers, so sind zwei wichtige Relationen bislang noch nicht thematisiert worden: (a) die Relation zwischen einer semantischen und einer phonologischen Einheit (b) die Relation zwischen einer semantischen Einheit und ihrer (möglichen) Gebrauchsbedeutung. Zur Verdeutlichung sind in Abb. 7 die beiden Relationen (a) und (b) noch einmal eingezeichnet und hervorgehoben. Aus der Abbildung ist auch ersicht77
„Consequently, meaning construction is best construed as occuring on a continuum that has the retrieval of standard frames and default values at one hand, and the creation of nonce sense at the other. “ (Coulson 2001, S. 47)
3. Relationen
231
lich, dass neben der Relation (a) eine Variante (a)’ existiert, die sich auf ein Gebrauchsereignis bezieht. Der Begriff „Relation“ (oder „Beziehung“ oder „Korrelierung“) ist hier nur eine Metapher für einen inferentiellen Prozess, den die phonologische Einheit eines Sprachzeichens bei einem verstehenden Sprachbenutzer oder einer verstehenden Sprachbenutzerin in Gang setzt. Das gilt für die stark routinisierte Korrelierung von phonologischer und semantischer Einheit nicht weniger als für den weitaus weniger routinisierten Übergang von einer semantischen Einheit zu einer Gebrauchsbedeutung. An einer früheren Stelle hatte ich bereits erläutert, inwiefern die Beziehung zwischen einer phonetischen und einer semantischen Einheit symbolischer Natur ist. Zwischen (Elementen aus) symbolischen Einheiten und (Elementen aus) Gebrauchsereignissen bestehen Langacker zufolge dagegen Kodierbeziehungen (Langacker 1991a, S. 294-298). Unklar bleibt allerdings, wie man sich den Übergang von einer semantischen Einheit zu einer möglichen Gebrauchsbedeutung vorzustellen hat. Welche Elemente der semantischen Einheit gehen in die Gebrauchsbedeutung ein? Auf welche Art und Weise „kodieren“ Elemente der semantischen Einheit die Gebrauchsbedeutung? Und inwiefern unterscheidet sich letztere strukturell von einer semantischen Einheit? Hinsichtlich der Beziehung zwischen phonetischen und semantischen Einheiten ergeben sich ganz ähnliche Fragen, denen ich zunächst nachgehen möchte. 3.1 „Aufgerufene“ Frames und „abgerufene“ Frames (C. Fillmore) Beginnen wir also mit der Relation (a) und (a)’. Ein Anlass dafür, Frames für die Semantik-Theorie fruchtbar zu machen, war Fillmores Beobachtung, dass viele sprachliche Ausdrücke eine gleichsam indexikalische Funktion erfüllen. Nicht nur Wörter wie kaufen, schenken, verdienen usw. implizieren schematisierte Erfahrungs- und Handlungszusammenhänge. Auch das Verstehen komplexerer Ausdrücke wie Idiome und usuelle Wortverbindungen erfordert die Kenntnis eines angemessenen Kontextes, in dem diese auftreten können. Fillmores Beispiele dafür sind etwa: (5) (6)
Wenn man vom Teufel spricht! Wie klein die Welt ist.78
Ohne dass die jeweiligen Satzbedeutungen kompositionell erschlossen werden müssten, verweisen die beiden usuellen Wortverbindungen als Ganze auf typi78
Fillmore 1976b, S. 25. Im Original: „speak of the devil“ und „what a small world“.
232
IV. Zeichentheoretische Aspekte
sche soziale Kontexte, in denen sie geäußert werden könnten. Dieser Umstand verleiht ihnen den Status von „Konstruktionen“ (im oben erläuterten technischen Sinn). Die Bedeutung von (5) und (6) ist mehr als die Summe der Bedeutungen ihrer Teile. „My point is that these expressions too are, in a sense, indexical, in that their appearance is predictive of a number of details of the situations of their performance.“ (Fillmore 1976a, S. 25) Insofern sich Sprachbenutzerinnen und Sprachbenutzer mittels sprachlicher Ausdrücke unterschiedlicher Komplexität auch kontextuelle Zusammenhänge, in denen diese Ausdrücke gewöhnlich auftreten, vergegenwärtigen können, kommt sprachlichen Tokens eine Art Stimulusfunktion zu: „[W]ords and morphemes ‚activate‘ the associated schemata in the interpreter’s mind“, wie es Fillmore (1976a, S. 13) formuliert. Wie im Fall von (5) und (6) kann dabei nicht immer zwischen semantischem und pragmatischem Wissen unterschieden werden. So stellt das aktivierte Schema hier zwar Bedeutungswissen darüber bereit, was in (5) ein Teufel und in (6) eine Welt ist. Doch eigentümlich ist an den beiden Sätzen gerade, dass wir sie als integrierten Teil einer situativen Einbettungsstruktur verstehen. Es sind phonologische Einheiten, die derartige Aktivierungen schematischen Wissens motivieren. Solange der Verbund von phonologischer Einheit und assoziierter Bedeutung den Status einer Konstruktion hat, können phonologische Einheiten durchaus komplexer Natur sein. So ist beispielsweise mit der einfachen phonologischen Einheit [teufel] genauso eine semantische Einheit assoziiert wie mit der sehr komplexen Einheit [wenn man vom Teufel spricht]. Nehmen wir nun an, semantische Einheiten bilden eine komplexe, durch Frames organisierte Struktureinheit. Die Aktivierung von Frames kann dann, wie Fillmore betont, aus zwei Blickwinkeln betrachtet werden. Interpretative frames can be introduced into the process of understanding a text through being invoked by the interpreter or through being evoked by the text. A frame is invoked when the interpreter, in trying to make sense of a text segment, is able to assign it an interpretation by situating its content in a pattern that is known independently of the text. A frame is evoked by the text if some linguistic form or pattern is conventionally associated with the frame in question. (Fillmore 1985, S. 232)
Sprachliche Ausdrücke ‚evozieren‘ also schematisiertes Bedeutungswissen.79 Dabei handelt es sich aus der Sicht des verstehenden Individuums weniger um einen mechanischen Vorgang als vielmehr um einen Prozess aktiven Konstruierens bzw. Inferierens. Fillmore spricht in diesem Zusammenhang von „invocation“ und zielt damit auf einen interpretativen Zugriff auf Texte ab, durch den Textkohärenz gestiftet wird. Am besten scheint mir das Begriffspaar „aufrufen“ und „abrufen“ geeignet zu sein, um die intendierte begriffliche Unterscheidung zwischen „to evoke“ und „to invoke“ fassbar zu 79
Vgl. auch Fillmore 1982a, S. 116, 122, 124; 1985, S. 242.
3. Relationen
233
machen.80 Eine phonologische Einheit, so könnte man sagen, ruft einen Frame auf, und ein Sprachbenutzer oder eine Sprachbenutzerin ruft einen Frame ab. Ich meine nun, dass Fillmore mit dem Begriff „Evozierung“ bzw. „Aufrufen“ genau die in Abb. 7 markierte Relation (a) charakterisiert, während der Begriff „Abrufen“ („invocation“) auf die Relation (a)’ zutrifft.81 Dafür gibt es gute Gründe, die ich kurz darlegen möchte. Nimmt man Fillmore im letzten Zitat beim Wort, kann ein sprachlicher Ausdruck nur unter einer Bedingung einen Frame ‚evozieren‘: Bei den aufgerufenen Frame-Elementen muss es sich um konventionalisierte Wissenselemente handeln. So heißt es auch an einer anderen Stelle: [W]e have cases in which the lexical and grammatical material observable in the text ‚evokes‘ the relevant frames in the mind of the interpreter by virtue of the fact that these lexical forms or these grammatical structures or categories exist as indices of these frames […]. (Fillmore 1982a, S. 124)
Wird ein Frame von einer Wortform, einer grammatischen Struktur oder Kategorie – kurzum einer phonologischen Einheit – ‚evoziert‘, erfüllt diese Einheit eine indexikalische Funktion.82 Sie ruft bei einem Zeichenbenutzer oder einer Zeichenbenutzerin einen Frame auf, ohne dass er oder sie Einfluss auf die Gestalt des aufgerufenen Frames nehmen könnte, ja, ohne dass sogar verhindert werden könnte, dass der Frame aufgerufen wird.83 Der Grund dafür liegt einerseits in dem starken symbolischen Band, das Form und Inhalt aneinander bindet, und andererseits in der Verfasstheit eines aufgerufenen Frames selbst. Dieser besteht nämlich lediglich aus Standardwerten. Von kontextuellen Bedeutungsaspekten, die sich aus der je spezifischen kontextuellen Einbettungsstruktur eines Wortes ergeben, ist im Fall der ‚Evozierung‘ per definitionem abgesehen (Petruck 1996, S. 3). Deshalb darf es auch nicht 80
81
82 83
Das Verb „to invoke“ benutzt Fillmore an zahlreichen Stellen: Fillmore 1982a, S. 124; 1985, S. 232, 234. In der deutschen Übersetzung von einer „Invokation“ zu sprechen, ist sicherlich (wegen des religösen Frames, den dieser deutsche Ausdruck aufruft) völlig unpassend. Deshalb bevorzuge ich im Folgenden für „evocation“ „Aufrufen“ und für „invocation“ „Abrufen“. In der Regel wird diese Unterscheidung in der Literatur übersehen. So sprechen etwa Beaugrande/Dressler (1981, S. 90) auch dann von einer „Evozierung“ bzw. „Evokation“, wenn es um Kohärenzphänomene geht. Langacker (etwa 1987, S. 158) und auch Busse (etwa 1991a, S. 102) scheinen dagegen den Unterschied zur Kenntnis zu nehmen. Im Sinne von Searle 1979, S. 44. Putnam weist zusätzlich darauf hin, dass jede natürliche Sprache notwendigerweise deiktische Komponenten aufweise. Nur wenn dem nicht so wäre, ließe sich zwischen Semantik und Pragmatik trennscharf unterscheiden. Lakoff (2004, S. 3) gibt dafür ein anschauliches Beispiel: „When I teach the study of framing at Berkeley, in Cognitive Science 101, the first thing I do is I give my students an exercise. The exercise is: Don’t think of an elephant! Whatever you do, do not think of an elephant. I’ve never found a student who is able to do this. Every word, like elephant, evokes a frame, which can be an image or other kinds of knowledge: Elephants are large, have floppy ears and a trunk, are associated with circuses, and so on. The word is defined relative to that frame. When we negate a frame, we evoke the frame.“
234
IV. Zeichentheoretische Aspekte
verwundern, dass individuelle Zeichenbenutzer und Zeichenbenutzerinnen unter der Perspektive der Evozierung keine Rolle spielen. Entscheidend ist der Bedeutungsgehalt, den Individuen mit einer phonologischen Einheit allein deswegen verbinden, weil sie ein und derselben Sprachgemeinschaft angehören, und das heißt: weil sie qua Zugehörigkeit zu dieser Sprachgemeinschaft mit einer bestimmten phonologischen Einheit eine bestimmte semantische Einheit arbiträr assoziieren. Ein Wort, einen Satz, einen Text zu verstehen, geht aber weit über diesen Evozierungsprozess hinaus. Es bedarf der Interpretation dieser sprachlichen Ausdrücke. Hinsichtlich jeder symbolischen Einheit,84 so argumentiert Fillmore, stehe ein Zeicheninterpret vor der Aufgabe, eine zufrieden stellende Antwort auf die Frage zu geben, warum ein Zeichenproduzent oder eine Zeichenproduzentin genau diese phonologische Einheit in genau diesem Kontext ausgewählt hat.85 Damit wiederum seien drei Teilfragen verbunden (Fillmore 1985, S. 234): (i) Welche Frames sind zum relevanten Zeitpunkt innerhalb der Textwelt bereits aktiviert? (ii) Welche Werte („fillers“/„default values“) wurden den Leerstellen („slots“) dieser Frames bereits zugewiesen? (iii) Welche Funktion könnte innerhalb des in (i) und (ii) angesprochenen Kommunikationssettings jener Frame erfüllen, den die aktuell vorliegende phonologische Form aufruft? Erst durch die Beantwortung dieser Fragen wird der Übergang von einer semantischen Einheit zu einer Gebrauchsbedeutung vollzogen. So vage in (i) der Begriff „Textwelt“ und in (ii) die Beziehung zwischen Textwelt und aktivierten Frames sein mag, und so sehr an dieser Stelle ebenso unklar bleibt, wie der für (iii) erforderliche Prozess der konzeptuellen Integration konkret abläuft – es dürfte dennoch kein Zweifel daran bestehen, dass Fillmore mit (i)-(iii) einen interpretativen Prozess der Kontextualisierung im umfassenden Sinne meint (vgl. Busse 2007). Denn die von einem Interpreten oder einer Interpretin anvisierte „maximally rich interpretation“ (Fillmore 1985, S. 234) ist nur im Rückgriff auf die ganze Breite potentiell verstehensrelevanten Wissens zu erreichen.86 Kohärenz wird eben nicht dadurch gestiftet, dass phonologische Einheiten Frames ‚aufrufen‘, sondern vielmehr dadurch, dass im Abgleich mit gegebenen Textinformationen etabliertes Wissen qua Frames ‚abgerufen‘ wird, um so zu einer plausiblen und konsistenten Textinterpretation zu gelangen. Und das bedeutet: Sprachbenutzerinnen und Sprachbenutzer suchen Antworten auf die Fragen (i)-(iii). 84 85 86
Fillmore (1985, S. 234) spricht von „conventional linguistic form[s]“. Vgl. Fillmore 1985, S. 234: „Why did the speaker select this form in this context?“ Vgl. hierzu die Fallstudie in Fillmore 1981 (insbesondere S. 250-252), aus der auch hervorgeht, welche konkrete Gestalt die Beantwortung der Fragen (i) und (ii) annehmen kann.
3. Relationen
235
The interpreter must […] invoke the kinds of knowledge which will make it possible to integrate the answers to these questions [(i)-(iii), AZ], for the individual lexical items and grammatical constructions found in the text, in the job of constructing an interpretation of the text as a whole. (Fillmore 1985, S. 234)
Daraus ergibt sich ein wesentlicher Unterschied zwischen aufgerufenen („evoked“) und abgerufenen („invoked“) Frames. Letztere resultieren stärker aus inferentiellen Konstruktionsleistungen,87 weswegen Fillmore auch von „interpretativen” Frames spricht. Mit ihrer Hilfe gelingt es Sprachbenutzerinnen und Sprachbenutzern, das Prinzip der Sinnkonstanz aufrechtzuerhalten, sei es durch abgerufene Frames, die dem Hintergrundwissen entstammen, sei es durch abgerufene Frames, die vorangegangene Textelemente (im Sinne von „Wissen über die bereits konstituierte Textwelt“ in Busses Typologie) evoziert haben und sich nun als verstehensrelevant erweisen.88 Daraus wiederum folgt, dass abgerufene Frames Kohärenz erzeugen. So formuliert auch Busse: „Kohärenz“ wäre demnach weniger eine Eigenschaft eines Textes als Kette von Zeichen-Ausdrucksseiten [also phonologischen Einheiten, AZ], sondern eine Eigenschaft von durch sprachliche Zeichenverwendungen aktivierten Textwelten; ein „Zusammenhang“ von einzelnen Bezugselementen (seien es „Konzepte“, oder „Rahmen", „Skripts“, „Pläne“) ist nur dann gegeben, wenn dieser Zusammenhang vom Weltwissen der Beteiligten her möglich erscheint. (Busse 1991a, S. 102)
„Konzepte“, „Rahmen“, „Skripts“ und „Pläne“ sind Sondertypen abgerufener Frames. Allesamt sind sie nicht direkt durch die material gegebene und kognitiv repräsentierte Ausdrucksgestalt eines Sprachzeichens (also durch phonologische Einheiten) motiviert, sie ‚hängen‘ nicht an den Worten und Wörtern selbst, wie es bei evozierten Frames der Fall ist. Stattdessen bündeln sie solche Inferenzen, die ich im Zusammenhang mit maximalistischen und situativen Inferenztheorien thematisiert habe. Diesen Unterschied kann man sich an folgendem Beispiel verdeutlichen. (7)
Nachdem beide „ja“ gesagt hatten, durften sie sich küssen.
Obwohl in (7) nicht ausdrücklich von einer Heirat die Rede ist, können wir uns diesen übergeordneten Zusammenhang auf der Basis der gegebenen Textelemente ohne weiteres erschließen. Wir rufen den Heirats-Frame dann 87
88
Dies mag zunächst an die problematische Unterscheidung zwischen „expliziten“ und „impliziten Textinformationen“ innerhalb der psycholinguistischen Inferenzforschung erinnern. „Implizite Textinformationen“ stellen Sprachbenutzerinnen und Sprachbenutzer inferentiell her; sie entsprechen der Dimension des „Abrufens“. „Explizite“ Textinformationen enthält der Text selbst; sie entsprechen der Dimension der ‚Evozierung‘. Dennoch, so hatte ich kritisiert, und das ist auch hier gültig, handelt es sich auch bei ihnen um inferentielle Leistungen von TextinterpretInnen. Vgl. Fillmore 1982a, S. 124: „Invoked frames can come from general knowledge, knowledge that exists independently of the text at hand, or from the ongoing text itself.“
236
IV. Zeichentheoretische Aspekte
im Rückgriff auf unser Hintergrundwissen ab. Die motivierten Inferenzbildungen basieren dabei auf der Korrelierung zweier evozierter Frames, von denen der eine die semantische Einheit [JA-SAGEN] und der andere die Einheit [SICH-KÜSSEN] strukturiert. Aber erst der aufgerufene HeiratsFrame stellt zwischen diesen beiden semantischen Einheiten Kohärenz her, indem sie als Instanzen der Leerstellen „wie“ und „wer“ interpretiert werden.89 „Abrufen“ [HEIRAT] Wie?
Wie? Wer?
„Aufrufen“ [BEIDE] bzw. [SIE] [JA-SAGEN]
[SICH-KÜSSEN]
Abb. 8: Aufgerufene und abgerufene Frames am Beispiel des Satzes (7)
Wie aus Abb. 8 ersichtlich, stellt den Zusammenhang ein Prozess des Abrufens her. So lässt sich auch die skriptartige Beziehung zwischen den Einheiten [JA-SAGEN] und [SICH KÜSSEN], dargestellt durch die gestrichelte Linie, allein mithilfe des aufgerufenen Heirats-Frames realisieren. Aus diesem Grund befindet sich die gestrichelte Linie in Abb. 8 außerhalb des inneren Kastens. Evoziert wird dagegen die Inhaltsseite von symbolischen Einheiten: Einheiten wie [JA-SAGEN], [SICH KÜSSEN], [BEIDE], [SIE] rufen jeweils einen Frame auf. Mit Blick auf Fillmores Kasusgrammatik könnte man darüber hinaus argumentieren, dass die beiden Verben einen Kasusrahmen aktivieren, dessen semantische Rolle „agentive“ (vgl. Fillmore 1968, S. 24-25) mit denselben Werten besetzt ist. Es ist aber wichtig zu sehen, dass die umfassen89
Hier von den Leerstellen („slots“) „wie” und „wer” zu sprechen, ist freilich eine Vereinfachung. In Kap. VI.3 und auch in der nachfolgenden Beispielanalyse werden wir sehen, dass Leerstellen eines Frames durchaus den Charakter von Fragen haben, diese aber eine komplexere Struktur als einfache Interrogativpronomen aufweisen.
3. Relationen
237
de semantische Interpretation erst mit dem Abrufen von Frames einsetzt. Hierbei erfüllen phonologische Einheiten gleichsam die Funktion kognitiver Stimuli, wenngleich die inferentielle (Re-) Konstruktion des vom Textproduzenten gemeinten Bedeutungsgehalts eine kognitive Eigenleistung des Textrezipienten darstellt.90 Wir können also festhalten, dass sich in Fillmores Unterscheidung der Prozesse Aufrufen und Abrufen Langackers Differenzierung zwischen symbolischen Einheiten und Gebrauchsereignissen spiegelt. Eine phonetische Einheit evoziert eine semantische Einheit. Die Relation (a) symbolisiert somit den Prozess des Aufrufens. Die Gebrauchsbedeutung resultiert hingegen aus dem Abrufen von Frames aus dem Hintergrundwissen. Mit der Realisierung der Relation (a)’ werden aufgerufene Frames zueinander in Beziehung gesetzt; diese stellen unter Berücksichtigung kontextueller Bedeutungsaspekte Kohärenz her. 3.2 „Bedeutungspotentiale“ (J. Allwood) Kommen wir nun zur zweiten Relation, der zwischen einer semantischen Einheit und ihrer (möglichen) Gebrauchsbedeutung. Diese Relation (b) in Abb. 7 thematisiert Fillmore nicht, obwohl sie mit frame-semantischen Mitteln ohne weiteres erklärt werden könnte. Ich halte mich deswegen zunächst an Langacker (1987, S. 65f.), der die Relation (b) als eine Kodierbeziehung charakterisiert. Dieser Auffassung zufolge dienen semantische Einheiten als Markierungs- und Ausgangspunkte, um einen semantisch reicheren Bedeutungsgehalt zu konstruieren, eben Gebrauchsbedeutungen, die sich erst relativ zu einem konkreten Kommunikationskontext ergeben. Weil sich semantische Einheiten lediglich aus konventionellen Bedeutungsaspekten zusammensetzen, sind sie mit Gebrauchsbedeutungen meistens nicht identisch (vgl. Clark/Gerrig 1983, S. 605). Semantische Einheiten bleiben vielmehr unterspezifiziert und stehen am Anfang eines Konzeptualisierungsprozesses, der nötig ist, um eine kontextadäquate Bedeutung eines Ausdrucks zu erhalten. Zwei einfache Beispiele machen das deutlich: (8) (9)
90
Beide haben „ja“ gesagt. Sie küssten sich lange.
Fillmore 1982a, S. 124: „An extremely important difference between frames that are evoked by material in the text and frames that are invoked by the interpreter is that in the latter case an ‚outsider‘ has no reason to suspect, beyond a general sense of irrelevance or pointlessness in the text, that anything is missing.“
238
IV. Zeichentheoretische Aspekte
Wie die semantische Interpretation der in (8) und (9) enthaltenen Verben ausfällt, hängt offensichtlich maßgeblich vom gegebenen Kontext ab.91 [JASAGEN] wird semantisch anders interpretiert, wenn es sich nicht um eine Eheschließung, sondern um die formale Einwilligung zweier Vertragspartner handelt. Und andere kontextuelle Bedeutungsaspekte sind im Fall von (9) aktiviert, wenn damit statt des Kusses eines Brautpaares ein Bruderkuss gemeint ist, wie er etwa zwischen Staatsmännern aus dem ehemaligen Ostblock üblich war. Kontextwissen kann so auch dazu führen, dass in Beispiel (7) nicht der Heirats-Frame abgerufen wird, sondern ein anderer Frame den Kohärenzzusammenhang herstellt.92 Aus diesem Grund sind abgerufene Frames in einem höheren Maße als aufgerufene Frames enttäuschungsanfällig und revidierbar. Wodurch zeichnen sich aber Kodierbeziehungen aus? Von ganz ähnlichen Voraussetzungen wie Langacker (1987) ausgehend, schlägt Jens Allwood (2003) vor, zwischen dem „Bedeutungspotential“ eines sprachlichen Ausdrucks einerseits und der aktuellen Bedeutung andererseits zu unterscheiden.93 It is suggested that actual meaning on the occurrence level is produced by contextsensitive operations of meaning activation and meaning determination which combine meaning potentials with each other and with contextually given information rather than by some simple compositionality operations [...]. (Allwood 2003, S. 29)
Der von Langacker als Kodierung charakterisierte Prozess wäre demnach gleichzusetzen mit (i) der Aktivierung eines bestimmten semantischen Potentials, (ii) der kontextgesteuerten Realisierung von Ausschnitten des Potentials sowie (iii) der Integration von kontextuellen Bedeutungsaspekten. Mein Vorschlag lautet nun, dass sich Allwood mit dem Begriff „Bedeutungspotential“ auf die Relation (b) bezieht, also auf den Übergang von einer semantischen Einheit zu einer Gebrauchsbedeutung. Genauer: Das „Bedeutungspotential“ eines Ausdrucks entspricht einer Menge von Standardwerten, die mit einem Ausdruck assoziiert sind und in eine Gebrauchsbedeutung möglicherweise eingehen können. 91 92
93
Was nicht heißt, dass es sich hierbei um einen Fall semantischer Polysemie handelt. Man stelle sich etwa vor, (7) wäre in folgendes Szenario eingebettet, das eine dritte Person erzählt: „Als sich Yilmaz und Olea kennen lernten, waren sie sich zunächst unsicher, wie sie der Zuneigung füreinander Ausdruck verleihen sollten. Beide waren zum ersten Mal richtig verliebt, doch in ihrem Kulturkreis ist es üblich, dass sich Männer und Frauen erst nach ausdrücklicher gegenseitiger Einwilligung küssen dürfen. Schließlich fühlte sich Yilmaz sicher genug und fragte Olea, ob er sie küssen dürfe. Olea zögerte keine Sekunde und stellte dieselbe Frage. Nachdem beide ‚ja‘ gesagt hatten, durften sie sich küssen.” Vgl. auch Busse (1991a, S. 101f.) im Rekurs auf Hörmann 1976 und Beaugrande/Dressler 1981: „‚Bedeutung‘ eines Ausdrucks (in einem Text), eines Textsegments, oder eines ganzen Textes wäre dann das Potential, eine gezielte Aktivierung von Wissen durch Textrezipienten hervorzurufen.“
3. Relationen
239
Schauen wir uns zunächst an, wie Allwood an einer anderen Stelle den Begriff „Bedeutungspotential“ erläutert, um die Relation (b) noch genauer fassen zu können. The meaning potential is all the information that the word has been used to convey either by a single individual or, on the social level, by the language community. The meaning potential, then, does not result from trying to find a generally valid type meaning for a word; rather, it is the union of individually or collectively remembered uses. (Allwood 2003, S. 43)
Das „Bedeutungspotential” ergibt sich ausschließlich aus dem (gewöhnlichen) Gebrauch eines Ausdrucks. Allwood vertritt eine kontextualistische Position, mit der er von vorneherein semantische Reifizierungstendenzen zu unterbinden sucht.94 „Bedeutungspotentiale“ entwickeln sich aus dem Sprachgebrauch und werden nur in der konkreten Sprachbenutzung relevant. Gleichzeitig ist das „Bedeutungspotential“ nicht als Menge semantischer Merkmale misszuverstehen. „Bedeutungspotentiale“ existieren vielmehr nur so lange, wie es Sprachbenutzerinnen und Sprachbenutzer gibt, die diese aktivieren, und „Bedeutungspotentiale“ variieren in dem Maße, wie Ausdrücke unterschiedlich verwendet werden. It follows that the activation of meaning potentials needs to be related to individual communicators, since different individuals do not share the same elaboration of the meaning potentials and therefore cannot allways activate the same information. (Allwood 2003, S. 45)
Wenngleich vom individuellen Gebrauch als Ort der Entstehung und Modifikation eines „Bedeutungspotentials“ nicht abstrahiert werden kann, muss doch innerhalb einer hinreichend großen Sprachgemeinschaft ein und derselbe sprachliche Ausdruck in vergleichbaren Kontexten rekurrent benutzt werden, damit sich ein „Bedeutungspotential“ herausbilden kann. Meaning potentials are thus a result of conventionalizations of semantic operations meeting contextual requirements. (Allwood 2003, S. 50)
Da „Bedeutungspotentiale“ aus Konventionalisierungsprozessen hervorgehen, liegt es nahe, sie mit der Menge aller konventionalisierten Bedeutungsaspekte eines sprachlichen Ausdrucks zu identifizieren, die zu einem bestimmten Zeitpunkt innerhalb einer bestimmten Sprachgemeinschaft gebräuchlich sind. Ein „Bedeutungspotential“ ist nach Allwood mit jedem Wort assoziiert, unabhängig von seiner Wortartenzugehörigkeit. Wäre das nicht der Fall, ginge man von einer Menge sprachlicher Zeichen aus, die keine symbolischen Ein94
Allwoods Motivation, von „Bedeutungspotentialen“ zu sprechen, liegt gerade in der Absetzbewegung von reifizierenden Semantikmodellen begründet, etwa der Theorie von „Grundbedeutungen“ oder „Gesamtbedeutungen“, wie er sie nennt. Zur letzteren zählt das von mir kritisierte Ebenen-Modell, zu dem Allwood (2003, S. 30) schreibt: „This approach, in fact, is often equivalent to essentialism, which characterizes the essence or common denominator of a word’s uses in terms of the necessary and sufficient conditions for whatever the word denotes.“
240
IV. Zeichentheoretische Aspekte
heiten wären, weil ihnen die Bedeutungsseite fehlte. Dies widerspricht entschieden dem vorgestellten „symbolischen Prinzip“. Über Allwoods Ausführungen hinaus lässt sich die Ansicht vertreten, dass sprachlichen Ausdrücken jeder Komplexitätsstufe (also auch komplexen Wörtern, Phrasen, Idiomen usw.) „Bedeutungspotentiale“ ‚anhängen‘. Zwar beschränkt sich Allwood weitestgehend auf die lexikalische Dimension, jedoch nicht ohne zu betonen, dass die syntagmatische Kombination zweier Wörter zu einem neuen komplexeren „Bedeutungspotential“ führt (Allwood 2003, S. 52-54). Genauer können wir sagen: Jede Konstruktion ist genauso mit einem „Bedeutungspotential“ assoziiert wie jede symbolische Einheit, die sich aus mehreren Konstruktionen zusammensetzt, nur dass diese aus der Kombination verschiedener „Bedeutungspotentiale“ hervorgegangen ist und insofern eine komplexere Gestalt aufweist. [BRUDERKUSS] wäre ein Beispiel für eine solche komplexe Einheit. Die Verbindung mehrerer „Bedeutungspotentiale“ führt dazu, dass sich einige Standardwerte ändern, während andere gleich bleiben. Aus dem Gesagten folgt zweierlei. Das „Bedeutungspotential“ ist zum einen mehr als ein Frame mit unbelegten Leerstellen, weil es semantische Informationen über übliche Gebrauchsweisen sprachlicher Ausdrücke enthält. Es ist zum anderen aber gleichzeitig weniger als eine Gebrauchsbedeutung (d.h. als ein Frame, dessen Leerstellen mit konkreten Werten und Standardwerten belegt sind), weil es eben nur Potential realisierbarer Bedeutungsaspekte bleibt. Welcher Teil des Potentials beim Verstehen eines gebrauchten Ausdrucks im Einzelfall tatsächlich ausgeschöpft wird, ist eine andere Frage, die sich nur relativ zu einem gegebenen Kontext beantworten lässt. Von einem „Potential“ zu sprechen, scheint mir noch aus einem anderen Grund zentral zu sein. Wenn semantische Einheiten mit phonetischen Einheiten (in Langackers weitem Sinn) symbolisch assoziiert sind, heißt das, dass konventionelle Bedeutungsaspekte eigens erschlossen werden müssen. Diese sind nicht einfach da, sondern selbst Resultate kognitiver Leistungen oder „Aktivierungen“ (Allwood 2003, S. 47). Welche Wissensaspekte ein sprachliches Zeichen evoziert, mag dabei von Sprachgemeinschaft zu Sprachgemeinschaft variieren, genauso wie Aktualisierungen misslingen können. Es besteht folglich kein Determinations-, sondern ein Aktivierungszusammenhang.95 Da Leerstellen (slots) nur Prädikationsmöglichkeiten eines sprachlichen Ausdrucks beschreiben, weshalb ich später auch vom „Prädikationspotential“ eines Ausdrucks sprechen werde, müssen zumindest einige von ihnen schon 95
Im Begriff „Potential“ kristallisiert sich somit der wesentliche Unterschied zu semantischen Ebenen-Modellen. Determination ersetzt in der Ebenen-Semantik Potentialität, und wo bei der Bedeutungskonstitution von einem Prozess der semantischen Selektion ausgegangen wird, herrschen im holistischen Gegenmodell Aktivierungsverhältnisse. Ein vergleichbarer Gebrauch des Potential-Begriffs findet sich bei Halliday (1976), Langacker (1987, S. 66), Zlatev (2003).
3. Relationen
241
mit Werten belegt sein, um für eine Gebrauchsbedeutung von Relevanz zu sein. Über das durch Leerstellen angegebene Prädikationspotential hinaus evoziert ein sprachlicher Ausdruck ja konkrete semantische Angaben, nämlich Standardwerte, die ihre Wirksamkeit dann im Verstehensprozess entfalten. Die Relation (b) kommt schließlich ins Spiel, wenn die Aktivierung dieses Potentials schon durch den Kontext gesteuert ist. So konkretisiert im Fall von (9) der Kontext beispielsweise, worin das Motiv des Küssens besteht. Der aktualisierte Standardwert variiert, je nachdem, ob es sich um einen Bruderkuss oder um den Kuss eines Brautpaares handelt.96 Eine derartige Spezifizierung ist im „Bedeutungspotential“ nicht enthalten, weil sie dem konkreten Kontext entspringt. Sehr wohl enthalten sind aber beispielsweise Informationen über die beteiligten Personen, deren Emotionen, beteiligte Körperteile usw. Wie jeder Standardwert haben aber auch kontextinduzierte Standardwerte den Status einer durchschnittlich erwartbaren Annahme über die Welt (hier etwa dergestalt, dass sich ein Brautpaar in der Regel deswegen küsst, weil es einen bestimmten emotionalen Zustand öffentlich zum Ausdruck bringen möchte). Mit „Füllwerten“ (fillers) meine ich hier im Text vollzogene Prädikationen, mit „Standardwerten“ hingegen inferierte Annahmen im engeren Sinn, d.h. vom Textrezipienten oder von der Textrezipientin auf der Basis seines oder ihres Vorwissens vollzogene Prädikationen.97 Um anzudeuten, dass es eine Vielzahl an Leerstellen, Standardwerten und konkreten Füllwerten gibt, sind in Abb. 9 die einzelnen Elemente indexikalisiert. Das Verhältnis zwischen Frame, Bedeutungspotential und Gebrauchsbedeutung stellt sich folgendermaßen dar (vgl. auch Abb. 9):98 x Die Leerstellen eines evozierten Frames geben das Prädikationspotential desjenigen sprachlichen Ausdrucks an, der diesen Frame evoziert. x Ein sprachlicher Ausdruck tritt aber immer innerhalb eines bestimmten Kontextes auf, und dieser Umstand führt dazu, dass derselbe Ausdruck in vergleichbaren Kontexten über ein ähnliches „Bedeutungspotential“ ver96
97 98
Die empirische Umsetzung des Frame-Konzepts orientiert sich in dieser Arbeit an Konerding 1993. Demgemäß würde die hier angesprochene Leerstelle heißen: „Welche Motive gibt es für die Handlung?“ (vgl. Konerding 1993, S. 341). Dieses Beispiel ist nur zufällig gewählt; genauso gut ließen sich andere Standardwerte anführen, die die Unterschiede zwischen den verschiedenen Rahmungen („framing“) des Verbs küssen verdeutlichen, wie die nachfolgenden Ausführungen zeigen. Zur genaueren Unterscheidung vgl. Abschnitte IV.4 und IV. 5. Frames verstehe ich hier als kognitive Einheiten der Wissensrepräsentation, nicht als textanalytisches Werkzeug. Aus diesem Grund umschließt, wie in Abb. 9 dargestellt, der Frame eines Ausdruckes sowohl das Bedeutungspotential als auch die Gebrauchsbedeutung. Dieses Inklusionsverhältnis erklärt sich dadurch, dass kognitive Frames niemals nur aus Leerstellen (slots) bestehen, sondern mit ihnen immer auch konkrete Füllwerte (vollzogene Prädikationen) und Standardwerte (inferierte Prädikationen) verbunden sind. Ein Frame, der nur Leerstellen beinhaltet, ist ein analytisches Konstrukt. Vgl. hierzu Abschnitt VI.3.
242
x
IV. Zeichentheoretische Aspekte
fügt: Bestimmte Leerstellen des evozierten Frames sind mit Standardwerten belegt, andere Leerstellen bleiben irrelevant, sie werden weder aktiviert noch mit Standardwerten belegt. In der kommunikativen Verwendung eines Ausdrucks wird schließlich aufgrund gegebener Kontextdaten nur ein Teil des „Bedeutungspotentials“ tatsächlich aktiviert und geht mithin in die Gebrauchsbedeutung des infrage stehenden sprachlichen Ausdrucks ein.99 Das „Bedeutungspotential“ enthält mehr Standardwerte als im konzeptuellen Gehalt einer Gebrauchsbedeutung repräsentiert sind. Zusätzlich gehen in die Gebrauchsbedeutung die im Satz und Text aktuell vollzogenen Prädikationen („konkrete Füllwerte“ bzw. „fillers“) ein. Diese schlagen sich im „Bedeutungspotential“ nicht nieder, da Füllwerte Konkretisationen des Potentials sind.
Frame Bedeutungspotential Gebrauchsbedeutung
l1
l2
ln
Leerstellen
s1
s2
sn
Standardwerte
f1
f2
fn
konkrete Füllwerte
Abb. 9: Das Verhältnis zwischen Frame, Bedeutungspotential und Gebrauchsbedeutung. „l“ steht für Leerstelle, „s“ für Standardwert und „f“ für konkreter Füllwert
Folglich muss man sich, wie in Abb. 9 illustriert, das Verhältnis zwischen Frame, Bedeutungspotential und Gebrauchsbedeutung als ein teils vollständiges, teils partielles Inklusionsverhältnis vorstellen. Ein aufgerufener oder abgerufener Frame umfasst sowohl das Bedeutungspotential als auch die jeweilige Gebrauchsbedeutung eines Ausdrucks vollständig, während die 99
Ganz ähnlich Allwood (2003, S. 53): „Contextually determined meanings thus result from partial activation of the meaning potentials of the expressions guided by cognitive operations.“
3. Relationen
243
Gebrauchsbedeutung über das Bedeutungspotential hinausgeht, letzteres erstere also nur partiell inkludiert. Die Gebrauchsbedeutung ist zwar im Bedeutungspotential ‚angelegt‘, sie umfasst jedoch spezifischere Informationen, weshalb konkrete Füllwerte im Bedeutungspotential nicht vorkommen. Das Bedeutungspotential schöpft seinerseits einen Teil des durch Leerstellen angegebenen Prädikationspotentials aus und umfasst keine unbelegten Leerstellen, sondern nur Standardwerte. # (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8) (9) (10) (11) (12) (13) (14) (15)
Leerstellen Welche Motive gibt es für die Handlung (des Sich-Küssens)? Was hat die Handlung zur Voraussetzung? Auf welche Art und Weise wird die Handlung realisiert? Worin besteht das Wesentliche der Handlung für die AktantInnen? Wovon kündet oder zeugt die Handlung? In welchem übergeordneten funktionalen Zusammenhang figuriert die Handlung? Von welcher Dauer ist die Handlung? Welche AktantInnen sind beim Vollzug der Handlung beteiligt? Handelt der Aktant nach einer Rolle? Unter welchen Bedingungen wird die Handlung ausgeführt? Unter welchen Bedingungen setzt ein Aktant die Handlung fort? Aus welchen Phasen bzw. Teilereignissen besteht die Handlung? Unter welchen Bedingungen verändert sich die Handlungsweise charakteristisch? Gibt es einen typischen Handlungsplan? Auf welche Art und Weise kann ein Aktant einen Misserfolg korrigieren?
Tab. 2:100 Eine Auswahl der Leerstellen des Frames, den der Ausdruck sich küssen aufruft
Ich möchte diesen Sachverhalt abschließend am Beispiel (9) exemplifizieren. Noch einmal zur Erinnerung: (9)
Sie küssten sich lange.
Drei Fragen stellen sich: (i) Welche Leerstellen eröffnet der Frame, der die semantische Einheit [SICH KÜSSEN] strukturiert? (ii) Woraus besteht das Bedeutungspotential des Ausdrucks? (iii) Und woraus besteht eine mögliche Gebrauchsbedeutung? 100 Listen von Leerstellen wie diese behandele ich im Folgenden als „Tabelle“ (nicht als „Abbildung“).
244
IV. Zeichentheoretische Aspekte
Ad (i): Leerstellen haben die Gestalt von Fragen und lassen sich durch eine so genannte Hyperonymtypenreduktion ermitteln.101 Das heißt in unserem Fall konkret: Das (zuvor nominalisierte) Verb sich küssen lässt sich auf das nicht weiter reduzierbare Hyperonym Handlung zurückführen. Die Frames beider Ausdrücke, Sich-Küssen und Handlung, teilen dieselben Leerstellen, von denen ich einige in Tab. 2 zusammengefasst habe.102 Ad (ii): Das „Bedeutungspotential“ umfasst nun die Menge aller Standardwerte, also aller erwartbarer Annahmen, die Sprachbenutzer potentiell aktualisieren, um die angeführten Fragen zu beantworten. Weil es sich dabei um konventionelle Bedeutungsaspekte handelt, die in rekurrenten Erfahrungen gründen, ist zu erwarten, dass zwar viele, aber nicht alle Fragen mit Standardannahmen implizit beantwortbar sind. Obschon sich hinsichtlich der Leerstellen (13)-(15) (und ggf. auch (12)) etwas über die Handlung des SichKüssens prädizieren ließe, dürften sich entsprechende Standardannahmen im „Bedeutungspotential“ nicht niederschlagen. Anders im Fall der anderen Leerstellen. Ich greife drei exemplarisch heraus. x Standardwert zu (1): Das Motiv dafür, dass sich zwei Menschen küssen, liegt in einem gegenseitig empfundenen emotionalen Zustand, der von Anerkennung bis Liebe reichen kann. x Standardwert zu (4): Wesentlich für die Handlung des Sich-Küssens ist, dass es für gewöhnlich im Mund- und Wangenbereich zu einem Hautkontakt zwischen zwei Menschen kommt.103 x Standardwert zu (8): An der Handlung des Küssens sind in der Regel zwei Personen beteiligt.104 Ad (iii): Nehmen wir nun an, es handele sich um den Kuss eines Brautpaares, nachdem sich beide das Ja-Wort gegeben haben. Worin besteht im Rahmen dieses Kontextes dann die Gebrauchsbedeutung des reflexiv gebrauchten Verbs sich küssen? Die Kontextdaten stellen zunächst einige konkrete Füllwerte (fillers) bereit, die bestimmte aufgerufene Leerstellen des Frames besetzen. x Konkreter Füllwert zu (6): Die Handlung findet im Rahmen einer Hochzeit statt. x Konkreter Füllwert zu (8): An der Handlung des Küssens sind allein eine Braut und ihr Bräutigam beteiligt.
101 Eine genaue Erläuterung des Verfahrens findet sich in Abschnitt VI.3.2. 102 Vgl. Konerding 1993, S. 341-348. Hier finden sich viele Leerstellen mehr, die ich aus praktischen Gründen weggelassen habe. 103 Dieser Standardwert gilt zumindest für das reflexive Verb sich küssen. Das transitive Verb ruft einen anderen Frame auf (genauer: bestimmte Leerstelle sind mit anderen Standardwerten belegt). 104 Dass es sich bei Standardwerten um kulturabhängige, kontingente Einheiten handelt, ist hier gut erkennbar. Die Spezifikation, dass am Hochzeitskuss ein Mann und eine Frau beteiligt sind, ist so nicht mehr gültig.
3. Relationen
245
x
Konkreter Füllwert zu (7): Die Handlung dauert verhältnismäßig kurz (genauer: in der Regel nicht länger als fünf Sekunden). Handelt es sich bei den ersten beiden instantiierten Füllwerten um Kontextdaten, so stammt der dritte aus dem Beispielsatz Sie küssten sich lange, der ja selbst etwas über die Handlung des Küssens prädiziert, nämlich, dass sie lange dauerte. Auch Leerstelle (7) ist somit ein Wert zugeordnet. Darüber hinaus motiviert auch der gegebene Kontext einige Standardwerte, von denen manche in den Vordergrund rücken, andere hingegen nur als Hintergrundannahmen fungieren. Profiliert werden alle Standardwerte, die dem abgerufenen Hochzeits-Frame entstammen.105 Ich will auch hier die wichtigsten drei herausgreifen: x Standardwert zu (2): Der Kuss geschieht im Rahmen eines institutionellen, skriptartigen Ablaufs (so darf der Kuss etwa nicht vor dem Ja-Wort erfolgen). x Standardwert zu (3): Der Kuss wird auf moderate Weise realisiert. x Standardwert zu (5): Der Kuss hat einen symbolischen Wert und zeugt von gegenseitiger Liebe. Zugleich können Standardwerte aus dem „Bedeutungspotential“ erhalten bleiben. Das ist hier bei Leerstelle (4) der Fall. Es lässt sich also durchaus die These empirisch stützen, dass der aktivierte Frame eines Ausdrucks sowohl das Bedeutungspotential als auch die Gebrauchsbedeutung desselben Ausdrucks umschließt und dass die Gebrauchsbedeutung das Bedeutungspotential semantisch konkretisiert (letztere erstere also nicht umschließt). Zudem gibt es Evidenz für Allwoods Behauptung, dass das „Bedeutungspotential“ eines Ausdrucks eine semantische „Basiseinheit“106 darstellt, obgleich eine systematische und umfassende Anwendung wohl kaum ohne Rückgriff auf Frames (und deren Strukturkonstituenten Leerstelle, konkreter Füllwert und Standardwert) möglich sein dürfte. Abstrahieren wir von dieser Einzelfallanalyse und kommen auf die Ausgangsfrage zurück, können wir eines festhalten: Wenngleich Allwoods Ausführungen zum „Bedeutungspotential“ weitgehend theoretischer Natur bleiben, zeigt die Beispielanalyse doch, dass sich seine Vorschläge im Rahmen einer Frame-Semantik durchaus umsetzen lassen. Insbesondere hilft das Konzept des „Bedeutungspotentials“ dabei, den Übergang von einer semantischen
105 Genau das meint Allwood (2003, S. 52), wenn er schreibt: „When used, a linguistic expression activates its meaning potential through cognitive operations whose function is to achieve compatibility between the meaning potential of a particular expression, the meaning potentials of other expressions, and the extralinguistic context.” 106 „In brief, I would like to suggest that the basic unit of word meaning is the ‚meaning potential‘ of the word.“ (Allwood 2003, S. 43) – Eine semantische „Basiseinheit“ ist das Bedeutungspotential auch deswegen, weil es sich auf allen Ebenen der Organisation sprachlicher Zeichen anwenden lässt und weil zudem jede Bedeutungsrealisierung eine Aktualisierung des Potentials darstellt.
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IV. Zeichentheoretische Aspekte
Einheit zu einer Gebrauchsbedeutung – also die Relation (b) – zu illustrieren und zu plausibilisieren.
V. Frames als Schemata Einem Verständnis von sprachlichen Zeichen als Konstruktionen bzw. symbolischen Einheiten folgend habe ich im letzten Kapitel unter framesemantischen Gesichtspunkten drei Relationen thematisiert, die sich aus dem vertretenen Zeichenmodell ergeben haben: (i) Eine symbolische Einheit zeichnet sich dadurch aus, dass eine phonologische Einheit eine semantische Einheit aufruft bzw. evoziert. (ii) Eine Gebrauchsbedeutung ergibt sich aus dem Zusammenspiel von Standardwerten, die aus dem Gedächtnis abgerufen werden, und konkreten Füllwerten, die in Gestalt von expliziten Prädikationen auftreten. (iii) Die Überführung einer semantischen Einheit in eine Gebrauchsbedeutung findet statt, indem auf- und abgerufene Wissensaspekte konzeptuell integriert werden. Das zuletzt erörterte Fallbeispiel dürfte deutlich gemacht haben, dass Gebrauchsbedeutungen mithin integrierte Wissenseinheiten sind, bestehend aus textuell gegebenen Informationen (konkreten Füllwerten) einerseits und einer Vielzahl von Hintergrundannahmen (Standardwerten) andererseits. Gebrauchsbedeutungen erweisen sich als Konstruktionsprodukte, die auf kognitive Eigenleistungen von Sprachbenutzern und Sprachbenutzerinnen zurückgehen. Die kognitive Eigenleistung besteht maßgeblich darin, Kategorisierungsbeziehungen herzustellen, d.h. im Sinne der Konstruktionsgrammatik Kategorisierungslinks zwischen Konstruktionen zu realisieren. Konzeptualisierungsprozesse sind Kategorisierungsprozesse. Jede der drei dargestellten Relationen basiert auf einer Reihe von Kategorisierungsleistungen. Werden nun, vermittelt über einen Kategorisierungslink, zwei semantische Einheiten (oder Konstruktionen) ineinander integriert und bilden so eine komplexere semantische Einheit, fungiert eine der beiden semantischen Einheiten als Schema, die andere hingegen als Instanz ebendieses Schemas. Wir haben im letzten Kapitel gesehen, dass Bildungen neuer (symbolischer, semantischer, phonologischer) Einheiten allein aufgrund der schematischen Struktur sprachlicher Einheiten möglich sind. So entsteht beispielsweise das komplexe Schema [[HUND]/[-E]] dadurch, dass die semantische Einheit [-E] eine Instanz im Schema [HUND] bildet. Nach diesen Überlegungen ist es an der Zeit, die kognitive Relevanz von Schemata zu präzisieren. Sind Schemata von so zentraler Bedeutung für das Verstehen sprachlicher Zeichen, wie die Konstruktionsgrammatik und die Kognitive Grammatik nahe legen, müsste sich dies – den holistischen Prämis-
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V. Frames als Schemata
sen folgend – in allgemeinen kognitiven Funktionen von Schemata niederschlagen, die weit über die thematisierten zeichentheoretischen Aspekte hinausgehen. Tatsächlich spielen Schemata seit Mitte der 70er Jahren in ganz verschiedenen kognitionswissenschaftlichen Ansätzen (etwa zur Beschreibung von Gedächtnisstrukturen, Leseprozessen, visuellem Wahrnehmen usw.) eine herausragende Rolle.1 In diesem weiteren Zusammenhang sind folgende Fragen für eine Frame-Semantik besonders relevant: x Welche Rolle spielen Kategorisierungen in der menschlichen Kognition? Wodurch zeichnen sie sich aus? Wodurch sind sie geleitet? x Ist zwischen nicht-sprachlichen Schemata und sprachlichen Schemata (d.h. symbolischen, semantischen, phonologischen Einheiten) zu unterscheiden? Wenn ja, inwiefern? x In welchem Maß sind Schemata bei der Konstruktion einer semantischen Einheit beteiligt? x Welche Charakteristika weisen Schemata auf? Sind Frames durch dieselben Charakteristika gekennzeichnet? x Vorausgesetzt, semantische Einheiten sowie Gebrauchsbedeutungen bilden sich schemageleitet heraus, welchen Status haben Strukturkonstituenten semantischer Schemata dann? Und wie lassen sich die Konstituenten sprachstrukturell beschreiben? Im Folgenden können nicht alle angesprochenen Aspekte gleich ausführlich erörtert werden. So bedarf der letzte Punkt einer separaten Betrachtung. Er leitet zum nächsten Kapitel über, in dem ich auf jene spezifisch sprachlichen Ausprägungsformen detailliert eingehe, die für Strukturkonstituenten von Frames kennzeichnend sind. Insofern ist das vorliegende Kapitel nur als eine Art Zwischenetappe zu begreifen. Den Vorgaben des holistischen Paradigmas folgend ordnet es frame-semantische Bestimmungen in einen breiteren, sprachübergreifenden Zusammenhang ein.
1. Kategorisierung Wie ist es einem Organismus angesichts der Fülle an verschiedenen Sinnesreizen, die ihn permanent erreichen, möglich, sich in der Umwelt zu orientieren? Ein Organismus ist nur überlebensfähig, wenn er über effiziente Formen der Komplexitätsreduktion verfügt. Das gilt für einfache Organismen nicht weniger als für Menschen. So müssen wir etwa permanent auf allen Sinneskanälen 1
Neben Schemata standen v.a. in den 80er Jahren andere Repräsentationsformate in der Diskussion. Dazu gehörten etwa propositionale (Netzwerk-)Modelle, zyklische und makropropositionale Verarbeitungsmodelle (vgl. die Überblicke in Christmann 1989 und Scherner 1984). Ich beschränke mich im Folgenden auf Schematheorien, sofern sie sich für das Verständnis von semantischen Einheiten im Sinne schematischer Strukturen als relevant erweisen.
1. Kategorisierung
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irrelevante Daten von relevanten unterscheiden, diese aufeinander beziehen und hinsichtlich konkreter Situationsaspekte konzeptualisieren und evaluieren (Barsalou 2003; 2005). Die Funktionsweisen derart komplexer Kognitionsprozesse zu erklären, ist vielleicht das fundamentalste und zugleich schwierigste Problem, dessen sich eine Kognitionstheorie anzunehmen hat. In sprachwissenschaftlicher Perspektive stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Perzeption und Kognition in ganz ähnlicher Weise. Sprachliche Laute und Grapheme stellen einen besonderen Typus von Sinnesreizen dar. Damit Sprachbenutzer und Sprachbenutzerinnen miteinander kommunizieren und interagieren können, müssen Sinnesreize produziert bzw. rezipiert, mental repräsentiert und kognitiv verarbeitet werden. Neben sprachlichem Input sind wir gleichzeitig mit Sinnesdaten anderer Qualität konfrontiert. Dazu gehören visuelle und auditive Eindrücke der aktuellen Umgebung (also Gegenstände, die man sieht, und Geräusche, die man hört) ebenso wie Geschmacks- und Geruchsempfindungen, auch wenn diese zunächst eher eine nebengeordnete Rolle einzunehmen scheinen. Mithilfe motorischer Fähigkeiten erschließen wir uns zudem haptisch kopräsente Objekte (so etwa die Tastatur, auf der ich gerade mit meinen Fingern – mehr oder weniger motorisch koordiniert – tippe). Ohne dass es eines aktuellen perzeptuellen Inputs bedarf, stehen uns außerdem dank unseres Erinnerungsvermögens und unserer Einbildungskraft weitere Informationen zur Verfügung. So kann ich mir problemlos das Gesicht eines Freundes in Erinnerung rufen, den ich gestern getroffen habe, oder an Details des letzten Sommerurlaubs denken. Dass von den potentiell verfügbaren (und mithin aktualisierbaren) Sinnesdaten nur ein geringer Teil ins Bewusstsein dringt, also die so genannte „Bewusstseinsschwelle“ übersteigt, gehört zur kognitiven Ökonomie unseres Geistes. Die Kapazität mentaler Verarbeitungs- und Speicherprozesse wäre ohne effiziente Verarbeitungsstrategien hoffnungslos überlastet. Insbesondere wären wichtige Gedächtnisleistungen, wie kurz- und langfristiges Behalten sowie Relationsbildungen zwischen aktuell Wahrgenommenem und Erinnertem, kaum mehr möglich (vgl. Anderson 1996, S. 133ff. und 167ff.; Schwarz 1992b, S. 75-83).2 Was macht die Effizienz unseres konzeptuellen Systems aus? Unser Gedächtnis ist auf die kognitive Fähigkeit, Wahrgenommenes und Erinnertes zu kategorisieren, angewiesen. Mit Kategorisierung ist die Fähigkeit gemeint, auf 2
Dieser Befund darf wohl unabhängig vom favorisierten Gedächtnismodell Geltung beanspruchen. Schwarz (1992b) referiert lediglich das so genannte Mehr-Speicher-Modell (vgl. Atkinson/Shiffrin 1971; Tulving 1983; Wettler 1980), welches von mehreren funktional relativ autonomen Gedächtnisspeichern ausgeht (Ultrakurzzeit-, Kurzzeitgedächtnis, episodisches und Langzeitgedächtnis). Damit konkurrieren Bartletts (1932) frühe Theorie der Gedächtnisspur und das verwandte „Levels-of-Processing“-Modell (vgl. Craik/Lockhart 1972; Cermak/Craik 1979; zusammenfassend Schnotz 1994, S. 78-92) sowie neuere Ansätze, die Gedächtnisleistungen stärker mit situativer und sozialer Kognition verbinden (z.B. Barsalou 2005).
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V. Frames als Schemata
der Basis vergangener Erfahrungen zu beurteilen, ob eine bestimmte Entität Element einer bestimmten Kategorie ist oder nicht. Bringen wir bei der Interpretation neuer Erfahrung vergangene Erfahrung ein, sind damit im gleichen Maße Kategorisierungsakte verbunden wie schon beim Erkennen eines aktuellen Wahrnehmungsobjekts als ein bestimmtes Wahrnehmungsobjekt. Im ersten Fall, der Erinnerung, besteht die Kategorisierungsleistung darin, zwischen neuer und vergangener Erfahrung eine Ähnlichkeitsbeziehung herzustellen. Dass Erinnern insbesondere über die Aktivierung dynamischer Erfahrungsmuster verläuft, hat schon Frederic Bartlett in seiner Pionierstudie „Remembering“ treffend beschrieben: Thus what we remember, belonging more particularly to some special active pattern, is always normally checked by the reconstructed or the striking material of other active settings. (Bartlett 1932, S. 213)
Im Fall des Erkennens eines Wahrnehmungsobjektes verhält es sich ganz ähnlich. Interpretiert man einen Strich auf einem Blatt Papier als einen bestimmten Buchstaben, gilt der Strich mithin als Instanz der Kategorie ebendieses Buchstabens. Ohne Erinnerung gelingt eine solche Klassifizierung nicht, weil jede Kategorie selbst ein Abstraktionsprodukt vergangener Erfahrungen darstellt, also eigens ins Gedächtnis gerufen werden muss. Die Fähigkeit zu kategorisieren ist somit Voraussetzung jedes kognitiven Prozesses, unabhängig davon, ob es sich bei den kategorisierten Einheiten um bewusst oder nicht-bewusst wahrgenommene Entitäten handelt (vgl. Jüttner 1980). Nicht jeden Baum, den eine Autofahrerin passiert, nimmt sie bewusst wahr; gleichwohl ist der Baum ihrem Gesichtsfeld nicht entzogen, sondern Objekt visueller Kategorisierungsakte. Dieser Sachverhalt lässt sich dahingehend verallgemeinern, dass Wahrnehmungsobjekte immer einen ganzheitlichen Charakter aufweisen („ganzheitlich“ hier verstanden im Sinne der Gestaltpsychologie, vgl. Wertheimer 1923; Metzger 1923, 1986; mit Bezug auf Sprache auch Lakoff 1977). Um beispielsweise eine Gruppe von Menschen als eine solche zu identifizieren, muss nicht jedes Individuum bewusst als Instanz der Kategorie „Mensch“ wahrgenommen werden. Dennoch firmiert jedes Individuum als Teil der Gruppe und damit als Instanz der Kategorie „Mensch“ (und nicht irgendeiner anderen Kategorie).3 Schon an sehr einfachen Kommunikationsprozessen ist eine Vielzahl von Kategorisierungen beteiligt.4 Dennoch ist Kategorisierung keineswegs eine 3 4
Solcherlei Kategorisierungsphänomene lassen sich gestaltpsychologisch durch das so genannte „Gesetz der Nähe“ und das „Gesetz der Ähnlichkeit“ (Wertheimer 1923) erklären. Überhaupt sind Gestalten Paradebeispiele für nicht-bewusste Kategorisierungsakte. Und zwar auf allen Ebenen der Zeichenorganisation: Phoneme, Morpheme, Wortarten sowie komplexere syntaktische, aber auch semantische Eigenschaften (soziokognitive, diskursfunktionale und pragmatische eingeschlossen) erfüllen ihre verstehensrelevante Funktion nur, insofern sie kategoriale Einheiten bilden, die auf der Ebene der „parole“ mit Instanzen bedient werden
1. Kategorisierung
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spezifisch menschliche Fähigkeit. Kategorisierungsleistungen lassen sich schon bei primitiven Organismen beobachten. Jackendoff bemerkt hierzu: We should note at the outset that categorization judgements need not involve the use of language: they are fundamental to any sort of discrimination task performed by dogs or rats […].
Und das heißt: Thus an account of the organism’s ability to categorize transcends linguistic theory. It is central to all of cognitive psychology. (Jackendoff 1983, S. 77)
Sobald Unterscheidungen gemacht werden, ganz gleich in welcher Wissensdomäne, sind Kategorisierungen im Spiel. Ohne sie könnte kein Organismus überleben, denn schon grundlegendste Distinktionen wie essbar/nicht-essbar und feindlich/nicht-feindlich schließen mindestens einen Kategorisierungsakt ein. Menschen könnten ohne Kategorisierungen weder Sprache verstehen noch kraft anderer Kommunikationsmittel mit ihrer Umwelt in Interaktion treten (Anderson 1996, S. 56-70; Barsalou 1992b, S. 15-51; Taylor 2003).5 Die Kategorisierungsfähigkeit dient, mit Barsalou gesprochen, als „gateway between perception und cognition“ (Barsalou 1992b, S. 15). Unabhängig von ihrer Modalität (visuell, auditiv, taktil, olfaktorisch usw.) werden Sinnesdaten erst dann kognitiv relevant, wenn sie als Informationseinheiten einer bestimmten Klasse identifiziert und entsprechend klassifiziert sind. Dies geschieht, wie bereits erwähnt, indem Ähnlichkeitsrelationen zu anderen Kategorien hergestellt werden. Kategorisierung erfolgt durch Vergleich; Phänomene werden zu Typen gruppiert aufgrund ihrer (wechselseitigen) Ähnlichkeit, unter bestimmten Rahmenbedingungen und Zielsetzungen. Durch Kategorienbildung werden vergangene Wahrnehmungen zur Grundlage der Interpretation und Einordnung neuer Erlebnisse und Erfahrungen gemacht. (Konerding 1997 S. 57)
Schwarz (1992b, S. 84) argumentiert, dass Kategorisierung neben dem Prinzip der Ähnlichkeit ebenfalls dem Prinzip der Identität folgt.6 Die beiden Prinzipien der Ähnlichkeit und Identität machten es möglich, ein identisches Objekt an einem anderen Ort und zu einem anderen Zeitpunkt mühelos wiederzuerkennen. Fraglich bleibt m.E. allerdings, ob beide Prinzipien tatsächlich unterschiedlicher Natur sind. Weil Identität im Grunde nur einen Sonderfall der
5
6
(der Art „x ist ein Phonem/Morphem etc. y“, wobei jedem x der Status eines Tokens und jedem y der Status eines Types zukommt). Manche Autoren sehen deshalb in der Fähigkeit zu kategorisieren den zentralen Gegenstandsbereich der Kognitionswissenschaft. So leiten Cohen und Lefebvre (2005b, S. 2) ihr Handbuch zur Kategorisierung mit folgenden Worten ein: „Categorization is the mental operation by which the brain classifies objects and events. This operation is the basis for the construction of our knowledge of the world. It is the most basic phenomenon of cognition, and consequently the most fundamental problem of cognitive science.“ Schwarz spricht von „Äquivalenz“, meint aber „Ähnlichkeit“ im hier verwendeten Sinn.
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V. Frames als Schemata
Ähnlichkeit darstellt, insofern hier nämlich Kategorie und Instanz nicht einige, sondern alle Eigenschaften miteinander teilen, lassen sich beide Prinzipien zu einem einzigen zusammenfassen. Überzeugender ist hier Wertheimers (1923, S. 308f.) gestaltpsychologische Überlegung, wonach ein „Faktor der Gleichheit“ (oder „Ähnlichkeit“) von einem „Faktor der Nähe“ zu unterscheiden ist. Schon aus dem Umfeld der (zeitlich der Gestaltpsychologie vorausgehenden) Assoziationstheorie stammt der Vorschlag, neben Ähnlichkeit Kontiguität als zweites kognitives Assoziationsprinzip anzusetzen. Die Relevanz von Kontiguität für Kategorisierungen deutet Bartlett (1932, S. 304ff.) an, indem er Charles S. Myers Assoziationstheorie aufgreift und schematheoretisch reinterpretiert. Dem Prinzip der Ähnlichkeit und dem der Kontiguität ordnet er einige Unterkategorien zu, allerdings ohne diese näher zu erläutern. Sie sind in Abb. 1 zusammengefasst.7 Kontiguität herrscht vor, wenn mindestens zwei Objekte aufgrund ihrer räumlichen oder zeitlichen Nähe miteinander assoziiert sind. Dabei ist es nicht nötig, dass sie eine Eigenschaft miteinander teilen, also einander ähnlich sind, weshalb Kontiguität als eigenständiges Prinzip gelten darf.8 Die durch Kontiguität motivierte Verbindung zwischen Objekten ist allein durch das vorgängige Wissen begründet, dass die in Frage stehenden Objekte in der Regel zusammen auftreten. Denn: It is […] our knowledge of the world that determines contiguities […] Contiguity has to be considered as constituting a conceptual, extralinguistic and not an intralinguistic relationship. (Koch 1999, S. 145)
Die Wahrnehmung von Kontiguitätsphänomenen beruht auf Gewohnheit. Aus der Existenz eines Objektes lässt sich nicht logisch, wohl aber inferentiell die Existenz einer anderen Entität ableiten.9
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Bartlett selbst spricht im Anschluss an Charles Samuel Myers, einem zeitgenössischen Psychologen und Kollegen in Cambridge, nicht von „Kategorisierungsprinzipien“, sondern von „Assoziationsprinzipien“. – Ob, wie Bartlett (Myers folgend) suggeriert, „kausale Kontiguität“ tatsächlich als Untertyp zeitlicher Nachbarschaft zu betrachten ist, und „letters“ dem „sound“ zuzuordnen sind, bleibt aus semiotischer Sicht fraglich. Genauer: Aus psychologischer Sicht gelten Kontiguität und Similarität gemeinhin als die so genannten „primären Assoziationsgesetze“. Zu den sekundären gehören dagegen die Prinzipien der „Neuheit“ und der „Häufigkeit der Anschaulichkeit“; vgl. etwa Drever/Fröhlich 1975, S. 183. Kontiguität und Ähnlichkeit sind zwar nicht die einzigen Prinzipien, die Kategorisierungsprozesse motivieren (vgl. hierzu gestaltpsychologische Überlegungen etwa in Wertheimer 1923; Metzger 1986). Kontiguität und Ähnlichkeit dürfen jedoch als die beiden grundlegenden und wichtigsten Korrelationstypen zwischen Kategorien gelten. Mir kommt es im Folgenden weniger auf eine Typologie als auf die linguistische Relevanz von Kontiguitätsbeziehungen an, die auch in Bartletts Gedächtnistheorie eine Rolle spielen.
1. Kategorisierung
in meaning
co-ordination superordination subordination contrast
in sound
in letters or syllables in rhyme
in time
causal verbal
Similarity
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Contiguity in space
Abb. 1: Prinzipien der Assoziation, zitiert nach Bartlett (1932, S. 305)
Kommen wir noch einmal auf das Prinzip der Ähnlichkeit zurück. Ihm wird in neueren kognitionspsychologischen Untersuchungen eine wichtige Rolle zugesprochen, und zwar vor allem bei der Herstellung konzeptueller Kohärenz (vgl. Rips 1989; Hirschfeld/Gelman 1994). Ähnlichkeit allein, so der gemeinsame Tenor, reiche als Kategorisierungsprinzip nicht aus, um eine Entität mit einer anderen zu assoziieren. Damit wird der Kritik an der traditionellen Assoziationstheorie Rechnung getragen, dass zwei Entitäten potentiell unendlich viele Eigenschaften miteinander teilen könnten und infolgedessen als ähnlich gelten dürften. Neben Ähnlichkeit müsse es somit andere Faktoren geben, die bestimmte Inferenzen und Kategorisierungen motivieren (Murphy/Medin 1985). In diesem Zusammenhang ist auch das Bemühen einiger Inferenztheoretiker zu bewerten, Kategorisierungen nicht nur als formale In-Beziehung-Setzungen, sondern vielmehr als inhaltlich gesteuerte Prozesse zu betrachten (Graesser/Singer/Trabasso 1997; Graesser/Millies/Zwaan 1997; vgl. hierzu Abschnitt III.3.3). So sehen auch Anderson (1991) und Barsalou (1985) Kategorisierungsprozesse durch konkrete, umweltspezifische Zielsetzungen bestimmt. Wisnieswki und Medin (1994) argumentieren zudem, dass sich Kategorien durch relativ konkretes Erfahrungswissen konstituieren und organisieren und sich im Abstraktionsgrad von diesem nicht wesentlich unterscheiden. Somit beruhen Ähnlichkeitsbeziehungen – nicht weniger als Kontiguitätsbeziehungen – maßgeblich auf individuellen Erfahrungsgewohnheiten von Organismen.
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V. Frames als Schemata
Wenngleich sich Bartlett mit der in Abb. 1 angeführten Unterteilung vor allem an der visuellen Wahrnehmung orientiert,10 gelten Ähnlichkeit („similarity“) und Kontiguität („contiguity“) als modalitätsunspezifische Prinzipien der erinnernden Assoziation. Sie müssten sich demzufolge auch in sprachlichen Bedeutungsrelationen nachweisen lassen. In wortfeldtheoretischen Studien (vgl. Lutzeier 1992) ebenso wie in neueren kognitiven Ansätzen (Blank 1999; Konerding 1999) liegt dafür Evidenz vor. Wendet man Bartletts Bestimmungen des Ähnlichkeits- und Kontiguitätsprinzips auf die Wortsemantik an, finden sich zahlreiche Phänomene, an denen sich die Wirksamkeit der in Abb. 1 aufgelisteten Assoziationsprinzipien aufzeigen lässt. Betrachten wir zunächst die vier Varianten semantischer Ähnlichkeitsbeziehungen: x „Kontrast“: Semantischer „Kontrast“ liegt beispielsweise im Fall antonymischer Bedeutungsbeziehungen (schwarz/weiß) vor. x „Superordination“: Sie entspricht der semantischen Relation der Hyperonymie (Hund/Golden Retriever). x „Subordination“: „Subordination“ bezieht sich umgekehrt auf die Relation der Hyponymie (Golden Retriever/Hund). x „Koordination“. Von semantischer „Koordination“ kann man sprechen, wenn sprachliche Kategorien miteinander korreliert sind, die aus derselben Wissensdomäne stammen und sich im Abstraktionsgrad nicht voneinander unterscheiden, so etwa weiß/rot/blau; Hund/Katze/Pferd.11 Auch hinsichtlich der Formseite („sound“) können sprachliche Ausdrücke Ähnlichkeitsbeziehungen zueinander unterhalten. x „Reime“: Ähnlichkeit herrscht zwischen Wörtern, wenn mindestens ihre letzte Silbe ausdruckseitig identisch ist. x „Buchstaben“ und „Wörter“: Buchstaben-Token (oder Token von Silben, Wörtern usw.) erkennt man trotz unterschiedlicher phonetischer bzw. graphischer Realisierung und trotz wechselnder Einbettungsstruktur (derselbe Buchstabe in verschiedenen Wörtern, dieselbe Silbe in verschiedenen Wörtern usw.), weil sie ein und demselben Type angehören. Wenden wir uns nun semantischen Kontiguitätsbeziehungen zu. Davon gibt es eine Vielzahl. Generell stehen jene sprachlichen Ausdrücke in einem Kontiguitätsverhältnis, die meronymisch einem gemeinsamen übergeordneten Ganzen zugehören. Das gilt sowohl für räumliche als auch für zeitliche Kontiguität.
10
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In Zusammenhang mit seinem Differenzierungsversuch gebraucht Bartlett die Metapher des „Bildes“: „Images are, then, literally details picked out of ‚schemes‘ and used to facilitate some necessary response to immediate environmental conditions.“ (Bartlett 1932, S. 303) „Bilder“ enthalten mehr Details als Schemata; sie sind Fillmores kognitiven „Szenen“ sehr ähnlich. Kohyponymie wäre demnach eine triadische Relation, die Subordination und Koordination verbindet.
2. Schemata
255
x
„Räumliche Kontiguität“: Beispiele wären Wand/Decke/Boden, Tür/Fenster/Fensterrahmen, die als Teile eines Zimmers bzw. eines Hauses figurieren. x „Zeitliche Kontiguität“: Diese herrscht etwa zwischen sprachlichen Ausdrücken, die denselben skriptartig strukturierten Frame aufrufen. So evozieren Essen bestellen und Trinkgeld geben den Frame „Restaurant-Besuch“. Die lineare Organisation sprachlicher Zeichen im Sinne von Saussure ist ebenfalls auf zeitliche Kontiguitätsbeziehungen zurückzuführen.12 x „Zeitlich-kausale Kontiguität“: Häufig ist zeitliche Kontiguität kausal motiviert. Beispiele hierfür finden sich bei den so genannten perlokutionäre Verben (wie überzeugen, beleidigen usw.), da diese die Wirkung einer Handlung beim Hörer bzw. Leser bezeichnen. Schwächere Formen der Kausalität liegen bei vielen Inferenzbildungen vor, so etwa dann, wenn aus der Verbalphrase zu spät kommen gefolgert wird, dass der mit ihr bezeichnete Prozess Sanktionen für den Aktanten nach ziehen kann (vgl. Abschnitt II.2.3). Ähnlichkeitsbeziehungen und Kontiguitätsbeziehungen fungieren also nicht nur in der visuellen Wahrnehmung (und in anderen Wahrnehmungsmodalitäten) als Kategorisierungsprinzipien. Sie erweisen sich auch in sprachlicher Hinsicht als relevant, und zwar hinsichtlich inhaltsseitiger sowie ausdrucksseitiger Relationen zwischen symbolischen Zeichen.
2. Schemata Wenn mittels sprachlicher Kategorisierungen Kontiguitäts- und Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen den Bedeutungen sprachlicher Ausdrücke hergestellt werden, geschieht dies über den Gebrauch von Schemata.13 Semantische Beziehungen herzustellen heißt in kognitiver Hinsicht, SchemaInstanzbeziehungen zu realisieren. Bezogen auf die wortsemantischen Anwendungsbeispiele des letzten Abschnitts können wir festhalten: (a) Ähnlich sind zwei Ausdrucksbedeutungen dann, wenn sie entweder innerhalb eines Schemas einen spezifischen Wissensaspekt mit verschiedenen Werten belegen oder in einem hyperonymischen Verhältnis zueinander stehen.14 So kann die 12 13 14
Dieses von Saussure beschriebene Linearitätsprinzip ist wohl gemeint, wenn Bartlett eine Dimension zeitlicher Kontiguität als „verbal“ kennzeichnet. So auch Bartlett (vgl. 1932, S. 201, 207f.). Auch Konerding (1999, S. 28) stellt fest, dass Ähnlichkeitsbeziehungen dadurch ausgezeichnet seien, „dass sie Alternativen der lexikalischen Spezifizierung von Schemata betreffen, je nach pragmatischen Rahmenbedingungen auch von heterogenem semantischem Granularitätsgrad.“ Diese Bestimmung bleibt aber unvollständig; Hyponymie und Hyperonymie wären hiernach keine Ähnlichkeitsbeziehungen.
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V. Frames als Schemata
Farbe eines Autos rot, weiß, blass usw. sein, im unmarkierten Fall (d.h. ohne Einbezug metaphorischer bzw., im Sinne von Goossens 1995, metaphtonymischer Gebrauchsvarianten) aber nicht etwa rostig, traurig usw., weshalb rot, weiß, blass sowie das übergeordnete Schema Farbe, nicht aber rot und rostig bedeutungsähnlich sind.15 (b) Benachbart (im Sinne zeitlicher oder räumlicher Kontiguität) sind zwei Ausdrucksbedeutungen dann, wenn sie innerhalb eines Schemas verschiedene Wissensaspekte spezifizieren. Wand, Decke und Boden bilden nicht nur Instanzen im Schema „Zimmer“, sie beziehen sich auch auf ganz unterschiedliche Leerstellen des Schemas. Analoges gilt für Phänomene der zeitlichen Kontiguität. Komplexe Handlungen – man denke an solche, auf die sich komplexe Verbalphrasen wie etwas einkaufen gehen, essen gehen, einen Brief schreiben usw. beziehen – implizieren eine Abfolge von Teilhandlungen, die unterschiedliche Aspekte der übergeordneten Handlung betreffen. Der Gebrauch von Schemata ermöglicht es, zwischen Ausdrücken semantische Beziehungen herzustellen. Schemata sind „abstrakte Beschreibungen von Sachverhaltsklassen“ (Pohl 2002, S. 32), genauer: kognitive Datenstrukturen, in denen individuelle Erfahrungen unterschiedlicher Inhaltsbereiche zu typischen Erfahrungen auf verschiedenen Ebenen der Abstraktion und Komplexität verallgemeinert zusammengefasst sind, so dass diese beim Verstehen aktueller Erfahrungen als Interpretations- bzw. Datenbasis dienen können (vgl. Brewer 1999; Minsky 1975, S. 228ff.; Rumelhart 1980a, S. 61; Schnotz 1994, S. 61; Thorndyke/Yekovich 1980, S. 23f.). Schemata kommen bei der Interpretation symbolischer, ikonischer und indexikalischer Zeichen zum Einsatz. Ihr Gebrauch beschränkt sich also nicht auf sprachliche Phänomene (wenngleich diese fortan im Vordergrund stehen). Denn jede Form der Kategorisierung schließt einen Schematisierungsprozess ein, da Kategorien selbst schematischer Natur sind: Kategorien formieren sich auf der Basis vergangener Wahrnehmungen, die hinsichtlich Ähnlichkeit und Kontiguität zu Typen gruppiert werden. Perzeption, in welcher Modalität auch immer, wäre ohne Kategorisierungsprozesse nicht denkbar (vgl. den Überblick in Cohen/Lefebvre 2005a, Kapitel 7). 15
Genauer: Wird rostig metaphorisch bzw. metaphtonymisch (nach Goossens 1995) gebraucht, um die Farbe eines Autos zu bezeichnen, so unterhält dieser Ausdruck sehr wohl eine Ähnlichkeitsbeziehung zu rot, da ja dann rostig als Instanz des Schemas „Farbe“ interpretiert wird (und nicht etwa als Instanz des Schemas „Zustand eines Metalls“). Zusätzlich ist eine kausale metonymische Beziehung der Nachbarschaft im Spiel, sofern rostig ein Materialzustand ist, der sich in einer bestimmten Farbe manifestiert. Rost hat eine Farbe, rosten bedeutet, dass sich mit der Änderung der Materialbeschaffenheit u.a. auch die Farbe des Materials ändert. Dass die Lexeme rostig, traurig usw. im nicht-metaphorischen und nicht-metonymischen Gebrauch in keiner Ähnlichkeitsbeziehung zu rot, weiß, blass usw. stehen, zeigen Prädikationstests. Im Standardfall wird nichts über die Farbe prädiziert: - * Das Auto ist rostig. - * Das Auto ist traurig.
2. Schemata
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In diesem Sinne fungieren Fillmores Kasus-Frames und kognitive Szenen ebenso als Schemata. Denn beide stellen in Gestalt von aufgerufenen oder abgerufenen Frames verstehensrelevante Standardinformationen bereit, die teils in Ähnlichkeits-, teils in Kontiguitätsbeziehungen zum jeweiligen KasusFrame bzw. zur jeweiligen kognitiven Szene stehen. Elemente eines Schemas (Instanzen) eröffnen zudem Anschlussmöglichkeiten an andere Frames, da sie selbst einen Frame aufrufen, der seinerseits Standardinformationen enthält. Im Kaufen-Frame bestimmen beispielsweise räumliche und zeitliche Kontiguitätsbeziehungen die Beziehungen zwischen den Instanzen Geld, Ware, Verkäufer, Käufer, und die Instanz Geld, um nur ein Element herauszugreifen, evoziert einen Geld-Frame, der Informationen zur Materialität, zum Verwendungszweck, zum Besitzer usw. bündelt. Unter „Schemata“ verstehe ich im Folgenden ein allgemeines, modalitätsunspezifisches Strukturformat, unter „Frames“ hingegen eine semantische Organisationseinheit.16 Der Begriff „Schema“ fungiert also als Oberbegriff für alle komplexen konzeptuellen Strukturen. Auch Frames sind Schemata, nur spezifische, da sie verstehensrelevantes Wissen repräsentieren und strukturieren, das zur Interpretation sprachlicher Ausdrücke herangezogen wird.17 Weil Frames mit anderen, nicht spezifisch semantischen Schematypen alle wesentlichen Eigenschaften teilen, lohnt es sich, Schemata in die weiteren Überlegungen einzubeziehen. Dies versuche ich im nächsten Abschnitt, in dem ich nach einer kurzen Auseinandersetzung mit Bartletts psychologischer Gedächtnistheorie einen knappen Überblick über die neuere Forschung zur Rolle und Funktion von Schemata während des Rezipierens, Memorierens und Reproduzierens von Texten biete. In den Abschnitten V.2.2 und V.2.3 wird sich anschließend zeigen, dass sich Frames strukturell und funktionell kaum von Schemata unterscheiden. Ich sehe dies als weiteres Indiz dafür an, dass Frames fest im holistischen Paradigma verankert sind.
16
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Diese Verwendungsweise entspricht der gängigen Terminologie. Vergleiche etwa Rumelhart 1980a, S. 34: „A schema, then, is a data structure for representing the generic concepts stored in memory. There are schemata representing our knowledge about all concepts: those underlying objects, situations, events, sequences of events, actions and sequences of actions. A schema contains, as part of its specification, the network of interrelations that is believed to normally hold among the constituents of the concept in question.“ Ähnlich Fillmore 1975, S. 124, 1977a, S. 101; Barsalou 1992a; Konerding 1997. Minsky (1975) und einige andere Künstliche Intelligenz-Forscher wie Charniak (1976) und Hayes (1980) begreifen „Frames“ hingegen als allgemeine, modalitätsunspezifische Repräsentationsformate, also als Schemata im gerade erläuterten Sinne.
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V. Frames als Schemata
2.1 Schemata als modalitätsunspezifische Repräsentationsformate Bartlett legt mit seiner Gedächtnisstudie den Grundstein für spätere kognitionspsychologische sowie -semantische Studien (wie Fillmore 1968, 1975; Langacker 1987; Minsky 1975; Rumelhart 1980a; Schank/Abelson 1977).18 In seinem Schema-Begriff kristallisieren sich zentrale Charakteristika heraus, die in neueren Untersuchungen Bestätigung finden (Keenan 1989). Insbesondere auf diese Charakteristika kommt es mir im Folgenden an, da zu erwarten ist, dass sie sich auf Frames vererben. Den Begriff „Schema“ hat Bartlett (1932) im Rahmen seiner Gedächtnistheorie eingeführt, um die Konstruktivität menschlicher Verstehensleistungen zu erklären. Diese stellte er fest, als er in seinen Experimenten Versuchspersonen Texte wiedergeben ließ, die sie zuvor gelesen hatten. Die frei reproduzierten Texte wiesen auffällige Unterschiede zum Original auf. Insgesamt haben Bartlett drei empirische Befunde zu der Annahme geführt, dass beobachtbare Auslassungen, Veränderungen, Verknappungen und Hinzufügungen auf aktivierte Schemata zurückzuführen seien:19 (i) Standardisierung. Traten im Originaltext unbekannte Phänomene auf, so neigten die Versuchspersonen bei der Wiedergabe des Textes dazu, diese Phänomene an ihnen bekannte Sachverhalte anzugleichen. Solche Standardisierungen gehen meistens einher mit Auslassungen von Informationen des Originaltextes einerseits und Hinzufügungen neuer Informationen andererseits.20 Beides geschieht auf der Grundlage des Wissens um „Normalfallregularitäten“ (Pohl 2002, S. 21). (ii) „Off-line“ Inferenzbildungen. Nicht nur jede Standardisierung ist auf Hinzufügungen von Informationen angewiesen. Hinzufügungen beobachtete Bartlett auch dann, wenn im Originaltext nicht enthaltene Details ergänzt wurden (Bartlett 1932, S. 84ff.). Im Sinne des minimalistischen und maximalistischen Ansatzes würde man heute von Inferenzbildungen sprechen (vgl. Abschnitt III.3.2). (iii) Nicht-Bewusstheit. Veränderungen, die der wiedergegebene Text gegenüber dem Originaltext aufwies, beruhten nicht auf intendierten Interpretationen. Vielmehr war den Versuchspersonen nicht bewusst, inwiefern sie bei der Wiedergabe den Originaltext modifiziert hatten (Bartlett 1932, S. 86ff.). Dies deutete Bartlett als Hinweis auf eine konstruktive Textverar18
19 20
Der wohl berühmteste Schematheoretiker vor Bartlett war der Philosoph Immanuel Kant, und auch Jean Piaget entwickelte, in entwicklungspsychologischer Perspektive, eine eigene Schematheorie. Vgl. hierzu die kurzen Überblicksdarstellungen in Brewer 1999; Christmann 1989, S. 7585; Kaiser 1982; Thorndyke/Yekovich 1980. Brewer (2000, S. 71-74) argumentiert ähnlich und führt weitere schemarelevante empirische Befunde Bartletts an, die m.E. aber vernachlässigt werden können, so etwa die triviale Feststellung, dass die Wiedergabetexte kürzer und weniger detailliert ausfallen als die Originale. Vgl. hierzu Bartletts Beispiele in Bartlett 1932, S. 72, 178.
2. Schemata
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beitung auf der Basis von Schemta, die im Langzeitgedächtnis abgespeichert sind und sowohl während („on-line“) als auch nach („off-line“) der Textrezeption aktiviert werden. Aktivierte Schemata waren den Versuchspersonen jedoch introspektiv nicht zugänglich. Sie sind vielmehr ex post gewonnene analytische Kategorien, ohne die der erfolgte Rekonstruktionsprozess des Originaltextes nicht hinreichend erklärbar ist. Erinnern, so Bartletts genereller Befund, basiere weniger auf Reproduktion von Gewusstem als auf aktiven, schemageleiteten Konstruktionsprozessen. „Schema” refers to an active organisation of past reactions, or of past experiences, which must always be supposed to be operating in any well-adapted organic response. That is, whenever there is any order or regularity of behaviour, a particular response is possible only because it is related to other similar responses which have been serially organised, yet which operate, not simply as individual members coming one after another, but as a unitary mass. Determination by schemata is the most fundamental of all the ways in which we can be influenced by reactions and experiences which occurred some time in the past. All incoming impulses of a certain kind, or mode, go together to build up an active, organised setting: visual, auditory, various types of cutaneous impulses and the like, at a relatively low level; all the experience connected by a common interest: in sport, in literature, history, art, science, philosophy and so on, on a higher level. (Bartlett 1932, S. 201)
Wie werden Schemata kognitiv relevant? Bartlett zufolge umfassen kognitive Verarbeitungsprozesse vier konstruktive Aspekte:21 (a) Auswahl und Typisierung von aktualen Erfahrungsdaten bzw. Stimuli auf der Basis vergangener Erfahrungen (Schemaerkennung), (b) Aktualisierung von mindestens einem relevanten Schema (Schemaaktivierung), (c) Korrelierung aktualer Erfahrung mit diesem aktivierten Schema (Schema-Instantiierung) und schließlich (d) Korrelierung dieses Schemas mit aufgerufenen Schemata anderer Modalität (intermodale Konzeptualisierung).22 Neuere gedächtnispsychologische Studien kommen interessanterweise zu vergleichbaren Ergebnissen. Alba und Hasher (1983) argumentieren, dass Schemabildungen vier Prozesse einschließen: Selektion, Abstraktion, Interpretation und Integration.23 (a) Selektion findet statt, weil nicht alle, sondern nur 21 22
23
Mit der Aufzählung soll weder suggeriert werden, dass (a)-(d) zeitlich linear ablaufen, noch abgestritten werden, dass es zu Interferenzen kommt. Eine Form der intermodalen Konzeptualisierung liegt z.B. vor, wenn der Frame, den ein hinweisender Ausdruck mit Determinativpronomen (wie dieses Haus, dieser Mann dort usw.) aufruft, mit der kopräsenten visuellen Wahrnehmung des jeweiligen Referenzobjektes in Beziehung gesetzt wird. „A schema theory which asserts that all four processes occur would state that from any environmental event, only the information that is relevant and important to the currently activated schema will be encoded. Of the information selected, the semantic content of the message will be abstracted and the surface form will be lost. Further, the semantic content will then be interpreted in such a way as to be consistent with the schema. The information that remains will then be integrated with previously acquired, related information that was activated during the current encoding episode.“ (Alba/Hasher 1983, S. 204)
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V. Frames als Schemata
ausgewählte Stimuli als relevant betrachtet werden. (b) Nur durch weitere Abstraktion gelingt es dann, die sprachlichen Tokens (in phonologischer, morphologischer, semantischer Hinsicht usw.) zu kategorisieren. (c) Interpretation ist dabei schon im Spiel, insofern nämlich ein Sprachbenutzer oder eine Sprachbenutzerin Vorwissen in Gestalt von aktivierten Schemata (Kategorien) selektiv einbringt. (d) Erst im Zuge von Integrationsprozessen wird die wahrgenommene Gesprächssequenz schließlich kohärent; aufgerufene Schemata werden etwa mit abgerufenen Schemata in Verbindung gebracht und diese wiederum mit Daten aus anderen Sinneskanälen abgeglichen. – In Bartletts Begriff der Konstruktivität sind alle vier Prozesse enthalten. Folgt man Bartletts Ausführungen, müssten sich Schemata stetig, genau genommen mit jedem Erfahrungsakt, ändern. Würden sich nämlich Schemata aktuellen Erfahrungen nicht individuell anpassen – wären sie also nicht „aktiv“ im Sinne Bartletts –, könnten sie kaum Einfluss auf die Interpretation aktueller Erfahrung ausüben. Dieser Aspekt ist für Bartlett so wichtig, dass er dem Konzept des Schemas zunächst skeptisch gegenübersteht. Denn statt den fortlaufenden Veränderungsprozessen Rechnung zu tragen, die mit jeder Erfahrung tatsächlich stattfinden, suggeriere die Redeweise von „Schemata“ eine gewisse Persistenz: it [der Begriff des Schemas, AZ] does not indicate what is very essential to the whole notion, that the organised mass results of past changes of position and posture are actively doing something all the time; are, so to speak, carried along with us, complete, though developing, from moment to moment. (Bartlett 1932, S. 201)
Umgekehrt wäre es indes genauso verfehlt anzunehmen, Wissen erschöpfe sich in kognitiven Aktivierungen und Aktualisierungen. Denn wäre das der Fall, müsste jeder Erinnerungsakt schon deshalb misslingen, weil es kein zu aktualisierendes Wissen gäbe: Erinnertes Wissen ist schematisiertes Wissen (vgl. Alba/Hasher 1983). Andernfalls würde das Erinnerte aktuale Sinneseindrücke abbilden und mithin so viele Detailangaben umfassen, dass unsere kognitive Kapazität bei Weitem überlastet würde.24 Dies vermeiden Schematisierungen. Sie sind eine unersetzbare Form der Komplexitätsreduktion und Garant für kognitive Ökonomie zugleich. Für Schemata gilt somit, was Busse zur Wechselbeziehung zwischen Stase und Dynamik von Wissen allgemein feststellt. Wissen sei
24
Auch biographische Erinnerungen an einprägsame Ereignisse (wie an die erste Fahrradfahrt, die mit einem Sturz endete) weisen einen schematischen Charakter auf. Im Zuge der „tiefen kognitiven Verarbeitung“ (vgl. Anderson 1996, S. 187-193) des Ereignisses werden einige Wissensaspekte memoriert (wie z.B. die Farbe des Fahrrades; die Straße, auf der die Fahrradfahrt stattfand; die Schmerzen nach dem Sturz usw.), andere hingegen nicht (wie vielleicht der Pullover, den ich getragen habe, die Tageszeit, dem der Unfall stattfand usw.). Insofern sind biographische Erinnerungen nicht weniger schematisch. Sie sind Reinterpretationen ausgesetzt, d.h. Wissenslücken können durch Standardannahmen gefüllt werden.
2. Schemata
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kein statisches Etwas, keine feste, gegebene und temporär unveränderliche Struktur, die man wie einen vorgegebenen Gegenstand in quasi eingefrorener Perspektive stillhalten und deskriptiv erfassen kann. (Busse 2005a, S. 52).
Und umgekehrt erschöpfe sich Wissen ebensowenig in „reine[r] Dynamik“ oder einer „flüchtige[n] Bewegung“ (Busse 2005a, S. 52).25 Geht man allerdings von einer unaufhebbaren Oszillation zwischen Stase und Dynamik aus, einer Annahme, die Bartlett durchaus zu teilen scheint (vgl. Bartlett 1932, S. 85, 201), gerät man in Konflikt mit Bartletts Verständnis von Schemata als Einheiten generischen Wissens im Langzeitgedächtnis. Besonders deutlich wird dieser Punkt dort, wo Bartlett seine Schematheorie mit einem anthropologischen bzw. soziologischen Konzept von Konventionalisierung in Verbindung bringt (Bartlett 1932, S. 280). Wie Konventionen bilden zwar auch Schemata kulturell stabile Muster, die sich in dieser Funktion zweifelsohne als kognitiv relevant erweisen. Identifiziert man aber Schemata mit „pattern of a relatively stable kind“ (Bartlett 1932, S. 280), genauer: mit Struktureinheiten bestehend aus einer Menge hochgradig konventionalisierter Elemente, so fehlt Schemata jene Möglichkeit zur Veränderung, die Bartlett als so wichtig erachtet. Denn diese Veränderungsdynamik entsteht allein aufgrund von kontextspezifischen konkreten Füllelementen. In diesem Zusammenhang geht Brewer (2000, S. 83f.) so weit zu behaupten, dass keine Schematheorie alle Formen menschlichen Wissens erfassen würde, da nicht-generisches Wissen eine beachtliche Rolle bei Verstehensprozessen – etwa beim Verstehen von Prosatexten oder in der Organisation menschlicher Handlungen – einnehme, dieser Wissensform analytisch jedoch nicht Rechnung getragen werden könne. Mit dieser Einschätzung liegt Brewer m.E. falsch. Er übersieht, dass sich diese Kritik nur auf ein spezifisches Problem von Bartletts Modell bezieht. Dynamik ergibt sich aus Kategorisierungen (Schema-Instanzbeziehungen), und nicht-generisches Wissen betrifft jene Instanzen, die kategorisiert werden. Weil Bartlett aber Schemata nicht hinsichtlich ihrer beiden Strukturkonstituenten Leerstelle (slot) und konkreter Füllwert (filler) differenziert, sondern nur Standardwerte (default values) beachtet, mangelt es den schematischen Größen an Dynamik. Dieses Manko
25
Busse (2005a) wie auch Ziem (2006a) machen darauf aufmerksam, dass die Stabilität semantischen Wissens sich in dem Maße erhöht, wie der Abstraktionsgrad der in Frage stehenden Wissensformation steigt. In Busses (2005a, S. 52) Worten: „Das schnell wandelbare, dynamische, sich in ständig wechselnden Re-Formierungen neu arrangierende Wissen findet sich prototypischer Weise eher in den Wissensarealen und Diskursformationen des kulturellen Überbaus (wenn man mir diesen kleinen rückwärtsgewandten terminologischen Schlenker erlaubt). Dies kann und darf aber nicht den Blick darauf verstellen, daß es andere Gesellschaftsbereiche und damit Wissensareale gibt, in denen Handlungs- und Lebensstrukturen wie das diesbezogene Wissen eine beeindruckende Latenz und Stabilität aufweisen.“
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V. Frames als Schemata
beseitigen erstmalig die Konzeptionen Minskys (1975) und Rumelharts (1980a, S. 36f, 42).26 Ich werde darauf später zurückkommen. Streng genommen ist der Begriff „Schema“ keine Bezeichnung für eine „konzeptuelle Wissensstruktur im LZG [Langzeitgedächtnis, AZ]“ (Schwarz 2000, S. 34). Denn allein Standardwerte (default values) bilden Einheiten des Langzeitgedächtnisses. Leerstellen (slots) stellen dagegen eine analytische Größe dar, und es dürfte sehr fraglich sein, ob ihnen überhaupt eine psychische Realität zukommt. Konkrete Füllwerte (fillers) zeichnen sich schließlich gerade dadurch aus, dass sie in der Regel nicht im Langzeitgedächtnis abgespeichert sind.27 Vor diesem Hintergrund entpuppen sich einige Probleme als Scheinprobleme, so etwa der erwähnte Einwand, Schemata seien nicht dynamisch genug, um dem steten Wandel konzeptuellen Wissens Rechnung zu tragen. Bartlett (wie auch anderen Kognitionspsychologinnen und -psychologen) geht es im Kern um psychologische Fragen der Wissensrepräsentation. Bedeutungstheoretische Betrachtungen liegen ihm fern. Wie steht es dann mit dem Verhältnis zwischen gedächtnispsychologisch relevanten Schemata und Frames? Mit Blick auf Bartletts Studie hält Christmann fest: Selbst nicht kategorial zusammenhängende Begriffe können in großer Zahl reproduziert werden, wenn es den Versuchspersonen gelingt, zwischen einzelnen Wörtern eine wie auch immer geartete Beziehung herzustellen. (Christmann 1989, S. 46)
Festzustellen, dass Ähnlichkeit und Kontiguität jene psychologisch wirksamen Assoziationsprinzipien darstellen, die die von Christmann angesprochenen semantischen Beziehungen zwischen Begriffen etablieren, reicht zur Beschreibung verstehensrelevanten Wissens nicht aus. Schon weil sprachliche Zeichen eigenen Organisationsprinzipien unterworfen sind – sie etwa Konstruktionen (bzw. symbolische Einheiten) unterschiedlicher Komplexität bilden –, ist Sprachverstehen ein kognitiver Prozess sui generis. Die kognitive Verarbeitung von Sprache lässt sich nicht auf andere Formen zeichenvermittelten Verstehens reduzieren. Kapitel IV sollte diesem Umstand Rechnung tragen. Dass Schemata dennoch als einheitliches Repräsentationsformat von Wissen gelten, lässt sie zu kognitiv wirkungskräftigen Struktureinheiten unseres konzeptuellen Systems werden (Mandler 1984; Rumelhart/Ortony 1977; Rumelhart 1980a). Über Bartletts Studie hinaus liegen zahlreiche neuere psy26 27
Unter Rückgriff auf die eingeführten Strukturkonstituenten der Leerstelle und des Füllwertes kann Rumelhart (1980a, S. 40) Brewers Kritik zum Trotz behaupten: „Schemata represent knowledge at all levels of abstraction.“ Ein konkreter Füllwert ist in der Regel deshalb nicht im Langzeitgedächtnis abgespeichert, weil er eine Instanz in einem Frame bildet, den Frame also in einer Hinsicht spezifiziert. Allenfalls Elemente (Standardwerte) des von ihm aufgerufenen Frames könnten im Langzeitgedächtnis verankert sein.
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chologische Untersuchungen zur Textverarbeitung vor, die eine sehr weitreichende funktionale Relevanz von Schemata für die menschliche Kognition nahe legen. Ich gehe darauf kurz ein, um mich dann im nächsten Abschnitt Frames als schematischen Strukturen zuzuwenden. In fünf Punkten lassen sich die Forschungsergebnisse zusammenfassen: Erstens deuten Ergebnisse von Studien zur Textwiedergabe („recall“), in denen Probanden einen zuvor gehörten oder gelesenen Text nachträglich zu rekonstruieren haben, darauf hin, dass das Verstehen und Behalten von Texten maßgeblich von jenen Schemata abhängt, die der Rezipient oder die Rezipientin beim Verstehen aktualisiert und dann bei der Textreproduktion aktiviert (vgl. etwa Anderson/Pearson 1984; Kintsch/Greene 1978; auch: Fillmore 1981; zusammenfassend Mandl/Friedrich/Hron 1987). Zweitens erklärt die Annahme verstehensleitender Schemata ferner, warum Texte selektiv aufgenommen und abgespeichert werden (Anderson/Pichert/Shirey 1983; Neisser 1976): Detailinformationen gehen immer dann verloren, wenn sie entweder für ein aktiviertes Schema irrelevant erscheinen oder Instanzen eines Schemas auf einem sehr niedrigen Abstraktionsniveau bilden. Drittens bieten Schematheorien in diesem Zusammenhang zudem eine Erklärung dafür, wie „Gedächtnisspeicher“, insbesondere das Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis, miteinander interagieren. Schemata eines hohen Abstraktionsgrades erweisen sich generell als persistenter und stabiler, weswegen gilt: In dem Maße, wie der Abstraktionsgrad eines Schemas steigt, wächst die Wahrscheinlichkeit, dass das Schema im Langzeitgedächtnis abgespeichert ist (Brewer/Nakamura 1984; Taylor 2002, S. 274-277; kritisch dazu: Brewer 2000, S. 83f.).28 Während also Daten aus dem Kurzzeitgedächtnis (wie Details des Wohnzimmers eines Freundes, das ich gerade zum ersten Mal sehe) als Instanzen im generischen Konzept (hier: „Wohnzimmer“ bzw. „Zimmer“) fungieren und recht flüchtiger Natur sind, hält das jeweils übergeordnete Schema stabile Standardinformationen bereit (man denke etwa an die Standardwerte „Tür“, „Fenster“, „Boden“, „Decke“ im Zimmer-Schema, vgl. auch Minsky 1975, S. 221-223; 1988, S. 249f.). Viertens spielen Schemata nicht nur bei der Wiedergabe von bzw. Erinnerung an gemachte Erfahrungen eine entscheidende Rolle. Offensichtlich steuern sie ebenfalls aktuale Wahrnehmungsprozesse wie beispielsweise das Lesen eines Textes. So kommen Smith und Swinney (1992) zu dem Ergebnis, 28
Dies erklärt sich durch das Rekurrenzprinzip (vgl. auch Abschnitt VI.5.1): Stabiler – und mithin kognitiv salienter – sind Schemata, die häufiger auf- bzw. abgerufen werden. Da die Aktualisierung eines Schemas auf einem niedrigen Abstraktionsniveau die Aktivierung übergeordneter (in semantischer Hinsicht: hyperonymer) Schemata impliziert, werden generell übergeordnete Schemata häufiger aktiviert. So aktiviert der Ausdruck Küche genauso wie Wohnzimmer und Büro das Zimmer-Schema.
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V. Frames als Schemata
dass die Lesezeit eines Textes signifikant kürzer ist, wenn der Leser oder die Leserin zuvor ein relevantes Schema aktiviert hat. Der Einfluss von Schemata beschränkt sich demnach nicht allein auf nachträgliche Textrekonstruktionen. Schemata sind in Verstehensprozessen vielmehr auch während der Verarbeitungsprozesse (hier während des Lesens) wirksam, und zwar auf ganz verschiedenen Abstraktionsebenen, so etwa hinsichtlich der Identifikation einzelner Buchstaben und Wörter oder bei der Verarbeitung von Phrasen (Adams/Collins 1979). Schließlich scheint Schemata auf einem noch höheren Abstraktionsniveau eine psychische Realität zuzukommen. Neben Rumelhart haben zahlreiche andere Kognitionspsychologen die Rolle von komplexen Geschichtenschemata bei der Rezeption und Produktion von Prosatexten nachzuweisen versucht (vgl. z.B. Rumelhart 1975; 1980a). Das Verstehen und Behalten eines Textes hängt demnach maßgeblich mit der hierarchischen Textstruktur einerseits und der Reihenfolge, in der Textelemente auftreten, anderseits zusammen (zusammenfassend Christmann 1989, S. 80f.). Das Leseverständnis verbessert sich dann, wenn hierarchiehohe Elemente eines Textes thematisch zentral sind und die Reihenfolge ihres Auftretens den typischen Vorgaben (Standardinformationen) eines Geschichtenschemas entspricht. Diese Ergebnisse dürfen immer noch Geltung beanspruchen. Auch unter Kritikern und Kritikerinnen von Schematheorien herrscht Konsens darüber, dass Wissen im Langzeitgedächtnis nur in schematischer Form verstehensrelevant werden kann, dort also nur in Gestalt von „Annahmen über typische Exemplare von Objekt-, Handlungs- oder Situationskategorien“ (Schwarz 2000, S. 34) abgespeichert ist. Allerdings dürfte es kein Zufall sein, dass bislang keine Schematheorie jenen kognitiven Vorgang hinreichend zu erklären vermag, den Alba und Hasher (1983) „Selektion“ nennen: Es gibt stets eine potentiell unbegrenzte Menge typischer Exemplare, die sich den Leerstellen eines Schemas zuordnen lassen, und es lassen sich ebenso viele Gründe dafür anführen, warum im Einzelfall nur eine kleine Auswahl typischer Exemplare aktualisiert wird. Welche Mechanismen sorgen dafür, dass jedes aktivierte Schema lediglich bestimmte Standardannahmen enthält, andere dagegen keine Rolle spielen? Offenbar hemmen zahlreiche Faktoren (Situationsanforderungen, Ko- und Kontextdaten, aktualer Aufmerksamkeitsfokus, persönliche Motivation) potentiell mögliche Inferenzbildungen. Die Interaktion solcher Faktoren empirisch zu bestimmen, ist eine ungeheuer schwierige Aufgabe, die bislang noch nicht im vollen Umfang gelöst ist.29
29
Einen weitreichenden theoretischen Lösungsvorschlag haben Dan Sperber und Deirdre Wilson (1993) unterbreitet, indem sie (im Anschluss an Grice) Relevanz zum zentralen kognitiven Prinzip erklären. Einen Überblick über die aktuelle Forschungslage in der Empirie gibt Barsalou 2005. Auch Bühlers (1934, S. 28) „Prinzip der apperzeptiven Ergänzung“ und „abstraktiven
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Weitere offene Fragen resultieren unmittelbar aus dem gedächtnispsychologischen Forschungszusammenhang. Obwohl sie in Verbindung mit Frames so nicht auftreten, seien sie kurz genannt. Ein Problem stellen methodische Unzulänglichkeiten dar. In ihrer Anwendung zeigen Schematheorien zwar, dass sie von hohem deskriptivem Wert sind. Wenn es allerdings darum geht, Voraussagen zu treffen, welches Wissen Versuchspersonen in bestimmten Testsituationen einbringen, bleibt ihr Einsatz von geringem Nutzen. Dies liegt einerseits an der fehlenden Bestimmung des Status von Standardwerten, andererseits aber auch daran, wie schon Thorndyke und Yekovich (1983, S. 41) kritisiert haben, dass es viele potentiell relevante Schemata gibt, um eine einzige Verstehensleistung zu erklären. Warum aktualisiert eine Versuchsperson unter bestimmten Umständen genau dieses Schema und kein anderes Schema? Bislang ist es nicht gelungen, Faktoren der Salienzgradierung erschöpfend zu bestimmen und experimentell umzusetzen. Dieser Problemkomplex hängt eng mit dem angeführten Prozess der Schema-Selektion zusammen. Vor einer vergleichbaren Schwierigkeit stehen frame-semantische Ansätze, wenn sie abgerufene Frames (im oben erläuterten Sinn) thematisieren. Auf diese Problematik gehe ich in Abschnitt VI.5 ein. Weiterhin leiden Schematheorien an problematischen Vereinfachungen. Unklar ist, wie man sich den Prozess der Schemaanwendung psychologisch genau vorzustellen hat. Beispielsweise basieren die Prozesse der Selektion, Abstraktion, Interpretation und Integration ihrerseits auf z.T. sehr komplexen Teilprozessen.30 Das gleiche gilt für zahllose andere Prozesse wie das Vergleichen, Spezifizieren und Evaluieren von Schemata sowie das Verknüpfen von einfacheren Schemata zu einem komplexen Schema. Schließlich betrifft ein weiterer Problemkreis die Aktivierung von Schemata. Wie werden Schemata aktiviert? Nicht jeder sinnlich wahrnehmbare Stimulus, der einen Organismus erreicht, aktiviert ein Schema. Wenn aber der Schemaaktivierung eine Relevanzeinschätzung der Stimuli vorausgeht, stellen Schemata dann noch die grundlegenden Einheiten („building blocks“ im Sinne von Rumelhart 1980a) unserer Kognition dar? Natürlich könnte die Einschätzung der Relevanz selbst schemabasiert verlaufen, nur was aktiviert dann diese Schemata? Dieses Problem scheint nicht zu lösen zu sein, ohne zuvor das Zusammenspiel zwischen dem Verarbeiten, Speichern und Abrufen relevanter Informationen aus dem Gedächtnis präzise bestimmt zu haben.31
30 31
Relevanz“ wären in diesen Zusammenhang einzuordnen; nach Relevanz zu abstrahieren entspricht ungefähr jenem Prozess, den Alba und Hasher „Selektion“ nennen. Man denke an den Prozess der Textinterpretation. Alba und Hasher (1983) thematisieren hier eine menschliche Verstehensleistung, ohne sich der vollen Komplexität bewusst zu sein, vgl. Busse 1991a. Kintsch (1977) nennt acht Verarbeitungsprozesse, an denen Schemata wohl auch maßgeblich beteiligt sein würden: (a) graphemische Analyse, (b) Buchstabenerkennung, (c) Worterkennung, (d) Wortbedeutungsanalyse, (e) syntaktische Analyse, (f) propositionale Analyse, (g) mentale
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V. Frames als Schemata
2.2 Gemeinsame Charakteristika von Frames und Schemata In der Auseinandersetzung mit Langackers Theorie semantischer Einheiten hatte ich schon auf die Relevanz schematisierten Wissens für eine kognitive Bedeutungstheorie hingewiesen. Der analytische Nutzen von Schemata konnte an dieser Stelle jedoch nicht weiterverfolgt werden. Auf der Basis der letzten Überlegungen setze ich nun an diesem Punkt wieder an und präzisiere zunächst den Begriff des Schemas insoweit, wie es für das Verständnis von Frames von Nutzen ist. Dies geschieht vor dem Hintergrund der Annahme, dass Frames und Schemata hinsichtlich ihrer kognitiven Funktion und ihrer repräsentationaler Eigenschaften sehr ähnlicher Natur sind. Wodurch zeichnen sich Schemata aus? In ihrer frühen Kritik an gedächtnispsychologischen Schematheorien stellen Thorndyke und Yekovich fest, dass es in der Literatur keinen einheitlichen Gebrauch des Schema-Begriffs gibt. Vielmehr sei es üblich, den Schema-Begriff so zu benutzen, wie es gerade die empirischen Interessen und Anforderungen der jeweiligen Studie nötig machten. Because the concept of schemata as organizers of human experiences is so general, it is perhaps inevitable that each particular formulation of schemata should differ from all others in some details. As in the early research on schemata, each researcher has proposed a model that differs from all others in precisely what a schema is, how it is structured, or how it is used. (Thorndyke/Yekovich 1980, S. 26)
Trotz dieses Befundes kommen Thorndyke und Yekovich (1980, S. 27f.) zu dem Schluss, dass allen Schematheorien fünf Annahmen zugrunde lägen. Schemata würden erstens abstraktes Wissen repräsentieren („concept abstraction“), das zweitens eine hierarchische Organisationsstruktur aufweise („hierarchical organization“). Drittens würden Leerstellen eines Schemas durch Instantiierungen mit Werten bedient („instantiation“). Standardwerte ließen viertens Schemata zu Erwartungsstrukturen werden („prediction“), die ihrerseits – das ist der fünfte Punkt – induktiv entstanden seien („induction“). Ich greife im Folgenden diese fünf Charakteristika auf, ergänze sie allerdings um weitere wichtige Bestimmungen.32 Im nächsten Abschnitt werden wir dann sehen, dass diese Charakterisierungen auch für Frames gelten. (a) Strukturkonstituenten: Leerstelle, konkreter Füllwert, Standardwert. Jedes Schema setzt sich aus drei Typen von Elementen zusammen. (i) Leerstellen
32
Kohärenzbildung und (h) Kontextwahrnehmung. Den zeichentheoretischen Überlegungen zufolge, nach denen Frames semantisches Wissen in Konstruktionen (bzw. symbolischen Einheiten) organisieren, betreffen Frames demnach die Prozesse (c) bis (h); Grapheme und Buchstaben treten auch als Entitäten auf, die nicht den Status symbolischer Einheiten haben. Zur Erläuterung und Kritik an Thorndyke und Yekovich vgl. auch Biere 1989, S. 79-81. Weitere Bestimmungen von Schemata finden sich in Rumelhart 1980a, S. 40f.; Christmann 1989, S. 76; Brewer 1999. Diese bleiben jedoch z.T. lückenhaft. Gleiches gilt für Müller 1982, der als einziger Frames und Schemata zueinander in Beziehung setzt.
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(slots) zeigen an, welche Wissensaspekte möglicherweise einem Schema zugeschrieben werden können (Rumelhart 1980a). So mag das visuelle Schema eines Zimmers Angaben zur Decke, zum Boden, zu den Wänden sowie der Beschaffenheit derselben umfassen (Brewer 1999). (ii) Von konkreten Füllwerten (fillers) spricht man, wenn Leerstellen durch Daten der aktualen Wahrnehmung besetzt werden. Diese Daten stammen aus einer externen ‚Reizquelle‘, einer perzipierten Entität der Außenwelt. (iii) Standardwerte (default values) können zusätzlich dort inferiert werden, wo keine konkreten Füllwerte ein Schema spezifizieren.33 Ein Standardwert liegt im Bereich der visuellen Wahrnehmung beispielsweise vor, wenn man ein Zimmer betritt, dessen Decke nicht wahrnimmt und doch annimmt, dass es eine Decke mit bestimmten Eigenschaften gibt. Im Zuge der kognitiven Verarbeitung verschmelzen dann konkrete Füllwerte und Standardwerte zu einer Struktureinheit.
:-) Abb. 2: Schematische Darstellung eines Gesichts
Zur Veranschaulichung soll Abb. 2 dienen.34 Das Ensembe der abgebildeten Zeichen deuten wir als lachendes Gesicht, das aus drei Füllelementen besteht. Der Doppelpunkt steht für die Augen, der Strich für die Nase und die untere Klammer für einen lachenden Mund. Um nun aus dieser auf ein Minimum reduzierten schematischen Darstellung ein Gesicht zu erkennen, muss zumindest der Kopf als Ganzer von dem weißen Hintergrund abgehoben werden. Mitzudenken ist also die äußere Begrenzung 33
34
Die Unterscheidung zwischen Füllwerten und Standardwerten entspricht der in der künstlichen Intelligenzforschung geläufigen Unterscheidung zwischen „daten- und erwartungsgesteuerten“ Kognitionsprozessen, vgl. Strube u.a. 1996, S. 110f. und 161f. – Gängig ist der Begriff „default value“ (Rumelhart 1980a, S. 36), deutsch „Standardwert“ (etwa in Fraas 1996a, S. 13ff.). Synonym verwendet werden aber auch Bezeichungen wie „default assignment“ (Minsky 1975, S. 228), „Ersatzannahmen“ (Schnotz 1994, S. 62) u.a.m. Dabei handelt es sich um einen in der Email-Kommunikation üblich gewordenen „Smiley“, hier allerdings zur Erleichterung um 90 Grad gedreht.
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V. Frames als Schemata
des Kopfes. Dieses hinzugefügte Element hat den Status eines inferierten Standardwertes, ohne den weder die Unterscheidung der Figur des Gesichts vom weißen Grund möglich wäre, noch die kategoriale Zuordnung „Ensemble von Zeichen Ⱥ Gesicht“ gelänge.35 (b) Strukturmuster. Der Eindruck einer schematischen Ganzheit entsteht dadurch, dass die Strukturkonstituenten eines Schemas miteinander korreliert sind. Wie Abb. 3 illustriert, lassen sich sich drei Strukturmuster voneinander unterscheiden. Handelt es sich um eine dynamische Korrelation, wie in (i) und (ii), so besteht zwischen den Standardwerten („s“) bzw. konkreten Füllwerten („f“) eines Schemas ein Verhältnis der sequenziellen Abfolge. In der Abbildung ist die Verteilung von Füllwerten und Standardwerten frei gewählt; sie variiert abhängig vom gegebenen Input und kontextuellen Daten. Der Pfeil in (i) und (ii) zeigt die Richtung des zeitlichen Abfolgeverhältnisses an. Die Unterlegung von fx in (ii) symbolisiert, dass es sich um ein Endglied handelt. i. Dynamisches Strukturmuster ohne Zielorientierung („Skript“) f2
s1
s3
fx
ii. Dynamisches Strukturmuster mit Zielorientierung („Plan“) s2
s1
s3
fx
iii. Statisches Strukturmuster f2 f3 f1 sx
Abb. 3: Strukturmuster: Beispiele für mögliche Beziehungen zwischen Standardwerten s bzw. Füllwerten f
Im Fall von (i) und (ii) gliedert sich das Schema in mehrere Strukturkonstituenten, die sich aufgrund zeitlicher Kontiguität bedingen. In diesem 35
Über diesen Standardwert hinaus werden natürlich zahlreiche andere Standardwerte hinzugefügt. So hat, anders als das Ensemble von Zeichen in Abb. 2, die konstruierte Gestalt eines Gesichtes eine Stirn, Wangen, Ohren usw. – Elemente also, die sich ebenfalls vom weißen Hintergrund abheben müssten.
2. Schemata
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Sinne könnte man sowohl die visuelle als auch die auditive Wahrnehmung eines vorbeifahrenden Autos als Kontinua von Füllwerten f1 bis fx begreifen, nämlich einmal – einem Daumenkino vergleichbar – als Abfolge von Bildern und einmal als Abfolge von Tönen bzw. Geräuschen (vgl. auch Minsky 1975). Wahrnehmung von Bewegung folgt generell einem dynamischen Strukturmuster des Typs (i). Ein spezifischeres dynamisches Strukturmuster liegt hingegen vor, wenn, wie in (ii), das zeitlich letzte Glied die Reihenfolge der Strukturkonstituenten determiniert. Dies ist bei zielorientierten Prozessen der Fall, am deutlichsten vielleicht bei der Anwendung kognitiver Problemlösestrategien oder dem Erkennen von (Handlungs-)Absichten (vgl. Barsalou 1983, 1991; Schank/Abelson 1977, S. 101-130). Um etwa die Aufgabe, einen Apfel zu schälen, erfolgreich zu lösen, muss ein Schema („Plan“) aktiviert sein, das u.a. Angaben dazu bereithält, welche Teilhandlungen in welcher Abfolge zum gewünschten Ziel führen.36 Im Fall (iii) liegt schließlich ein statisches Strukturmuster vor. Statisch sind Korrelationen zwischen den Strukturkonstituenten eines Schemas, insofern ihr Auftreten durch das Prinzip der Ähnlichkeit oder der räumlichen Kontiguität gesteuert wird. „Statisch“ meint hier also lediglich „nicht-zeitlich“ und keineswegs, dass Füllwerte und Standardwerte ein für alle Mal fixiert sind. Vielmehr bleiben beide variabel, austauschbar und veränderbar. Statische Beziehungen bestimmen z.B. das Verhältnis der Strukturkonstituenten im wahrgenommenen Gesicht in Abb. 2. Sie sind motiviert durch räumliche Kontiguität. (c) Gestalthaftigkeit. Schemata treten grundsätzlich gestalthaft auf. Das heißt: Die Strukturkonstituenten eines aktivierten Schemas existieren mental nicht als einzelne, isolierte Elemente, sondern vielmehr als integrale Bestandteile eines ganzheitlichen Strukturgefüges (Metzger 1923; Wertheimer 1923). Dies gilt für alle Wahrnehmungsmodalitäten (Lakoff 1977, S. 246). Der Eindruck der Ganzheit ist dabei so stark, dass es schwer fällt, auf der Basis von Erinnerungen zwischen konkreten Füllwerten und inferierten Standardwerten zu unterscheiden. Beide machen aus einem Schema eine verschiedentlich spezifizierte Wahrnehmungseinheit. Unbesetzte Leerstellen sind in der gestalthaften Wahrnehmungseinheit nicht enthalten. Infolgedessen gibt es Schemata nicht als ‚reine‘ Strukturgebilde, d.h. als Struktur mit unbesetzten Leerstellen.37 Sobald ein Schema ak36
37
Stark vereinfacht etwa die Standardangaben: s1 = „in die Küche gehen“, s2 = „ein Messer aus der Schublade nehmen“, s3 = „Messer zum Apfel führen“, s4 = „Apfel schälen“. Einen Apfel zu schälen, stellt selbst eine komplexe Handlung dar, die in einer Abfolge sequenzieller Teilhandlungen aufzugliedern wäre. Genauer: Ein Schema als reine Struktur mit unbesetzten Leerstellen ist ein analytisches Konstrukt (und kann als solches durchaus hilfreich sein). Ihm kommt aber keine kognitive Realität zu.
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V. Frames als Schemata
tiviert ist, vermögen wir uns der gestalthaften Wahrnehmung nicht zu entziehen, so etwa der des Gesichtes in Abb. 2: Wir sehen nicht zwei Punkte und einen Strich und eine Klammer, und wir sehen ebensowenig Augen und eine Nase und einen Mund. Wir nehmen vielmehr ein Gesicht wahr.38 (d) Dynamizität. Dynamizität ergibt sich aus rekurrenten SchemaInstanzbeziehungen. Mit jeder aktuellen Erfahrung werden neue Füllwerte den Leerstellen eines aktivierten Schemas zugewiesen. Tauchen ähnliche Füllwerte innerhalb eines bestimmten Zeitintervalls mit hoher Frequenz auf, können sie vorhandene Standardwerte verändern. Einen solchen assimilativen Prozess bezeichnen Rumelhart und Norman (1978) als „tuning“. Standardwerte, die in Leerstellen bereits abgespeichert sind, gleichen sich allmählich an den Durchschnitt neuer Erfahrungen an. Da Leerstellen, wie bereits erwähnt, analytische Größen darstellen und aus der Abstraktion von Standardwerten entstanden sind, verändern auch sie sich. Die Halbwertzeit von Leerstellen liegt allerdings um ein Vielfaches höher als die Halbwertzeit von Standardwerten, welche ihrerseits freilich erheblich persistenter sind als konkrete Füllwerte. (e) Erwartungsstrukturen. Ein aktiviertes Schema erzeugt Erwartungen bezüglich der zu ihm passenden Informationen, d.h. bezüglich potentieller Wissenselemente der aufgerufenen Leerstellen (Oliver/Johnston 2000; Tannen 1979; Schnotz 1994, S. 61f.). Erwartungen kommen durch Standardwerte zustande, die mit einem Schema assoziiert sind. Ist, ausgehend von Abb. 2, das Gesichtsschema einmal aktiviert, ergeben sich die Standardwerte (hier etwa: Kinn, Wange, Stirn) gleichsam wie von selbst. Jeder Standardwert hat dabei zunächst den Charakter einer Hypothese, die sich erst bewähren muss (Rumelhart 1980a, S. 38). Neue Daten können Standardwerte jederzeit ersetzen, sie können sogar dazu beitragen, dass ein bereits aktiviertes Schema wieder verworfen wird, weil ein anderes Schema besser passt, d.h., weil es zu einem kohärenteren Gesamtverständnis vorliegender Daten führt. (f) Schemata als Ausschnitte aus Netzwerken: rekursive Einbettungen qua Instantiierung. So wenig, wie die Strukturkonstituenten von Schemata isolierte Einheiten bilden, formieren Schemata selbst isolierte Einheiten. Dies hängt mit dem Status von Strukturkonstituenten zusammen. Da Füllwerte ebenso wie Standardwerte konzeptueller Natur sind, verhalten auch sie sich zu anderen Elementen wie Schemata zu Instanzen. Anders ausgedrückt: Jede Instanz (konkreter Füllwert, Standardwert) bildet ihrerseits ein Schema für andere Instanzen (Rumelhart/Ortony 1977, S. 106-109). 38
Was im dargestellten Fall natürlich auch durch die ikonische Anordnung der einzelnen Elemente bedingt ist.
2. Schemata
271
So verhält sich die Nase (Instanz) eines wahrgenommenen Gesichtes (Schema) zu ihren Bestandteilen Nasenlöchern und Nasenrücken wie ein Schema zu ihren Instanzen. Diesen Sachverhalt kann man dahingehend verallgemeinern, dass Schemata ineinander rekursiv eingebettet sind (Barsalou 1992a, S. 30-35, 43). So bildet das Gesichtsschema wiederum eine Instanz im Personen-Schema. Nimmt man eine Gruppe von Menschen wahr, figurieren einzelne Personen wiederum als Instanzen im übergeordneten Gruppen-Schema.39 Unter dieser Perspektive sind Schemata Ausschnitte aus einem umfassenden konzeptuellen Netzwerk, innerhalb desselben sie Vielheiten zu Einheiten bündeln. (g) Hierarchische Organisation: Abstraktionsebenen. Ein konzeptuelles Netzwerk zeichnet sich durch eine hierarchische Organisationsstruktur aus. Abweichungen im Abstraktionsgrad resultieren aus rekurrenten Instantiierungsprozessen, weil ein Schema per definitionem abstrakter ist als eine Instanz desselben. Um allein einen Satz zu verarbeiten, greift schon eine Vielzahl hierarchisch organisierter Schemata ineinander, angefangen von der graphemischen Erkennung bis hin zur Kontextwahrnehmung.40 Dass es auch bei der visuellen Wahrnehmung viele Abstraktionsebenen gibt, haben wir bereits am Beispiel des Gesichtsschemas gesehen. Analoge Überlegungen kann man im auditiven Bereich anstellen. Erklingen Töne gleichzeitig, bilden sie genauso eine gestalthafte Einheit wie dann, wenn sie zu Tonsequenzen verbunden werden. (h) Schemagewinnung und -entwicklung qua Induktion und Abduktion. Ein Schema – genauer: dessen Standardwerte und die Relationen zwischen denselben (Strukturmuster) – ergibt sich abduktiv und induktiv aus der Schnittmenge ähnlicher Einzelerfahrungen (vgl. Langacker 1999b, S. 93). Dass Schemata relativ zu Erfahrungen entstehen und sich auf der Basis neuer Erfahrungen entwickeln (Case 1985; auch: Mandler 2005), entspricht der „Sensitivität des kognitiven Systems für Regelhaftigkeiten innerhalb der erfahrenen Umwelt“ (Schnotz 1994, S. 89). Umgekehrt vollzieht sich das Abrufen von Informationen aus einem Schema als deduktiver Prozess. Denn nur Standardwerte lassen sich abrufen, und diese sind im Vergleich zu Daten des perzeptuellen Inputs generischer Natur. Anders als dies Thorndyke und Yekovich (und andere wie Christmann) nahe legen, besteht die grundlegende Annahme von Schematheorien m.E. darin, dass Schemata als kognitive Repräsentationsformate strukturell einheitlich bestimmt sind. Vier Elemente reichen insgesamt aus, um die repräsentationalen Eigenschaften von Schemata zu beschreiben: (i) Leerstellen, (ii) konkrete 39 40
Das Prinzip der rekursiven Einbettung gilt übrigens auch für Gestalten, vgl. hierzu Liebert 1992, S. 20. Vgl. Kintsch 1977. Zwischen graphemischer Erkennung und Kontextwahrnehmung nimmt Kintsch sechs weitere Ebenen an.
272
V. Frames als Schemata
Füllwerte, (iii) Standardwerte und (iv) Relationen, die die drei Strukturkonstituenten von Schemata zueinander in Beziehung setzen. Auf diese Elemente lassen sich alle fünf Annahmen zurückführen, die Thorndyke und Yekovich als konstitutiv für Schemata bewerten. So betreffen Prozesse der konzeptuellen Abstraktion („concept abstraction“) ebenso wie der Induktion („induction“) den Übergang von Füllwerten zu Standardwerten, während Instantiierung („instantiation“) der Kategorisierung von Füllwerten oder Standardwerten in Leerstellen eines Schemas entspricht. Der Annahme folgend, dass jeder Wert zugleich ein Schema für andere Werte eines niedrigeren Abstraktionsgrades darstellt, ist die hierarchische Organisation („hierarchical organization“) von Schemata ihrerseits ein Produkt rekurrenter Instantiierungen. Schließlich bauen Schemata nur deswegen Erwartungen auf („prediction“), weil aktivierte Standardwerte dazu Anlass geben. Den Strukturkonstituenten Leerstelle, konkreter Füllwert und Standardwert muss also in einer Frame-Semantik besondere Aufmerksamkeit zuteil werden. Bevor ich darauf im Detail eingehe, sei zunächst aufgezeigt, inwiefern sich die Charakteristika (a) – (h) auch für Frames nachweisen lassen. Dazu soll eine lexikalisch-semantische Beispielanalyse dienen.
3. Frames als Schemata: eine Beispielanalyse Wenn ich im Folgenden die Bedeutung des Wortes Scheidung innerhalb verschiedener Kontexte frame-semantisch analysiere, geht es mir im Kern um die Frage, inwiefern der Frame, den der Ausdruck Scheidung aufruft, eine schematische Struktur aufweist. Meiner Annahme zufolge, dass sich Eigenschaften von Schemata (in ihrer Funktion als Basiseinheiten der menschlichen Kognition) auf Frames vererben, müssten die Eigenschaften von Frames und Schemata sehr ähnlich, wenn nicht identisch sein. Ich gehe zunächst so vor, wie es sich schon in Abschnitt IV.3.2 als sinnvoll erwiesen hat, und beginne mit der Hyperonymtypenreduktion, um die Leerstellen des Frames zu bestimmen. Scheidung lässt sich auf das höchste Hyperonym Ereignis zurückführen. Demnach entsprechen die Leerstellen des Scheidungs-Frames dem übergeordneten Matrixframe „Ereignis“.41 Aus den über 40 im Matrixframe enthaltenen Leerstellen greife ich einige heraus. Sie sind in Tab. 1 zusammengefasst.
41
Vgl. Konerding 1993, S. 335-340. Auch an dieser Stelle sei noch einmal darauf hingewiesen, dass die Methode der Hyperonymtypenreduktion in Kap. VI.3.2 genauer vorgestellt wird.
3. Frames als Schemata: eine Beispielanalyse
# (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8) (9) (10) (11) (12)
273
Leerstellen des Matrixframes Was hat das Ereignis der Scheidung zur Voraussetzung? Welche Charakteristika kennzeichnen den Ablauf des Ereignisses der Scheidung? Worauf geht das Ereignis der Scheidung zurück? Wovon ist es Bestandteil? Welche wesentlichen Phasen bzw. Teilereignisse weist das Ereignis der Scheidung auf? In welchem übergeordneten funktionalen Zusammenhang figuriert das Ereignis? Welche wesentlichen MitspielerInnen/InteraktionspartnerInnen agieren in dem Ereignis? Wie sind diese charakterisiert? Durch welche relevanten Eigenschaften sind die jeweiligen MitspielerInnnen und ihre Rollen charakterisiert? Welches Ereignis etc. folgt dem Ereignis der Scheidung? Was macht das Ereignis möglich? Was zieht das Ereignis nach sich? Tab. 1: Eine Auswahl der Leerstellen des Frames, den Scheidung aufruft
Gegeben seien ferner zwei alternative Szenarien, die den Kontext markieren, in dem das Wort Scheidung gebraucht wird. Szenario 1: Hannelore berichtet ihrer Freundin von ihrer unglücklichen Ehe. Sie erzählt, dass sich herausgestellt habe, dass ihr Mann seit nunmehr zwei Jahren fremdgehe. Dies habe sie dazu veranlasst, Konsequenzen zu ziehen und endlich die Scheidung einzureichen. In der nächsten Woche habe sie bereits einen Termin bei einem Rechtsanwalt. Szenario 2: Hannelore und Klaus streiten vor Gericht um das Sorgerecht für ihre Kinder. Der Richter möchte sich ein Bild davon machen, wer sich bislang in welcher Form um die Kinder gekümmert hat. Ihn interessiert in diesem Zusammenhang auch, wie es zu der Trennung gekommen ist. Klaus führt aus, dass er Fehler gemacht habe, diese aber bereue und sich nicht von seiner Frau trennen wollte. Hannelore entgegnet, dass sie die Scheidung eingereicht habe. Der frame-semantische Ausgangspunkt der Bedeutungsanalyse lautet auch hier: Während die Leerstellen des Frames anzeigen, durch welche Prädikationstypen sich sinnvollerweise der Ausdruck Scheidung kontextualisieren lässt, spezifizieren gegebene Daten den Frame. Dazu gehören der sprachliche Kontext (gegeben in Szenario 1 bzw. 2) sowie außersprachliche Wahrnehmungs-
274
V. Frames als Schemata
daten, von denen hier keine vorliegen. Hinzu kommen inferierte Standardangaben, die mit dem aufgerufenen Frame bereits assoziiert sind und nicht durch Kontextdaten ersetzt werden. Dass Frames und Schemata die wichtigste strukturelle Eigenschaft miteinander teilen, Wissen im selben Format (bestehend aus den Strukturkonstituenten Leerstelle, konkreter Füllwert, Standardwert) zu repräsentieren, hatte ich bereits andernorts erläutert. Zur Illustration der erläuterten Charakteristika von Schemata (b) – (h) greife ich nun aus Tab. 1 einige konkrete Füllwerte und Standardwerte heraus, die sich aus den beiden Szenarien ergeben, und weise diese den entsprechenden Leerstellen zu. Um die Frames der beiden Szenarien besser miteinander vergleichen zu können, habe ich jeweils dieselben Leerstellen ausgewählt. Szenario 1: x Konkreter Füllwert zu (3): Die Entscheidung, sich scheiden zu lassen, hat Hannelore gefällt, und ausschlaggebend dafür war, dass sie eine unglückliche Ehe führt und ihr Mann fremdgeht. x Konkreter Füllwert zu (6): Hannelores Gespräch mit einer Freundin bildet den übergeordneten Zusammenhang, in dem die Scheidung Hannelores thematisiert wird. x Konkreter Füllwert zu (7): Mindestens vier Personen sind an dem Ereignis „Scheidung“ beteiligt: Hannelores Anwalt, Hannelore, ihr Mann sowie diejenige Frau oder derjenige Mann, mit der/dem ihr Mann fremdgeht.42 x Standardwert zu (1): Dass sich Hannelore und ihr Mann scheiden lassen, setzt voraus, dass sie miteinander verheiratet sind, sei es standesamtlich oder sowohl kirchlich als auch standesamtlich. Beide müssen zum Zeitpunkt der Scheidung seit mindestens einem Jahr getrennte Haushalte führen. x Standardwert zu (4): Eine Scheidung ist Bestandteil einer institutionellen, gesellschaftlich geregelten Praxis. Sie muss von den Eheleuten, meist vermittelt über einen Rechtsanwalt, eingereicht werden. Die Aufhebung der Ehe erfolgt vor einem Gericht. Das Gericht entscheidet dann ggf. auch über andere Fragen (Unterhaltszahlungen etc.).43 x Standardwert zu (12): Durch die (eingereichte) Scheidung verändert sich die Lebenssituation grundlegend. Die Scheidung zieht neben formalen 42
43
Dass möglicherweise weiterhin ein Scheidungsrichter, ein Anwalt von Hannelores Mann, Kinder, die das Paar evtl. zusammen haben, sowie ggf. weitere Frauen und/oder Männer, mit denen Hannelores Mann fremdgegangen sein könnte, beteiligt sind, geht nicht aus dem Szenario 1 vor. Deshalb handelt es sich hierbei nicht um konkrete Füllwerte, sondern allenfalls um Standardwerte. Im Falle einer kirchlich geschlossenen Ehe wäre zu ergänzen, dass die Scheidung der Ehe (in der Regel) gar nicht möglich ist. In Ausnahmefällen mag die geschlossene Ehe allenfalls für ungültig erklärt, d.h. annulliert werden.
3. Frames als Schemata: eine Beispielanalyse
275
und ggf. gerichtlichen Auseinandersetzungen (etwa hinsichtlich Unterhaltszahlungen, Vermögensregelungen, ggf. hinsichtlich der Festlegung des Sorgerechts für Kinder) ebenso eine psychisch-emotionale Belastung nach sich. Szenario 2: x Konkreter Füllwert (3): Die Entscheidung, sich scheiden zu lassen, hat Hannelore gefällt, und ausschlaggebend dafür waren Fehler von Klaus. (Worin diese Fehler bestehen, wäre ein Standardwert zu (3).) x Konkreter Füllwert zu (6): Eine gerichtliche Auseinandersetzung um das Sorgerecht für die Kinder des Paares bildet den übergeordneten Zusammenhang, in dem die Scheidung thematisch wird. x Konkreter Füllwert zu (7): Der Scheidungsrichter, die Eheleute Hannelore und Klaus sowie ihre Kinder sind an dem Ereignis „Scheidung“ beteiligt. (Anwälte sind in Szenario 2 nicht erwähnt.) x Standardwert zu (1): Dass sich Hannelore und Klaus scheiden lassen, setzt voraus, dass sie miteinander verheiratet sind, sei es standesamtlich oder sowohl kirchlich als auch standesamtlich. Beide müssen zum Zeitpunkt der Scheidung seit mindestens einem Jahr getrennte Haushalte führen. x Standardwert zu (4): Eine Scheidung ist Bestandteil einer institutionellen, gesellschaftlich geregelten Praxis. Sie muss von den Eheleuten, meist vermittelt über einen Rechtsanwalt, eingereicht werden. Die Aufhebung der Ehe erfolgt dann vor einem Gericht. x Standardwert zu (12): Durch die (eingereichte) Scheidung verändert sich die Lebenssituation grundlegend. Die Scheidung zieht nach sich, dass Hannelore und Klaus u.a. regeln müssen, wer das Sorgerecht für die Kinder bekommt und wie hoch die Unterhaltszahlungen sein werden. Während in beiden Szenarien dieselben Leerstellen des Scheidungs-Frames mit unterschiedlichen Füllwerten besetzt sind, weichen die Standardwerte kaum voneinander ab. Dass sie sich überhaupt unterscheiden, liegt daran, dass Füllwerte Einfluss auf den Konkretheitsgrad eines Standardwertes nehmen können. Wegen des übergeordneten Zusammenhangs, also des Füllwertes (6), fällt beispielsweise im zweiten Szenario der Standardwert zu (12) konkreter aus als im ersten. In welcher Form treten nun die Charakteristika (b) – (h) in den beiden Frames auf? Zur Illustration sind einige exemplarische Detailanalysen nötig. Ad (b): Strukturmuster. Wie sehr das Strukturmuster eines Frames den Verstehensprozess lenkt, zeigt sich im ersten Szenario am Beispiel des Standardwertes (4). Hier markiert die Scheidung das Ergebnis eines komplexen, institutionell geregelten Prozesses. Es ist Hannelores Ziel, sich von ihrem Mann scheiden zu lassen, und zur Erreichung dieses Ziels müssen zahlreiche Teil-
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V. Frames als Schemata
handlungen ausgeführt werden. Weil die Zielsetzung dabei die Abfolge der nötigen Teilhandlungen bestimmt, handelt es sich um ein „dynamisches Strukturmuster mit Zielorientierung“.44 Man könnte das Strukturmuster präziser einen „Plan“ nennen, da das Ziel von einem handelnden Individuum intentional gesetzt ist (vgl. Schank/Abelson 1977). Ist dieses Muster im ersten Szenario aktiviert, gelingt es, die Information, dass Hannelore einen Termin mit ihrem Rechtsanwalt hat, kohärent zu interpretieren, nämlich als eine notwendige Teilhandlung zur Erreichung des Ziels. Technisch ausgedrückt: Einen Rechtsanwalt zu treffen entspricht einem konkreten Füllwert in der Leerstelle des aktivierten Strukturmusters. Ein ‚Strukturmuster ohne Zielorientierung‘ – Schank und Abelson (1977) sprechen diesbezüglich von einem „Skript“ – findet sich im zweiten Szenario. So sorgt der übergeordnete Zusammenhang der gerichtlichen Auseinandersetzung um das Sorgerecht dafür, dass im Standardwert (12) insbesondere die Folgen der Scheidung thematisch werden, und zwar derart, dass festgelegt wird, wer die Kinder zu welchem Zeitpunkt wie lange besuchen darf. Eine solche Festlegung hat den Charakter eines Skriptes, das gerichtlich kodifiziert und damit für die geschiedenen Eheleute verbindlich wird. In semantischer Hinsicht stiftet dieses Strukturmuster Kohärenz zwischen dem übergeordneten Zusammenhang, also dem konkreten Füllwert (6), und dem aufgerufenen Scheidungs-Frame. Ein ‚statisches‘ Strukturmuster bündelt in beiden Szenarien verstehensrelevantes Wissen, das nicht Handlungsaspekte, sondern Wissensvoraussetzungen anderer Art innerhalb des Scheidungs-Frames betrifft.45 Jeder konkrete Füllwert und jeder Standardwert enthält mindestens eine Angabe dieses Typs. Dem Scheidungs-Frame im ersten Szenario gehören Informationen an, die sich auf so unterschiedliche Aspekte wie Gründe für eine Scheidung (konkreter Füllwert (3)), beteiligte Personen (konkreter Füllwert (7)), Informationen zu formalen Voraussetzungen einer Scheidung (Standardwert (1)) und Wissen über institutionelle und soziale Praktiken ihrer Durchführung (Standardwerte (4) und (12)) beziehen. Ad (c): Gestalthaftigkeit. Zu erkennen, in welchem Maße die ScheidungsFrames in beiden Szenarien divergieren, ist ein Ergebnis sprachanalytischer Betrachtungen. Ohne diese verfügen wir weder über einzelne Füllwerte noch über einzelne Standardwerte, sondern nur über eine bestimmte Bedeutung des Ausdrucks Scheidung in einem spezifischen Kontext. Wir haben zwar ein implizites Wissen davon, was das Wort Scheidung bedeutet; wir hätten aber Schwierigkeiten, den Bedeutungsunterschied des Ausdrucks in den beiden 44 45
Vgl. Abb. 3, Typ (ii). Im Anschluss an Fillmore könnte man bei ‚statischen Strukturmustern‘ von „Szenen“ sprechen, um den dynamisch-kognitiven Status der Strukturkonstituenten zu betonen.
3. Frames als Schemata: eine Beispielanalyse
277
Szenarien festzumachen und die jeweils relevanten Bedeutungsaspekte anzugeben.46 Denn phänomenal treten sprachliche Bedeutungen zunächst gestalthaft, d.h. als unanalysierte Ganzheiten auf (vgl. auch Lakoff 1977).47 Das gilt im gleichen Maße für die eben analysierten Strukturmuster, die Informationen innerhalb eines Frames organisieren. Nicht einzelne Elemente von Hannelores ‚Plan‘, sich scheiden zu lassen, erkennen wir im ersten Szenario, sondern nur die Strukturganzheit, die sich aufgrund der Zielfestlegung herausgebildet hat. Ad (d): Dynamizität. Vergleicht man die Scheidungs-Frames der beiden Szenarien miteinander, fällt auf, dass nicht nur die konkreten Füllwerte voneinander abweichen. Abhängig vom übergeordneten thematisch-situativen Sachzusammenhang variieren ebenfalls die in den Leerstellen instantiierten Standardwerte. Für das zweite Szenario ist es beispielsweise wesentlich, dass neben Hannelore und Klaus ebenso deren Kinder von der Scheidung betroffen sind (konkreter Füllwert (7)), und deswegen bedarf es der Klärung, welcher Elternteil das Sorgerecht bekommt (Standardwert (12)). Abweichende Wortbedeutungen ergeben sich somit aus der Instantiierung unterschiedlicher Werte in den Leerstellen des Scheidungs-Frames. In solchen variierenden Besetzungen von Leerstellen zeigt sich die Dynamik eines Frames. Ad (e): Erwartungsstrukturen. Inwiefern entsprechen die Standardwerte eines Frames Erwartungsstrukturen? Ersetzen wir hierzu den letzten Satz im ersten Szenario durch zwei Alternativen. Drei Varianten liegen dann vor: Szenario 1: … Dies habe sie dazu veranlasst, Konsequenzen zu ziehen und endlich die Scheidung einzureichen. In der nächsten Woche habe sie bereits einen Termin bei einem Rechtsanwalt. Szenario 1’: …Dies habe sie dazu veranlasst, Konsequenzen zu ziehen und endlich die Scheidung einzureichen. Doch sie erfuhr, dass sie von ihrem Mann noch kein Jahr getrennt lebe. Szenario 1’’: … Dies habe sie dazu veranlasst, Konsequenzen zu ziehen und endlich die Scheidung einzureichen. Geld müsse er ihr ja genug zahlen. Warum bereitet es uns kein Problem, alle drei Varianten als kohärente Textbausteine zu interpretieren, obwohl zunächst völlig unklar zu sein scheint, 46 47
Wie vorhin dargelegt, geht dieser Unterschied insbesondere auf den konkreten Füllwert (6) sowie die Standardwerte (4) und (12) zurück. Bartletts Befund, dass Versuchspersonen bei der Wiedergabe einer Geschichte dazu neigen, Textdaten an bekannte Daten anzugleichen, erklärt sich ebenfalls durch die Gestalthaftigkeit von Repräsentationen. Im Prozess der ‚Standardisierung‘ verschwimmt die Grenze zwischen Füllwerten und Standardwerten.
278
V. Frames als Schemata
was der aufgerufene Scheidungs-Frame mit einem Rechtsanwalt (Szenario 1), mit getrennt leben (Szenario 1’) oder Geld zahlen (Szenario 1’’) zu tun hat? Die Antwort lautet: Der Informationsgehalt des jeweils letzten Satzes korrespondiert mit Standardwerten im Scheidungs-Frame. Weil die Standardwerte (1) und (12) im Scheidungs-Frame bereits angelegt sind, vollzieht sich die erforderliche konzeptuelle Integration in den Scheidungs-Frame gleichsam automatisch. Ad (f): Rekursive Einbettungen qua Instantiierung. Um den letzten Satz der Szenarien 1, 1’ und 1’’ zu verstehen, reicht es allerdings nicht aus, ihn allein als Instanz einer Leerstelle des Scheidungs-Frames zu interpretieren. Nehmen wir Szenario 1: Nicht die Tatsache, dass ein Rechtsanwalt als weitere beteiligte Person auftritt (dass diese Annahme also eine Instanz in Leerstelle (7) bildet), macht verständlich, warum Hannelore einen Termin bei einem Rechtsanwalt ausgemacht hat. Erkennbar wird der Zusammenhang vielmehr erst dann, wenn daneben Wissen über das Tätigkeitsfeld eines Rechtsanwaltes, über seine beruflichen Befugnisse und seine institutionelle Funktion eingebracht wird. Der Ausdruck Rechtsanwalt ruft also selbst einen Frame auf, der entsprechende Informationen enthält. Nicht alle Informationen dieses Frames erweisen sich zwar als verstehensrelevant, einige sind jedoch maßgeblich am Prozess der Kohärenzetablierung beteiligt. Scheidungs-Frame
Rechtsanwalts-Frame
sx
•s
•
•s
y
1
•s •f
•
s6
x
x
•s •s
6‘ sx‘
1‘
•f
x‘
Wissen über die Rolle und Funktion eines Rechtsanwaltes bei einer Scheidung
Abb. 4: Möglicher Zusammenhang zwischen einem Scheidungs- und Rechtsanwalts-Frame; s = Standardwert, f = konkreter Füllwert48 48
Die hier gewählte Darstellungsweise entspricht der üblichen Veranschaulichung von Prozessen der konzeptuellen Integration (vgl. z.B. Fauconnier/Turner 2002). Für Frames gibt es bislang
3. Frames als Schemata: eine Beispielanalyse
279
Abb. 4 veranschaulicht dies. Im Rechtsanwalts-Frame ist etwa Standardwert sy nicht verstehensrelevant.49 sy könnte etwa für Wissensaspekte stehen, die äußere Eigenschaften einer Person wie Haarfarbe, Schuhgröße und Körpergröße betreffen.50 Sehr wohl relevant sind dagegen der Standardwert sx sowie der Füllwert fx. Im dargestellten Fall ist der Standardwert sx des Rechtsanwalts-Frames deswegen identisch mit Standardwert s6 des Scheidungs-Frames, weil beide Frames im selben übergeordneten Zusammenhang aufgerufen werden, nämlich innerhalb des Gesprächs, das Hannelore mit ihrer Freundin über ihre Ehe führt. Der Füllwert fx ist dagegen im Scheidungs-Frame nicht enthalten. Füllwert fx könnte für die (in Szenario 1 implizierte) Information stehen, dass man mit Rechtsanwälten in der Regel Termine vereinbart, um sie zu konsultieren.51 Analog dazu gibt es im Scheidungs-Frame Standardwerte, die verstehensrelevant sind, im Rechtsanwalts-Frame aber nicht auftreten. Hierzu zählt s1, nämlich die Voraussetzung, dass Hannelore und Klaus miteinander verheiratet sind und schon seit mindestens einem Jahr getrennte Haushalte führen.52 Aus dieser Mikroanalyse leitet sich ein genereller Befund ab: Sowohl Füllwerte als auch Standardwerte können selbst Frames aufrufen, die wiederum Standardwerte (und ggf. Füllwerte) enthalten. Frames sind folglich rekursiv in Frames eingebettet. Ad (g): Hierarchische Organisation. Ineinander eingebettete Frames unterscheiden sich hinsichtlich des Abstraktionsgrades voneinander. In dem Maße, wie Frames an Abstraktheit gewinnen, verlieren sie an epistemischer Spezifikation. Schauen wir uns hierzu drei Abstraktionsebenen an. Das obere Ende einer Skala markieren Matrixframes (im Sinne von Konerding 1993, vgl. dazu
49
50 51 52
keine alternative Darstellungsweise. „Mental spaces“, von denen Fauconnier und Turner sprechen, stellen jedoch m.E. ebenso schematisch-semantische Wissenseinheiten dar und lassen sich frame-theoretisch entsprechend rekonstruieren (vgl. Sweetser 1999). Um die Leerstellen des Rechtsanwalts-Frames zu ermitteln, müsste abermals eine Hyperonymtypenreduktion durchgeführt werden. Diese würde zum höchsten Hyperonym Person führen. Konerding (1993, S. 185 und 322-326) differenziert dabei genauer zwischen zwei PersonenMatrixframes, nämlich „Person mit temporärer oder dauerhafter Eigenschaft/Disposition bzw. in besonderem Zustand“ und „Person in berufsbezogener Rolle“. Die Leerstellen des zweiten Matrixframes müssten allerdings um die Leerstellen des ersten ergänzt werden, um alle möglichen Wissensspezifikationen abzudecken. Im Matrixframe „Person mit temporärer oder dauerhafter Eigenschaft“ besetzen derartige Informationen die Leerstelle: „Auf welche Art und Weise tritt die Eigenschaft bei der Person auf?“ (Konerding 1993, S. 322). Eine Information übrigens, die im Matrixframe „Person“ folgende Leerstelle besetzt: Welche (etwa organisatorischen) Hilfsmittel benötigt die Person bei der Ausübung ihres Berufes? Vgl. Konerding 1993, S. 325. Fauconnier und Turner (1998a) nehmen in ihrer überarbeiteten Theorie zudem einen generischen „mental space“ an, der gemeinsame Elemente der einzelnen Inputs – hier: des Scheidungsund Rechtsanwalts-Frames – enthält. Dieser generische „mental space“ kann im vorliegenden Fall vernachlässigt werden.
280
V. Frames als Schemata
Abschnitt VI.3.1). So lässt sich der Matrixframe „Ereignis“ nicht mehr sinnvoll auf ein anderes Hyperonym zurückführen. Zugleich sind Matrixframes semantisch so stark unterspezifiziert, dass für einen sprachlichen Ausdruck wie Ereignis kaum Werte gefunden werden können, die die Leerstellen des mit ihm assoziierten Frames besetzen, ohne die Wortbedeutung überzudeterminieren. Anders steht es um einen Frame mittleren Abstraktionsgrades. Standardwerte lassen sich hier relativ problemlos bestimmen, und nur wenige reichen aus, um einen Frame eindeutig zu identifizieren. Man vergleiche etwa in Tab. 2 die Standardwerte (3) und (12) des Scheidungs- und Unfall-Frames miteinander. Im Gegensatz zum gemeinsamen Hyperonym Ereignis handelt es sich bei den Wörtern Scheidung und Unfall um so genannte „basic level categories“ (Rosch 1976), die als kognitiv besonders saliente Kategorien gelten, da sie auf einem mittleren Abstraktionsniveau angesiedelt sind und im Sprachgebrauch häufiger auftreten (vgl. Abschnitt VI.5.1).53 # (3)
(12)
Leerstellen des Matrixframes „Ereignis“ Worauf geht das Ereignis zurück? Was zieht das Ereignis nach sich?
Standardwerte für Scheidung
Standardwerte für Unfall
Auf die Entscheidung mindestens einer der beteiligten Personen, die schlechte Erfahrungen gemacht hat. Formale und gerichtliche Auseinandersetzungen (etwa hinsichtlich Unterhaltszahlungen, Vermögensregelungen, ggf. hinsichtlich der Festlegung des Sorgerechts für Kinder) und eine psychisch-emotionale Belastung.
Auf menschliches oder technisches Versagen. Einen Schaden, der unterschiedlicher Art sein kann (Sachschaden, Verletzung, Tod einer beteiligten Person).
Tab. 2: Vergleich zweier Standardwerte im Scheidungs- und Unfall-Frame
Bestimmen über aktivierte Standardwerte hinaus konkrete Füllwerte einen aufgerufenen Frame näher, hat dies eine Herabsetzung des Abstraktionsgrades zur Folge. Dies zeigt sich schon bei Komposita wie Sportunfall und Verkehrsunfall: Die Morpheme Sport und Verkehr stellen hier Füllwerte dar, die den Unfall-Frame spezifizieren, und zwar derart, dass sie den übergeordneten Zusammenhang, in dem der Unfall stattfindet, konkretisieren. Sie besetzen die Leerstelle (6) im Matrixframe „Ereignis“. Diese Komposita stellen keine „basic level categories“ dar. Sie befinden sich auf einer niedrigeren Abstraktionsebene. 53
Im Sinne der Prototypentheorie weisen sie also eine höhere „cue validity“ auf.
3. Frames als Schemata: eine Beispielanalyse
281
Ad (h): Gewinnung und Entwicklung von Frames qua Induktion und Abduktion. Damit wären wir beim letzten Charakteristikum angelangt: Lernen und verändern Sprachbenutzer und Sprachbenutzerinnen Frames über abduktive und induktive Lernprozesse, also ausgehend von konkreten Sprachdaten? Oder konstituieren sich Frames sprachunabhängig oder gar sprachvorgängig? Anders gefragt: Wie formieren sich Schemata auf der Basis des sprachlichen Inputs? Langacker verweist in diesem Zusammenhang auf unsere fundamentale, nicht sprachspezifische Fähigkeit zu abstrahieren: […] [A]bstraction is the emergence of a structure through reinforcement of the commonality inherent in multiple experiences. By its very nature, this abstractive process “filters out” those facets of the individual experiences which do not recur. […] A schema is the commonality that emerges from distinct structures when one abstracts away from their points of difference by portraying them with lesser precision and specificity. (Langacker 1999b, S. 93)
Aufschluss darüber, welche Wissensaspekte im Zuge rekurrenter Erfahrungen allmählich ‚ausgefiltert‘ werden, ist nur auf der Basis korpusbasierter Langzeitstudien zu erwarten. Im Zusammenhang mit sehr abstrakten, recht veränderungsresistenten „Bildschemata“ („image schemas“) hat sich zudem herausgestellt, dass allein ein interdisziplinärer Zugang eine umfassende Sicht auf den angesprochenen Problemkomplex ermöglicht.54 An dieser Stelle vielleicht nur so viel: Aus der Spracherwerbsforschung (Behrens 2006; Lieven u.a. 2003), der Morphologie (Bybee and Slobin 1982; Bybee 1985), Semantik (Langacker 1988c; Tuggy 1993) und Phonologie (Bybee 2001; Taylor 2002, S. 143-160) liegt Evidenz für die ungeheure Produktivität abduktiven und induktiven Lernens auf der Basis von Schemata vor. Es liegt außerdem nahe, dass „Bildschemata“ (vgl. Dodge/Lakoff 2005, S. 60-72) wie beispielsweise das Schema einer Teil-Ganzes-Relation oder einer Strecke („source-path-goal“) Relationen zwischen Frame-Elementen motivieren und so zur Emergenz relativ stabiler Strukturmuster beitragen (Watters 1996; Ziem im Druck). Auch die konzeptuelle Verschmelzung des Scheidungs- und Rechtsanwalts-Frames, illustriert in Abb. 4, basiert maßgeblich auf Teil-Ganzes-Beziehungen. Das Bildschema Weg liefert gewissermaßen den Bauplan für dynamische Strukturmuster. Vor dem Hintergrund der durchgeführten Beispielanalyse sehe ich es als erwiesen an, dass sich die für Schemata konstitutiven Charakteristika (a) bis (h) auf Frames vererben. Frames sind somit spezifisch semantische Schemata, die das zum Verstehen eines sprachlichen Ausdrucks relevante Wissen organisieren und strukturieren. Mit Seana Coulson können wir festhalten: Frames are representations with slot/filler structure, default values, weak constraints on the type of fillers for a given slot, and a hierarchical organization that allows recur54
Insbesondere Disziplinen wie Philosophie, Anthropologie, Neurowissenschaften, Psychologie und Künstliche Intelligenz-Forschung sind hier angesprochen, vgl. den repräsentativen Überblick in Hampe 2005.
282
V. Frames als Schemata sive embedding of frames within frames […]. Frames, as representational structures, can be used to represent knowledge about a wide variety of objects, actions, and events. […] [T]emporal frames, or scripts, represent sequences that extend in time […]. (Coulson 2001, S. 35)
Im nächsten Kapitel verfolge ich den Gedanken weiter, dass die drei Strukturkonstituenten von Frames eine herausragende Rolle spielen.
VI. Strukturkonstituenten von Frames Wenngleich die Termini „Leerstelle“ („slot“), „konkreter Füllwert („filler“) und „Standardwert“ („default value“) als Bezeichnungen für die Strukturkonstituenten schematischer Wissensrepräsentationen geläufig sind, bleibt in vielen kognitionswissenschaftlichen Studien unklar, welcher Status den so bezeichneten Entitäten zukommt, wie diese beschaffen sind und welche Methode einen empirischen Zugriff erlaubt. Was für gedächtnispsychologische Studien gilt, trifft auf die linguistische Frame-Theorie nicht weniger zu, nämlich daß im Rahmen des kognitiven Paradigmas unter Bezug auf das Wissen und die kognitiven Zustände von Personen von „konzeptuellen Strukturen“ gesprochen wird, daß aber die Natur und Beschaffenheit dieser Strukturen und der mit diesen Strukturen auftretenden Konzepte so gut wie ungeklärt ist. (Konerding 1993, S. 105)
Genauer: In welcher (sprachlichen, kognitiven, epistemischen) Gestalt treten Leerstellen, Füllwerte und Standardwerte in Frames auf? Und wie lassen sich diese sowohl funktionell als auch strukturell an sprachliches Material zurückbinden? Auch in dieser Arbeit wurden bislang die Strukturkonstituenten von Frames nicht hinreichend reflektiert; zu Veranschaulichungszwecken kamen sie stattdessen vorwiegend heuristisch zum Einsatz. Die nachfolgende Beantwortung der angesprochenen Fragen dient der theoretisch-linguistischen Fundierung von Frames. Da diese nicht ohne Rekurs auf sprachstrukturelle Analysen zu leisten ist, unterbreiten die nächsten Abschnitte zugleich einen Vorschlag, wie sich Frames als semantisches Analyseinstrument einsetzen lassen.
1. Der Problemzusammenhang In kaum einer frame-semantischen Studie fehlt der Verweis auf den dynamischen Charakter von Frames, der auf rekursive Instantiierungen, also SchemaInstanzbeziehungen zurückgehe. Umso erstaunlicher ist es, dass insbesondere in der angloamerikanischen Literatur in der Regel keine Rechenschaft darüber abgelegt wird, welche sprachlichen Elemente aus welchen Gründen Schemata oder Instanzen bilden. Man vergleiche hierzu beispielsweise Fillmores frühe Ausführungen:
284
VI. Strukturkonstituenten von Frames A frame is a kind of outline figure with not necessarily all of the details filled in. […] Comprehension can be thought of as an active process during which the comprehender – to the degree that it interests him – seeks to fill in the details of the frames that have been introduced, either by looking for the needed information in the rest of the text, by filling it in from his awareness of the current situation, or from his own system of beliefs, or by asking his interlocutor to say more. (Fillmore 1976b, S. 29)
Mit anderen Worten: Ist ein Frame einmal aktiviert (d.h. aufgerufen oder abgerufen), leistet der Sprachbenutzer oder die Sprachbenutzerin die semantische Konstruktionsarbeit selbst, indem er oder sie die Leerstellen eines Frames mit „Details“ füllt. Diese stammen Fillmore zufolge entweder aus den sprachlich gegebenen Daten („information in the rest of the text“), aus paraoder non-verbalen Informationsquellen („the current situation“), aus dem allgemeinen Weltwissen („system of beliefs“), oder – im Fall der mündlichen Kommunikation – von den Gesprächspartnern und -partnerinnen, die Auskunft über weitere „Details“ geben. Was aber sind „Details“?1 Diese Frage dürfte nicht ganz uninteressant sein, denn es handelt sich bei inferiertem Weltwissen und durch die aktuelle Wahrnehmung gestütztes Wissen immerhin um ganz verschiedene Arten von Informationsquellen, die sich wiederum in vielfacher Hinsicht vom Wissen um die bereits konstituierte Textwelt unterscheiden.2 Auch wenn sich, konstruktionsgrammatischen Überlegungen zur Natur sprachlicher Zeichen folgend, jede Zeichenkonstitution inferentiell vollzieht, bleibt doch die bereits konstituierte Textwelt prinzipiell in eine bestimmte Menge von Propositionen überführbar. Die Anzahl unterstellter Annahmen kann dabei potentiell unendlich groß sein und sich zudem der Kontrolle des Zeichenproduzenten oder der Zeichenproduzentin entziehen. In Fillmores wenig differenzierter Unterscheidung verstehensrelevanter Wissenstypen deutet sich die Unterscheidung zwischen Füllwerten und Standardwerten an. Um einen Text zu verstehen, erläutert Fillmore in einem späteren Aufsatz, sei es nötig to know what frames are active in the text world at this point and what values have been assigned to their slots, and to know what functions the just-introduced frame can accomplish in this setting. (Fillmore 1985, S. 234)
1
2
Dieselbe Frage stellt sich in einem Aufsatz Fillmores, der 1977 erschien: „The first part of the text activates an image or scene of some situation in the mind of the interpreter; later parts of the text fill in more and more information about that situation. […] As one continues with the text, the details of this world [which has been created by the interpreter, AZ] get filled in, expectations get set up which are later fulfilled or thwarted or left hanging […].“ (Fillmore 1977a, S. 61; Hervorhebung von mir, AZ) Wörter alleine, wie Fillmore (1977a, S. 72) einige Seiten weiter konstatiert, können es jedenfalls nicht sein. Oder wie sollten die Wörter blond, Brille, Handball, Schule einen Personen-Frame spezifizieren? Bei der Bezeichnung der Wissenstypen orientiere ich mich an Busse 1991a, S. 149f. Vergleiche hierzu die ausführliche Darstellung in Abschnitt III.3.1.
1. Der Problemzusammenhang
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Offensichtlich ist hier mit „Werten“ nicht erschlossenes Hintergrundwissen gemeint. Implizit findet sich dieses an einer anderen Stelle thematisiert. So bemerkt Fillmore, dass Frames die inferentielle Erschließung von verstehensrelevantem Wissen motivieren: „the envisionments get filled out and coloured in by inferences that we draw from our knowledge” (Fillmore 1984, S. 140). Die Unterscheidung zwischen textuell zugewiesenen („assigned”) und inferierten Werten bleibt jedenfalls vage, und sie wird an keiner Stelle eigens reflektiert. Werden Leerstellen durch inferiertes Wissen geschlossen, fragt sich, woher Sprachbenutzer und Sprachbenutzerinnen – und auch Sprachanalytiker wie Fillmore – überhaupt „wissen“, welche Leerstellen ein Frame hat. Ganz am Rande, in einer Fußnote, führt Fillmore anhand eines Beispieles aus: In my view, such words as skip, hop, leap, etc., reflect separate frames, each representing its own schema of pedal locomotion. There is no context-free frame within which these terms occupy different “slots”, though such a frame could easily exist if there arose, for sports purposes, say, a need for stipulating precise distinctions among them. (Fillmore 1985, S. 229)
Angenommen, analog zu den genannten englischen Ausdrücken rufen deutsche Verben wie hüpfen, hoppeln und springen ebenso verschiedene Frames auf, und angenommen, im Rahmen eines bestimmten Kontextes erweisen sich Bedeutungsunterschiede, die sich aus den aktualisierten Frames ergeben, als verstehensrelevant – warum offenbart sich die Bedeutungsvarianz dann darin, dass verschiedene Leerstellen mit Werten besetzt sind, wie Fillmore suggeriert? Warum besetzen nicht umgekehrt verschiedene Werte dieselben Leerstellen? Und welche Leerstellen würden sie dann besetzen? Ungereimtheiten dieser Art kommen deswegen zustande, weil nicht klar ist, was sich genau hinter den Metaphern „Leerstelle“ („slot“), „Standardwert“ („default value“) und „Füllwert“ („filler“) verbirgt. Einen ersten Lösungsansatz präsentiert Lönneker (2003a, S. 64ff.), die darauf hinweist, dass sich Frames strukturell in propositionale Strukturen überführen lassen. Unter einer Proposition ist dabei mit Searle (1979, S. 3843, 48-54) jene Satzinhaltsdimension zu verstehen, die sich unabhängig vom Satzmodus auf den Aussagegehalt eines Satzes bezieht. Davon zu unterscheiden ist eine pragmatische Dimension, die ebenfalls zum Satzinhalt gehört, nämlich der Handlungsgehalt oder der illokutionäre Gehalt eines Satzes. So kann die Illokution einer Äußerung – wie im Fall einer Frage, einer Behauptung oder eines Ausrufes – durchaus variieren, während der propositionale Gehalt sich nicht verändert. Dennoch bleiben Aussage- und Illokutionsgehalt Abstraktionsgrößen, die sich zwar analytisch ermitteln lassen, im Äußerungsakt eines Satzes aber untrennbar zusammenwirken. Denn es gibt keine Pro-
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VI. Strukturkonstituenten von Frames
position ohne Illokution;3 umgekehrt gilt das prinzipiell auch, sieht man einmal von Ausnahmen wie etwa Einwortsätzen der Art Prost und Hallo ab.4 Inwiefern repräsentieren nun Frames den Aussagegehalt von Frames? In welchem Zusammenhang stehen Frames und Propositionen? Um hierauf eine zufriedenstellende Antwort geben zu können, ist zunächst zu klären, woraus Propositionen bestehen. Propositionen bilden im Sinne Searles (1979) einen Teilakt von Sprechhandlungen, genauer den Aussagegehalt sprachlicher Äußerungen. Dass über eine bestimmte Entität (das Subjekt eines Satzes) etwas ausgesagt wird, gilt für fast jeden Satz (vgl. von Polenz 1985, S. 91-100). Hierbei spielen zwei Teilkomponenten eine Rolle. Das Subjekt des Satzes verweist auf eine Entität, ein Bezugsobjekt, das Rezipientinnen und Rezipienten eindeutig zu identifizieren haben, um den Satz verstehen zu können. Searle (1979, S. 39f.) nennt dies die „Referenz“, meint damit aber weniger den Prozess des Bezugnehmens oder das Verhältnis zwischen Bezugsobjekt und Bezug nehmendem sprachlichen Ausdruck, als vielmehr dasjenige, worauf Bezug genommen wird. Dieses Bezugsobjekt (oder Denotat) wird nun durch das Prädikat eines Satzes näher charakterisiert bzw. beschrieben: Es wird als etwas prädiziert. „Prädikation“ meint dabei die Zuweisung von Prädikaten zu einem Referenzobjekt. Im Gegensatz zur Referenz stellt die Prädikation aber keinen selbständigen Sprechakt dar. Ebensowenig ist sie ein spezieller Referenztyp, was man daran sehen kann, dass Prädikationen immer in einer bestimmen illokutionären Form vorkommen, während die Referenz nicht an diese gebunden ist. Ohne im selben Maße auf die pragmatische Dimension abzuheben, trifft Croft (1991) ganz ähnliche Unterscheidungen. Referenz und Prädikation versteht er als sprachliche Grundfunktionen, die nötig sind, um von sprachlichen Ausdrücken zu konzeptuellen Einheiten zu gelangen.5 Referenz diene dazu, „[to] get the hearer to identify as what is being talked about“; Prädikation habe dagegen zu tun mit „what the speaker intends to say about what he is talking about (the referent)” (Croft 1991, S. 52). Croft geht davon aus, dass neben Referenz und Prädikation eine dritte Grundfunktion zu berücksichtigen sei, welche bei Searle fehle. Diese nennt er „modification“. Modifikation 3
4 5
„Propositionale Akte können nicht selbständig vorkommen; d.h., man kann nicht nur hinweisen und prädizieren, ohne eine Behauptung aufzustellen, eine Frage zu stellen oder irgendeinen anderen illokutionären Akt zu vollziehen. Das sprachliche Korrelat dieses Sachverhalts besteht darin, daß Sätze, und nicht Wörter, verwendet werden, um etwas zu sagen.“ (Searle 1979, S. 43) Eine weitere Ausnahme bilden Interjektionen wie mhm. Sie weisen eine illokutive Rolle, aber keinen propositionalen Gehalt auf. Davis (2003, S. 7-11) argumentiert ferner dahingehend, dass neben Referieren und Prädizieren auch Kommunizieren einen basalen semantischen oder, wie er ihn auch nennt, psychologischen Akt darstelle. Ob sich tatsächlich alle sprachlichen Äußerungen letztgültig auf diese drei „Akte“ bzw. „Teilakte“ zurückführen lassen und ob vor allem jeder dieser drei „Akte“ oder „Teilakte“ prinzipiell auch ohne die beiden anderen auftreten kann, sei dahingestellt.
1. Der Problemzusammenhang
287
übernimmt eine „accessory function to reference and predication” und „helps to fix the identity of what one is talking about (reference) by narrowing the description“ (Croft 1991, S. 52). Modifizierend wirken beispielsweise Attribute oder Relativsätze, die das Referenzobjekt näher bestimmen. Dabei handelt es sich m.E. jedoch eher um eine Sonderform der Searle’schen Prädikation als um eine dritte sprachliche Grundfunktion.6 Denn eine Modifikation ist nichts anderes als eine prädikative (Neu-)Bestimmung bzw. Präzisierung des Referenzobjekts. Mit Searle 1979 und Croft 1991 nehme ich im Folgenden an, dass sich der propositionale Akt als ein irreduzibles Zusammenspiel von Referieren und Prädizieren vollzieht.7 Wenn Frames enzyklopädisches Wissen, also Mengen von Propositionen, repräsentieren, müssen sich auch die beiden Teilkomponenten einer Proposition analytisch aus Frames bestimmen lassen. Mein Vorschlag hierzu lautet: Ein evozierter Frame entspricht dem referentiellen Gehalt einer Proposition und das, was von einem Referenzobjekt prädiziert wird, stimmt strukturell mit Füllwerten und Standardwerten im hier favorisierten Frame-Modell überein. Leerstellen zeigen entsprechend an, welche Prädikationen potentiell vollzogen werden können. Auf diese Korrelation hat bisher allein Lönneker hingewiesen:8 Innerhalb eines Frames im hier verwendeten Modell besteht die Referenz im Framenamen, die Prädikation in zwei weiteren Elementen, durch die dem Framekonzept bestimmte Eigenschaften, Fähigkeiten o.ä. zu- oder abgesprochen werden. (Lönneker 2003a, S. 64)
Abb. 1 fasst die terminologischen Korrelationen noch einmal zusammen. Inwieweit Frames als semantisches Analyseinstrument fungieren mögen, deutet sich an dieser Stelle bereits an: Frames können auf der Basis eines Textkorpus bestimmt werden, indem zunächst die Okkurrenzen der phonologischen Einheit (die den zur Disposition stehenden Frame evoziert) im Korpus identifiziert werden, um auf dieser Grundlage zu bestimmen, was von dieser Entität prädiziert wird. Das Resultat ist eine große Menge an Propositi-
6 7
8
Genauer: Relativsätze können nicht nur die Qualität einer Prädikation aufweisen, sondern selbst eine referentielle Funktion übernehmen; hierzu in Abschnitt VI.4.2 mehr. Vgl. David Schwarz 1979, S. 21: „For purpose of referring, it seems to be enough that the speaker means something to the effect that a certain individual has some predicate, where this predicate is left unspecified. That is, if I start an utterance, evidencing clearly the intention of predicating something of an individual, but do not get the predication part out, I may still be referring.“ Auf den von Lönneker gewählten Terminus „Framenamen“ verzichte ich im Folgenden, weil unklar zu sein scheint, welcher Status einem „Framenamen“ zukommt. Anders als Leerstellen, konkrete Füllwerte und Standardwerte haben Framenamen jedenfalls nicht den Status einer Strukturkonstituente, insofern sie zur analytischen Bestimmung von Frames nicht herangezogen werden müssen. Dann müssten sie aber einem Frame extern sein, was die Frage nach ihrem Status noch verschärfen würde.
288
VI. Strukturkonstituenten von Frames
onen, die insgesamt die Inhaltsdimension des Frames ausmachen, wie sie im zugrunde gelegten Korpus vorzufinden ist.
Leerstelle (aktivierter) Frame Füllwert/Standardwert
hier vorgeschlagene Unterscheidung
Prädikation
Referenz
Proposition
sprechakttheoretische Unterscheidung
Abb. 1: Strukturelemente: terminologische Unterscheidungen im Vergleich
Der nächste Abschnitt widmet sich zunächst einer frame-theoretischen Bestimmung sprachlicher Referenzhandlungen. Die nachfolgenden Abschnitte thematisieren dann die genannten Frameelemente (i) Leerstelle, (ii) konkreter Füllwert und (iii) Standardwert.
2. Referenz Am Anfang steht das Wort, genauer: die Aktivierung eines Frames. „Aktivieren“ meint hier das identifizierende Referieren auf eine Entität, ohne welches ein sprachlich vollzogener kommunikativer Akt nicht gelingen könnte.9 Als mögliches Referenzobjekt eines sprachlichen Zeichens kommt prinzipiell jede irgendwie quantifizierbare oder qualifizierbare Einheit in Frage. Mittels sprachlicher Zeichen können wir ebenso gut auf Gegenstände (wie einen 9
Vgl. Vater 2005, S. 145: „Referenz ist zentral, weil es kein Sprechen ohne Referieren gibt“. Unter „Referenz“ versteht Vater Folgendes: „In einer Äußerung wird explizit oder implizit auf die der Prädikation zugrunde liegende Situation sowie auf die von den Argumenten bezeichneten Orte, Zeitintervalle und Gegenstände Bezug genommen. Diese Bezugnahme wird ‚Referenz‘ genannt.“ (Vater 2005, S. 11)
2. Referenz
289
Tisch, ein Auto usw.) Bezug nehmen wie auf Abstrakta (wie Gott, Liebe usw.), Handlungen (wie einkaufen) oder sogar auf fiktive Entitäten (wie Einhörner, Objekte eines Märchens). Sprachliche Ausdrücke, d.h. phonologische Einheiten im Sinne Langackers, dienen dabei gewissermaßen als sprachliche Stimuli, die einen Sprachbenutzer oder eine Sprachbenutzerin dazu veranlassen, auf der Basis von relevantem Hintergrundwissen eine Referenz herzustellen. Sie motivieren sprachliche Referenzhandlungen. Ist – meiner Annahme gemäß – die Aktivierung eines Frames mit der referentiellen Funktion eines sprachlichen Ausdrucks gleichzusetzen, so stellen sich zwei Fragen: x Worauf referieren sprachliche Ausdrücke? Das heißt: Welchen referentiellen Bezug stellen Frames her? x Welche sprachlichen Ausdrücke sind referierende Ausdrücke? Das heißt: Welche sprachlichen Ausdrücke rufen einen Frame auf? Die nächsten beiden Abschnitte gehen diesen Fragen nach. 2.1 Frames als Projektionsfläche der Referentialität Beginnen wir mit der ersten Frage. Über eine lange Zeit hinweg herrschte die Auffassung vor, dass Referenzobjekte mit realweltlichen, also extramentalen Korrelaten unserer Wahrnehmungswelt zu identifizieren seien (vgl. Wimmer 1979). Diese Position entspricht der Vorstellung des naiven Realismus, dass unser Geist ein Spiegel der Natur sei. Aber: Die Welt, auf die wir uns mit sprachlichen Ausdrücken beziehen, kann […] nicht im Sinne eines naiven Realismus als eine dem Bewußtsein zugängliche und extern vermittelte Welt aufgefaßt werden, sondern muß als eine durch das menschliche Kognitionssystem konstruierte und damit intern erzeugte Welt betrachtet werden. (Schwarz 1992b, S. 169)
Ohne auf die erkenntnistheoretischen Schwierigkeiten, die mit einem naiven Realismus verbunden sind (Rorty 1987), eingehen zu müssen, zeigen schon einfache psycholinguistische Experimente, wie sehr Referenzobjekte Ergebnisse kognitiver Konstruktionsprozesse sind, die ganz eigenen Gesetzmäßigkeiten unterliegen. Sprachbenutzerinnen und Sprachbenutzer benennen mit Wörtern keine Dinge, sondern konzeptualisieren vielmehr abhängig von der kontextuell determinierten „Menge von Alternativen“ (Olson 1974, S. 192) Referenzobjekte recht flexibel.10 So berichtet Olson (1974) von einem Experiment, das darin besteht, mehreren Versuchspersonen einen weißen, runden Holzblock zu zeigen, unter dem ein goldener Stern liegt. Die Umgebung dieses Blocks ändert sich: 10
Olson (1974, S. 192ff.) selbst benutzt hier den Begriff „Bezugsobjekt“.
290
VI. Strukturkonstituenten von Frames
Einmal befindet sich neben dem Block zusätzlich ein schwarzer, runder Holzblock, einmal ein weißer eckiger Holzblock, und einmal liegen neben ihm gleich drei Blöcke (ein weißer eckiger, ein schwarzer runder und ein schwarzer eckiger). Wenn nun die Versuchspersonen den Holzblock mit dem darunter liegenden Stern benennen, geschieht dies stets relativ zu seiner Umgebung. Insgesamt ergeben sich drei unterschiedliche Bezeichnungen für ein und denselben Block (der runde, der weiße, der runde weiße).
a)
b)
c)
Abb. 2: (a) der Tunnel, (b) die Ameise und (c) der Ball unter dem Holzklotz
Schon hier zeichnet sich ab, dass Sprachbenutzer und Sprachbenutzerinnen Entitäten nicht nur relativ zur eigenen Erfahrungsbasis konzeptualisieren. Vielleicht noch gewichtiger ist, dass sie entweder diese Erfahrungsbasis als gegeben unterstellen oder zumindest davon ausgehen, dass die sprachliche Benennung die Entität relativ zu ihrer Umgebung hinreichend beschreibt. Hierzu sind bestimmte Normalbedingungen vorauszusetzen, die erfüllt sein müssen, damit im vorliegenden Fall etwa Farbbeschreibungen und Deiktika angemessen konzeptualisiert werden können.11 Um nur ein Beispiel herauszugreifen: Zum Verstehen der Präposition unter wird präsupponiert, dass die Versuchsperson keinen Kopfstand während der Beschreibung macht, oder, weniger abwegig, dass gewisse Annahmen über die physikalische Beschaffenheit des beschriebenen Sternes und Holzblockes zutreffen. Solche Annahmen üben einen nicht unerheblichen Einfluss auf den Prozess der Bedeutungskonstitution aus (vgl. Brugman 1988). Sie sind maßgeblich dafür verantwortlich, dass der komplexe Ausdruck der Stern unter dem Holzblock anders konzeptualisiert wird als etwa (a) der Tunnel unter dem Holzblock. Ob konzeptuell eher se11
Vgl. hierzu auch die erkenntnistheoretischen Ausführungen Sellars (1999).
2. Referenz
291
mantische Ähnlichkeiten zur Phrase (b) die Ameise unter dem Holzblock oder (c) der Ball unter dem Holzblock festzustellen sind, hängt natürlich maßgeblich davon ab, welche Informationen über den Stern gegeben sind bzw. welche Standardwerte inferentiell erschlossen werden. Abb. 2 illustriert die drei erwähnten Konzeptualisierungsvarianten. Referentialisierungsleistungen beruhen also auf Vorwissen, und mentale Prozesse ermöglichen erst die Bildung von Wahrnehmungseinheiten. Die Referenz sprachlicher Ausdrücke betrifft folglich nicht die reale Welt, sondern das, was Jackendoff die „projizierte Welt“ nennt. We must take issue with the naive position that the information conveyed by language is about the real world. We have conscious access only to the projected world – the world as unconsciously organized by the mind; and we can talk about things only insofar as they have achieved mental representation through these processes of organisation. Hence the information conveyed by language must be about the projected world. (Jackendoff 1983, S. 29)
Jackendoff bezieht sich u.a. auf gestaltpsychologische Befunde, wenn er die „projizierte“ von der „realen Welt“ abhebt. Abb. 3 zeigt zwei Beispiele, die der Gestaltpsychologie entlehnt sind.12 Im ersten Beispiel (a) sehen wir vier Punkte, doch aufgrund ihrer Anordnung kommen wir nicht umhin, sie zu einer Linie zu verbinden. Eine solche Gruppierung erfolgt automatisch und unbewusst und ist durch den Input nicht motiviert.
(a) Ɣ
(b) Ɣ
Ɣ
Ɣ
Abb. 3: Zur Konstruktion von Referenzobjekten: (a) vier Punkte, die eine Linie bilden, (b) eine Vase bzw. zwei Gesichtssilhouetten
12
Zahlreiche weitere Beispiele finden sich etwa in Metzger 1923 und Wertheimer 1923.
292
VI. Strukturkonstituenten von Frames
Ähnlich im berühmten Beispiel (b). Das Wahrnehmungsobjekt verändert sich abhängig davon, ob wir die schwarze Fläche als Figur oder Hintergrund interpretieren. – Die Beispiele mögen trivial erscheinen, was sich an ihnen demonstrieren lässt, ist indes keineswegs folgenlos: In (a) und (b) hängt das, was wir sehen, entscheidend davon ab, wie wir das Umfeld des Wahrgenommenen interpretieren. Es gibt keine Möglichkeit, diesen konstruktiven Akt gegenstandskonstituierender Wahrnehmung zu umgehen und ‚einfach nur‘ wahrzunehmen, was der Input bereitstellt. Aus neuropsychologischer Perspektive ergibt sich ein ganz ähnlicher Befund. Wenn das Gehirn äußere Reize verarbeitet und wir in der Folge eine bestimmte Entität wahrnehmen, ist die perzipierte Entität wegen der vorausgegangenen mentalen Reizverarbeitung kein Abbild der Reizquelle. Das Gehirn erzeugt Perzepte, die als reale externe Entitäten empfunden werden. Das menschliche Gehirn baut eine nach außen projizierbare Welt auf, die für uns eine Organisation aufweist, die wir als objektive, von uns unabhängig existierende Struktur erfahren. (Schwarz 1992a, S. 43)
Auf diese Weise entsteht der Hiatus zwischen „realer“ und „projizierter Welt“. Überspitzt formuliert: „Realität“ ist ein Konstruktionsprodukt unserer neuronalen Gehirnaktivität einerseits und unserer geistigen Einbildungskraft andererseits. Die Antwort auf die Frage nach dem Referenzbereich sprachlicher Ausdrücke muss deswegen folgendermaßen ausfallen. Sprachliche Ausdrücke referieren auf Ausschnitte der projizierten Welt. Referieren meint dabei die sprachliche Bezugnahme auf eine kognitiv konstruierte Repräsentationseinheit, die entweder auf ein perzipiertes Wahrnehmungsobjekt zurückgeht oder allein der Vorstellungskraft entspringt. Sprachliche Ausdrücke können somit auf wahrgenommene Entitäten oder auf rein repräsentationale Einheiten Bezug nehmen, die kein perzipierbares Korrelat haben. Hierzu nochmals Schwarz: Zum einen nehmen wir Bezug auf die projizierte, von uns aber als objektiv erlebte Welt Wp, deren Einheiten uns als Perzepte zugänglich sind, zum anderen stellen aber auch die repräsentationellen Einheiten unseres Weltmodells Wm, das wir bewußt in seinem mentalen Charakter empfinden, mögliche Referenten sprachlicher Ausdrücke dar. Die Einheiten dieses Modells sind mentale Repräsentationen von Objekten, Bildern und Vorstellungen. Diese repräsentationellen Einheiten sind wie Objekte im Geist des Menschen, während Objekte wie Bilder in der externen Welt sind. (Schwarz 1992a, S. 45)
Fehlen also außersprachliche Korrelate, auf die ein sprachlicher Ausdruck Bezug nehmen könnte, und kommt es infolgedessen zu keiner intermodalen Verknüpfung zwischen sprachlich gegebenen Informationen und nichtsprachlichen Daten (wie visuellen oder auditiven), so bildet allein eine Vor-
2. Referenz
293
stellungseinheit den Referenzbereich.13 In beiden Fällen – das ist entscheidend – referieren sprachliche Ausdrücke auf kognitive Einheiten. Dieses Ergebnis stimmt mit dem Befund in Abschnitt IV.2.3 überein, dass „Szenen“ (im Sinne Fillmores) und „Situationen“ (im Sinne Zlatevs) nur in Gestalt von (propositional gegliederten) Hintergrundannahmen verstehensrelevant werden können.14 Ein sprachlicher Ausdruck referiert auf eine kognitive Einheit, indem er einen Frame evoziert, der einen möglichen Referenzbereich erst eröffnet (ähnlich Taylor 2002, S. 71-75, 347). Die Evozierung eines Frames entspricht dem kognitiven Akt der Referentialisierung. Frames – als Einheiten der „projizierten Welt“ – dienen als Projektionsfläche der Referentialität. Vor diesem Hintergrund wird ersichtlich, warum sich ein aktivierter Frame nur analytisch von den Strukturkonstituenten eines Frames unterscheiden lässt. Es ist nämlich nicht möglich, ein Referenzobjekt zu identifizieren, ohne es zugleich als ein verschiedentlich bestimmtes Objekt auszuzeichnen, das sich hinsichtlich ebendieser Bestimmtheit von anderen möglichen Referenzobjekten abhebt (vgl. Searle 1979, S. 133-138). Ausgehend von der phonologischen Einheit [einhorn] können wir beispielsweise einen Bezug zum Vorstellungsobjekt, d.h. zur semantischen Einheit [EINHORN], herstellen, weil wir dieses implizit derart qualifiziert haben, dass es sich von alternativen Referenzobjekten (wie [NASHORN] oder [PFERD]) hinlänglich unterscheidet. In Busses Worten: D.h. schon der (nominal vollzogene) Referenzakt konstituiert eine elementare (implizierte, unterstellte) Ordnungsstruktur, die epistemisch gesehen über das einfache Benennen von Vorhandenem hinausgeht. Die Prädikation fügt dem Referenzakt dann eine weitere Ordnungsstruktur hinzu und erzeugt damit schon im einfachen Satz ein komplexes epistemisches Strukturgefüge. (Busse 2005a, S. 47-48)
Referenz und Prädikation stehen damit in einem engeren Beziehungszusammenhang, als es Searles Gegenüberstellung zu suggerieren scheint. So kann auch der prädikative Teil einer Proposition eine referentielle Funktion übernehmen (vgl. Vater 2005, S. 102ff.). Referentialisierung ist jedenfalls ein Akt, 13
14
Wie bereits in Abschnitt I.3.1 im Zusammenhang mit der Unterscheidung von Perzeption und Repräsentation erwähnt, zeichnet sich diese Vorstellungseinheit durch ihre kognitive Manipulierbarkeit aus. Berichte ich etwa einem Freund von meinem Golden Retriever namens Glamis, mag er sich darunter einen hellbraunen Hund mit einer Schulterhöhe von 50 cm und einem buschigen Schwanz vorstellen, und er kann jedes dieser Charakteristika (fast) nach Belieben manipulieren. Eine solche Manipulation ist nicht möglich, wenn mich mein Freund besuchen kommt und Glamis sieht. Vgl. Schwarz 1992a, S. 45; Konerding 1993, S. 108f. Zur Rolle des Sprachlichen bemerkt Konerding: „Eine ‚Situation‘ kann – zumal, wenn sie sprachlich institutionalisiert wurde – offensichtlich erst vermittels sprachlicher Bestimmungen in identifizierbare Komponenten zerlegt werden. Eine Bestimmung einer Situation ist angewiesen auf die kulturell kontrollierten Texturtypen (Konzepte/Begriffe), will sie sich nicht auf idiosynkratische und willkürliche ‚Ausdeutungen‘ beschränken. Token der letzteren sind in der Regel nur über den sprachlichen Ausdruck gesichert identifizierbar.“ (Konerding 1993, S. 129)
294
VI. Strukturkonstituenten von Frames
der Ordnung stiftet, und zwar dadurch, dass mit dem Aktvollzug Standardwerte des aufgerufenen Frames mitaktiviert werden. Mit dem Wort Einhorn auf ein bestimmtes Vorstellungsobjekt zu referieren, setzt beispielsweise aktualisierte Annahmen über die äußere Beschaffenheit eines Einhorns voraus.15 2.2 Jedes Wort evoziert einen Frame Kommen wir zur zweiten Frage: Welche Ausdrücke sind referierende Ausdrücke? Searles Antwort auf diese Frage leitet sich aus seiner Definition referierender Ausdrücke ab. Für jeden dieser Ausdrücke ist charakteristisch, daß seine Äußerung dazu dient, ein ‚Objekt‘ oder eine ‚Entität‘ oder ein ‚Einzelding‘, in bezug auf das der Sprecher dann etwas sagt oder eine Frage stellt usw., als abgesondert von anderen Objekten herauszugreifen und zu identifizieren. […] Hinweisende Ausdrücke verweisen auf einzelne Dinge; mit ihnen werden die Fragen „Wer?“, „Was?“, „Welcher/e/es?“ beantwortet. Hinweisende Ausdrücke sind an ihrer Funktion erkennbar, nicht an ihrer äußeren grammatischen Form oder der Art, in der sie ihre Funktion erfüllen. (Searle 1979, S. 44f.)
Zur Menge hinweisender, d.h. ‚referenzfähiger‘ Ausdrücke, zählt Searle Eigennamen, Nominalausdrücke und Pronomen. Wie steht es aber mit anderen Wortarten, etwa mit solchen, die gemeinhin als Funktionswörter (wie Präpositionen, Konjunktionen, Modalpartikeln etc.) gelten? Können diese keine referentielle Funktion übernehmen? Wäre das der Fall, so würde ihnen ein konzeptueller Status abgesprochen. Gemäß den Ausgangsvoraussetzungen riefen Funktionswörter dann keinen Frame auf, und das in Abschnitt VI.1.1 erläuterte symbolische Prinzip geriete ins Wanken, insofern es dann nämlich ‚bedeutungslose‘ Zeichen, d.h. phonologische Einheiten ohne assoziierte Inhaltsdimension gäbe.16 Nimmt man aber die im letzten Zitat angeführten Kriterien als Maßstab dafür, welche Ausdrücke referieren und welche nicht, kommen Zweifel auf, ob es nicht-referierende Ausdrücke im strengen Sinne geben kann. Searles Kriterium lautet: Wir verwenden einen Ausdruck referierend, wenn wir mit ihm eine Entität derart identifizieren, dass wir die Fragen „Wer?“, „Was“, 15 16
Searle (1979, S. 146-149) hat dies dahingehend konkretisiert, dass er Gelingensbedingungen für einen erfolgreichen Referenzakt aufgestellt hat. Diese veranschaulichen die kognitive Komplexität referentiellen Handelns. Ähnlich Busse 1997b, S. 224: „Spricht man den sprachlichen Einheiten, deren semantische Beschreibung sich nicht in das Konzept referenzieller Semantik pressen läßt, die (in diesem Sinne definierte) Eigenschaft „Bedeutung“ ab (und redet – wie oft geschehen – statt dessen von bloßer „Funktion“, bloßer „Mit-Bedeutung“ im Gegensatz zur referenziell definierten Eigenbedeutung) [,] dann destruiert man den Zeichencharakter dieser Einheiten und damit zugleich ihre Sprachlichkeit schlechthin […].“
2. Referenz
295
„welcher/e/es?“ beantworten können müssten. Dieses Kriterium können aber offenkundig Wörter aller Wortarten erfüllen, zumindest dann, wenn sie in nominaler oder nominalisierter Gestalt auftreten. Nominalisieren lassen sich über einzelne Wörter hinaus auch phrasen- und satzwertige Syntagmen, sogar ganze Texte. Vergleiche hierzu die Beispiele (1) bis (5): (1) (2) (3) (4) (5)
Das Auto nervt mich. Die Party nervt mich. Die Röte nervt mich. Das Ewige-zu-spät-Kommen-von-Peter nervt mich. Das „Oder“ nervt mich.
Wenn wir solche Sätze hören oder lesen, identifizieren wir mit dem Satzsubjekt so unterschiedliche Entitäten wie Gegenstände, Ereignisse, Eigenschaften, komplexe Handlungen und bestimmte sprachliche Ausdrücke selbst. Innerhalb eines bestimmten Kontextzusammenhanges dürfte es nicht schwer fallen, das jeweilige Referenzobjekt den kontextuellen Gegebenheiten entsprechend zu spezifizieren. So mag es einen Kontext geben, in dem wir die Referenten der Satzsubjekte von (1) und (5) folgendermaßen erläutern: (1’) (5’)
Das Auto nervt mich. Dieses grüne, das schon seit einer Woche auf unserem Parkplatz vor dem Haus steht. Das „Oder“ nervt mich. Kannst du dich nicht einmal entscheiden?
Die Referenzbereiche der beiden Ausdrücke Auto und oder unterscheiden sich freilich grundlegend voneinander. Im Gegensatz zu (1) haben wir es in (5) nur mit einem metasprachlichen bzw. metaphorischen Sprachgebrauch zu tun, aus dem jedoch hervorgeht, dass man Konjunktionen durchaus spezifische Attribute zuschreiben kann. Der Gebrauch von oder macht hier deutlich, dass es um eine alternative Option geht, und dies könnte – wie in (5’) – Ausdruck der fehlenden Entscheidungsfreude derjenigen Person sein, die das Wort auffallend oft gebraucht.17 Vor diesem Hintergrund schlage ich vor, Nomina des Typs (1), (2) und (3), die oftmals als „Autosemantika“ bezeichnet werden, und Nomina des Typs (5), so genannte „Funktionswörter“, als Endpunkte einer Skala zu betrachten.18 Phrasenkomposita wie solche in (4) stellen insofern einen Spezialfall dar, als hier das Verb als Nukleus des nominalisierten 17 18
Über die spezifische textuelle Funktion der Konjunktion oder ist damit noch nichts gesagt; um diese geht es hier auch nicht. Ich spreche hier mit Bedacht von „Funktionswörtern“ und nicht von „Synsemantika“. Mit der Gegenüberstellung von „Autosemantika“ und „Synsemantika“ geht meist eine Scheidung bedeutungstragender von nicht-bedeutungstragenden Wörtern einher – eine Dichotomie, die ich gerade vermeiden will.
296
VI. Strukturkonstituenten von Frames
Syntagmas figuriert. Die valenzbedingten Bezugsstellen des Verbs werden einfach mit nominalisiert.19 (4) ist somit eine Variante von (4’). (4’)
Das Kommen nervt mich.
Beide, (4) sowie (4’), befinden sich eher am oberen Ende der angesprochenen Skala, also in der Nähe von (1) – (3), denn Konversionen sind durchaus gebräuchliche Nominalisierungen und haben keinen metasprachlichen Charakter. Im Sinne von Busse zeigt die Skala ein „mehr oder weniger“ an Referentialität an: Ist der Bedeutungsbegriff prototypisch organisiert, dann fungiert er gleichzeitig als skalarer Begriff: Dann gibt es möglicherweise – je nach Worttyp – auch ein „mehr oder weniger“ an Referenzialität. Referenzialität wäre dann möglicherweise vor allem eine kognitive Größe, die mit den prototypischen Beispielen lebt, für die dieses Konzept entwickelt wurde, die aber umso problematischer wird, je mehr sich die Referenzobjekte der einzelnen Worttypen von dem Verweisbarkeits-Charakter entfernen, der die prototypische Kernklasse ausmacht. (Busse 1997b, S. 223)
Die problematischste Gruppe referentieller Ausdrücke bilden hiernach „Funktionswörter“, wozu Partikeln verschiedener Art zählen. Obwohl ihr Referenzpotential auf ein Minimum reduziert ist, wäre es dennoch falsch, ihnen Referentialität gänzlich abzusprechen, zumindest dann, wenn sie Objekt metasprachlicher Reflexionen sind. Sobald sprachliche Ausdrücke metasprachlich thematisiert werden, gilt, was Searle als Kennzeichen referentieller Ausdrücke sieht: Der Sprecher oder die Sprecherin identifiziert eine Entität, indem er oder sie die Fragen „Wer?“, „Was“, „welcher/e/es?“ (implizit) beantwortet. Ich möchte hier nicht behaupten, dass alle sprachlichen Ausdrücke eines Satzes/Textes referierende Ausdrücke sind – eine Position, die implizit Vater (2005, S. 71ff.) zu vertreten scheint. Ich vertrete hier lediglich die Ansicht, dass (etwa mittels metasprachlicher Thematisierung und meist damit einhergehender Nominalisierung) alle Ausdrücke zu referierenden Ausdrücken gemacht werden können. Die je spezifischen Leistungen und Funktionen einzelner Wortarten sind hier also nicht in Abrede gestellt. Es ist auch zu beachten, dass metasprachlich thematisierte Ausdrücke ihre funktionalpragmatische Funktion verlieren. Äußert etwa jemand den Satz Du sagst immer „mmh, mmh“, aber du verstehst doch nichts, so wird zwar die Interjektion mmh von anderen Interjektionen usw. identifizierend abgehoben, dabei geht aber der funktional-pragmatische Wert des Ausdrucks verloren. Bereits am Beispiel der Präposition unter hat sich gezeigt (vgl. Abb. 2), in welchem Maße die Interpretation des Ausdrucks auf Kontextwissen und 19
Frametheoretisch gewendet: Einige Leerstellen des Frames „Kommen“ sind bereits mit konkreten Füllwerten besetzt.
2. Referenz
297
Präsuppositionen angewiesen ist.20 Gleiches trifft auf Modalpartikeln zu. Vergleiche hierzu folgende Sätze: (6) (7) (8)
Peter ist ein Faschist. Peter ist wohl ein Faschist. Peter ist vielleicht ein Faschist.
Die Modalpartikeln wohl und vielleicht weisen in (7) und (8) auf epistemische Einstellungen hin, die Sprachbenutzer und Sprachbenutzerinnen zum illokutionären und propositionalen Gehalt einer Äußerung einnehmen. Interessant ist ferner, dass dieselben Partikeln in anderen Kommunikationszusammenhängen andere Bezüge herstellen. (7’) (8’)
A: „Peter ist kein Faschist!“ B: „Peter ist WOHL ein Faschist!“ „PETER ist vielleicht ein Faschist! Ich kenne keinen, dem man die Gesinnung schneller anmerkt.“
Wohl und vielleicht kommen hier diskursfunktional zum Einsatz. In der mündlichen Kommunikation helfen zusätzlich prosodische Merkmale dabei, den Bedeutungsgehalt einer Partikel festzulegen.21 Stritte man den (diskursfunktionalen) Gehalt von Partikeln ab, dürften Unterschiede, wie die zwischen (7) und (7`) bzw. (8) und (8`), nicht existieren. Taylor (2002, S. 69) sieht darin ein Indiz dafür, dass Partikeln konzeptuelle Einheiten darstellen, deren Gehalt durchaus variieren kann. Vater (2005, S. 72) argumentiert sogar, dass Partikeln zusammen mit Modalverben einen eigenen Referenzbereich hätten, den er „Modal(itäts)referenz“ nennt und der sich von allen anderen Referenzbereichen sprachlicher Ausdrücke unterscheide.22 Da diese referenztheoretischen Bestimmungen allerdings nicht den oben erläuterten Kriterien genügen, die Searle zur Identifikation referierender Ausdrücke ansetzt, und da nach Vater auch Prädikate (im prädikatenlogischen Sinn) eine referentielle Funktion erfüllen, scheint es innerhalb von Vaters Referenztheorie zunehmend schwierig zu werden, zwischen Referenz und Prädikation hinreichend zu differenzieren. Dass Partikeln zu referierenden Ausdrücken gemacht werden können, sieht man am deutlichsten, wenn sie metasprachlich thematisiert werden, um 20 21 22
Dieses Beispiel darf als exemplarisch gelten. Zur Diskussion zahlreicher weiterer Präpositionen vgl. beispielsweise die Sammelbände Cuyckens/Radden 2002, Pütz/Dirven 1996 sowie den Überblick in Cuyckens 1988. Großbuchstaben zeigen in den Beispielen (7’) und (8’) die Betonungen an. Insgesamt unterscheidet Vater zwischen vier Hauptreferenzbereichen, nämlich „Situationsreferenz“, „Dingreferenz“, „Ortsreferenz“, „Zeitreferenz“, und drei marginalen Referenzbereichen, nämlich „Eigenschaftsreferenz“, „Quantitätsreferenz“ und eben „Modal(itäts)referenz“ (Vater 2005, S. 71f.).
298
VI. Strukturkonstituenten von Frames
so in Form von prädikativen Zuschreibungen etwas über sie auszusagen. Die Gegenüberstellung von (7) und (7’) bzw. von (8) und (8’) verdeutlicht zudem, dass sich der konzeptuelle Gehalt von Modalpartikeln diskursfunktional ändern kann. Ähnliche Argumente ließen sich bei anderen Typen von Partikeln anführen. Ich breche die Darstellung aber an dieser Stelle ab. Referenzobjekte im Range kognitiver Einheiten – so können wir festhalten – haben unterschiedliche Ausprägungsformen. Im prototypischen Fall von ‚Autosemantika‘ referieren sprachliche Ausdrücke auf vorgestellte Dinge oder Ereignisse. Nicht prototypisch, aber deswegen nicht weniger wichtig, sind pragmatische und diskursfunktionale Referenzen. Sie stiften kognitive Kohärenz. In Übereinstimmung mit der zeichentheoretischen Voraussetzung, dass jedes sprachliche Zeichen eine symbolische Einheit, d.h. eine FormInhaltspaarung ist und dass die Inhaltsdimension semantische, pragmatische sowie diskursfunktionale Aspekte umfassen kann, gilt also Lakoffs (lapidares, weil unbegründetes) Diktum: „Every word evokes a frame.” (Lakoff 2005).23
3. Prädikationspotential: Leerstellen („slots“) Die Frage, worauf eine sprachliche Einheit referiert, ist nach den vorangegangenen Überlegungen eng mit der Frage verknüpft, welchen Frame ein sprachlicher Ausdruck evoziert bzw. welche möglichen – impliziten und expliziten – Bezugs- oder Referenzstellen ein Token innerhalb eines bestimmten Kontextes aufruft. Dieser Frage will ich im Folgenden unter zwei Gesichtspunkten nachgehen. Zum einen soll geklärt werden, was überhaupt unter Bezugsstellen im Rahmen einer Frame-Semantik zu verstehen ist. Zur empirischen, textanalytischen Anwendung bedarf es darüber hinaus noch eines weiteren Schrittes: Es muss eine Methode aufgezeigt werden, die mögliche Bezugsstellen eines sprachlichen Ausdrucks zu ermitteln erlaubt.
23
Vgl. auch Minsky (1975, S. 236): „Any concept can be invoked by all sorts of linguistic representations. It is not a matter of nouns or verbs.” Oder, in lexikographischer Hinsicht, Petruck (1995, S. 279): „In a frame-based organization of the lexicon, it is the frame which provides the conceptual underpinnings for related senses of a single word and semantically related words. This would necessarily include all categories of words, including nouns, verbs, adjectives, adverbs, prepositions, and conjucntions [sic], as well as phrases and expressions.” – Sowohl bei Minsky als auch bei Petruck sucht man vergeblich nach Begründungen für die zitierten Annahmen.
3. Prädikationspotential: Leerstellen („slots“)
299
3.1 Was sind Leerstellen? Den Begriff „Bezugsstelle“ führt Peter von Polenz (1985, S. 116-143) in seiner Arbeit „Deutsche Satzsemantik“ zur Beschreibung von Satzinhaltsstrukturen ein. Von Polenz zieht den Begriff „Bezugsstelle“ dem prädikatenlogischen Terminus „Argument“ vor, um satzsemantisch nicht nur die Wertigkeit (Valenz) eines Verbs zu erfassen, sondern darüber hinaus auch „hintergründige Bezugsobjekte“ (von Polenz 1985, S. 130). Hintergründige Bezugsobjekte zeichnen sich dadurch aus, dass sie auf der syntaktischen Satzoberfläche nicht realisiert sind oder nicht realisiert werden können, sich aber dennoch als verstehensrelevant erweisen.24 Anders als die meisten Valenztheoretiker geht von Polenz also nicht von syntaktisch ausdrückbaren Ergänzungen und Angaben aus, sondern „von den kognitiven und kulturellen Voraussetzungen, die jedem kommunikativen Handeln vorausliegen“ (von Polenz 1985, S. 131). Diese Erweiterung scheint nur konsequent zu sein angesichts der Tatsache, dass Referentialisierung eine grundlegende sprachliche Handlung ist (Davis 2003), deren Gelingen komplexe Kognitionsprozesse (Kategorisierungen) sowie Kenntnisse über das Sprachverhalten einer Sprachgemeinschaft voraussetzt. Bezugsstellen betreffen somit situatives, kontextuelles, soziales Wissen – d.h. enzyklopädisches Wissen insgesamt. So verstandene Bezugsstellen ähneln in mehrerlei Hinsicht den Leerstellen (slots) eines Frames.25 Zum einen formieren Bezugsstellen wie auch Leerstellen einen Rahmen, d.h. sie sind untereinander korreliert und werden als gestalthafte Ganzheit von einem sprachlichen Ausdruck evoziert. Von Polenz (1985, S. 132) spricht in diesem Zusammenhang ausdrücklich von einem „Bezugsrahmen“ eines sprachlichen Ausdrucks,26 der Informationen darüber enthalte, worauf ein sprachlicher Ausdruck möglicherweise referieren könnte. Diese Eigenschaft dürfte weitgehend deckungsgleich mit der Funktion aufgerufener Frames sein, einen möglichen kognitiven Referenzbereich sprachlicher Ausdrücke abzustecken (Coulson 2001, S. 75). Weiterhin besteht eine Gemeinsamkeit in der Ausgangsprämisse, dass Wort- und Satztokens semantisch radikal unterbestimmt sind. Ohne ausgedrückt zu sein bzw. sein zu müssen, ist der Großteil verstehensrelevanten Wissens lediglich ‚mitgemeint‘ oder 24 25 26
Vgl. hierzu die zahlreichen Beispiele bei von Polenz (1985, S. 131ff.) und auch bei Busse (1991a, S. 70ff.). Den Terminus „Leerstelle“ hat im Übrigen schon Bühler (1934, S. 117) benutzt. Mit handlungstheoretischer Akzentuierung hat auch schon Siegfried J. Schmidt vom „Referenzrahmen“ einer Äußerung gesprochen. Der „Referenzrahmen“ umfasst nach Schmidt so verschiedene Bereiche wie „stereotypisierte Handlungen“, „stereotypisierte Kommunikationssituationen“, „rekurrente Handlungsweisen von Kommunikationspartnern“ und „über Sozialisationsgeschichte internalisierte ‚Konzeptstrukturen‘ wie Ideologien, Mythologien, wissenschaftliche Theorien, Religionen usw.“ (Schmidt 1980, S. 261f.). Diese Liste bleibt allerdings unvollständig und dürfte für bedeutungsanalytische Zwecke kaum brauchbar sein.
300
VI. Strukturkonstituenten von Frames
‚mitzuverstehen‘ (von Polenz 1985, S. 135), nicht aber mitgeteilt. Die fehlenden Informationen inferiert der Sprachrezipient oder die Sprachrezipientin auf der Basis aller ihm oder ihr zur Verfügung stehenden Daten. Wie Frames setzen also auch Bezugsrahmen „tiefensemantisch“ (Busse 2000a, S. 42-45; 2000b, S. 49-51) an. Schließlich herrscht Übereinstimmung darin, dass Referieren und Prädizieren „die beiden wichtigsten gegenstandsbezogenen Teilhandlungen des Satzinhalts“ (von Polenz 1985, S. 91) sind. Dementsprechend charakterisiert von Polenz Bezugsrahmen als „Prädikations- oder Aussagerahmen“ (von Polenz 1985, S. 158). Gleiches trifft auf Frames zu (Busse 2007; Fraas 1996a, 1996b; Konerding 1993, S. 139ff.).27 Obwohl also beide, Bezugsrahmen und Frames, „Formen der sprachlich gebundenen Aktivierung von Wissen“ darstellen, „die gebunden sind an situative, textuelle und epistemische Kontexte“ (Busse 1992, S. 77), unterscheiden sie sich doch in einer entscheidenden Hinsicht: Semantisch gesehen bleiben Bezugsrahmen in der von Polenz’schen Konzeption reduktionistisch, obschon sie sich von der syntaxorientierten Sicht der Valenzgrammatik ein Stück weit gelöst haben.28 Verstehensrelevantes Wissen, als zentraler Gegenstandsbereich einer Semantiktheorie im holistischen Paradigma, umfasst weit mehr als von Polenz’ satzinhaltsanalytischer Ansatz zu erschließen vermag. Misst man diesen an seinen eigenen Maßstäben, so verfehlt er sein angestrebtes Ziel, alle Prädikate und Bezugsstellen zu erfassen, die Sprachbenutzerinnen und Sprachbenutzer in einem Satz explizit oder implizit ausdrücken. Der Grund dafür liegt m.E. darin, dass von Polenz sich noch zu sehr an der syntaktischen Oberflächenstruktur orientiert, von der er seine satzsemantische Tiefenanalyse gerade abgrenzen will. Ein ähnliches Phänomen hatten wir bereits bei der Auseinandersetzung mit Fillmores Tiefenkasus-Theorie beobachtet (vgl. Abschnitt IV.2.3). Im Vergleich zu kognitiven Szenen, also den späteren Frames, beschreiben Tiefenkasus nur einen Bruchteil tatsächlich verstehensrelevanten Wissens. Tiefenkasus (semantische Rollen) fungieren in der Konzeption Fillmores als semantische Klassifizierungsraster für Bezugsstellen von Verben. Daran knüpft von Polenz methodisch an, um auch einen geregelten Zugriff auf implizite Bezugsstellen sicherzustellen. Er erweitert dabei zwar die Liste möglicher Tiefenkasustypen um eine Vielzahl semantischer Rollen, die sich weder in Fillmores noch in anderen Ansätzen finden;29 doch entkommt er damit nicht jener Kritik, die schon die Kasustheorie ereilt 27 28 29
Fraas (1996a, S. 5, 24-28) bemerkt in diesem Zusammenhang, dass die Leerstellen eines Frames das „Kontextualisierungspotential“ angeben, während Busse (2007) von Frames als Gefügen von Prädikationen und Bezugsstellen spricht. Im Sinne einer semantischen Reinterpretation der syntaktischen Funktion von Verben (Heringer 1984, S. 47ff.). Es ist kein Zufall, dass Heringer an Fillmores Frame-Konzept anknüpft. Vgl. von Polenz 1985, S. 170-172. Neu sind folgende semantische Rollen: „Causativ/Ursache“, „Possessiv/Besitz“, „Additiv/Hinzugefügtes“, „Privativ/Entferntes“, „Origativ/Ursprung“ und „Temporativ/Zeit“ (im Original in Großbuchstaben).
3. Prädikationspotential: Leerstellen („slots“)
301
hat (Fillmore 2003, S. 466; 2006, S. 616). Die wichtigsten Kritikpunkte fasst Fillmore folgendermaßen zusammen: Difficulties in constructing a working case grammar include the problem of knowing when to stop in preparing the list of cases, how to construct and test a case hierarchy, and a host of worries about splitting versus lumping. […] This failure to provide a well-motivated list of case notions became a central objection to the theory, even among those who felt that the ideas were worth pursuing. Many writers have pointed out that one can always find both reasons for recognizing ever more refined distinctions and reasons for recognizing high-level geneneralizations […]. (Fillmore 2003, S. 466)
Infolgedessen bezweifeln Croft (1991, S. 155ff.) und Langacker (1987, S. 284) grundsätzlich, ob sich eine erschöpfende Liste semantischer Rollen aufstellen lasse und ob es eine theoretische Grundlage dafür gebe. Fillmores Konsequenz aus diesen Aporien besteht bekanntlich in der Abkehr von der Kasustheorie und der Konzeption semantisch nicht-reduktionistischer Frames (vgl. Fillmore 2003, S. 466). Auch von Polenz muss sich fragen lassen: Sind mit der vorgeschlagenen Satzinhaltsanalyse wirklich alle Bezugsstellen eines Ausdrucks erfassbar?30 Dass die Antwort negativ ausfällt, verdeutlicht ein Beispiel. Anhand des Satzfragmentes (9) legt von Polenz (1985, S. 133-135) dar, welche Bezugsstellen bei einer Analyse der Satzinhaltsstruktur zu berücksichtigen seien. (9)
Der Politologe, der in der Zeit des Nationalsozialismus mit seiner jüdischen Familie nach Frankreich floh.
Welchen Rahmen ruft der Handlungstyp „(politische) Flucht“ auf? Von Polenz entdeckt insgesamt sieben Bezugsstellen, und zwar (a) (b) (c) (d) (e) (f) (g)
30
zur Person, die flieht zur Person bzw. zu den Personen, vor denen jemand flieht zum Grund, weshalb jemand flieht zum Ort, aus dem jemand flieht zum Ort, zu dem jemand flieht zum Weg, den jemand einschlägt, um zu fliehen und zum Zeitpunkt, an dem jemand flieht.
Ob sich bestimmte Bezugsstellen zu einer allgemeineren Bezugsstelle zusammenfassen oder umgekehrt zu mehreren untergeordneten Bezugsstellen ausdifferenzieren lassen, ist an dieser Stelle weniger relevant.
302
VI. Strukturkonstituenten von Frames
„In manchen Kontexten“, so erläutert von Polenz weiter, „kann dieses Bezugswissen vollständig mit sieben Bezugsstellen von a bis g geäußert werden“31. Offenkundig spielt die – zumindest prinzipiell mögliche – syntaktische Oberflächenrealisierung aller Bezugsstellen doch eine gewisse Rolle, wenngleich diese in den seltensten Fällen vorliegt und nicht-realisierte Bezugsobjekte in der Folge vom Sprachproduzenten oder der Sprachproduzentin nur mitgemeint sind und von den Sprachrezipienten und Sprachrezipientinnen inferentiell erschlossen werden müssen. Was aber über den sieben Bezugsstellen hinaus zusätzlich mitverstanden werden muss (und entsprechend erfragt werden könnte), sind beispielsweise Wissensaspekte (h) (i) (j) (k) (l) (m) (n) (o) (p) (q) (r) (s)
zum übergeordneten (politischen, sozialen, biographischen usw.) Zusammenhang, in dem die Flucht stattgefunden hat zur Rolle, die die Flucht innerhalb dieses übergeordneten Zusammenhangs spielt zu den (physischen, psychischen, sozialen, materiellen, historischen, biographischen usw.) Voraussetzungen, die die Flucht möglich gemacht haben zu den (zeitlichen und logistischen) Phasen, in die sich die Flucht unterteilen lässt zu denjenigen Personen, die mitgeflohen oder in irgendeiner Weise an der Flucht beteiligt gewesen sind zur Rolle und Funktion, die diejenigen Personen gehabt haben, die mitgeflohen oder an der Flucht beteiligt gewesen sind zu den (politischen, sozialen, materiellen, psychophysischen usw.) Bedingungen, die die Flucht erleichtert oder erschwert haben zur Dauer der Flucht zu den (hier v.a. politischen) Bedingungen, unter denen sich die Flucht hätte wiederholen können zu den möglichen (psychischen, physischen, sozialen, materialen, emotionalen usw.) Folgen, die die Flucht nach sich gezogen hat zur (persönlichen, politischen usw.) Bedeutung, die die Flucht für den Geflohenen eingenommen hat zu (historischen, politikwissenschaftlichen, soziologischen usw.) Theorien, die eine politisch motivierte Flucht thematisieren.
Hierbei handelt es sich keineswegs um eine erschöpfende Liste von Bezugsstellen, schon deshalb nicht, weil sich an jede der genannten Bezugsstellen 31
Von Polenz 1985, S. 133; kursive Hervorhebung von mir, AZ. Sein Beispiel lautet: „Wegen Verfolgungc1 aufgrund seiner pazifistischen Schriftenc2 floh der Schriftstellera im Jahre 1938g vor der Gestapob von Münchend über die Schweizf nach den USAe“ (im Original ist der Beispielsatz kursiv gedruckt).
3. Prädikationspotential: Leerstellen („slots“)
303
weitere Bezugsstellen anschließen.32 Vor dem Hintergrund von Fillmores (Selbst-)Kritik stellen sich hier ganz analog die Fragen: Gibt es eine erschöpfende Liste möglicher Bezugsstellen? Wenn ja, wann ist eine Liste dann erschöpfend erstellt? Was berechtigt zu der Annahme, die Liste sei erschöpfend? Und konkret auf das Fallbeispiel gemünzt: Warum sollten sich die Bezugsstellen (a) bis (g) so elementar von (h) bis (s) unterscheiden, dass letztere satzsemantisch zu vernachlässigen wären? Ihre mangelnde Verstehensrelevanz kann kein Argument sein, denn es ließen sich problemlos Kontexte konstruieren, in denen sich mindestens eine der Bezugsstellen (h) bis (s) als verstehenskonstitutiv erweist. Man nehme etwa an, von Polenz hätte (9) nicht einem Zeitungsbericht entnommen, in dem ein Nachrichtenredakteur Hintergrundinformationen zu einem Interviewpartner geben will, sondern dieselben Worte wären ein authentifiziertes Zitat eines Gestapooffiziers, der den geflüchteten Politologen aufgespürt hat. Wissen über die Folgen, die eine Flucht nach sich ziehen kann, also (q), und eventuell darüber, welche weiteren Personen (neben den Familienmitgliedern) mitgeflüchtet sind, also (l), wären dann höchst relevant. Und welches Schicksal den Geflüchteten droht, ist natürlich nicht ohne Kenntnisse des übergeordneten Zusammenhangs zu ermessen; Leerstelle (h) wäre also auch involviert. Um solchen verstehensrelevanten Wissensaspekten Rechnung zu tragen, ist eine noch radikalere Loslösung von Satzausdrucksstrukturen nötig als die schon von von Polenz vollzogene. Zur Vermeidung einer syntaxbedingten Verkürzung und eines damit einhergehenden semantischen Reduktionismus zieht Fillmore sogar die Konsequenz, die Satzsemantik ganz außen vor zu lassen und Fragen nach der Bedeutung von Sätzen nur unter Bezugnahme auf die übergeordnete textuelle Einbettungsstruktur zu behandeln.33 Betrachtet man Frames als Bezugsrahmen, so unterscheiden sie sich sowohl von Bezugsrahmen der von Polenz’schen Satzsemantik als auch von Fillmores Kasusrahmen in ihrer transphrastischen Verweisstruktur: Leerstellen von Frames betreffen nicht Leerstellen, die sich allein auf der Satzebene angeben lassen; vielmehr bilden Texte oder Diskurse das Zugriffsformat, aus dem sich mögliche Bezugsstellen ableiten (Fraas 1996a; Konerding 2005; Lönneker 2003a; Ziem 2008). Frames beschreiben somit nicht die Bedeutung von Wörtern und ebensowenig die Bedeutung von Sätzen, sondern allenfalls die Bedeutung von Wörtern in Texten und die Bedeutung von Sätzen in Texten bzw. Diskur-
32 33
Im Sinne der vertretenen These, dass jedes Wort einen Frame aufruft. – Zu weiteren möglichen Bezugsstellen des Bezugsrahmens Flucht vgl. Konerding 1993, S. 435-439. „[T]he question I am asking is whether in addition to the two branches of semantics known as lexical semantics and text semantics the empirical study of meaning within linguistics also needs sentence semantics. When I suggest that it does not, I will not mean that we will end up unable to say anything about sentences; a sentence, after all, can be a text.“ (Fillmore 1984, S. 125f.)
304
VI. Strukturkonstituenten von Frames
sen.34 Trotzdem verlieren weder Fillmores Kasustheorie noch der von Polenz’sche Beschreibungsansatz ihren methodischen Wert. Frames erweitern die epistemologische Perspektive, ohne Kasusrahmen und satzsemantischen Bezugsrahmen zugleich den analytisch-heuristischen Nutzen abzusprechen.35 Kommen wir noch einmal auf die Ausgangsfrage zurück, was Leerstellen sind. Sieht man einmal davon ab, dass unter verstehenstheoretischer Perspektive die Klassifizierung satzsemantischer Bezugsstellen nach semantischen Rollen zu kurz greift, lassen sich doch gute Gründe anführen, warum mögliche Bezugsstellen sprachlicher Ausdrücke einerseits und Leerstellen eines aufgerufenen Frames andererseits sehr ähnlicher Natur sind. Beide geben an, auf welche Typen von Entitäten mit einem Ausdruck prädizierend Bezug genommen werden kann. An den Bezugsstellen (a) – (s) des angeführten Beispiels dürfte deutlich geworden sein, dass man von einem einzigen sprachlichen Ausdruck ausgehend (hier: fliehen bzw. Flucht) eine Vielzahl verstehensrelevanter Wissensbezüge herstellen kann. Wichtig ist an dieser Stelle, die analytische Trennung zwischen Referenz und Prädikation aufrechtzuerhalten. So bleiben die Leerstellen (a) bis (s) nur mögliche Bezugsstellen, und als solche betreffen sie allein die Referenzfunktion von Sprachzeichen. Sobald Sprachbenutzerinnen und Sprachbenutzer nämlich einen expliziten oder impliziten Wissensbezug herstellen, also etwas über ein Bezugsobjekt (hier: „Flucht“) aussagen, geschieht dies durch eine prädikative Zuschreibung der Art x ist y. Eine Prädikation besetzt gewissermaßen eine Leerstelle, so etwa in (9) die Prädikation Derjenige, der flieht, ist ein Politologe die Leerstelle (a).36 Folglich entsprechen die Leerstellen eines Frames dem Prädikationspotential desjenigen Ausdrucks, der den Frame aufruft (vgl. Abb. 9 in Abschnitt IV 3.2). Wie das Prädikationspotential im Einzelfall ausgeschöpft wird, welches Wissen (in Gestalt prädikativer Zuschreibungen) also die Leerstellen erschließen, ist höchst variabel: „we can profitably regard a lexical item as providing ‚access‘ to knowledge systems of open-ended, encyclopedic proportions“ (Langacker 1988b, S. 58). Es liegt nun nahe, und ich hatte schon mehrmals darauf hingewiesen, Leerstellen als Fragen zu begreifen, die sich sinnvoll hinsichtlich eines Bezugsobjektes stellen lassen. Auch semantische Rollen ließen sich als mögliche Fragegesichtspunkte problemlos rekonstruieren.37 Welche Funktion Fragen 34
35 36 37
Anders formuliert: Eine Frame-Semantik ist weder eine Wortsemantik noch eine Satzsemantik im traditionellen Sinn. Richtet sie ihren Blick auf die Untersuchung von Wort- oder Satzbedeutungen, so geschieht dies unter text- oder diskurslinguistischer Perspektive (im Sinne von Busse/Teubert 1994). Dieser Befund wird auch dadurch gestützt, dass sich semantische Rollen ohne weiteres in Leerstellen eines Frames überführen lassen (vgl. Charniak 1981; Fillmore 1977a, c). Kognitiv gesehen ist demnach jede Prädikation eine Kategorisierung (im oben erläuterten Sinne). Um nur einige Beispiele aus der von Polenz’schen Liste semantischer Rolle anzuführen: „Agens“ § „Wer hat eine Handlung ausgeführt?“; „Contraagens“ § „Auf wen ist eine Handlung gerich-
3. Prädikationspotential: Leerstellen („slots“)
305
innerhalb von Frames zukommt, exemplifiziert Fillmore (1977a, S. 64) in einer seiner frühen frame-semantischen Arbeiten am Beispiel des Verbs schreiben (englisch to write). Setzt sich ein Frame aus systematisch miteinander korrelierten Konzepten zusammen, so seine Annahme, muss man jedes der Konzepte gezielt erfragen können. Der Frame, den das Verb schreiben aufruft, bündelt konzeptuelles Wissen über Entitäten wie die schreibende Person, das Schreibinstrument, die Oberfläche, auf der geschrieben wird, und das Produkt, das durch Schreiben entsteht. Since I know at least that much about writing, I know that if you tell me that you have been writing, I can, talking within the frame that you have introduced into our conversation, ask you such questions as What did you write? What did you write on? What did you write with? (Fillmore 1977a, S. 64)
Gibt man eine Antwort auf eine dieser Fragen, ruft die oder der Antwortende eine mögliche Bezugsstelle des Verb-Frames auf (Referentialisierung) und versieht sie mit einem konkreten Wert, indem sie oder er etwas über das Bezugsobjekt des Schreibens aussagt (Prädikation); das Ergebnis ist eine Proposition. Viele, jedoch keineswegs beliebige Antworten sind dabei denkbar. Weil jedes Prädikat wiederum einen Frame aufruft, eröffnen dessen Leerstellen weitere Anschlussmöglichkeiten. Lautet die Antwort auf die erste Frage beispielsweise x schreibt einen Brief,38 gibt es wiederum eine Fülle möglicher Wissensaspekte, die man erfragen könnte. Fillmore (1977a, S. 65) nennt derer vier: Who are you writing to? When are you going to send it? When do you think she will get it? Do you think she will answer it? (Fillmore 1977a, S. 65)
In der Folge haben wir es mit zwei (im Sinne räumlicher Kontiguität) benachbarten und miteinander verschränkten Frames zu tun, die beide in verschiedener Hinsicht spezifiziert oder unspezifiziert sein können. Abb. 4 fasst Fillmores Beispiel noch einmal zusammen.
38
tet?“; „affiziertes Objekt“ § „Wer oder was ist von einer Handlung oder einem Vorgang betroffen?“; „Causativ § „Worin besteht die Ursache für x?“ usw. Hierbei handelt es sich um die semantische Rolle „effiziertes Objekt“ („Produkt“, „Resultat“), vgl. von Polenz 1985, S. 171.
306
VI. Strukturkonstituenten von Frames
Who wrote? the writer
What did you write with? the implement
to write
What did you write on? the surface
What language are you writing in? ??? What does what you wrote mean? ???
What did you write? Do you think s/he will answer it? ???
When are you going to send it? ???
a letter
When do you think s/he will get it? ??? Who are you writing to? ???
Abb. 4: Leerstellen und Füllwerte/Standardwerte des Frames zu „to write“ und des Sub-Frames zu „a letter“ nach Fillmore 1977a, S. 64-65
Aus den Antworten auf die Fragen des Brief-Frames leiten sich abermals neue Fragen ab. Ferner können Akzentuierungen bestimmter Aspekte innerhalb des Frames dazu führen, dass die Fragen (ebenso wie die korrespondierenden Antworten) konkreter ausfallen. Man denke an eine Akzentuierung der zeitlichen Dimension, so dass die Tätigkeit des Briefe-Schreibens in der Zukunft und in der Vergangenheit in den Vordergrund rücken könnte: How many earlier letters did you write? Who did you send those letters to? (Fillmore 1977a, S. 65)
Neben den rekurrenten Einbettungsmöglichkeiten von Frames in Frames kommt es mir insbesondere auf die Funktion von Fragen an. Steigt der Abstraktionsgrad von Frames, so fallen auch jene Fragen abstrakter aus, die sich sinnvollerweise zum jeweiligen Bezugsobjekt stellen lassen. Außerdem gilt: Proportional zum steigenden Abstraktionsgrad der Fragen sinkt die Anzahl möglicher Fragen. Grundsätzlich scheint also die Möglichkeit zu bestehen, die Menge möglicher Fragen so zu strukturieren und in Teilmengen zu gruppieren, dass sich letztlich eine überschaubare Menge an Fragen resp. Leerstellen ergibt. Diesen Gedanken greife ich im nächsten Kapitel wieder auf. Weil man ferner alle Wissensaspekte (also explizite und implizite Prädikationen bzw. Füllwerte und Standardwerte), die ein Frame bündelt, als Ant-
3. Prädikationspotential: Leerstellen („slots“)
307
worten auf implizite Fragen begreifen kann, gilt, was Minsky folgendermaßen formuliert:39 Examinations of linguistic discourse leads […] to a view of the frame concept in which the „terminals“ [„slots“/„Leerstellen“, AZ] serve to represent the questions most likely to arise in a situation. To make this important viewpoint more explicit, I will spell out this reinterpretation: A Frame is a collection of questions to be asked about a hypothetical situation; it specifies issues to be raised and methods to be used in dealing with them. (Minsky 1975, S. 246)
Der Begriff „Situation“ bleibt hier freilich vage; nach den vorausgegangenen Überlegungen scheint stattdessen die Redeweise von „Bezugsobjekt“ (oder eben „aktivierten Frame“) angemessener. Nichtsdestoweniger zeigt Minsky hier eine Perspektive auf, die für die weitere Argumentation leitend sein wird. Leerstellen von Frames geben das Prädikationspotential eines sprachlichen Ausdrucks an, und zwar in Gestalt möglicher Bezugsstellen, die sich als Fragen reformulieren lassen. Treten Wissens- oder Kohärenzlücken auf, dienen Fragen als Instrument zielgerichteter Erkenntnisgewinnung (vgl. Hintikka/Hintikka 1985; Konerding 1993, S. 139-217). Fragen helfen, Wissen zu erschließen, sie kontrollieren oder regulieren die Bildung verstehensrelevanten Wissens.40 Die Funktion von Fragen ist dabei im Format der Proposition (im Sinne Searles) bereits angelegt. Denn jedes sprachliche Bezugnehmen (Referieren) auf eine Entität bedingt ein Prädizieren (Aussagen-Über), wodurch das Bezugsobjekt aber noch lange nicht hinreichend bestimmt ist: Jede Prädikation provoziert weitere Prädikationen. Bezugsobjekte sprachlicher Ausdrücke sind notorisch unterbestimmt, doch Sprachbenutzer und Sprachbenutzerinnen können prinzipiell Nicht-Gewusstes, d.h. nur Unterstelltes erfragen. Auf diese Weise vergegenwärtigt er sich das Problem und sucht nach entsprechenden Lösungen. Das Lösen von Problemen bzw. das Bewältigen von Aufgaben durch einen Aktanten ist also dadurch gekennzeichnet, daß der Aktant bestimmte Fragehandlungen vollzieht, die die Suche nach einem Lösungsweg für das Problem steuern. (Konerding 1993, S. 144)
Wie ermittelt man aber jene Fragen, die ein Frame bündelt? Klaus-Peter Konerding (1993) hat hierfür ein Verfahren entwickelt, das ich im nächsten Abschnitt erläutere.
39 40
Vgl. auch Charniak 1976, S. 360. „Die bisher nicht anerkannte Information wird durch die Frage, deren Antwort sie bildet, in die Wirklichkeit versetzt. In diesem Sinne wird der Prozeß der Aktivierung stillschweigenden Wissens durch die Fragen kontrolliert, die dazu dienen, diese Information in die Wirklichkeit zu befördern.“ (Hintikka/Hintikka 1985, S. 235; zitiert nach Konerding 1993, S. 146.
308
VI. Strukturkonstituenten von Frames
3.2 Hyperonymtypenreduktion: zur Ermittlung von Leerstellen Nachdem sich gezeigt hat, dass sowohl Fillmores Kasustheorie als auch deren Erweiterung durch von Polenz semantisch reduktionistisch verfahren, stehen wir an einem Scheideweg. Man könnte argumentieren, dass Klassifizierungsversuche möglicher Bezugsstellen sprachlicher Ausdrücke grundsätzlich zum Scheitern verurteilt sind.41 Ich teile diese fundamentale Skepsis nicht und will kurz die Gründe dafür darlegen. Lassen sich einem Bezugsobjekt eines sprachlichen Ausdrucks beliebige Prädikate gleichermaßen zuschreiben? Ein fundamentaler Skeptiker müsste die Frage positiv beantworten. Dies zöge allerdings erhebliche Konsequenzen nach sich, u.a. die, dass zwischen metaphorischen und nicht-metaphorischen Gebrauchsweisen von Wörtern nicht mehr hinreichend differenziert werden könnte. Eine Metapher zu identifizieren, gelingt nämlich nur unter der Voraussetzung, dass es qualitative Beschränkungen usueller prädikativer Zuschreibungen gibt. So kann zwar die Größe eines dinglichen Bezugsobjektes mit unendlich vielen Prädikaten spezifiziert werden;42 dem Bezugsobjekt ließen sich aber dennoch nicht alle Eigenschaften gleichermaßen attribuieren. Schauen wir uns hierzu das Beispiel (10) (das uns schon in Abschnitt III.1.4 begegnet ist) sowie zwei weitere Propositionen an. (10) Der Fels ist schwanger. (11) Der Fels ist menschengroß. (12) Der Fels ist erklimmbar. Der qualitative Unterschied zwischen der in (10) vollzogenen Prädikation und den beiden anderen besteht darin, dass in (10) dem Bezugsobjekt des Nomens Fels eine Eigenschaft zugeschrieben wird, die es aufgrund seiner dinglich-unbelebten Natur nicht haben kann. Dass ein Fels nicht schwanger sein kann, hängt demnach eng mit der Annahme zusammen, dass ein Fels eine dinglich-unbelebte Entität ist – allgemeiner gesprochen: mit einer vorausgesetzten Alltagstheorie der Sprachbenutzenden.43 Es mag eine Sprachgemeinschaft geben, z.B. ein ozeanisches Naturvolk, die bzw. das diese Annahme nicht teilt und (10) somit nicht als metaphorischen Ausdruck interpretiert, 41
42 43
Ich hatte bereits Croft (1991, S. 155ff.) und Langacker (1987, S. 284) als Vertreter dieser Position erwähnt. Ihre Kritik richtet sich allerdings zuvorderst auf den valenzgrammatisch beschränkten Zugriff auf sprachliche Bedeutungen, und man könnte deswegen die Ansicht vertreten, dass sie zunächst ‚nur‘ semantische Betrachtungen aus diesen – noch syntaktisch motivierten – Fesseln lösen wollen. Zum Beispiel: x ist groß/klein/ein Meter breit/21,34 m3 im Volumen usw. Diese Annahme hat freilich selbst die Gestalt einer Prädikation. Eine Alltagstheorie besteht demnach wesentlich aus einer Menge von Propositionen, die in einer Sprach- und Kulturgemeinschaft als wahr gelten.
3. Prädikationspotential: Leerstellen („slots“)
309
etwa weil Felsen als Inkarnationen weiblicher Fruchtbarkeit gelten. In einer solchen Sprachgemeinschaft würde dann eine Alltagstheorie vorherrschen, die sich im begrifflichen Gebrauch derart niederschlägt, dass Prädikationen vom Typ (10) Normalfallregularitäten repräsentierten. Andere Prädikationen, vielleicht die in (11) und (12) vollzogenen, würden dagegen möglicherweise als metaphorisch gelten. Searle hat dieses Phänomen, ohne den Zusammenhang mit einer vorausgesetzten Alltagsontologie zu berücksichtigen, folgendermaßen beschrieben:44 Der Gegenstand [auf den ein sprachlicher Ausdruck referiert, AZ] muß zu einem solchen Typus oder einer solchen Kategorie gehören, dass der Prädikatsausdruck oder seine Negation ihm zukommen oder nicht zukommen können. Das Korrelat eines jeden gegebenen Prädikats ist eine Kategorie oder ein Typus von Gegenständen, von denen jenes Prädikat wahrheitsgemäß oder nicht wahrheitsgemäß prädiziert werden kann. Das Korrelat des Prädikats „ist rot“ zum Beispiel ist die Vorstellung farbiger (oder färbbarer) Gegenstände. „Ist rot“ kann nur von Objekten prädiziert werden, die farbig oder färbbar sind. Von Fenstern können wir „rot“ wahrheitsgemäß oder nicht wahrheitsgemäß prädizieren, von Primzahlen dagegen nicht. Wir können diesen Sachverhalt folgendermaßen formulieren: „ist rot“ setzt „ist farbig“ voraus. (Searle 1979, S. 193)
„Wahrheitsgemäß“ heißt hier so viel wie „sinnvoll“ oder „regulär“ im Sinne Konerdings, d.h.: „in Übereinstimmung mit dem üblichen Sprachgebrauch und dem geteilten, in Interaktionsformen begründeten Wissen in einer Sprachgemeinschaft“ (Konerding 1996, S. 80). Das, was innerhalb einer Sprachgemeinschaft als „wahrheitsgemäße“ oder „sinnvolle“ Prädikation Geltung beanspruchen darf, ist folglich der Maßstab dafür, wo die Grenze zwischen metaphorischen und nicht-metaphorischen Gebrauchsweisen verläuft. Gäbe es ausschließlich „wahrheitsgemäße“ Prädizierungen, gäbe es keine Metaphern. Genauso gut, wie man Aussagen über die Größe und die materiale Beschaffenheit von Felsen fällen würde, könnte man dann von aufgeweckten oder blonden Felsen sprechen. Dies widerspricht aber nicht nur unserer Sprachgewohnheit; offensichtlich spielt unser intuitives Wissen darüber, welche Prädikate sich typischerweise einem Bezugsobjekt zu- oder absprechen lassen, eine epistemologisch nicht unerhebliche Rolle beim Sprachverstehen überhaupt (vgl. Konerding 1993, S. 164). Nur: Wie ermittelt man, welche Prädizierungen innerhalb einer Sprachgemeinschaft und zu einem bestimmten Zeitpunkt den Status „wahrheitsgemäßer“ Prädizierungen haben? Klaus-Peter Konerding (1993, 139-217) hat ein linguistisch begründetes und lexikographisch-lexikologisch motiviertes 44
Wenn Fillmore an einer Stelle bemerkt, dass es innerhalb des Frames, den das Wort Brief aufruft, möglich ist, manche Entitäten zu thematisieren, andere hingegen nicht, ist er durch einen ganz ähnlichen Gedanken geleitet: „Notice that if, instead, I were to ask a question like What time is it? or make a comment like I have got a bad toothache, I would not be talking within the frame you introduced; I would be changing the subject.“ (Fillmore 1977a, S. 64)
310
VI. Strukturkonstituenten von Frames
Verfahren entwickelt, um Leerstellen eines Frames in Gestalt von Fragen systematisch zu erzeugen.45 Dieses Verfahren beruht im Wesentlichen auf der so genannten Hyperonymtypenreduktion, welche ich im Folgenden kurz erläutern möchte. Die Einbindung zeichen- und schematheoretischer Befunde der letzten Kapitel wird dabei deutlich machen, dass die Hyperonymtypenreduktion im vollen Einklang mit der bislang entworfenen holistischkognitiven Semantikkonzeption steht. Ausgangspunkt bildet die schematheoretische Beobachtung, dass sich Hyponyme und Hyperonyme so verhalten wie Instanzen zu Schemata. In Abschnitt IV. 2.1 habe ich im Anschluss an Langacker von einer vertikalen semantischen Dimension bzw. von Instantiierungsbeziehungen gesprochen. Diese werden nun aus folgendem Grund interessant: The conceptual import of this relationship, I suggest, is that an instantiation is fully compatible with the specifications of its schema, but is characterized in finer detail […]. The schema [TREE], for example, defines a category that is instantiated by a variety of more specific concepts, all of them compatible with its specifications ([OAK], [MAPLE], [ELM], and so on). These instantiations elaborate the schema in different ways along various parameters, to yield more precisely articulated notions. (Langacker 1987, S. 68)
Dass eine Instanz (Hyponym) mit Spezifikationen desjenigen Schemas (Hyperonyms), dessen Instanz sie bilden, semantisch voll kompatibel sei, sie jedoch mehr Details enthalte, bedeutet, dass Hyponyme und Hyperonyme grundsätzlich dieselben Bezugsstellen aufweisen, die prädikativen Zuschreibungen jedoch hinsichtlich ihrer Informationsdichte variieren. Frame-theoretisch formuliert: Hyponyme und Hyperonyme rufen zwar denselben Frame auf, besetzen dessen Leerstellen aber mit Füllwerten und Standardwerten unterschiedlichen Abstraktions- und mithin Spezifikationsgrades.46 Erinnert sei an folgende Hierarchie von Schema-Instanzbeziehungen aus Abschnitt IV. 2.1: [GLAMIS] Ⱥ [GOLDEN RETRIEVER] Ⱥ [HUND] Ⱥ [VIERBEINER] Ⱥ [TIER] Ⱥ [LEBEWESEN]. Können wir beispielsweise den Ausdruck Tier semantisch hinsichtlich der äußeren Gestalt, der Lebensbedingungen, der biologischen Eigenschaften und materialen Charakteristika so spezifizieren, dass sich das Bezugsobjekt hinreichend von Bezugsobjekten anderer Ausdrücke (wie z.B. Mensch) unterscheidet, gelingt hinsichtlich derselben Wissensaspekte ebenso eine semantische Unterscheidung zwischen Bezugsobjekten von 45
46
Konerdings Verfahren darf bislang als einzige systematische und linguistisch fundierte Methode gelten. In anderen Studien wurde entweder auf ein Ermittlungsverfahren von Leerstellen gänzlich verzichtet (wie generell in der angloamerikanischen Literatur) oder aber die Kategorienbildung mangelhaft begründet (wie in den Arbeiten von Wegner (1984, 1985) und Müske (vgl. 1992, S. 131ff.)). Vgl. auch Fillmore 1982a, S. 132. Und Charniak bemerkt: „[S]lots are inherited via the isa hierarchy. That is, if dogs are mammals, and mammals have a slot for representing the head of the mammal, then so do dogs, by virtue of the fact that they are mammals.“ (Charniak 1981, S. 288)
3. Prädikationspotential: Leerstellen („slots“)
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Wörtern wie Katze oder Hund. Im letzten Fall würden die semantischen Spezifikationen nur konkreter ausfallen (man denke etwa an die spezifische äußere Gestalt, die spezifischen Lebensbedingungen usw. eines Hundes in Abhebung von einer Katze). Gelänge es folglich, eine begrenzte Menge höchster Hyperonyme ausfindig zu machen, ließen sich mögliche Bezugs- bzw. Leerstellen von beliebigen sprachlichen Ausdrücken dadurch ermitteln, dass sie auf ein solches höchstes Hyperonym zurückgeführt werden. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Idee einer Hyperonymtypenreduktion nun konkretisieren. Höchste Hyperonyme bilden Typen, insofern sich ihr Prädikationspotential auf Hyponyme vererbt.47 Wie ermittelt man aber höchste Hyperonyme? Konerding erläutert sein Vorgehen so: Die gesuchten Typen ergeben sich über Tendenzen von Hyperonymtypenreduktionen in den Wörterbüchern. […] Die Hyperonyme treten typischerweise als Hauptelement (Kopf) von Nominalphrasen auf; ist ein Hyperonym lesartbezogen – damit ist also Polysemie/Homonymie berücksichtigt – identifiziert, wird über das Lemma des Hyperonyms lesartbezogen das nächste Hyperonym identifiziert etc. Dies wird solange fortgeführt, bis eine weitere Reduktion problematisch wird. Die der Tendenz nach häufigsten Hyperonyme, die als Endglieder von Reduktionsketten auftreten, werden als Kandidaten für die gesuchten Typen festgehalten. (Konerding 1993, S. 173f.)
Dies geschieht im Wesentlichen auf der Basis der zweiten Auflage des Duden Deutsches Universalwörterbuch (1989).48 Die zu erstellende Hyperonymtypologie bezieht sich somit auf das standardsprachliche Gegenwartsdeutsch.49 Woran erkennt man, dass das Endglied einer Hyperonymreduktion erreicht ist? Konerding zufolge wird eine Reduktion dann problematisch, wenn innerhalb einer Reduktionskette Hyperonyme zirkulär aufeinander verweisen (Konerding 1993, S. 174). So wird im Duden Deutsches Universalwörterbuch (1989) beispielsweise das Wort Bereich durch das Hyperonym Raum erklärt, von Raum gelangt man zu Ausdehnung, von dort aber wieder zurück zu Bereich. Bereich darf deswegen als Endglied der Reduktionskette firmieren. 47
48 49
Schon Langacker (1991a, S. 61-64) postulierte, dass es so genannte „type hierarchies“ gebe. Diese lassen sich als semantische Vererbungshierarchien im gerade erläuterten Sinn begreifen. Jedoch scheint Langacker nicht das bedeutungstheoretische Potential erkannt zu haben, das das Konzept von „type hierarchies“ in sich birgt. Fallbeispiele zum erläuterten Verfahren finden sich in Konerding 1993, S. 173 ff.; Fraas 1996a, b; Lönneker 2003a, S. 84 ff.; Klein/Meißner 1999. Ohne dass Konerding ausdrücklich darauf hinweist, liegt es nahe anzunehmen, dass sich die Ergebnisse der Hyperonymreduktion historisch wandeln, dass also auch das Prädikationspotential eines Ausdrucks diachron variabel ist. Sprachgebrauchsbasierte Bedeutungsveränderungen spiegeln sich in veränderten Wortschatzstrukturen wider, so dass die Endglieder hyperonymer Reduktionsketten mit hinreichendem Zeitabstand andere sein dürften. Und das heißt: Was sich von einem Bezugsobjekt eines bestimmten Ausdrucks zu einem Zeitpunkt z1 nicht usuell prädizieren lässt, kann unter Umständen zu einem Zeitpunkt z2 zur Menge der Standardprädikationen gehören. Vergleiche hierzu die Lexikalisierungsbeispiele bzw. ‚De-Metaphorisierungen‘ in Keller/Kirschbaum 2003 (etwa: S. 55f.).
312
VI. Strukturkonstituenten von Frames
Derartige Hyperonymreduktionen führt Konerding in großer Anzahl durch, wobei er aus zwei Gründen ausschließlich mit substantivischen Hyperonymen arbeitet. Zum einen treten Hyperonyme in den Bedeutungserklärungen von Wörterbüchern üblicherweise als Hauptelemente von Nominalphrasen auf (vgl. letztes Zitat). An einer anderen Stelle verweist Konerding zudem darauf, dass der Nominalwortschatz dazu diene, außersprachliche Entitäten zu benennen (Konerding 1993, S. 162), und dass „alles, was topikalisierbar ist und damit zum Gegenstand explizit kategorisch-prädikativer Analyse gemacht werden kann, nominalisierbar ist“ (Konerding 1997, S. 65). Dieser Sachverhalt steht im engen Zusammenhang mit der erläuterten analytischen Unterscheidung zwischen Referenz und Prädikation: Topikalisierte Nominale in syntaktisch unmarkierten Sätzen dienen typischerweise dazu, das Referenzobjekt zu identifizieren und mithin einen Frame zu aktivieren. - Dauer/Zeitabschnitt/Zeitraum Ort/Platz/Stand/Gebiet/Bereich/Fach/Sektor/Position (innerhalb der Raumes, Geländes) - Etwas Masse/Substanz/Stoff Gegenstand/Ding Vorrichtung/Konstruktion/Gerät - Tier/Pflanze/Organismus/Lebewesen - Person/Mensch/jemand/Wesen - Vorgang/Ereignis - Handlung/Handeln/Verfahren Mitteilung - Einrichtung Form menschlichen Zusammenlebens/Bund/Verband/Vereinigung/Gruppe/Bewegung - Lehre/Lehrgebäude/Gedanken/Glaubenssystem/Kenntnis/Wissen - Teil von/Stück von/Abschnitt von/(lokalisierbarer) Bereich - Gesamtheit/Bestand/Menge/Ganze/Einheit/Zusammenstellung/Zusammenfügung/Zusammenordnung - Zustand/Beschaffenheit/Verhalten/Fähigkeit/Verfahrensweise/Hang/Neigung/Art und Weise Tab. 1: Endglieder von Hyperonymreduktionen,50 zitiert nach Konerding 1993, S. 175-176
50
Aus Konerdings Liste geht nicht hervor, inwiefern etwa unter dem ersten Endglied „Dauer/Zeitabschnitt/Zeitraum“, also einer zeitlichen Dimension, Hyperonyme wie „Ort“, „Platz“
3. Prädikationspotential: Leerstellen („slots“)
313
Konerdings Ergebnis der Hyperonymtypenreduktion ist beachtlich. Nur eine relativ geringe Menge an Substantiven im deutschen Wortschatz treten als Endglieder der Reduktionsketten auf. Gruppiert man diese nach semantischer Ähnlichkeit, so ergeben sich die in Tab. 1 zusammengetragenen Endglieder (Konerding 1993, S. 175-176).51 Auf der Grundlage dieses empirischen Ergebnisses fasst Konerding verschiedene Substantive zu so genannten „Substantivtypen“ zusammen. Das Resultat ist eine Liste von semantisch ähnlichen Gruppen, die er in primäre und sekundäre Typen unterteilt. Sekundäre Typen unterscheiden sich von primären dadurch, dass sie meronymische Beziehungen herstellen. Die Substantivtypen entsprechen höchsten Hyperonymen, also jenen Nominalen, auf die sich dem Anspruch nach alle anderen nominalisierbaren Wörter hyperonymisch zurückführen lassen. Weil die entstandene Substantivtypologie zugleich als Typologie für zu erstellende (Matrix-)Frames dient, sei auch sie hier wiedergegeben (vgl. Tab. 2). Primäre Typen: - Gegenstand (Konkretum), subklassifiziert als: natürliche Art (Kontinuativum/Diskontinuativum) Artefakt (Kontinuativum/Diskontinuativum) - Organismus - Person/Aktant - Ereignis - Handlung/Interaktion/Kommunikation - Institution/soziale Gruppe - (Teil der) Umgebung (des Menschen) Sekundäre Typen - Teil/Stück (von) - Gesamtheit/Bestand/Menge/Ganze (von) - Zustand/Eigenschaft (von) Tab. 2: Typologie von Substantiven (Basis für spätere Matrixframes), zitiert nach Konerding 1993, S. 178
Welche Relevanz hat diese Typologie für unseren frame-semantischen Zusammenhang? Setzen wir voraus, dass sich erstens das Prädikationspotential
51
usw., also Ausdrücke, die sich auf räumliche Größen beziehen, subsumiert werden können. Typographisch deutet eine solche Subsumption zumindest die eingerückte zweite Zeile an. Kleinere Zwischenschritte, wie z.B. eine Zusammenfassung von den ermittelten Hyperonymen zu Substantivtypen, habe ich hier ausgelassen, vgl. dazu Konerding 1993, S. 176ff. Hier finden sich auch zahlreiche Detailerläuterungen zum durchgeführten quantitativen Verfahren, die für meine weitere Argumentation nicht von Relevanz sein werden.
314
VI. Strukturkonstituenten von Frames
eines sprachlichen Ausdrucks (also die Leerstellen desjenigen Frames, den dieser Ausdruck aufruft) auf hyperonyme Ausdrücke vererbt und dass zweitens die in Tab.2 aufgeführten Substantive höchste, nicht weiter reduzierbare Hyperonyme darstellen, ergibt sich daraus eine wichtige frame-theoretische Konsequenz: Die Leerstellen desjenigen Frames, den ein beliebiges Wort aufruft, entsprechen den Leerstellen des Frames jenes (in Tab. 2 genannten) Substantivtyps, auf den sich der Ausdruck per Hyperonymreduktion zurückführen lässt. Der entscheidende zweite Schritt besteht nun darin, mögliche Bezugsstellen der in Tab. 2 aufgeführten höchsten Hyperonyme bzw. Substantivtypen zu bestimmen. Wie weiter oben ausgeführt, verstehe ich unter Bezugsstellen Wissensaspekte, die sich einem Bezugsobjekt sinnvollerweise („wahrheitsgemäß“ im Sinne Searles) zuschreiben lassen. Als Prädikatoren kommen demnach üblicherweise erwartbare, usuelle Prädizierungen in Frage, so dass die zentrale Aufgabe darin besteht herauszufinden, mit welchen Prädikatoren die ermittelten Substantivtypen verknüpft werden können. Um die jeweils relevanten Prädikatorenschemata ausfindig zu machen, greift Konerding auf Kategorienbildungen in der verbsemantischen Studie von Ballmer und Brennstuhl (1986) zurück.52 Verbschemata fungieren dort als Prädikatorenschemata. Die Auswahl des relevanten Prädikatorenschemas für den jeweils in Frage stehenden Substantivtyp erfolgt über Entscheidungsfragen der Art: „Läßt sich das Verb (bzw. das Verbschema) Y der Kategorie Z sinnvoll von einem typischen Bezugsgegenstand des Substantivs X prädizieren […]?“ (Konerding 1993, S. 165) Verbale Prädikatoren der deutschen Standardsprache werden so daraufhin geprüft, für welche Bezugsobjekte der Substantive aus Tab. 2 sie als prädizierbar gelten dürfen. Die daraus resultierenden Prädikatorenschemata fasst Konerding in Synonymiegruppen zusammen und gewichtet sie nach ihrer Relevanz. Ein letzter Schritt besteht schließlich darin, die Valenzleerstellen der Verbschemata in Fragen zu transformieren, indem die geforderten Ergänzungen und Angaben über Fragen bestimmt werden.53 Ist dies geschehen, werden die Fragen thematisch gruppiert und in einer (nicht zwingenden) Reihenfolge angeordnet (Konerding 1993, S. 190ff.). Jedem Endglied der Hyperonymreduktion (Tab. 2) können auf diesem Weg Listen von Fragen zugeordnet werden, wodurch so genannte „Matrixframes“ entstehen: „Funktionen höheren Typs […], die erst durch Substitution von Substantiven des zulässigen Typs in konkrete Frames überführt werden können“ (Konerding 1993, S. 200). Das heißt: Führt man ein beliebiges Substantiv per Hyperonymreduktion auf ein höchstes Hyperonym 52 53
Vgl. die detaillierte Darstellung hierzu in Konerding 1993, S. 149-173. Eine etwas ausführlichere Zusammenfassung des Vorgehens findet sich auch in Fraas 1996a, S. 16ff.
3. Prädikationspotential: Leerstellen („slots“)
315
zurück, gewinnt man automatisch die Leerstellen des mit dem Substantiv assoziierten Frames, da ja diese Leerstellen mit den Leer- bzw. Bezugsstellen des höchsten Hyperonyms übereinstimmen. Mögliche Leerstellen des Substantiv-Frames entsprechen sinnvollen Fragen, die sich zu einem Bezugsobjekt stellen lassen. Das Prädikationspotential eines sprachlichen Ausdrucks, von dem vorhin die Rede war, nimmt also die Gestalt strategisch sinnvoller Fragen an, die die Aktivierung verstehensrelevanten Wissens steuern. Frames dienen, in den Worten von Fraas (1996a, S. 26), als „Raster für die Vertextung von Wissen“, als „Kontextualisierungspotential“ eines Ausdrucks. Bevor ich das Verfahren an einem Beispiel veranschaulichen möchte, noch ein Wort zu den ermittelten Matrixframes. Ihre Anzahl resultiert, wie beschrieben, aus der Anwendung der Hyperonymtypenreduktion. Tab. 2 zufolge müsste es also insgesamt elf Matrixframes geben. Im Zuge empirischer Anwendungen hat es sich allerdings als sinnvoll herausgestellt, kleinere Korrekturen vorzunehmen.54 Zum einen schlägt Konerding (1993, S. 185) eine Verfeinerung des Hyperonymtyps „Person“ vor. Neben „Person mit temporären oder dauerhaften Eigenschaften bzw. Dispositionen“ setzt er zusätzlich den Hyperonymtyp „Person in berufsbezogener Rolle“ an. Des Weiteren erwies es sich umgekehrt für den Hyperonymtyp „Umgebung“ als sinnvoll, ihn in den Typus „Gesamtheit/Menge (von)“ einzugliedern. Schließlich wurde der Substantivtyp „Gegenstand“ in drei (anstatt zwei wie in Tab. 2) Untertypen unterteilt, so dass schlussendlich zwölf Matrixframes übrig bleiben.55 Diese haben sich inzwischen in Lönnekers umfassender Korpusanalyse auch empirisch bewährt.56
54
55
56
Vgl. Lönneker 2003a, S. 86ff.; Konerding 1993, S. 181ff. Konerding geht auf Fragen ein, die ich an dieser Stelle nicht weiter vertiefen kann. Insbesondere rechtfertigt er den Einsatz des Matrixframes „Handlung“. Dass „Person“ einen eigenen Matrixframe bildet (und nicht im Matrixframe „Organismus“ aufgeht, wie man vermuten könnte), liegt offensichtlich in der Wichtigkeit des Personen-Konzepts begründet; es lässt sich auf der Basis von Lexikoneinträgen hyperonymisch nicht weiter reduzieren. Meines Wissens gehen Konerding und Lönneker auf diesen Punkt nicht ein. Bei neun Matrixframes handelt es sich um „primäre Typen“, dazu gehören: (1) „Gegenstand I: natürliche Gegenstände“; (2) „Gegenstand II: Artefakt“; (3) „Gegenstand III: Stoff“; (4) „Organismus“; (5) „Person I: mit temporärer/dauerhafter Eigenschaft bzw. Disposition“; (6) „Person II: in berufsbezogener Rolle“; (7) „Ereignis“; (8) „Handlung/Interaktion/Kommunikation“; (9) „Institution/soziale Gruppe“. Die restlichen drei Matrixframes sind den „sekundären Typen“ zuzurechnen: (10) „Teil/Stück von“; (11) „Gesamtheit/Bestand/Menge (von)“; (12) „Zustand/Eigenschaft (von)“. – Offen bleibt in dieser Typologie, inwiefern in (9) „Gruppe“ nicht als Pluralität von Personen begriffen werden kann, die in einem spezifischen Verhältnis zueinander stehen. Man muss sich klarmachen, dass die vorgestellte Typologie eine Art Alltagsontologie widerspiegelt, wie sie in Lexika kodifiziert ist. So kommt hier nicht zum Ausdruck, dass etwa die Physik „Gegenstände“ wohl als „Zustände“ begreifen würde. Zu Verwirrungen führt leider, dass sowohl in Konerdings (1993, S. 178) als auch in Lönnekers (2003a, S. 86) Typologie die Nummerierungen der Matrixframes fehlerhaft sind.
316
VI. Strukturkonstituenten von Frames
Lönneker weist allerdings zu Recht darauf hin, dass nicht alle Matrixframes gleichberechtigt nebeneinander stehen, wie Konerdings Analyse es nahe zu legen scheint. So zeigt sich, daß es einige Subslots [d.h. Leerstellen/Frageaspekte, AZ] gibt, die in allen Frames auftauchen, und viele, die in mehreren Frames vorhanden sind. Dies ermöglicht es, die Frames in eine Hierarchie zu bringen, damit eine größtmögliche Ähnlichkeit der Struktur gewährleistet wird bzw. die Redundanz (hier im Sinne von doppelter Erfassung von Frame-Elementen) minimiert wird. In der Hierarchie „erbt“ ein Subframe alle Informationen seines Superframes bzw. (rekursiv) aller seiner Superframes […]. (Lönneker 2003a, S. 89)
Eine solche Frame-Hierarchie trägt dem Umstand Rechnung, dass Matrixframes keine autonomen, selbstgenügsamen Einheiten darstellen, sondern vielmehr in vielfacher Weise miteinander verbunden bzw. aneinander anschließbar sind, weil sie gemeinsame Leerstellen aufweisen. Besonders wichtig sind dabei vertikale, also hierarchische Beziehungen, da hierarchiehöhere Frames ihre Leerstellen an hierarchieniedrigere Frames vererben. Die Frame-Hierarchie gliedert sich Lönnekers Analyse zufolge in fünf Ebenen (vgl. Abb. 5). Die einseitig gerichteten Pfeile zeigen in Abb. 5 das Vererbungsverhältnis an.
Entität
beständiges Objekt
Rolle/Sichtweise auf eine Entität
Matrixframes
primäres Objekt
Gegenstand natürlicher Art
Organismus
Kontinuativum/ Stoff
Institution/ soziale Rolle
Person in einer Rolle
Person mit Beruf
Artefakt
Gesamtheit
Zustand
Teil
Ereignis
Handlung
Abb. 5: Frame-Hierarchie nach Lönneker 2003a, S. 93, bzw. 2005, S. 134
Lönnekers Arbeit (2003a), aber auch die Einzelfallstudien von Fraas (1996a, b) und Klein/Meißner (1999) illustrieren, dass sich Konerdings Verfahren zur
3. Prädikationspotential: Leerstellen („slots“)
317
Ermittlung von Leerstellen ohne weiteres korpusanalytisch anwenden lässt. Allerdings stehen bislang allein so genannte „Autosemantika“ im Zentrum empirischer Betrachtungen. Dies hängt damit zusammen, dass Konerding Hyperonymreduktionen auf Verben, Adjektive und Substantive einschränkt, Funktionswörter also ausschließt.57 Gleichwohl bemerkt er, dass man Wörter jeder Wortart nominalisieren könne, wenngleich damit oftmals ein Bedeutungsverlust einhergehe. Für das Folgende wird […] die Zusatzannahme gemacht, daß diejenigen nichtsubstantivischen Prädikatoren, die sich nicht theoriengeleitet aufgrund von morphologischen oder syntaktischen Regeln in Nominale überführen lassen sollten, in jedem Falle durch eine Paraphrase in Nominalform approximierbar sind. (Konerding 1993, S. 203)
Dass Funktionswörter bislang nicht Gegenstand korpusanalytischer FrameStudien geworden sind, liegt nicht daran, dass es unmöglich wäre, sie zu nominalisieren, um sie einer Hyperonymreduktion zu unterziehen. Wie vorhin dargestellt, lassen sich Funktionswörter problemlos in Nominale überführen, indem man sie nämlich metasprachlich thematisiert. Genau darin scheint aber das Problem zu liegen: In den Bedeutungsangaben von Wörterbüchern finden sich kaum nominale Hyperonyme, die Funktionswörter erklären, sondern fast ausschließlich metasprachliche Thematisierungen.58 Eine Hyperonymreduktion erweist sich somit als schwierig oder sogar unmöglich. Das bedeutet nicht, dass Funktionswörter keinen konzeptuellen Gehalt aufweisen, sondern dass vielmehr ergänzende empirische Methoden, wie beispielsweise Kookkurrenzanalysen (vgl. Fraas 2001, Heringer 1999), heranzuziehen sind, um diesen konzeptuellen Gehalt zu analysieren. Funktionswörter lassen sich aber auch mithilfe von Frame-Analysen (im hier dargestellten Sinn) untersuchen.59 Die Frame-Analyse kann sich nur nicht 57
58
59
Konerding 1996, S. 80. Nominalisierung versteht Konerding hier im Sinne von Langacker (1991b, S. 97ff.). Langacker selbst thematisiert allerdings allein Nominalisierungen von Verben, und er gibt keinen Grund an, warum sich nicht auch Wörter anderer Wortarten nominalisieren lassen. In diesem Sinne ergänzt Konerding an einer anderen Stelle, dass neben Verben und Adjektiven ebenso „Präpositionalgruppen, phrasen- und satzwertige Sytagmen, ganze Texte nominalisiert werden können“, so dass „alles, was syntaktisch-funktional topikalisierbar ist, auch nominalisierbar ist“ (Konerding 1997, S. 64). Vgl. etwa die metasprachliche Bedeutungsangabe von vielleicht im Duden Deutsches Universalwörterbuch (1989): „vielleicht: […] relativiert die Gewißheit einer Aussage, […] relativiert die Genauigkeit der folgenden Maßangabe“. Metasprachlich scheinen die meisten Funktionswörter erklärt zu werden, so auch die Konjunktion oder, die ich vorhin thematisiert hatte: „oder […] drückt aus, daß von zwei oder mehreren Aussagen jeweils nur eine in Frage kommt“. Die schwierigste Gruppe in der Sammelkategorie „Funktionswörter“ dürften Interjektionen darstellen. Sie lassen sich weder einer Hyperonymreduktion unterziehen noch ist es möglich, über Kookkurrenzanalysen Aufschluss über ihren konzeptuellen Gehalt zu bekommen. Ob dieser Befund Grund genug ist, Interjektionen Bedeutungshaftigkeit überhaupt abzusprechen, scheint mir dennoch zweifelhaft zu sein. Wir haben es hier offensichtlich eher mit einem methodisch-analytischen Problem zu tun.
318
VI. Strukturkonstituenten von Frames
die Methode der Hyperonymreduktion zu nutze machen, und ihr steht infolgedessen keine umfassende Liste mit Leerstellen (in Gestalt von Matrixframes) zur Verfügung. Dennoch kann sie zu Ergebnissen führen, die beispielsweise Aufschluss über den Status und die semantische Einheit (im Sinne Langackers) eines Funktionswortes geben. Am Beispiel des Partikels wahrscheinlich werde ich in Abschnitt VI.5.3 den Nutzen einer solchen reduzierten Frame-Analyse demonstrieren. 3.3 Eine Beispielanalyse Um das erörterte Ermittlungsverfahren von Leerstellen eines Frames exemplarisch zu veranschaulichen, sollen im Folgenden am Beispiel des Wortes Heuschrecke eine Hyperonymtypenreduktion durchgeführt sowie die relevanten Leerstellen des entsprechenden Matrixframes bestimmt werden. Auf die Ergebnisse werde ich im Rahmen der Korpusanalyse im letzten Kapitel noch einmal zurückkommen. Die Grundlage für die Reduktion bildet aus Konsistenzgründen im Folgenden ebenfalls das Duden Deutsches Universalwörterbuch (1989). Gemäß dem vorgeschlagenen Vorgehen werden so lange Hyperonyme aufgesucht, bis sich eine zirkuläre Verweisstruktur abzeichnet. Die Ergebnisse sind in Tab. 3 zusammengefasst. x Erste Reduktion: Heuschrecke: […] pflanzenfressendes Insekt mit häutigen Flügeln […]
Ⱥ
Hyperonym: Insekt
Ⱥ
Hyperonyme: Gliederfüßer60, Tier
Ⱥ
Hyperonyme: Organismus, Lebewesen
x Zweite Reduktion: Insekt: […] zu den Gliederfüßern gehörendes Tier mit einem den Körper umfließenden starren Skelett […] x Dritte Reduktion: Tier: […] mit Sinnes- und Atmungsorganen ausgestattetes, sich von anderen tierischen oder pflanzlichen Organismen ernährendes, in der Regel frei bewegliches Lebewesen […] x Ab hier: zirkuläre Reduktion:
60
Die Bedeutungserklärung von Gliederfüßer verweist auf Tier („in unzähligen Arten vorkommendes, wirbelloses Tier […]“), so dass ich nur Tier als Hyperonym weiterverfolge.
3. Prädikationspotential: Leerstellen („slots“) Lebewesen: […] Wesen mit organischem Leben, bes. Tier od. Mensch; Organismus: einzellige tierische, pflanzliche L. […]
Ⱥ
Hyperonyme: Wesen, Orga nismus
Wesen: Mensch (als Geschöpf, Lebewesen) […]
Ⱥ
Quasi-Synonyme: Geschöpf, Lebewesen
Organismus: […] gesamtes System der Organe: der menschliche, tierische, pflanzliche Organismus […], […] tierisches oder pflanzliches Lebewesen […]
Ⱥ
Hyponyme: Lebewesen
319
Tab. 3: Hyperonymreduktion auf der Basis des Duden Deutsches Universalwörterbuch (1989) am Beispiel des Wortes Heuschrecke
Das Endglied der Hyperonymreduktion bildet also das Nomen Organismus (bzw. Lebewesen). Welcher Matrixframe ist mit diesem nicht weiter reduzierbaren Hyperonym assoziiert? Ohne an dieser Stelle alle Einzelheiten von Konerdings Verfahren der Ermittlung relevanter Leerstellen nachzeichnen zu können, sei noch ein wesentlicher Zwischenschritt erwähnt. Zunächst ergibt sich aus der Transformation der Valenzleerstellen (von denjenigen Verbschemata, die Konerding aus Ballmer/Brennstuhl 1986 übernimmt) eine sehr umfangreiche Liste mit Fragen, die in folgender Tabelle vollständig erfasst ist. x Eigenschaften Wie ist die (äußere) Form, Gestalt des Organismus zu beschreiben? Wie sieht der Organismus aus? unter welchen Bedingungen in welcher Existenzphase wie lange aus welchem Grund Welche wahrnehmbaren Eigenschaften weist der Organismus auf (Körperoberfläche, Geruch, Geräusche usw.)? unter welchen Bedingungen in welcher Existenzphase wie lange aus welchem Grund Welche Maße misst der Organismus? in welcher Existenzphase wie lange Welche besonderen Gewohnheiten hat der Organismus? unter welchen Bedingungen in welcher Existenzphase
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VI. Strukturkonstituenten von Frames wie lange auf welche Art und Weise mit welcher Folge aus welchem Grund Wie ist das Verhalten des Organismus bestimmt? unter welchen Bedingungen in welcher Existenzphase wie lange auf welche Art und Weise mit welcher Folge aus welchem Grund Welche physikalisch-biologischen Eigenschaften hat der Organismus? unter welchen Bedingungen in welcher Existenzphase wie lange aus welchem Grund Welche Charakteristika, Eigenschaften hat der Organismus? unter welchen Bedingungen in welcher Existenzphase wie lange auf welche Art und Weise mit welcher Folge aus welchem Grund x Konstitutionsrelationen Ist der Organismus wesentliche Konstituente eines übergeordneten Ganzen? unter welchen Bedingungen in welcher Existenzphase wie lange auf welche Art und Weise mit welcher Folge aus welchem Grund In welchen funktionalen Zusammenhängen, natürlichen Vorgängen (Ereignissen, Handlungen) spielt der Organismus eine wichtige Rolle? unter welchen Bedingungen in welcher Existenzphase wie lange auf welche Art und Weise mit welcher Folge aus welchem Grund Als was fungiert der Organismus (in diesen Zusammenhängen)? unter welchen Bedingungen in welcher Existenzphase wie lange auf welche Art und Weise mit welcher Folge
3. Prädikationspotential: Leerstellen („slots“) aus welchem Grund Wie ist die Zusammensetzung des Organismus bestimmt (Körperteile, Organe, Glieder etc.)? in welcher Existenzphase wie lange auf welche Art und Weise mit welcher Folge aus welchem Grund x Existenzphasen und Verbreitung Worin (in welchen funktionalen Zusammenhängen) hat der Organismus seinen Ursprung? Auf welche Art und Weise entsteht/erscheint der Organismus? unter welchen Bedingungen auf welche Art und Weise aus welchem Grund Unter welchen Bedingungen ist der Organismus nicht mehr vorhanden? wie: Art und Weise (des Verschwindens) aus welchem Grund Unter welchen besonderen Bedingungen ist der Organismus (überhaupt) nicht vorhanden? aus welchem Grund Auf welche Art und Weise kann der Organismus zerstört werden? unter welchen Bedingungen in welcher Existenzphase aus welchem Grund Welche typischen Existenzphasen durchläuft der Organismus? Welchen Bedingungen unterliegen diesen Existenzphasen? Wie lange dauern die Existenzphasen? An welchen typischen Orten befindet sich der Organismus? in welcher Existenzphase wie lange auf welche Art und Weise mit welcher Folge aus welchem Grund Welche (geographische, soziale) Verbreitung hat der Organismus? unter welchen Bedingungen in welcher Existenzphase mit welcher Folge aus welchem Grund Auf welche Art und Weise verbreitet bzw. vermehrt sich der Organismus? Unter welchen Bedingungen ist der Organismus normalerweise vorhanden? in welcher Existenzphase wie lange
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VI. Strukturkonstituenten von Frames auf welche Art und Weise mit welcher Folge aus welchem Grund Welche Namen hat der Organismus? Welchen Bekanntheitsgrad hat der Organismus? In welchen Handlungen/Handlungszusammenhängen spielt der Organismus eine besondere Rolle? unter welchen Bedingungen in welcher Existenzphase wie lange auf welche Art und Weise mit welcher Folge aus welchem Grund Als was fungiert der Organismus (in diesen Zusammenhängen)? unter welchen Bedingungen in welcher Existenzphase wie lange auf welche Art und Weise mit welcher Folge aus welchem Grund Welche Bedeutung hat der Organismus für den Menschen? Welchen spezifischen Nutzen hat der Organismus für den Menschen? unter welchen Bedingungen in welcher Existenzphase wie lange auf welche Art und Weise mit welcher Folge aus welchem Grund In welchen Arbeits- und Produktionsprozessen des Menschen spielt der Organismus eine Rolle? unter welchen Bedingungen in welcher Existenzphase wie lange auf welche Art und Weise mit welcher Folge aus welchem Grund Welchen Organismen anderer Art ist der betreffende Organismus ähnlich und worin unterscheidet er sich von diesen? In welche wichtigen Kategorien fällt der Organismus? Wie ist der Organismus klassifiziert (Nachbarbegriffe etc.)? in welcher Existenzphase wie lange auf welche Art und Weise mit welcher Folge aus welchem Grund
3. Prädikationspotential: Leerstellen („slots“)
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Existieren zu dem Organismus spezielle Theorien bzw. eingehendere (enzyklopädische) Beschreibungen? In welchen wichtigen Theorien spielt der Organismus eine Rolle? Wovon kündet, zeugt der Organismus? unter welchen Bedingungen in welcher Existenzphase auf welche Art und Weise aus welchem Grund Tab. 4: Leerstellen des Heuschrecken-Frames, ermittelt über den Matrixframe „Organismus“ nach Konerding 1993, S. 316-321 (mit kleinen Veränderungen)
Diese Liste möglicher Frageaspekte scheint zunächst recht unsystematisch zu sein. Sie weist ferner etliche Redundanzen auf. Wegen ihrer Unübersichtlichkeit dürfte sie zu empirischen Analysezwecken kaum taugen (vgl. Klein 1999, S. 160). Streng genommen sind zudem die unter den Spiegelstrichen zusammengefassten Frageaspekte nicht mit dem Matrixframe selbst assoziiert, da sie Möglichkeiten angeben, wie Antworten (d.h. Füllwerte bzw. Standardwerte) der jeweils übergeordneten Frage epistemisch spezifiziert werden können. Konerding hat jedoch die in Tab. 4 angegebenen Frageaspekte weiter systematisiert, indem er thematisch ähnliche Fragen zu übergeordneten Prädikatorenklassen zusammenstellt. Aus den weit über 100 Frageaspekten bleiben so lediglich 24 Prädikatorenklassen übrig. Sie sind in Tab. 5 zusammengefasst und thematisch in Gruppen sortiert. Im letzten Kapitel dieser Arbeit wird sich zeigen, dass diese überschaubare Anzahl an Prädikatorenklassen empirisch handhabbar und zugleich groß genug ist, um zu differenzierten Analyseergebnissen zu kommen. Der dort durchgeführten Korpusanalyse liegen allerdings nicht die in Tab. 5 aufgelisteten Prädikatorenklassen zugrunde, sondern jene Prädikatorenklassen, die Lönneker (2003a, S. 262-277) auf der Basis der Ergebnisse ihrer umfangreichen empirischen Studie gewonnen hat.61 In weiten Teilen stimmt zwar die Liste Lönnekers mit der Konerdings überein; an manchen Stellen hat sich jedoch gezeigt, dass eine angesetzte Prädikatorenklasse überflüssig ist oder eine Differenzierung nötig erscheint. Prinzipiell ist es möglich, neben den Prädikatorenklassen eine feinere ‚Granulierung‘ vorzunehmen, indem die differenzierteren Frageaspekte aus Tab. 5 zusätzlich hinzugezogen werden. x Eigenschaften Prädikator zur Charakterisierung von Form und Farbe Prädikatoren zur Charakterisierung von weiteren wahrnehmbaren Eigenschaften des Organismus 61
Vgl. hierzu Kap. VII 3.1.
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VI. Strukturkonstituenten von Frames Prädikatoren zur Charakterisierung von wesentlichen Teilen des Organismus Prädikatoren zur Charakterisierung der Maße des Organismus Prädikatoren zur Charakterisierung der Verwertbarkeit von Eigenschaften für den Menschen Prädikatoren zur Charakterisierung der Fähigkeiten des Organismus Prädikatoren zur Charakterisierung der Gewohnheiten, des besonderen Verhaltens des Organismus Prädikatoren zur Charakterisierung von weiteren besonderen Eigenschaften des Organismus x Konstitutionsrelationen Prädikatoren zur Charakterisierung des übergeordneten Ganzen, in dem der Organismus als Bestandteil fungiert Prädikatoren zur Charakterisierung von natürlichen Ereignissen, in denen der Organismus fungiert Prädikatoren zur Charakterisierung von Rollen, durch die der Organismus in diesen Ereignissen gekennzeichnet ist x Existenzphasen und Verbreitung Prädikatoren zur Charakterisierung der Entstehungsumstände des Organismus Prädikatoren zur Charakterisierung der natürlichen Umgebung des Organismus Prädikatoren zur Charakterisierung der Verbreitung des Organismus Prädikatoren zur Charakterisierung der Bedingungen der Verfügbarkeit/des Vorhandenseins des Organismus Prädikatoren zur Charakterisierung besonderer Existenzphasen des Organismus x Bedeutung des Organismus für den Menschen Weitere Namen für den Organismus Prädikatoren zur Charakterisierung von Handlungen des Menschen, in denen der Organismus eine Rolle spielt Prädikatoren zur Charakterisierung von Rollen, durch die der Organismus in diesen Handlungen gekennzeichnet ist Prädikatoren zur Charakterisierung der Bedeutung des Organismus für den Menschen Prädikatoren zur Charakterisierung der Produktionsprozesse des Menschen, für die der Organismus oder Teile oder Produkte des Organismus eine Rolle spielen Prädikatoren zur Charakterisierung von ähnlichen Organismen und den Unterschieden zu diesen sowie zur Charakterisierung allgemeiner Kategorien, in die der Organismus fällt Prädikatoren zur Charakterisierung von Theorien, in denen der Organismus eine Rolle spielt Prädikatoren zur Charakterisierung von Informationen, die über den Organismus vermittelt sind Tab. 5: Prädikatorenklassen des Matrixframes „Organismus“ (vgl. Konerding 1993, S. 411-417)
4. Explizite Prädikationen: konkrete Füllwerte („fillers“)
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Das Ergebnis der exemplarischen Beispielanalyse lautet demnach: Qua Hyperonymreduktion lässt sich das Wort Heuschrecke auf den Substantivtyp „Organismus“ zurückführen, dessen Matrixframe sich durch all jene Prädikatoren auszeichnet, die Tab. 5 zusammenfasst. Diese Prädikatoren fungieren als Leerstellen des Frames, den das Wort Heuschrecke aufruft. Anders ausdrückt: Die Summe der genannten Prädikatoren bildet das Prädikationspotential des Ausdrucks Heuschrecke.
4. Explizite Prädikationen: konkrete Füllwerte („fillers“) Matrixframes dürfen als schematische Einheiten par excellence gelten. In Konerdings Konzeption fungieren Matrixframes zwar primär als analytisches Instrument, sie haben also nicht den Status psychisch realer Einheiten. Abgesehen davon teilen sie jedoch all jene Eigenschaften kognitiver Schemata, die ich im Anschluss an kognitionspsychologische Schematheorien in Abschnitt V.2.2 erörtert habe. Man vergleiche Matrixframes mit kognitiven Schemata in Rumelharts Ansatz: A schema is basically a theory about knowledge. It is a theory about how knowledge is represented and about how that representation facilitates the use of the knowledge in particular ways. According to schema theories, all knowledge is packaged into units. These units are the schemata. […] A schema contains, as part of its specification, the network of interrelations that is believed to normally hold among the constituents of the concept in question. A schema theory embodies a prototype theory of meaning. That is, inasmuch as a schema underlying a concept stored in memory corresponds to the meaning of that concept, meanings are encoded in terms of the typical or normal situations or events that instantiate that concept. (Rumelhart 1980a, S. 34)
Matrixframes fungieren als epistemologisches Instrument zur empirischen Ermittlung verstehensrelevanten Wissens, das in konzeptuellen Einheiten kognitiv verfügbar ist. Richtet man den Blick auf konkrete sprachliche Bedeutungen (die sich mithilfe von Matrixframes bestimmen lassen), ist tatsächlich – wie Rumelhart hier vorschlägt – ein prototypentheoretischer Beschreibungsansatz unumgänglich. Sprachbenutzer und Sprachbenutzerinnen inferieren nämlich allein deswegen schema- bzw. frameadäquates Wissen, weil dieses typischerweise erwartbar, d.h. derart konventionalisiert ist, dass es dem in Frage stehenden kognitiven Referenzobjekt in der Regel prädikativ zugesprochen wird. Dies geschieht über sprachliche Kategorisierungen, wie sie eingangs in diesem Kapital behandelt worden sind. An mehreren Stellen dieser Arbeit zeigte sich bereits, dass hierbei genauer zwischen zwei Wissenstypen zu differenzieren ist. Zuletzt habe ich an von Polenz anknüpfend von expliziten und impliziten Prädikationen gesprochen, und zuvor war ganz analog von konkreten Füllwerten (fillers) einerseits und
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VI. Strukturkonstituenten von Frames
Standardwerten (default values) andererseits die Rede gewesen. Bevor ich auf konkrete Füllwerte (bzw. explizite Prädikationen) näher eingehe, noch ein Wort dazu, wie sich die Unterscheidung zwischen konkreten Füllwerten und Standardwerten inferenztheoretisch darstellt.62 Ich hatte in Abschnitt IV. kritisiert, dass in der inferenztheoretischen Literatur oftmals ein Bereich nicht-inferentiellen Wissens angenommen wird. Unter zeichentheoretischer Perspektive erwies sich dieses Postulat in den nachfolgenden Überlegungen als äußerst problematisch. Da schon Zeichenkonstitutionen selbst inferentiell erfolgen, gibt es keine „vom Text gegebenen Informationen“.63 So stellen inhaltsseitig Referentialisierungen konstruktive Eigenleistungen der Sprachbenutzer bzw. Sprachbenutzerinnen dar: Ein Referenzobjekt ist nicht einfach da, vielmehr muss der Bezug zu einer kognitiven Einheit (einem Frame) erst hergestellt werden. Gleichwohl gibt es einen qualitativen Unterschied zwischen zwei Typen von Inferenzen. Ruft ein Wort einen Frame auf, können einmal gegebene Textelemente Bezugsstellen spezifizieren. Die hieran beteiligte inferentielle Leistung hat die psycholinguistische Inferenztheorie zu Unrecht vernachlässigt. Daneben spielen andere Bezugsstellen eine ebenso verstehensrelevante Rolle, ohne dass es Textelemente gäbe, die sich diesen prädikativ zuweisen ließen. Allein solche, hier Standardwerte genannten Wissenselemente bilden den Gegenstandsbereich der psycholinguistischen Inferenzforschung. Im Folgenden widme ich mich zunächst konkreten Füllwerten. Im Vordergrund steht dabei die Frage nach ihrem kognitiven und epistemischen Status. Wir werden dabei sehen, dass sich verschiedene sprachliche Ausprägungsvarianten voneinander unterscheiden lassen, die alle die kognitive Funktion erfüllen, verstehensrelevantes Wissen zu perspektivieren. 4.1 Wann sind Prädikationen explizit? Welches Kriterium erlaubt es, explizite Prädikationen von impliziten zu unterscheiden? Vergegenwärtigen wir uns noch einmal Beispiel (9), das ich vorhin im Zusammenhang mit der von Polenz’schen Satzsemantik diskutiert habe. Zur Erinnerung: (9)
62 63
Der Politologe, der in der Zeit des Nationalsozialismus mit seiner jüdischen Familie nach Frankreich floh
Vgl. hierzu auch die Anmerkungen von Müske (1992, S. 120f.). Ganz ähnlich konstatiert Busse (1991a, S. 82), dass „man nicht von einer ‚vorhandenen‘ Menge an Propositionen ausgehen [sollte], sondern von der Annahme, dass jeweils in bestimmten kommunikativen Situationen bestimmte Wissensausschnitte aktuell aktiviert werden“.
4. Explizite Prädikationen: konkrete Füllwerte („fillers“)
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Offensichtlich ist in (9) das Ereignis der Flucht u.a. hinsichtlich der Person, die flieht, genauer spezifiziert. Diese Leerstelle wird durch das Textelement der Politologe besetzt, indem das Textelement eine Antwort auf die Frage „Wer floh zum Zeitpunkt X mit Y?“ gibt.64 Zum Status dieses konkreten Füllelements lässt sich sagen, dass es sich um eine prädikative Zuschreibung handelt, und da Prädikationen immer im Format einer Proposition, also als Zusammenspiel von Referenz und Prädikation auftreten, lautet der Füllwert genauer: „Es ist der Politologe, der floh.“65 Analoges gilt für die Textelemente (i) in der Zeit des Nationalsozialismus, (ii) mit seiner jüdischen Familie und (iii) nach Frankreich. Qualifiziert werden hier (i) die zeitliche Dimension und mithin die politischen Umstände der Flucht, (ii) beteiligte Akteure und schließlich (iii) das Ziel. Indem (i) – (iii) den Flucht-Frame in verschiedenen Hinsichten konkretisieren, zeigen sie zugleich Ko- und Kontextualisierungszusammenhänge auf. Denn jeder Füllwert ruft wiederum einen Frame auf, der seinerseits eine Reihe von Standwerten enthält. Busse spricht in diesem Zusammenhang von „overten“ Kontextualisierungen, die verschiedentlich motiviert sein können: durchgängige explizite Thematisierungen durch Überschriften, Themenangaben, Leitbegriffe, explizite Satzaussagen, (intendiert) Mitgemeintes, durch overte Kontextualisierungen Expliziertes usw. (Busse 2000a, S. 44)
„Overte“ Kontextualisierungen gehen folglich auf konkrete Füllelemente (im erläuterten Sinne) zurück. Wir können auch sagen: Overte Kontextualisierungen liegen immer dann vor, wenn konkrete Füllelemente einen Frame aufrufen. Nicht-overte Kontextualisierungen kommen dagegen nur unter der Bedingung zustande, dass Sprachbenutzer und Sprachbenutzerinnen einen Frame aus dem Gedächtnis abrufen. Eine solche Form der Kontextualisierung scheint weitestgehend identisch zu sein mit einem anderen Kontextualisierungstyp, den Busse nennt, nämlich mit „nicht-intendierte[n], nicht-bewußte[n], nur analytisch feststellbare[n] Kontextualisierungen“ (Busse 2000a, S. 44).66 Auf 64 65
66
Genauer: Das Textelement ist eine Antwort auf die Frage, wer floh, und zwar wann und mit wem. Vergleiche hierzu den Matrixframe „Ereignis“ in Konerding 1993, S. 335-340. Hier: Floh (in nominalisierter Form: Fliehen) ruft einen Frame auf, dessen Agens-Leerstelle mit dem konkreten Füllwert der Politologe besetzt ist, so dass gilt: Es ist der Politologe, der floh. – Man beachte, dass ich (wie von Polenz auch) Beispiel (9) als isolierte Nominalphrase behandele. Natürlich deutet das Determinativpronomen der in der Politologe darauf hin, dass die Person im Textuniversum als bekannt vorausgesetzt wird (weswegen sich der Politologe in thematischer Position befindet). Geht man aber allein von der in (9) zur Verfügung stehenden Information aus, so kommt als konkreter Füllwert für die Agens-Leerstelle nur die genannte Prädikation in Frage. Vgl. auch Barsalou 1982. Daneben nennt Busse (2000a, S. 44) einen dritten Typ: „nichtintendierte, aber bewußte (als bewußt unterstellte) Kontextualisierungen“. Dazu zählt er explizite Thematisierungen sowie diskurs- bzw. sprachreflektorisch artikulierte Kontextualisierungen. Dieser dritte Typ stimmt mit dem overten Kontextualisierungstyp insofern überein, als durch ihn angesprochenes Wissen Sprachbenutzenden bewusst wird bzw. prinzipiell bewusst gemacht werden kann. Ein Beispiel: Das konkrete Füllelement (i) in der Zeit des Nationalsozialismus wird nicht allein als Spezifikation der Zeitangabe, sondern ebenso der politischen Umstände verstan-
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VI. Strukturkonstituenten von Frames
diese werde ich im Zusammenhang mit Standardwerten noch zurückkommen. Aus den letzten Abschnitten ging schon hervor, dass konkrete Füllelemente Prädikate (im prädikatenlogischen Sinn) darstellen (von Polenz 1985, S. 91) und deshalb nicht einfach mit nominalen Einheiten oder Phrasen gleichzusetzen sind, wie viele frame-semantische Studien nahe legen.67 Attribuierungen sind epistemische Zuschreibungen, und diese ermöglichen Verben. Die Frage nach dem Status von konkreten Füllelementen richtet sich somit ebenso auf den Status von Verben. Welche Rolle spielen Verben innerhalb der hier vorgeschlagenen frame-semantischen Konzeption? Sind Verben konkrete Füllelemente? Lönneker plädiert dafür, neben Leerstellen und Instanzen (konkreten Füllwerten, Standardwerten) ein weiteres Frame-Element anzusetzen, das gewissermaßen ein Ableger einer Leerstelle ist, ohne allerdings mit dieser identisch zu sein. Sie führt dafür den Begriff „Subslot“ (Lönneker 2003a, S. 65-74) ein und versucht mit ihm, der strukturellen Eigentümlichkeit von Prädikationen Rechnung zu tragen. Prädikationen beschreiben ein dreiteiliges Relationsgefüge der Art, dass eine attributive Relation z zwischen einem Referenzobjekt x und einer konzeptuellen Entität y hergestellt wird. Während das Referenzobjekt und die zugeschriebene Entität selbst einen konzeptuellen Status haben, stellt Lönneker zufolge ein „Subslot“ die Verbindung zwischen diesen beiden her. Diese Funktion übernehmen in natürlichen Sprachen Verben.68 Doch was rechtfertigt die Annahme eines zweiten Typs von Slots (bzw. Leerstellen)? Der Terminus „Slot“ oder „Subslot“ suggeriert, dass wir es hier mit (Sub-)Typen zu tun haben, nach denen sich Verben so kategorisieren lassen, wie Prädikationen bestimmten Leerstellen eines Matrixframes zugehören. An einer Stelle macht Lönneker deutlich, dass Subslots und Slots in die-
67
68
den. – Wegen des (mehr oder weniger) bewussten Einsatzes solcher Kontextualisierungen durch Sprachbenutzende sehe ich diesen dritten Typ als durch explizite Prädikationen bzw. konkrete Füllelemente gesteuert an. So suggerieren fast alle anglo-amerikanischen Frame-Studien, dass Frame-Elemente – ob in Gestalt von konkreten Füllwerten oder Standardwerten – mit Wörtern identisch seien (vgl. exemplarisch Fillmore 1975; Petruck 1996). Gleiches gilt für alle mir bekannten Studien zu „mental spaces“ (vgl. exemplarisch Fauconnier 1985; Fauconnier/Turner 2002; Sweetser 1999). Doch wie sollen Wörter ein Referenzobjekt näher bestimmen? Wörter müssen in Gestalt von Prädikaten auftreten; diese Prädikate werden einem Objekt zugeschrieben. Vgl. Langacker 1991b, S. 83; 1999b, S. 206-212. Langacker konstatiert, dass Verben Bezüge oder Prozesse designieren (bzw. semantisch profilieren), Nomen hingegen Gegenständlichkeiten im weitesten Sinne. In Langacker 2006 (S. 138) ergänzt er: „A present participle profiles some internal portion of a bounded process […]“, „[a] past participle views a process holistically and with some kind of terminal prominence […]“, „[a]n adjective profiles a non-processual relationship with a thing as trajector and no focused nominal landmark“, und „[a] preposition profiles a nonprocessual relationship with thing as landmark.“
4. Explizite Prädikationen: konkrete Füllwerte („fillers“)
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ser Hinsicht durchaus Gemeinsamkeiten aufweisen. Sie beschreibt Subslots nämlich als labeled relations from the concept frame to another (class) concept or to an individual („instance“). The main component of a subslot is a verb; however, the relations expressed by subslots are conceptual rather than lexical. Examples of subslots are + server à (“+ be used for”), + causer (“+ cause”). (Lönneker 2003b, S. 2)
Subslots geben also Möglichkeiten an, wie verschiedene Konzepte (d.h. aufgerufene Frames) miteinander verbunden werden können. Konkretisiert ein Verb eine Relation, muss auch das ‚Verbindungsglied‘ als eine konzeptuelle Einheit angesehen werden. Denn Verben stellen dann konkrete Füllwerte im Rang von Instanzen dar, und wir haben gesehen, dass jedes Wissenselement – also jeder konkrete Füllwert und jeder Standardwert – selbst wiederum einen Frame evoziert.69 Ein Einwand bleibt: Bei Subslots handelt es sich streng genommen nicht um Typen oder Klassen. Slots sind mögliche Frageaspekte, Subslots hingegen stets konkreter Natur, nämlich einzelne Verben und keine Verbklassen oder typen.70 Das hat zur Folge, dass Subslot und Slots keineswegs so kategorial voneinander zu trennen sind wie Slots und konkrete Füllwerte. Erstere bilden vielmehr eine Einheit, und zwar die der Prädikation. Damit kommt Subslots ein Status zu, der weitgehend dem von Füllwerten entspricht. Aus diesem Grund verzichte ich fortan auf die terminologische Unterscheidung zwischen Subslot und konkretem Füllwert. Auch für die durchzuführende Korpusanalyse hat diese Distinktion keinen Mehrwert. Das heißt allerdings nicht, dass die Kategorie „Subslot“ völlig unbrauchbar ist. Durch sie mögen im Vorfeld der empirischen Analyse Phänomene in den Blick geraten, die die allgemeinere Kategorie der Prädikation vielleicht kaschiert hätte. So macht Lönneker (2003a, S. 66-74) darauf aufmerksam, dass zum einen die durch das Verb hergestellte Relation zwischen zwei Konzepten negiert sein kann. Die in solchen Sätzen ausgedrückte Proposition wird dem Referenzobjekt dann abgesprochen. Zum anderen können dieselben Verben mitunter mit verschiedenen Präpositionen kombiniert werden. In beiden Fällen werden Informationen übermittelt, die man bei der Analysearbeit berücksichtigen sollte, da sie Auswirkungen darauf haben, welche Bedeutungs-
69 70
Verben integrieren also Frames ineinander, vgl. aus nicht-kognitivistischer Perspektive auch Heringer 1999, S.185. Vgl. Lönneker 2003a. Um eine Konzept- bzw. Frame-Hierarchie zu erstellen, geht Lönneker von Konerdings Matrixframes aus und arbeitet auf der Basis ihrer empirischen Daten aus den Matrixframe-Slots (die ja dort als Fragen formuliert sind) Verben heraus, mit denen auf die Fragen geantwortet werden kann. So enthalten Prädikationen, die sich etwa auf den Slot „Welche Bedeutung hat die Entität für den Menschen?“ beziehen, etwa Verben wie nutzen zu, hervorrufen.
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VI. Strukturkonstituenten von Frames
angaben (Prädikationen) einem Referenzobjekt zugeschrieben werden. Lönneker sieht dies als besondere Eigenschaften von Subslots an.71 Festzuhalten bleibt, dass konkrete Füllwerte den Status von Prädikationen haben, bestehend aus Verb und – abhängig von der Verbvalenz – Nominalphrase(n). Weiterhin trägt jeder Füllwert zu einer spezifischen Perspektivierung des aufgerufenen Referenzobjektes bei. 4.2 Sprachliche Ausprägungsvarianten Wie treten konkrete Füllwerte in Texten auf? Welche sprachlichen Ausprägungsvarianten lassen sich unterscheiden? Einen möglichen Ausprägungstyp konkreter Füllwerte haben wir bereits kennen gelernt. Er entspricht der vollzogenen Prädikation in der (stark vereinfachten) propositionalen Grundstruktur x ist y, allgemeiner: x+ finites Verb (+ Objekt), wobei die Objektangaben freilich nicht obligatorisch auftreten, sondern von der Verbvalenz abhängen.72 Bevor ich auf Ausprägungsvarianten zu sprechen komme, sei erläutert, inwiefern konkrete Füllwerte zu einer kognitiven Perspektivierung des Referenzobjektes beitragen. Jede Prädikation geht mit einer spezifischen epistemischen Perspektivierung des Referenzobjektes einher. Man betrachte folgende Beispiele: (13) Die Ampel ist rot. (14) Das Fenster ist rot. Zunächst steht fest, dass Annahmen, die materiale, funktionale und andere Eigenschaften des jeweiligen Referenzobjektes betreffen, bereits aktualisiert sein müssen, damit die Eigenschaft des Rot-Seins attribuiert werden kann. Wüsste ich beispielsweise nicht, dass Ampeln Lichtanlagen sind, die zur Regelung des Verkehrs eingesetzt werden, spräche nichts dagegen, Rot-Sein wie in einer Lesart von (14) als dauerhafte materiale Farbeigenschaft zu konzeptualisieren.73 Dies geschieht nur deshalb nicht, weil ich über entsprechendes Weltwissen verfüge. Im Zuge der in (13) und (14) vollzogenen Prädikationen rücken allerdings derartige Annahmen über die Natur von Ampeln und Fenstern in den Hin71 72 73
Diesem Befund folgend werde ich beiden Aspekten bei der Korpusanalyse im letzten Kapitel Rechnung tragen. Ein konkreter Füllwert liegt auch dann vor, wenn ein Verb kein Objekt fordert (bzw. ein Objekt syntaktisch nicht realisiert ist). Peter schläft entspricht etwa der Prädikation Peter ist eine schlafende Entität. Es gibt auch eine Lesart von (14), nach der Rot-Sein nicht als dauerhafte materiale Farbeigenschaft konzeptualisiert wird. Man stelle sich etwa vor, innerhalb eines Zimmers würde ein rotes Licht brennen, das das Fenster (metonymisch gesprochen) von außen rot aussehen ließe.
4. Explizite Prädikationen: konkrete Füllwerte („fillers“)
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tergrund. So ist in (13) nur eine spezifische Funktion von Ampeln fokussiert, nämlich die, rotes Licht anzeigen zu können; Annahmen etwa über die Größe von Ampeln, ihre materielle Beschaffenheit oder typische Orte ihres Auftretens bleiben dagegen hintergründig. Analog wird in (14) einem Teil des Referenzobjektes die Eigenschaft des Rot-Seins zugeschrieben, nämlich entweder dem Fensterrahmen oder der Fensterscheibe. Konkrete Füllelemente, so lässt sich verallgemeinern, refer to a form of representation by which the parts of an object or the elements of a complex state of affairs and their interrelations are construed and presented as if seen from a given point of view. (Graumann 2002, S. 25)
Mithilfe von expliziten Prädikationen profilieren Sprachbenutzer und Sprachbenutzerinnen bestimmte Wissensaspekte eines Referenzobjektes, während andere in den Hintergrund treten. Jede Prädikation perspektiviert das Referenzobjekt auf eine bestimmte Art und Weise. Es ist unmöglich, sprachliche Zeichen zu benutzen, ohne auf Referenzobjekte perspektivisch gebrochen Bezug zu nehmen.74 Denn einerseits ist Zeichenverstehen ohne Prädikation nicht möglich, andererseits spezifiziert jeder prädikative Akt lediglich einen Wissensaspekt des Referenzobjektes, obgleich die Menge möglicher Prädizierungen potentiell unerschöpflich groß ist. In der Kognitiven Grammatik thematisiert Langacker dieses Phänomen im Zusammenhang mit so genannten „active zones“.75 Entities are often multifaceted, only certain facets being able to interact with a particular domain or play a direct role in a particular relationship. Those facets of an entity capable of interacting directly with a given domain or relation are referred to as the active zone of the entity with respect to the domain or relation in question. (Langacker 1987, S. 272f.)
Welche Wissensaspekte im Einzelfall einer „active zone“ angehören, ist allerdings nicht allein eine Frage der „Interaktionsfähigkeit“ zweier Domänen (hier zwischen [AMPEL] bzw. [FENSTER] und [ROT]). So könnte durchaus dem Material einer Ampel oder dem Material des Fensterglases die Eigenschaft „rot“ zugeschrieben werden, und doch interpretieren wir (13) anders. Zu welcher Konzeptualisierung wir gelangen, hängt nämlich nicht vorrangig mit der „Interaktionsfähigkeit“ zweier Domänen zusammen, sondern mit dem Grad der Salienz bestimmter Annahmen (Giora 1997). Dennoch bleibt eine „active zone“ ein overter Kontextualisierungszusammenhang im Sinne Busses. 74
75
Zu einem vergleichbaren Schluss kommt Hartung 1997, S. 20: „Perspektivität, als eine unaufhebbare Gegebenheit, bewirkt, daß das in Texten Repräsentierte einen bestimmten individuellen, persönlichen Zuschnitt hat. Das Gleiche gilt für die in der Rezeption entstehenden gedanklichen Gebilde, die Kommunikate.“ Vergleiche auch Graumann 2002, S. 33. Vgl. auch Langacker 1984. Zum Begriff „Perspektive“ als Terminus technicus in der Kognitiven Grammatik vgl. Langacker 1991b, S. 315-318.
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VI. Strukturkonstituenten von Frames
Kommen wir nun zu möglichen Ausprägungsvarianten expliziter Prädikationen. Neben der propositionalen Grundstruktur x ist y treten in Texten häufig Prädikationen auf, die zwar ebenso overter Natur sind, strukturell aber weniger explizit in Erscheinung treten. Ich werde fortan dann von quasiexpliziten Prädikationen sprechen, wenn ein Referenzobjekt auf eine bestimmte Art und Weise epistemisch näher bestimmt wird, nämlich entweder durch (i) ein Attribut (im weiten Sinne), (ii) eine Präpositionalphrase oder (iii) einen Relativsatz.76 Alle drei Ausprägungsformen quasi-expliziter Prädikationen lassen sich problemlos in explizite Prädikationen überführen, und wir werden sehen, dass sie sich aus frame-semantischer Sicht strukturell stark ähneln. Betrachten wir zunächst eine Variante von (i), nämlich eine komplexe Wortform, deren Kopf durch (mindestens) ein Morphem näher bestimmt wird. Von den drei Kompositatypen (Determinativkomposita, Kopulativkomposita, Zusammenrückungen), die morphologisch in der Regel unterschieden werden, haben allein Determinativkomposita eine quasi-prädikative Struktur.77 Für diese gilt: Ruft der Kopf des Determinativkompositums (Determinatum) einen Frame auf, so spezifiziert das abhängige Morphem (Determinans) eine Leerstelle des Frames. Das Determinans fungiert somit als konkretes Füllelement.78 Es aspektuiert einerseits das Kontextualisierungspotential des Kopfes und verweist andererseits auf einen spezifischen Wissensbzw. Kontextualisierungszusammhang (vgl. Fraas 2001). An dem Beispiel Finanzinvestor (auf das ich in Kapitel VII zurückkommen werde) illustriert: Der Kopf -investor legt das Referenzobjekt fest, während das Determinans finanz- bestimmt, auf was für eine Art von Investor hier Bezug genommen wird. Dies geschieht in Form einer prädikativen Zuschreibung, die dazu führt, dass der zur Disposition stehende Frame spezifischer, d.h. sein Prädikationsskopus eingeschränkter ausfällt. Allgemein gilt: Je mehr Instanzen ein Frame enthält, desto geringer fällt sein Prädikationspotential aus. 76
77
78
Vgl. auch Lönneker 2003a, S. 74f. Appositionen, Juxtaposita und Prädikatsnominative (bzw. Prädikatsakkusative), die Lönneker alle nicht aufführt, betrachte ich als Spezialfälle von (i). Sie können auf dieselbe Weise in explizite Prädikationen überführt werden, so etwa Peter, der Idiot, kam wieder zu spät in Peter ist ein Idiot und Der idiotische Peter kam zu spät in Peter ist idiotisch. Zusammenrückungen (wie Dreikäsehoch) und Kopulativkomposita (wie schwarz-rot-gold) weisen keinen Kopf auf. Im Fall von Kopulativkomposita sind die Morpheme „gleichwertig“, so dass prädikative Zuschreibungen hier fehlen (schwarz spezifiziert nicht rot, rot spezifiziert nicht gold, und schwarz-rot spezifiziert nicht gold). Daraus folgt, dass jedes Glied den Status eines frameevozierenden Ausdrucks hat. Eine konzeptuelle Einheit formieren die Glieder eines Kopulativkompositums allein dadurch, dass sie Instanzen desselben übergeordneten Frames bilden (hier etwa: [SCHWARZ], [ROT] und [GOLD] als Instanzen von [FLAGGE]). Einen Sonderfall stellen Kontaminationen dar. Diese enthalten zwar eine Prädikation, jedoch so versteckt (also so stark auf Vorwissen Bezug nehmend), dass man kaum mehr von quasiexpliziten Prädikationen sprechen kann. So verbirgt sich hinter Demokratur beispielsweise die versteckte Prädikation (Diese) Demokratie ist (wie) eine Diktatur.
4. Explizite Prädikationen: konkrete Füllwerte („fillers“)
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Was für das Determinans in Determinativkomposita gilt, lässt sich auf derivative Wortbildungen übertragen (vgl. Bybee 1995). Affigierungen (wie trinkbar, Blödheit) zeichnen sich beispielsweise dadurch aus, dass die Wortbasis semantisch oder grammatisch-funktional näher bestimmt wird. Die Basis, hier [TRINK-] und [BLÖD-], übernimmt dabei eine referentielle Funktion im oben erläuterten Sinn. Sie ruft einen Frame auf, der durch ein Affix spezifiziert wird, so dass komplexe semantische Einheiten – hier komplexe Wörter – der Art [[TRINK]/[BAR]] und [[BLÖD]/[HEIT]] entstehen. Der Vollständigkeit halber sei schließlich erwähnt, dass ganz analog zu Wortbildungen Flexionsaffixe nicht weniger als Instanzen eines Frames zu begreifen sind, den der jeweilige Wortstamm aufruft.79 So etwa im schon erwähnten Fall der semantischen Einheit [[HUND]/[-E]], deren morphologische Ambiguität daher rührt, dass die Flexionsform [-E] eine Instanz in verschiedenen Schemata bilden kann.80 Flexions- und Derivationsmorpheme können keinen Frame aktivieren. Sie treten ausschließlich als Instanzen eines Frames auf, da sie eine epistemisch spezifizierende Funktion (hinsichtlich des semantischen, pragmatischen oder diskursfunktionalen Informationsgehalts einer semantischen Einheit) erfüllen, nicht aber selbst durch Instanzen spezifiziert werden können. Darin liegt aus frame-semantischer Sicht das Unterscheidungskriterium von Affixen und lexikalischen Morphemen. Ich gehe im Folgenden nicht weiter auf die vielen Möglichkeiten ein, frame-semantische Kategorien für morphologische Analysen zu verwenden. Nur soviel: Alles, was ich in den folgenden Abschnitten hinsichtlich rekurrenter Schema-Instanzbeziehungen und kognitiver Verfestigungen erörtern werde, betrifft Schema-Instanzbeziehungen generell, also auch morphologisch relevante Beziehungen. Frames bilden ein einheitliches Repräsentationsformat, das sich zur Erklärung morphologischer Kategorien einsetzen lässt. Was geschieht nun, wenn Adjektive als konkrete Füllelemente auftreten? Dieser Fall unterliegt genau denselben schematheoretischen Bedingungen: Ein Adjektiv spezifiziert eine mögliche Leerstelle des Frames, den derjenige Ausdruck aufruft, auf den das Adjektiv Bezug nimmt. (13’) und (14’) sind somit nur Varianten von (13) und (14); sie lassen sich ohne weiteres in explizite Prädikationen der Form x ist y transformieren. (13’) die rote Ampel (14’) das rote Fenster 79
80
Bybee 1985; Taylor 2002, S. 298-319. Bybee und Taylor sprechen nicht von „Frames“, sondern von „Schemata“. Da – wie oben – dargelegt, Frames und Schemata alle wesentlichen Charakterisitika teilen, können Ergebnisse der Untersuchungen Bybees und Taylors auch für framesemantische Fragestellungen nutzbar gemacht werden. Nämlich in den Schemata [PLURAL NOMINATIV], [PLURAL AKKUSATIV] oder [PLURAL GENITIV].
334
VI. Strukturkonstituenten von Frames
Genau wie bei Determinativkomposita bestimmen die konkreten Füllwerte, hier in Gestalt von Adjektivphrasen, einen Wissensaspekt eines aufgerufenen Frames näher. Anders formuliert: Die Füllwerte – im einen Fall Morpheme, im anderen Fall lexikalische Einheiten in einer bestimmten syntaktischen Funktion – bilden Instanzen in einem Schema. Abb. 6 veranschaulicht dies anhand einiger Korpusbelege aus Kapitel VII. Im Textkorpus sind neben Finanzinvestoren u.a. die Komposita Großinvestoren und Auslandsinvestoren sowie Nominalphrasen der Art internationale Investoren und sprunghafte Investoren belegt. Aus frame-semantischer Perspektive muss zwischen beiden Fällen nicht differenziert werden, da sie auf denselben kognitiven Akt der Schema-Instantiierung zurückgehen, den Abb. 6 illustriert.
morphematische Instanzen
Instanzen
Schema
FinanzGroßAuslands…
lexikalische Instanzen
-investor/en internationale sprunghafte …
Konkrete Füllelemente zu prädizierendes Element
Leerstellen
Frame / Referenzobjekt
spezifizierter Frame
Abb. 6: Schema-Instantiierungen im Fall lexikalischer und morphematischer (hier: kompositorischer) Spezifizierung lexikalischer Einheiten
Analoges gilt für konkrete Füllelemente in Gestalt von Präpositionalphrasen (wie Investoren mit krimineller Energie), Genitivattributen (wie Investoren angelsächsischer Herkunft) und Relativsätzen (wie Investoren, die den Medienkonzern aufgekauft haben).81 Jedes Mal wird das durch Investor festgelegte Referenzobjekt attributiv derart qualifiziert, dass ein konkreter Füllwert eine Instanz in einer Leerstelle des aufgerufenen Investor-Frames bildet. Und jedes Mal kann die quasiexplizite in eine explizite Prädikation überführt werden: 81
Relativsätze bilden insofern Ausnahmen, als sie stets ein finites Verb enthalten, das „Finanzinvestor/en“ zum Subjekt hat. Umgeformt liegen hierbei also syntaktisch vollständige Sätze vor.
5. Implizite Prädikationen: Standardwerte („default values“)
(15) (15’) (16) (16’) (17) (17’) (18) (18’)
335
Auslandsinvestoren Investoren kommen aus dem Ausland82 Investoren mit krimineller Energie Investoren haben kriminelle Energie Investoren angelsächsischer Herkunft Investoren sind angelsächsischer Herkunft Investoren, die den Medienkonzern aufgekauft haben Investoren haben den Medienkonzern aufgekauft
Jede dieser Ausprägungsvarianten trägt zu einer spezifischen epistemischen Perspektivierung des Investor-Frames bei. Um nur ein Beispiel herauszugreifen: In (15) bzw. (15’) ist jene Leerstelle mit einem konkreten Füllelement besetzt, die die Herkunft von Investoren betrifft. Sie kontextualisiert die semantische Einheit [INVESTOR] damit aus der Perspektive eines kollektiven „Wir“ oder einer „Heimat“. [INVESTOR] steht mithin unter den dichotomisierenden Vorzeichen „wir“ vs. „ihr“, „Heimat“ vs. „Ausland“. Etwas neutraler, aber ähnlich verhält es sich mit (16) bzw. (16’). Dass in beiden Fällen keine andere Leerstelle des Investor-Frames mit einem konkreten Füllelement belegt ist, bedeutet freilich nicht, dass Werte anderer Leerstellen nicht verstehensrelevant wären. Diese gehören vielmehr jener Menge hintergründiger Annahmen an, die von Polenz als „mitgedacht“, „mitgemeint“ oder „mitzuverstehen“ auszeichnet (vgl. von Polenz 1985, S. 157). Um diese Standardwerte geht es im Folgenden.
5. Implizite Prädikationen: Standardwerte („default values“) Der weitaus größte Teil verstehensrelevanten Wissens tritt in Texten weder in Gestalt expliziter noch in Gestalt quasi-expliziter Prädikationen auf. Vielmehr ist es so, wie Fillmore formuliert, that much of this linking and filling-in activity depends, not on information that gets explicitly coded in the linguistic signal, but on what the interpreter knows about the larger scenes that this material activates or creates. Such knowledge depends on experiences and memories that the interpreter associates with the scenes that the text has introduced into his consciousness. (Fillmore 1977a, S. 75)
Was es heißt, einen kognitiven Frame zu aktivieren, können wir nun konkretisieren. Aktiviert ein Sprachbenutzer oder eine Sprachbenutzerin einen Frame, stellt er oder sie einen kognitiven Bezug zu einem Frame her, dessen Leerstel82
Determinativkomposita lassen bekanntlich verschiedene Lesarten zu, vor allem dann, wenn es sich um Nicht-Rektionskomposita handelt. Welche Lesart vorliegt, ist von Fall zu Fall zu entscheiden.
336
VI. Strukturkonstituenten von Frames
len im Akt der Referentialisierung teilweise schon mit Standardwerten gefüllt sind. Denn jeder Identifikation eines Referenzobjektes gehen Eigenschaftsattribuierungen voraus, die in der Summe das Objekt von anderen möglichen Objekten unterscheidbar machen. Solche referenzermöglichenden Eigenschaftsattribuierungen nenne ich fortan „implizite Prädikationen“. Was sind implizite Prädikationen? Nähern wir uns einer Antwort über einige Beispielanalysen. In Witzen der folgenden Art wird deutlich, wie eng implizite Prädikationen mit kognitiven Referentialisierungen zusammenhängen (vgl. Coulson 2001, S. 55): (19) Alle hatten so viel Spaß daran, vom Baum in den Swimmingpool zu springen, dass wir uns dazu entschlossen haben, ein wenig Wasser einzulassen. In (19) ruft das Wort Swimmingpool zunächst einen Frame auf, der durch eine explizite Prädikation spezifiziert ist. Dass Personen in den Swimmingpool springen, profiliert (oder perspektiviert) das Referenzobjekt bezüglich einer möglichen Funktion, die es für den Menschen haben kann.83 Diese epistemische Perspektivierung motiviert sodann allerlei implizite Annahmen, so beispielsweise über die erwartbare Größe eines Swimmingpools, seine materiale Beschaffenheit, seinen Standort, seine Bestandteile und deren Funktionen. Sprachbenutzer und Sprachbenutzerinnen rufen aus dem Gedächtnis entsprechende Standardwerte ab. Diese spezifizieren bestimmte (aber nicht alle) Leerstellen des aufgerufenen Frames. Im Sinne Allwoods wird mithin ein Bedeutungspotential des Ausdrucks Swimmingpool aktiviert. Die Pointe des Witzes kommt dadurch zustande, dass eine – scheinbar unerschütterliche – implizite Prädikation getilgt wird und infolgedessen eine semantische Reinterpretation des Hauptsatzes einsetzt. Um zu testen, welche weiteren Standardwerte der aufgerufene Frame enthält, könnte man den Nebensatz von (19) entsprechend verändern. Tilgt die explizite Prädikation im Nebensatz keine implizite Annahme über den Swimmingpool, handelt es sich um keinen Standardwert. Vergleiche folgende mögliche Nebensätze: (19) a. Alle hatten so viel Spaß daran, vom Baum in den Swimmingpool zu springen, dass wir uns dazu entschlossen haben, den Pool auf die Größe eines Planschbeckens zu vergrößern.
83
Genauer: Swimmingpool lässt sich qua Hyperonymreduktion auf den Matrixframe „Artefakt“ zurückführen, der u.a. folgende Leerstelle aufweist: „In welchen funktionalen Zusammenhängen, Ereignissen und Handlungen spielt ein Swimmingpool eine Rolle?“ (vgl. Konerding 1993, S. 312).
5. Implizite Prädikationen: Standardwerte („default values“)
337
(19) b. Alle hatten so viel Spaß daran, vom Baum in den Swimmingpool zu springen, dass wir uns dazu entschlossen haben, die Wassertemperatur von fünf auf zwanzig Grad zu erhöhen. (19) c. Alle hatten so viel Spaß daran, vom Baum in den Swimmingpool zu springen, dass wir uns dazu entschlossen haben, den Chlorgehalt zu erhöhen. Im Gegensatz zu (19a) und (19b) wird im letzten Beispiel (19c) eine implizite Prädikation offenkundig nicht getilgt, sondern spezifiziert. Angaben zum Chlorgehalt des Wassers stellen folglich keinen Standardwert dar. Die Allgegenwärtigkeit impliziter Prädikationen lässt sich anhand zahlreicher anderer sprachlicher Phänomene illustrieren, die in der Linguistik diskutiert werden. Dazu gehören Implikaturen, Präsuppositionen, semantische Polysemie usw. An dieser Stelle möchte ich nur kurz auf einen besonders illustrativen Phänomenbereich eingehen, nämlich indirekte Anaphern. Damit knüpfe ich an einen Gedanken an, den ich in einem anderen Zusammenhang in Abschnitt II.2.4 bereits formuliert habe: Anaphorische Prozesse verlaufen frame-basiert, und zwar maßgeblich über die Aktivierung von Standardwerten. Frames bilden ein Beschreibungsformat, mit dessen Hilfe sich Anaphorisierungen einheitlich explizieren lassen, so dass, anders als dies Schwarz (2000, S. 99-117) annimmt, zur Erklärung der erforderlichen Kohärenzbildungsprozesse keineswegs verschiedene Aktivierungstypen anzusetzen sind. Man vergleiche folgende Beispiele, die ich Schwarz 2000 entnehme:84 (20) Ich wollte gerade die Tür aufschließen, als Moretti aus dem Gebüsch sprang. Vor Schreck ließ ich den Schlüssel fallen. (21) Nimm nicht die gelbe Tasse. Da ist der Henkel kaputt. (22) In jenen letzten Augusttagen…erwacht in einem kleinen Krankenhaus das Mädchen Rita Seidel… Die Krankenschwester tritt an das Bett. (23) Das Gerücht ist ein kollektives Kaugummi: Alle kauen mit, es wächst, und am Ende platzt die Blase. Laut Schwarz exemplifiziert jedes Beispiel einen anderen Aktivierungstyp. So sei in (20) der semantische Zusammenhang von Schlüssel auf aufschließen durch jene semantische Rolle motiviert, die das Verb aufschließen fordere. In (21) gehöre hingegen der Bezug zwischen Henkel und Tasse einem meronymiebasierten Aktivierungstyp an, während in (22) Krankenschwester und Krankenhaus in einem schemabasierten Zusammenhang stünden. Schließlich soll in (23) die
84
Schwarz 2000, S. 99, 106, 111, 116.
338
VI. Strukturkonstituenten von Frames
Kohärenzbildung zwischen Blase und Kaugummi abermals anders, nämlich inferenzbasiert verlaufen. Der springende Punkt ist der folgende: In frame-semantischer Perspektive vollziehen sich alle vier Kohärenzbildungen sowohl inferenz- als auch schemageleitet, und zwar derart, dass das zurückverweisende Textelement einen Frame mit Standardwerten aufruft, von denen genau einer die entstandene Kohärenzlücke schließt. In (21) evoziert etwa der Ausdruck Henkel einen Frame, der alle Leerstellen des Matrixframes „Teil“ beinhaltet, da er sich qua Hyperonymreduktion auf diesen zurückführen lässt.85 Eine seiner Leerstellen lautet: (24) Von welcher Entität bildet der Henkel einen Teil? Der hoch saliente Standardwert „Tasse“ entspricht genau jenem Textelement, auf das der Ausdruck Henkel indirekt-anaphorisch verweist. Ganz ähnlich in (23). Der Ausdruck Blase evoziert einen Frame, dessen Leerstellen identisch mit denen des Matrixframes „Artefakt“ sind. Um einen Rückbezug zum Textelement Kaugummi (bzw. dessen Referenzobjekt) herzustellen, ist hier derjenige Standardwert relevant, der eine Antwort auf die Frage gibt, woraus die Blase besteht (Konerding 1993, S. 312).86 Anaphorisierungen, wie im übrigen alle Arten textueller Bezüge, gelingen folglich allein unter der Voraussetzung, dass Textrezipienten und -rezipientinnen über einen gemeinsamen Wissensvorrat in Gestalt von aktualisierbaren Standardwerten verfügen. Es ist wichtig zu sehen, dass wir nicht über ‚nackte‘ Frames verfügen, also über Frames bestehend aus Listen möglicher Fragen bzw. unbesetzter Leerstellen.87 Frames are probably never stored in long-term memory with unassigned terminal values. Instead, what really happens is that frames are stored with weakly-bound default assignments at every terminal. (Minsky 1977, S. 364)
Dass Leerstellen bereits mit Standardwerten besetzt sind, ermöglicht es uns, semantische Kategorisierungen kognitiv höchst effizient durchzuführen. Kohärenzlücken, die etwa im Fall indirekter Anaphora entstehen, nehmen wir in der Regel gar nicht als solche wahr, weil Inferenzbildungen gewissermaßen automatisch erfolgen. Halten wir fest: Da einerseits ohne Aktivierung von Standardwerten keine sprachlichen Referenzhandlungen gelängen, und zwar weder textdeiktische noch diejenigen, die Bühler „Deixis am Phantasma“ nennt, und es anderer85 86 87
Vgl. Konerding 1993, S. 450-456. (20) und (22) habe ich bereits in Abschnitt II.2.4 diskutiert. Vgl. auch Minsky 1988, S. 247: „I suspect that the larger part of what we know – or think we know – is represented by default assumptions, because there is so little that we know with perfect certainty.“
5. Implizite Prädikationen: Standardwerte („default values“)
339
seits keinen Bereich zeichenbasierten Verstehens ohne Referentialisierungen gibt, erfüllen Standardwerte eine kognitiv kaum zu überschätzende Funktion. Dass Wörter einen Frame evozieren, heißt dabei nicht, dass Sprachbenutzer und Sprachbenutzerinnen an diesem Evozierungsprozess unbeteiligt sind. Denn das Aufrufen eines Frames entspricht einer sprachlichen Referenzhandlung, und diese geht wiederum mit dem Abrufen von Standardwerten, also mit impliziten Prädikationen einher. Weil Standardwerte nicht-overter Natur sind, bleiben sie Ergebnisse analytischer Zugriffe und mithin theorieabhängige Konstrukte. In den folgenden beiden Abschnitten geht es um die kognitionstheoretischen Grundlagen eines solchen analytischen Zugriffs und die Möglichkeit seiner empirischen Operationalisierung. 5.1 Rekurrente Schema-Instanzbeziehungen: Token- und Type-Frequenz Welche Standardwerte besetzen aus welchem Grund die Leerstellen eines aktivierten Frames? Matrixframes stellen so viele Möglichkeiten zur Wissensspezifikation bereit, dass Zweifel angebracht erscheinen, ob im Langzeitgedächtnis entsprechend viele Erfahrungswerte abgespeichert sein können. Allein der Matrixframe „Artefakt“, der für den Frame zu Henkel relevant ist, umfasst über 100 Fragen, und sobald diese zu Prädikatorenklassen gebündelt sind, bleiben immerhin noch zwanzig Klassen übrig. Klein sieht darin eine zentrale Schwierigkeit: Angesichts der unüberschaubaren Fülle der durch dieses Verfahren zur Gewinnung von Matrix-Frames eröffneten potentiellen Wissensdimensionen stellt sich die bisher unbeantwortete Frage, wie und wodurch diese Menge reduziert wird auf die weit geringere Menge des default-Wissens, das den Frame zu einer Lexikoneinheit […] bildet. (Klein 1999, S. 160)
Erschwerend kommt hinzu, dass oftmals nicht ein einziger Standardwert eine Leerstelle besetzt, sondern es eine Vielzahl gleichwertiger Möglichkeiten gibt (man denke im letzten Beispiel etwa an mögliche Farben, Formen und Größen eines Henkels). Welche Standardwerte belegen die Leerstellen eines Frames? Warum belegen gerade diese Standardwerte die Leerstellen? Wie formieren sich Standardwerte, d.h. wie verläuft der Übergang von expliziten zu impliziten Prädikationen? Angesichts dieser ungeklärten Fragen könnte man zu dem Schluss kommen, dass sich mithilfe von Matrixframes keine kognitiv realistischen Aussagen über verstehensrelevantes Bedeutungswissen fällen lassen. Diese Einschätzung teile ich nicht. Denn es erweisen sich keineswegs alle Leerstellen und alle Standardwerte als gleichermaßen relevant, wenn ein Wort einen Frame aufruft. Im Sinne der These von der „gradierten Salienz“ (Giora 1997)
340
VI. Strukturkonstituenten von Frames
gilt vielmehr, dass es Abstufungen im Grad der kognitiven Zugänglichkeit von Wissen gibt. Nur im Fall hoher Salienz erfolgen implizite Prädikationen. Ich werde diesen Punkt nun schematheoretisch erläutern.
[HENKEL]
Wie
groß?
Bestandteil Besteht aus? Fungiert als? von?
[KLEIN]
[EIMER]
[WINZIG]
[GLAS]
[PORZELLAN]
Setzt sich zusammen aus?
[???]
[GRIFF]
[???] [???]
…
[…] […]
[TASSE] Wie […]
groß?
[…]
Fungiert als?
[…]
[…]
… […]
[…]
Abb. 7: Auswahl von Leerstellen und möglichen Standardwerten im Frame zu Henkel
Im letzten diskutierten Beispiel mit dem Ausdruck Henkel konkretisiert sich das skizzierte Problem folgendermaßen. Setzen wir voraus, dass der Ausdruck Henkel einen Frame aufruft, dessen Leerstellen zum Teil schon mit Standardwerten derart spezifiziert sind, dass wir ohne weiteres die Fragen des entsprechenden Matrixframes „Teil“ beantworten könnten. Wir verfügen dann über einen semantischen Prototypen in Form typischerweise erwartbarer Annahmen, die in der Summe den konventionalisierten Bedeutungsaspekten der semantischen Einheit [HENKEL] entsprechen. Wie in Abb. 7 ersichtlich, gehören zu den konventionellen Bedeutungsmomenten u.a. Annahmen über die Größe, Teil-Ganzes-Beziehungen und die materiale Beschaffenheit. Eine Auswahl möglicher Leerstellen ist in den eckigen Kästchen angegeben. Den Leerstellen müssten, gemäß den Ausgangsvoraussetzungen, Standardwerte zugeordnet sein, die hier als Ellipsen dargestellt sind. Standardwerte evozieren (genau wie der Ausdruck Henkel) selbst einen Frame, dessen Einheit (aber nicht Abgeschlossenheit) durch gestrichelte Rahmen angezeigt ist. In Abb. 7 ist aus der Menge möglicher Sub-Frames nur der Sub-Frame [TASSE] illustriert.
5. Implizite Prädikationen: Standardwerte („default values“)
341
Woher wissen wir nun, welche Werte typischerweise Instanzen der Leerstellen bilden? Abb. 7 enthält allein aus Platzgründen nur wenige Standardwerte, in Wirklichkeit ließen sich nahezu beliebig viele andere Werte angeben. Was versetzt uns in die Lage, den Ausdruck Henkel so zu interpretieren, dass dessen semantische Einheit [HENKEL] zur semantischen Einheit [TASSE] in einer Teil-Ganzes-Beziehung steht? Oder woher wissen wir, dass [PORZELLAN] einen typischen Wert darstellt, wenn es um die materielle Beschaffenheit von Henkel geht? Die Antworten liegen auf der Hand: Weil wir mit diesen Werten tagtäglich in (sprachlichen und außersprachlichen) Gebrauchszusammenhängen konfrontiert sind und weil wir aufgrund dieser Rekurrenz typische von untypischen Annahmen unterscheiden können. So entstehen prototypische Frame-Strukturen im Sinne Barsalous: Regardless of how prototypes arise, frames naturally produce typicality effects: If an exemplar’s values occur frequently across the exemplars integrated into a frame, then it is typical […]. In contrast, exemplars whose values occur infrequently are atypical […]. Additionally, if exemplars vary in the attributes for which they have values, then an exemplar’s typicality also depends on how frequently its attributes have values across exemplars. (Barsalou 1992a, S. 47f.)
Barsalous Hypothese, dass nicht nur die Aktivierungsfrequenz bestimmter Leerstellen mit dem Grad ihrer Verfestigung korreliert, sondern ebenso der Typikalitätsgrad von instantiierten Werten mit ihrer steigenden Auftretenshäufigkeit wächst,88 lässt sich direkt auf unseren Problemzusammenhang beziehen.89 Die These besagt dann, dass explizite Prädikationen durch eine verhältnismäßig hohe Frequenz ihres Auftretens zu guten Kandidatinnen für künftige implizite Prädikationen werden. Die große Menge potentiell relevanter Standardwerte verringert sich so schlagartig. Ganz analog gilt für Leerstellen: Nur diejenigen Leerstellen, in denen Werte häufig instantiiert werden, erweisen sich als primär verstehensrelevant. Sie bilden, im oben erläuterten Sinn, das Bedeutungspotential eines Ausdrucks (vgl. Abschnitt IV.3.2). Das Bedeutungspotential umfasst nur einen Bruchteil aller möglichen Wissensspezifikationen eines Frames, da viele Leerstellen gewissermaßen ‚ausgeblendet‘ oder ‚inaktiv‘ sind, sich also im Rahmen bestimmter Kontextangaben nicht als primär verstehensrelevant erweisen. Die kognitive Verfestigung bestimmter Leerstellen eines Frames sowie – auf einem niedrigeren Abstraktionsniveau – bestimmter Werte innerhalb ebendieser Leerstellen hat ihren Ursprung in rekurrenten SchemaInstanzbeziehungen. Je öfter Sprachbenutzer und Sprachbenutzerinnen die88 89
Vgl. auch Barsalou 1985; Langacker 1988c; Bybee/Hopper 2001; Taylor 2002, S. 274ff. Barsalou spricht nicht von „Leerstellen“ oder „slots“ eines Frames, sondern von „Attributen“ („attributes“). Was ich „konkrete Füllwerte“ oder „fillers“ nenne, sind bei Barsalou „Werte“ („values“).
342
VI. Strukturkonstituenten von Frames
selben oder ähnliche Schema-Instanzbeziehungen herstellen, desto routinierter und effizienter verläuft dieser kognitive Akt. Verfestigen kann sich dabei einmal eine Leerstelle eines Frames. Auf unser Beispiel Henkel bezogen hieße das etwa: Würden Sprachbenutzer und Sprachbenutzerinnen mit verschiedenen expliziten oder quasi-expliziten Prädikationen konfrontiert, die eine bestimmte Leerstelle signifikant häufiger betreffen, so würde genau diese Leerstelle (im Verhältnis zu anderen Leerstellen) an Salienz gewinnen. In Abb. 8 entspricht dies Fall (i). Viele verschiedene Werte spezifizieren hier die Größe eines Henkels, vergleichsweise wenige dagegen andere Leerstellen. In der Folge konsolidiert eine hohe Frequenz verschiedener Tokens die Leerstelle, dessen Instanzen sie bilden, und mithin den Frame, dem die Leerstellen angehören. Anders ausgedrückt: Wird oft etwas über ein Referenzobjekt ausgesagt (Prädikation), erhöht dies die kognitive Präsenz des Referenzobjektes. (i) Verfestigung einer Leerstelle („hohe Type-Frequenz“) [HENKEL] […] Wie groß?
[…] […]
[…]
[…]
Fungiert als?
…
[…]
[…]
(ii) Verfestigung eines Wertes („hohe Token-Frequenz“) [HENKEL]
Wie groß? […]
[…]
Fungiert als?
… […]
[…] […]
[…]
Abb. 8: Verfestigung von Leerstellen und Werten (dargestellt durch fett gedruckte Linien) infolge rekurrenter Schema-Instanzbeziehungen
Genauso gut ist es aber auch möglich, dass eine Leerstelle im Vergleich zu anderen Leerstellen nicht häufiger mit Werten bedient wird, dafür jedoch einund derselbe Wert (Instanz) signifikant häufiger auftritt als andere Werte. Dieser Fall ist in Abb. 8 unter (ii) dargestellt. Hier kann sich der sehr häufig instantiierte Wert konsolidieren, ohne dass sich im gleichen Maße die Leerstelle verfestigt, weil ja die Menge aller Instanzen in dieser Leerstelle nicht höher ausfällt als die Menge aller Instanzen in anderen Leerstellen. In einem solchen Szenario entstehen Standardwerte. Der Übergang von expliziten zu
5. Implizite Prädikationen: Standardwerte („default values“)
343
impliziten Prädikationen vollzieht sich dann, wenn konkrete Füllwerte so oft aufgetreten sind, dass Sprachbenutzer und Sprachbenutzerinnen die Kenntnis derselben unterstellen können und sich eine Explizierung (auch aus sprachökonomischen Gründen) erübrigt.90 In der Kognitiven Grammatik wird die Verfestigung von Strukturkonstituenten eines Schemas (hier: eines konkreten Füllwertes und einer Leerstelle) als so genanntes „entrenchment“-Phänomen diskutiert.91 Mangels eines besseren Begriffs benutze ich für den englischen Begriff „entrenchment“ fortan den deutschen Terminus „Verfestigung“ (oder „Konsolidierung“). Betrachtet man Standardwerte als kognitive Verfestigungen, rücken eher repräsentationale Aspekte in den Mittelpunkt. Wichtig ist aber, auch den Prozess der Konsolidierung zu berücksichtigen. Auf prozessuale Aspekte gehe ich im nächsten Abschnitt ein. Die eingeführte Unterscheidung zwischen der Verfestigung von Leerstellen einerseits und der Verfestigung von Werten andererseits wird zwar weder in der Kognitiven Grammatik noch in der Konstruktionsgrammatik thematisiert, jedoch lassen sich Bezüge zu zwei geläufigen Erklärungen von „entrenchment“-Phänomenen herstellen. So werden Verfestigungen entweder durch eine hohe „Token-Frequenz“ („token frequency“) oder durch eine hohe „Type-Frequenz“ („type frequency“) erklärt. Für die „Type-Frequenz“ und „Token-Frequenz“ gilt: Each of these gives rise to the entrenchment of different kinds of linguistic units. While token frequency gives rise to the entrenchment of instances, type frequency gives rise to the entrenchment of more abstract schemas. (Evans/Green 2006, S. 118)
Bybee und Slobin (1982) zeigen in einer morphologischen Studie, dass die Auftretenshäufigkeit von Flexionsmorphemen direkt mit ihrem kognitiven Verfestigungsgrad korreliert. Häufig gebrauchte unregelmäßige Verben wie lend haben beispielsweise die Partizip-Perfektform lent beibehalten, während selten gebrauchte Ausdrücke wie blend neben der unregelmäßigen Form blent zusätzlich die regelmäßige Form blended zulassen. Der Unterschied zwischen den Partizip-Perfektbildungen der Verben lend und blend erklärt sich durch die Verfestigung der Instanz [-t] im ersten Fall (im Sinne von Abb. 8, (ii)) und 90
91
Man betrachte unter diesem Gesichtspunkt Produktwerbungen. Damit Verbraucher einem Produkt quasi automatisch bestimmte Prädikate zuschreiben, müssen sie möglichst häufig mit entsprechenden expliziten Prädikationen der Art „Otto find ich gut“, „Mars macht mobil“ konfrontiert werden. Mit dem Aufrufen eines Referenzobjekts („Otto“, „Mars“) sollen Verbraucher die entsprechende implizite Prädikation vollziehen; vgl. auch Ziem 2006b. Langacker 1991a, S. 45: „Entrenchment pertains to how frequently a structure has been invoked and thus to the thouroughness of its mastery and the ease of its subsequent activation. Along the parameter of specificity, units range from particular expressions at one extreme, through schematizations at different levels of abstraction, to maximally schematic structures representing entire grammatical categories or constructions at the opposite extreme.” Vgl. ferner Langacker 1987, S. 59f.; 1999b, S. 93f.
344
VI. Strukturkonstituenten von Frames
durch die Schwächung derselben Instanz im zweiten Fall. Denn im letzteren liegt ein Wettbewerb zwischen den beiden Instanzen [-t] und [-ed] vor, und die geringe Auftretensfrequenz beider hat dazu geführt, dass sich keine durchsetzen konnte (vgl. auch Taylor 2002, S. 276f.).92 Die Auftretenshäufigkeit einer sprachlichen Kategorie, sei es in Gestalt einer Instanz oder eines Schemas, zeitigt also für die kognitive Repräsentation dieser Kategorie Konsequenzen. Mit steigender kognitiver Verfestigung erhöht sich der Grad an Salienz.93 Hat sich eine Strukturkonstituente eines Schemas aufgrund rekurrenter Schema-Instanzbeziehungen einmal konsolidiert, erweist sie sich – zunächst – resistent gegenüber kontextuellen Einflussfaktoren. Well-entrenched structures, ceteris paribus, are more salient than less-entrenched structures, i.e., they occur more energetically. Entrenchment can be viewed as a kind of enduring salience, i.e., salience apart from relatively transitory effects such as directed attention or heightened activation due to contextual factors. (Tuggy 1993, S. 279)
Dennoch können sich etablierte Strukturen jederzeit verändern, und tatsächlich finden Veränderungen jederzeit statt. Denn sprachliche Einheiten (hier: im weiten Sinne von Form- und Bedeutungseinheiten) etablieren sich ausschließlich in Abhängigkeit vom Sprachgebrauch (Barlow/Kemmer 2000; Langacker 1988c) und sind mithin emergente Phänomene (MacWhinney 2001). Eine hohe Token-Frequenz verfestigt die Instanz, schwächt indes das Schema. Jedoch kann eine hohe Type-Frequenz jederzeit für eine Schwächung der Instanz und eine Konsolidierung des Schemas sorgen. Der Übergang zwischen den in Abb. 8 dargestellten Fällen (i) und (ii) ist folglich fließend. Zwischen beiden herrscht ein Kontinuum. Wenn beispielsweise viele verschiedene explizite und quasi-explizite Prädikationen, also viele Tokens, ein und dieselbe Leerstelle in einem Frame bedienen, tragen sie zur Verfestigung der Leerstelle und mittelbar des ganzen Frames bei. Tritt aber eine bestimmte Prädikation (relativ zu anderen) besonders frequent auf, wird diese Instanz selbst gestärkt, nicht aber der Frame als Ganzer. Zwischen diesen Extremen sind viele andere Möglichkeiten denkbar. Kognitive Verfestigungen stellen ein Gradphänomen dar, dessen Veränderungsdynamik allein der Sprachgebrauch bestimmt. Betrachten wir den Entstehungsprozess von Standardwerten noch einmal aus der Perspektive der semantischen Prototypentheorie. Folgt man einer 92 93
Zur Applikation von „type frequency“ und „token frequency“ in der Phonologie vgl. Bybee 2001, S. 10-13. Zusätzlich beinflusst die „Tiefe der Verarbeitung“ (Anderson 1996, S. 187-193) den Grad der Salienz. Je tiefer ein kognitives Ereignis verarbeitet wird, desto nachhaltiger wird es abgespeichert, d.h. desto leichter wird es in Zukunft abrufbar sein (vgl. auch Craik/Lockhardt 1972). Wie jemand etwas verarbeitet, wirkt sich demnach auf die individuelle Gedächtnisleistung aus. Auf den gedächtnistheoretischen Aspekt der „Verarbeitungstiefe“ gehe ich im Folgenden nicht weiter ein.
5. Implizite Prädikationen: Standardwerte („default values“)
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ihrer Grundideen, müssten so genannte Basislevelkategorien („basic level categories“) gute Kandidatinnen für Standardwerte sein (vgl. Rosch u.a. 1976; Schmid 1996; Lakoff 1987, S. 31-38; Taylor 2003, S. 48-55). In sprachlicher Hinsicht stellen etwa die Begriffe Hund, Tasse, Stuhl usw. Basislevelkategorien dar, nicht aber ihre Hyponyme (wie z.B. Golden Retriever, Schnabeltasse, Holzstuhl) oder Hyperonyme (wie z.B. Tiere, Gefäß, Möbel). Basislevelkategorien befinden sich auf einer mittleren Abstraktionsebene, und ihre Mitglieder (Instanzen) teilen viele Eigenschaften miteinander. Man könnte auch sagen, viele gemeinsame Annahmen lassen sich mit Basislevelkategorien verbinden, so etwa mit Hund die Annahmen, dass es sich um ein vierbeiniges Tier handelt, das bellen kann und einen wedelnden Schwanz hat. Die gemeinsamen Eigenschaften oder Annahmen weisen dabei eine sehr hohe „cue validity“ auf. Unter „cue validity“ versteht man die Vorhersagbarkeit von prädikativ zuschreibbaren Eigenschaften (Attributen) bezüglich der Kategorienzugehörigkeit einzelner Mitglieder einer Kategorie. Im Fall eines Tieres, das bellt, lässt sich z.B. sicher davon ausgehen, dass es sich um einen Hund mit vier Beinen und einem wedelnden Schwanz handelt. Das Attribut bellen besitzt damit für die Kategorie „Hund“ eine sehr hohe „cue validity“.94 Basislevelkategorien gelten für Kategorisierungen sprachlicher sowie außersprachlicher (visueller, auditiver usw.) Daten als kognitiv grundlegende Einheiten. Aus drei Gründen kommt Basislevelkategorien eine entscheidende kognitive Funktion zu.95 Erstens zeichnen sich Basislevelkategorien dadurch aus, dass sie einerseits eine recht differenzierte interne Struktur aufweisen, ihre Kategorienmitglieder (Instanzen) also über viele gemeinsame Eigenschaften verfügen. So haben Rosch u.a. (1976, S. 387ff.) gezeigt, dass man Kategorien einer mittleren Abstraktionsebene durchschnittlich acht Eigenschaften zuweisen kann, unter- und übergeordneten Kategorien hingegen nur maximal drei. Andererseits unterscheiden sich Basislevelkategorien hinreichend von benachbarten Kategorien (Katze unterscheidet sich etwa hinreichend von Hund, Pferd usw.); sie bilden relativ distinkte Einheiten. Auch dieses Charakteristikum trifft weder auf abstraktere noch auf konkretere Kategorien zu.96 Für Basislevelkategorien gilt somit: „[T]hey maximize perceived similarity among category members and minimize perceived similarities across contrasting categories.“ (Lakoff 1987, S. 52) 94 95 96
Zur Messbarkeit von „cue validity“ vgl. Lakoff 1987, S. 52-54. Lakoff (1987, S. 46) sowie Mangasser-Wahl (2000, S. 38-40) nennen weitere und andere Kennzeichen von Basislevelkategorien. Ich beschränke mich hier auf diejenigen, die für Standardwerte relevant sind. Warum sprachliche Basislevelkategorien aus diesem Grund häufiger gebraucht werden, macht Fillmore (1982, S. 132) an einem schönen Beispiel klar: Unterhielten sich zwei Nachbarn, deren Gespräch durch ein klatschendes Geräusch unterbrochen wird, würde der eine Nachbar dies dadurch kommentieren, dass sein Hund (und nicht ein Tier oder ein Golden Retriever) in den Swimmingpool gefallen sei.
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VI. Strukturkonstituenten von Frames
Der zweite Grund liegt darin, dass sprachliche Basislevelkategorien Korrelate in der außersprachlichen Wahrnehmungswelt haben. In der visuellen Perzeption gehören etwa Stühle, Tische, Katzen, Hunde, Tassen, Gläser usw. deswegen der Basisebene an, weil wir in der Regel zunächst weder Abstraktionsprodukte (Möbel, Tiere, Geschirr usw.) wahrnehmen noch Objekte unterhalb der Basisebene (einen Holzstuhl, eine Angorakatze, eine Kaffeetasse usw.).97 Schmid (1996, S. 286f.) verdeutlicht diesen Punkt folgendermaßen: Stehe ich vor der Aufgabe, ein Bild des Bezugsobjektes eines sprachlichen Ausdrucks zu malen, so gelingt dies im Fall von Basislevelkategorien problemlos. Über- oder untergeordnete Kategorien kann ich dagegen nur vermittelt über Basislevelkategorien illustrieren. Der dritte Grund hebt schließlich auf die besondere Beziehung zwischen Basislevelkategorien und der menschlichen Motorik ab. Rosch u.a. (1976, S. 393-398) argumentieren, dass mit jedem Objekt einer mittleren Abstraktionsebene bestimmte motorische Bewegungsabläufe korrelieren: Durch je spezifisch koordinierte Bewegungen können wir uns auf Stühle setzen und auf Betten legen, durch motorische Routinen gesteuert heben wir Tassen und führen sie zum Mund, mit Hunden gehen wir spazieren, was ebenso einen bestimmten koordinierten motorischen Ablauf involviert. Jede dieser Aktivitäten lässt sich dabei genauer als Zusammenhang motorischer Teilaktivitäten beschreiben. Übergeordneten Kategorien können dagegen keine motorischen Bewegungsabläufe zugeordnet werden (Geschirr heben wir protoypisch nicht hoch und führen es zum Mund, auf Möbel setzen oder legen wir uns prototypischerweise nicht usw.), und untergeordnete Kategorien lassen sich mithilfe verschiedener motorischer Bewegungsabläufe nicht hinreichend voneinander abgrenzen (Korb-, Holz- und Schaukelstühle dienen gleichermaßen als Sitzgelegenheiten, Kaffee-, Mokka- und Schnabeltassen heben wir gleichermaßen hoch und führen sie zum Mund usw.).98 Wenn Basislevelkategorien aus diesen drei Gründen kognitiv salienter sind als andere,99 welche Konsequenzen ergeben sich daraus für Standardwerte? Die wichtigste Konsequenz besteht darin, dass auch Standardwerte in der Regel sprachliche Kategorien eines mittleren Abstraktionsniveaus darstellen. 97
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Dieser Befund ist als Normfallregularität zu verstehen. Natürlich mag es sein, dass etwa der professionell bedingte Umgang mit bestimmten Entitäten dazu führt, dass diese als Entitäten unterhalb der Basisebene wahrgenommen werden, so beispielsweise dann, wenn eine Katzenzüchterin eine Katze als Angorakatze wahrnimmt. In diesem Fall hat sich ein visuelles Schema „Angorakatze“ aufgrund einer hohen Token-Frequenz herausgebildet und konsolidiert. Sicherlich können motorische Abläufe, die einer Basislevelkategorie korrelieren, weder als Kriterium zur Begründung noch als Mittel zur Abgrenzung von Basislevelkategorien dienen. Gleichwohl verdeutlichen sie – im Sinne des holistischen Paradigmas –, wie sehr außersprachliche Faktoren an kognitiven Kategorienbildungen beteiligt sind. Weitere Evidenz dafür, dass sprachliche Basislevelkategorien eine grundlegende kognitive Funktion erfüllen, geben Schmid (1996) und Ungerer/Schmid (1996, S. 60-109).
5. Implizite Prädikationen: Standardwerte („default values“)
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Der Kreis möglicher Standardwerte schränkt sich so weiter ein. Warum Standardwerte meist auf der Basisebene angesiedelt sind, liegt vor dem Hintergrund der Ausführungen zur Token-Frequenz auf der Hand: Sprachliche Basislevelkategorien treten in unserer ‚perzeptuellen Realität‘ so häufig auf, dass sie sich schnell verfestigen. Dass Basislevelkategorien nicht allein im sprachlichen Bereich frequent auftreten, beschleunigt den kognitiven Konsolidierungsprozess zusätzlich. Nahezu alle sprachlichen Basislevelkategorien finden in der visuellen Wahrnehmung ein Korrelat – ein Sachverhalt, der auf (fast) keine über- oder untergeordneten Kategorien zutrifft. Und mit nahezu allen sprachlichen Basiskategorien verbinden wir typische motorische Bewegungsabläufe. Weder für abstraktere noch für konkretere Kategorien gilt das in diesem Maße. Basiskategorien haben es demzufolge erheblich leichter als andere Kategorien, sich zu Standardwerten zu verfestigen. Kommen wir zurück zu den Ausgangsfragen. Welchen Status haben Standardwerte? Und wie entstehen sie? Die vorläufigen Antworten lauten folgendermaßen: Strukturell entsprechen Standardwerte impliziten Prädikationen, die sich von (quasi-)expliziten Prädikationen darin unterscheiden, dass Sprachbenutzer und Sprachbenutzerinnen Informationen aus dem Gedächtnis abrufen müssen. Standardwerte entsprechen solchen abgerufenen Informationen. Sie sind emergente Produkte unseres Sprachgebrauchs, denn sie entstehen unter der Bedingung, dass rekurrente Schema-Instanzbeziehungen durch eine hohe Token-Freqenz zu einer kognitiven Verfestigung des instantiierten Tokens führen. Eine kognitive Verfestigung ist dabei insbesondere bei solchen Werten zu erwarten, die einem mittleren Abstraktionsniveau angehören. Konsolidierungen von Werten wirken jedoch nicht zwangsläufig nachhaltig. In dem Maße, wie jene Schema-Instanzbeziehungen, die einst zum Entstehen eines Standardwertes geführt haben, sprachgebrauchsbedingt nicht mehr in derselben Frequenz auftreten, können Standardwerte sich ändern und ggf. durch andere ersetzt werden. Dieser kognitive Prozess ist entscheidend für Sprachwandel. Verfestigen können sich nicht nur Werte. Wenn eine Leerstelle eines Frames mit besonders vielen verschiedenen Instanzen besetzt wird, wenn also ein Wissensaspekt eines Referenzobjektes mit besonders vielen Prädikationen bestimmt wird, liegt eine hohe Type-Frequenz vor, die eine Leerstelle (einen Wissensaspekt) sowie den Frame (das Referenzobjekt) konsolidiert, dem die Leerstelle angehört. Zusammen sorgen eine hohe Type-Frequenz und eine hohe Token-Frequenz dafür, dass jeder Frame de facto keineswegs eine unüberwindliche Fülle an Wissen evoziert, sondern vielmehr nur eine geringe Menge an ‚default-Wissen‘, von dem Klein sprach. Anders formuliert: Rufen Sprachbenutzer und Sprachbenutzerinnen einen Frame auf oder ab, sind – abhängig von ihrer Spracherfahrung – nur einige Leerstellen und nur einige Standardwerte des Frames besonders salient.
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VI. Strukturkonstituenten von Frames
Beide Typen kognitiver Verfestigungen lassen sich mit framesemantischen Mitteln empirisch beschreiben. Abschnitt VI.5.3 veranschaulicht anhand eines Beispieles, wie Verfestigungen durch hohe TypeFrequenzen entstehen. Um verlässliche Aussagen darüber treffen zu können, welche Standardwerte sich in einem Frame konsolidieren, sind allerdings quantitativ gestützte Korpusanalysen nötig. In Kapitel VII gehe ich darauf ein. 5.2 Kognitive Trampelpfade als Phänomene der dritten Art Dass sich Strukturkonstituenten von Frames infolge rekurrenter SchemaInstanzbeziehungen kognitiv verfestigen, ist zunächst nur eine Hypothese, die sich schematheoretisch plausibilisieren und stützen lässt. Doch was steckt hinter der Metapher „kognitive Verfestigung“? Ist es psychologisch realistisch, von „kognitiven Verfestigungen“ zu sprechen? Gibt es (sprachwissenschaftliche, neurologische usw.) Evidenz für solche Verfestigungsprozesse? Wenn ja, wie weit reicht die Metapher dann? Und wo sind ihre Grenzen? Ohne im Folgenden umfassende Antworten anbieten zu können, will ich anhand von zwei Phänomenbereichen einige Gründe anführen, warum das Theorem der kognitiven Verfestigung in mehrfacher Hinsicht als „realistisch“100 gelten darf. Der eine Phänomenbereich betrifft eine linguistische Theorie des Sprachwandels, der andere neurowissenschaftliche Befunde zu menschlichen Gedächtnisleistungen. Dass diese Phänomenbereiche äußerst unterschiedlicher Natur sind und trotzdem in einem entscheidenden Punkt konvergieren, werde ich als Indiz für die Tragfähigkeit des Theorems der kognitiven Verfestigung werten. Der gemeinsame Ausgangspunkt betrifft einen prozessualen Aspekt, den ich zunächst erläutern möchte. Eine Thematisierung der prozessualen Komponente kam im letzten Abschnitt zu kurz. Anders als dort suggeriert wurde, verfestigen sich streng genommen nicht Strukturkonstituenten von Schemata (Leerstellen, Werte), sondern vielmehr prozedurale Routen, mit denen sich Sprachbenutzer und Sprachbenutzerinnen schemarelevantes Wissen erschließen. Taylor (2002, S. 43) nennt Schemata in diesem Zusammenhang „Prinzipien zur Kategorisierung“ („principles of categorization“). Was er damit 100 Als kognitiv und psychologisch realistisch sehe ich (in Anlehnung an den gängigen Gebrauch des Ausdrucks cognitively/psychologically realistic in der Kognitiven Linguistik) eine Theorie oder ein Theorem dann an, wenn sie bzw. es den als gesichert geltenden Erkenntnissen der Neurowissenschaften und anderer tangierter Disziplinen (wie der Psychologie, Anthropologie usw.) nicht widerspricht (vgl. etwa Sweetser 1999). Vertreter und Vertreterinnen der Kognitiven Linguistik haben immer wieder darauf hingewiesen, dass in genau diesem Sinne zentrale Theoreme der generativen Grammatik (wie das der Universalgrammatik) psychologisch nicht realistisch seien.
5. Implizite Prädikationen: Standardwerte („default values“)
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meint, kann man sich am Beispiel von Standardwerten klarmachen. Angenommen, eine (quasi-)explizite Prädikation ist so oft aufgetreten, dass sie sich zu einem Standardwert des aufgerufenen Frames verfestigt hat. Damit Sprachbenutzer und Sprachbenutzerinnen die entsprechende Information nun abrufen können, müssen sie eine Kategorisierungsbeziehung herstellen, mittels derer sie sich den Wert inferentiell erschließen. Sie instantiieren einen Standardwert in eine Leerstelle des Frames. Dabei handelt es sich um einen kognitiv fundamentalen Akt; sprachliche Referentialisierungen gelingen, wie bereits erwähnt, nur dann, wenn Leerstellen implizit mit Werten besetzt werden (man denke an die Beispiele [SWIMMINGPOOL] und [HENKEL]). Mit einer phonologischen Einheit konzeptuelles Wissen symbolisch zu assoziieren, heißt folglich, über konzeptspezifische kognitive Routinen zu verfügen, denn – wie Langacker formuliert – „established concepts are simply entrenched routines“. Genauer: A complex predicate like [CAT] or [BANANA] is more accurately viewed as a set of routines, which are interrelated in various ways […]. The encyclopedic characterization of a typical predicate involves many such routines (possibly quite complex), each representing a separate specification. (Langacker 1987, S. 162)
Besonders gut etablierte kognitive Routinen herrschen zwischen hyperonymen Ausdrücken vor. Erinnern wir uns an das Beispiel [YAK]. Weiß man, dass [YAK] Instanz des Schemas [RIND] ist, fällt es leicht, dem aufgerufenen Schema viele Standardwerte zuzuordnen. Die grundlegendsten leiten sich aus den Schemata der Hyperonyme Tier und Lebewesen ab, denn Standardwerte abstrakterer Schemata vererben sich an jene Schemata, die hyponyme Ausdrücke aufrufen. Ohne genau zu wissen, was ein Yak ist, kann ich behaupten, es handle sich um einen Organismus, der sich fortbewegen kann, Nahrung zu sich nimmt, ein vegetatives Nervensystem besitzt, eine bestimmte Größe hat usw. Dass solche Standardwerte weniger enttäuschungsanfällig sind, hängt damit zusammen, dass eine hohe Token-Frequenz das vom Standardwert aufgerufene Schema verfestigt. Sagt man z.B. von Rindern, sie würden laufen, von Pferden, sie würden galoppieren und von Menschen, sie würden rennen, bilden die semantischen Einheiten [LAUFEN], [GALOPPIEREN] und [RENNEN] Instanzen im übergeordneten Schema [SICH FORTBEWEGEN] und verfestigen dieses. Weil es hingegen nur wenige Instanzen der Schemata [LAUFEN], [GALOPPIEREN] und [RENNEN] gibt und diese seltener benutzt werden, konsolidieren sich solche Schemata weit weniger. Kognitive Routinen etablieren sich nicht allein zwischen sprachlichen Einheiten.101 Holistischen Voraussetzungen folgend hatte ich den Schema101 Im Sinne des symbolischen Prinzips also nicht nur (i) zwischen semantischen Einheiten, (ii) zwischen phonologischen Einheiten und (iii) zwischen symbolischen Einheiten als Ganzen, vgl. Abschnitt IV.1.2.
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VI. Strukturkonstituenten von Frames
Begriff eingangs als Oberbegriff für Repräsentationsformate verschiedenster Sinnesmodalitäten eingeführt und den Terminus Frame für spezifisch semantische Schemata reserviert. Weil aber alle Schemata aus denselben Strukturkonstituenten bestehen und zudem gilt, dass Füllwerte und Standardwerte mit Leerstellen eines Schemas durch Kategorisierungslinks verbunden sind, etablieren sich kognitive Routinen – aufgrund rekurrenter Schema-Instanzbeziehungen – in ganz verschiedenen Wissensdomänen. Sie können sich beispielsweise auf motorische Fertigkeiten beziehen (wie Klavierspielen, Schreiben, Autofahren usw.)102 oder auf die Verarbeitung visueller, auditiver und anderer Daten (Erkennen von Objekten, Melodien, Stimmen etc.). Beschränke ich mich im Folgenden auf sprachliche Phänomene, bedeutet das nicht, dass sich analoge Überlegungen nicht ebenso für andere Bereiche anstellen ließen (vgl. etwa Ziemke/Zlatev/Frank 2007; Zlatev 2005). Exemplifizieren wir zunächst kognitive Routinisierungen am Beispiel des Sprachwandels. Was hat Sprachwandel mit kognitiven Routinen zu tun? Erst auf den zweiten Blick offenbart sich der Zusammenhang: Ändern sich sprachliche Bedeutungen, müssten sich ebenfalls die kognitiven Routinen der Sprachbenutzer und Sprachbenutzerinnen ändern, die zur Aktualisierung dieser Bedeutungen führen. Dem Theorem der kognitiven Verfestigung zufolge müsste zwischen Sprachwandel und wechselnder Gebrauchsfrequenz von Sprachtokens in bestimmten Kontexten (und den damit einhergehenden variierenden Prädizierungen) ein enger Zusammenhang bestehen. Je seltener – in langfristiger Sicht – innerhalb einer Sprachgemeinschaft bestimmte Schema-Instanzbeziehungen rekurrent auftreten, je seltener also bestimmte kognitive Routinen zum Einsatz kommen, desto schneller müsste sich die betroffene sprachliche Einheit wandeln. Neben einer fallenden TokenFrequenz im oben erläuterten Sinn müsste Sprachwandel zugleich mit der Etablierung anderer rekurrenter Schema-Instanzbeziehungen einhergehen, neue kognitive Routinen müssten sich einschleifen. Wie realistisch ist eine solche schematheoretische Erklärung?
102 Am Beispiel des Autofahrens macht Busse (1991a, S. 169) deutlich, dass Handlungen insgesamt schemageleitete Prozesse sind: „Man kann sich am Beispiel des Autofahrens leicht klarmachen, wie eine [sic] erlerntes ‚Handeln‘, welches zu Anfang des Lernprozesses noch bewußt geschieht, mit zunehmender Übung ‚automatisch‘ wird: Wer lange autofährt, der schaltet und kuppelt ‚automatisch‘; er wird im einzelnen Fall nicht mehr denken ‚wenn ich schalten will, muß ich zuvor die Kupplung treten‘, sondern es unbewußt, eben ‚automatisch‘ einfach tun. Nur wenn es im Getriebe kracht, merkt er oder sie, daß er/sie etwas ‚vergessen‘ hat. In ähnlicher Weise ist auch das (ungleich komplexere) sprachliche Sich-Äußern und Verstehen ‚automatisch‘. Die allermeisten Regeln des Sprachgebrauchs sind uns unbewußt, und da wir sie, anders als das Autofahren, nicht als Individuen mit ausgebildeter Denkfähigkeit durch Erklärung gelernt haben, sondern allein – zugleich mit dem Erwerb unserer Denkfähigkeit – durch Einübung, sind uns die Regeln auch möglicherweise noch nie zu Bewusstsein gekommen.“
5. Implizite Prädikationen: Standardwerte („default values“)
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Sprachwandel gilt als „Phänomen der dritten Art“. Er lässt sich weder als Naturphänomen erklären, noch entspricht er einem Artefakt (Keller 2003, S. 81ff.). Ein Naturphänomen ist Sprachwandel deshalb nicht, weil sich Sprache allein dadurch verändert, dass Mitglieder einer Sprachgemeinschaft Sprache benutzen. Dennoch können einzelne Sprachbenutzer und Sprachbenutzerinnen nicht auf die gleiche Weise planen, eine Sprache zu verändern, wie sie ein Artefakt bewusst herzustellen in der Lage sind. Sprachwandel ist folglich ein „Phänomen der dritten Art“. Keller erläutert: Phänomene der dritten Art sind […] in aller Regel kollektive Phänomene. Sie entstehen durch Handlungen vieler, und zwar dadurch, daß die das Phänomen erzeugenden Handlungen gewisse Gleichförmigkeiten aufweisen, die für sich genommen irrelevant sein mögen, in ihrer Vielfalt jedoch bestimmte Konsequenzen zeitigen. (Keller 2003, S. 91)
Sprachwandel resultiert aus dem Gebrauch von Sprache, genauer daraus, dass viele Sprachbenutzer und Sprachbenutzerinnen Tokens gleich oder ähnlich benutzen. Interessant ist nun, dass Keller implizit die These vertritt, dass sich Sprachwandel aufgrund einer hohen Token-Frequenz vollzieht. Seine Version der Verfestigungsthese lautet: Ein Phänomen der dritten Art ist die kausale Konsequenz einer Vielzahl individueller intentionaler Handlungen, die mindestens partiell ähnlichen Intentionen dienen. (Keller 2003, S. 93; im Original in Fettdruck)
Sieht man einmal davon ab, dass Keller hier Sprachwandel ausschließlich intentionstheoretisch erklärt,103 ist die Ähnlichkeit zum Theorem der kognitiven Verfestigung in einem entscheidenden Punkt frappierend. Auch kognitive Verfestigungen gleichen zwar einerseits Naturphänomenen darin, dass sie jenseits des Einflussbereiches einzelner Sprachbenutzer und Sprachbenutzerinnen liegen, und anderseits Artefakten darin, dass sie dennoch ursächlich auf menschliche Handlungen zurückgehen. Da sie aber mit beiden, mit Artefakten und mit Naturphänomenen, etwas gemeinsam haben und sich zugleich von beiden unterscheiden, sind sie Phänomene der dritten Art – und zwar in drei Hinsichten: x Nicht weniger als Sprachwandel sind ebenso kognitive Routinen Emergenzphänomene, die dem Gebrauch von Sprache inhärent sind. Solange Sprache gebraucht wird, wandelt sie sich, und mit ihr verändern sich die kognitiven Routinen, mit deren Hilfe wir Ausdrücke verstehen. 103 Eine Perspektive, die meines Erachtens dann problematisch wird, wenn sie repräsentationale und kognitive Aspekte des Sprachwandels ignoriert. Eine sprachliche Handlung kann nur dann erfolgreich sein und sie kann umgekehrt nur dann verstanden werden, wenn zum Handlungsvollzug (bzw. zum Handlungsverstehen) relevantes Hintergrundwissen (etwa über dessen Gelingensbedingungen im Sinne Searles) aktualisiert wird. Dieses Wissen mag zwar selbst Resultat vergangener Handlungen sein, ist aber im Moment des Handlungsvollzugs (bzw. -verstehens) unterstelltes Wissen, und als solches weist es eine eigene kognitiv-repräsentationale „Realität“ auf; vgl. hierzu meine Auseinandersetzung mit Zlatev in Abschnitt IV.2.2.
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VI. Strukturkonstituenten von Frames
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Sprachwandel und kognitive Routinen sind Epiphänomene, die sich aus dem einfachen Grund schwer vorhersagen lassen, dass der Gebrauch sprachlicher Ausdrücke schwer prognostizierbar ist (Keller 2003, S. 100). x Innerhalb desselben dreiphasigen Prozesses, in dem sich kognitive Strukturen verfestigen, wandelt sich auch Sprache (Keller 1995, S. 121): (i) Am Anfang steht der individuelle Sprachgebrauch. Kellers Annahme, dass auf der Mikroebene Menschen zunächst unter bestimmten Bedingungen intentionale Handlungen vollzögen, entspricht der Prämisse des „usage based model“, dass sprachliche Strukturen Abstraktionsprodukte des Sprachgebrauchs darstellen.104 (ii) Sind die vollzogenen Handlungen bzw. die aktualisierten Gebrauchsbedeutungen („usage events“) gleichförmig, können sie in einer zweiten Phase einen „Invisible-hand-Prozess“ bzw. gewisse kognitive Routinen motivieren. (iii) Auf der Makroebene besteht schließlich die kausale Konsequenz im Wandel der Sprache bzw. im Wandel kognitiver Routinen. Dass kognitive Verfestigungen Phänomene der dritten Art sind, ist kein Zufall. Jede diachrone Veränderung sprachlicher Strukturen muss sich in entsprechenden Veränderungen kognitiver Strukturen, d.h. in der mentalen Repräsentation sprachlicher Strukturen widerspiegeln. Und hierbei liegt es nahe, dass die gebrauchsbasierten Bedingungen, unter denen Veränderungen stattfinden, dieselben sind. Auf den Punkt gebracht: Standardwerte sind Epiphänomene, nämlich eine nicht-intendierte Folge aus einer Vielzahl gleichförmiger (quasi-)expliziter Prädikationen. Wie realistisch ist nun die Theorie kognitiver Verfestigungen aus gedächtnistheoretischer Sicht? Oder anders gefragt: Haben Phänomene der dritten Art ein neuronales Korrelat? An einer Stelle vergleicht Keller den Prozess des Sprachwandels mit der Entstehung eines Trampelpfades. Ein einfaches Beispiel stellt die Theorie der Trampelpfade dar: Über die Rasenfläche unserer Universität zieht sich ein Netz von Trampelpfaden. Dieses Netz von Pfaden ist denkbar klug, ökonomisch durchdacht „angelegt“. Ganz offensichtlich ist seine Struktur sinnreicher als die Struktur der von den Architekten geplanten Pflasterwege. Mehr noch, auf einer Karte, auf der die Gebäude und sonstigen Einrichtungen samt ihrer Funktionen eingetragen wären, nicht aber die Wege, auf einer solchen Karte ließe sich antizipieren, wo Trampelpfade entstehen. Das System der Trampelpfade ließe 104 „A speaker’s linguistic knowledge is not conceived as an algorithmic constructive device giving (all and only) well-formed expressions as ‚outpout‘. Instead, it is more modestly characterized as an array of units (i.e. thoroughly mastered structures – cognitive routines) available to the speaker for the categorization of usage events (actual utterances in the full richness of their phonetic detail and contextual understanding). Such units arise of by a process of schematization based on the reinforcement of recurrent features; thus each embodies a commonality observable across a series of usage events.“ (Langacker 1991a, S. 2; kursive Hervorhebung im Original in Fettdruck) Vgl. ferner Langacker 1988c; 1999b, S. 91-145 und den Überblick in Barlow/Kemmer 2000.
5. Implizite Prädikationen: Standardwerte („default values“)
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sich mit weitaus größerer Treffsicherheit vorhersagen, als das System der von Architekten geplanten Pflasterwege. (Keller 2003, S. 100f.)
Ich will diesen Vergleich aufnehmen, ihn zur Metapher eines „kognitiven Trampelpfades“ zuspitzen und dabei einen Moment lang ignorieren, dass es sich hierbei ‚nur‘ um eine Metapher handelt, um zu schauen, wie weit die (neuro-)psychologische Erklärungskraft des Vergleichs reicht. Zunächst ist festzuhalten, dass der Begriff des Gedächtnisses selbst hochgradig polysem ist. Mit ihm wird auf neuronale Voraussetzungen für Prozesse des Enkodierens, Speicherns und Abrufens von Information genauso Bezug genommen wie auf das Konzept eines Informationsspeichers, der gar nicht psychologischer Natur sein muss (man denke z.B. an den kulturwissenschaftlichen Begriff „kulturelles Gedächtnis“) (Tulving 2000, S. 36). Spreche ich von einem „kognitiven Trampelpfad“, so meine ich damit die Verfestigung von Gedächtnisstrukturen, und Gedächtnis betrachte ich im Folgenden v.a. im ersten Sinn als neuronale Aktivität. Was sind dann „kognitive Trampelpfade“? Langacker sieht das „entrenchment“-Theorem in neurologischer Perspektive insofern bestätigt, als jedem Gebrauchsereignis („usage event“) eine neurochemische Reaktion korrespondiere, die im Fall wiederholter Auslösung eine deutliche „Spur“ („trace“) hinterlasse. Die Metapher „Spur“ soll dabei kenntlich machen, dass sich ein Gebrauchsereignis verfestigen mag, es aber durch eine geringere Auftretenshäufigkeit genauso gut geschwächt werden kann.105 I will use the term event to designate a cognitive occurrence of any degree of complexity, be it the firing of a single neuron or a massive happening of intricate structure and large-scale architecture. We can assume that occurrence of any such event leaves some kind of neurochemical trace that facilitates recurrence. If the event fails to recur, its trace decays; recurrence has progressive reinforcing effect, however, so an event (or more properly, event type) becomes more and more deeply entrenched through continued repetition. (Langacker 1987, S. 100; kursive Hervorhebungen im Original in Fettdruck)
Der von Langacker beschriebene Verstärkungseffekt („reinforcing effect“) ist in der kognitiven Psychologie unter dem Terminus der „Gedächtnisspur“ wohl bekannt (vgl. Anderson 1996, S. 183ff.). Ratcliff und McKoon (1981) haben etwa experimentelle Evidenz dafür erbracht, dass eine einmal angelegte Gedächtnisspur mit jeder Benutzung gestärkt wird. In zahlreichen Wiedererkennungstests konnten sie zeigen, dass abhängig von der Stärke einer Spur sowohl die Stärke ihrer Aktivierung als auch die kognitive Zugänglichkeit zum 105 Zur Metapher der Spur vergleiche auch Langacker 1999b, S. 93: „The ocurrence of psychological events leaves some kind of trace that facilitates their re-occurrence. Through repetition, even a highly complex event can coalesce into a well-rehearsed routine that is easily elicited and reliably executed. When a complex structure comes to be manipulable as a ‚pre-packaged‘ assembly, no longer requiring conscious attention to its parts or their arrangement, I say that it has the status of a unit.“
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VI. Strukturkonstituenten von Frames
jeweiligen Gedächtnisgehalt variiert. Mit zunehmender Übung verfestigt sich die Gedächtnisspur, und infolgedessen können Informationen leichter abgerufen werden.106 Dadurch verringert sich der kognitive Aufwand, und der Informationsabruf wird zur kognitiven Routine. Anderson formuliert daraus folgende Regel: Die Geschwindigkeit und die Wahrscheinlichkeit des Zugriffs auf einen Gedächtnisinhalt werden durch dessen Aktivationshöhe bestimmt. Diese Aktivationshöhe wiederum hängt von der Häufigkeit und dem Zeitpunkt des letzten Abrufs dieses Gedächtnisinhalts ab. (Anderson 1996, S. 180)
Aufgrund der variierenden Abruf-Frequenz und der damit verbundenen variierenden Aktivationshöhen gibt es eine Vielzahl möglicher Verfestigungsgrade von Gedächtnisspuren. Das Gedächtnis, hier verstanden als Menge von Gedächtnisspuren, entwickelt sich permanent weiter. Kein Input bleibt folgenlos.107 Neurowissenschaftlich lässt sich dieser Trampelpfad-Effekt konkretisieren. Inzwischen liegen Befunde darüber vor, dass sich jeder input-bedingte Veränderungsprozess von Gedächtnisspuren in modifizierten Signalübertragungen zwischen Nervenzellen niederschlägt (vgl. Squire 2004). Jede Nervenzelle erhält über unzählige Kontaktstellen, den Synapsen, Informationen von mehreren tausend anderen Neuronen. Allerdings ist nicht jedes Signal, das eine Nervenzelle erhält, so stark, dass es diese ihrerseits zum Feuern veranlasst. Dies geschieht erst ab einer bestimmten Signalstärke. Weil jedes Neuron nur über ein einziges so genanntes „Axon“ verfügt – ein „Transmitterkabel“, über das ein Neuron Impulse versendet –, hat es nur die Möglichkeit, entweder ein Signal an eine andere Nervenzelle zu schicken oder stumm zu bleiben. Damit Informationen für eine lange Zeit zugänglich sind, sie also Teil des Langzeitgedächtnisses werden, müssen synaptische Verbindungen zwischen Neuronen gestärkt werden. Schon der Neurowissenschaftler Hebb (1949) hatte die Vermutung geäußert, dass feste Verschaltungen, so genannte neuronale Netze, nur dann entstehen, wenn die betroffenen Nervenzellen wiederholt so stark gereizt werden, dass sie feuern. Informationen wären demzufolge im Gehirn als Muster neuronaler Aktivität repräsentiert. Neue neurobiologische Ergebnisse stützen nicht nur diese Annahmen Hebbs (vgl. Martinez/Barea-Rodriguez/Derrick 1998, S. 211-217); es konnten auch jene elek-
106 Vgl Newell/Rosenbloom 1981. Sie bezeichnen den beschriebenen Wiederholungseffekt als „Potenzgesetz des Lernens“. 107 Ich hatte schon darauf hingewiesen, dass bereits Bartlett ein solches dynamisches Gedächtnismodell vertreten hat. An einer Stelle schreibt er, die Funktion des Gedächtnisses sei „not the reexcitation of innumerable fixed, lifeless and fragmentary traces. It is an imaginative reconstruction, or construction, built out of the relation of our attitude towards a whole active mass of organised past reactions of experience, and to a little outstanding detail“ (Bartlett 1932, S. 213).
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trochemischen Vorgänge nachgewiesen werden, die die Bildung neuronaler Netze ermöglichen.108 Die neurologische Gedächtnisforschung geht heutzutage davon aus, dass jede Sinneserfahrung dadurch Spuren im Gehirn hinterlässt, dass sich der Wirkungsgrad synaptischer Verbindungen zwischen Nervenzellen verändert. Dies führt zu einer strukturellen Veränderung des entsprechenden neuronalen Netzes. Jede neue Erfahrung, die wir machen, wird mittels neuer neuronaler Verbindungen in die bestehenden Netzwerke integriert; sie trifft auf alte Gedächtnisnetze, die sie aktiviert, weil sie verwandte oder aber widersprechende Inhalte repräsentieren. Das Neue ruft also das Alte wach und wird durch Assoziation und Konsolidierung zu einem Teil des Alten. (Fuster 2005, S. 12)
Ähnliche oder gleiche Erfahrungen konsolidieren bereits bestehende neuronale Verbindungen. Dauerhaft abgespeichert werden Erinnerungsspuren dabei nur im Fall einer so genannten „Langzeitpotenzierung“ (vgl. Spitzer 1996, S. 45ff.). Als Langzeitpotenzierung bezeichnet man eine effizientere Signalübertragung zwischen Synapsen aufgrund rekurrenter Erfahrung. Mittels Langzeitpotenzierung werden Synapsen im Nervennetz derart verändert, dass neu entstehende Muster den neuen Gedächtnisinhalt kodieren. In der Konsequenz verbessert sich nicht nur die Signalübertragung zwischen den Synapsen, die Signalübertragung wird auch stabiler und veränderungsresistenter (Martinez/Barea-Rodriguez/Derrick 1998). Außerdem reagieren die entsprechenden Neuronen sensibler und schneller, wenn dieselbe Nervenbahn aktiviert wird. Umgekehrt gilt aber ebenso: Je schwächer die synaptischen Verbindungen sind, und je weniger sie durch neuen Input gestärkt werden, desto schwieriger ist der kodierte Erinnerungsgehalt zugänglich. Im Extremfall nehmen die einst durch Lernen entstandenen synaptischen Modifikationen so stark ab, dass keine Signalübertragungen zwischen den Neuronen mehr zustande kommen können. In diesem Fall haben wir keinen Zugang mehr zu dem Gedächtnisinhalt. Letztlich trägt dieser Vorgang, den wir als „Vergessen“ bezeichnen, zur Ökonomie unseres Gehirns bei. Neuronal passt sich unser Gehirn stetig an wechselnde Umwelterfahrungen an. Der Input an Sinnesdaten korreliert mit neuronalen Veränderungen.109 108 Vgl. Frey/Morris 1997 und den kompakten Überblick in Fields 2005. Der Prozess des Feuerns, der Signalübertragung zwischen Nervenzellen, ist ein elektrochemischer Vorgang, der sich genauer als Produktion von Enzymen und Proteinen beschreiben lässt, wodurch die synaptischen Verbindungen gestärkt oder gelöscht werden. 109 In diesem Zusammenhang sprechen Neurowissenschaftler und -wissenschaftlerinnen auch von der „Neuroplastizität“ unseres Gehirns. Abhängig von den regelmäßigen kognitiven Anforderungen prägen sich bestimmte Bereiche der Großhirnrinde (Kortex) aus, d.h. neuronale Verknüpfungen sind hier besonders dicht und gefestigt. Elbert u.a. (1995) haben z.B. experimentell nachweisen können, dass jener Kortexbereich, den der linke Zeigefinger repräsentiert, im glei-
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VI. Strukturkonstituenten von Frames
Vor dem Hintergrund der dargestellten neurologischen Befunde verliert die Redeweise vom „kognitiven Trampelpfad“ ein Stück weit ihren metaphorischen Charakter. Ganz analog zum Vergleich Kellers sieht die neuronale Realität in der Tat so aus, dass sich ähnliche Erfahrungen in der Bildung und Verfestigung neuronaler Netzwerkstrukturen niederschlagen. Und analog zu einem Trampelpfad verschwinden auch neuronale Netze in dem Maße, wie die Frequenz ihrer ‚Benutzung‘ abnimmt, wie also neue Sinneserfahrungen ausbleiben, die die entsprechenden Nervenbahnen aktivieren (vgl. hierzu Bartsch 2005). Insofern das Gehirn lediglich sensorischen Input verarbeitet, scheint es zudem berechtigt, die Etablierung dauerhafter Verbindungen zwischen Neuronen als „Phänomen der dritten Art“ zu begreifen. Irreführend wird die Metapher des kognitiven Trampelpfades indes dort, wo sie suggeriert, es gebe einzelne Wege statt eines rhizomatischen Geflechts von Wegen.110 Halten wir fest: Kognitive Verfestigungen haben ein nachweisbares neuronales Korrelat, und sie stellen – im Sinne eines Phänomens der dritten Art – ein emergentes Phänomen dar, das aus einer Vielzahl gleichförmiger SchemaInstanzbeziehungen resultiert. Dass das Theorem kognitiver Verfestigungen und Routinisierungen sowohl mit einer linguistischen Theorie des Sprachwandels als auch mit neurologischen Erkenntnissen zu menschlichen Gedächtnisaktivitäten kompatibel ist, sehe ich als schlagkräftiges Indiz für seinen realistischen Kern. Nach diesem Exkurs komme ich nun wieder auf semantische Fragen im engeren Sinne zurück. Anhand eines Beispieles soll gezeigt werden, wie rekurrente Schema-Instanzbeziehungen einen aufgerufenen Frame verfestigen. 5.3 Type-Frequenz: eine Beispielanalyse Der Übergang von (quasi-)expliziten zu impliziten Prädikationen vollzieht sich allmählich, und nur sehr selten sind wir uns bewusst, wann die Schwelle zum impliziten Wissen überschritten ist. Reagiert jemand wie selbstverständlich auf den Satz Nichts ist unmöglich mit der verbalen Äußerung Toyota, können wir uns einigermaßen sicher sein, dass diese Person eine prädikative Zuschreibung durch rekurrente Schema-Instanzbeziehungen gelernt hat. Bevor ich im nächsten Kapitel einen komplizierten Fall daraufhin untersuche, welche rekurrenten Schema-Instanzbeziehungen durch eine hohe Tokenchen Maße an Größe zunimmt, wenn jemand Gitarre oder Geige zu spielen lernt, wie beim Erlernen der Blindenschrift. Denn beide Male sind ähnliche feinmotorische Fertigkeiten gefragt. 110 Darüber hinaus gibt die Metapher freilich keinen Aufschluss darüber, woraus der Weg besteht, wie lange er Bestand hat, wenn er einmal ‚etabliert‘ ist, unter welchen Umständen er sich verändert usw. Hier stößt die metaphorische Erklärungskraft an ihre Grenzen.
5. Implizite Prädikationen: Standardwerte („default values“)
357
Frequenz zur Etablierung von Standardwerten führen, möchte ich zunächst anhand eines literarischen Beispiels veranschaulichen, wie eine hohe TypeFrequenz die kognitive Präsenz eines Referenzobjektes erhöht.111 Normalerweise ist es aus einem einfachen Grund unmöglich, die allmähliche Erhöhung der kognitiven Präsenz eines Referenzobjektes empirisch aufzuzeigen: Um alle rekurrenten Schema-Instanzbeziehungen erfassen zu können, die bei einer Person p zur kognitiven Verfestigung eines Types (bzw. Schemas) führen, müssten der Analyse alle perzeptiven Inputs zur Verfügung stehen, die die entsprechende Schema-Instanzbeziehung betreffen.112 Im folgenden Fallbeispiel verhält es sich ausnahmsweise anders. Hier haben wir tatsächlich auf den gesamten perzeptiven Input Zugriff. Die Daten des Inputs stammen nämlich aus einem Roman, und dem Leser oder der Leserin steht außer diesen Daten keine andere Informationsquelle zur Verfügung, die zu kognitiven Verfestigungen von Types oder Tokens beitragen könnten.113 Den Gegenstand der Analyse bildet die Partikel wahrscheinlich. In der Regel hat diese Partikel, wie jedes Funktionswort, den Status einer Instanz, sofern sie den Wissensmodus einer thematisierten Entität konkretisiert. Schon in Abschnitt VI.2.2 hatte ich jedoch argumentiert, dass manche Partikeln prädikativ durchaus näher bestimmt werden können. Aus empirischer Sicht galt dieser Fall zwar als Randphänomen, weil eine Hyperonymtypenreduktion im Fall von Funktionswörtern nicht möglich ist und wir somit über keine Methode verfügen, die Leerstellen desjenigen Frames zu ermitteln, den das Wort wahrscheinlich aufruft. Für die folgende Analyse stellt dieser Umstand aber kein Hindernis dar, da es nicht darum gehen soll, die Wissensdimensionen zu erfassen, auf die das Wort wahrscheinlich anspielt, sondern vielmehr darum darzulegen, wie (quasi-) explizite Prädikationen die semantische Einheit (im Sinne Langackers) der Partikel bestimmen und verfestigen. Ich gehe so vor, dass ich relevante Textpassagen zunächst zitiere und dann hinsichtlich (quasi-)expliziter Prädikationen analysiere. Das geschieht in drei Blöcken. Um die Textstellen grob in den übergreifenden Handlungszusammenhang des Romans einordnen zu können, erläutere ich, ebenfalls in gebotener Kürze, die wichtigsten Ereignisse, die sich in der Zwischenzeit jeweils zugetragen haben. Der Roman, um den es geht, stammt von dem japanischen Schriftsteller Haruki Murakami und heißt Gefährliche Geliebte. Ort des Romangeschehens ist 111 Vgl. auch Bartsch 2005. Bartsch nimmt ebenfalls ein literarisches Beispiel, nämlich Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, um kognitiven Verfestigungen nachzugehen. Die kognitionstheoretischen Voraussetzungen ihrer Studie stimmen weitestgehend mit den hier explizierten überein. 112 Ähnliches gilt für die Konsolidierung von Instanzen durch eine hohe Token-Frequenz. 113 Zwar ist prinzipiell nicht auszuschließen, dass kognitive Verfestigungen auch auf das Abrufen von Informationen aus dem Gedächtnis zurückgehen. Aber solche Abrufprozesse allein können Leerstellen und Werte eines Frames nur unzureichend konsolidieren.
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VI. Strukturkonstituenten von Frames
Tokio, und erzählt wird die Geschichte eines dreißigjährigen namenlosen IchErzählers, der nach über 18 Jahren eine alte Freundin wiedertrifft. Zu dieser Freundin namens Shimamoto hatte sich der Ich-Erzähler als Kind stark hingezogen gefühlt. Inzwischen ist er verheiratet, hat zwei Kinder und verdient seinen Lebensunterhalt durch zwei Jazzbars, die er im Zentrum Tokios unterhält. Als Shimamoto dort eines Tages auftaucht, erinnern sich beide an die gemeinsame Kindheit. Nach mehrfachem Wiedersehen kann sich der IchErzähler dem Sog der alten Liebe immer weniger entziehen. Doch plötzlich taucht Shimamoto in der Jazz-Bar nicht mehr auf. In diesem Kontext thematisiert der Ich-Erzähler zum ersten Mal das Wort wahrscheinlich. Dem Wort kommt später, wie wir sehen werden, eine interpretative Schlüsselfunktion zu, wohl auch deswegen ist es an den entscheidenden Stellen im Roman kursiv gedruckt. Passage 1 (Murakami 2002, S. 158; Hervorhebungen im Original): Der Mai kam und ging, es wurde Juni. Und noch immer keine Shimamoto. Ich war mir sicher, daß sie für immer verschwunden war. Wahrscheinlich kann ich eine Zeitlang nicht mehr kommen, hatte sie geschrieben. Worunter ich am meisten litt, war dieses wahrscheinlich, dieses eine Zeitlang, die darin liegende Unbestimmtheit.
Die Analyse fällt hier kurz aus. Die Partikel wahrscheinlich rückt durch den metasprachlichen Bezug in den thematischen Mittelpunkt. Die Nominalisierung erlaubt es, etwas über das aufgerufene Referenzobjekt, nämlich den ausgedrückten Wissensmodus, zu prädizieren.114 Drei (quasi-)explizite Prädikationen sind in Passage 1 vollzogen, die ich – zur Verdeutlichung, dass über die Partikel etwas ausgesagt wird – so umforme, dass der frame-evozierende Ausdruck in der Subjektposition steht.115 (25) Das (Wort) wahrscheinlich bezieht sich auf das zeitweilige NichtKommen-Können von Shimamoto. (26) Das (Wort) wahrscheinlich trägt zum Leiden des Ich-Erzählers bei. (27) Das (Wort) wahrscheinlich drückt eine Unbestimmtheit aus. Handelt es sich in (26) und (27) um explizite Prädikationen, so ist die Prädikation in (25) quasi-expliziter Art. – Die nächsten beiden Analyseblöcke bezie114 Die Thematisierung des Wissensmodus rückt zusätzlich durch einen offenkundigen Widerspruch in den Mittelpunkt. Zwar gibt der Ich-Erzähler vor, sicher zu sein, dass Shimamoto für immer verschwunden sei. Gleichzeitig leidet er aber darunter, dass Shimamoto geschrieben hat, sie würde wahrscheinlich nicht zurückkommen. 115 Vgl. Lönneker 2003a, S. 73. Konerding (1997, S. 64) bemerkt, dass sich nominalisierte sprachliche Einheiten syntaktisch-funktional topikalisieren lassen. Diese Eigenschaft der Topikalisierbarkeit mache ich mir hier (und auch im Folgenden) zunutze; prädikative Zuschreibungen sind so leichter erkennbar. Solche syntaktischen Umformungen sind auch dadurch legitimiert, dass sich Prädikationen nicht auf den syntaktisch markierten Nominativ beschränken (vgl. Konerding 1993, S. 165).
5. Implizite Prädikationen: Standardwerte („default values“)
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hen sich nicht auf einzelne, sondern auf mehrere inhaltlich zusammenhängende Textpassagen. Die Geschichte nimmt ihren Verlauf. Nach sechs Monaten Abwesenheit taucht Shimamoto wieder auf. Zwischen ihr und dem Ich-Erzähler entwickelt sich folgendes Gespräch: Passage 2 (Murakami 2002, S. 172; Hervorhebungen im Original): „Aber ich habe dir doch eine Nachricht hinterlassen, daß ich eine Zeitlang nicht mehr kommen würde, oder?“ „Eine Zeitlang ist eine Einheit, mit der niemand rechnen kann. Zumindest niemand, der wartet“, sagte ich. […] „Und wahrscheinlich ist ein Wort, dessen Gewicht sich nicht abschätzen lässt.“
Und nach einer Weile spricht Shimamoto selbst über ihre lange Abwesenheit. Passage 3 (Murakami 2002, S. 176; Hervorhebungen im Original): „Sechs Monate sind eine lange Zeit“, sagte sie. „Aber jetzt werde ich wohl wieder eine Zeitlang herkommen können. Wahrscheinlich.“ „Die alten Zauberwörter“, sagte ich. „Zauberwörter?“ „Wahrscheinlich und eine Zeitlang.“ […] „Du bist hier“, fuhr ich fort. „Zumindest sieht es so aus, als seiest Du hier. […] Ich strecke Dir die Hand aus, um mich zu vergewissern, aber du hast dich hinter einer Wolke von Wahrscheinlichs versteckt. Meinst du, wir können ewig so weitermachen?“
In einem Ferienhaus, in dem beide für ein Wochenende heimlich abgestiegen sind, offenbart sich der Ich-Erzähler Shimamoto vollends. Passage 4 (Murakami 2002, S. 183; Hervorhebungen im Original): „Shimamoto-san“, sagte ich, „nachdem Du verschwunden warst, habe ich lange über Dich nachgedacht. Sechs Monate lang, jeden Tag von früh bis spät. […] Ich will dich nie wieder verlieren. Ich will nie wieder die Worte eine Zeitlang oder wahrscheinlich hören. […].“
Doch nach einer gemeinsam verbrachten Nacht wacht der Ich-Erzähler auf, und Shimamoto ist spurlos verschwunden. Passage 5 (Murakami 2002, S. 193; Hervorhebungen im Original) Wieder einmal war Shimamoto aus meinem Leben verschwunden. Diesmal jedoch, ohne irgend etwas zurückzulassen, woran ich meine Hoffnungen hätte hängen können. Kein Wahrscheinlich diesmal. Kein eine Zeitlang mehr.
In diesen Passagen 2 bis 5 befinden sich zahlreiche weitere explizite und quasi-explizite Prädikationen. Sie lauten der Reihe nach: (28) Das (Wort) wahrscheinlich ist von unabschätzbarem Gewicht für den Ich-Erzähler.
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VI. Strukturkonstituenten von Frames
(29) Das (Wort) wahrscheinlich bezieht sich auf das Kommen-Können Shimamotos für eine Zeitlang. (30) Das (Wort) wahrscheinlich ist ein Zauberwort (Shimamotos). (31) Die Wahrscheinlichs bilden eine Wolke. (32) Die Wahrscheinlichs dienen Shimamoto als Versteck. (33) Das (Wort) wahrscheinlich ist ein Wort, das der Ich-Erzähler (von Shimamoto) nicht mehr hören will. (34) Das (Wort) wahrscheinlich ist von Shimamoto nicht zurückgelassen worden. (35) Das (Wort) wahrscheinlich dient als etwas, woran der Ich-Erzähler seine Hoffnung hängen kann. Gegen Ende des Romans wird die Modalpartikel wahrscheinlich noch zweimal thematisiert. Beide Textstellen seien zusammen behandelt. Zu Hause angekommen vertraut sich der Ich-Erzähler seiner Frau an. Dennoch kreisen seine Gedanken fortlaufend um Shimamotos Verschwinden: Passage 6 (Murakami 2002, S. 200f. ; Hervorhebungen im Original): Sie war einfach verschwunden, samt ihren Geheimnissen. Kein Wahrscheinlich, kein eine Zeitlang diesmal – still und heimlich hatte sie sich davongeschlichen. Unsere Körper hatten sich vereint, und doch hatte sie sich am Ende geweigert, mir ihr Herz zu öffnen.
Doch ihm wird zunehmend klar, dass er Shimamoto nie wiedersehen wird. Er entscheidet sich schließlich bewusst für seine Familie – und plant, am nächsten Tag sein neues Leben anzufangen. Die Schlusspassage des Romans lautet: Passage 7 (Murakami 2002, S. 217; Hervorhebung im Original): Ich weiß nicht, ob ich die Kraft habe, für Yukiko und die Kinder zu sorgen, dachte ich. […] Niemand wird Träume für andere erfinden. Das ist nun meine Aufgabe. Mag sein, daß diese Träume keine Macht besitzen, aber wenn mein Leben irgendeinen Sinn haben soll, muß ich es dennoch tun. Wahrscheinlich.
Zwei letzte Prädikationen ergeben sich aus den Passagen 6 und 7. (36) Ein Wahrscheinlich gibt es nicht mehr (hinsichtlich Shimamotos Rückkehr). (37) Das (Wort) wahrscheinlich bezieht sich darauf, dass der Ich-Erzähler für andere Träume erfinden müsse, damit sein Leben irgendeinen Sinn habe.
5. Implizite Prädikationen: Standardwerte („default values“)
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Worauf sich in Passage 7 die Partikel wahrscheinlich bezieht, ist allerdings keineswegs so eindeutig, wie die Auflösung in (37) suggeriert. Mindestens zwei weitere Alternativen lassen sich angeben:116 (37) a. (37) b.
Das (Wort) wahrscheinlich bezieht sich darauf, dass das Leben des Ich-Erzählers einen Sinn hat, wenn er für andere Träume erfindet. Das (Wort) wahrscheinlich bezieht sich darauf, dass die Träume, die der Ich-Erzähler für andere erfindet, keine Macht haben.
Mit dem Einwortsatz wahrscheinlich ist in Passage 7 Ambiguität systematisch angelegt. Zahlreiche Interpretationsvarianten konkurrieren miteinander. Der Einfachheit halber blende ich im Folgenden (37a) und (37b) aus und konzentriere mich ausschließlich auf (37). Was passiert im Laufe der zitierten Passagen mit der Partikel wahrscheinlich? Erinnern wir uns zunächst daran, dass nach Searle jeder Ausdruck, mit dem eine Entität von anderen Entitäten abgehoben und identifiziert wird, ein referierender Ausdruck ist. In diesem Sinne zeigen die Nominalisierungen in den Passagen 1, 3, 5 und 6 an, dass die Modalpartikel wahrscheinlich (in Abhebung von anderen Modalpartikeln wie vielleicht, sicher usw.) selbst thematisiert wird, also referierend zum Einsatz kommt. Mittels der Prädikationen (25) bis (37) wird dann in ganz verschiedenen Hinsichten etwas über den epistemischen Modus des Wahrscheinlichen ausgesagt. Der epistemische Modus – hier im Rang eines aktivierten Frames – wird von anderen Modi durch Prädikate abgehoben, die sich alle qualitativ voneinander unterscheiden.117 Es liegt demnach keine hohe Token-, aber eine hohe Type-Frequenz vor. Das Referenzobjekt wird oft adressiert und ein entsprechender Frame oft aufgerufen. Die hohe Token-Frequenz verfestigt den Frame. Überall dort, wo auf wahrscheinlich nicht metasprachlich Bezug genommen wird, zeigt sich, dass diese Partikel zugleich als konkreter Füllwert in einem übergeordneten Frame figuriert. Das ist an drei Stellen der Fall. Zum einen in Passage 1 und 3. Wahrscheinlich wird hier als Instanz eingeführt, die jenen Kasusrahmen modal spezifiziert, den das Verb kommen aufruft. Sieht man einmal von (37) ab, so beziehen sich alle erwähnten Prädikationen auf diesen übergeordneten Kasusrahmen. Genauer: Die Prädikationen (25) bis (36) beziehen 116 Erweitert man die Reichweite des Modalpartikels, ergeben sich darüber hinaus sogar folgende (eher unwahrscheinliche, aber nicht ausgeschlossene) Lesarten: (i) Das (Wort) wahrscheinlich bezieht sich auf die Aufgabe des Ich-Erzählers, für andere Träume zu erfinden. (ii) Das (Wort) wahrscheinlich bezieht sich darauf, dass sonst niemand Träume für andere erfinden wird. 117 Mit einer kleinen Ausnahme: (25) und (29) sind identisch. Eine hohe Token-Frequenz liegt deswegen natürlich nicht vor.
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VI. Strukturkonstituenten von Frames
sich alle auf die Äußerung Shimamotos, dass sie wahrscheinlich für eine Zeitlang nicht mehr kommen könne (vgl. Passage 1). Tab. 6 illustriert diesen übergeordneten Kasusrahmen. Seine Leerstellen sind nach semantischen Rollen der von Polenz’schen Klassifizierung benannt,118 allerdings um die Kategorie „Modal(ität)“ ergänzt, womit ich Veränderungen des Wissensmodus durch Modalverben und/oder durch Modalpartikeln (im Sinne von Busse 1991a, S. 187) meine.119 Frame kommen
Leerstellen Agens Modal(ität) Temporativ
Instanzen Shimamoto kann wahrscheinlich nicht mehr eine Zeitlang
Tab. 6: Kasusrahmen zu kommen, basierend auf dem Satz Shimamoto kann wahrscheinlich eine Zeitlang nicht mehr kommen
Allein in Passage 7, der dritten Stelle, wo wahrscheinlich nicht metasprachlich thematisiert wird, bezieht sich die Partikel nicht auf Shimamotos NichtKommen-Können bzw. Kommen-Können. Was geschieht hier, wenn wir der Lesart (37) folgen? Die Partikel bildet eine Instanz in einem anderen Kasusrahmen. Durch sie wird nicht modal relativiert, dass Shimamoto eine Zeitlang nicht mehr kommen könne, sondern dass der Ich-Erzähler nun Träume für andere erfinden müsse. Tab. 6 fasst Leerstellen und Instanzen des Kasusrahmens zu erfinden zusammen. Frame erfinden
Leerstellen Agens Modal(ität) effiziertes Objekt
Instanzen Ich-Erzähler muss wahrscheinlich Träume für andere
Tab. 6: Kasusrahmen zu erfinden, basierend auf (37) bzw. dem Satz Der Ich-Erzähler muss wahrscheinlich Träume für andere erfinden.
Die Pointe des Gebrauchs von wahrscheinlich besteht in der Lesart (37) nun darin, dass die Instanz wahrscheinlich einen (Sub-)Frame aufruft, der bereits mit Instanzen belegt ist. Nachdem in den Passagen 1 bis 6 in vielfacher Hinsicht 118 Ich habe hier die von Polenz’schen Bezugsstellen (und nicht diejenigen, die sich aus dem Matrixframe „Handlung“ ergeben) aus dem Grund gewählt, weil es hier zunächst um eine satzsemantische Analyse der angesprochenen Füllelemente geht. 119 Vgl. Vater 2005, S. 72. „Modal(ität)“ sieht Vater als eigenen Referenzbereich an. Sowohl Modalverben (können, müssen, sollen, dürfen) als auch Partikeln wie vielleicht, sicher, gewiss, wahrscheinlich referieren nach Vater auf die Art und Weise, wie etwas vor sich geht.
5. Implizite Prädikationen: Standardwerte („default values“)
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konkretisiert worden ist, was für den Ich-Erzähler wahrscheinlich bedeutet, ist das Wort gewissermaßen semantisch aufgeladen. Zumindest einige der prädikativen Zuschreibungen (25) bis (36) inferiert der Leser oder die Leserin. So entsteht in (37) eine neue, emergente Bedeutung des Wortes wahrscheinlich, ja, die ganze Passage 7 rückt in ein anderes Licht. Heißt es dort, dass der IchErzähler für andere, etwa seine Familie, Träume erfinden muss und dass sein Leben nur so einen Sinn bekommt, ist die abschließende Abschwächung durch wahrscheinlich weit mehr als eine epistemisch-modale Relativierung des Gesagten: Wir wissen etwa, dass das Wort wahrscheinlich zum Leiden des IchErzählers beiträgt (vgl. (26)), trotzdem aber von unabschätzbarem Gewicht für ihn ist (vgl. (28)), ein Zauberwort (vgl. (30)), und zwar sowohl im negativen Sinn, insofern es eine Wolke bildet, hinter der man sich verstecken kann (vgl. (31), (32)), als auch im positiven Sinn, insofern alle Hoffnung an diesem Wort hängt (35). Abhängig davon, welche dieser Prädikationen der Leser oder die Leserin inferiert, eröffnen sich unterschiedliche Interpretationsperspektiven. Da aber die Token-Frequenz aller genannten Prädikationen extrem gering ist – jede Prädikation tritt nur einmal auf –, kann sich keine Prädikation konsolidieren. Im Sinne einer hohen Type-Frequenz verfestigt sich allein die epistemische Ungewissheit, die in allen Gebrauchsvarianten der Partikel wahrscheinlich zum Ausdruck kommt. Sie wird für den Ich-Erzähler zu einer Metapher für Unsicherheit und Ungewissheit. Eine Interpretationsvariante möchte ich abschließend noch skizzieren. Betrachtet man Passage 7 – wiederum in der Lesart (37) – zunächst isoliert, stellt die Partikel wahrscheinlich ‚nur‘ in Frage, ob der Ich-Erzähler wirklich Träume erfinden, seinem Leben einen Sinn geben und mithin für seine Familie sorgen können wird. Hierbei handelt es sich um jene Lesart von wahrscheinlich, die in Frame 2 in Abb. 9 illustriert ist. Angenommen, der Leser oder die Leserin erinnert sich aber noch daran, dass wahrscheinlich ein Zauberwort ist (vgl. (30)), letztlich aber eine Wolke bildet, hinter der man sich verstecken kann (vgl. (31), (32)). Diese drei Prädikationen p(30), p(31) und p(32) stammen zwar aus einem anderen Frame (in Abb. 9: Frame 1), gehen aber dann in die semantische Interpretation von wahrscheinlich in Passage 7 ein. In der emergenten Bedeutung der Partikel (in Abb. 9 Frame 2’) wären diese neuen Bedeutungsaspekte folglich integriert. In dieser Interpretationsvariante wäre es für den Ich-Erzähler ein unerreichbares Ziel, Träume zu erfinden und seinem Leben einen Sinn zu ergeben.120 120 Dass der Leser und die Leserin inferierend Leerstellen schließen, ist in der Rezeptionsästhetik (etwa Wolfgang Isers) bereits unter anderen Gesichtspunkten behandelt worden. So sieht Iser (1975) in der „Normalisierung von Unterbestimmtheit“, die in literarischen Texten angelegt sei, eine wichtige Eigenleistung von Lesern und Leserinnen. Der Text weise einen so genannten „Leerstellenbetrag“ auf, der ein „Beteiligungsangebot“ an die Leser und Leserinnen darstelle.
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VI. Strukturkonstituenten von Frames
Wahrscheinlich: Frame 1
Wahrscheinlich: Frame 2
(Instanz im Kasusrahmen zu kommen: Shimamoto (Instanz im Kasusrahmen zu erfinden: Der Ichkann wahrscheinlich eine Zeitlang nicht mehr kommen.) Erzähler muss wahrscheinlich Träume für andere erfinden.)
• p(35) • p(26) • p(28) • p(32) • p(31) • p(30)
•p(37)
• p(32) • p(30) • p(31) • p(37)‘ Wahrscheinlich: emergenter Frame 2’ Abb. 9: Eine mögliche emergente Bedeutung von wahrscheinlich in Passage 7, entstanden aus der konzeptuellen Integration der (quasi-) expliziten Prädikationen p(30), p(31), p(32) aus Frame 1
Rekapitulieren und verallgemeinern wir die Ergebnisse. Modalpartikeln, wie im analysierten Beispiel das Wort wahrscheinlich, können erstens auf einer relativ schmalen Datenbasis als Wörter etabliert werden, die einen Frame aufrufen. Dazu helfen drei eng miteinander zusammenhängende sprachliche Mittel: Nominalisierungen, syntaktisch-funktionale Topikalisierungen und metasprachliche Thematisierungen. Zweitens zeichnet sich der auf diese Weise etablierte Frame dadurch aus, dass er ein Referenzobjekt mit zahlreichen Prädikaten näher bestimmt und sich so von möglichen anderen Referenzobjekten abhebt. Drittens figurieren die Wörter, die einen Frame aufrufen, selbst als Instanzen eines übergeordneten Frames. Ändert sich der übergeordnete Frame, so ist es möglich, dass einige Instanzen des Sub-Frames mit aktualisiert werden. Auf diese Weise entsteht eine neue, emergente Bedeutung. In der Analyse der Partikel wahrscheinlich bin ich nicht näher auf die semantische Inhaltsdimension des Ausdrucks eingegangen. Im Vordergrund meiner Darstellung stand vielmehr die allmähliche Konsolidierung des FraFrame-semantisch ließe sich m.E. dieser rezeptionsästhetische Ansatz erweitern und zeichentheoretisch fundieren. Iser gibt keine zufriedenstellende Antwort auf die Frage, inwiefern das, was er „Leerstellen“ und (in Anlehnung an Roman Ingarden) „schematisierte Ansichten“ nennt, in der Natur sprachlicher Zeichen selbst angelegt ist.
5. Implizite Prädikationen: Standardwerte („default values“)
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mes, den die Partikel aufruft. Dafür sorgte eine hohe Type-Frequenz. Aufgrund der geringen Datenmenge konnte jedoch keine Aussage darüber getroffen werden, welche Standardwerte sich möglicherweise in dem aufgerufenen Frame verfestigen. Die Token-Frequenz war dafür nicht nur zu gering, die Tokens wiesen zudem eine maximale Streuung auf. Lediglich eine Prädikation trat doppelt auf.121 Ohne eine quantitative korpusbasierte Analyse lässt sich auf die Etablierung von Standardwerten nicht zurückschließen. Zur Illustration solcher kognitiver Verfestigungen führe ich nun im letzten Kapitel eine umfangreiche Korpusanalyse durch.
121 Vgl. (25) und (29).
VII. Frames in Textkorpora: die Metapher der Heuschrecke Im letzten Abschnitt sind Frames nicht mehr als kognitive Repräsentationsformate begriffen worden; stattdessen kamen sie als Werkzeuge zur Analyse verstehensrelevanten Wissens zum Einsatz. Damit hat ein Perspektivenwechsel stattgefunden, der auch für dieses Kapitel maßgeblich sein wird. Dass die Strukturkonstituenten eines Frames ohne weiteres als semantische Analysekategorien operationalisiert werden können, deutete sich bereits im Verlauf der sprachstrukturellen Bestimmung der Konstituenten an. Evoziert ein sprachlicher Ausdruck, genauer dessen Formseite, einen Frame, hat dieser u.a. insofern einen schematischen Charakter, als er zahlreiche Leerstellen enthält, die sprachlich durch Prädikate ‚gefüllt‘ werden können. Daraus ergeben sich drei Abstraktionsebenen, die auch für Sprachanalysen von großem Nutzen sind. Auf einem niedrigen Abstraktionsniveau befinden sich konkrete Füllwerte, die dem Referenzobjekt zugesprochenen Prädikaten entsprechen. Von diesen unterscheiden sich implizite Prädikationen (Standardwerte) insofern, als sie aus dem Gedächtnis abgerufen werden müssen. Dies gelingt nur, wenn sich der konzeptuelle Gehalt dieser Prädikate schon konsolidiert hat. Schließlich bilden Leerstellen die abstraktesten Einheiten. Sie geben Möglichkeiten zur Wissensspezifikation durch explizite oder implizite Prädikationen an. Leerstellen haben kein kognitives Korrelat, bei ihnen handelt es sich um rein analytische Größen. Gerade deswegen nehmen sie für Korpusanalysen einen hohen Stellenwert ein. Wenn ich im Folgenden der Frage nachgehe, wie sich Standardwerte empirisch ermitteln lassen, versuche ich mich ihrer Beantwortung mittels Prädikationsanalysen anzunähern. Standardwerte, so wird der Tenor der Überlegungen sein, bilden sich innerhalb eines Diskurses (im Sinne von Busse/Teubert 1994) durch rekurrente gleichförmige Schema-Instanzbeziehungen heraus. Das Auftreten vieler verschiedener Instanzen in einem Schema verfestigt das Schema, während das rekurrente Auftreten gleicher oder ähnlicher Instanzen zur Bildung eines neuen Schemas führt. Im ersten Fall liegt eine hohe Type-Frequenz vor, im zweiten Fall eine hohe TokenFrequenz.1 Frames dienen als semantisch-epistemologisches Analyseinstru1
Vgl. meine diesbezüglichen Ausführungen in Kap. VI. Abweichend von Peirce meine ich mit „Token“ nicht ein einmaliges singuläres Zeichen mit einem je spezifisch materialisierten Zeichenkörper in einem spezifischen Realisierungskontext, sondern das Auftreten des gleichen Zei-
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VII. Frames in Textkorpora: die Metapher der Heuschrecke
ment, mit dem sich Type- und Token-Frequenzen auf der Basis großer Textkorpora bestimmen lassen. Da Frames die Inhaltsseite symbolischer Einheiten strukturieren und sprachliche Ausdrücke ganz unterschiedlicher Komplexität (Morpheme, Wörter, Phrasen, Sätze, Argumentationsmuster usw.) symbolische Einheiten bilden, lassen sich dem Anspruch nach mit denselben frame-semantischen Mitteln ähnliche Analysen beliebig komplexer symbolischer Einheiten durchführen. Gegenstandsbereich der Fallstudie bildet die Metapher „Heuschrecke“, die sich im öffentlichen Sprachgebrauch inzwischen als pejorative und stigmatisierende Bezeichnung für eine Gruppe von Finanzinvestoren durchgesetzt hat. Geprägt wurde die Metapher durch den damaligen SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering, der Mitte April 2005 das Verhalten bestimmter Finanzinvestoren mit Heuschreckenplagen verglichen hat. Münteferings Vergleich gilt als Auslöser der so genannten „Kapitalismus-Debatte“, in der die Notwendigkeit einer politischen Regulierung des Finanzgebarens von so genannten „Private Equity“-Gesellschaften und Hedge-Fonds äußerst kontrovers diskutiert wurde. Über die Brisanz der Metapher urteilte die Süddeutsche Zeitung am 10. Mai 2005: „Über keine Äußerung wurde in den letzten Jahren so gestritten wie über die von der Macht des Kapitals.“ Bei der Wahl des „Wort des Jahres 2005“ schaffte es Heuschrecke immerhin auf den vierten Platz. Das Erkenntnisinteresse der empirischen Metapher-Untersuchung ist einerseits, jenen konzeptuellen Gehalt der Metapher korpusbasiert zu ermitteln, der sich im Rahmen der „Kapitalismus-Debatte“ allmählich herausgebildet hat. Ein weitergehendes Ziel besteht darin, die in den letzten beiden Kapiteln entwickelten frame-semantischen Kategorien korpusanalytisch einzusetzen und zu erproben. Mir geht es im Folgenden also nicht um individuelle Verstehensprozesse, sondern um die Frage, inwiefern die Analyse großer – hier schriftsprachlicher – Korpora darüber Aufschluss geben kann, welche verstehensrelevanten Hintergrundannahmen (Standardwerte) innerhalb eines Diskurszusammenhangs allmählich etabliert werden. Eine solche Analyse hat einen probabilistischen Charakter; sie geht davon aus, dass sich die Auftretensfrequenz eines sprachlichen Elementes – hier: von Prädikaten – auf die konzeptuelle Repräsentation sprachlicher Einheiten auswirkt.
chens (d.h. der gleichen phonologischen Einheit im Sinne Langackers) in ähnlichen Kontexten. Dies ist im frame-semantisch relevanten Sinne genau dann der Falle, wenn mit der gleichen phonologischen Einheit auf das gleiche Referenzobjekt Bezug genommen wird und dabei mit den gleichen prädikativen Zuschreibung spezifiziert wird.
1. Präliminarien
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1. Präliminarien Um die methodischen Voraussetzungen der folgenden Korpusanalyse transparent zu machen, sind im nächsten Abschnitt zuerst einige Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu Studien erläutert, die ebenfalls Frames als korpuslinguistisches Analyseinstrument einsetzen. Abschnitt 1.2 widmet sich dann der Spezifik des linguistischen Gegenstandsbereiches „Metapher“. Erläutert werden hier das zugrunde gelegte Verständnis sowie die kognitions- und diskurstheoretische Relevanz von Metaphern. 1.1 Frames als korpuslinguistisches Analyseinstrument Bislang liegen mit Fraas 1996a, Lönneker 2003a und Klein 1999 drei Untersuchungen vor, die Matrixframes für Korpusanalysen nutzbar machen. Darüber hinaus gibt es eine Reihe von frame-basierten Einzeltextanalysen. Auch auf diese gehe ich kurz ein, insofern sie in wichtigen Punkten von meinem Operationalisierungsvorschlag abweichen bzw. mit diesem übereinstimmen. In den Abschnitten VII.3.1 bis 3.4 stelle ich dann meine Methode in Form eines Leitfadens im Detail vor. Fraas (1996a) setzt Frames für diskursanalytische Zwecke ein.2 Am Beispiel des historischen Wandels der Konzepte „Identität“ und „Deutsche“ illustriert sie, wie Frames als historisch-epistemologisches Analyseinstrument zum Einsatz kommen können. Sie belegt, dass sich unter dem Einfluss des „Einheitsdiskurses“ Ende der 80er Jahre die inhaltlichen Ausprägungen der untersuchten Konzepte maßgeblich wandeln. Dabei macht sie deutlich, dass die Bedeutungsvarianz in der Zugehörigkeit zu verschiedenen Diskursen begründet liegt. Fraas’ empirisches Vorgehen weist einige Parallelen zu der von mir gewählten Methode auf:3 x Den Ausgangspunkt bildet die Annahme, dass stillschweigendes Wissen innerhalb einer Sprachgemeinschaft über gebräuchliche Prädikationen zugänglich ist (vgl. Fraas 1996a, S. 5). x Frames gelten in der Tradition Minskys (1975, 246f.) als „Listen“ sinnvoller Fragen, die systematisch die Kontextualisierung des frame2
3
Mit „Diskurs“ meine ich hier im Sinne von Busse und Teubert (1994) eine virtuelle Menge von Texten, die durch einen gemeinsamen thematischen Themenbezug aufeinander verweisen und so eine epistemisch-funktionale Einheit bilden. Zum Zusammenhang von Diskursanalyse und Frame-Semantik vgl. Ziem 2008. Ich hatte bereits ausgeführt, dass Fraas allerdings ihre Konzeption mit dem Zwei-EbenenModell Bierwischer Prägung in Verbindung bringt. Daraus resultieren fundamentale Probleme, vgl. Kap. II. Fraas’ Orientierung am modularen Modell hat indes für ihr empirisches Vorgehen keine Konsequenzen.
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VII. Frames in Textkorpora: die Metapher der Heuschrecke
aktivierenden Ausdrucks steuern. Frames sind mithin Prädikationsrahmen und -raster (vgl. Fraas 1996a, S. 27). x Welche Leerstellen (resp. Fragen) einem Frame angehören, lässt sich Konerding folgend über eine Hyperonymtypenreduktion desjenigen Ausdrucks bestimmen, der den Frame aufruft (vgl. Fraas 1996a, S. 26). x Prädikationen gelten als sprachliche Realisierungen des konzeptuellen Gehalts eines Ausdrucks, so dass auf der Basis der Menge an (quasi-)expliziten Prädikationen auf die kognitive Präsenz und Prominenz verstehensrelevanter Wissensaspekte zurück geschlossen werden kann (vgl. Fraas 1996a, S. 78). x Präzise Aussagen über die Inhaltsdimensionen eines Frames lassen sich einerseits durch eine qualitative Analyse realisierter Prädikationen treffen. Andererseits gibt die Auftretenshäufigkeit (im Sinne der dargestellten Token-Frequenz) einzelner Prädikationen Aufschluss darüber, welche Standardwerte dabei sind, sich herauszubilden (vgl. Fraas 1996a, S. 72-74).4 Neben der frame-basierten Analyse konzeptuellen Wissens versucht Fraas, zusätzlich Einstellungen von Sprecherinnen und Sprechern zu diesem Wissen einzubeziehen (Fraas 1996a, S. 29-30). Durch eine Systematisierung von Kontexthinweisen (wie dem Gebrauch von Modalpartikeln, Bezügen auf Wissensquellen usw.) gelangt sie zu fünf Typen von Sprechereinstellungen,5 die ihr als Analyseraster dienen. M.E. bringt jedoch diese soziopragmatische Erweiterung den Nachteil mit sich, dass ein Stück weit die methodisch abgesicherte und validierte Frame-Analyse relativiert wird. Denn Typisierungen von Sprechereinstellungen mit Hilfe konkreter Kontexthinweise verlaufen im besten Fall heuristisch, im schlechtesten Fall willkürlich. Weil Fraas Einstellungstypen induktiv allein aus dem zu analysierenden Textmaterial gewinnt, überschneiden sich diese teilweise, und es ist damit zu rechnen, dass ein Kontexthinweis mehreren Einstellungstypen zugewiesen werden kann. Die ermittelten Einstellungstypen genügen folglich weder dem Kriterium der Distinktivität noch dem der Exhaustivität. Aus diesem Grund beschränke ich mich ausschließlich auf eine frame-basierte Korpusanalyse.6
4
5 6
Das Phänomen einer hohen Type-Frequenz, also der kognitiven Verfestigungen von Leerstellen, scheint Fraas nicht in Betracht gezogen zu haben. Dass eine hohe Token-Frequenz das „Kontextualisierungspotential“ (Fraas 1996a, S. 26) eines Ausdrucks determiniert, setzt Fraas voraus, ohne diese Annahme eigens zu begründen. Und zwar den folgenden: a) Bezug auf Äußerungen anderer Sprecher, b) Formulierung der eigenen Meinung, c) Berufung auf Tatsachen und deren Benutzung als Argument für die eigene Meinung, d) Stellungnahme zum Grad der Gültigkeit der eigenen Meinung, e) Bewertung. Strebt man den zusätzlichen Einbezug von Sprechereinstellungen an, ist dieser meiner Überzeugung nach am besten durch eine erweiterte Frame-Analyse (und nicht durch ein zweites Analyseraster) zu erreichen. Denn die untersuchten Kontexthinweise fungieren selbst als Instanzen innerhalb eines Frames. Erste Hinweise finden sich in Konerding 1996 und Tsohatzidis 1993.
1. Präliminarien
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Fraas (2000, 2001) greift das Frame-Konzept in späteren Arbeiten wieder auf, um dessen Relevanz für die Beschreibung sozialen Wissens insbesondere aus konstruktivistischer Perspektive zu begründen. Jedoch liegt der Schwerpunkt bei ihr auf theoretischen Fragestellungen im weiteren Umfeld sozialkognitivistischer Ansätze, und dort, wo es um empirische Fallanalysen geht, reduziert Fraas Frame-Analysen auf Kookkurrenzanalysen. So gelangt sie zwar zu „Kontextualisierungs- und Interpretationsmustern“ (Fraas 2001, S. 64f.), die in Sprachverstehensprozessen die Gestalt von Frames annehmen. Im Vergleich zu anderen Analysen (wie Lönneker 2003a und Fraas 1996a) decken die ermittelten Kookkurrenzen aber nur einen Bruchteil verstehensrelevanten Wissens ab. Ohne Zweifel erfüllen Kookkurrenzanalysen im Rahmen der von Fraas verfolgten Zielsetzungen durchaus ihren Zweck, insofern sie mit recht geringem Analyseaufwand plausibel machen können, mit welchen Kontextualisierungsrastern Wortbedeutungen konzeptualisiert werden. Haltbare Aussagen über dominante Wissensaspekte (Leerstellen) oder etablierte Standardwerte sind auf diesem Weg indes ebenso wenig zu erwarten wie etwa Erkenntnisse darüber, wie sich eine Metapher innerhalb eines Diskurses konzeptuell formiert. Besteht die Zielvorgabe in der Beantwortung solcher Fragen, muss der analytisch weit aufwendigere und hier vorgeschlagene Umweg über Matrixframes gewählt werden. Diesen Weg wählt auch Lönneker (2003a), die ein elektronisches KorpusSammelprogramm vorstellt, mit dem sich auf der Basis des World Wide Web große Mengen von Instanzen (Füllwerten und Standardwerten) annotieren lassen. Die empirischen Ergebnisse ihrer Studie machen deutlich, dass sich die von Konerding ermittelten Prädikatorenklassen (Leerstellentypen) eines Frames zur Korpusanalyse eignen. Lönneker nutzt ihre Analyseergebnisse ferner dazu, an den von Konerding entwickelten Matrixframes kleinere Korrekturen durchzuführen (Lönneker 2003a, S. 252-277; vgl. Abschnitt VI.3.2). Die auf diese Weise verbesserten Matrixframes liegen auch meiner Korpusanalyse zugrunde. Über die soeben im Zusammenhang mit Fraas’ Studie (Fraas 1996a) erwähnten Aspekte hinaus teilt Lönnekers Ansatz mit meinem folgende Voraussetzungen: x Die Aktivierung eines Frames entspricht einer Referenzhandlung eines Sprachbenutzers oder einer Sprachbenutzerin. Auslöser der Aktivierung ist eine sprachliche Form (Lönneker 2003a, S. 64-66), während realisierte, d.h. (quasi-)explizite Prädikationen, als konkrete Füllelemente des Frames gelten. x Relationen zwischen einem aufgerufenen Frame und abzurufenden Konzepten, d.h. potentiellen Instanzen, stellen Verben her.7 Jedes Verb be7
Anders als Lönneker verzichte ich aus bereits dargelegten Gründen darauf, ein weiteres FrameElement namens „Subslot“ anzusetzen.
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VII. Frames in Textkorpora: die Metapher der Heuschrecke
zieht sich auf eine bestimmte Leerstelle (Lönneker 2003a, S. 77) und jedes Verb bildet mithin eine Instanz ebendieser Leerstelle.8 x Frame-Elemente (Leerstellen, konkrete Füllwerte, Standardwerte) sind über Kontiguitätsbeziehungen lose miteinander verbunden (Lönneker 2003a, S. 60). Kontiguitätsbeziehungen sowie (von Lönneker nicht erwähnte) Ähnlichkeitsbeziehungen gruppieren Frame-Elemente. Die Korrelationen zwischen Frame-Elementen bilden bestimmte Strukturmuster (vgl. Abschnitt V.2.2). x Schließlich können Matrixframes, anders als dies Konerding suggeriert, in eine Frame-Hierarchie eingeordnet werden (Lönneker 2003a, S. 93; vgl. Abb. 5 in Abschnitt VI.3.2). Aus dieser sind Vererbungsverhältnisse von Leerstellen ersichtlich. Für empirische Analysen ist die Frame-Hierarchie insofern von Nutzen, als aus ihr ablesbar ist, welche Leerstellen verschiedene Frames miteinander teilen, so etwa im Fall einer Metaphernanalyse, welche gemeinsamen und eben unterschiedlichen Möglichkeiten zur semantischen Spezifikation die Quell- und Zieldomäne (hier: Heuschrecken und Finanzinvestoren) jeweils zulässt. Anders als in Fraas 1996a bleibt in Lönnekers Studie allerdings offen, inwiefern sich die ermittelten Frames diskursspezifisch konstituieren. Weil ihre Analyse nicht diachron-vergleichend angelegt ist, spielt weder der historische Wandel noch die individuell-kognitive und/oder situative Varianz konzeptuellen Wissens eine nennenswerte Rolle. Neben Fraas und Lönneker benutzt schließlich auch Klein (Klein 1999, Klein/Meißner 1999) Frames zur korpusgestützten Textanalyse.9 Aus unterschiedlichen Gründen unterscheidet sich aber das dort vorgestellte Verfahren von dem von mir favorisierten Vorgehen. Zwar begreift auch Klein Frames als hilfreiches Instrument, um die gesellschaftliche Distribution von Wissen zu untersuchen, doch der Operationalisierungsvorschlag fällt in wesentlichen Punkten anders aus. In dem durchgeführten Forschungsprojekt (dokumentiert in Klein/Meißner 1999) geht es im Kern um die empirische Ermittlung von konzeptuellem Wissen, über das junge Erwachsene hinsichtlich zentraler ökonomischer Begriffe und Begriffszusammenhänge verfügen. Das Ermittlungsverfahren ist dabei zweischrittig. Mittels einer qualitativen Inhaltsanalyse versuchen Klein und Meißner zunächst, auf der Basis von ca. 300 Zeitungsartikeln sowie Nachrichten- und Magazinsendungen stillschweigendes Wissen zu eruieren, das massenmediale Wirtschaftsberichterstattungen gemeinhin voraussetzen. Um nun herauszufinden, in welchem Maß junge Erwachsene 8 9
So ist etwa das Verb aussehen Instanz des Prädikatorenschemas zur „Charakterisierung von Form und Farbe“ des Matrixframes „Organismus“, oder bellen ist Instanz des Prädikatorenschemas zur „Charakterisierung der Fähigkeit“ des Organismus; vgl. Konerding 1993, S. 412. Über Fraas und Klein hinaus wäre noch das Berkeleyer FrameNet-Projekt zu nennen; auf dieses gehe ich hier nicht gesondert ein, vgl. hierzu Lönneker 2003a, S. 214-240.
1. Präliminarien
373
über dieses verstehensrelevante Wissen tatsächlich verfügen, wurden in einem zweiten Schritt Fragebögen zu verschiedenen Themenfeldern (wie „globaler Wettbewerb“; „Standort Deutschland“) entwickelt und den Testpersonen zur Beantwortung vorgelegt. Auf der Folie des ermittelten stillschweigenden Wissens ließen schließlich die qualitativ ausgewerteten Ergebnisse Rückschlüsse auf durchschnittlich erwartbare konzeptuelle Ausprägungen zu. Sofern es im zweiten Analyseschritt allein um gruppenspezifische Einstellungen zu Begriffen und Themen geht, ist dieser für meine diskurssemantische Metaphernanalyse nicht notwendig. Zentral ist hingegen der erste Schritt. Hier setze ich aber einen entscheidend anderen Akzent. Anders als Klein und Meißner gehe ich mit Lönneker (2003a) und Fraas (1996a) davon aus, dass sich Standardwerte mit Hilfe von Matrixframes ermitteln lassen. Der Vorteil dieses analytischen Vorgehens besteht darin, nicht auf rein qualitative Inhaltsanalysen und die mit ihnen einhergehende interpretative Heuristik angewiesen zu sein. In der Untersuchung des Globalisierungs-Frames beschränken sich Klein und Meißner auf die Untersuchung einiger weniger Leerstellen wie „Teilprozesse“ und „Konstitutionsbedingungen“ (vgl. dazu Klein 1999, S. 176); alle anderen Leerstellen bleiben unberücksichtigt. Klein und Meißner präjudizieren mithin, dass die ausgewählten Leerstellen einen höheren Salienzgrad aufweisen und sich im untersuchten diskursiven Zusammenhang kognitiv verfestigt haben. Intuitive Evidenz mag es für diese Annahme geben, empirische Belege wären aber überzeugender. Trotz des ungleich höheren Analyseaufwands ziehe ich es vor, alle Leerstellen des jeweils relevanten Matrixframes gleichermaßen einzubeziehen, um gesicherte Aussagen darüber treffen zu können, in welchen Fällen eine signifikant höhere Type-Frequenz vorliegt. Neben den korpuslinguistischen Arbeiten von Klein und Meißner, Fraas und Lönneker haben Klein (2002b) und Holly (2001, 2002) Einzeltextanalysen mit Hilfe von Matrixframes durchgeführt. Hollys Gegenstandsbereich bilden Debattenreden in der Paulskirche, Klein untersucht den Kolonialdiskurs in der Wilhelminischen Ära. Kennzeichnend für beide Analysen ist der Einsatz von Frames als hermeneutisches Hilfsmittel zur Rekonstruktion von historischem Wissen, wie es in überlieferten Texten implizit vorausgesetzt, nicht aber ausdrücklich thematisiert ist. Auch mein eigener Versuch, am Beispiel von Gustav Freytags Roman Soll und Haben historisches Begriffswissen frame-analytisch zu rekonstruieren, ist einer solchen interpretativinhaltsanalytischen Methode verpflichtet (vgl. Ziem 2005). Zirkulär bleibt der texthermeneutische Einsatz von Frames jedoch immer insofern, als die Analyse, die ja die Bestimmung typischer Ausprägungen eines Frames zum Ziel hat, schon die Kenntnis des Frames – d.h. der relevanten
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Leerstellen und etablierten Standardwerte – voraussetzt.10 Schärfer formuliert: Es ist nur möglich, Wissen herauszuarbeiten, über das die Analysierenden selbst schon verfügen und das sie selbst beim Textverstehen interpretativinferentiell einbringen. Bestenfalls lässt sich dieser hermeneutische Zirkel durch Quellenanalysen argumentativ rechtfertigen. Zu quantitativ gestützten und mithin generalisierbaren Ergebnissen führt dieses Vorgehen jedoch deswegen nicht, weil Einzeltextanalysen in der Praxis so verlaufen, dass eine gründliche Lektüre einschlägiger Texte zu der Einsicht führt, dass gewisse Wissensaspekte (Leerstellen) stärker dominieren als andere. Die dominanten formieren den konkreten Frame.11 Warum dominieren aber ausgerechnet diese Leerstellen? Sind in anderen Texten andere Leerstellen verfestigt? In diesem Sinne fragt sich auch Heringer, wie sich Frames und Slots zeigen und wie wir sie erkennen. Irgendwie müssen wir doch ein Bewusstsein von ihnen gewinnen. Natürlich haben wir Beispiele. Die Mitspieler sind unterschiedlich kodiert, mal als Attribut, mal als Possessivartikel […] Aber das ist erst einmal wenig. Ihre Auswahl setzt den Frame voraus. (Heringer 1999, S. 128)
Im letzten Punkt liegt Heringer falsch. Die Auswahl eines Frames muss nicht zwangsläufig den Frame voraussetzen. Das ist nur im Fall von Einzeltextanalysen so. Ich will die Gründe kurz erläutern. Zu differenzieren ist zunächst zwischen kognitiv realen Frames und Frames als Analyseinstrumenten. Kognitive Frames werden von Sprachbenutzerinnen und Sprachbenutzern aktiviert, sie sind Gebrauchsereignisse („usage events“) im Sinne Langackers und deswegen immer schon mit Standardannahmen spezifiziert (vgl. Abschnitt VI.3.1). In der empirischen Analyse geht es hingegen darum, die relevanten Standardannahmen erst zu eruieren. Worauf eine frame-basierte Korpusanalyse allein zurückgreifen kann, sind (quasi-)explizite Prädikationen. (Matrix-)Frames dienen als Analyseraster, sie sind Instrumente zur Bestimmung verstehensrelevanten Wissens, stellen als solche aber keine mentalen Entitäten dar. Als Analyseinstrumente – nicht aber als kognitive Einheiten – bilden Frames inhaltsleere Formate, die Möglichkeiten der Wissensspezifikation (Prädikatoren) anzeigen. Die Kenntnis der Standardwerte wird also gerade nicht vorausgesetzt.
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Vgl. auch Heringer 1999, S. 128. Grundsätzlich gilt das für jede Form der Textanalyse, deren Ergebnisse nicht auf einer Korpusanalyse größeren Stils basieren und deswegen weitestgehend durch qualitative Inhaltsanalysen gewonnen worden sind. Ein Stück weit appellieren rein qualitative Inhaltsanalyen immer an die intuitive Evidenz der Analyseergebnisse. Klein (2002b) kommt etwa zu dem Schluss, dass im Kolonialdiskurs zehn Leerstellen (wie „Gattung“, Agens“, „Patiens“ usw.) dominieren. Und Holly (2001) eruiert, dass in der analysierten Debatte ein bestimmter Frame, nämlich der der „Zettelbank“, im Sinne einer hohen TypeFrequenz präferiert wird. Holly weist ferner zehn Leerstellen aus, die den Frame konturieren (darunter solche wie „zentrale Handlung“, „Folgen“, „Voraussetzungen“).
1. Präliminarien
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Für Einzeltextanalysen sollten Matrixframes deshalb nicht vorbehaltlos zum Einsatz kommen, weil diese Frames zum einen so viele Leerstellen bereitstellen, dass einzelne Texte sie nur hoch selektiv bedienen, und weil sich zum anderen die betroffenen Leerstellen aufgrund der niedrigen TypeFrequenz epistemisch nicht gewichten lassen. Allein quantitativ gestützte Analysen vermögen Aufschluss über den Grad kognitiver Verfestigungen zu geben. Für solche Untersuchungen sind große Textkorpora nötig. Die aus ihnen erwachsenden Ergebnisse sind dann bis zu einem gewissen Grad (etwa innerhalb eines bestimmten Diskurszusammenhangs) generalisierbar. Diesen Anspruch kann eine Einzeltextanalyse nicht einlösen. Ihre Ergebnisse haben allenfalls eine „Indikatorfunktion“. Für Frame-Studien angloamerikanischer Provenienz gilt dieser Befund im verstärkten Maße. Im Vordergrund stehen durchgehend lexikalischsemantische Analysen, deren Resultate nur selten auf Korpusanalysen basieren oder auf psycholinguistische Experimente zurückgehen.12 Matrixframes oder vergleichbare Analyseraster fehlen gänzlich. Dies führt zu eklatanten Diskrepanzen in den Analyseergebnissen. Beispielsweise führen drei Untersuchungen zum konzeptuellen Gehalt des Verbs to run zu drei z.T. stark voneinander abweichenden Ergebnissen (vgl. Langacker 1988c; Tuggy 1988; Gries 2006). Folgt meine empirische Untersuchung den theoretisch-methodischen Vorgaben, die sich aus Kapitel VI ergeben haben, und weicht sie infolgedessen teilweise erheblich von der introspektiven Heuristik Langackers u.a. ab, so darf dieser Umstand nicht über die vielen gemeinsamen Voraussetzungen hinwegtäuschen, die sich aus der holistisch-enzyklopädischen Semantikkonzeption ergeben. Unterschiede betreffen Aspekte der empirischen Operationalisierung, nicht aber der theoretischen Fundierung, die der empirischen Analyse vorausgeht. 1.2 Kognitive und diskursive Aspekte von Metaphern Wenn ich im Folgenden die entwickelten frame-semantischen Analysekategorien im Rahmen einer Metaphernanalyse anwende, steht diese Operationalisierung im engen Zusammenhang mit den holistischen Prämissen der vorliegenden Arbeit (vgl. Kapitel III und IV), dass (i) sprachliche Strukturen konzeptueller Natur sind („encyclopedic semantics“) und (ii) konzeptuelle Strukturen ihrerseits in unserer körperlichen Erfahrung verankert sind („embodi12
Vgl. exemplarisch Botha 1996, Watters 1996, Coulson 2001, Petruck 1996, Sweetser 1999, um nur einige jüngere Studien zu nennen. Eine Ausnahme bildet Baker 1999; Baker wendet sowohl psycholinguistische als auch lexikographische Methoden an.
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ment“). Weiterhin knüpfe ich direkt an schematheoretische Überlegungen der letzten beiden Kapitel an, insbesondere an die Annahme, dass sprachliche Bedeutungen schematische Einheiten bilden, deren Gehalt durch Standardwerte unterschiedlichen Verfestigungsgrades vorgeprägt ist. Was zeichnet eine Metapher aus? Warum bietet sich gerade eine Metapher als Gegenstandsbereich an, um Frames als Analyseinstrument einzusetzen? Ich möchte zunächst die theoretischen Voraussetzungen skizzieren, unter denen im Folgenden Metaphern thematisiert werden. Daraus leiten sich einige Gründe ab, die eine Metaphernanalyse für unseren frame-semantischen Zusammenhang besonders relevant erscheinen lassen. George Lakoff und Mark Johnson vertreten in der 1980 veröffentlichten Studie „Metaphors We Live By“ die These, dass ein Großteil unseres konzeptuellen Systems und mithin (Sprach-)Handelns im Allgemeinen einen metaphorischen Charakter haben.13 Ihrer Argumentation zufolge spielen Metaphern für die menschliche Kognition eine so fundamentale Rolle, weil an ihnen nicht nur konstitutive kognitive Prozesse manifest werden, sondern auch konzeptuelle Wissensstrukturen, mit denen kognitive Prozesse operieren. In Beispiel (1) findet etwa eine metaphorische Projektion („mapping“) von konventionellem Wissen über die Quelldomäne „Fundament“ zu konventionellem Wissen über die Zieldomäne „Theorie“ statt.14 (1)
Der Theorie X fehlt ein solides Fundament.
Dieser Projektionsprozess gelingt nur dann, wenn die semantischen Einheiten [FUNDAMENT] und [THEORIE] konzeptuelle Struktureinheiten mit verfestigten Standardwerten bilden. An zahlreichen Beispielen haben Lakoff und Johnson in ihrer Studie ferner illustriert, dass metaphorische Konzeptualisierungen durch systematische Koppelungen von Quell- und Zieldomänen zustande kommen. So können Quelldomänen zur epistemischen Erschließung von Wissensaspekten der Zieldomäne nicht willkürlich gewählt werden, weil ein System von Metaphern dem individuellen metaphorischen Sprachgebrauch zugrunde zu liegen scheint. Wenn in diesem Sinne eine abstrakte Metapher einen ganzen Metaphernbereich organisiert, sprechen Lakoff und Johnson von einer „konzeptu13
14
In diesem Sinne vertritt Sweetser die These, dass sprachliche Kategorisierungen (deren fundamentale Funktion für die menschliche Kognition ich in Abschnitt V.1. thematisiert habe) z.T. metaphorisch motiviert sind: „A word meaning is not necessarily a group of objective ‚same‘ events or entities; it is a group of events or entities which our cognitive system links in appropriate ways. Linguistic categorization depends not just on our naming of distinctions that exist in the world, but also on our metaphorical and metonymic structuring of our perceptions of the world.“ (Sweetser 1990, S. 9) Statt „Quelldomäne“ und „Zieldomäne“ werden in der Literatur oft die Termini „Herkunftsbereich“ und „Zielbereich“ verwendet.
1. Präliminarien
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ellen Metapher“.15 Der Metapher Fundament liegt in (1) beispielsweise die abstraktere konzeptuelle Metapher THEORIEN SIND GEBÄUDE16 zugrunde, die viele andere Metaphern motiviert. „Konzeptuelle Metaphern“ gibt es infolgedessen nur auf der „Type-Ebene“ (Liebert 1992, S. 5ff.; Pielenz 1993, S. 71ff.; Böke 1996, S. 443f.); sie sind Abstraktionen von konkreten Metaphern („Metapher-Tokens“ im vorhin erläuterten Sinn). Vergleichen wir folgende Beispiele: (2) (3) (4) (5)
Die Theorie X ist auf Sand gebaut. Die Theorie X läuft Gefahr einzustürzen. Das Kapitel X baut auf den Erkenntnissen von Kapitel Y auf. Seine Theorie X ist ein Kartenhaus. (Fehlt eine Karte, bricht sie zusammen.)
Der metaphorische Sprachgebrauch in den Beispielen (1) bis (5) gründet darauf, dass die Konzepte „solides Fundament“, „auf Sand gebaut“, „einstürzen“, „aufbauen auf“ und „Kartenhaus“ als Instanzen eines übergeordneten Frames, nämlich „Gebäude“, figurieren (vgl. Liebert 1992, S. 6).17 Den zentralen Ausgangspunkt des Ansatzes von Lakoff und Johnson bilden somit verfestigte Wissensstrukturen eines höheren Abstraktionsniveaus. Diese treten einmal in Gestalt von „konzeptuellen Metaphern“ auf. Aber auch jene Wissensaspekte dürfen als konsolidiert gelten, die aus der Quelldomäne durch metaphorische Projektion in die Zieldomäne eingehen. [M]etaphers are analyzed as stable and systematic relationships between two conceptual ‘domains’. […] Particular elements of the source and target domains are picked out through a combination of the source language used […] and the relevant conceptual metaphor, a ‘mapping‘ – presumably stored as a knowledge structure in long-term memory – which tells us how elements in the two domains line up with each other. (Grady/Oakley/Coulson 1999, S. 102)
Frame-semantisch reformuliert: Die Quelldomäne und die Zieldomäne bilden Inferenzbasen, die durch Frames derart strukturiert sind, dass konsolidierte Standardwerte der Quelldomäne entsprechende Leerstellen der Zieldomäne besetzen. So entsteht eine neue konzeptuelle Struktur – eben eine metaphorische Bedeutung. In der Gegenüberstellung von Quelldomäne und Zieldomäne deutet sich bereits an, dass Lakoff und Johnson in ihrer „Theorie konzeptueller Meta15 16 17
Vgl. hierzu etwa die Ausführungen in Lakoff/Johnson 1980, Kap. 18. Der üblichen Notation folgend kennzeichne ich konzeptuelle Metaphern im Schriftbild durch Kapitälchen. Entsprechend definiert Liebert (1992, S. 7) Konzeptmetaphern folgendermaßen: „‚Konzeptmetapher‘ ist […]als Relation zwischen den jeweils zwei Konzepten zu verstehen, wobei jedes Konzept selbst als Paar zu verstehen ist, bestehend aus einer Lexemmenge und einer Strukturfolie sowie einer Zuweisung von Lexemen zu dieser Strukturfolie.“
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phern“ von einem bipolaren Modell ausgehen.18 Die Hauptfunktion von Metaphern besteht darin, sich auf der Basis von vorhandenem Wissen, das die Quelldomäne bereithält, neues Wissen über die Zieldomäne zu erschließen. Schauen wir uns zur Illustration ein Beispiel aus dem Korpus an:19 (6)
Die eigentlichen Heuschrecken sind die Gewerkschaften. (Die Zeit, 4.5.2005)
Bildet die semantische Einheit [HEUSCHRECKE] die Quelldomäne, entsteht der metaphorische Gehalt dadurch, dass Elemente der Quelldomäne auf die Zieldomäne [GEWERKSCHAFTEN] projiziert werden (Kövecses 2002, S. 33). Instanzen, d.h. Standardwerte des Heuschrecken-Frames werden in entsprechende Leerstellen desjenigen Frames instantiiert, den das Wort Gewerkschaften aufruft. Ein solches bipolares Metaphermodell ist in zahlreichen Fallstudien im deutschsprachigen Raum übernommen und empirisch erprobt worden (vgl. etwa Liebert 1992; Pielenz 1993; Baldauf 1997; Böke 1997; Drewer 2003). Wenig beachtet – zumindest in der germanistischen Linguistik – wurde bislang dagegen die so genannte „blending theory“ bzw. „conceptual integration theory“, fortan „Theorie der konzeptuellen Integration“ genannt. Sie wurde zunächst von Fauconnier und Turner (1998a, 2002) entwickelt und hat inzwischen in verschiedenen Fachdisziplinen zahlreiche Anhänger und Anhängerinnen gefunden.20 Wie Lakoff und Johnson betonen auch Fauconnier und Turner, dass Metaphern einen rein konzeptuellen Status haben und dass sie aufgrund inferentieller Beziehungen zwischen konzeptuellen Domänen entstehen. Ein wesentlicher Unterschied liegt allerdings darin, dass der „blending theory“ zufolge nicht zwei, sondern vier kognitive Repräsentationseinheiten am Aufbau einer metaphorischen Bedeutung beteiligt sind. Nicht kognitive Domänen, die relativ stabiles, d.h. konventionalisiertes Wissen bereitstellen, fungieren als Repräsentationsformate, sondern so genannte „mental spaces“.21 Von Domänen (zumindest in der Weise, wie Lakoff und Johnson den Begriff verwenden) unterscheiden sich „mental spaces“ in ihrer Kurzlebigkeit. „Mental spaces“ bauen Sprachbenutzer und Sprachbenutzerinnen erst 18 19 20
21
„The essence of metaphor is understanding and experiencing one kind of thing in terms of another.“ (Lakoff/Johnson 1980, S. 5) Bei dem Korpusbeleg (6) handelt es sich um eine Replik des FDP-Vorsitzenden Guido Westerwelle auf Münteferings Vergleich von Heuschrecken mit Finanzinvestoren. Der Terminus „blending“ lässt sich kaum angemessen ins Deutsche übersetzen, „konzeptuelle Verschmelzung“ käme seiner Bedeutung vielleicht am nächsten. „Blending“ steht inzwischen in der angloamerikanischen Forschung für eine „Schule“, die sich interdisziplinär innerhalb der Kognitiven Wissenschaft etabliert hat (vgl. den Überlick in Coulson/Oakley 2000a, insbesondere in Coulson/Oakley 2000b). Vgl. die Ausführungen in Kap. I.2.2.
1. Präliminarien
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im Zuge der Bedeutungsaktualisierung auf. Anders als Domänen sind „mental spaces“ emergente Repräsentationseinheiten. Ändert sich der Kontext, ändern sich die aktivierten „mental spaces“. Inferenzen müssen außerdem nicht unidirektional verlaufen (wie es Lakoff und Johnson annehmen), also nicht von einer Repräsentationseinheit (der Quelldomäne) zur anderen (der Zieldomäne) fortschreiten. Vielmehr können aktualisierte Wissenselemente in der Zieldomäne auch zu Veränderungen der Quelldomäne führen. Am Beispiel des metaphorischen Gebrauchs von Metzger in (7) lassen sich die Funktionen der vier Repräsentationseinheiten veranschaulichen. (7)
Der Chirurg ist ein Metzger.
Die beiden „spaces“ des Inputs, „Chirurg“ und „Metzger“, entsprechen der Quell- und Zieldomäne in der Theorie konzeptueller Metaphern. Der „generische space“ umfasst abstrakte Informationseinheiten, die beide Inputs miteinander teilen, in jedem Input jedoch unterschiedlich spezifiziert sind (vgl. Abb. 1). Im „blended space“, hier der aktualisierten metaphorischen Bedeutung von Metzger, gehen einige Informationen beider Inputs ein (hier etwa aus Input I Informationen über das Agens und die Tätigkeit, aus Input II Informationen über das Agens, Patiens, den Ort und das Ziel), während andere Informationen dort keinen Niederschlag finden (so aus Input I Informationen über das Patiens, den Ort und das Ziel, aus Input II Informationen über die Tätigkeit). Doch nicht alle Informationen, die in den „blended space“ projiziert werden, sind im gleichen Maße relevant. Eine besonders wichtige Rolle spielen Werte zweier Leerstellen: zum einen Standardwerte, die die Leerstelle „Tätigkeit“ im Input I betreffen, und zum anderen Standardwerte, die Instanzen der Leerstelle „Ziel“ im Input II bilden. So geht in die Metaphernbedeutung einerseits das Wissen ein, dass Metzger – anders als Chirurgen – prototypischerweise ihre Tätigkeit mit bestimmten Werkzeugen (wie Hackbeilen und Fleischermessern) auf eine bestimmte Art und Weise (etwa mit heftigen Schlägen und groben Schnitten) ausführen. Andererseits ist das Wissen aus Input II relevant, dass prototypischerweise Chirurgen mit ihrer Tätigkeit das Ziel verfolgen, Menschen zu heilen bzw. Schmerzen zu lindern oder, allgemeiner formuliert, die Lebenserwartung des Patienten bzw. der Patientin zu erhöhen. Die konzeptuelle Verschmelzung dieser Bedeutungsaspekte aus Input I und II, dargestellt durch den eckigen Kasten in Abb. 1, ermöglicht die Emergenz eines neuen Bedeutungsaspektes: Weicht der Ausführungsmodus der Tätigkeiten eines Chirurgen so stark von dem prototypischerweise erwartbaren Ausführungsmodus ab, dass er das Handlungsziel Heilung verfehlt oder unmöglich macht, gilt ein Chirurg als inkompetent, weil er das Kernziel seiner beruflichen Tätigkeit verfehlt. Dass man einem Chirurg unter diesen
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Bedingungen Inkompetenz unterstellt, ergibt sich nicht aus einer unidirektionalen Projektion von Aspekten des Inputs I in Input II, sondern aus einem komplexeren Prozess der konzeptuellen Integration, der Informationen beider Inputs miteinander amalgamiert (vgl. Evans/Green 2006, S. 402f.). Anders formuliert: Dass die Tätigkeit des Metzgers negativ bewertet wird, ist nicht in Input I angelegt; Metzger üben ihre Tätigkeit prototypischerweise nicht unprofessionell aus. Und auch Input II legt keine solche pejorative Einschätzung nahe. Dass der Chirurg – im „blended space“ – als fachlich inkompetent gilt, wenn er bestimmte Tätigkeiten auf eine bestimmte, unangemessene Weise ausführt, ist folglich ein Emergenzphänomen, das sich kompositionell nicht ‚errechnen‘ lässt. 22 generischer „space“ Agens Patiens Ort Tätigkeit Ziel etc.
Input-„space“ I :
Metzger Agens: Metzger Patiens: Tiere Ort: Fleischerei Tätigkeit: Fleisch „präparieren“ Ziel: Fleisch verkaufs-fertig machen etc.
Input-„space“ II : Chirurg Agens: Chirurg Patiens: Patienten Ort: Operationssaal Tätigkeit: operieren Ziel: heilen etc.
Agens: Chirurg (in der Rolle eines Metzgers)
Patiens: Patient Ort: Operationssaal Tätigkeit: Fleisch „präparieren“ Ziel: heilen etc.
„blended space“: Chirurg als Metzger
Abb. 1: Der Chirurg ist ein Metzger: die Metapher des Metzgers nach der Konzeption der „blending theory“ (vgl. Grady/Oakley/Coulson 1999, S. 105ff.)23
22
23
Mir kommt es an dieser Stelle insbesondere auf den Aspekt der Emergenz an, weniger dagegen auf die Detailanalyse der Metapher. Der metaphorische Gehalt ist sicherlich erst dann annähernd erfasst, wenn weitere Wissensaspekte berücksichtigt sind, so etwa die Implikation, dass ein Chirurg mit einem lebenden Menschen umgeht wie mit einem toten Tier, dass er lebendiges Fleisch wie totes behandeln, dass er insofern gefühllos, gefühlsstumpf, ohne Mitgefühl usw. ist. All diese Aspekte sind in Abb. 1 nicht erfasst. Um kenntlich zu machen, dass Elemente des generischen „space“ in beiden Inputs auftreten und so metaphorische Projektionen („cross-domain mapping“) motivieren, haben Fauconnier und Turner diese Elemente zusätzlich durch eine durchgezogene Linie miteinander verbunden. In Abb. 1 müsste beispielsweise in Input I das Element „Agens: Metzger“ mit „Agens: Chirurg“ in Input II verbunden werden. Damit die graphische Veranschaulichung übersichtlich bleibt, habe ich von diesen Verbindungen abgesehen.
1. Präliminarien
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Halten wir als Zwischenergebnis fest: Metaphern sind konstitutive kognitive Phänomene, weil sich in ihnen Prozesse der sprachlichen Erfahrungsbewältigung, Konzeptbildung, Wissenserschließung und -organisation ‚spiegeln‘ (vgl. Drewer 2003, S. 11ff.; Turner 1998, S. 64). Erfüllen Metaphern die Funktion, Aspekte einer Entität (Input I) mithilfe von Aspekten einer anderen Entität (Input II) zu verstehen, so verläuft dieser Prozess über kognitive Operationen, mittels derer die Informationen der beiden Inputs in eine neue Struktureinheit integriert werden. Diese Verschmelzung abgerufener Wissenseinheiten zu einer neuen konzeptuellen Einheit darf als grundlegende kognitive Fähigkeit gelten, die Verstehensprozesse verschiedenster Art betrifft.24 Schon sprachliche Referenzhandlungen involvieren, wie wir in Abschnitt VI.2 gesehen haben, konzeptuelle Integrationsleistungen; Referentialisierung ist ohne gleichzeitige Konzeptualisierung des Bezugsobjektes nicht möglich. Konzeptuelle Integration ist stets ein inferentieller Prozess, der stark routiniert abläuft, auf Vorwissen zurückgreift und gestalthafte kognitive Einheiten als Ausgangspunkte (Input I und II) und zum Ergebnis den „blended space“ hat. Im Anschluss an Grady/Oakley/Coulson 1999 werde ich fortan die Theorie der konzeptuellen Integration und der konzeptuellen Metapher nicht als miteinander konkurrierende, sondern als komplementäre Ansätze begreifen. Richten Lakoff und Johnson ihren Blick auf rekurrente konzeptuelle Strukturen, die metaphorischen Sprachgebräuchen zugrunde liegen, so trägt „blending“ der Kreativität metaphorischer ad-hoc-Bildungen Rechnung. Komplementarität herrscht deswegen vor, weil ad-hoc-Bildungen selbst auf stabiles Hintergrundwissen (wie hier über Metzger und Chirurgen) angewiesen sind. Der generische „space“ hat streng genommen den Status einer konzeptuellen Wissensdomäne, insofern er Informationen umfasst, die beiden Inputs gemeinsam sind.25 „Agens“, „Patiens“, „Ort“, „Tätigkeit“ und „Ziel“ – diese Elemente dürften jedem „space“ angehören, der generische Informationen über berufliche Tätigkeiten enthält.26 Außerdem mag zwar die Auswahl der 24
25
26
Konzeptuelle Verschmelzungen („blending“) sind konstitutiv für das Verstehen von sprachlichen Phänomenen wie morphologischen und syntaktischen Konstruktionen (Mandelbit 2000), Konditionalsätzen und komplexen Nominalphrasen (Dancygier/Sweetser 2005) sowie performativen Sprechakten (Sweetser 2000), aber auch von nicht-sprachlichen Phänomenen wie perzipierten Bewegungen, Ritualen, Comicstrips, um nur einige zu nennen, vgl. den Überblick in Coulson/Oakley 2000b, S. 182-186 und Fauconnier/Sweetser 1996. „As conceptual projection unfolds, whatever structure is recognized as belonging to both of the input spaces constitutes a generic space. At any moment in the construction, the generic space maps onto each of the inputs. It defines the current space mapping between them. A given element in the generic space maps onto paired counterparts in the two input spaces.“ (Fauconnier/Turner 1998a, S. 143) Eine entscheidende Motivation dafür, einen generischen „space“ anzusetzen, liegt für Fauconnier und Turner (1998a) in dem empirischen Befund, dass die Wissenskonstellationen in generischen „spaces“ einen konventionellen Charakter annehmen können, um dann selbst als Quelle für weitere metaphorische Projektionen zu fungieren.
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VII. Frames in Textkorpora: die Metapher der Heuschrecke
einem „mental space“ zugerechneten Elemente durch den aktuellen Kontext gesteuert sein; in (7) spielt beispielsweise der Ort, an dem Metzger ihrer Tätigkeit nachgehen, keine Rolle. Unabhängig vom Kontext können aber prinzipiell nur bestimmte Elemente im Input auftreten, genauso wie nur bestimmte Standardprädikationen einen Frame spezifizieren können. Die Elemente eines „mental space“ sind, wie Fauconnier und Turner (1998a, S. 137) an einer Stelle selbst bemerken, durch Frames strukturiert. Es liegt somit die Vermutung nahe, dass der generische „space“ jenen Leerstellen entspricht, die die beiden Inputs strukturierenden Frames beim aktuellen Aufbau einer Metaphernbedeutung miteinander teilen. Auf diesen Punkt werde ich später zurückkommen. Inwiefern lässt sich nun die Theorie der konzeptuellen Integration („blending theory“) auf das Beispiel der Heuschrecke anwenden? Wird ein Mensch, eine Gruppe, eine Institution o.ä. als „Heuschrecke“ bezeichnet, so scheint nicht sofort klar zu sein, welche Elemente die beiden Inputs konstituieren. Fraglich bleibt somit ebenso, welche Elemente im generischen „space“ repräsentiert sind und welche Elemente in den „blended space“ projiziert werden. Diese semantische Unbestimmtheit ist offensichtlich kein Spezifikum von Beispiel (6). Als der SPD-Politiker Franz Müntefering die Metapher von Finanzinvestoren als Heuschrecken einführte, konnte er ihre Bedeutung nicht voraussetzen. Er musste ihren Gehalt zunächst selbst auslegen.27 Ganz anders im analysierten Beispiel Der Chirurg ist ein Metzger, in dem die emergente Metaphernbedeutung ‚einfach da‘ ist, ohne eigens erklärt werden zu müssen. Auf Beispiel (6) bezogen heißt das Folgendes: Werden Gewerkschaften als Heuschrecken bezeichnet, könnte der Wissensaspekt „Aktivitäten“ im generischen „space“ derart eine Rolle spielen, dass eine Aktivität a1 von Heuschrecken (aus dem Input I) konzeptuell mit einer Aktivität a2 von Gewerkschaften (aus dem Input II) im „blended space“ verschmelzen (vgl. Abb. 2). Nehmen wir nun an, Aktivität a1 steht für „kahl fressen von Feldern“ und Aktivität a2 für „hohe Tarifabschlüsse von Arbeitgebern einfordern“, so besteht die emergente Bedeutung darin, dass Gewerkschaften mit der Forderung hoher Tarifabschlüsse Unternehmen zerstören würden (vgl. den eckigen Kasten in Abb. 2). Emergent ist die Bedeutung deswegen, weil sie sich weder aus Input I noch aus Input II und auch nicht aus der Zusammensetzung von Elementen aus Input I und II ableiten lässt. Sie erwächst allein aus der konzeptuellen Integration bestimmter Informationen aus beiden Inputs unter der Zuhilfenahme zusätzlicher Standardannahmen. So muss in dem angeführten 27
Genauer: Müntefering benutzte einen Vergleich, in dem „Heuschreckenschwärme“ als Tertium comparationis dienten. Er stellte fest, dass Finanzinvestoren wie Heuschreckenschwärme über Unternehmen herfielen. Erklärungen der Heuschrecken-Metapher finden sich in den ersten Textbelegen durchweg. Sie fehlen erst, sobald sich gewisse Bedeutungsaspekte der Metapher verfestigt haben.
383
1. Präliminarien
Fall zum einen Wissen darüber aktualisiert werden, was Heuschrecken kahl fressen und welche Konsequenzen dies mit sich bringen kann, zum anderen aber auch darüber, welche Folgen hohe Tarifabschlüsse für Arbeitgeber haben können. generischer „space“ Aktivität
Input-„space“ I :
Heuschrecke Aktivität: a1
Charakteristika Ort Größe etc.
Input-„space“ II : Gewerkschaften Aktivität: a2
Charakteristika:??? Ort: ???
Charakteristika: ??? Ort: ??? Größe:???
Größe: ??? etc.
etc. Ort: ??? Größe: ??? etc. Aktivität: a1 Aktivität: a2
„blended space“: Gewerkschaften als Heuschrecken
Abb. 2: Mögliche Anwendung der „blending theory“ auf die Metapher Gewerkschaften als Heuschrecken
Doch es ist wichtig zu sehen, dass eine solche Konzeptualisierung von (6) nur eine von vielen Interpretationsvarianten darstellt und deswegen spekulativ bleibt. Genauso gut könnte etwa die charakteristische Besonderheit von Heuschrecken, in Schwärmen aufzutreten, in den „blended space“ projiziert werden. Gewerkschaften würden dann als Institutionen gelten, deren Mitglieder als einzelne Personen schwach sind, die in der Gruppe aber etwas ausrichten können. In der ersten wie auch in der zweiten Interpretation ist an der Bedeutungskonstitution ebenso eine metonymische Verschiebung beteiligt.28 Einmal steht Heuschrecke/n als Ursachen für die Folgen ihrer Aktivitäten, etwa für die Verwüstung eines fruchtbaren Feldes. Insofern liegt eine kausal-metonymische Verschiebung von der Ursache auf die Wirkung vor. In der zweiten Interpretationsvariante gilt ganz analog, dass das Auftreten eines Heuschreckenschwarmes für den Schaden steht, den ein Schwarm (im Gegensatz zu einzelnen Heuschrecken) möglicherweise anrichtet. Welcher der beiden Wis28
Weshalb hier streng genommen eine Metaphtonymie im Sinne von Goossens 1995 vorliegt.
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VII. Frames in Textkorpora: die Metapher der Heuschrecke
sensaspekte geht aber in den „blended space“ ein? Wissen über die Aktivitäten von Heuschrecken oder Wissen darüber, dass Heuschrecken in Schwärmen auftreten? Oder beide Wissensaspekte? Nicht auszuschließen ist ferner, dass sich über diese hinaus eine Vielzahl anderer Annahmen über Heuschrecken als metaphernrelevant erweisen. In (6), der Heuschrecken-Metapher, muss also zunächst offen bleiben, welche Elemente der „blended space“ umschließt. Anders als in Beispiel (7), der Metzger-Metapher, scheint sich der emergente Bedeutungsgehalt nicht introspektiv (wie Fauconnier und Turner verfahren) erschließen zu lassen.29 Woher rührt der Unterschied zwischen der Heuschrecken- und der MetzgerMetapher? Die Theorie der konzeptuellen Integration kann diese Frage nicht angemessen beantworten, da der Ansatz eine hohe Salienz einzelner Elemente der Inputs voraussetzt, ohne nach den Gründen für den variierenden Verfestigungsgrad der Elemente zu fragen. Dagegen thematisieren zwar Lakoff und Johnson im Rahmen ihrer Theorie konzeptueller Metaphern, wie sich konzeptuelle Strukturen konsolidieren, konzentrieren sich dabei aber ausschließlich auf abstrakt-metaphorische Konzeptstrukturen. Sie könnten so die Konzeptualisierungsvarianz der Heuschrecken-Metapher damit begründen, dass es in (6) keine konzeptuelle Metapher gebe, die dem Gebrauch der Heuschrecken-Metapher zugrunde liege. Aus zwei Gründen dürfte diese Erklärung allerdings kaum zufrieden stellend sein. Zum einen spricht einiges dafür, dass eine konzeptuelle Metapher MENSCHEN ALS TIERE sehr wohl existiert.30 Wichtiger noch ist aber, dass die Theorie konzeptueller Metaphern prinzipiell nicht zu erklären vermag, welche Elemente der Inputs (bzw. der Quell- und Zieldomäne) metaphorisch projiziert werden. Auch sie bleibt damit eine Antwort auf die eingangs gestellte Frage schuldig. Diesen unzureichenden Erklärungen möchte ich eine frame-theoretisch motivierte Antwort gegenüberstellen. Die beiden Inputs in (7), Metzger und Chirurg, sind direkte Hyponyme von Beruf und in der Folge demselben Matrixframe (nämlich „Person in berufsbezogener Rolle“) zugeordnet. Da die Leerstellen des Chirurg- und Metzger-Frames somit identisch sind, kann – theoretisch – jede Leerstelle als Element des generischen „space“ figurieren. So eröffnen sich zwar zunächst zahlreiche Möglichkeiten der metaphorischen Projektion, besonders salient sind allerdings nur einige wenige Leerstellen, nämlich diejenigen, die die berufliche Tätigkeit selbst betreffen, insbesondere 29
30
Hebt sich die Metzger-Metapher in diesem Punkt von der Heuschrecken-Metapher ab, so unterscheiden sich beide trotzdem nur graduell (und nicht kategorial) voneinander. Ich behaupte also nicht, dass sich Wissen über „Metzger“ und „Chirurgen“ jenseits von Diskursen herausgebildet hat, sondern lediglich, dass die metaphernrelevanten Bedeutungsaspekte von Metzger und Chirurgen stärker konventionalisiert sind. Auf diesen Punkt gehe ich an dieser Stelle nicht weiter ein; vgl. die diesbezüglichen Ausführungen in Abschnitt VII.2.3.
1. Präliminarien
385
die erforderlichen handwerklichen Fertigkeiten und Fähigkeiten. Denn es wäre denkbar, dass hinsichtlich aller anderen Leerstellen die Standardwerte im Metzger- und Chirurg-Frame übereinstimmen würden; mit verschiedenen Werten müssten jedoch immer die Leerstellen zur Spezifikation der beruflichen Tätigkeit belegt sein, damit die sprachlichen Kategorien Metzger und Chirurg minimal distinkt bleiben. Es ist also kein Zufall, dass gerade diese Elemente in die beiden Inputs eingehen und Werte ebendieser Leerstellen Objekte metaphorischer Projektion sind. Dass dann nur wenige ausgewählte Elemente der beiden Inputs für die Metapher relevant werden, erklärt sich dadurch, dass die angesprochenen Leerstellen (Agens, Patiens, Ort usw.) durch eine hohe Type-Frequenz stärker konsolidiert sind als andere Leerstellen und dass die Instanzen dieser Leerstellen (wie „Metzger“ bzw. „Chirurg“, „Tiere“ bzw. „Patienten“ usw.) durch eine hohe Token-Frequenz stärker konsolidiert sind als andere Instanzen. Die Frames „Heuschrecke“ und „Gewerkschaften“ (bzw. „Finanzinvestoren“) weisen dagegen nur zum Teil identische Leerstellen auf, nämlich jene Leerstellen der hierarchisch übergeordneten Frames „primäres Objekt“, „beständiges Objekt“ und „Entität“.31 Trotz dieser Überschneidung enthalten beide Frames keine gleichen (oder ähnlichen) Standardwerte. Wäre ein Wert gleich, handelte es sich schon um eine Metapher.32 Hierin liegt der maßgebliche Unterschied zu (7). So könnten der Metzger- und Chirurg-Frame problemlos einige gemeinsame Standardwerte aufweisen, ohne dass metaphorische Projektionen im Spiel wären (man denke etwa an Charakterisierungen des Aussehens der Personen hinsichtlich Körpergröße, Haarfarbe, oder an Charakterisierungen der handwerklichen Fähigkeiten usw.). Infolgedessen können zwar viele Wissensaspekte vom Heuschrecken-Frame in den Gewerkschaften-Frame metaphorisch projiziert werden, es fehlt jedoch an prominenten Wissensaspekten, die sich für eine Projektion eher anbieten als andere. Um den metaphorischen Gebrauch von Heuschrecke in (6) (und auch in anderen Beispielen, in denen Institutionen, Personen o.ä. als Heuschrecken bezeichnet werden) hinreichend bestimmen zu können, ist zu klären, x welche Elemente die beiden Inputs „Heuschrecke“ und „Gewerkschaften“ (bzw. „Finanzinvestoren“) konstituieren x welche Elemente beide Inputs gemeinsam haben (und mithin in den generischen „space“ eingehen) und 31
32
Unterschiedliche Leerstellen weisen beide Frames deshalb auf, weil der Frame, den das Wort Heuschrecke aufruft, die Leerstellen des hierarchisch übergeordneten Matrixframes „Organismus“ erbt, während der Frame, den das Wort Gewerkschaften aufruft, die Leerstellen des Matrixframes „Institution/soziale Rolle“ erbt; vgl. hierzu die in Abb. 5 dargestellte Frame-Hierarchie in Abschnitt VI.3.2. Man stelle sich z.B. vor, typische Ausmaße, Aktivitäten oder Auftretensorte von Heuschrecken würden auf Gewerkschaften (oder Finanzinvestoren etc.) übertragen werden.
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VII. Frames in Textkorpora: die Metapher der Heuschrecke
x
welche Elemente in den „blended space“ eingehen und zu einer emergenten Metaphernbedeutung beitragen. Ich werde im Folgenden die These vertreten, dass sich diese Fragen nur dann angemessen beantworten lassen, wenn man der Tatsache Rechnung trägt, dass sich die Heuschrecken-Metapher im Rahmen eines bestimmten diskursiven Zusammenhangs – nämlich der so genannten „Kapitalismus-Debatte“ – etabliert hat. Innerhalb dieses Diskurses hat sich ihr konzeptueller Gehalt herausgebildet und konsolidiert, und innerhalb dieses Diskurses ist weder fraglich, welches Wissen in die Inputs eingeht, noch bleibt offen, worin die emergente Bedeutung der Metapher besteht.33 Denn nur gewisse Leerstellen (Wissensaspekte) und nur gewisse Werte (prädikative Zuschreibungen) erweisen sich in diesem Wissenszusammenhang als relevant.34 Der Verfestigungsgrad vieler Leerstellen und Werte des Heuschrecken-Frames bildet sich im Rahmen der „Kapitalismus-Debatte“ heraus. Außerhalb der „KapitalismusDebatte“ lässt sich nicht genau sagen, was es heißen soll, Finanzinvestoren, Gewerkschaften usw. als „Heuschrecken“ zu bezeichnen, da nur unspezifisches Hintergrundwissen (wie über die biblische Heuschreckenplage) zur Interpretation eingebracht werden kann. In der Korpusanalyse (Abschnitt VII.4.1 bis 4.3) werde ich die erwähnte Annahme von Fauconnier und Turner weiterverfolgen, dass Frames die vier Repräsentationseinheiten – generischer „space“, Input I und II, „blended space“ – strukturieren. In dreierlei Hinsicht werde ich diese Annahme frame-theoretisch zuspitzen: (i) Elemente des generischen „space“ sind mit den Leerstellen gleichzusetzen, die die beiden Inputs miteinander teilen (Abschnitt VII.3.2). (ii) Eine hohe Type-Frequenz sorgt innerhalb des Diskurses dafür, dass nur bestimmte Leerstellen in die beiden Inputs eingehen (Abschnitt VII.3.3). (iii) Tritt eine Instanz ebendieser Leerstellen (im Sinne einer hohen TokenFrequenz) besonders häufig auf, ist diese Instanz eine gute Kandidatin für die metaphorische Projektion in den „blended space“ (Abschnitt VII.3.4).
33
34
Das heißt freilich nicht, dass sich der konzeptuelle Gehalt der Heuschrecken-Metapher ausschließlich innerhalb der „Kapitalismus-Debatte“ formiert. Vielmehr ist die Metapher Teil einer Diskursgeschichte, die sie nicht einfach abstreifen lässt. Wesentlich ist etwa die biblische Rede von einer „Heuschreckenplage“ (Bibel, Exodus 10), auf die ja Münteferings Zitat anspielt. Ich schließe mich hier Paul Ricœurs Bestimmung der Metapher als „impertinente Prädikation“ an. Ricœur (1986, S. VI) schreibt: „Zur Erzeugung einer Metapher ist zumindest ein Satz notwendig. Genauer gesagt ist der metaphorische Prozeß in dem Hauptvorgang zu suchen, dessen Rahmen der Satz ist, nämlich die Prädikation. Die These ist nun die, daß die Sinnerweiterung, die im Wort vor sich geht, auf einem sonderbaren, ungewöhnlichen Gebrauch der Metapher beruht. Die Metapher ist eine ‚impertinente Prädikation‘, also eine solche, die die gewöhnlichen Kriterien der Angemessenheit und Pertinenz in der Anwendung der Prädikate verletzt.“
2. Die „Kapitalismus-Debatte“: Exposition des Gegenstandsbereichs
387
Weil im Folgenden nicht der singuläre Verstehensprozess in actu den Gegenstandsbereich bildet, spreche ich fortan nicht mehr von „spaces“, sondern von Frames. Anders als Fauconnier und Turner geht es mir um die epistemologische Analyse der Bedingungen dafür, wie bestimmte Elemente zu Teilen eines „space“ werden können, nicht aber um die Erklärung des Entstehungsprozesses einzelner Metaphernbedeutungen.
2. Die „Kapitalismus-Debatte“: Exposition des Gegenstandsbereichs Wir haben es im Fall der Heuschrecken-Metapher mit einem Paradebeispiel dafür zu tun, wie verstehensrelevantes Wissen (im oben explizierten Sinn) nur unter Berücksichtigung der übergeordneten Einbettungsstruktur eines sprachlichen Ausdrucks annäherungsweise expliziert werden kann. Schon in Abschnitt VI.3.1 hatte sich gezeigt, dass Frames – verstanden als sprachlichkognitive Bezugsrahmen – die Funktion transphrastischer Verweisstrukturen erfüllen. Das Zugriffsformat von Frames bilden Texte und Diskurse. Ich hatte in diesem Zusammenhang angemerkt, dass Frames nicht die Bedeutung von Wörtern und ebensowenig die Bedeutung von Sätzen beschreiben, sondern allenfalls die Bedeutung von Wörtern bzw. Sätzen in Texten und Diskursen. Was aber ist ein „Diskurs“, und wie lässt sich diese Analysekategorie für unsere empirischen Zwecke operationalisieren? Dieser Frage gehe ich im nächsten Abschnitt zunächst unter methodischen und methodologischen Gesichtspunkten nach. In Abschnitt VII.2.2 stehen dann Aspekte im Vordergrund, die das Korpus der Metaphernanalyse betreffen. Schließlich widmet sich Abschnitt VII.2.3 der Frage, welche Rolle die Metapher von den Finanzinvestoren als Heuschrecken für den Diskurs spielt: Wenn Diskurswissen den konzeptuellen Gehalt von Frames prägt, wie gestaltet sich dann das umgekehrte Verhältnis? Inwiefern prägt die Heuschrecken-Metapher selbst den Diskurs (hier: der „Kapitalismus-Debatte“), in dem sie auftritt? Dass Metaphern die Funktion diskurskonstitutiver Elemente übernehmen können, oder, in einer etwas abgeschwächten Form, als zentrale „Schaltstellen“ von Diskursen fungieren können, hat Busse (1997) im Zusammenhang mit so genannten „diskurssemantischen Grundfiguren“ thematisiert. Die HeuschreckenMetapher, so die Arbeitshypothese, stellt eine diskurssemantische Grundfigur par excellence dar. Dafür werde ich einige frame-theoretisch fundierte Argumente anführen.
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VII. Frames in Textkorpora: die Metapher der Heuschrecke
2.1 Diskurs und Korpus Was ist ein „Diskurs“?35 Vergegenwärtigen wir uns zunächst das Ergebnis der letzten Überlegungen. Der metaphorische Gebrauch von Heuschrecke bleibt in Absehung von dem Kontext, in dem die Metapher thematisiert wird, semantisch stark unterspezifiziert. Erst wenn wir Frames in die Analyse mit einbeziehen, besteht Hoffnung, den Bedeutungsgehalt der Metapher analytisch näher bestimmen zu können. Frames strukturieren die beiden Inputs, d.h. sie geben an, welche Standardwerte in den Inputs repräsentiert sind und welche dieser Standardwerte in die Metaphernbedeutung eingehen. So gesehen thematisiert eine Frame-Analyse „die Bedingungen, welche das Erscheinen eines bestimmten Textbestandteils [hier: eines Elementes im Input, AZ] (im Sinne einer epistemisch-semantischen Analyse) überhaupt erst möglich gemacht haben“ (Busse 1997, S. 17). Welche Elemente in den Inputs erscheinen, lässt sich weder auf der Satznoch auf der Textebene ausmachen. Denn dort finden wir nur overte Kontextualisierungszusammenhänge, d.h. (quasi-)explizite Prädikationen. Wir benötigen jedoch einen Zugriff auf implizite Prädikationen (Standardwerte), die Sprachbenutzer und Sprachbenutzerinnen inferentiell im Verstehensprozess einbringen. Anders formuliert: Die Bedeutung der HeuschreckenMetapher ist prädeterminiert durch einander ähnelnde, rekurrent wiederkehrende Gebrauchsweisen des Wortes, d.h. durch rekurrente prädikative Zuschreibungen, die in einer Vielzahl solcher Sätze und Texte zu verzeichnen sind, in denen die Metapher thematisch war. Um jene Wissensdimensionen in den Blick zu bekommen, die sich aufgrund rekurrenter Gebrauchsweisen herausgebildet haben, müssen wir folglich die Ebene des Satzes und Textes überschreiten. Den analytischen Gegenstandsbereich bildet dann eine Fülle von Sätzen und Texten. Geht man also aus frame-semantischer Sicht der Frage nach, was ein Diskurs ist, so lautet die Antwort: Ein Diskurs ist eine virtuelle Menge von Texten (oder Textsequenzen), in denen Leerstellen des Frames, den die Metapher Heuschrecke aufruft, mit konkreten Füllwerten belegt werden. Das forschungspraktische Problem der Korpuskonstitution hängt demnach eng mit 35
Ich werde im Folgenden nicht näher auf verschiedene Diskursbegriffe eingehen, die sich den jeweiligen disziplinären Anforderungen gemäß herausgebildet haben (vgl. hierzu Böke 1996, S. 432ff.; Jung 1996, S. 453f.; Link 1999, S. 148ff.), sondern mich ausschließlich an ein auf Foucault (1974a, 1974b, 1981) zurückgehendes Diskursverständnis halten. Ferner werde ich methodologische Fragen zugunsten von forschungspraktischen und frame-relevanten vernachlässigen. Einige epistemologische Überlegungen zur Verknüpfung von Frame-Semantik und Diskursanalyse finden sich in Busse 2008b und Ziem 2008. Der Foucaultsche Diskursbegriff hat sich inzwischen in der germanistischen Diskursanalyse in zahlreichen Studien bewährt (vgl. exemplarisch Busse 2000a; Busse/Teubert 1994; Jung 1996; Fraas 1996a, S. 4; Fricke 1999; Scharloth 2005a, S. 62ff.; Warnke 2007; Wengeler 2003).
2. Die „Kapitalismus-Debatte“: Exposition des Gegenstandsbereichs
389
der theoretischen Bestimmung des Diskursbegriffes zusammen. Dieser Leitlinie folgend erläutern auch Busse und Teubert den Diskursbegriff folgendermaßen: Unter Diskursen verstehen wir im forschungspraktischen Sinn virtuelle Textkorpora, deren Zusammensetzung durch im weitesten Sinne inhaltliche (bzw. semantische) Kriterien bestimmt wird. […] Konkrete (d.h. einer diskurssemantischen Untersuchung zugrundeliegende) Textkorpora sind Teilmengen der jeweiligen Diskurse. (Busse/Teubert 1994, S. 14)
Ob ein Text oder eine Textsequenz einem Diskurs zuzurechnen ist, entscheide sich dadurch, ob „semantische Beziehungen“ zwischen Texten bzw. Textsequenzen vorherrschen würden und/oder ob sie in einem „gemeinsamen Aussage-, Kommunikations-, Funktions- oder Zweckzusammenhang“ stünden. Die der Analyse zugrunde liegende Textmenge wird dabei aus praktischen und methodologischen Gründen als „offenes Korpus“ begriffen (Busse/Teubert 1994, S. 15). Denn praktisch mag es sich im Einzelfall als unmöglich erweisen, relevante Texte einzubeziehen (etwa weil sie nicht verfügbar sind). Methodologisch gesehen ist zudem die Korpusbildung ein gegenstandskonstitutiver Akt, dieser schafft erst das Untersuchungsobjekt. Streng genommen ist die Korpusbildung aber nicht abschließbar, weil jeder neue Text wiederum neue intertextuelle Bezüge herstellt. Konsequenterweise plädieren Busse und Teubert deshalb für ein hermeneutisches Diskursverständnis, wonach Diskurse nicht als objektive Entitäten existieren, sondern „Ergebnis[se] wissenschaftlicher Konstitutionsprozesse“ darstellen (Busse/Teubert 1994, S. 17).36 Die Einschätzung der Relevanz eines Textes und die darauf basierende Selektion der korpuskonstituierenden Texte setzen den interpretierenden, verstehenden Eingriff des Forschers oder der Forscherin voraus.37 Umgekehrt kommen Diskursanalysen und korpusbasierte FrameAnalysen ebenfalls darin überein, dass das Untersuchungsziel nicht darin besteht, einzelne Texte oder Textsequenzen besser zu verstehen (Busse/Teubert 1994, S. 18). Beide hegen somit keine hermeneutischen Erkenntnisinteressen. Werden in Frame-Analysen Verfestigungen von konzeptuellen Strukturen untersucht, ist der Gegenstand solcher Studien genauso wie der von Diskursanalysen die Explikation des gesamten verstehensrelevanten Wissens. Diese Analyseperspektive transzendiert das hermeneutische Interesse an der in einem Text zum Ausdruck kommenden Intention eines Autors. Dis36
37
An einer anderen Stelle argumentiert Busse (2000a, S. 45), dass sich wissenschaftliche Kategorien generell nicht von der gewählten Beschreibungssprache entkoppeln ließen; dies treffe auf Diskurse nicht weniger zu als auf gängige linguistische Analysekategorien (man denke an Morpheme, Phoneme usw.). Besonders deutlich wird dieser Punkt am Beispiel von Metaphernanalysen. Selbst dann, wenn das Kriterium für die Textauswahl darin besteht, dass alle Texte (innerhalb eines bestimmten Zeitraums und Kommunikationsbereiches), in denen die Metapher vorkommt, das Korpus bilden, müsste vorab trotzdem schon die Metapher als Metapher identifiziert worden sein.
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VII. Frames in Textkorpora: die Metapher der Heuschrecke
kurs- und Frame-Analysen richten sich auf jene impliziten Wissensvoraussetzungen, die die Textproduktion und -rezeption erst ermöglichen. Liegt den weiteren Überlegungen ein solches Diskursverständnis zugrunde, so ist mit Blick auf die Operationalisierung m.E. aber noch präziser zu bestimmen, welche Kriterien erfüllt sein müssen, um „semantische Beziehungen“ zwischen Texten identifizieren zu können. Wenn Busse und Teubert ausdrücklich „implizite Verweisungen“ einschließen, fragt man sich, unter welchen Umständen derartige semantische Beziehungen vorliegen und wie sich insbesondere die Implizitheit explizieren lässt. „Implizite Verweisungen“ entsprechen wohl jenem Kontextualisierungstyp, den Busse (2000a, S. 44) als nicht-intendiert, nicht bewusst und nur analytisch feststellbar kennzeichnet. Busse stellt fest, dass dieser Typ problematisch sei, da er hochgradig von der in Ansatz gebrachten Theorie und Beschreibungssprache abhänge. Zur Identifikation impliziter Verweise schlägt Busse etablierte Methoden wie die Isotopie- und Präsuppositions-Analyse und die Argumentations- bzw. Toposanalyse vor. Nur dürften diese Methoden keine probaten Mittel zur Korpuskonstitution darstellen, setzen sie doch zum Teil schon voraus, dass ein Korpus existiert (in dem präsupponiertes Wissen, ähnliche Topoi usw. zu finden sind). Die Anwendung dieser Methoden dürfte sich zudem so aufwendig gestalten, dass sich mit ihrer Hilfe wohl kaum die Diskurszugehörigkeit einer großen Anzahl von Texten begründen ließe. Als entscheidendes Kriterium dafür, ob ein Text oder eine Textsequenz als Bestandteil des Diskurses gelten darf, betrachte ich allein die Okkurrenz des frame-evozierenden Ausdrucks, hier der Metapher Heuschrecke/n. Dabei halte ich es nicht für erforderlich, dass neben dem Token Heuschrecke/n die Zieldomäne „Finanzinvestor/en“ als Textelement auftreten muss. Dies ist in frühen Korpusbelegen zwar der Fall; nachdem sich die Metapher aber einmal etabliert hat, wird die Zieldomäne zunehmend präsupponiert. Die Identität der Metapher sichert in diesen Fällen der übergeordnete Kontextualisierungszusammenhang der „Kapitalismus-Debatte“. Es gibt m.E. keinen plausiblen Grund dafür, Textbelege dieser Art nicht in das Korpus aufzunehmen. In zwei Punkten weiche ich somit von den Vorschlägen ab, die Busse und Teubert (1994) unterbreiten. Zum einen spielt das Kriterium der Relevanz (d.h. der Bewertung der Wichtigkeit und Zentralität einzelner Texte für den Diskurs) bei der Textauswahl keine Rolle. Alle Texte, in denen die Heuschrecken-Metapher innerhalb des festgelegten Zeitraumes und Kommunikationsbereiches vorkommt, bilden das Textkorpus und mithin einen Ausschnitt des Diskurses.38 Des Weiteren gehen ausschließlich Texte in das Korpus ein, deren Verweisungszusammenhang dadurch explizit ist, dass in ihnen die Heu-
38
Zur Begründung vgl. Wengeler 2003, S. 295f.
2. Die „Kapitalismus-Debatte“: Exposition des Gegenstandsbereichs
391
schrecken-Metapher vorkommt.39 Implizite Verweisungen klammere ich als Kriterium der Textauswahl aus, um den interpretativen Eingriff bei der Korpuskonstitution zu minimieren. Festzuhalten bleibt, dass ein Diskurs eine Analyseeinheit darstellt, die heranzuziehen ist, wenn es um die Explizierung verstehensrelevanten Wissens geht. Wie ich schon in der Auseinandersetzung mit der von Polenz’schen Satzsemantik in Abschnitt VI.3.1 ausführlich erörtert habe, gelingt es nicht, das Prädikationspotential eines sprachlichen Ausdrucks auf der Satz- oder Textebene zu beschreiben. Der Zugriffsbereich ist stets eine Vielzahl von Texten, in denen der zu untersuchende Ausdruck auftritt und sein Prädikationspotential selektiv entfaltet. Aus epistemologischer Sicht bildet diese Menge von Texten eine diskursive Einheit, empirisch gesehen ein virtuelles Textkorpus. Forschungspraktisch ist es unumgänglich, dass die Menge an diskurskonstituierenden Texten je nach gewähltem Untersuchungszeitraum und Kommunikationsbereich variiert. Das Korpus bleibt zwangsläufig ein Ausschnitt des Diskurses. Der Diskurs ist eine extrapolierte Größe, die sich empirisch nie vollständig erfassen lässt. Seine Einheit (bzw. die des virtuellen Textkorpus) garantieren inhaltliche Kriterien, denen Texte bzw. Textsequenzen zu genügen haben. So gehören zum Diskurs der „Kapitalismus-Debatte“ alle Texte, die etwa einen gemeinsamen Themenfokus aufweisen. Nachweisen lässt sich dieser über ähnliche Makropropositionen der Einzeltexte (Konerding 2005; Meier 2005) oder über zentrale Textinhaltselemente, die rekurrent auftreten (vgl. etwa Böke 1996, S. 446ff.; Hermanns 1995; Wengeler 2003, S. 339ff.).40 Die Heuschrecken-Metapher könnte ein solches zentrales Textinhaltselement des Diskurses zur „Kapitalismus-Debatte“ darstellen.41 Leitet sich die diskursive Einheit der „Kapitalismus-Debatte“ u.a. aus der gemeinsamen thematischen Bindung korpuskonstituierender Texte ab, so erweist sich in der Praxis, dass es nicht erforderlich ist, den thematischen Bezug jedes einzelnen Textes analytisch zu bestimmen. Für viele andere Diskurse gilt gleichermaßen: Oft zentrieren sich diskurskonstituierende Texte gleichsam von selbst um eine thematische Makroproposition; vielmals gibt es zudem einen zentralen Bezugstext, der einen Diskurs erst initiiert und somit gewissermaßen seine Identität garan39
40
41
Dieses Vorgehen lässt sich allerdings nur bedingt verallgemeinern. Wären im Untersuchungszeitraum Heuschrecken-Metaphern gebräuchlich, die nicht im Diskursbereich der „KapitalismusDebatte“ angesiedelt sind, lägen verschiedene Verweisungszusammenhänge vor, zwischen denen differenziert werden müsste. Zur Bestimmung des gemeinsamen thematischen Fokus von Texten sind Konerding (2005) zufolge drei textanalytische Schritte notwendig. In einem ersten Zugriff sind die Hauptthemen der Texte im Korpus zu identifizieren. Anschließend sind die gemeinsamen Hauptthemen der Texte zu nominalisieren, um ihnen schließlich qua Hyperonymreduktion den generischen Frametyp (Matrixframe) zuzuordnen. Ich greife diesen Gedanken im nächsten Abschnitt wieder auf.
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VII. Frames in Textkorpora: die Metapher der Heuschrecke
tiert (so etwa die Walser-Rede in der so genannten Walser-Bubis-Debatte; den Sloterdijk-Essay „Regeln für den Menschenpark“ in der öffentlichen Auseinandersetzung zwischen Sloterdijk und Habermas, vgl. Steinseifer 2005). Texte, die dem Diskurs zur „Kapitalismus-Debatte“ zuzurechnen sind, nehmen vielmals schon in der Artikelüberschrift thematisch darauf Bezug. 2.2 Untersuchungszeitraum, Diskursverlauf, Untersuchungskorpus Kommen wir nach diesen Darlegungen methodischer Aspekte der Korpuskonstitution zum Korpus, das der Metaphernanalyse zugrunde liegt. Festzulegen ist der Untersuchungszeitraum und der mit dem Untersuchungskorpus abgedeckte Kommunikationsbereich. Ich beginne mit dem ersten Punkt und ergänze ihn durch eine kurze Darstellung des Diskursverlaufes. Der Untersuchungszeitraum der Heuschrecken-Metapher erstreckt sich vom 18. April 2005 bis zum 6. Mai 2005. Diese recht kurze Zeitspanne ist durch den Diskursverlauf begründet. Der Beginn der öffentlichen Auseinandersetzung darüber, ob und inwiefern Finanzinvestoren Heuschrecken sind, fällt mit dem Beginn der „Kapitalismus-Debatte“ zusammen, und diese wiederum beginnt mit einem Bericht der Süddeutschen Zeitung über die Kritik des SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering an Managern. Am 19. April 2005 antwortete Müntefering in einem Interview mit der Bild am Sonntag auf die Frage, ob ihm Sozialismus lieber sei als Kapitalismus: Nein, aber Kapitalismus mag ich auch nicht. Ich wehre mich gegen Leute aus der Wirtschaft und den internationalen Finanzmärkten, die sich aufführen, als gäbe es für sie keine Schranken und Regeln mehr. Manche Finanzinvestoren verschwenden keine Gedanken an die Menschen, deren Arbeitsplätze sie vernichten. Sie bleiben anonym, haben kein Gesicht, fallen wie Heuschreckenschwärme über Unternehmen her, grasen sie ab und ziehen weiter. Gegen diese Form von Kapitalismus kämpfen wir. (Bild am Sonntag, 19. April 2005)
Zur Charakterisierung von Finanzinvestoren verwendet Müntefering zwar den Ausdruck Heuschreckenschwärme (und nicht Heuschrecke/n). Außerdem handelt es sich nicht um eine Metapher; die Metapher von Finanzinvestoren als Heuschrecken ist vielmehr ein späteres Produkt sprachlicher Thematisierungen des angeführten Müntefering-Zitates. Diese Textsequenz darf aber den Status eines Leittextes (vgl. Teubert 1998, S. 148) bzw. einer „leitenden Textsequenz“ in Anspruch nehmen. Dass gerade zu Beginn der „KapitalismusDebatte“ sehr häufig auf Münteferings Zitat metasprachlich Bezug genommen wurde, zeigt, wie umstritten der Vergleich von Heuschreckenschwärmen mit Finanzinvestoren von Anfang an war.42 42
Vgl. die Textbelege hierzu im nächsten Abschnitt.
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Inhaltlich ist das angeführte Zitat im engen Zusammenhang mit einer Rede zu sehen, die der damalige SPD-Parteivorsitzende Müntefering am 13. April 2005 anlässlich einer Veranstaltung zum neuen Grundsatzprogramm der SPD gehalten hat. Da das Redemanuskript der Süddeutschen Zeitung vorab zugänglich gemacht worden war, titelte diese bereits am Veranstaltungstag mit den Worten „Müntefering geißelt ‚Macht des Kapitals‘“. In diesem Artikel kommt zwar die Metapher von Finanzinvestoren als Heuschrecken nicht vor, die dort referierte Rede Münteferings stellt aber den thematischen Bezug zu jener Kritik an der zunehmenden Dominanz der Wirtschaft her, für die die Heuschrecken-Metapher eine Stellvertreterfunktion einnehmen sollte.43 In den übergeordneten diskursiven Zusammenhang der „Kapitalismus-Debatte“ gehört zudem die prekäre wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Lage. So musste die rot-grüne Koalition Mitte April die bis dato angesetzten Konjunktur- und Wachstumsprognosen ‚nach unten‘ korrigieren, während zeitgleich bekannt wurde, dass über fünf Millionen Menschen in Deutschland arbeitslos sind. Nachdem Müntefering deutlich gemacht hatte, dass sein im Interview mit Bild am Sonntag angestellter Vergleich von Finanzinvestoren mit Heuschreckenschwärmen gegen bestimmte Private Equity-Firmen gerichtet sei, veröffentlichte die Zeitschrift Stern in ihrer Internetausgabe am 28. April 2005 unter dem Titel „Die Namen der Heuschrecken“ eine Liste von zwölf Beteiligungs- und Private Equity-Firmen. Als Quelle wurde ein Hintergrundpapier der Planungsgruppe der SPD-Bundestagsfraktion angegeben. Zwei weitere Ereignisse beeinflussten den weiteren Diskursverlauf maßgeblich. Für parteiübergreifende Kontroversen sorgte das Anfang Mai 2005 erschienene Mitgliedermagazin der IG-Metall. Es titelte mit der Schlagzeile „US Firmen in Deutschland – Die Aussauger“. Als bildliche Illustration fungierte die Karikatur einer Stechmücke, die grinsend und einen Nadelstreifenanzug tragend ihren Zylinder in den Farben der US-Flagge zum Gruß hebt. Zu ähnlich heftigen Auseinandersetzungen führte der am 3. Mai 2005 in der Rheinischen Post veröffentlichte Essay des Historikers Michael Wolffsohns.
43
Dass sich die mediale Aufmerksamkeit in einem sehr hohen Maße auf die HeuschreckenMetapher konzentriert, verwundert insofern (und darf deswegen als Paradebeispiel für ein „diskursives Ereignis“ im Sinne Foucaults gelten), als Müntefering dieselbe Metapher bereits am 22. November 2004 in einem ganz ähnlichen Zusammenhang gebraucht hatte, ohne dass sie in den Medien für Aufsehen gesorgt hätte. In der Rede, die den Titel „Freiheit und Verantwortung“ trägt und die Müntefering anlässlich der Aktualisierung des SPD-Parteiprogramms bei der Friedrich-Ebert-Stiftung gehalten hatte, heißt es: „Wir müssen denjenigen Unternehmern, die die Zukunftsfähigkeit ihrer Unternehmen und die Interessen ihrer Arbeitnehmer im Blick haben, helfen gegen die verantwortungslosen Heuschreckenschwärme, die im Vierteljahrestakt Erfolg messen, Substanz absaugen und Unternehmen kaputtgehen lassen, wenn sie sie abgefressen haben. Kapitalismus ist keine Sache aus dem Museum, sondern brandaktuell.“ (SPD 2005, S. 18)
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VII. Frames in Textkorpora: die Metapher der Heuschrecke
Wolffsohn verglich die Heuschrecken-Metapher mit Denkmustern, die im Nationalsozialismus verbreitet gewesen seien.44 Der 6. Mai 2005 markiert einen Einschnitt im Diskursverlauf. Die äußerst kontrovers geführte Diskussion, ob dem kapitalintensiven Handeln von Finanzinvestoren politische Schranken auferlegt werden sollten, rückte zunehmend aus dem Mittelpunkt öffentlich-medialen Interesses. Andere Themen dominierten die Berichterstattung, so etwa der 60. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges am 9. Mai 2005 sowie die parteipolitisch wichtigen Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen, die am 22. Mai 2005 stattfinden sollten. Dieser Befund spiegelt sich in der geringen Anzahl an Okkurrenzen der Heuschrecken-Metapher in der Zeit nach dem 6. Mai wider. In den nachfolgenden Wochen kam es zwar immer wieder zu vereinzelten Thematisierungen der „Kapitalismus-Debatte“. Am 12. Mai titelte beispielsweise die wöchentlich erscheinende Zeitschrift Stern „Das große Fressen. Warum wir alle Heuschrecken sind“. Die Kontinuität und Intensität der Berichtererstattung, die für den Zeitraum zwischen dem 18. April und dem 6. Mai 2005 kennzeichnend war, fehlte indessen. Das Untersuchungskorpus bezieht sich auf den Kommunikationsbereich Printmedien. Drei überregionale Tageszeitungen, die Süddeutsche Zeitung, die Frankfurter Allgemeine Zeitung, der Tagesspiegel, sowie die wöchentlich erscheinende Zeitung Die Zeit werden zur Analyse herangezogen.45 Mit der Auswahl dieser auflagenstarken Zeitungen soll ein breites politisches Spektrum abgedeckt werden (vgl. Wengeler 2003, S. 341; Keller 1998, S. 46ff.). Den korpustheoretischen Vorüberlegungen gemäß umfasst das Textkorpus alle Texte dieser Tageszeitungen, die mindestens eine Okkurrenz der Heuschrecken-Metapher aufweisen und zwischen dem 18. April und 6. Mai 2005 erschienen sind. Von diesen Artikeln wurden in die Analyse jene Artikel einbezogen, in denen dem Referenzobjekt Heuschrecke Prädikate zugewiesen wurden. Diese Bedingungen sind in 70 Artikeln erfüllt. Jeder dieser Artikel nimmt ausdrücklich Bezug auf die „Kapitalismus-Debatte“. Daneben gibt es weitere Artikel, die sich thematisch mit der „Kapitalismus-Debatte“ beschäf44
45
Wolffsohn schreibt: „60 Jahre ‚danach‘ werden heute wieder Menschen mit Tieren gleichgesetzt, die – das schwingt unausgesprochen mit – als ‚Plage‘ vernichtet, ‚ausgerottet‘ werden müssen. Heute nennt man diese ‚Plage‘ ‚Heuschrecken‘, damals ‚Ratten‘ oder ‚Judenschweine‘. Worte aus dem Wörterbuch des Unmenschen, weil Menschen das Menschsein abgesprochen wird.“ (Rheinische Post, 3. Mai 2005) Die Artikel aus diesen Zeitungen bilden das Untersuchungskorpus im engeren Sinne. Die Quelldomäne der Heuschrecken-Metapher kann mit diesem Korpus freilich nicht untersucht werden, da der Ausdruck Heuschrecke innerhalb des Diskurses zur „Kapitalismus-Debatte“ ausschließlich metaphorisch gebraucht wird. Um also Aufschluss über die konzeptuelle Struktur der Quelldomäne zu erhalten, muss ein „neutrales“ Korpus herangezogen werden. In Abschnitt VII.4.2 greife ich zu diesem Zweck auf Korpusdaten aus „Cosmas II“ zurück, einer Datenbank, die das Institut für Deutsche Sprache in Mannheim zur Verfügung stellt.
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tigen, ohne die Heuschrecken-Metapher zu verwenden bzw. ohne auf das Referenzobjekt Heuschrecke prädikativ Bezug zu nehmen. Im Literaturverzeichnis sind die analysierten Zeitungsartikel aufgeführt. Die Beschränkung auf Printmedien ist nicht selbstverständlich, in der linguistischen Diskursanalyse Foucaultscher Prägung aber durchaus üblich.46 Angesichts meines Erkenntnisinteresses und der in Ansatz gebrachten Methodik bietet es sich deswegen an, ausschließlich schriftsprachliche Texte einzubeziehen, weil das Untersuchungsziel darin besteht, mithilfe einer framebasierten Prädikationsanalyse Aufschluss über den konzeptuellen Gehalt der Metapher zu bekommen. Die Analyse von Bildmaterial würde den zusätzlichen Einbezug einer Methode nötig machen, die bildlich repräsentierten Wissensaspekte zu kodieren und quantitativ auszuwerten erlaubt. Denn semantische Kategorien, die Matrixframes zur Bedeutungsanalyse bereitstellen, lassen sich nicht bruchlos auf bildliche Zeichenträger übertragen. Das Untersuchungsverfahren würde sich infolgedessen nicht nur erheblich erschweren; es ist bislang auch ungeklärt, wie sprachliche und nicht-sprachliche Informationseinheiten konzeptuell zusammenwirken.47 2.3 Heuschrecke: eine diskurssemantische Grundfigur Ein Diskurs besteht aus einer Vielzahl von Diskurselementen unterschiedlicher Komplexität. Verschiedene Komplexitätsstufen ergeben sich aus den Ebenen der syntagmatischen Organisation sprachlicher Zeichen. Nichtmetaphorisch gebrauchte Leitvokabeln, Schlag- und Schlüsselwörter sind auf einer niedrigen Komplexitätsstufe anzusiedeln (vgl. Jung 1997, 2000). Metaphern sind deswegen komplexer, weil ihr Bedeutungsgehalt auf die Verschränkung von Wissenssegmenten aus zwei konzeptuellen Domänen zurückgeht. Diskursspezifisches Wissen der beiden Domänen kann sich so auf der lexikalischen Ebene verdichten (vgl. Böke 1996, 1997).48 Bei Argumentationsmustern handelt es sich schließlich um transphrastische Diskurselemente 46 47
48
In jüngerer Zeit wird diskursanalytisch allerdings vermehrt nicht-sprachlichen Wissenseinheiten wie Bildern und Alltagsgegenständen Rechnung getragen (vgl. etwa Meier 2005, Scharloth 2005a, b). Angesichts des offenen Diskursbegriffs Foucaults ist diese Erweiterung nur konsequent. Erste Hinweise dazu finden sich in Scollon/Scollon 2003, Stöckl 2004, Leeuwen 2005. Ungeklärt bleibt m.E. aber auch hier, wie mit sprachlichen und nicht-sprachlichen Mitteln kodierte Informationen so konzeptuell aufeinander bezogen werden können, dass eine holistische kognitive Informationseinheit das Ergebnis bildet. Nach Böke konvergieren Metapher- und Diskurstheorien zum einen in der „Auffassung von Sprache als Medium der Reflexivität, Strukturierung und Organisation sowie der Handlungsorientierung und damit auch der Konstituierung von sozio-kultureller Wirklichkeit im allgemeinen“ und zum anderen in dem „Gedanke[n] von Sprache als Indikator und Faktor kollektiven Bewußtseins (und seiner Veränderung) oder besser: der Mentalität sozialer Gruppen in einer Sprachgemeinschaft im besonderen“ (Böke 1996, S. 439).
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(vgl. etwa Wengeler 2000, 2003). Sie betreffen den habitualisierten Gebrauch gleicher Schlussmuster in ähnlichen thematischen Zusammenhängen und überschreiten infolgedessen schon auf der Token-Ebene die Satzgrenzen. Metaphern, Leitvokabeln, Schlag- und Schlüsselwörter können ihrerseits integrale Bestandteile von Argumentationsmustern bilden. Umgekehrt können sich in Metaphern soziale Einstellungen, Denk- und sogar Argumentationsmuster einer Sprachgemeinschaft manifestieren (Böke 1996, S. 439; Pielenz 1993). Diskurselemente sind folglich (sowohl auf der syntagmatischen als auch auf der paradigmatischen Achse) miteinander verwoben. Wenngleich ich die Analyse der Heuschrecken-Metapher auf die Untersuchung ihrer metaphorisch-konzeptuellen Struktur einschränke, könnte ihr Gebrauch darüber hinaus ebenso auf ihre argumentative Funktion hin untersucht werden. Dennoch handelt es sich bei der Metaphernanalyse nicht um eine Analyse rein lexikalischer Bedeutungsstrukturen. Eine Metapher als (evozierten) Frame zu begreifen, schließt nämlich zumindest die Erfassung semantischer und epistemischer Beziehungen zu jenen Konzepten ein, die in sprachlicher Gestalt von Prädikaten (im oben erläuterten Sinn) dem Referenzobjekt zugeschrieben werden.49 Innerhalb eines Diskurses unterscheiden sich Diskurselemente hinsichtlich ihres Stellenwertes. In wohl jedem Diskurs finden sich Diskurselemente, die stärker dominieren als andere. Diese Dominanz gründet in der Regelmäßigkeit ihres Auftretens innerhalb eines Diskursuniversums und schlägt sich in einem hohen Grad an kognitiver Präsenz ebendieser Elemente nieder. Busse (1997c; 2000, S. 51-53; 2003, S. 28-32) hat in diesem Zusammenhang den Begriff „diskurssemantische Grundfigur“ eingeführt. Diskurssemantische Grundfiguren sind „zu Regelmäßigkeiten verfestigte inhaltliche Elemente in den Texten, die das Korpus der einzelnen Diskurse bilden“ (Busse 2000a, S. 50). Diskurssemantische Grundfiguren haben kein einheitliches Ausdrucksformat; sie können in Gestalt von Schlagwörtern und Metaphern ebenso gut wirksam werden wie in Gestalt von inferiertem Wissen (Präsuppositionen, Implikaturen usw.) oder Argumentationsmustern. Diskurssemantische Grundfiguren charakterisiert Busse (2000a, S. 50-52) durch folgende Eigenschaften: x Diskurssemantische Grundfiguren gehören zur epistemisch-kognitiven Grundausstattung von Sprachbenutzerinnen und Sprachbenutzern. 49
Busse und Teubert (1994, S. 19) konstatieren dagegen mit Blick auf Lexemanalysen: „Diskursanalyse möchte aber semantische und epistemische Beziehungen untersuchen, die nicht nur durch die Einheit von Lexemen ausgedrückt werden, sondern die die Lexemeinheit transzendieren.“ Die Bedeutung eines Lexems als einen (aufgerufenen oder abgerufenen) Frame zu begreifen, schließt jedoch immer schon semantische und epistemische Beziehungen ein, die die Lexemeinheit transzendieren; prädikative Zuschreibungen finden innerhalb von Sätzen, Texten und Diskursen statt.
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x x
Sie müssen zeitweilig explizit aufgetreten sein, um wirksam zu werden. Haben sich diskurssemantische Grundfiguren einmal verfestigt, treten sie in der Regel ‚versteckt‘ auf, d.h. sie werden präsupponiert bzw. inferiert. Aus diesem Grund gehören sie der „Tiefenebene der Textsemantik“ an. x Diskurssemantische Grundfiguren sind teilweise dem Willen sprechender und verstehender Personen entzogen.50 x Diskurssemantische Grundfiguren ordnen andere textinhaltliche Elemente und können ihr Auftreten an bestimmten Punkten des Diskurses steuern. x Schließlich bilden diskurssemantische Grundfiguren ein Raster, das diskursübergreifend, also in anderen Diskursen wirksam werden kann. Der letzte Aspekt scheint mir von entscheidender Wichtigkeit zu sein. Nur unter der Bedingung, dass diskurssemantische Grundfiguren eine schematische Struktur aufweisen, wird erklärbar, wie sie eine verstehensrelevante Funktion erfüllen können, ohne explizit (d.h. etwa in Gestalt eines realisierten argumentativen Schlusses, eines verwendeten Prädikates usw.) aufzutreten. Aus gedächtnistheoretischer Sicht erklärt außerdem allein der schematische Charakter diskurssemantischer Grundfiguren, wie diese zur epistemischkognitiven Grundausstattung von Sprachbenutzern und Sprachbenutzerinnen werden können. Enthielte eine diskurssemantische Grundfigur bedeutungsrelevante Detailangaben (im Sinne eines Gebrauchsereignisses), könnte sie nicht zu einer abrufbaren Wissenseinheit im Langzeitgedächtnis werden (vgl. hierzu Abschnitt V.2.1). Dass diskurssemantische Grundfiguren schließlich teilweise dem Willen sprechender und verstehender Personen entzogen sind, dürfte eine Folge von Schematisierungsprozessen sein, nämlich von Verfestigungen bestimmter Wissenselemente, deren Erfassung in der Folge kognitiv routinierter verläuft als die anderer Wissenselemente. Obwohl es also nahe liegt, die semantische Gestalt und Funktionsweise diskurssemantischer Grundfiguren schematheoretisch zu erklären, bringt Busse diskurssemantische Grundfiguren nur beiläufig mit Schemata in Verbindung (vgl. Busse 1997c, S. 24, 33). Da er sie zudem eher funktional bestimmt, bleibt offen, „was diskurssemantische Grundfiguren in semantischer Perspektive eigentlich sind“ (Scharloth 2005b, S. 124).51 Ich möchte im Fol50
51
Was damit genau gemeint ist, bleibt m.E. unklar. Ich interpretiere diese Feststellung so, dass man nicht nicht verstehen kann. In diesem Sinne konstatiert Lakoff (2004, S. 3), dass Wissen oft automatisch aktiviert werde. Demzufolge kann man z.B. der Aufforderung „Denke nicht an Heuschrecken!“ nicht nachkommen, denn das Token Heuschrecke ruft unweigerlich den Frame auf. Nicht – oder kaum – willentlich beeinflussbar sind demnach kognitive Aufrufprozesse sowie konventionalisierte Elemente (Standardwerte) des aufgerufenen Frames. Busse (etwa 2000, S. 51) konstatiert zwar, dass semantische Grundfiguren verschiedene Ausdrucksgestalten annehmen können; sie würden auftreten als (i) semantische Merkmale, (ii) historische Isotopie-Ketten, (iii) als Stützungselemente einer textbasierten Schlussregel, (iv) als Präsuppositionen im Sinne der linguistischen Pragmatik bzw. als durch Inferenzen zu erschließende
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genden die These vertreten, dass es nur unter der Berücksichtigung des schematischen Charakters von diskurssemantischen Grundfiguren gelingt, ihre Funktionsweise angemessen zu beschreiben und ihren semantischen Gehalt angemessen zu erfassen. Am Beispiel der Heuschrecken-Metapher werde ich drei empirische Kriterien zur Identifikation diskurssemantischer Grundfiguren in Textkorpora vorschlagen und darzulegen versuchen, warum die Heuschrecken-Metapher eine diskurssemantische Grundfigur darstellt. Inwiefern weisen diskurssemantische Grundfiguren schematische Eigenschaften auf? Joachim Scharloth (2005b), der in einer empirischen Fallstudie ästhetische Bewertungen im späten 18. Jahrhundert untersucht, setzt diskurssemantische Grundfiguren als Analysekategorien ein, begreift diese aber anders als Busse ausdrücklich als schematische Strukturen, mit denen Sinneseindrücke verarbeitet und Wissensbestände kognitiv organisiert und verfügbar gemacht werden (Scharloth 2005b, S. 124). Zur Operationalisierung greift Scharloth zusätzlich auf strukturalistische Überlegungen Umberto Ecos zurück, wonach die Bedeutung einer kulturellen Einheit, also auch eines sprachlichen Zeichens, „die Gesamtheit jener Merkmale [ist], die sie mit anderen kulturellen Einheiten teilt und mit denen sie sich von ihnen unterscheidet“. Indem Scharloth Merkmale als binär kodierte Seme versteht, die sich entlang semantischer Oppositionsachsen formieren, schließt er direkt an die Komponentialsemantik an. So kann er hinsichtlich semantischer Grundfiguren rückblickend zu dem Ergebnis kommen, dass diese Schemata [gemeint sind diskurssemantische Grundfiguren, AZ] als grundlegende Elemente der Organisation des semantischen Systems konzeptualisiert werden konnten, etwa als semantische Oppositionen, die eine große Anzahl von semantischen Feldern strukturieren, oder als grundlegende Merkmalsoppositionen, die semantische Felder voneinander abgrenzen. (Scharloth 2005, S. 131)
Den Mehrwert einer solchen Neubestimmung von diskurssemantischen Grundfiguren versucht Scharloth am Gegensatzpaar „natürlich“ vs. „gekünstelt“ exemplarisch zu veranschaulichen. Sein Ergebnis lautet, dass diese Merkmalsopposition im ausgehenden 18. Jahrhundert die Gestalt eines grundlegenden Wahrnehmungs- und Bewertungsschemas angenommen habe, das sich in so verschiedenen Artefakten wie Gedichten und Kupferstichen nachweisen lasse. Teile des Implizierten und Mitgemeinten, (iv) als etwas, das sich hinter Namen, angesprochenen Personen, Sachen, Sachverhalten und Gedankenkomplexen verstecke, sowie (v) als Bestandteile der (lexikalischen) Oberflächenbedeutung von Wörtern, Begriffen und Texten. Solche unterschiedlichen Ausprägungsvarianten erklären m.E. aber nicht, wie diskurssemantische Grundfiguren strukturell wirksam werden: Treten diskurssemantische Grundfiguren, zeichentheoretisch betrachtet, einheitlich auf? Ist dies der Fall, was zeichnet diese semiotische Uniformität aus? Wie verhalten sich Ausdrucks- und Inhaltsseite zueinander (vorausgesetzt, diskurssemantische Grundfiguren bilden symbolische Einheiten)? Inwiefern haben diskurssemantische Grundfiguren ausdrucksseitig einen schematischen Charakter?
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Neben der empirischen Relevanz diskurssemantischer Grundfiguren geht es Scharloth um die zeichentheoretisch motivierte Frage nach der semantischen Natur von Grundfiguren. Ich meine, dass Scharloth die richtige Frage stellt, aber eine problematische Antwort gibt. Für sein empirisches Interesse mag es zwar hilfreich sein, strukturalistische Theoreme wiederzubeleben; dadurch handelt er sich aber alle Schwierigkeiten und Aporien ein, die ein strukturalistisches Bedeutungsmodell mit sich bringt (vgl. etwa Konerding 1999, S. 20). Offen bleibt nicht nur der Status semantischer Merkmale. Fraglich dürfte auch sein, ob binäre Oppositionsbildungen und semantisch distinktiv gegliederte Feldstrukturen der Komplexität des untersuchten Gegenstandsbereiches gerecht werden können. Noch gravierender ist aber, dass sich die in Anschlag gebrachten strukturalistischen Theoreme weder mit einem kognitionspsychologisch fundierten Schema-Begriff noch mit kognitiven Prozessen wie Kategorisierung und Inferenzbildung vereinbaren lassen. Genau auf diese Verschränkung läuft Scharloths Bestimmung von diskurssemantischen Grundfiguren aber hinaus. Die Problematik besteht darin, Unvereinbares miteinander vereinbaren zu wollen: Aus kognitiver Perspektive ist semantische Distinktivität nur relativ zu verstehensrelevanten kognitiven Domänen bzw. Frames zu sehen. Weil jede Kategorisierung einen wissensbasierten kognitiven Akt darstellt, gibt es weder semantisch distinktive Merkmale noch klare semantische Feldstrukturen (vgl. Allwood 2003; Zlatev 2003; Langacker 2006). Entsprechend verändern sich Wissenseinheiten (Füllwerte, Standardwerte) abhängig vom Sprachgebrauch. Anders als semantische Merkmale sind diese zudem nicht sprachlichen Einheiten inhärent, sondern Ergebnisse individueller Verstehensleistungen von Sprachbenutzern und Sprachbenutzerinnen. Vergegenwärtigen wir uns die Ergebnisse aus Abschnitt II.2.3 liegen sogar triftige Gründe dafür vor, dass der Einbezug semantischer Merkmale nur zu einer sehr unzureichenden Erfassung verstehensrelevanten Wissens führen kann. Eine komponentialsemantisch inspirierte Reformulierung diskurssemantischer Grundfiguren, wie sie Scharloth vorschlägt, bleibt somit im Kern einem bedeutungsreduktionistischen Programm verpflichtet. Sie kaschiert einen guten Teil der semantischen Tiefendimension, die diskurssemantische Grundfiguren gerade zu erschließen beabsichtigen. Mein Gegenvorschlag lautet folgendermaßen: Diskurssemantische Grundfiguren sind symbolische Einheiten, also Form-Inhaltspaare von unterschiedlichem Abstraktionsgrad, deren Inhaltsseite sich diskursspezifisch herausgebildet hat und durch (mindestens) einen Frame strukturiert wird. Schematisch ist die Inhaltsseite einer symbolischen Einheit insofern, als sie Wissenssegmente enthält, die sich im Rahmen eines Diskurses allmählich zu konventionellen Elementen (Standardwerten) verfestigt haben und die inferentiell mittels kognitiver Routinen leicht aktualisierbar sind. Um den Status von
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Standardwerten zu erlangen, müssen Instanzen – in Gestalt (quasi-)expliziter Prädikationen – zeitweilig eine hohe Token-Frequenz aufgewiesen haben. Weisen diskurssemantische Grundfiguren inhaltsseitig eine Vielzahl von Standardwerten auf, so steuert eine diskurssemantische Grundfigur das Auftreten anderer Textelemente vermittels der Aktivierung von Standardwerten, wobei jeder Standardwert wiederum verschiedene Anschlussmöglichkeiten eröffnet. Angenommen, die Metapher Heuschrecke ist eine diskurssemantische Grundfigur, die sich u.a. durch den Standardwert auszeichnet, dass Finanzinvestoren mittelständische Unternehmen ohne Rücksicht auf die Beschäftigten ausbeuten und zerstören. Im Zusammenhang mit der Heuschrecken-Metapher können dann in einem Text etwa die Folgen einer „Heuschreckenplage“ thematisch werden, ohne dass mittelständische Unternehmen oder deren Beschäftige genannt worden sind. Allein die aktivierten Standardwerte des Heuschrecken-Frames steuern in diesem Fall das Auftreten von Textelementen wie „Plage“ und „Folgen von Plagen“. Das letzte Beispiel ist ein heuristischer Vorgriff. Dass die HeuschreckenMetapher im Diskurs der „Kapitalismus-Debatte“ tatsächlich eine diskursdominierende Funktion erfüllt, muss sich erst erweisen. Welche Kriterien müssen erfüllt sein, damit man von einer „diskurssemantischen Grundfigur“ sprechen kann? Wie identifiziert man diskurssemantische Grundfiguren? Und welche Gründe berechtigen dazu, anderen Diskurselementen denselben Status abzusprechen? Wenn Scharloth das Gegensatzpaar „natürlich“/„gekünstelt“ untersucht, scheint er so vorzugehen, dass er zunächst im Zuge der Materialsichtung die Opposition „natürlich“/„gekünstelt“ wiederholt identifiziert, ihren Wert als provisorische Analysekategorie dann an einzelnen Exempla austestet und schließlich – aufgrund des positiven Befundes – aus den Beispielen die Annahme eines Wahrnehmungsschemas extrapoliert, das generell für das letzte Drittel des 18. Jahrhunderts gelten soll. Ganz ähnlich verfährt offenkundig Busse (1997) in seiner empirischen Studie über die diskurssemantische Grundfigur „das Eigene und das Fremde“. Dieser Vorgehensweise nach ist zur Identifikation einer diskurssemantischen Grundfigur entscheidend, dass man die Grundfigur entweder vor der Materialsichtung schon kennt oder aber sie auf der Basis des ausgewählten Materials ‚kennen lernen‘ kann. Methodologisch scheint mir hier wichtig zu sein, möglichst transparent zu machen, welche Kriterien genau zur Identifikation einer diskurssemantischen Grundfigur beitragen. Ich führe deshalb im Folgenden drei Kriterien ein, mit deren Hilfe sich m.E. der Status von Diskurselementen zuverlässig bestimmen lässt: Von einer diskurssemantischen Grundfigur kann man genau dann sprechen, wenn (i) es sich dabei um ein Diskurselement handelt, auf das häufig metasprachlich Bezug genommen wird, (ii) dasselbe Element zumindest temporär signifikant häufig innerhalb eines diskursiven Zusammenhangs auftritt und (iii) die Inhaltsseite des Dis-
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kurselements eine Reihe von zeitlich persistenten Standardwerten aufweist, so dass dasselbe Diskurselement auch in anderen Diskursen wirksam werden kann. Die Anwendung dieser Kriterien setzt bereits ein konstituiertes Textkorpus voraus, was umgekehrt bedeutet, dass sich eine diskurssemantische Grundfigur nicht verlässlich auf der Basis einzelner Textanalysen identifizieren lässt. In diesem Punkt unterscheidet sich mein Vorgehen von dem Busses und Scharloths. Am Beispiel der Heuschrecken-Metapher will ich nun die Anwendung der drei Kriterien zu konkretisieren versuchen. (i) Metasprachliche Bezugnahmen. In zahlreichen Studien haben sich Sprachthematisierungen als sinnvolle Indikatoren erwiesen, um zentrale Diskurselemente zu identifizieren. So macht Georg Stötzel in der Einleitung zu „Kontroverse Begriffe“ deutlich, dass jede Sprachthematisierung die öffentliche Brisanz und gesellschaftliche Relevanz des thematisierten Sachverhalts anzeigt (vgl. Stötzel 1995, S. 3).52 Metasprachliche Bezugnahmen im öffentlichen Sprachgebrauch sind ein Indiz dafür, dass sich die Sprachteilnehmer und Sprachteilnehmerinnen um die Semantik sprachlicher Ausdrücke kümmern und bestimmte Bedeutungsnuancen akzentuiert wissen wollen bzw. in Abrede stellen. Über die lexikalische Ebene hinaus können ebenso gut Argumentationsmuster metasprachlich betrachtet werden (Wengeler 1996). Grundsätzlich lassen sich sprachliche Einheiten jeder Komplexitätsstufe, also Präsuppositionen und Implikaturen ebenso wie ganze Texte, metasprachlich thematisieren. Nicht nur lexikalische Einheiten, sondern auch komplexere sprachliche Ausdrücke können so problemlos daraufhin überprüft werden, ob sie als diskurssemantische Grundfiguren in Frage kommen. Grund zu der Annahme, dass einem Konzept (oder Konzeptverbund) ein zentraler Stellenwert zukommt, besteht aber erst dann, wenn ähnliche metasprachliche Bezugnahmen innerhalb eines diskursiven Zusammenhangs in signifikanter Häufung auftreten. Diese Bedingung erfüllt die Heuschrecken-Metapher im Diskurs der „Kapitalismus-Debatte“. In jedem der insgesamt 70 Artikel, in dem die Heuschrecken-Metapher vorkommt, findet sich mindestens eine metasprachliche Bezugnahme auf die Metapher.53 Zur Veranschaulichung seien zwei Artikel aus dem Textkorpus exemplarisch herausgegriffen. Für den Beginn der „Kapitalismus-Debatte“ ist kennzeichnend, dass immer wieder Münteferings Heuschrecken-Vergleich zitiert und kommentiert wird, so wie im folgenden Beispiel aus der Süddeutsche Zeitung:
52 53
Vgl. auch Stötzel 1995, S. 17; Stötzel 1980, S. 39; Wengeler 1996, S. 412f. Dieser Sachverhalt trifft interessanterweise genau dann nicht mehr zu, wenn die Metapher außerhalb der „Kapitalismus-Debatte“ in anderen diskursiven Zusammenhängen auftaucht; vgl. hierzu Punkt (iii).
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VII. Frames in Textkorpora: die Metapher der Heuschrecke Müntefering hatte vor der „wachsenden Macht des Kapitals“ gewarnt und einen Teil der Investoren mit „Heuschreckenschwärmen“ verglichen, die über Unternehmen herfielen, sie abgrasten und weiterzögen. (Süddeutsche Zeitung, 20. April 2005)
Derartige Sprachthematisierungen tauchen nicht nur zu Beginn der „Kapitalismus-Debatte“ auf, sondern prägen den gesamten Diskursverlauf. So sind am Ende des Untersuchungszeitraumes in einem Artikel in Die Zeit gleich mehrere metasprachliche Bezugnahmen auf die Heuschrecken-Metapher zu verzeichnen: Die Grünen-Fraktion und -Parteispitze hatten am Montag die Stoßrichtung Münteferings unterstützt, seinen „Heuschrecken“-Vergleich aber zurückgewiesen. „Die Debatte muss viel differenzierter geführt werden“, sagte Finanzexpertin Christine Scheel der „Welt“ (Dienstag). Mit dem „Heuschrecken“-Vergleich würden auch Firmen verschreckt, die gar nicht gemeint seien. […] Auch die hessische SPD-Landesvorsitzende Andrea Ypsilanti wies die Kritik aus den Reihen der Grünen am „Heuschrecken“-Vergleich zurück. […] Müntefering hatte Mitte April die Debatte ausgelöst, als er internationale Finanzinvestoren, die Firmen übernehmen, um sie zu zerlegen und wieder abzustoßen, mit „Heuschrecken“ verglich. […] (Die Zeit, 3. Mai 2005)
In allen vier angeführten Textbelegen geht es um den konzeptuellen Gehalt des Vergleichs von Finanzinvestoren mit Heuschrecken, im zweiten und dritten Beleg außerdem darum, inwiefern einzelne Diskursteilnehmer und -teilnehmerinnen mit aktualisierten Standardwerten übereinstimmen. Dass innerhalb der „Kapitalismus-Debatte“ kein anderes Konzept annähernd so oft zum Gegenstand von Aussagen gemacht wurde, darf als eindeutiger Hinweis auf den diskursiv zentralen Stellenwert des Vergleichs gelten. Vor diesem Hintergrund bildet sich im Verlauf der „Kapitalismus-Debatte“ die Metapher Finanzinvestoren als Heuschrecken heraus. (ii) Hohe Auftretenshäufigkeit (hohe Type-Frequenz). Die hohe Anzahl an Sprachthematisierungen ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung dafür, dass die Heuschrecken-Metapher im Diskurs eine durchgehend dominante Rolle spielt. Es wäre durchaus denkbar, dass trotz metasprachlicher Bezugnahmen die Heuschrecken-Metapher nur ein marginales Diskurselement darstellt, nämlich dann, wenn der frame-evozierende Ausdruck Heuschrecke/n (fast) ausschließlich metasprachlich thematisiert wäre. Absolut gesehen bliebe so die Type-Frequenz relativ gering und der Heuschrecken-Frame würde sich innerhalb des Diskurses kaum konsolidieren können, zumindest nicht in einem solchen Maß, dass er jenseits der „Kapitalismus-Debatte“ auch in anderen Diskursen aufzutreten
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vermag. Anders formuliert: Dass ein Ausdruck häufig metasprachlich fokussiert wird, heißt zunächst nur, dass er relativ zu anderen Ausdrücken im selben thematischen Zusammenhang häufiger zum Objekt von Reflexionen gemacht wird. Damit dieses Kriterium erfüllt ist, reicht es aber absolut gesehen aus, dass nur wenige Sprachthematisierungen auftreten, etwa dann, wenn in demselben thematischen Zusammenhang kein anderer Ausdruck metasprachlich reflektiert wird. In diesem Fall lägen, relativ gesehen, häufige Sprachthematisierungen vor, obwohl die TypeFrequenz recht gering wäre. Tatsächlich deuten die empirischen Daten aber auf Gegenteiliges hin.54 Ich hatte bereits erwähnt, dass von den Artikeln, die das Korpus zur „Kapitalismus-Debatte“ bilden, in 70 Artikeln, die HeuschreckenMetapher oder der Vergleich von Finanzinvestoren mit Heuschrecken vorkommt.55 Hierbei handelt es sich um eine beachtliche Menge, zieht man zusätzlich in Betracht, dass insgesamt 173 Okkurrenzen der Metapher vorliegen, in jedem Artikel der Ausdruck Heuschrecke/n also durchschnittlich mehr als zweimal auftritt. Besonders beachtlich ist, dass die Quelldomäne „Heuschrecke/n“ in den 70 Artikeln sogar häufiger auftritt als die Zieldomäne „Finanzinvestor/en“; 149 Okkurrenzen von Finanzinvestor/en sind zu verzeichnen. Demnach dürfte zumindest feststehen, dass die HeuschreckenMetapher, die aus dem Vergleich von Finanzinvestoren mit Heuschrecken hervorgeht, eine gute Kandidatin für eine diskurssemantische Grundfigur ist, obgleich bislang noch nichts über ihren konzeptuellen Gehalt gesagt wurde. (iii) Verfestige Inhaltsstruktur (hohe Token-Frequenz). Inwiefern sich innerhalb des Diskurses Standardwerte im Heuschrecken-Frame konsolidieren, ist entscheidend für die funktionale Wirksamkeit innerhalb und jenseits der „Kapitalismus-Debatte“. Denn aktivierte (d.h. in Texten präsupponierte bzw. von Rezipientinnen und Rezipienten inferierte) Standardwerte steuern das Auftreten bestimmter textinhaltlicher Elemente an bestimmten Punkten des Diskurses. Ohne Standardwerte ist diese Steuerungsfunktion nicht möglich. Zudem kann die Heuschrecken-Metapher nur unter der Bedingung, dass sich eine Inhaltsstruktur verfestigt hat, auch in ande54
55
Eine Wortform gilt dann als Okkurrenz, wenn sie das lexikalische Morphem Heuschrecke in einem komplexen Wort einschließt (z.B. in Heuschreckenliste, Heuschreckenschwarm usw.) oder die Wortform das lexikalische Morphem ist, wobei auch flektierte Wortformen eingeschlossen werden; zur Begründung vgl. Abschnitt VII.3.1. Der Vergleich von Finanzinvestoren mit Heuschrecken(schwärmen) bzw. die Thematisierung dieses Vergleichs findet sich insbesondere in frühen Korpusbelegen. Diese Belegstellen gehen ebenfalls in das Korpus ein, da Münteferings Vergleich von Finanzinvestoren mit Heuschreckenschwärmen (im Interview mit der Bild am Sonntag) den Ausgangspunkt der „KapitalismusDebatte“ bildet.
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VII. Frames in Textkorpora: die Metapher der Heuschrecke
ren Diskursen wirksam werden. Ich setze eine verfestigte Inhaltsstruktur als drittes Kriterium zur Identifikation von diskurssemantischen Grundfiguren an, weil ohne ihren Einbezug ein (eher unwahrscheinlicher) Fall denkbar wäre, in dem die Kriterien (i) und (ii) erfüllt sind, ohne dass sich eine feste Inhaltsstruktur des Diskurselements herausgebildet hat. Ein solcher Fall läge vor, wenn alle (quasi-)expliziten Prädikationen eine so geringe Token-Frequenz hätten, dass sich kein Standardwert formieren könnte. Eine in diesem Sinne maximale Streuung von Prädikationen war das Ergebnis der Analyse der Partikel wahrscheinlich in Abschnitt VI.5.3. Dass im Beispiel der Heuschrecken-Metapher umgekehrt eine Konzentration auf einige wenige Prädikatoren und (quasi-)explizite Prädikationen festzustellen ist, wird sich im Zuge der Korpusanalyse in den nächsten Abschnitten zeigen. Hier möchte ich kurz zwei Faktoren vorstellen, die eine Verfestigung der Inhaltsstruktur der Heuschrecken-Metapher stark begünstigen. Zunächst sorgt die Tatsache, dass das Wort Heuschrecke eine Basislevelkategorie darstellt, für eine hohe kognitive Salienz der Quelldomäne. Wie oben erörtert, sind Basislevelkategorien maximal distinkt, und weil sie ‚unmittelbare‘ Objekte unserer Erfahrung sind, verfügen wir über eine Reihe von Prädikaten, die wir prototypischerweise Heuschrecken zuschreiben. Der zweite Faktor betrifft den metaphorischen Gehalt, genauer die Verbindung der Quelldomäne „Heuschrecke/n“ mit der Zieldomäne „Finanzinvestor/en“. Ausgehend von Lakoff und Johnson (1980) liegt die Vermutung nahe, dass die Heuschrecken-Metapher eine Ausprägungsvariante der konzeptuellen Metapher MENSCHEN ALS TIERE darstellt (vgl. Kövecses 2002, S. 6ff.). Denn es gibt zahlreiche andere Metaphern, in denen Tierattribute als Quelldomänen und menschliche Charakteristika als Zieldomänen fungieren. Dazu gehören beispielsweise folgende: (8) (9) (10) (11) (12) (13)
Du bist ein Schwein! Er ist bärenstark. Sie steckt überall ihren Rüssel rein. Sie trägt einen Pferdeschwanz. Er hat eine Löwenmähne. Du saust hier herum.
Diese Beispiele können lediglich als erstes Indiz dafür gelten, dass es eine konzeptuelle Metapher MENSCHEN ALS TIERE gibt, die systematisch den Gebrauch von Tiermetaphern motiviert. Ob sich diese These stützen lässt, müsste anhand einer Korpusanalyse erst noch im größeren Stil empirisch überprüft werden. Die konzeptuelle Metapher MENSCHEN ALS
2. Die „Kapitalismus-Debatte“: Exposition des Gegenstandsbereichs
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TIERE würde jedenfalls ein Stück weit die Persistenz der HeuschreckenMetapher erklären. Es ist ein Faktum, dass diese nicht an den Diskurs der „Kapitalismus-Debatte“ gebunden ist, sondern in anderen diskursiven Zusammenhängen ebenso auftaucht. Zwei Beispiele hierzu: Heuschrecke im Anflug Der Streit um den Zeitungsmarkt der Hauptstadt könnte ein Ende finden: Holtzbrinck verhandelt mit einem britischen Investor über den Verkauf des Berliner Verlags […] (Der Spiegel, 10.10.2005) „Heuschrecken“ befallen auch Kasinos Finanzinvestoren kaufen Glücksspielkonzern Harrah’s für 16,7 Milliarden Dollar New York – Die US-Finanzinvestoren Texas Pacific und Apollo Management stehen offenbar unmittelbar davor, den weltgrößten Kasinobetreiber Harrah’s für 16,7 Milliarden Dollar (12,8 Mrd. Euro) zuzüglich ausstehender Schulden zu übernehmen. […] (Welt kompakt, 19. Dezember 2006)
Interessanterweise taucht die Heuschrecken-Metapher ausschließlich in den zitierten Obertiteln auf, sie wird also in den Artikeln an keiner Stelle erklärt. Dieser überraschende Befund belegt, dass sich die Inhaltsstruktur der Heuschrecken-Metapher verfestigt haben muss. Die Leserin und der Leser müssen sich die Bedeutung von Heuschrecke bzw. Heuschrecken allein vermittels aktivierter Standardwerte erschließen. Damit ist auch das dritte Kriterium erfüllt. Die HeuschreckenMetapher darf folglich als diskurssemantische Grundfigur gelten. Halten wir fest: Wie alle sprachlichen Zeichen sind auch diskurssemantische Grundfiguren symbolische Einheiten, deren Inhaltsseite Frames (konkrete Füllwerte und Standardwerte) strukturieren. Das gilt nicht nur für Metaphern, sondern für diskurssemantische Grundfiguren jeder Ausdrucksgestalt.56 Für diskurssemantische Grundfiguren ist charakteristisch, dass ihre Standardwerte diskursspezifisch entstehen, aber diskursübergreifend wirksam werden. Diskurssemantische Grundfiguren bilden insofern Schemata der Wahrnehmung, als die zu Inhaltsrastern verwobenen Standardwerte das Auftreten bestimmter Diskurselemente systematisch steuern (so etwa durch indirekt-anaphorische Verweise auf Standardwerte, vgl. Abschnitt VI.5.), ohne kontextspezifische Vereinnahmungen, also die Einsetzung von konkreten Füllwerten in unbesetzte Leerstellen zu verhindern. Mit Blick auf die Operationalisierung ist 56
Demnach sind Argumentationsmuster bzw. Topoi im Sinne von Wengeler 2003 symbolische Einheiten komplexer Natur. Die Inhaltsseite betrifft die inhaltliche Ausgestaltung einzelner Argumentationsmuster, die Formseite den jeweils toposspezifischen Schlussprozess (Kausalschluss, Analogieschluss usw.) (vgl. Wengeler 2003, S. 277). Zur schematischen Struktur von Topoi vgl. Hermanns 1994, S. 49.
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VII. Frames in Textkorpora: die Metapher der Heuschrecke
schließlich wichtig, dass Diskurselemente unter drei Bedingungen den Status diskurssemantischer Grundfiguren erlangen. Erstens muss auf diese Elemente innerhalb eines Diskurses häufig metasprachlich Bezug genommen werden. Zweitens muss das Diskurselement darüber hinaus so frequent auftreten, dass es sich im Sinne einer hohen Type-Frequenz epistemisch konsolidiert. Und drittens garantieren (jetzt im Sinne einer hohen Token-Frequenz) allein rekurrent auftretende (quasi-)explizite Prädikationen, dass sich Standardwerte – und mithin eine feste Inhaltsstruktur – formieren. Diese Inhaltsstruktur für die Heuschrecken-Metapher zu bestimmen, ist das Ziel der Abschnitte VII.4.1 bis 4.3.
3. Methodischer Leitfaden zur Korpusanalyse Zunächst möchte ich anhand eines methodischen Leitfadens das korpusanalytische Verfahren vorstellen, das der durchgeführten Fallstudie zugrunde liegt. Die benutzten Analysekategorien entsprechen den Strukturkonstituenten von Frames, wie sie in Kapitel VI vorgestellt wurden. Der Leitfaden soll einmal die gewählte Vorgehensweise möglichst transparent machen. Zudem soll er ermöglichen, die methodische Verfahrensweise auf andere Gegenstandsbereiche zu übertragen. Den Ausgangspunkt der Korpusanalyse bilden zwei Strukturkonstituenten von Frames, nämlich Leerstellen und konkrete Füllwerte. Da vermittelt über Auftretenshäufigkeiten von Füllwerten u.a. der Grad der diskursiven Verfestigung von Füllwerten annäherungsweise bestimmt werden soll, sind Standardwerte nicht Gegenstand, sondern Ziel der Analyse. Vier Analyseschritte sind notwendig: (i) Zunächst gilt es, relevante Belegstellen zu annotieren. (ii) Diese müssen in eine Menge (quasi-)expliziter Prädikationen überführt werden, die den Frame bzw. das Referenzobjekt spezifizieren. (iii) Um diese Menge an Prädikationen hinsichtlich angesprochener Wissensaspekte (Leerstellen) in Kategorien gruppieren zu können, ist der frame-evozierende Ausdruck mithilfe einer Hyperonymtypenreduktion auf ein höchstes Hyperonym zurückzuführen; dem ermittelten Hyperonym ist der entsprechende Matrixframe zuzuordnen. (iv) Schließlich besteht die letzte Aufgabe darin, die Menge (quasi-)expliziter Prädikationen hinsichtlich der angesprochenen Wissensaspekte (also der Leerstellen des Matrixframes) zu klassifizieren. Dieses vierstufige Verfahren soll nun der Reihe nach erläutert und mit Korpusbelegen veranschaulicht werden.
3. Methodischer Leitfaden zur Korpusanalyse
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3.1 Annotation der Textbelege Vorausgesetzt wird, dass ein Korpus (möglichst in elektronischer Form) vorliegt.57 Als Illustrationsbeispiel benutze ich im Folgenden den Ausdruck Finanzinvestor. Dieser Ausdruck ruft einen Frame auf, auf den ich im Zuge der Metaphernanalyse noch zu sprechen kommen werde. Welche Wortformen des frame-evozierenden Ausdrucks Finanzinvestor sollen der Analyse zugrunde gelegt werden? Es ist prinzipiell sinnvoll, Wortformen im Singular (hier: Finanzinvestor) und im Plural (hier: Finanzinvestoren) zu berücksichtigen und darüber hinaus alle anderen flektierten sowie abgeleiteten Wortformen.58 In der Auswertung spielen zwar grammatische Morpheme selbst keine Rolle, da es in unserem Zusammenhang allein auf den semantischen (und nicht auf den diskursfunktionalen oder pragmatischen) Gehalt der semantischen Einheit [FINANZINVESTOR] ankommt (vgl. Abschnitt IV.1.2). Flektierte und abgeleitete Wortformen einzubeziehen, ist dennoch folgerichtig, weil auch diese einen Frame aufrufen und weil auch diesem Frame konkrete Füllwerte – in Gestalt (quasi-)expliziter Prädikationen – zukommen können. Aus demselben Grund ist es ebensowenig gerechtfertigt, Komposita auszuschließen, wenngleich diese – zumindest im Fall von Finanzinvestor – im Korpus nicht belegt sind.59 Sind die frame-evozierenden Ausdrücke im Korpus einmal markiert, stehen wir vor einem weiteren Problem: Wie weit reicht der Prädikationsradius? Reicht es aus, diejenigen Sätze zu extrahieren, in denen der Ausdruck vorkommt? Oder können frame-spezifizierende Prädikate auch in benachbarten Sätzen auftreten? Anders als in Kookkurrenzanalysen genügt es offensichtlich nicht, neben dem Lemma (hier: Finanzinvestor/en) lediglich die benachbarten Wörter, etwa die Phrase, in der das Lemma eingebettet ist, zu extrahieren. Als nicht weniger unzulänglich erweist sich die Einheit des Satzes. Die Satzgrenze darf deswegen nicht als Richtmaß gelten, weil prädikative Zuschreibungen diese oft transzendieren. Pronomina (in Gestalt von Anaphern oder Kataphern bzw. Anadeiktika oder Katadeiktika) können beispielsweise auf den Frame Bezug nehmen, ohne dass der frame-evozierende Ausdruck Finanzinvestor/en selbst in Erscheinung tritt. Es ist folglich nötig, ganze Absätze, min-
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Zu Konstitution des Textkorpus vgl. Abschnitt VII.2.1. Ein Beispiel für eine flektierte Wortform wäre des Finanzinvestors, für eine abgeleitete Wortform Finanzinvestorenschaft. Diese und auch andere mögliche Ableitungen sind im Korpus allerdings nicht belegt. Im vorliegenden Fall müssten die Kompositabildungen mindestens dreigliedrig sein wie z.B. Auslandsfinanzinvestor/en. Komposita mit dem Glied Heuschrecken – wie z.B. Heuschreckenliste oder Heuschreckenschelte – treten im Korpus dagegen mehrfach auf.
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destens aber die beiden vorgängigen und nachfolgenden Sätze zu extrahieren.60 In Lönnekers halb-automatischer Frame-Analyse gehen die meisten satzübergreifenden Prädizierungen verloren, weil diese ohne Zuhilfenahme von Kontextdaten nicht aufgelöst werden können.61 Stellt diese Beschränkung für Lönnekers Studie kein ernsthaftes Problem dar, da die zugrunde liegende Datenmenge groß genug ist, um die Auslassungen zu kompensieren, so können dagegen in Diskursanalysen, die in der Regel mit erheblich kleineren Textkorpora operieren, schnell Ergebnisverzerrungen auftreten. Textdeiktische Verweise (durch Pronomina verschiedener Art) sollten deshalb grundsätzlich aufgelöst, d.h. in explizite Prädikationen umgeformt werden. Jenseits von textdeiktischen Verweisen gibt es einige schwierigere Fälle, bei denen sich die Auflösung schwierig gestaltet. Zur Illustration zwei Beispiele: (14) „Für die Zielunternehmen gibt es unterschiedliche Anlässe, Finanzinvestoren an Bord zu holen. In Deutschland geht es häufig darum, die Nachfolge in Familienbetrieben zu regeln.“ (Süddeutsche Zeitung, 3.05.2005; Hervorhebung von mir, AZ) (15) „Ausgerechnet einer der Käufer von damals, der Finanzinvestor Apax, findet sich nun auf jener Heuschrecken-Liste wieder, in der die Sozialdemokraten einige ihrer Ansicht nach besonders verwerflichen kapitalistischen Umtriebe geißeln. Apax zähle zu jenen ‚Ankäuferfirmen‘, die ein Unternehmen, so der aktuelle Vorwurf der Genossen, nur erwerben, um es später zu zerschlagen oder mit üppigem Gewinn weiterzuverkaufen.“ (Süddeutsche Zeitung, 3.05.2005; Hervorhebung von mir, AZ) Der zweite Satz von (14) erklärt nachträglich, welche konkreten Anlässe es gibt, „Finanzinvestoren an Bord zu holen“. In einer ausführlicheren Version müsste es heißen: (14’) In Deutschland geht es nämlich dann, wenn Finanzinvestoren an Bord geholt werden, häufig darum…
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Textstellen jenseits von zwei vorgängigen und nachfolgenden Sätzen können theoretisch zwar textdeiktische Verweise auf Finanzinvestor/en enthalten, praktisch kommt dieser Fall aber so gut wie nie vor. Ihre Begründung lautet: „Die Verwendung von Pronomina als Filler ist in einer Auflistung von Propositionen im Frame sinnlos, da nicht nachvollziehbar wäre, auf welches Konzept sie sich beziehen.“ (Lönneker 2003a, S. 74). Mit computergestützten Verfahren ist das nicht zu leisten, und ein manuelles Vorgehen lässt Lönnekers enorm umfangreiches Textkorpus nicht zu.
3. Methodischer Leitfaden zur Korpusanalyse
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Ist dieser Zusammenhang einmal erkannt, bestimmt auch (14’) [FINANZINVESTOREN] näher, nämlich dahingehend, dass Finanzinvestoren die Nachfolge von Familienbetrieben regeln können. Ähnlich verhält es sich in Beispiel (15). Vermittelt über die quasi-explizite Prädikation Apax ist ein Finanzinvestor (die sich aus der Apposition Finanzinvestor Apax ableitet) prädiziert der erste Satz Verschiedenes über Finanzinvestoren.62 Weitere Prädikationen, die den Frame „Finanzinvestoren“ spezifizieren, enthält der Anschlusssatz, ohne dass der frame-evozierende Ausdruck Finanzinvestor/en in diesem auftauchen muss. Vielmehr reicht es aus, dass der Firmenname „Apax“ wieder aufgegriffen wird. Zur Aufklärung der Verweisstruktur mag hier eine Thema-Rhema-Analyse verhelfen. Festzuhalten bleibt an dieser Stelle, dass der Prädikationsradius weit über die Satzgrenze hinausreicht und dass in der Korpusanalyse diesem Umstand dahingehend Rechnung zu tragen ist, dass in der Regel mindestens zwei Sätze vor und nach demjenigen Satz zu annotieren sind, in dem der frameevozierende Ausdruck Finanzinvestor/en vorkommt. Im Einzelfall ist es denkbar, dass mehr als zwei Sätze erfasst werden müssen. Abhängig von pronominalen Verweisen auf den frame-evozierenden Ausdruck ist also von Fall zu Fall zu entscheiden. 3.2 Prädikationsanalyse Aus den extrahierten Textbelegen interessiert uns im Weiteren die Menge aller Prädikationen, mittels welcher der infrage stehende Frame (hier: „Finanzinvestor/en“) näher bestimmt wird. Diese entspricht der Menge an konkreten Füllwerten, die in dem entsprechenden Frame Instanzen bilden. Wie Beispiel (15) enthalten die meisten Textbelege mehrere Prädikationen. Wenn ich im Folgenden Beispiele dafür anführe, wie quasi-explizite in explizite Prädikationen zu überführen sind, halte ich mich an die Vorgaben aus Abschnitt VI.4.2. Um die Prädikationsanalyse zu erleichtern, ist es sinnvoll, alle extrahierten Sätze so umzuformen, dass der frame-evozierende Ausdruck (hier Finanzinvestor/en) nur in der Subjektstellung vorkommt (vgl. Lönneker 2003a, S. 73). Das führt zu einer strukturellen Vereinheitlichung und besseren empirischen Handhabbarkeit. Kommt der Ausdruck Finanzinvestor/en in der Satzgliedfunktion eines Objektes vor, sind zwei Fälle voneinander zu unterscheiden. Ent-
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Nämlich: Finanzinvestoren sind Käufer und Finanzinvestoren finden sich nun auf der Heuschreckenliste wieder.
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weder bildet der Ausdruck selbst die Nominalphrase oder er fungiert innerhalb einer Nominalphrase nur als Attribut.63 Vergleiche hierzu (16) und (17): (16) „Müntefering hatte Finanzinvestoren kritisiert, die es oft an jeder Verantwortung fehlen ließen.“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.5.2005; Hervorhebungen von mir, AZ) (17) In diesem Zusammenhang wies die SPD-Abgeordnete Nina Hauer auf den Kampf angelsächsischer Finanzinvestoren um die Führung der Deutschen Börse hin. (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.4.2005; Hervorhebungen von mir, AZ) Im ersten Fall liegt es nahe, den Hauptsatz in eine Passivkonstruktion zu überführen: (18) Finanzinvestoren werden von Müntefering kritisiert. Komplizierter gestaltet sich die Auflösung von (17). Finanzinvestoren tritt hier als Genitivus subjektivus innerhalb einer Nominalphrase auf. In solchen Fällen beschränkt sich der Prädikationsradius auf die Komplemente der Nominalphrase. Die Auflösung der Phrase „Kampf angelsächsischer Finanzinvestoren um die Führung der Deutschen Bank“ lautet demnach: (19) Angelsächsische Finanzinvestoren kämpfen um die Führung der Deutschen Börse. Ich folge damit der von Polenz’schen Beobachtung, dass sich Prädikatsausdrücke durch Substantive (hier: Kampf) in Verbalphrasen ausdrücken lassen, weil die gewichtigere satzsemantische Funktion von Substantiven (außer Eigennamen) nicht das Referieren/Bezugnehmen ist, sondern das Prädizieren (von Polenz 1985, S. 110; kursiv Gedrucktes im Original durch Großbuchstaben hervorgehoben).
Die Prädikationsanalyse von (16) und (17) ist damit noch nicht beendet. Denn der Nebensatz von (16) greift den frame-evozierenden Ausdruck Finanzinvestoren durch ein Relativpronomen anaphorisch auf.64 In solchen Fällen wird der Relativsatz zu einem syntaktisch vollständigen Satz ergänzt: 63
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Lönneker nennt noch einen dritten Fall, nämlich Phrasen mit Objektattribut (wie Finanzinvestoren finden die Schelte unangemessen), worunter sie Phrasen mit „nicht-verbalem Prädikat“ (Lönneker 2003a, S. 73), hier: unangemessen, versteht. Im Korpus treten Phrasen mit Objektattributen allerdings nur sehr selten auf. In der Analyse berücksichtige ich nicht die Perspektivierung, die in (16) möglicherweise durch den Gebrauch eines Relativsatzes mit Konjunktiv (in Abhebung von einem dass-Satz oder Infinitivsatz) zum Ausdruck kommt. Man könnte in der gewählten Variante ein Indiz dafür sehen,
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(20) Finanzinvestoren ließen es oft an jeder Verantwortung fehlen. Analog ist bei Infinitiv- und Gerundiumskonstruktionen zu verfahren.65 Um die Prädikationsanalyse von (17) abzuschließen, ist es nur noch nötig, die Nominalphrase angelsächsische Finanzinvestoren aufzulösen: (21) Finanzinvestoren sind angelsächsischer Herkunft. Neben Nominalphrasen des Typs angelsächsische Finanzinvestoren finden sich im Korpus Mehrfachattribuierungen wie große, internationale Finanzinvestoren. In solchen Fällen liegen natürlich auch Mehrfachprädizierungen vor, die entsprechend aufzulösen sind, so etwa die letztgenannte Nominalphrase in zwei Prädikationen: (22) Finanzinvestoren sind groß. (23) Finanzinvestoren sind internationaler Herkunft. In diesem Sinne gilt es, alle vollzogenen Prädikationen einzeln aufzuführen und zusammenzutragen. Es ist wichtig, dass nur explizite und quasi-explizite Prädikationen im oben erläuterten Sinn berücksichtigt werden, nicht aber Präsuppositionen, Implikaturen oder anderweitig inferiertes Wissen.66 Denn Analysekriterien für implizite Prädikationen sind, wie bereits festgestellt, „deswegen problematisch, weil sie hochgradig theorieabhängig und beschreibungsbedingt sind“ (Busse 2000a, S. 44-45). Um „maximale Objektivität“ zu erzielen, müssen Inferenzen (genauer: abgerufenes Wissen) ignoriert werden, auch dann, wenn sie sich geradezu aufdrängen und es außer Frage zu stehen scheint, dass sie für den Verstehensprozess unerlässlich sind.67 Das Ergebnis von Schritt (ii) besteht in einer strukturell vereinheitlichten Menge von Propositionen. Der frame-evozierende Ausdruck gibt in jeder
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dass der Autor oder die Autorin mit Münteferings Kritik bis zu einem gewissen Grade übereinstimmt. Dies bleibt m.E. aber Spekulation. Die frame-semantische Relevanz ist außerdem eher marginal. Weiterführende Hinweise und Differenzierungen finden sich dazu in Lönneker 2003a, S. 74-77. So könnte man etwa auf der Basis des Korpusbelegs Finanzinvestoren kaufen Konzerne auf darauf schließen, dass Finanzinvestoren reich seien oder durch den Kauf zu alleinigen Besitzern würden. Derartige Inferenzen resultieren indes aus diskursunspezifischem Vorwissen, und es spricht sogar einiges dafür, dass innerhalb des Diskurses um die „Kapitalismus-Debatte“ ein abweichendes Konzept aktiviert wird. Tatsächlich findet sich nämlich im Korpus eine signifikante Häufung von Belegstellen, aus denen hervorgeht, dass das Geld aus Rentenfonds stammt, also gewissermaßen geliehenes Geld ist. Diskursspezifisch produziertes und im Diskurs vorausgesetztes Wissen sollte in der Untersuchung möglichst klar vom Wissen des Untersuchenden abgetrennt sein; vgl. Sandra/Rice 1995, die ironisch fragen: „Mirroring whose mind – the linguist’s or the language user’s?“
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Proposition an, um welches Referenzobjekt es sich handelt, dem mittels Prädikationen bestimmte Eigenschaften zugesprochen werden. 3.3 Hyperonymtypenreduktion Die im zweiten Analyseschritt ermittelte Menge an Prädikaten (im prädikatenlogischen Sinn) entspricht allen im Textkorpus vorhandenen Instanzen (konkreten Füllwerten) des zu untersuchenden Frames. Diese Daten sagen freilich nichts über den konzeptuellen Bedeutungsgehalt des frame-evozierenden Ausdrucks Finanzinvestor/en aus, der sich innerhalb des Diskurszusammenhangs der „Kapitalismus-Debatte“ herausgebildet hat. Genauere Angaben über verstehensrelevante Wissensaspekte liegen erst vor, nachdem die ermittelten Prädikate hinsichtlich ihrer Auftretensfrequenz in Leerstellen quantitativ ausgewertet worden sind. Welche Leerstellen weist der zur Disposition stehende Frame aber auf? Genauer: Welchem Matrixframe ist der Ausdruck Finanzinvestor/en kraft Hyperonymtypenreduktion zuzuordnen? In Kapitel VI.3.3 hatte ich bereits am Beispiel des Lexems Heuschrecke illustriert, wie eine Hyperonymtypenreduktion durchzuführen ist. Halten wir an dieser Stelle zunächst noch einmal das Ergebnis fest, ohne auf Einzelheiten näher einzugehen: Heuschrecke lässt sich sukzessiv auf das höchste Hyperonym Organismus zurückführen, dessen Matrixframe alle Leerstellen auf jenen Frame vererbt, den der Ausdruck Heuschrecke aufruft. Um die Anzahl an Leerstellen überschaubar zu halten, ohne dass Frames an analytischer Kraft verlieren, bietet es sich an, die Leerstellen des Matrixframes „Organismus“ in Form von Prädikatorenklassen zu fassen (vgl. Abschnitt VI.3.3). In der Korpusanalyse halte ich mich allerdings nicht an die von Konerding (1993, S. 399-462) vorgeschlagenen Prädikatorenklassen, sondern an die empirisch validierten Klassifizierungen Lönnekers (2003a, S. 262-277). Sie sind in Tab. 1 zusammengefasst.68 Die Prädikatoren sind wiederum thematisch in Klassen eingeteilt.
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Wie aus der Frame-Hierarchie Lönnekers (2003a, S. 93; siehe Abb. 5 in Kap. VI. 3.2) ersichtlich, erbt der Matrixframe „Organismus“ alle Leerstellen der hierarchiehöheren Frames (hier: „Diskontinuativum“, „primäres Objekt“, „beständiges Objekt“, „Entität“). Entsprechend sind die in Tab. 1 aufgelisteten Prädikatoren den Frames „Diskontinuativum“ (Lönneker 2003a, S. 266), „primäres Objekt“ (Lönneker 2003a, S. 265), „beständiges Objekt“ (Lönneker 2003a, S. 264) und „Entität“ (Lönneker 2003a, S. 263) entnommen. – Genauere Angaben zu den Prädikatoren finden sich in Lönneker 2003a an den angegebenen Stellen.
3. Methodischer Leitfaden zur Korpusanalyse x Definition Weitere Namen/Bezeichnungen für den Organismus Prädikatoren zur Charakterisierung von ähnlichen Organismen Prädikatoren zur Charakterisierung von Oberkategorien, denen der Organismus zugerechnet wird Prädikatoren zur Charakterisierung von Theorien, in denen der Organismus eine Rolle spielt x Bedeutung des Organismus für den Menschen Prädikatoren zur Charakterisierung der Bedeutung des Organismus’ für den Menschen Prädikatoren zur Charakterisierung des Nutzens, den das Verhalten des Organismus’ für den Menschen hat, und zur Charakterisierung der Folgen, die das Verhalten des Organismus für den Menschen haben kann Prädikatoren zur Charakterisierung der Entität, wovon der Organismus kündet/zeugt Prädikatoren zur Charakterisierung des Bekanntheitsgrades des Organismus Prädikatoren zur Charakterisierung der Produktionsprozesse, an denen der Organismus teilnimmt x Konstitutionsrelationen I: Teil Prädikatoren zur Charakterisierung des übergeordneten Ganzen, wovon der Organismus ein Teil ist Prädikatoren zur Charakterisierung der Art der Beziehung des Organismus zum übergeordneten Ganzen x Konstitutionsrelationen II: Gesamtheit Prädikatoren zur Charakterisierung der Zusammensetzung des Organismus Prädikatoren zur Charakterisierung der Eigenschaften der Teile, aus die der Organismus besteht Prädikatoren zur Charakterisierung der Anordnung dieser Teile Prädikatoren zur Charakterisierung der Funktionen der Teile x Konstitutionsrelationen III: Prozess Prädikatoren zur Charakterisierung des Ursprungs des Organismus Prädikatoren zur Charakterisierung der Existenzphasen des Organismus Prädikatoren zur Charakterisierung der Bedingungen, unter denen der Organismus stirbt, und zur Charakterisierung der Gründe für das Sterben Prädikatoren zur Charakterisierung der Entstehungsart und des InErscheinung-Tretens des Organismus Prädikatoren zur Charakterisierung der Voraussetzungen des Entstehens des Organismus Prädikatoren zur Charakterisierung der Existenzbedingungen des Organismus Prädikatoren zur Charakterisierung der Entitäten, die auftreten, bevor der Organismus erscheint Prädikatoren zur Charakterisierung der Entitäten, die nach dem Verschwinden des Organismus auftreten
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VII. Frames in Textkorpora: die Metapher der Heuschrecke Prädikatoren zur Charakterisierung der Bedingungen, unter denen andere Entitäten nach dem Verschwinden des Organismus auftreten x Eigenschaften Prädikatoren zur Charakterisierung der Maße und Ausmaße der Organismus Prädikatoren zur Charakterisierung sonstiger Eigenschaften des Organismus Prädikatoren zur Charakterisierung nicht-sichtbarer Eigenschaften des Organismus Prädikatoren zur Charakterisierung des Aufenthaltsortes oder des Auftretens des Organismus Prädikatoren zur Charakterisierung der besonderen Teilungseigenschaften des Organismus Prädikatoren zur Charakterisierung der Form des Organismus Prädikatoren zur Charakterisierung des Aussehens des Organismus Prädikatoren zur Charakterisierung der physikalisch-biologischen Eigenschaften des Organismus Prädikatoren zur Charakterisierung der Fähigkeiten des Organismus Prädikatoren zur Charakterisierung der Gewohnheiten des Organismus Prädikatoren zur Charakterisierung des Verhaltens des Organismus x Konstitutionsrelationen IV: Teil eines Ereignisses und/oder einer Handlung Prädikatoren zur Charakterisierung der Ereignisse und/oder Handlungen, in denen der Organismus eine Rolle spielt Prädikatoren zur Charakterisierung der Funktion, die der Organismus in diesen Ereignissen und/oder Handlungen einnimmt x Existenzphasen und Verbreitung Prädikatoren zur Charakterisierung der Bedingungen für die NichtExistenz des Organismus Prädikatoren zur Charakterisierung der Möglichkeiten, den Organismus zu zerstören Prädikatoren zur Charakterisierung des (geographischen und sozialen) Verbreitungsgebietes des Organismus Prädikatoren zur Charakterisierung der Art der Fortpflanzung des Organismus Tab. 1: Prädikatoren des Matrixframes „Organismus“, basierend auf Lönneker 2003a, S. 262-277
In der „Kapitalismus-Debatte“ wird nun der Ausdruck Heuschrecke dadurch zu einer Metapher, dass er sich auf den Input [FINANZINVESTOR] bezieht. Wie steht es um das Prädikationspotential dieser semantischen Einheit? Im Folgenden führe ich zuerst eine Hyperonymtypenreduktion des Ausdrucks Finanzinvestor durch. Anders als im Fall Heuschrecke in Abschnitt VI.3.3 werde ich mich in der Darstellung kurzfassen, zumal ein Blick auf die Liste der ausgewiesenen Matrixframes das Ergebnis schon erahnen lässt.
3. Methodischer Leitfaden zur Korpusanalyse
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Dass es sich bei der zu untersuchenden lexikalischen Einheit um ein Kompositum, also um eine komplexe semantische Einheit, nämlich [[FINANZ-]/[INVESTOR]], handelt, wirft zuallererst die Frage auf, welches Glied des Kompositums Gegenstand der Hyperonymtypenreduktion sein soll. Dazu ist Folgendes zu sagen: Bei der komplexen Wortform Finanzinvestor handelt es sich um ein Determinativkompositum. Die semantische Einheit der ersten Konstituente (Determinans) [FINANZ-] spezifiziert die semantische Einheit der zweiten Konstituente (Determinatum) [INVESTOR]; sie bildet mithin eine Instanz des Schemas [INVESTOR]. Legt also das Determinatum Investor das Referenzobjekt fest, spricht das Determinans Finanzdiesem eine Eigenschaft zu. Dies geschieht in Form einer prädikativen Zuschreibung, die dazu führt, dass der zur Disposition stehende Frame spezifischer ausfällt, weil eine seiner Leerstellen mit einem Wert belegt ist.69 Der frame-evozierende Ausdruck ist folglich Investor, und er allein ist einer Hyperonymtypenreduktion zu unterziehen. Dieser Sachverhalt spiegelt sich in der Hyperonymtypenreduktion wider. Der erste Reduktionsschritt besteht nämlich darin, Finanzinvestor auf dessen Hyperonym Investor zurückzuführen. Dennoch waren die letzten Überlegungen nicht überflüssig, da der Ausdruck Finanzinvestor im Duden Deutsches Universalwörterbuch (1989) keinen Eintrag hat.70 Die weiteren Reduktionsschritte fasst Tab. 2 zusammen. x Zweite Reduktion: Investor: […] jmd., der anlegt; Anleger […] x Dritte Reduktion: jemand: […] bezeichnet eine bestimmte, dem Sprecher nicht bekannte, aber von ihm nicht näher beschriebene Person […]
Ⱥ Hyperonym: jemand; Synonym: Anleger71 Ⱥ Hyperonym: Person
Tab. 2: Hyperonymreduktion von Investor, basierend auf Duden Deutsches Universalwörterbuch (1989)
69
70 71
Allgemein gilt: Je mehr Instanzen ein Frame enthält, desto weniger Okkurrenzen finden sich im Korpus. Um eine möglichst breite Datenbasis zu garantieren, bietet es sich korpusanalytisch deshalb an, einfache Wortformen (wie Investor) als Untersuchungsobjekte komplexen Wortformen, nominalisierten Syntagmen etc. vorzuziehen. Obwohl sich mit zunehmender Spezifikation die Anzahl an Okkurrenzen verringert, liegt der Metaphernanalyse die komplexe Wortform Finanzinvestor deswegen zugrunde, weil sie (und nicht Investor) als Quelldomäne figuriert. Weil Konerdings Hyperonymtypenreduktion auf dem Wörterbuch Duden Deutsches Universalwörterbuch (1989) beruht, wird dieses aus Konsistenzgründen auch hier zugrunde gelegt. Im Gegensatz zu Anleger handelt es sich bei jemand zwar um ein Pronomen (und nicht um ein Nomen), dafür hat es aber einen hyperonymischen Charakter. Verfolgt man Anleger weiter, zeichnet sich schon an dieser Stelle eine zirkuläre Verweisstruktur ab; Anleger ist im Duden (1989) durch den Eintrag Investor erklärt.
416
VII. Frames in Textkorpora: die Metapher der Heuschrecke
Schon nach dem dritten Schritt haben wir das Endglied der Reduktionskette erreicht: Person ist eine der von Konerding ausgewiesenen nicht weiter auf andere Hyperonyme zurückführbaren Kategorien. In Abschnitt VI.3.2 hatte ich allerdings darauf hingewiesen, dass es sich empirisch als sinnvoll erwiesen hat, eine Verfeinerung des Hyperonymtyps „Person“ dahingehend vorzunehmen, dass zwischen „Person mit temporären oder dauerhaften Eigenschaften bzw. Dispositionen“ und „Person in berufsbezogener Rolle“ unterschieden wird (Konerding 1993, S. 185). Demzufolge weist der Frame, den Finanzinvestor aufruft, jene Leerstellen auf, die im Matrixframe „Person in berufsbezogener Rolle“ angelegt sind.72 Auch hier orientiere ich mich an den Prädikatorenklassen, die Lönneker (2003a, S. 262-277) erarbeitet hat und die in Tab. 3 aufgeführt sind. Die Prädikatoren sind wiederum thematisch in Klassen eingeteilt.73 x Definition Weitere Namen/Bezeichnungen für die Person Prädikatoren zur Charakterisierung v. Personen mit ähnlichen Berufen Prädikatoren zur Charakterisierung von Oberkategorien, denen die Person zugerechnet wird Prädikatoren zur Charakterisierung von Theorien, in denen die Person eine Rolle spielt x Bedeutung der Person (bzw. des Berufes) für den Menschen Prädikatoren zur Charakterisierung der Bedeutung der Person für den Menschen Prädikatoren zur Charakterisierung des Nutzens der Person (in berufsbezogener Rolle) für den Menschen Prädikatoren zur Charakterisierung der Entität, wovon die Person kündet/zeugt Prädikatoren zur Charakterisierung des Bekanntheitsgrades der Person Prädikatoren zur Charakterisierung der Entitäten, die mit dem Erscheinen der Person auftreten Prädikatoren zur Charakterisierung des Stellenwertes des Berufes in der Gesellschaft 72
73
Analog zum Matrixframe „Organismus“ gilt: Der Matrixframe „Person in berufsbezogener Rolle“ erbt alle Leerstellen der hierarchiehöheren Frames (hier: „Rolle/Sichtweise auf ein Objekt“, „beständige Entität“, „Entität“). Die in Tab. 1 aufgelisteten Prädikatoren ergeben sich somit aus der Summe der Prädikatoren der Frames „Rolle/Sichtweise auf ein Objekt“ (Lönneker 2003a, S. 269), „beständige Entität“ (Lönneker 2003a, S. 264) und „Entität“ (Lönneker 2003a, S. 263). – Genauere Angaben zu einzelnen Prädikatoren finden sich in Lönneker 2003a an den angegebenen Stellen. Diesbezüglich folge ich zwar auch Lönneker (2003a, S. 262-277), nehme allerdings einige Korrekturen vor. So scheint Lönneker die Prädikatoren des Frames „Rolle/Sichtweise auf Entität“ (Lönneker 2003a, S. 269) thematisch nicht konsistent gruppiert zu haben. Einige der genannten Prädikatoren (wie z.B. Prädikatoren zur Charakterisierung der Entitäten, die vor dem Erscheinen der Person auftreten) müssten korrekterweise der Klasse „Konstitutionsrelationen III“ angehören.
3. Methodischer Leitfaden zur Korpusanalyse x Konstitutionsrelationen I: Teil Prädikatoren zur Charakterisierung des übergeordneten Ganzen, wovon die Person ein Teil ist Prädikatoren zur Charakterisierung der Art der Beziehung der Person zum übergeordneten Ganzen x Konstitutionsrelationen II: Gesamtheit Prädikatoren zur Charakterisierung der ‚Zusammensetzung’ (Körperteile etc.) der Person Prädikatoren zur Charakterisierung der Eigenschaften der Teile, aus denen die Person besteht Prädikatoren zur Charakterisierung der Anordnung dieser Teile Prädikatoren zur Charakterisierung der Funktionen der Teile x Konstitutionsrelationen III: Prozess Prädikatoren zur Charakterisierung des Ursprungs der Person Prädikatoren zur Charakterisierung der Existenzphasen der Person Prädikatoren zur Charakterisierung der Bedingungen, unter denen die Person stirbt, und zur Charakterisierung der Gründe für das Sterben Prädikatoren zur Charakterisierung der Entstehungsart und des InErscheinung-Tretens der Person Prädikatoren zur Charakterisierung der Voraussetzungen zur Ausübung eines Berufes Prädikatoren zur Charakterisierung der Bedingungen zur Erlangung des Berufes Prädikatoren zur Charakterisierung der Entitäten, die vor dem Erscheinen der Person auftreten Prädikatoren zur Charakterisierung der Entitäten, die nach dem Verschwinden der Person auftreten Prädikatoren zur Charakterisierung der Bedingungen, unter denen andere Entitäten nach dem Verschwinden der Person auftreten x Eigenschaften Prädikatoren zur Charakterisierung der Maße und Ausmaße der Person Prädikatoren zur Charakterisierung sonstiger Eigenschaften der Person Prädikatoren zur Charakterisierung der Kenntnisse der Person über den Beruf x Konstitutionsrelationen IV: Teil eines Ereignisses und/oder einer Handlung Prädikatoren zur Charakterisierung der Ereignisse und/oder Handlungen, in denen die Person eine Rolle spielt Prädikatoren zur Charakterisierung der Funktion, die die Person in diesen Ereignissen und/oder Handlungen einnimmt x Manifestation, Äußerungsform der Eigenschaft, des Zustands/Teils, der Gesamtheit und der Konstitutionsrelationen Prädikatoren zur Charakterisierung der Folgen für das Ereignis, in dem die Person eine Rolle spielt
417
418
VII. Frames in Textkorpora: die Metapher der Heuschrecke Prädikatoren zur Charakterisierung der Folgen für andere Personen, die in dem Ereignis eine Rolle spielen x Aktivitäten Prädikatoren zur Charakterisierung der Handlungen, in denen die Person als Teilnehmer oder Teilnehmerin involviert ist Prädikatoren zur Charakterisierung der Mitspielerinnen und Mitspieler der Handlung Prädikatoren zur Charakterisierung der benötigten und benutzten Mittel Prädikatoren zur Charakterisierung der Aufgaben und Pflichten der Person Tab. 3: Prädikatoren des Matrixframes „Person in berufsbezogener Rolle“, basierend auf Lönneker 2003a, S. 262-277; „Person“ steht hier kurz für „Person in berufsbezogener Rolle“
Es ist kein Zufall, dass einige Prädikatoren des dargestellten Matrixframes „Person in berufsbezogener Rolle“ auch im Matrixframe „Organismus“ auftreten. Dies liegt darin begründet, dass es zwei hierarchiehöhere Frames (so genannte „Superframes“ bzw. „top-level frames“; vgl. Lönneker 2003a, S. 89; Minsky 1975, S. 274, 221f.) gibt, die ihre Leerstellen auf die beiden Matrixframes vererben.74 Das Resultat von Schritt (iii) besteht darin, ein semantisches Analyseraster in Form von Prädikatoren zur Verfügung zu haben, mit dem sich die in Schritt (ii) ermittelten expliziten Prädikationen zu Gruppen bündeln und mithin unter semantischen Gesichtspunkten quantitativ auswerten lassen. 3.4 Klassifikation expliziter Prädikationen Die quantitative Auswertung der expliziten Prädikationen erfolgt im letzten Schritt der Korpusanalyse. Jede in Schritt (ii) gewonnene explizite Prädikation ist einem Prädikator des entsprechenden Matrixframes zuzuordnen. Das heißt: Einmal sind alle prädikativen Bestimmungen des Bezugsobjekts „Heuschrecke“ den Prädikatoren des Matrixframes „Organismus“ zuzuweisen. Zu klassifizieren sind weiterhin alle prädikativen Bestimmungen des Bezugsobjektes „Finanzinvestor“, und zwar hinsichtlich der Prädikatoren des Matrixframes „Person mit berufsbezogener Rolle“. Wie verläuft die Zuordnung von expliziten Prädikationen zu einem Prädikator? Lässt sich jede Prädikation genau einer Klasse zuweisen, oder gibt es Mehrfachzuweisungen? Diese Fragen hängen eng miteinander zusammen. Teil einer expliziten Prädikation ist das finite Verb, das eine konzeptuelle Relation herstellt: Es verbindet den Frame (den der Ausdruck in Subjektposi74
Diese Superframes sind „beständiges Objekt“ und „Entität“, vgl. hierzu Abb. 5 in Kap. VI.3.2.
3. Methodischer Leitfaden zur Korpusanalyse
419
tion aufruft) mit konkreten Füllelementen. Für jeden Prädikator lassen sich nun Verben angeben, mit denen typische Prädikationen des entsprechenden Prädikators vollzogen werden können.75 (24) bis (25) sind Beispiele aus dem Textkorpus: (24) (25) (26) (27)
Ein Finanzinvestor heißt Carlyle Group. Finanzinvestoren stammen aus England. Finanzinvestoren treten als Konsortium auf. Finanzinvestoren sanieren marode Unternehmen.
Der Gleichsetzungsnominativ in (24), konstituiert durch die Kopula heißt, darf als typischer Prädikator für „weitere Namen/Bezeichnungen für die Person“ gelten, während in (25) die komplexe Verbform stammen aus ein gutes Beispiel für einen „Prädikator zur Charakterisierung des Ursprungs der Person“ darstellt. Und in (26) ist das komplexe Verb auftreten als ein ebenso typischer „Prädikator zur Charakterisierung einer Oberkategorie“, wie in (27) das Verb sanieren als „Prädikator zur Charakterisierung der Aufgaben und Pflichten der Person“ figuriert (vgl. Tab. 3). Mit Blick auf die beiden Ausgangsfragen zeigt sich an diesen Beispielen, dass es mithilfe von typischen Verben (d.h. Verben, durch die die Natur einer Prädikatorenklasse besonders gut zum Ausdruck kommt) möglich ist, eine explizite Prädikation einem bestimmten Prädikator eindeutig zuzuteilen. Zugleich erleichtern solche typischen Verben die Klassifizierung von Prädikationen, die aus anderen Verben bestehen. Sie sind prototypische Vertreter der Prädikatoren und helfen so bei der Einschätzung, ob eine vollzogene Prädikation zu einem bestimmten Prädikator gehört oder nicht. Beispielsweise können Gleichsetzungsnominative, die durch die Verben sich nennen und sich bezeichnen zum Ausdruck kommen, durch einen Vergleich mit der typischen Kopula heißen – wie in (24) – relativ schnell als Prädikatoren identifiziert werden, die eine Zuschreibung alternativer Namen oder Bezeichnungen des Bezugsobjektes ermöglichen. Gelten aber in diesem Sinne (24) bis (27) als prototypische Beispiele, können viele andere Prädikationen nicht so eindeutig einem Prädikator zugeordnet werden. Ihre Klassifizierung gestaltet sich schwieriger. Schauen wir uns zur Illustration (28) und (29) an. (28) Finanzinvestoren kaufen Unternehmen auf. (29) Finanzinvestoren zerstören Arbeitsplätze.
75
Vgl. Lönneker 2003a, S. 66-74, 262-277. Lönneker gibt auf der Grundlage ihres Korpus für jeden Prädikator solche typischen Verben an.
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VII. Frames in Textkorpora: die Metapher der Heuschrecke
Zunächst ist offensichtlich, dass mit dem Verb kaufen eine Aktivität von Finanzinvestoren thematisiert wird. Das Verb sagt etwas über eine Handlung aus, in der Finanzinvestoren als Teilnehmer involviert sind.76 Doch darüber hinaus spricht nichts dagegen, kaufen ebenfalls als „Prädikator zur Charakterisierung der Voraussetzungen zur Ausübung eines Berufes“ einzustufen (vgl. Tab. 3); Finanzinvestoren könnten kaum ihren Beruf ausüben, ohne als Käufer in Erscheinung zu treten. In diesem Fall liegt also eine Mehrfachzuordnung vor. Solche Mehrfachzuordnungen sind aber nur bedingt möglich. Es sei noch einmal daran erinnert, dass implizite Prädikationen, ganz gleich in welcher Form, keine Zuordnungen zu einem Prädikator motivieren dürfen. So darf in (28) die Prädikation Unternehmen kaufen nicht als „Prädikator zur Charakterisierung der Folgen für andere Personen […]“ gelten, obwohl dies prima facie nahe zu liegen scheint. Denn dass der Kauf eines Unternehmens durch Finanzinvestoren Folgen für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Unternehmens mit sich bringt, ist eine Inferenz, die wir auf der Basis unseres Hintergrundwissens ziehen. Das Verb kaufen stellt keine konzeptuelle Relation zu den Folgen her, die die Kaufhandlung nach sich ziehen mag; eine solche Relationierung beruht allein auf abgerufenem Wissen. Vielmehr spezifiziert das Verb lediglich, welche Tätigkeit Finanzinvestoren ausüben. Aufgerufenes, nicht aber abgerufenes Wissen darf folglich Einfluss auf die Klassifizierung von Prädikationen nehmen.77 Dieser Aspekt wird besonders deutlich, wenn man (28) und (29) einander gegenüberstellt. Das Verb kaufen in (28) gehört genauso wie zerstören in (29) zu jenen Prädikatoren, mit denen eine Handlung von Finanzinvestoren charakterisiert wird. Im Gegensatz zu (28) sind mit der Prädikation Arbeitsplätze zerstören aber die Folgen für andere Personen angesprochen. Umgekehrt ist die Zerstörung von Arbeitsplätzen (prototypischerweise) keine Voraussetzung dafür, den Beruf des Finanzinvestors auszuüben, der Kauf von Unternehmen aber sehr wohl. Abschließend seien die letzten, an Beispielen verdeutlichten Erkenntnisse in einem Kriterium zusammengefasst, das die Zuordnung von expliziten Prädikationen zu Prädikatoren leiten sollte. Konerding hat in seinem Verfahren der Hyperonymtypenreduktion den Einsatz so genannter „funktionsgerechter Entscheidungsfragen“ vorgeschlagen. Die entsprechende Passage sei noch einmal zitiert:
76 77
Kaufen gehört also zu dem Prädikator „zur Charakterisierung der Handlungen, in denen die Person als Teilnehmer involviert ist“, vgl. Tab. 3. Zur Unterscheidung von abgerufenem und aufgerufenem bzw. evoziertem Wissen vgl. Abschnitt VI.3.1.
4. Empirische Ergebnisse
421
‚Läßt sich das Verb […] Y der Kategorie Z sinnvoll von einem typischen Bezugsgegenstand des Substantivs X prädizieren’, etwa: ‚Läßt sich von einem typischen Tisch sinnvoll behaupten, daß er ein Teil von etwas ist, in etwas figuriert, an etwas mitwirkt? ‘ […] (Konerding 1993, S. 165)
Angewandt auf unseren Sachzusammenhang bedeutet das: Geht es darum zu entscheiden, ob eine vollzogene Prädikation einem Prädikator (oder einer Prädikatorenklasse) zuzurechnen ist, ist ganz analog zu fragen, ob sich die infrage stehende Prädikation sinnvoll einem Prädikator zuordnen lässt. Kann man etwa von der Zerstörung von Arbeitsplätzen sinnvoll behaupten, dass mit ihr die Voraussetzung zur Ausübung des Berufes des Finanzinvestors charakterisiert wird? Und kann man von der Zerstörung von Arbeitsplätzen sinnvoll behaupten, dass mit ihr etwas über die Folgen für andere Personen ausgesagt wird? Mittels solcher Entscheidungsfragen dürfte deutlich werden, welchem Prädikator die Prädikation Arbeitsplätze zerstören zuzuweisen ist. Deutlich wird aber auch, dass anders als in Lönneker 2003a die Klassifizierung expliziter Prädikationen interpretativ und manuell erfolgen muss. Es handelt sich um Einzelfallentscheidungen, die den genannten Kriterien genügen müssen, um zu replikablen und reliablen Ergebnissen zu führen. Der Klassifizierung aller expliziten Prädikationen folgt die quantitative und qualitative Auswertung der Ergebnisse. Mit Fraas (1996a, S. 78) gesprochen: „Auf dieser Basis [der quantitativen Erhebung] wird der systematische Vergleich von Realisierungsweisen bestimmter Konzepte in bestimmten Zeiträumen oder Kommunikationsbereichen möglich.“ Wie der konzeptuelle Gehalt der Heuschrecken-Metapher im Diskurs der „Kapitalismus-Debatte“ im Einzelnen realisiert ist, zeigt sich in den nächsten Abschnitten.
4. Empirische Ergebnisse Die Korpusanalyse orientiert sich konzeptionell an den vier Repräsentationseinheiten, die nach der Theorie der konzeptuellen Integration („blending theory“) von Fauconnier und Turner an der Konstitution von Metaphern beteiligt sind: (i) Generischer Frame. Im generischen Frame sind Wissensaspekte repräsentiert, die beiden Inputs (der Quell- und Zieldomäne der Metapher) zu eigen sind. Dieser Überschneidungsbereich betrifft natürlich nicht Instanzen (Füllwerte, Standardwerte), sondern Möglichkeiten der Wissensspezifikation (Leerstellen). (ii) Input-Frame I. In der Quelldomäne „Heuschrecke“ sind nur solche Wissenssegmente (Füllwerte, Standardwerte) enthalten, die möglicherweise in die Metaphernbedeutung eingehen.
422
VII. Frames in Textkorpora: die Metapher der Heuschrecke
(iii) Input-Frame II. Auch für die Zieldomäne „Finanzinvestor/en“ gilt, dass in sie nicht alle, sondern nur potentiell metaphernrelevante Wissenssegmente eingehen. (iv) Metapher-Frame. In der Metaphernbedeutung sind ausgewählte Wissenssegmente beider Inputs miteinander zu einer Einheit konzeptuell verschmolzen. Welche Wissensaspekte (Leerstellen) und/oder Wissenssegmente (Standardwerte, Füllwerte) gehen in diese vier Repräsentationseinheiten ein? Dieser Frage gehen die folgenden Abschnitte nach. 4.1 Der generische Frame Für Metaphernbildungen sind der Theorie der konzeptuellen Integration zufolge Wissensaspekte relevant, die beide Inputs – hier der Frame „Heuschrecke/n“ und der Frame „Finanzinvestor/en“ – gemeinsam haben (Fauconnier/Turner 1998a, S. 137f.). Zusammen bilden diese den generischen Frame (bzw. „generic space“). Hierbei handelt es sich wohlgemerkt um Wissensaspekte; wie diese jeweils spezifiziert sind, variiert in beiden Inputs. In dem erläuterten Beispiel Der Chirurg ist ein Metzger sind nach Fauconnier und Turner z.B. Wissensaspekte wie „Agens“, „Patiens“, „Ort“ und „Tätigkeit“ sowohl dem Input-Frame „Chirurg“ als auch dem Input-Frame „Metzger“ gemeinsam, aber alle diese Aspekte sind unterschiedlich spezifiziert. Ist es im Chirurg-Frame ein Chirurg (Agens), der einen Patienten (Patiens) im Operationssaal (Ort) operiert (Tätigkeit), so ist es im Metzger-Frame ein Metzger (Agens), der das Fleisch von toten Tieren (Patiens) in der Metzgerei (Ort) verkaufsfertig zuschneidet (Tätigkeit). Ausgehend von dem in den letzten Kapiteln entwickelten framesemantischen Ansatz verfügen wir über probate Mittel, die Elemente des generischen Frames konkret zu bestimmen. Es sei daran erinnert, dass qua Hyperonymreduktion einerseits Heuschrecke auf Organismus und andererseits Finanzinvestor auf Person (in berufsbezogener Rolle) zurückgeführt werden können. Da die Leerstellen der gleichnamigen Matrixframes den Leerstellen entsprechen, die beide Input-Frames miteinander teilen, lassen sich mit der in Abschnitt VI.3.2 vorgestellten Frame-Hierarchie die generischen Wissensaspekte problemlos identifizieren. Wie aus Abb. 3 ersichtlich, gibt es zwei so genannte „Superframes“, die den Matrixframes „Organismus“ und „Person in berufsbezogener Rolle“ gemeinsam sind, nämlich „beständiges Objekt“ und „Entität“. Die Menge an Leerstellen dieser Superframes formiert den generischen Frame. Sie umfasst alle potentiell metaphernrelevanten Bedeutungsaspekte. Welche Elemente des Bedeutungspotentials in die Metaphernbedeutung tatsächlich eingehen, muss an dieser Stelle noch offen bleiben.
4. Empirische Ergebnisse
Entität
generische „Superframes“ input-spezifische „Superframes“
423
beständiges Objekt
primäres Objekt
Rolle/Sichtweise auf eine Entität
Gegenstand natürlicher Art
Person in berufsbezogener Rolle
Organismus
Abb. 3: Generische und input-spezifische „Superframes“ der Matrixframes „Organismus“ und „Person in einer Rolle“ (auf der Basis der Frame-Hierarchie von Lönneker 2003a, S. 93)
Beschränkt sich die Anzahl möglicherweise für die Metaphernbedeutung relevanter Bedeutungsaspekte also auf die Schnittmenge der Leerstellen der Matrixframes „Organismus“ und „Person in berufsbezogener Rolle“ (resp. des Heuschrecken- und Finanzinvestor-Frames), sind die Leerstellen der Superframes „Gegenstand natürlicher Art“, „primäres Objekt“ sowie „Rolle/Sichtweise auf eine Entität“ fortan irrelevant. Ein Blick auf einzelne Leerstellen dieser Superframes zeigt warum. So lässt sich beispielsweise der Finanzinvestor-Frame hinsichtlich der Mitspieler einer Handlung konkretisieren, an der ein Finanzinvestor beteiligt ist, während diese Spezifikationsmöglichkeit im Heuschrecken-Frame (resp. im Matrixframe „Organismus“) fehlt. Selbst dann, wenn Heuschrecke metaphorisch gebraucht wird und die Zieldomäne (wie eben im Fall von „Finanzinvestor“) prädikative Zuschreibungen hinsichtlich der Mitspieler einer Handlung zulässt, kann dieser Wissensaspekt nicht Teil der Metaphernbedeutung werden, da er durch die Quelldomäne nicht ausdrückbar ist.78 Analoges trifft auf die anderen input-spezifischen Leerstellen zu. 78
Erinnert sei daran, dass Leerstellen analytische Konstrukte sind, die sich empirisch aus einer großen Menge ähnlicher Prädikationen ableiten lassen. Eine Leerstelle ist so gesehen eine usuelle Prädikationsmöglichkeit. Leerstellen ergeben sich relativ zu einer vorherrschenden Alltagsonto-
424
VII. Frames in Textkorpora: die Metapher der Heuschrecke
Die für die Metaphernanalyse relevanten Leerstellen der Superframes „Entität“ und „beständiges Objekt“ sind in Tab. 4 zusammengefasst. Die Namen der Matrixframes sind hier schon durch die frame-evozierenden Ausdrücke Heuschrecke und Finanzinvestor ersetzt. x Definition Weitere Namen/Bezeichnungen für Heuschrecken und Finanzinvestoren Prädikatoren zur Charakterisierung von Oberkategorien, denen Heuschrecken und Finanzinvestoren zugerechnet werden Prädikatoren zur Charakterisierung von ähnlichen Entitäten Prädikatoren zur Charakterisierung von Theorien, in denen Heuschrecken und Finanzinvestoren eine Rolle spielen x Bedeutung von Heuschrecken und Finanzinvestoren für den Menschen Prädikatoren zur Charakterisierung der Bedeutung von Heuschrecken und Finanzinvestoren für den Menschen Prädikatoren zur Charakterisierung des Nutzens, den Heuschrecken und Finanzinvestoren für den Menschen haben, und zur Charakterisierung der Folgen, die Heuschrecken und Finanzinvestoren für den Menschen haben können Prädikatoren zur Charakterisierung der Entität, wovon Heuschrecken und Finanzinvestoren künden/zeugen Prädikatoren zur Charakterisierung des Bekanntheitsgrades von Heuschrecken und Finanzinvestoren x Konstitutionsrelationen I: Teil Prädikatoren zur Charakterisierung des übergeordneten Ganzen, wovon Heuschrecken und Finanzinvestoren ein Teil sind Prädikatoren zur Charakterisierung der Art der Beziehung von Heuschrecken und Finanzinvestoren zum übergeordneten Ganzen x Konstitutionsrelationen II: Gesamtheit Prädikatoren zur Charakterisierung der „Zusammensetzung“ von Heuschrecken/Finanzinvestoren Prädikatoren zur Charakterisierung der Eigenschaften der Teile, aus denen Heuschrecken und Finanzinvestoren bestehen Prädikatoren zur Charakterisierung der Anordnung dieser Teile Prädikatoren zur Charakterisierung der Funktionen der Teile x Konstitutionsrelationen III: Prozess Prädikatoren zur Charakterisierung des Ursprungs von Heuschrecken und Finanzinvestoren Prädikatoren zur Charakterisierung der Existenzphasen von Heuschrecken und Finanzinvestoren logie; ändern sich Bereiche der Alltagsontologie, ändern sich – möglicherweise – Leerstellen eines Frames. (Man denke an die Folgen, die die Kopernikanische Wende für die vorherrschende Alltagsontologie nach sich zog; zweifelsohne gingen damit fundamentale Veränderungen zahlreicher Frame-Strukturen einher.)
4. Empirische Ergebnisse
425
Prädikatoren zur Charakterisierung der Bedingungen, unter denen Heuschrecken sterben bzw. Finanzinvestoren den Beruf nicht mehr ausüben Prädikatoren zur Charakterisierung der Gründe dafür Prädikatoren zur Charakterisierung der Entstehungsart und des InErscheinung-Tretens von Heuschrecken und Finanzinvestoren Prädikatoren zur Charakterisierung der Voraussetzungen des „Entstehens“ von Heuschrecken und Finanzinvestoren Prädikatoren zur Charakterisierung der Existenzbedingungen von Heuschrecken/Finanzinvestoren x Eigenschaften Prädikatoren zur Charakterisierung der Maße und Ausmaße von Heuschrecken und Finanzinvestoren Prädikatoren zur Charakterisierung sonstiger Eigenschaften von Heuschrecken und Finanzinvestoren x Konstitutionsrelationen IV: Teil eines Ereignisses und/oder einer Handlung Prädikatoren zur Charakterisierung der Ereignisse und/oder Handlungen, in denen Heuschrecken und Finanzinvestoren eine Rolle spielen Prädikatoren zur Charakterisierung der Funktion, die Heuschrecken und Finanzinvestoren in diesen Ereignissen und/oder Handlungen einnehmen Tab. 4: Gemeinsame Leerstellen des Heuschrecken- und Finanzinvestoren-Frames (resp. des Matrixframes „Organismus“ und „Person in berufsbezogener Rolle“), basierend auf Lönneker 2003a, S. 262-277
Nicht alle der in Tab. 4 genannten Prädikatoren (resp. Leerstellen) sind für die Heuschrecken-Metapher relevant. In den folgenden Abschnitten wird sich zeigen, dass viele nur von marginaler Bedeutung sind, einige andere dagegen umso zentraler für die Metaphernbedeutung zu sein scheinen. 4.2 Die Input-Frames „Heuschrecke/n“ und „Finanzinvestor/en“ In den Input-Frames sind die in Tab. 4 genannten Leerstellen mit konkreten Werten (Prädikationen) spezifiziert. Einige dieser Werte gehen in die Metaphernbedeutung ein, andere befinden sich gleichsam in Quarantäne, d.h. sie sind zwar im Input repräsentiert, bilden aber keine metaphernrelevanten Bedeutungsaspekte.79 Bevor ich im nächsten Abschnitt auf die Metaphernbedeu79
Im erwähnten Beispiel Der Chirurg ist ein Metzger ist das etwa hinsichtlich Angaben zur Person (Alter, Aussehen, Kleidung usw.) der Fall. Andere Informationseinheiten gehen nur von einem Input in den „blended space“ ein, so etwa Angaben zum Ort (hier: der Operationssaal, nicht die Metzgerei).
426
VII. Frames in Textkorpora: die Metapher der Heuschrecke
tung, den „blended space“, zu sprechen komme, sollen zunächst die beiden Inputs analysiert werden. Den ersten Input bildet die Wissensdomäne „Heuschrecke“. Diese zu bestimmen, setzt ein Korpus voraus, in dem Heuschrecke – anders als in der „Kapitalismus-Debatte“ – nicht metaphorisch gebraucht wird. Nötig ist also ein ‚neutrales‘ Korpus, wie ich es fortan nennen möchte. Zur Konstitution eines neutralen Korpus habe ich auf die Datenbank „Cosmas II“ zurückgegriffen, die das Institut für Deutsche Sprache zur Verfügung stellt. Aus der Datenbank wurden die Jahrgänge 1997 bis 1999 der überregionalen Zeitungen Frankfurter Rundschau, Die Zeit und Berliner Morgenpost ausgewählt. In den drei zugrunde gelegten Jahrgängen gibt es insgesamt 182 Okkurrenzen des Lexems Heuschrecke in nicht-metaphorischer Lesart. Analog wurde bei dem zweiten Input, der Wissensdomäne „Finanzinvestor“, verfahren. Insgesamt weisen die genannten Zeitungen in denselben drei Jahrgängen 122 Okkurrenzen des Lexems Finanzinvestor auf. Auch hinsichtlich des zweiten Inputs habe ich auf das neutrale Korpus zurückgegriffen, weil zu vermuten ist, dass die Bedeutung des Lexems Finanzinvestor innerhalb der „Kapitalismus-Debatte“ eine diskursspezifische Prägung erfährt. Solche semantischen Spuren können unter Umständen für die Analyse der Metaphernbedeutung interessant werden, wie sich später zeigen wird. Für beide Wissensdomänen wurden die entsprechenden Textbelege annotiert und in explizite Prädikationen umgeformt, die dann den Prädikatoren (Leerstellen) des relevanten Matrixframes zugeordnet wurden (vgl. Abschnitt VII.3). Als Ergebnis liegen Angaben darüber vor, wie oft die einzelnen Prädikatoren und Prädikatorenklassen ‚bedient‘ worden sind. Um zunächst auf einem höheren Abstraktionsniveau einen Überblick über die Dominanz bestimmter Klassen von Leerstellen zu bekommen, sind in Tab. 5 keine einzelnen Prädikatoren aufgelistet. Die Prozentzahlen geben vielmehr an, wie hoch der Anteil einer Prädikatorenklasse an der Menge aller Prädikationen ist.80 Die beiden Inputs werden auf der Basis des neutralen Korpus bestimmt, also der zweiten und dritten Spalte. Die Spalte ganz rechts bezieht sich auf den Finanzinvestor-Frame in der „Kapitalismus-Debatte“. Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus den Daten des neutralen Korpus ziehen? Vor dem Hintergrund, dass sich ausgewählte Informationen aus beiden Inputs in der Metaphernbedeutung niederschlagen, ist insbesondere interessant zu wissen, welche Wissensaspekte in den Inputs dominant sind und ob es Wissensaspekte gibt, die im Heuschrecken-Frame erheblich stärker dominieren als im Finanzinvestor-Frame (oder vice versa). Gäbe es solche stärker dominierenden Wissensaspekte, dürften sie für die Metapher von besonderer Relevanz sein. Ein Vergleich des Heuschrecken- mit dem Finanz80
Die Prozentangaben sind auf eine Stelle nach dem Komma auf- bzw. abgerundet.
427
4. Empirische Ergebnisse
investor-Frame zeigt jedoch, dass unter quantitativen Gesichtspunkten keine Prädikatorenklasse eines Frames erheblich dominanter ist als ihr Pendant des anderen Frames. Zwar sind im Heuschrecken-Frame Eigenschaften und Prozessaspekte (wozu etwa der „Ursprung“ und „Existenzphasen“ einer Entität zählen, vgl. Tab. 5) öfter prädikativ spezifiziert als im Frame „Finanzinvestor/en“; doch der Unterschied bleibt verschwindend gering. Dass die quantitative Gewichtung einzelner Prädikatorenklassen in beiden Frames sehr ähnlich ist, scheint zu belegen, was sich schon eingangs zeigte. Zumindest auf der Ebene der Prädikatorenklassen gibt es in der Heuschrecken-Metapher keinen Wissensaspekt, der in einem Input viel salienter ist als im anderen, so dass er metaphorische Projektionen motiviert.81 Die konkrete Ausgestaltung der Inhaltsdimension der Metapher Heuschrecke wird so durch Diskurswissen um die „Kapitalismus-Debatte“ umso mehr geprägt. neutrales Korpus
Korpus zur „KapitalismusDebatte“
Leerstellen- bzw. Prädikatorenklassen
HeuschreckenFrame
FinanzinvestorFrame
FinanzinvestorFrame
Definition Bedeutung für den Menschen Konstitutionsrelationen I: Teil Konstitutionsrelationen II: Gesamtheit Konstitutionsrelationen III: Prozess Eigenschaften Teil eines Ereignisses/einer Handlung
12,1 % 19,5 %
14,8 % 14,8%
9,6 % 31,8 %
20,2 %
21,1 %
16,8 %
5,6 %
7,7 %
5,5 %
6,2 %
3,0 %
4,9 %
2,3 % 34,2 %
0,5 % 38,1 %
0,2 % 31,2 %
Tab. 5: Prozentualer Anteil der Prädikatorenklassen an der Menge aller Prädikationen im Heuschrecken- und Finanzinvestor-Frame
Vergleicht man den Frame „Finanzinvestor/en“ im neutralen Korpus mit dem Finanzinvestor-Frame im Korpus zur „Kapitalismus-Debatte“, fällt auf, dass es nur wenige signifikante Abweichungen gibt. Eine springt allerdings sofort ins Auge: Im Diskurszusammenhang der „Kapitalismus-Debatte“ wer81
Es ist zu vermuten, dass sich dagegen die beiden Inputs der Metzger-Metapher stärker voneinander unterscheiden; Aufschluss über die Richtigkeit dieser Annahme kann aber nur eine (quantitativ gestützte) Korpusanalyse geben.
428
VII. Frames in Textkorpora: die Metapher der Heuschrecke
den Finanzinvestoren (relativ zu anderen Wissensaspekten) besonders häufig hinsichtlich ihrer „Bedeutung für den Menschen“ thematisiert. Im Vergleich zum neutralen Korpus finden sich in der „Kapitalismus-Debatte“ durchschnittlich mehr als doppelt so viele Prädikationen, die beispielsweise den Einfluss von Finanzinvestoren auf die Gesellschaft (bzw. auf Teile der Gesellschaft) betreffen. Beispiele hierfür wären Korpusbelege wie die folgenden:82 (30) Finanzinvestoren vernichten Arbeitsplätze. (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.4.2005) (31) Finanzinvestoren gefährden unsere Demokratie. (Der Tagesspiegel, 22.4.2005) (32) Finanzinvestoren helfen Rentenkasse aus der Not. (Süddeutsche Zeitung, 3.5. 2005) Dass der angesprochene Wissensaspekt in der „Kapitalismus-Debatte“ eine erheblich größere Rolle spielt als außerhalb der Debatte, dürfte ein Beispiel dafür sein, wie sich diskursive Strukturen in lexikalischen Bedeutungen niederschlagen können. Dass der Einfluss von Finanzinvestoren innerhalb der „Kapitalismus-Debatte“ so viel dominanter ist als im neutralen Korpus, scheint ferner die Annahme zu stützen, dass auch eine metonymische Verschiebung an der Bildung der Metaphernbedeutung beteiligt ist. Zumindest steht fest, dass Finanzinvestoren in der „Kapitalismus-Debatte“ signifikant häufig hinsichtlich der Folgen, die ihre Aktivitäten nach sich ziehen, thematisiert werden. Dies begünstigt eine kausal-metonymische Verwendungsweise von Finanzinvestor/en, derzufolge die Ursachen (Tätigkeiten von Finanzinvestoren/en) für die Folgen stehen. Weitaus weniger signifikant, aber trotzdem erwähnenswert, ist ferner, dass Prädikationen, die „Definitionen“ (im weitesten Sinne) von Finanzinvestoren betreffen, im neutralen Korpus durchschnittlich häufiger vorkommen. Hier finden sich Belege wie: (33) Finanzinvestoren sind „Private Equity“-Firmen wie Bridge Investment und Deutsche Effecten- und Wechselbeteiligungs-AG. (Frankfurter Rundschau, 18.5.1999) (34) Finanzinvestoren nennen sich einige Mitarbeiter der Deutschen Bank. (Berliner Morgenpost, 14.11.1998)
82
Bei den hier und im Folgenden angeführten Korpusbelegen handelt es sich nicht um Zitate im engeren Sinne – das heißt: Es werden nicht Textsequenzen aus Zeitungen wortwörtlich zitiert, sondern die Propositionen angegeben, die sich aus den in Kap. VII.3. beschriebenen Analyseschritten ergeben.
4. Empirische Ergebnisse
429
Offensichtlich ist es im Rahmen der „Kapitalismus-Debatte“ weniger wichtig, genau zu bestimmen, was Finanzinvestoren eigentlich sind, während im neutralen Korpus vermehrt einzelne Finanzinvestoren thematisiert werden. So dürfte sich auch erklären, warum im neutralen Korpus Ereignisse und Handlungen, in die Finanzinvestoren involviert sind, eine größere Rolle spielen. Im neutralen Korpus geht es seltener um Finanzinvestoren im Allgemeinen als um konkrete Handlungen bestimmter Finanzinvestoren.83 Andererseits wäre zu vermuten, dass Ereignisse und Handlungen, in die Finanzinvestoren beteiligt sind, im Korpus zur „Kapitalismus-Debatte“ bereits als selbstverständlich vorausgesetzt werden und deswegen gar nicht mehr (quasi-)explizit thematisiert werden müssen. Dass bestimmte diesbezügliche Prädikatoren tatsächlich als Standardwerte unterstellt werden, ließe sich allerdings nur mithilfe weiterer Korpusanalysen erhärten. Bevor ich auf die Metapher Heuschrecke zu sprechen komme, sollen die letzten Ergebnisse, die sich aus der Analyse der Prädikatorenklassen ergeben haben, auf einer niedrigeren Abstraktionsebene exemplarisch konkretisiert werden. Gibt es innerhalb der Prädikatorenklassen bestimmte Prädikatoren (Leerstellen), die erheblich dominanter sind als andere derselben Klasse? Um diese Fragen zu beantworten, greife ich aus den Prädikatorenklassen bestimmte Prädikatoren exemplarisch heraus (vgl. Tab. 4). Tatsächlich gibt es Prädikatoren, die innerhalb ihrer Prädikatorenklasse sehr dominant sind. Von den in Tab. 4 genannten ist dies bei den Prädikatoren zur Charakterisierung des übergeordneten Ganzen der Fall, in dem Heuschrecken bzw. Finanzinvestoren auftreten. Eine typische Verbphrase für diese Prädikatoren ist ein Teil von etwas sein. Folgende Beispiele finden sich im Korpus: (35) Heuschrecken sind in Afrika Teil des Essens. (Frankfurter Rundschau, 17.05.1997) (36) Heuschrecken gehören zu den exotischen Delikatessen. (Frankfurter Rundschau, 17.3.1999) (37) Heuschrecken leben in Biotopen (Berliner Morgenpost, 11.6.1999) Umgekehrt liegen zahlreiche Prädikatoren vor, die innerhalb der „Kapitalismus-Debatte“ praktisch keine Rolle spielen. So etwa solche, die die Charakte-
83
Folgende Propositionen aus der Frankfurter Rundschau dürfen als symptomatisch gelten: „Finanzinvestoren geben in den nächsten Monaten 600.000 Aktien ab“ (Frankfurter Rundschau, 2.5.1998); „Finanzinvestoren kaufen Kohap Emtec“ (Frankfurter Rundschau, 03.7.1999); „Finanzinvestoren sind die Kapitalanlagegesellschaften Schroder Ventures sowie DB Investor“ (Frankfurter Rundschau 24.12.1999).
430
VII. Frames in Textkorpora: die Metapher der Heuschrecke
risierung der Maße und Ausmaße oder die „Zusammensetzung“ von Heuschrecken bzw. Finanzinvestoren betreffen.84
neutrales Korpus Leerstellen bzw. Prädikatoren
Korpus zur „KapitalismusDebatte“
HeuschreckenFrame
FinanzinvestorFrame
FinanzinvestorFrame
3,7 %
4,4 %
2,9 %
9,2 %
8,8 %
14,3 %
20,2 %
21,1 %
16,8 %
x Konstitutionsrelationen II: Gesamtheit Zusammensetzung
2,0 %
6,6 %
4,1 %
x Konstitutionsrelationen III: Prozess Existenzphasen
1,2 %
3,0 %
1,4 %
x Eigenschaften Maße, Ausmaße
1,8 %
0,3 %
0,2 %
17,2 %
19,5 %
16,2 %
x Definition Name x Bedeutung für den Menschen Nutzen/Folgen der Entität für den Menschen x Konstitutionsrelationen I: Teil übergeordnetes Ganzes, in dem die Entität eine Rolle spielt
x Teil eines Ereignisses/ einer Handlung Ereignis/Handlung, in dem bzw. in der die Entität eine Rolle spielt
Tab. 6: Prozentualer Anteil von ausgewählten Prädikatoren an der Menge aller Prädikationen im Heuschrecken- und Finanzinvestor-Frame
Insgesamt ist wichtig zu sehen, dass sich die aus dem Korpus ermittelten Prädikationen auf die Prädikatorenklassen (Tab. 5) quantitativ ganz ähnlich verteilen wie auf bestimmte Prädikatoren (Leerstellen) (Tab. 6). In dieser 84
Obwohl der Begriff „Zusammensetzung“ hier ambig ist, habe ich ihn von Lönneker (2003a, S. 263) übernommen. Im Fall von Heuschrecken sind in diesem Sinne (Körper-)Teile des Insekts relevant, im Fall von Finanzinvestoren Bestandteile, die zum Beruf des Finanzinvestors gehören.
4. Empirische Ergebnisse
431
Hinsicht bringt die Analyse von Prädikatoren keine Erkenntnisse, die sich nicht schon aus der Untersuchung der Prädikatorenklassen ergeben haben. Ich verzichte deshalb auf weitere Erläuterungen der in Tab. 6 zusammengefassten Ergebnisse. Als Resultat bleibt einmal festzuhalten, dass im neutralen Korpus die Frames „Finanzinvestor/en“ und „Heuschrecke/n“ gemeinsamen Wissensaspekte (Prädikatoren/-klassen bzw. Leerstellen/-klassen) quantitativ ungefähr gleich stark gewichtet sind. Auf der Abstraktionsebene von Leerstellen und Leerstellenklassen gibt es demnach weder aus dem Input „Heuschrecke/n“ noch aus dem Input „Finanzinvestor/en“ Wissensaspekte, die sich für die Metaphernbildung besonders anbieten; denn in keinem Input ist ein Wissensaspekt signifikant dominanter als im anderen. Dieser Befund wird allerdings ein Stück weit dadurch relativiert, dass sich rekurrent auftretende Prädikationen (im Sinne einer hohen Token-Frequenz) sehr wohl als metaphernrelevant erweisen könnten. Ein zweites Ergebnis betrifft das Verhältnis zwischen einem Diskurs und seinen Diskurselementen, hier insbesondere lexikalischen Einheiten. Offenbar hat der Diskurszusammenhang, in dem ein sprachlicher Ausdruck rekurrent auftritt, Einfluss auf die semantische Struktur desselben Ausdrucks. Zumindest legt dies der Befund nahe, dass im Rahmen der „Kapitalismus-Debatte“ eine Prädikatorenklasse des Finanzinvestor-Frames signifikant stärker dominiert als außerhalb der „Kapitalismus-Debatte“. Der Diskurs zur „Kapitalismus-Debatte“ scheint somit den Finanzinvestor-Frame semantisch zu profilieren. Die hohe Type-Frequenz (hier hinsichtlich der Prädikatorenklasse „Bedeutung für den Menschen“) deutet darauf hin, dass die angesprochenen Wissensaspekte innerhalb des Diskurses relevanter sind als andere. Aus frame-semantischer Sicht bilden der analysierte FinanzinvestorFrame und der Heuschrecken-Frame das Bedeutungspotential für die Metapher. Im Anschluss an Allwood hatte ich den Terminus „Bedeutungspotential“ eingeführt, um den Übergang von einer semantischen Einheit (im Sinne Langackers) zu einer Gebrauchsbedeutung zu beschreiben (vgl. Abschnitt IV.3.2). Für das Bedeutungspotential eines sprachlichen Ausdrucks ist es kennzeichnend, dass es einerseits den evozierten Frame „vorstrukturiert“, andererseits aber nur ein Teil des Potentials ausgeschöpft wird und in die Gebrauchsbedeutung eingeht. Auf unser Beispiel bezogen heißt das konkret: Zunächst gehen nicht alle, sondern nur die gemeinsamen Leerstellen des Finanzinvestor- und Heuschrecken-Frames in die Inputs ein. Ferner sind beide Frames insofern ‚vorstrukturiert‘, als die Leerstellen(klassen) nicht gleichwertig sind. Dass manche relevanter sind als andere, zeigt sich an der variierenden quantitativen Gewichtung.
432
VII. Frames in Textkorpora: die Metapher der Heuschrecke
4.3 Der Metapher-Frame „Heuschrecke/n“ Welche Informationseinheiten der beiden Inputs „Finanzinvestor/en“ und „Heuschrecke“ gehen in die Metaphernbedeutung ein? Welche Wissensaspekte dominieren im Metapher-Frame? Inwiefern weichen die in der Metaphernbedeutung akzentuierten Wissensaspekte von der Zieldomäne, also dem Finanzinvestor-Frame in der „Kapitalismus-Debatte“ ab? Und inwieweit unterscheidet sich der Metapher-Frame vom Heuschrecken-Frame im neutralen Korpus? Antworten auf diese Fragen will ich mich im Folgenden zu nähern versuchen. Prädikatorenklassen und zugehörige Prädikatoren x Definition Weitere Namen/Bezeichnungen ähnliche Entitäten Oberkategorien Theorien, in denen die Entität eine Rolle spielt x Bedeutung für den Menschen Bedeutung für den Menschen Nutzen, den die Entität für den Menschen hat/Folgen, die die Entität für den Menschen haben kann Entitäten, wovon Heuschrecken und Finanzinvestoren künden/zeugen Bekanntheitsgrad der Entität
Korpus zur „Kapitalismus-Debatte“ HeuschreckenFinanzinvestorFrame Frame (Metapher) 9,6 % 18,0 % 8,5 % 0,2 % 9,3 % –
2,9 % 1,6 % 4,7 % 0,4 %
14,2 %
31,9 %
6,8 % 7,0 %
13,3 % 14,3 %
0,4 %
3,3 %
–
1,0 %
x Konstitutionsrelationen I: Teil übergeordnetes Ganzes, wovon die Entität ein Teil ist Art der Beziehung der Entität zum übergeordneten Ganzen
21,8 %
16,8 %
21,8 %
16,8 %
–
–
x Konstitutionsrelationen II: Gesamtheit „Zusammensetzung“ der Entität Eigenschaften der Teile, aus denen die Entität besteht Anordnung dieser Teile Funktionen der Teile
8,7 %
5,5 %
7,0 % 1,7 %
4,1 % 0,8 %
– –
0,6 % –
433
4. Empirische Ergebnisse x Konstitutionsrelationen III: Prozess Ursprung der Entität Existenzphasen der Entität Bedingungen für das Ende der Entität (bzw. für die NichtAusübung des Berufes)/Gründe für das Sterben Entstehungsart und In-ErscheinungTreten der Entität Voraussetzungen des Entstehens der Entität (bzw. für Erlangung des Berufes) Bedingungen der Existenz der Entität
2,1 %
5,0 %
0,4 % – 0,3 %
0,2 % 1,4 % 0,4 %
0,6 %
1,6 %
0,4 %
–
0,4 %
1,4 %
x Eigenschaften Maße und Ausmaße der Entität Sonstige Eigenschaften der Entität
1,3 % 0,4 % 0,9 %
0,2 % 0,2 % –
x Konstitutionsrelationen IV: Teil eines Ereignisses und/oder einer Handlung Ereignisse/Handlungen, in denen die Entität eine Rolle spielt Funktion, die die Entität in diesen Ereignissen/Handlungen einnimmt
33,8 %
31,2 %
16,9 %
16,7 %
16,9 %
15,5 %
Tab. 7: Prozentualer Anteil der Prädikatorenklassen an der Menge aller Prädikationen im Heuschrecken- und Finanzinvestor-Frame
Nachdem gemäß den oben erläuterten Kriterien alle 173 Okkurrenzen der Heuschrecken-Metapher im Textkorpus identifiziert und annotiert sowie die ermittelten expliziten Prädikationen den entsprechenden Leerstellen zugewiesen worden sind,85 ergibt sich ein recht differenziertes Daten-Tableau, das in Tab. 7 zusammengefasst ist. Wie schon zuvor geben die Prozentzahlen an, wie hoch der Anteil einer Prädikatorenklasse bzw. bestimmter Prädikatoren dieser Klasse an der Menge aller Prädikationen im Textkorpus ist. Neben den Daten des Heuschrecken-Frames wurden auch die Daten des FinanzinvestorFrames ermittelt, um beide miteinander vergleichen zu können. Erfasst sind in Tab. 7 alle Prädikatorenklassen sowie alle Prädikatoren, aus denen sich jede Klasse zusammensetzt. Für manche Prädikatoren (und sogar für manche Prädikatorenklassen) liegt im Korpus jedoch keine Prädikation vor, und in anderen Fällen gibt es nur sehr wenige Prädikationen. Dies trifft beispielsweise auf die Prädikatorenklassen „Eigenschaften“ zu. Im ge85
Zur Erinnerung: Die Menge an relevanten Leerstellen entspricht denjenigen Prädikatoren, die der Heuschrecken- und Finanzinvestoren-Frame (resp. die Matrixframes „Organismus“ und „Person in berufsbezogener Rolle“) miteinander teilen.
434
VII. Frames in Textkorpora: die Metapher der Heuschrecke
samten Korpus zur „Kapitalismus-Debatte“ gibt es nur zwei Propositionen, deren Prädikate die Maße und Ausmaße von Heuschrecken (als Finanzinvestoren) spezifizieren:86 (38) Die Heuschrecke hat einen dürren Leib. (Die Zeit, 4.05.2005) (39) Die Heuschrecke ist klein, aber groß. (Die Zeit, 21.4.2005) Für die weitere Analyse können Prädikatoren und Prädikatorenklassen mit einer geringen Type-Frequenz vernachlässigt werden. Denn die TypeFrequenz muss ein Mindestmaß erreichen, damit sich der entsprechende Wissensaspekt in der Metaphernbedeutung niederschlägt. Nicht relevant wären demnach über die Prädikatorenklasse „Eigenschaften“ hinaus mindestens die Klasse „Konstitutionsrelation III: Prozess“, je nach Grenzziehung ebenfalls „Konstitutionsrelation II: Gesamtheit“.87 Genauso irrelevant sind ferner einige weitere Prädikatoren.88 Gesetzt den Fall, es handelt sich tatsächlich – wie eingangs argumentiert – bei der Metapher Heuschrecke um eine diskurssemantische Grundfigur, welche Wissensaspekte verfestigen sich dann so stark, dass sie jenseits des Diskurses um die „Kapitalismus-Debatte“ wirksam werden können? Betrachtet man zunächst den Heuschrecken-Frame (im Korpus zur „KapitalismusDebatte“) isoliert, fällt die Dominanz der Prädikatorenklasse „Konstitutionsrelationen IV“ auf. Mehr als ein Drittel aller prädikativen Zuschreibungen im Korpus betrifft ein Ereignis oder eine Handlung, in das bzw. in die Finanzinvestoren involviert sind, genauer: in dem/der bestimmte Wissensaspekte von Heuschrecken derart eine Rolle spielen, dass sie auf gewisse Tätigkeiten und Eigenschaften von Finanzinvestoren metaphorisch projiziert werden können. Dazu gehören Beispiele wie die folgenden: (40) Heuschrecken fallen über die Wirtschaft her. (Der Tagesspiegel, 22.4.2005) (41) Heuschrecken fressen alles leer und ziehen dann ab. (Süddeutsche Zeitung, 30.4.2005) (42) Heuschrecken schlachten Unternehmen aus. (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.5.2005) 86 87
88
„Maße und Ausmaße“ steht hier kurz für „Prädikatoren zur Charakterisierung von Maße und Ausmaße einer Entität“ (vgl. Tab. 4). Analoges gilt für alle anderen genannten Prädikatoren. Die Frage, wo die Grenze genau zu ziehen ist, lasse ich an dieser Stelle offen. Sie ist sicherlich fallspezifisch zu beantworten. So dürfte innerhalb der Prädikatorenklassen „Konstitutionsrelation II: Gesamtheit“ sicherlich der Prädikator „Zusammensetzung“ nicht uninteressant sein, da er eine relativ hohe Type-Frequenz aufweist. Insbesondere die Prädikatoren zur Charakterisierung ähnlicher Entitäten und die Prädikatoren zur Charakterisierung solcher Entitäten, wovon Heuschrecken und Finanzinvestoren künden/zeugen.
4. Empirische Ergebnisse
435
Heuschrecken (bzw. Finanzinvestoren als Heuschrecken) werden in (40) bis (42) hinsichtlich bestimmter (Resultate von) Handlungen thematisiert, die sie ausführen. Zu derselben Prädikatorenklasse gehören Prädikationen, die stärker die Funktion hervorheben, die Finanzinvestoren (als Heuschrecken) in Handlungen oder Ereignissen einnehmen: (43) Heuschrecken nutzen Unternehmen (Süddeutsche Zeitung, 25.4.2005) (44) Heuschrecken sanieren Unternehmen (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.05.2005) (45) Heuschrecken sind Käufer von Unternehmen (Der Tagesspiegel 3.5.2005) Im Textkorpus gibt es zahlreiche prädikative Zuschreibungen dieser Art.89 Es dürfte kein Zufall sein, dass quantitativ gesehen ebenso die Prädikatorenklasse „Konstitutionsrelationen I: Teil“ recht dominant ist. Mehr als ein Fünftel aller Prädikationen betreffen das übergeordnete Ganze, wovon Finanzinvestoren (als Heuschrecken) einen Teil bilden. Exemplarisch sind folgende Korpusbelege: (46) Heuschrecken treten in Schwärmen auf. (Die Zeit, 22.4.2005) (47) Heuschrecken bilden einen Teil der Investoren. (Süddeutsche Zeitung, 30.4.2005) Entscheidend ist für die Metapher aber nicht allein, dass Heuschrecken in Schwärmen auftreten, sondern dass sie dergestalt Schaden anrichten (können). Wird dieser Wissensaspekt des „Schwarmes“ auf die Wissensdomäne „Finanzinvestor/en“ projiziert, so vererbt sich auf diese, dass Schwärme potentiell Schaden verursachen. In dem Prädikat in Schwärmen auftreten ist demnach bereits die Möglichkeit einer metonymischen Verschiebung von der Ursache auf die Wirkung angelegt. Die Dominanz der beiden erwähnten Prädikatorenklassen – „Teil eines Ereignisses/einer Handlung“ und „Teil eines übergeordneten Ganzen“ – erklärt sich einmal dadurch, dass dieselben Prädikatorenklassen auch im neutralen Korpus quantitativ herausstechen. Das heißt: Die Dominanz bestimmter Wissensaspekte des Heuschrecken-Frames in nicht-metaphorischer Lesart 89
Um über die Analyse des konzeptuellen Gehalts der Heuschrecken-Metapher hinaus die argumentative Verwendung des Konzepts einzubeziehen, wäre eine topik-/toposanalytische Erweiterung nötig. Diese würde stärker den argumentativen Zusammenhang berücksichtigen, in dem die Metapher jeweils vorkommt. Pragmatische Größen wie Sprecherperspektiven und -einstellungen würden so in den Mittelpunkt rücken. Eine solche Erweiterung scheint mir auf der Basis der entwickelten frame-semantischen Kategorien ohne weiteres möglich zu sein. Ich beschränke mich hier allerdings auf Analysen semantisch-konzeptueller Strukturen.
436
VII. Frames in Textkorpora: die Metapher der Heuschrecke
vererbt sich offensichtlich auf den Metapher-Frame, wenngleich insgesamt freilich kein Abbildverhältnis besteht.90 Ein guter Teil der metaphorischen Projektion besteht folglich darin, dass die Dominanzverhältnisse der Wissensaspekte im Input „Heuschrecke“ auf den Metapher-Frame übertragen werden. Damit ist nicht gesagt, dass dieselben Prädikationen (Füllwerte, Standardwerte) in den Metapher-Frame eingehen, sondern lediglich, dass sich dieselben Wissensaspekte dort als verstehensrelevant erweisen. Dass die genannten Wissensaspekte dominieren, dürfte ein diskursiver ‚Effekt‘ sein. Die Einheit des Diskurses zur „Kapitalismus-Debatte“ stiftet das Müntefering-Zitat. Auf dieses Zitat wird, wie bereits dargelegt, immer wieder metasprachlich Bezug genommen. Rekurrent thematisiert werden somit ebenso die im Müntefering-Zitat angesprochenen Wissensaspekte, und das sind eben einerseits die Ereignisse und Handlungen, an denen Heuschrecken beteiligt sind, sowie deren Konsequenzen („abgrasen“, „weiterziehen“), und andererseits das übergeordnete Ganze, wovon Heuschrecken einen Teil bilden („Schwärme von Heuschrecken“). Die Herausbildung von Standardwerten steht im engen Zusammenhang mit dominierenden Wissensaspekten (Prädikatoren/-klassen). Nur dort, wo eine hohe Type-Frequenz vorherrscht, ist eine hohe Token-Frequenz möglich.91 Standardwerte formieren sich demzufolge insbesondere innerhalb der soeben analysierten Prädikatorenklassen. Folgende Prädikationen, die der Prädikatorenklasse „Konstitutionsrelationen IV: Teil eines Ereignisses/einer Handlung“ zuzurechnen sind, treten innerhalb des Korpus mehrmals auf; die Angaben in Klammern geben die Auftretenshäufigkeit an. (48) Heuschrecken grasen Unternehmen ab. (10-mal) (49) Heuschrecken fressen Unternehmen. (6-mal) Hinzu kommen einige Prädikate, die zwar weniger Okkurrenzen aufweisen, semantisch aber den Prädikaten aus (48) und (49) ähnlich sind. (50) (51) (52) (53) 90
91
Heuschrecken fallen über Unternehmen her. (3-mal) Heuschrecken machen Unternehmen kaputt. (2-mal) Heuschrecken zerlegen Unternehmen (1-mal) Heuschrecken lassen gekauftes Unternehmen ausbluten. (1-mal)
Vgl. Tab. 5. Zwar betrifft auch im neutralen Korpus ungefähr jede fünfte Prädikation das übergeordnete Ganze, von dem die Heuschrecke einen Teil bildet, und jede dritte Prädikation ein Ereignis bzw. eine Handlung, in das bzw. die eine Heuschrecke involviert ist; dafür gibt es aber Abweichungen hinsichtlich anderer Prädikatorenklassen. Dies deshalb, weil eine hohe Token-Frequenz, also die Bestimmung des Referenzobjektes „Heuschrecke“ durch viele verschiedene Prädikate, eine hohe Type-Frequenz (Referentialisierungen auf „Heuschrecke“ bzw. Aktivierungen des Heuschrecken-Frames) impliziert.
4. Empirische Ergebnisse
437
Die Prädikate „Unternehmen abgrasen“, „Unternehmen fressen“, „über Unternehmen herfallen“, „Unternehmen kaputt machen“, „Unternehmen zerlegen“ und „Unternehmen ausbluten lassen“ subsumiere ich unter dem Prädikat „Unternehmen zerstören“. Aufgrund der hohen Token-Frequenz dieses Prädikats darf es als guter Kandidat für einen späteren Standardwert gelten. Sind Standardwerte (genauso wie Füllwerte) selbst konzeptueller Natur und bestehen sie mithin aus einem Verbund konzeptueller Elemente,92 erweist sich ein Element des Konzeptes Unternehmen zerstören als besonders relevant: die Folgen dieser Handlung. Ein Unternehmen zu zerstören, impliziert, dass es nicht mehr ‚funktionsfähig‘ ist bzw. sein wird (genauso wie abgrasen impliziert, dass nichts mehr übrig bleibt, fressen, dass das Gefressene „tot“ ist, herfallen über, dass jemand oder etwas angegriffen wird usw.). Der (mögliche) Standardwert Unternehmen zerstören profiliert folglich den Wissensaspekt „negative Folgen der Handlungen von Finanzinvestoren“. Diese semantische Profilbildung dürfte kausale Metonymien motivieren, in denen die Ursachen (Handlungen von Finanzinvestoren) für die Folgen (Zerstörung von Unternehmen) stehen. In der Prädikatorenklasse „Konstitutionsrelationen I: Teil (eines übergeordneten Ganzen)“ tritt das Prädikat in Schwärmen auftreten am häufigsten auf. Im Müntefering-Zitat ist dieses bereits im Kompositum Heuschreckenschwärme in Gestalt einer impliziten Prädikation angelegt. Gelangt dieses Prädikat aus dem Input „Heuschrecke“ in den Metapher-Frame, entstammen dagegen andere Prädikationen, wie (55) und (56), dem Input „Finanzinvestor“. (54) Heuschrecken treten in Schwärmen auf. (15-mal) (55) Heuschrecken sind Teil des Kapitalismus. (7-mal) (56) Heuschrecken gehören zu den internationalen Finanzinvestoren. (4-mal) Im Metapher-Frame kommt es zu einer konzeptuellen Verschmelzung („blending“) des Prädikats in Schwärmen auftreten einerseits und Teil des Kapitalismus sein bzw. Teil internationaler Finanzinvestoren sein andererseits: Finanzinvestoren sind „Agenten“ des Kapitalismus,93 die in Schwärmen in Erscheinung 92
93
Diese auf Minsky 1975 zurückgehende Beobachtung, dass jedes Füllelement seinerseits den Status eines Sub-Frames hat und epistemisch-semantische Anschlussmöglichkeiten eröffnet, macht es zugleich möglich, Füllelemente (wie hier herfallen, kaputtmachen, leerfressen usw.) frameanalytisch zu untersuchen. So aktiviert leerfressen Wissen darüber, dass nur das Wertvolle und Nützliche „verwertet“ wird, das Wertlose und Unnütze hingegen übrig bleibt. Um zu systematischen, empirisch validierten Ergebnissen zu kommen, wären aber weitere Korpus-Analysen nötig. Untersuchungen von Sub-Frames sind in der präsentierten Korpus-Studie grundsätzlich nicht durchgeführt. So in Die Zeit, 28.4.2005.
438
VII. Frames in Textkorpora: die Metapher der Heuschrecke
treten. Nur vor dem Hintergrund dieser Konzeptverschmelzung lässt sich verständlich machen, warum Finanzinvestoren als Heuschrecken gefährlich und bedrohlich sein sollen. Denn gefährlich sind weder einzelne Heuschrecken noch einzelne Finanzinvestoren, und ebensowenig gilt prototypischerweise eine Gruppe von Finanzinvestoren als bedrohlich; bedrohlich ist allein eine als „Heuschreckenschwarm“ konzeptualisierte Gruppe von Finanzinvestoren. Als Fazit bleibt festzuhalten, dass mindestens die Prädikate Unternehmen zerstören, Teil des Kapitalismus sein und in Schwärmen auftreten als Standardwerte in Frage kommen. Zur empirischen Überprüfung dieses Befundes bieten sich Gebrauchsweisen der Heuschrecken-Metapher außerhalb der „KapitalismusDebatte“ an. Zwei Beispiele hatte ich bereits in Abschnitt VII.2.3 erwähnt – hier ist ein drittes: Die Piranha-Strategie Firmen kaufen und plündern: Das tun Heuschrecken. Heuschrecken kaufen und plündern: Das ist neu. […] (Der Tagesspiegel, 12.4.2007)
Anders als in beiden bereits zitierten Beispielen ist in dem letzten Zitat die Metapher „Heuschrecke“ noch einmal erklärt: „Heuschrecken“ plündern Firmen. Nicht thematisiert, aber präsupponiert ist ihr Auftreten in Schwärmen. Als Indiz für die Relevanz dieses Wissensaspektes mag die Tatsache gelten, dass in allen Textbelegen nur der Plural Heuschrecken zu finden ist. – Ich sehe durch diesen ‚Stichprobentest‘ die Annahme bestätigt, dass die beiden ermittelten Standardwerte sich diskursübergreifend als verstehensrelevant erweisen.
5. Frame-Semantik und Diskursanalyse: einige Schlussfolgerungen Sicherlich konnten in der Metaphernanalyse nicht alle Aspekte gebührend berücksichtigt werden, die sich aus der Datenerhebung ableiten ließen. Der analytische Schwerpunkt lag auf der konzeptuellen Untersuchung der vier Repräsentationseinheiten, die, der Theorie der konzeptuellen Integration folgend, am Prozess der Metaphernbildung beteiligt sind. Entscheidend ist aber, dass alle vier Repräsentationseinheiten (generischer Frame, Input-Frame I, Input-Frame II, Metapher-Frame) mit den entwickelten frame-semantischen Mitteln analysiert werden können. Verdeutlichen Fauconnier und Turner (und auch andere Vertreterinnen und Vertreter der „blending theory“) Prozesse der konzeptuellen Integration allein aufgrund introspektiv gewonnener Daten, dient der Einsatz einer Frame-Semantik als korpusanalytisches Instrument dazu, die Elemente der Repräsentationseinheiten auszuweisen und ihr Auftreten zu begründen. Die „blending theory“ vermag dies nicht zu
5. Frame-Semantik und Diskursanalyse: einige Schlussfolgerungen
439
leisten, weil sie über keine Mittel verfügt, mit denen konzeptuelle Strukturen bestimmt werden können. Abschließend möchte ich über die erzielten empirischen Ergebnisse hinaus einige generelle Schlussfolgerungen ziehen, die das Verhältnis von FrameSemantik und Diskursanalyse betreffen. Frames, hier verstanden als korpuslinguistische Beschreibungsformate, erlauben, den Einfluss von Diskursen auf die Bedeutung sprachlicher Diskurselemente systematisch zu beschreiben. Weder die beiden Inputs der analysierten Metapher noch die Metaphernbedeutung selbst wären ohne den Einbezug diskursiven Wissens erklärbar. Darüber hinaus besteht Grund zu der Annahme, dass sich der Einflussbereich von Diskursen auf alle Ebenen der Organisation sprachlicher Zeichen (d.h. auf symbolische Einheiten verschiedenen Abstraktionsgrades) erstreckt, weil die Inhaltsseite von Zeichen durch Frames strukturiert wird und zugleich in dem Maße variiert, wie sich die Strukturelemente von Frames (Füllwerte, Standardwerte) abhängig vom Diskurszusammenhang ändern. Frame-semantische Kategorien können somit als epistemologisches Werkzeug zum Einsatz kommen, mit denen sich über wort- und satzsemantische Analysen hinaus auch Diskurselemente wie Argumentationsmuster als komplexe Form-Inhaltspaare untersuchen lassen. In den Blick gerät damit eine historische Dimension der Bedeutungskonstitution, die sich auf der Basis großer Textkorpora quantitativ gestützt veranschaulichen lässt. Wird in solchen Korpusuntersuchungen auf frame-semantische Analysekategorien zurückgegriffen, sind dabei insbesondere die Strukturkonstituenten Leerstelle, konkreter Füllwert und Standardwert relevant. Leerstellen lassen sich auf verschiedenen Abstraktionsniveaus thematisieren, so einmal auf der Ebene von Prädikatorenklassen und einmal auf der Ebene einzelner Prädikatoren. In beiden Fällen können auf der Basis von quantitativen Analysen die dominanten Wissensaspekte bestimmt werden. Man sollte aber nicht die Grenzen einer frame-basierten Diskursanalyse aus den Augen verlieren. Aufgrund der Auftretenshäufigkeit von Prädikationen (konkreten Füllwerten) können lediglich probabilistische Aussagen über den Grad der kognitiven Verfestigung gefällt werden. Die Ermittlung der kognitiven Salienz bzw. der mentalen Repräsentation bestimmter sprachlicher Kategorien gelingt dagegen nur vermittels psycholinguistischer Untersuchungen (vgl. Baker 1999; Klein/Meißner 1999). Ferner gilt: Je höher der Abstraktionsgrad der analysierten Frame-Strukturen, d.h. insbesondere ihrer integralen Standardwerte, ist, desto schwerer dürfte es sein, diese frameanalytisch zu ermitteln. Denn Standardwerte können nur indirekt, nämlich über empirische Korpusuntersuchungen identifiziert werden. Gehören sie aber so fundamental zum historischen Selbstverständnis einer Sprachgemeinschaft, dass sie kaum eigens thematisiert werden, ist natürlich auch ihre empirisch-quantitative Erfassung schwierig.
440
VII. Frames in Textkorpora: die Metapher der Heuschrecke
Derart fundamentale Wissensstrukturen visiert offensichtlich Foucault an, dessen Diskursbegriff (in leicht abgewandelter Form) der Metaphernanalyse zugrunde gelegt wurde. Bekanntlich hat aber schon Foucault den Analysehorizont von sehr weitläufigen episteme (Foucault 1974) zu vergleichsweise kurzweiligen Diskursen einschränken müssen. Mit einer Frame-Semantik werden nun noch flüchtigere Diskursformationen untersucht. So entspricht die Menge all jener Leerstellen eines Frames, die mit Instanzen bedient werden, dem diskursspezifischen „Kontextualisierungspotential“ (Fraas 1996a, S. 5) eines frame-aktivierenden sprachlichen Ausdrucks. Prädikationen, die sich nicht einem dieser Prädikationstypen (Leerstellen) zuordnen lassen, sind natürlich nicht unmöglich, tragen aber nichts zum Diskurs bei, d.h. sie werden in der öffentlich-diskursiven Verhandlung ‚überhört‘ und marginalisiert. Funktional scheint dies durchaus einem historischen Apriori nahe zu kommen, wie es Foucault bestimmt, nämlich als „Bedingungen des Auftauchens von Aussagen“94 (Foucault 1981, S. 185). Entsprechend stellt die Menge aller in diesen Leerstellen instantiierten Werten den tatsächlichen Diskurs dar, also das ausgeschöpfte Bedeutungspotential. Diskursive Regelmäßigkeiten zeichnen sich schließlich dort ab, wo sich entweder aufgrund einer hohen Type-Frequenz Wissensaspekte (d.h. Leerstellen in Gestalt von Prädikatorenklassen) verfestigen oder sich aufgrund einer hohen Token-Frequenz Standardwerte herausbilden. Das historische Apriori entfaltet seine normative Kraft dabei in dem Maße, wie der Grad an Verfestigung die kognitive Salienz der Wissensaspekte und Standardwerte anzeigt. Diese genannten Aspekte sind nur als eine Auswahl möglicher Anknüpfungspunkte der Frame-Semantik an die Diskursanalyse Foucaultscher Prägung zu verstehen. Mittels Frames lässt sich jedenfalls empirisch untersuchen, inwiefern der Diskurs eine eigene ‚Realität‘ beim Zeichenverstehen und mithin eine kognitive Präsenz aufweist, die nicht zuletzt in Prozessen der Bedeutungskonstitution demonstriert werden kann.
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Mit „Aussagen“ meint Foucault nicht den propositionalen Gehalt einzelner Sätze, sondern inhaltlich-epistemische Konvergenzpunkte verschiedener Sätze, Texte und nicht-sprachlicher Wissenselemente (wie Architekturen und Praktiken). Busse (etwa in 2007b) spricht deshalb von „Wissenssegmenten“.
Zusammenfassung und Ausblick In der vorliegenden Arbeit habe ich Grundzüge einer semantischen FrameTheorie erarbeitet und im übergeordneten Zusammenhang einer holistischen Sprachtheorie diskutiert. Im Anschluss an Fillmore (1985) liegt der Arbeit ein doppeltes Verständnis von Frames zugrunde. Einerseits gelten Frames als konzeptuelle Wissensstrukturen, die den Gebrauch sprachlicher Ausdrücke motivieren sowie das Verstehen sprachlicher Bedeutungen ermöglichen. Andererseits dienen Frames als Analyseinstrumente, um konzeptuelle Wissensstrukturen empirisch zu untersuchen. Beide Perspektiven sind im gleichen Maße berücksichtigt worden. In sprachtheoretischer Hinsicht ist die vorliegende Arbeit als ein großangelegtes Plädoyer für eine konzeptualistische Semantiktheorie zu verstehen, die dem Umstand Rechnung zu tragen versucht, dass Menschen in konkreten Kontexten Sprache verwenden und beim Verstehen von Sprache auf alle Wissensressourcen zurückgreifen, die ihnen zur Verfügung stehen. Sprachfähigkeit ist nach diesem Verständnis aufs Engste mit allgemeinen kognitiven Fähigkeiten verknüpft, wie etwa die zu kategorisieren, zu schematisieren und Vordergrund/Hintergrund-Unterscheidungen zu treffen. Im Mittelpunkt der Untersuchung standen kognitive Aspekte, die die Erfassung sprachlicher Bedeutungen betreffen. Die wichtigsten Ergebnisse lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: 1) Ein grundsätzlicher kognitiver Aspekt betrifft die Frage, wie es unserem kognitiven System möglich ist, sprachliche Bedeutungen als gestalthafte Einheiten gleichsam auf einen Schlag zu erfassen, ohne dass eine große Menge (potentiell) verstehensrelevanter Wissensaspekte verloren geht. Die in dieser Arbeit angebotene Antwort lautet, dass wir über eine Vielzahl wohlstrukturierter konzeptueller Wissenseinheiten, so genannter „Frames“, verfügen, die deswegen schnell und ohne großen kognitiven Aufwand verfügbar sind, weil sie in typisierter Gestalt im Langzeitgedächtnis abgespeichert sind. Diese Frames bestehen aus drei Strukturkonstituenten, aus ‚Leerstellen‘, ‚Standardwerten‘ und ‚konkreten Füllwerten‘. 2) Frames schaffen Kohärenz zwischen scheinbar Zusammenhangslosem. Aktivierte Frames sorgen dafür, dass „Sinnkonstanz“ (Hörmann 1994, S. 179212) beim Sprachverstehen nicht nur aufrechterhalten wird, sondern überhaupt erst entstehen kann. Ein aktivierter Frame stellt eine Fülle von Wissenselementen (Standardwerten) bereit, die potentiell verstehensrelevant wer-
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den können. Der Frame „Auto“ eröffnet beispielsweise semantische Anschlussmöglichkeiten, die z.B. typische Bestandteile von Autos, die typische materielle Beschaffenheit und Größe, typische Funktionen oder den typischen (materiellen und ideellen) Wert von Autos betreffen können. Ist der Frame „Auto“ einmal aktiviert, lassen sich die kursiv gesetzten Ausdrücke in den Beispielen (1) bis (6) problemlos verstehen: (1) (2) (3) (4) (5)
Der Tankdeckel ist offen. (Bestandteil) Beim Unfall gab es nur Blechschaden. (materielle Beschaffenheit) Der Parkplatz ist zu klein. (Größe) Ich benötige nur fünf Minuten bis zur Arbeit. (Funktion) Ich träume von einem Ferrari (aber kann mir keinen leisten). (ideeller und materieller Wert)
Jeder kursiv gesetzte Ausdruck akzentuiert mindestens denjenigen Wissensaspekt (Leerstelle) des Auto-Frames, der in Klammern hinzugefügt ist. Zugleich aktiviert jeder der Ausdrücke selbst einen Frame. So ist, um nur das erste Beispiel herauszugreifen, der Frame „Tankdeckel“ seinerseits hinsichtlich Leerstellen wie „materielle Beschaffenheit“, „Größe“, „Funktion“, „materieller Wert“ und vielen anderen mehr spezifiziert. 3) Um verstehensrelevantes Wissen dieser Art zu erfassen, müssen keine ‚Ebenen‘ der Wissensorganisation durchlaufen werden, wie Vertreterinnen und Vertreter modularer Bedeutungstheorien behaupten. Sowohl empirische als auch grundlagentheoretische Untersuchungsergebnisse legen vielmehr den Schluss nahe, dass wir bei der „Suche nach Sinn“ (Bartlett 1932) Frames schon während der Rezeption sprachlicher Ausdrücke („on-line“) aktivieren und so von Anfang an auf Wissen ganz unterschiedlicher Art zugreifen. Grundlagentheoretisch untermauert wird diese holistische Position dadurch, dass sich zwischen Sprachwissen und Weltwissen keine scharfe Trennlinie ziehen lässt. Alle Kriterien, die in der Literatur angeführt werden, um den Sonderstatus von Sprachwissen zu legitimieren, erweisen sich als nicht haltbar (vgl. Kap. III.1). 4) Zu einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber einer syntaxorientierten Semantiktheorie führte folgender empirischer Befund: Geht man mit einem modularen Ansatz davon aus, dass zunächst auf einer Ebene rein sprachlichen Wissens durch das so genannte „syntaktische Fügungspotential“ strukturell das prädeterminiert wird, was auf der Ebene des konzeptuellen Wissens lediglich ausdifferenziert werden muss, so kann ein Großteil (potentiell) verstehensrelevanten Weltwissens nicht erfasst werden, weil sich dieses nicht in die prädeterminierte Struktur einpassen lässt. Die Möglichkeiten, die demnach so genannte „semantische Repräsentationen“ zur konzeptuellen Ausdifferenzierung bereitstellen, reichen nicht aus, um das Verstehen eines sprachlichen
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Ausdrucks hinreichend zu erklären. Diese Erkenntnis lässt sich dahingehend verallgemeinern, dass in dem Maße semantisch relevante Wissensaspekte unberücksichtigt bleiben, wie sich eine Bedeutungstheorie an syntaktisch und komponentensemantisch motivierten Vorgaben wie z.B. „Selektionsbeschränkungen“ orientiert, die den Bereich verstehensrelevanten Wissens eingrenzen. 5) Die in dieser Arbeit vorgelegte Frame-Theorie schließt dagegen keine Bezugsstellen sprachlicher Ausdrücke aus, auch nicht solche, die präsupponierte, hintergründige Wissensaspekte betreffen. Im Zusammenhang mit einer solchen problematischen Fundierung der Semantik durch die Syntax spricht Jackendoff (2003, S. 654) von einem „syntaktozentristischen Fehlschluss“. Ein abgeschwächter „Syntaktozentrismus“ betrifft auch Fillmores Kasusgrammatik, insofern sich diese an valenzbedingten Tiefenstrukturen („Tiefenkasus“) sprachlicher Ausdrücke ausrichtet. Die ‚semantische Wende’ hat Fillmore (1985) mit der Programmatik einer „Understanding-Semantics“ vollzogen. Selbst von Polenz (1985) verfährt in seiner Studie zur deutschen Satzsemantik in gewisser Hinsicht syntaktozentristisch, obwohl sich sein Ansatz gerade nicht an syntaktisch ausdrückbaren Ergänzungen und Angaben orientiert, die ein Verb fordert. Dennoch verfehlt von Polenz sein Ziel, alle Bezugsstellen zu erfassen, die in einem Satz explizit und implizit ausgedrückt sind, weil er lediglich Fillmores Liste möglicher Tiefenkasustypen um weitere semantische Rollen ergänzt. 6) Das holistische Gegenmodell zur modularen Ebenen-Theorie habe ich mit der Metapher des „Verstehensraumes“ genauer zu beschreiben versucht, die auf den Philosophen Christoph Demmerling (2002) zurückgeht. Um einen sprachlichen Ausdruck zu verstehen, bildet das Gesamt desjenigen Wissens den Zugriffshorizont, das einem Sprachbenutzer oder einer Sprachbenutzerin zu einem Zeitpunkt zur Verfügung steht. Der Raum des Verstehens ist ein mehrdimensionales Voraussetzungsgefüge, innerhalb dessen Sprachverstehen erst möglich wird. So setzt Sprachverstehen die Fähigkeit voraus, Situationen mit allen Sinnen wahrnehmen und sprachliche Ausdrücke mit allen möglichen Objekten unserer sinnlichen Erfahrung in Beziehung setzen zu können. Genauso wichtig ist das Vermögen, sich affektiv auf sprachliche Äußerungen beziehen sowie Erfahrungen einbringen zu können, die unmittelbar mit unserer leiblichen Verfasstheit (in anatomischer, physiologischer, neurologischer und ontogenetischer Hinsicht) zusammenhängen. 7) Aus der psycholinguistischen Inferenzforschung liegt empirische Evidenz dafür vor, dass der Verstehensraum die relevante Bezugsgröße beim Interpretieren sprachlicher Ausdrücke darstellt. Ich habe wichtige empirische Ergebnisse der Inferenzforschung skizziert, die deutlich machen, dass Personen auf ihr Hintergrundwissen nicht nur dann zurückgreifen, wenn es lokale Verstehenslücken (wie koreferentielle Verknüpfungen) zu überbrücken gilt.
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Vielmehr betreffen Inferenzen ebenso die globale Textkohärenz (Intentionen des Autors, thematische Bezüge usw.) sowie situative Faktoren (wie Personen-, Zeit-, Ortsdeixis). Graesser, Singer und Trabasso (1994) und Graesser, Millies und Zwaan (1997) unterscheiden auf der Basis psycholinguistischer Untersuchungsergebnisse zwischen einer ganzen Reihe von Inferenztypen. Zu einer vergleichbaren Typologie verstehensrelevanten Wissens kommt Busse (1991) in einer textlinguistischen Studie. Die ermittelten Wissenstypen sind integrale Bestandteile des Raumes des Verstehens. In diesem Verstehensraum bilden sie jedoch keine amorphe Masse, sondern sind in Frames so organisiert, dass auf sie effizient ‚zugegriffen‘ werden kann. Ein Defizit psycholinguistischer Inferenztheorien sehe ich allerdings darin, dass bislang die Forschungsergebnisse kaum dazu genutzt wurden, genuin bedeutungstheoretische Probleme zu lösen. Entsprechend mangelt es an bedeutungs- und sprachtheoretischer Reflexion über das eigene Vorgehen. Offen ist etwa, welches zeichentheoretische Grundmodell den Studien zugrunde liegt und welche sprach- und kognitionstheoretischen Konsequenzen die empirischen Ergebnisse im Einzelnen mit sich bringen. 8) Über die Annahmen der psycholinguistischen Inferenztheorie hinaus habe ich versucht darzulegen, dass sich auch die Konstitution eines sprachlichen Zeichens inferentiell vollzieht. Das zeigt sich vor dem Hintergrund des so genannten „symbolischen Prinzips“ der Kognitiven Grammatik Langackers (1987). Dem symbolischen Prinzip zufolge lässt sich die Struktur der menschlichen Sprache erschöpfend als ein Inventar von Form-Inhaltspaaren (variierenden Abstraktionsgrades), so genannten „symbolischen Einheiten“, beschreiben. Eine inferentielle Beziehung betrifft einmal die Verbindung einer sprachlichen Form mit einer sprachlichen Bedeutung. So wird beispielsweise die phonologische Form [hund] mit dem semantischen Gehalt [HUND] aufgrund der Kenntnis der entsprechenden Konvention verbunden. Betrachtet man allein die Bedeutungsseite der symbolischen Einheit, bilden sich außerdem syntagmatisch komplexere Einheiten, wie etwa das Wort Hunde, inferentiell heraus. Indem [HUND] mit der Plural anzeigenden semantischen Einheit [-E] kombiniert wird, entsteht die komplexe Einheit [[HUND]/[E]]. Eine dritte inferentielle Beziehung betrifft paradigmatische Beziehungen. Der semantische Gehalt [HUND] – genauso wie der Gehalt der komplexen Einheit [[HUND]/[E]] – wird inferentiell konstituiert, da er Beziehungen zu zahlreichen anderen semantischen Einheiten unterhält, wie etwa zu den Einheiten [TIER] oder [BELLEN]. Frames sind jene Einheiten, die die semantische Seite einer symbolischen Einheit strukturieren. 9) Auf der Basis des zeichentheoretischen Grundmodells Langackers habe ich zwei kognitive Prozesse voneinander unterschieden, die an der Bedeutungskonstitution beteiligt sind. Zum einen ruft die Formseite eines sprachlichen Zeichens einen Frame auf. Diesen Prozess des Aufrufens bezeichnet
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Fillmore auch als „Evozieren“. Aufgerufen wird ein Set an Standardwerten, das einen Frame spezifiziert. Das Wort Auto ruft etwa einen Frame auf, der z.B. in der Leerstelle „materielle Beschaffenheit“ den Standardwert „Blech“ und in der Leerstelle „Bestandteil“ den Standardwert „Motor“ aufweist. Von dem Prozess des Aufrufens ist der des Abrufens zu unterscheiden. Werden zwei (oder mehr) Frames miteinander verbunden, entstehen neue Leerstellen, die mit Standardwerten zu besetzen sind. Solche Standardwerte rufen wir aus dem Gedächtnis ab. So mag die Verbindung der Frames „Auto“ und „Delle“ in (6) dazu führen, dass der Standardwert „Unfall“ abgerufen wird. (6)
Das Auto hat eine Delle.
Aufrufen und Abrufen dürfen als verstehenskonstitutive kognitive Prozesse gelten. Die kognitive Eigenleistung der Sprachbenutzerin oder des Sprachbenutzers ist beim Prozess des Abrufens größer. 10) Jeder sprachliche Ausdruck ‚verfügt‘ über ein (variables) Bedeutungspotential. Aus frame-semantischer Sicht entspricht das Bedeutungspotential eines sprachlichen Ausdrucks jener Menge an Standardwerten eines aufgerufenen Frames, die möglicherweise in die Gebrauchsbedeutung des Ausdrucks eingeht. So gehören beispielsweise zum aufgerufenen Frame „Auto“ die Standardwerte „Tankdeckel“ (Bestandteil), „schnelles Transportmittel“ (Funktion) und „Blech“ (materielle Beschaffenheit). Zum Verstehen des Satzes (6) spielen aber offensichtlich die Standardwerte „schnelles Transportmittel“ und „Tankdeckel“ keine große Rolle. So wird beim Sprachverstehen prinzipiell immer nur ein Teil des Bedeutungspotentials sprachlicher Ausdrücke ausgeschöpft. 11) Frames stellen schematische Einheiten par excellence dar. An zahlreichen Beispielanalysen konnte aufgezeigt werden, dass Frames mit Schemata alle wesentlichen Eigenschaften teilen. Dazu gehört unter anderem, dass Frames gestalthaft auftreten, sich dynamisch verändern und über induktive und/oder abduktive Schlussprozesse erlernt werden. Ferner sind Frames über Kategorisierungslinks mit anderen Frames verbunden und mithin Teil eines umfangreichen konzeptuellen Netzwerkes. Dieses Netzwerk weist eine hierarchische Organisationsstruktur auf, die sprachlich den Charakter rekursiver Hyperonymie- bzw. Hyponymiebeziehungen hat. 12) Die hierarchische Organisation des Netzwerkes konnte dazu genutzt werden, die Leerstellen eines Frames systematisch zu bestimmen. Konerding (1993) hat hierzu ein Verfahren namens „Hyperonymtypenreduktion“ entwickelt. Die Ermittlung von Leerstellen eines Frames ist wichtig für den Einsatz von Frames als Analyseinstrumente.
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Leerstellen werden als mögliche Bezugsstellen begriffen, hinsichtlich derer sich das Bezugsobjekt eines sprachlichen Ausdrucks prädikativ näher bestimmen lässt. Leerstellen haben dabei den Charakter von Fragen, die sich sinnvoll bezüglich eines Referenzobjektes stellen lassen. So kann man mit Bezug auf das Referenzobjekt „Auto“ unter anderem sinnvoll fragen, welche materielle Beschaffenheit ein Auto hat, welchen ideellen Wert es (für eine Person) hat oder welche Funktionen es für jemanden erfüllt. Nicht sinnvoll sind dagegen z.B. Fragen nach den Tätigkeiten oder den Handlungsgewohnheiten eines Autos. 13) Ruft ein sprachlicher Ausdruck einen Frame auf, so entspricht dieser Akt des Frame-Aufrufens einer kognitiven Referenzhandlung. Das Wort Auto zu verstehen, heißt etwa, eine Referenz zur Vorstellungseinheit bzw. zum Frame „Auto“ herzustellen. Referenzhandlungen gelingen nur unter der Bedingung, dass bestimmte Leerstellen des aufgerufenen Frames mit Standardwerten besetzt sind. So würde im erwähnten Fall die Referentialisierung kaum gelingen, wenn z.B. keine Standardwerte für die Leerstellen „Größe“ und „materielle Beschaffenheit“ aktualisiert sind. Sprachlich treten Standardwerte als implizite Prädikationen auf. Eine die Auto-Größe betreffende implizite Prädikation wäre z.B. ist vier Meter lang; eine die materielle Beschaffenheit betreffende implizite Prädikation wäre besteht aus Blech. „Implizit“ nenne ich derartige Prädikationen deswegen, weil sie im Akt der Referentialisierung in Form von Standardwerten aus dem Gedächtnis abgerufen werden müssen. „Explizit“ ist dagegen eine Prädikation dann, wenn sie sprachlich vollzogen ist, so in Beispiel (6) die Prädikation hat eine Delle. 14) Im Rückgriff auf das in der Kognitiven Linguistik viel diskutierte „entrenchment“-Theorem konnte schließlich plausibel gemacht werden, wie Standardwerte entstehen. Standardwerte sind kognitiv verfestigte Prädikationen. Im Sinne von Keller (2003) sind sie Phänomene der dritten Art. Metaphorisch könnte man auch sagen: Standardwerte sind kognitive Trampelpfade. Dabei lassen sich zwei Arten kognitiver Verfestigungen unterscheiden. Eine hohe Type-Frequenz liegt dann vor, wenn sich eine Leerstelle (und mithin der ganze Frame) aufgrund von vielen unterschiedlichen, in die Leerstelle instantiierten Tokens verfestigt. Würde etwa in einer Sprachgemeinschaft auf verschiedene Art und Weise immer wieder der ideelle Wert eines Autos thematisiert werden, würde sich diese Leerstelle verfestigen. Im Fall einer hohen Token-Frequenz hingegen würde ein und dieselbe Instanz rekurrent die Leerstelle „ideeller Wert“ besetzen und sich so zu einem Standardwert verfestigen. 15) In der Forschung ist bislang der Tatsache nicht hinreichend Rechnung getragen worden, dass Frames Formate zur Repräsentation von Wissen sind und zugleich Instrumente zur Analyse von Wissen darstellen. Dass beide Aspekte sehr eng miteinander zusammenhängen und sich die frame-
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analytischen Kategorien als Analyseinstrumente eignen, konnte in einer umfangreichen Korpusanalyse zur Heuschrecken-Metapher exemplarisch gezeigt werden. Die Verfestigung von einigen Leerstellen des Metapher-Frames (im Sinne einer hohen Type-Frequenz) konnte genauso demonstriert werden wie die Herausbildung von Standardwerten durch eine hohe Token-Frequenz. In methodischer Hinsicht zeigte sich zum einen, dass der Einsatz der entwickelten frame-semantischen Analysekategorien dazu taugt, die Theorie der konzeptuellen Integration („blending theory“) korpusanalytisch zu operationalisieren und zu erweitern. Zum anderen vermag eine frame-gestützte Korpusanalyse einen wichtigen diskursanalytischen Beitrag zu leisten. So lässt sich darlegen, wie innerhalb eines Diskurses (verstanden als Menge von Texten mit gemeinsamem Themenbezug) Bedeutungen sprachlicher Ausdrücke systematisch variieren können, indem sich neue Standardwerte bestimmter Frames allmählich herausbilden. Die entwickelte Frame-Theorie darf in diesem Sinne als eine semantisch-epistemologisch ausgerichtete Form der Sprachanalyse verstanden werden. Insgesamt ist also die vorliegende Arbeit für grundlagentheoretische Überlegungen zur (kognitiven) Natur sprachlicher Bedeutungen genauso relevant wie für empirische Einzelfallstudien. Einen Vorteil der FrameSemantik sehe ich darin, viele linguistische Phänomene einheitlich, d.h. mit demselben methodischen Instrumentarium und unter denselben kognitionsund sprachtheoretischen Prämissen erklären zu können. In dieser Arbeit bin ich unter anderem auf Phänomene wie Referenz, Prädikation, Kohärenz, (indirekte) Anaphern, Sprachwandel, diskurssemantische Grundfiguren und Metaphern eingegangen. Darüber hinaus wurde am Rande, nämlich in Kap. VI.5.3, angedeutet, inwiefern Frames auch zur Untersuchung literarischästhetischer Texte eingesetzt werden können. Meines Erachtens eröffnet das vorgestellte frame-semantische Modell eine viel versprechende Perspektive zur Entwicklung einer kognitiven Ästhetik (vgl. hierzu auch Freeman 2007). Ging es in der vorliegenden Studie im Kern darum, Grundzüge einer empirisch einsetzbaren Frame-Semantik zu erarbeiten, besteht eine Aufgabe zukünftiger Untersuchungen darin, die vorhin erwähnten linguistischen Phänomene systematisch zu erörtern. Zu erforschen ist ferner, inwiefern sich Argumentationsmuster in frame-basierten Bedeutungsanalysen einbeziehen lassen. Dabei liegt es nahe, Argumentationsmuster als komplexe FormInhaltspaare zu verstehen, deren Inhaltsseite Frames strukturieren. Eine offene Frage ist außerdem, inwiefern Interjektionen symbolische Einheiten bilden. Spricht man ihnen nicht den Zeichencharakter ab, müsste auch die Inhaltsseite dieser Zeichen durch Frames organisiert sein. Weiterhin betrifft ein interessantes Untersuchungsfeld den Erwerb sprachlicher Bedeutungen. Es ist die Hypothese zu prüfen, ob Kinder und Erwachsene dadurch neue Bedeutungen (bzw. Bedeutungspotentiale) erlernen, dass sie sich ein System mögli-
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cher Prädizierungen aneignen, die mit der Formseite eines Ausdrucks verbunden werden können. Eine Bedeutung bzw. ein Bedeutungspotential zu erwerben hieße demnach, den Übergang von (quasi-)expliziten Prädikationen zu impliziten zu bewerkstelligen. Schließlich wären Korpusanalysen – wie der Metaphernanalyse in Kap. VII. – Untersuchungen individueller Verstehensprozesse und -leistungen an die Seite zu stellen. Dazu könnten psycholinguistische Priming-Experimente dienen. Möglich wäre so auch, empirisch abgesicherte Aussagen darüber zu fällen, inwiefern die korpusanalytisch ermittelten Ergebnisse bei einzelnen Sprachbenutzer(gruppen) eine kognitive ‚Realität‘aufweisen. Auch die sprachlichen Ausdrücke der vorliegenden Arbeit rufen Frames auf. An einer Stelle bemerkt Minsky, dass die hohe Kunst eines Autors darin bestehe, im Geist von Lesern bestimmte Prozesse zu aktivieren, Prozesse, die der Autor ebenso wenig kenne wie den Leser, in dessen Geist die Prozesse stattfinden. Aktiviert die vorliegende Arbeit also in diesem Sinne kognitive Prozesse, bleibt zu hoffen, dass Minsky Recht behält, wenn er – Marcel Proust zitierend – schreibt: Each reader reads only what is already inside himself. A book is only a sort of optical instrument which the writer offers to let the reader discover in himself what he could not have found without the aid of the book. (Minsky 1988, S. 247)
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Register Abduktion, abduktiv 117, 271, 289 abrufen 231-237, 339, 347-349 abstract domain 31 Abstraktion, Abstraktionsebene 265, 272ff. Agens 95-99, 328, 362, 379-380 Aktivierung, aktivieren 24, 223, 333, 379 Aktualisierung, aktualisieren 149, 211f., 260, 350-352, 379 Akzidenz 125ff. Alltagswissen 17, 69 Ambiguität 333, 361 analytisch 128-132 Anapher, anaphorisch 100-103, 337f. Annahme, siehe Hintergrundannahme Annotation 407ff. Antonymie 254 Argumentationsmuster, siehe auch Topos 212, 395-398, 439 Argumentstruktur 19, 62f., 73-75, 96, 114 Assoziation, assoziieren 146, 216, 221f. 230, 240, 252-254 Ästhetik, ästhetisch 3, 455 Attribuierung 328, 334-336 Attribut, attributiv 332, 341 aufrufen, siehe auch evozieren 41, 225, 231236, 255, 339 Auftretenshäufigkeit 151, 351-353, 440 Ausdrucksseite 181 Ausprägungsvariante 330-335 Aussagegehalt 285f. außersprachlich 16, 71, 91, 147, 165, 168f., 219-222, 353f. base, siehe Basis basic domain 29 Basis, siehe auch Figur-Grund 23, 30f. Basislevelkategorie 345-347, 404 Bedeutung 1ff., 60ff., 119ff., 173-246 Bedeutungsaktualisierung 60f., 80, 199, 379 Bedeutungskonstruktion 31f., 82f., 193 Bedeutungspotential 81f., 92, 237-245, 336, 341 Bedeutungsrelation 141, 254 Bedeutungsseite, siehe auch Inhaltsseite 183186, 191f., 240 Bewusstsein, Bewusstseinsschwelle 37, 249
Bezugsobjekt, siehe auch Referenzobjekt 12, 136, 139, 160, 286, 299ff. Bezugsrahmen, siehe auch Frame 299f., 303f. Bildschema 27f., 61, 146, 215, 281 bipolar 181, 208, 379 blended space, siehe auch konzeptuelle Verschmelzung 379-386 blending, siehe auch konzeptuelle Integration, konzeptuelle Verschmelzung 19, 378ff., 446f. Cognitive Grammar, siehe Kognitive Grammatik conceptual semantics 102f., 108-112 construal operation, siehe kognitive Operation construction grammar, siehe Konstruktionsgrammatik construction, siehe Konstruktion Container 61f. created prime 87, 128-132 cue validity 345 default value, siehe Standardwert Deixis, Deiktika 165, 298, 338, 407 Dekomposition 84, 89f., 102f., 114, 131, 135, 137 Determinativkompositum, siehe auch Kompositum 205, 332-334, 415 Diskurs, diskursiv 153, 212, 303, 375ff., 388-395 Diskursanalyse 369, 388-392, 438-440 Diskurselement 395f., 400-402, 405f., 447 Diskursgeschichte 394 diskurssemantische Grundfigur 395-405, 442 Diskurswissen 153, 155, 157, 387, 427 domain, siehe Domäne Domäne, siehe auch abstract domain, basic domain 20-29, 201, 331 Drei-Ebenen-Semantik 47, 92-103, 114, 126 Dualismus 51, 60 Dynamik, dynamisch 18, 49, 56, 66, 260262, 268f.
480
Register
Ebene, siehe Zwei-Ebenen-Semantik, DreiEbenen-Semantik, Mehr-Ebenen-Semantik Ebenen des Wissens 154 Einbettungsstruktur 149, 157, 178, 241 Einheit, siehe semantische Einheit, phonologische Einheit, symbolische Einheit embodiment 49, 65 emergentes Wissen, Emergenz 39, 197, 209, 347, 363f., 379-386 entrenchment, siehe auch kognitive Verfestigung 215, 343f., 353 enzyklopädisches Wissen, siehe auch Weltwissen 4, 17, 63f., 75, 102f., 119-142, 201, 287 Epiphänomen 178, 352, 360 Epistemologie, epistemologisch 21, 121, 150-158, 304, 367 Ereignis, siehe Gebrauchsereignis Erfahrung 24-27, 38-40, 64-68, 112, 132f., 213ff., 256, 260, 270, 355f. Erfahrungsdaten 14, 24, 37, 259 Erklärungsadäquatheit, erklärungsadäquat 36, 143 Erwartungsstruktur 266, 270, 285 Essenz, essentiell 125-128 Evokationspotential 193, 201 evozieren, siehe auch aufrufen 2, 154, 183, 231-237, 241f., 287, 293-299, 339f. experientialist cognition 64f., 112 explizite Prädikation 325-335, 358, 409, 419 Fähigkeit 25, 36, 59-61, 103, 112, 147-149, 197, 215, 249-252, 281, 381, 449 Figur/Grund 30, 90, 107, 110, 113, 224, 268 filler, siehe Füllwert, explizite Prädikation Finanzinvestor 334, , 425-432 fixed prime 88f., 95, 129-133 focal adjustment 43, 81 Form-Bedeutungspaar, siehe auch symbolische Einheit 49-51, 90f., 179f., 182, 195-197 Form-Inhaltspaar, siehe auch symbolische Einheit 144, 177ff., 198, 399, 439, 444 Frageaspekt, siehe auch Leerstelle 323, 329 Frame 7-58, 73ff., 179ff., 198-246, 266365, 369-375, 421ff. Frame-Element 18, 61, 78, 227f., 328, 372 Frame-Hierarchie 316, 372, 422 FrameNet 19, 372
Frequenz, siehe auch Token-Frequenz, TypeFrequenz 341-365, 386, 400, 402-406, 437 Füllwert 4, 13, 18, 100f., 241-245, 262, 266ff., 325-335 ganzheitlich 18, 41, 250, 269 gebrauchsbasiert 48, 106, 139, 143, 178 Gebrauchsbedeutung 199-202, 205, 214ff., 230f., 234, 241-246 Gebrauchsereignis, siehe auch Gebrauchsbedeutung 198f., 330, 353 Gedächtnis 214, 218, 249, 258-265, 353f. Geist 35f., 46, 64f., 109f., 120, 189 generativ 16, 46, 65, 67, 109, 178 generative Grammatik 44, 68, 131, 190 generisch 166, 172 generischer Frame 421-425 generischer space 279, 379-386 Gestalt, gestalthaft 14, 23, 25f., 111, 183, 223, 269-271, 276f. Gestaltpsychologie 30, 67, 111, 250, 252, 291, 299 Gewohnheit 252f. goal, siehe Ziel Handlungsrahmen 99 Heuschrecke 326ff., 368, 395-406, 425-438 Hintergrund 211-221, 230 Hintergrundannahme, siehe auch Standardwert 175, 225, 247, 293 Hintergrund-Frame 19, 22, 241 Hintergrundinformation, siehe Hintergrundwissen Hintergrundwissen 3f., 29, 32, 34, 41, 165, 238, 443 historisches Apriori 440 Holismus, holistisch 43, 52-66, 103-115, 121, 138ff., 179, 193 Hyperonymie, Hyperonym 191, 204, 272, 279ff., 310-315, 317ff., 349 Hyperonymtypenreduktion 252, 280, 308319, 412ff. Hyponymie, Hyponym 191, 204, 310f., 345, 349 ICM, siehe idealisiertes kognitives Modell idealisiertes kognitives Modell 25f., 31 image schema, siehe Bildschema Implikatur 188, 396 implizite Prädikation, siehe auch Standardwert 335-365, 411, 446 Induktion, induktiv 210, 271, 281 Inferenz 10, 77, 158-171, 175f., 193f., 196, 326, 338
Register Inferenzbasis 165 Inferenzbildung 159, 165f., 171, 258 Inferenztheorie 158, 161-166, 168f. inferieren 13, 24, 284f., 300 Informationsverarbeitung, siehe auch Sprachverarbeitung 36f., 157 Inhaltsseite, siehe auch semantische Einheit 206ff., 368, 405 Input 37, 158, 249, 354-356, 379-387, 422ff., 426ff. Input-Frame 421-425 Instantiierung, instantiieren 41, 100, 190, 206, 266, 270, 272, 285f., 357 Instanz, siehe auch Füllwert, Standardwert 12, 18f., 191ff., 200ff., 253ff. Integration, siehe konzeptuelle Integration Interpretation 61f., 64, 72, 77ff., 118, 234 Interpretationsvarianz 63, 85, 106f., 361, 363 Introspektion, introspektiv 167, 178, 213, 238, 384 Kasusrahmen 14-17, 224-228, 232, 303f., 361f. Kasustheorie 16, 301, 304 Kategorie 27f., 49, 58, 66, 179f., 192, 213, 250ff., 345 Kategorisierung, kategorisieren 41f., 110f., 131f., 248-255, 261f. Kategorisierungslink 51, 190-200, 212 Kausalität, kausal 89f., 99, 131, 255, 383 Kern, siehe semantischer Kern Kernbedeutung 71f., 95-99, 126 knowing-how, siehe auch Fähigkeit 43 knowing-that, siehe auch konzeptuelles Wissen 43 Kode, kodieren 199f., 207, 215, 238 Kodierbeziehung 231, 237f. Kognition 36f., 39f., 44f., 48, 67f., 110, 162, 248f., 265, 272, 376 Kognitionsmodell 19, 49, 59, 102, 104, 109f., 113f. Kognitionstheorie 43-52, 56f., 108ff. Kognitionswissenschaft 25, 35ff., 168, 248 kognitive Etablierung, siehe kognitive Verfestigung Kognitive Grammatik 51, 171-179, 248 kognitive Konsolidierung, siehe kognitive Verfestigung kognitive Kopplung 97 Kognitive Linguistik 46f., 48f., 51, 111f. kognitive Ökonomie 45, 189, 249, 260, 355 kognitive Operation 32, 37, 42, 44f., 103, 106f., 171f., 338f.
481
kognitive Präsenz 342, 365, 370, 396, 440 kognitive Realität 45, 95, 105 kognitive Repräsentation 37ff., 108ff., 167 kognitive Ressource, siehe Wissensressource kognitive Routine 44, 81, 170, 183, 196, 349-354 Kognitive Semantik 48, 53 kognitive Verfestigung 183, 207, 333, 341344, 347, 355-357, 375f., 406, 447 kognitiver Trampelpfad 348-356, 210 Kohärenz 31, 94, 160-164, 234-238, 298, 441 Kohärenzbildung 337ff. Kohärenzetablierung 162, 164, 278 Kommunikation 9, 66, 146, 151-156, 162 Kommunikationsbereich 390-394 Kommunikationssituation, siehe Situation Kompetenz 68, 178, 190, 197 Komponente, siehe semantische Komponente Komponentenstruktur 64, 107 Kompositionalität, kompositionell 47, 6769, 86, 133, 189, 191, 380 Kompositionalitätsprinzip 86, 133, 144 Kompositum, siehe auch Determinativkompositum, Kopulativkompositum 101, 105, 280, 334, 407, 415, 437 konkreter Füllwert, siehe Füllwert Konstante, siehe semantische Konstante Konstruktion 178, 180-200 Konstruktionsgrammatik 16, 19, 50f., 122, 171-181, 187, 196, 343 Kontext 95, 98, 118, 121, 127f., 130, 136, 138f., 140, 159, 219, 240f., 379 Kontextabhängigkeit, kontextabhängig 12, 105, 201, 230 Kontextualisierung 106f., 234, 327f., 369 Kontextualisierungspotential 119, 315, 332, 440 kontextuelle Bedeutung 80, 201, 207f., 211, 220, 238 Kontiguität 252-257, 262, 268f., 372 Konvention, konventionell 8, 111, 182f., 189, 194, 198, 208, 212, 376, 399 Konventionalisierung, konventionalisieren 8, 197, 203, 206, 212, 233, 239, 261, 325, 340 konventionelle Bedeutung 201-209, 212, 214-220, 244 Konzept 29, 40f. Konzeptualisierung 12, 60, 76, 78, 100, 110, 112f., 199, 207, 230, 259, 291, 331, 383
482
Register
konzeptuelle Hierarchie 30 konzeptuelle Integration, siehe auch blending, konzeptuelle Verschmelzung 3234, 198, 207, 278, 364, 378, 380-382, 384, 421 konzeptuelle Metapher 61f., 83, 113, 125, 377, 384, 404 konzeptuelle Verschmelzung, siehe auch konzeptuelle Integration 110, 181, 379, 381, 437f. konzeptuelles Wissen 26, 37, 43, 46, 75, 95f., 135, 183, 218, 305 Kopulativkompositum, siehe auch Kompositum 332 Körper, körperlich 61, 64f., 131 Körper/Geist-Dichotomie 64f. Körpererfahrung 154, 156, 375 Korpus 287f., 389-394, 396, 401, 403, 407ff., 429ff. Kotext 29, 202, 207, 210 kulturelles Wissen, siehe auch enzyklopädisches Wissen 119, 125 Künstliche Intelligenz-Forschung 14, 17, 36 Langzeitgedächtnis 39, 43, 55, 160, 223, 261-264 Langzeitpotenzierung 355 Lebensform 120, 155 Leerstelle, siehe auch Frageaspekt, Wissensaspekt 4, 20f., 23, 236, 240-245, 261f., 266-282, 298-325, 347ff., 384f., 412ff. Lesart 62f., 75-80, 82, 85, 122 Lexem 56, 84, 139, 213, 396, 412 lexikalisch 49, 55, 57, 70, 107, 111, 181, 240, 334, 375, Lexikographie, lexikographisch 19-21, 123, 309 Lexikologie, lexikologisch 19-21, 309 Makroproposition 162, 164, 391 mapping, siehe auch Projektion 26, 32, 48, 376, 380f. Matrixframe 272f., 279f., 313-325, 338f., 369, 371-379, 384f., 406, 412-418, 422f. maximalistische Inferenztheorie, siehe auch Inferenztheorie 162-164 Mehr-Ebenen-Semantik, siehe auch ZweiEbenen-Semantik, Drei-EbenenSemantik 141-143, 149, 157, 178, 198, 241 mental space 19f., 29-35, 38f., 378f., 382 mentaler Raum, siehe mental space Metapher 47, 80, 375-387, 395ff., 432-438
Metaphtonymie 82, 256, 383 Metonymie 26-28, 76f., 80, 136, 383, 428, 435, 437 minimalistische Inferenztheorie, siehe auch Inferenztheorie 161f. Modul, modular 44, 46, 48, 57, 60, 62ff., 105-115, 122, 142-144, 178 Modularismus, modularistisch 45, 52-54, 59-66, 70f., 77, 93f., 102f., 109-111, 134, 141 Morphem 85, 181, 185, 190, 192, 232, 332334, 343 Motorik, motorisch, siehe auch Sensomotorik 46, 88, 109-112, 249, 346f., 350 Muster, siehe Argumentationsmuster, neuronale Muster, Strukturmuster Mustererkennung 107 nativistisch 104, 129, 197 Netzwerk 115, 157, 190-204, 210, 212-216, 270f. neurologisch 353, 355f. Neuron, neuronal 146, 352-356 neuronale Muster 197, 355 neuronales Netzwerk 355f. Neurophysiologie, neurophysiologisch 36f., 197 nicht-sprachlich, siehe außersprachlich Nomen 38, 190f., 308, 319, 328 Nominalisierung, nominalisieren 295f., 312f., 317, 358 Operation, siehe kognitive Operation pars pro toto, siehe Teil-Ganzes Partikel 156, 294, 296-298, 357ff. Patiens 95-99, 379f. Performanz 43, 178, 197 Perspektive 331, 335 Perspektivierung 81f., 330, 335f. Perzeption, perzeptuell 23-25, 37-40, 104, 109-114, 136, 249, 300f. Phänomen der dritten Art 351, 356 Phonem 250, 390 phonologische Einheit 184, 186, 193f., 199, 208, 230-235, 287, 349 phonologische Struktur 181-184 Phraseologismus 84 Plan 268f., 276f. Polysemie 75, 78, 92, 105-107, 126, 237f. Postulat der Verstehensrelevanz 3, 116, 120, 124, 143f., 150-166, 171, 225 Potential, siehe Bedeutungspotential, Kontextualisierungspotential, Prädikationspotential Prädikat 11f., 129, 286, 305, 437
Register Prädikation, siehe auch explizite Prädikation, implizite Prädikation 208-210, 241f., 286-288, 293, 304-312, 329ff., 363 Prädikationsanalyse 367, 395, 409-411 Prädikationspotential 214, 240-243, 304307, 311, 332, 414 prädikative Zuschreibung, siehe Prädikation Prädikator 314, 323-325, 404, 412, 416421, 429 Prädikatorenklasse 323f., 339, 412, 416, 419, 421, 426-437, 439f. Prädikatorenschema 414 prädizieren 244f., 286, 300, 307, 309, 314, 334, 409, 411 Pragmatik, pragmatisch 53, 133-140, 152, 158, 164, 168, 178, 184-186, 285f., 296 Präsupposition 90, 156, 401, 411 Praxis, Praktiken 37, 146, 215-217, 220 Primitiva, siehe semantische Primitiva Prinzip der kontextuellen Adaptabilität 140 Probabilismus, probabilistisch 368, 439 Profil, siehe semantisches Profil projected world, siehe projizierte Welt Projektion 28, 32f., 376f., 380, 385f., 436 projizierte Realität 168, 291 projizierte Welt 54, 291-293 Proposition, propositional 26-28, 145-149, 161f., 174, 217-221, 284-288, 307f., 327 Prototyp 26-28, 83, 114f., 296, 340f., 379f. Prototypizitätseffekt 27 Prozedur, siehe kognitive Operation prozedurale Routen 96-98 Psycholinguistik 143, 157ff., 194, 439 quasi-explizite Prädikation 293-299, 338ff. Quelldomäne 376-379, 403-405, 421 radikale Konstruktionsgrammatik 50, 179 Raum des Verstehens 142-152, 156, 171, 200f., 218, 220 real-world scene, siehe Szene Reduktionismus, reduktionistisch 3f., 37f., 92, 96-98, 119-123, 125, 142, 204, 300303 Referentialisierung 39, 159, 293, 299, 336, 381 Referenz 38f., 139f., 286-291, 293, 297, 304, 312, 327, 446f. Referenzobjekt 286-288, 293, 325f., 328334, 364, 393-396 Referenzpotential 73, 92f., 113, 119, 296 referieren 289, 292-298, 300-302 Regelsystem 64, 67f., 103, 110, 113, 144
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Rekurrenz, rekurrent 18, 148, 202f., 209212, 214, 216, 239, 270-272, 281, 341344, 347, 350, 355-357, 388, 431 Repräsentation, siehe auch kognitive Repräsentation Repräsentationsformat 22ff., 60, 63, 107f., 115, 168, 205f., 262, 271, 378 Rezeptionsästhetik 363f. Routine, siehe kognitive Routine Salienz 265, 280, 331, 338-340, 342, 344, 346f., 439f. Satz 17, 156f., 191f., 271, 286, 409 Satzausdrucksstruktur 303 Satzinhaltsstruktur 299, 301 scene, siehe Szene Schema 175, 204ff., 255-283, 325, 345, 368 Schema-Instantiierung 41, 101, 259, 334 Schema-Instanzbeziehung 190-207, 212f., 270, 310, 333, 341-344, 347, 350, 356f. Schematisierung, schematisieren 25, 107, 208f., 211, 214, 218f., 224f., 231f., 256, 260 Selektion 43, 70, 202, 259, 265 Selektionsbeschränkung 70, 135 semantische Einheit 181, 191, 194, 199203, 207, 209-232, 236ff., 247f., 333, 415 semantische Interpretation, siehe Interpretation semantische Komponente 46f., 53, 55, 62f., 71-95, 114, 126, 131f., 134-138, 140, 159, 206 semantische Konstante 63, 74-76, 78, 8082, 87-90 semantische Primitiva 68, 72, 87-93, 131133 semantische Repräsentation, siehe auch kognitive Repräsentation 60, 62f., 7076, 80ff., 92ff., 128 semantischer Kern 56, 125-128, 174 semantisches Profil, siehe auch Figur-Grund 30f., 38f., 81f., 139, 328, 431, 437 semantisches Wissen 59f., 68f., 122, 140, 142, 178, 190 Sensomotorik, sensomotorisch, siehe auch Motorik 61, 64, 67, 112f., 160 Sinn 47, 69, 133, 153, 200, 211 Sinnesmodalität 350 Sinnkonstanz 146, 235 Situation 85, 145, 147f., 165f., 176, 198, 215-222, 230, 232, 307 situatives Setting 220, 222
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Register
situierte Inferenztheorie, siehe auch Inferenztheorie 164-166 Skript 17f., 28f., 166, 235f., 276 slot, siehe Leerstelle source domain, siehe Quelldomäne speichern 36, 265, 353 Spezifizierung, spezifizieren 28, 63, 72, 86, 99, 201f., 213, 255f., 280, 305, 331-336 Spracherwerb 143, 281, 447 Sprachfähigkeit, siehe Fähigkeit Sprachgebrauch 48f., 178, 280, 344, 347, 352, 399 Sprachgemeinschaft 201-203, 210, 234, 239f., 308f., 439, 446 sprachliches Wissen, Sprachwissen 43, 62, 69-72, 75, 81f., 129, 133f., 141f., 150, 176, 178, 193, 197 sprachliches Zeichen 4, 49, 104, 120, 139, 150f., 157-171, 176f., 195f., 239f., 262, 284, 288, 361, 405 Sprachthematisierung 401-403 Sprachverarbeitung, siehe auch Informationsverarbeitung 75, 107, 112, 166 Sprachwandel 348, 350-352 Sprachwissen, siehe sprachliches Wissen Sprechakt 200, 209, 286 Sprechereinstellung 370 Standardannahme, siehe auch implizite Prädikation 23-25, 115, 210, 229, 244, 374 Standardinterpretation 139f. Standardprädikation, siehe implizite Prädikation Standardwert, siehe auch implizite Prädikation, Standardannahme 13, 207-221, 240-246, 266, 270, 291, 335-365 Strukturkonstituente 4, 13, 24f., 261f., 266270, 291ff., 406 Strukturmuster 268f., 275f. Subjekt 70, 129, 135, 187f., 191f., 286, 295 Subslot 316, 328-330 Substantivtyp 313-315, 325 Superframe 316, 418, 422-424 symbolische Einheit, siehe auch FormBedeutungspaar, Form-Inhaltspaar 113, 177, 179-196, 198-200, 207-211, 215-217, 230f., 233-237, 368, 444 symbolische Struktur 27f., 183, 206 symbolisches Prinzip 176-179, 186, 189, 240 Synonymie, synonym 129f. Syntaktozentrismus 109, 228, 443
Syntax 49, 68-70, 96, 102, 109, 111, 135, 186 synthetisch 128-130, 132 Szene 16, 83, 148, 221-229, 257, 293 target domain, siehe Zieldomäne Teil-Ganzes 41, 80, 163, 168, 281 Text 158, 161, 163, 175, 232-235, 263, 284, 389f. Theta-Raster 96, 100 Tiefenkasus 15f., 225-227, 308 Token 143, 168, 232, 254, 347 Token-Frequenz 342-351, 361, 363, 386, 400, 403f., 436-440 Topos 212, 390 TPA-Modell 109-112 Trampelpfad, siehe kognitiver Trampelpfad tripartite parallel architecture, siehe TPAModell Type-Frequenz 342-344, 347f., 357, 361, 363f., 373, 385f., 402f., 431, 434, 436 unit, siehe Einheit Universalie 56, 75 unterspezifiziert 24, 63, 81, 95, 201, 237, 388 usage event, siehe Gebrauchsereignis usage-based, siehe gebrauchsbasiert Valenz 14-16, 225f., 228, 299f. Verarbeitungsprozess 77, 113, 259, 273 Verarbeitungstiefe 94, 344 Verb 23f., 70, 101, 148, 191f., 216-228, 244, 305, 329, 371f., 418-421 Verstehen, siehe Postulat der Verstehensrelevanz, Raum des Verstehens verstehensrelevantes Wissen 61, 92, 114, 121, 142ff., 153-157, 167, 177, 186, 197, 225-229, 299, 391 Verstehensrelevanz, siehe Postulat der Verstehensrelevanz Vordergrund-Hintergrund, siehe auch FigurGrund 30, 90, 187, 197 Vorstellungseinheit 10, 446 Wahrnehmung, siehe auch Perzeption 23-25, 155, 164f., 252, 254f., 267, 269-271, 292, 347 Weltwissen, siehe auch enzyklopädisches Wissen 17, 46, 68, 71f., 74, 93f., 101, 119-142, 153ff., 170, 175ff., 211, 284 Wert, siehe Füllwert, Standardwert Wissen, siehe enzyklopädisches Wissen, konzeptuelles Wissen, Sprachwissen, Weltwissen
Register Wissensaspekt, siehe auch slot, Frageaspekt 12, 62, 136f., 202ff., 225, 263f., 281, 314, 331, 334, 347, 374, 384f., 406, 421f., 427f., 434-440 Wissensdomäne, siehe Domäne Wissensebenen 154 Wissenselement 32f., 118, 233, 329, 379 Wissensmodus 32, 131, 357f. Wissensrahmen, siehe Frame Wissensrepräsentation 17, 32, 37, 147, 178 Wissensressource 66, 161, 181 Wissenstypen 155 Wort 9f., 22f., 41, 61, 136, 147, 181, 190192, 210, 214, 232f., 288, 294f., 325f., 357f.
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wörtliche Bedeutung 79, 118, 182 Zeichen, siehe sprachliches Zeichen Zeichentheorie, zeichentheoretisch 111, 138, 159, 173ff., 189, 194, 230, 248, 326 Ziel 276f. Zieldomäne 376-379, 390, 403 Zwei-Ebenen-Semantik, siehe auch DreiEbenen-Semantik, Mehr-EbenenSemantik 46-48, 52f., 60, 64, 67ff., 7173, 75-77, 79f., 87, 92-98, 114, 123-125