Das Wissen der
Wildnis
Botschaften der Hoffnung und Harmonie für eine lebenswerte Zukunft
Lehrjahre eines spiritue...
96 downloads
924 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Das Wissen der
Wildnis
Botschaften der Hoffnung und Harmonie für eine lebenswerte Zukunft
Lehrjahre eines spirituellen Kriegers Zweite Auflage
Scanned by Jingshen
Ansata-Verlag Rosenstraße 24 CH-3800 Interlaken Schweiz 1994
Aus dem Amerikanischen übertragen von Thomas Lindquist Lektorat: Elisabeth Hämmerling
Titel der Originalausgabe: THE JOURNEY A Message of Hope and Harmony for our Earth and our Spirits Originally published by The Berkley Publishing Group 200 Madison Avenue, New York, N. Y. 10016, USA Copyright © 1992 by Tom Brown Deutsche Ausgabe: Copyright © 1993 by Ansata-Verlag, Interlaken Alle Rechte vorbehalten Umschlagbild: Robert Wicki Satz: Jung Satzcentrum GmbH, Lahnau Druck: Kösel GmbH & Co., Kempten/Allgäu ISBN 3-7157-0170-6
Inhalt
Einleitung
7
1. Geheimnisse des Visionärs
15
2. Suche nach der inneren Vision
35
3. Suche nach der Läuterung
65
4. Geistige Kommunikation: Ruf und Antwort
81
5. Geist-Reisen in die andere Wirklichkeit
103
6. Was die Zukunft wahrscheinlich bringen wird
127
7. Zeitreisen in die Vergangenheit und Zukunft
153
8. Die Kraft des Geistes und ihre Wirkung
175
9. Dualität: Grenzgänger zwischen zwei Welten
201
10.Wasser – das kostbare Blut des Lebens
229
11.Vier warnende Visionen vom Ende der Menschheit
257
12.Giftige Luft und verseuchte Erde
269
13.Einkehr in die Höhle der Ewigkeit
283
Einleitung
Großvater kam aus dem südlichen Westen des Landes; nie hatte er ein dauerhaftes Zuhause gehabt. Er war ein Wanderer, ein Pilger der Wildnis, ein Lehrer und Sucher nach Wahrheit. Er war geschult in den physischen Fähigkeiten des Überlebens, des Spurenlesens und auch der tiefen Bewußtheit, denn er lebte sie jeden Tag. Er hatte kein anderes Zuhause als die Wildnis, und diese Fähigkeiten gaben ihm Freiheit — Freiheit von Stamm und Gesellschaft, denn sie erlaubten ihm, durch stoffliche und durch geistige Welten zu wandern, ohne Einschränkung. Großvaters Leben war eine einzige, anhaltende Suche nach Wahrheit, jener gemeinsamen Wirklichkeit, die alle Philosophien und Religionen verbindet. Und was er suchte, das war der reine, lautere Mensch — frei von Sitten und Bräuchen, von Zeremonien und Dogmen, die nur die Wahrheit verzerren oder entstellen. Die Wildnis war sein Tempel und sein Lehrer, und dort regiert nur der Schöpfer und unser Herz. In dieser Lauterkeit der Wildnis, wo Großvater alles lernte und alles erprobte, fand er die Wahrheit. Hier fand er auch Einfachheit, und diese Einfachheit war es, die er lehrte — zusammen mit der Wahrheit. Aufgewachsen war er bei einem Volk, das bis heute keine Grenzen, keine Einschränkung des Lebens kennt. Als er noch ein Kind war, flohen seine Leute in die Berge und Wüsten des nördlichen Mexiko. Hier lernte er zu überleben, Spuren zu lesen und sich des Lebens nicht nur auf physischer Ebene bewußt zu sein, sondern auch auf einer höheren geistigen Ebene. Anfangs war Großvater ein Pfadfinder und Kundschafter seines Volkes gewesen; er konnte mühelos überleben, wo andere zugrunde gegangen wären. Seine Fähigkeiten bewahrten sein Volk vor Unfreiheit und Hunger, und sein Können war legendär. Seine Kenntnisse im Spurenlesen und seine Kraft der Wahrnehmung waren beispiellos, noch bevor er seinen zwanzigsten Winter erlebte. Dennoch wußte er, auch in den Jahren seiner intensiven Schulung, daß seine Bestimmung im Reich des Geistigen lag. Großvater hatte in seiner Jugend viele Visionen, doch keine war so eindringlich wie die Vision des Kriegergeistes und des Weißen Koyoten. Die Vision führte ihn zur Meisterschaft in allen physischen Fertigkeiten des Überlebens, des Spurenlesens
und des bewußten Lebens, so daß er in einem harmonischen Gleichgewicht mit der Schöpfung leben konnte. Er war Kundschafter seines Volkes. Auch wurde ihm in der Vision kundgetan, daß er alle die alten Traditionen lernen und weiterführen solle, auf daß sie den Enkeln vermittelt werden und nie verloren gehen können. Nur durch solche physischen Fähigkeiten kann man wahre Freiheit finden, die es dem Suchenden erlaubt, in die Welt des Geistigen einzutreten, ohne Beschränkung durch die Gesellschaft. Die Vision gebot ihm auch, er müsse lernen, ohne Mühsal oder Ablenkung in den Tempeln der Schöpfung zu leben. Es gab auch einen traurigen Teil seiner Vision. Großvater erhielt den Befehl, sein Volk zu verlassen und mehr als sechzig Winter lang nach spiritueller Wahrheit zu suchen. Seine Vision gebot ihm die Suche nach Einfachheit in der Weisheit des Geistes, und nach solcher Einfachheit sollte er suchen. Er sollte die gemeinsame Wahrheit in allen Religionen, Glaubensrichtungen, Philosophien und Lehren finden und die menschlichen Gebräuche und Zeremonien ablegen, um die fundamentale Wahrheit zu finden, die lautere Wahrheit, die alle Dinge verbindet. Es war ein lebenslanges Ringen für ihn, diese Wahrheit zu finden, diese Lauterkeit - ein Ringen, für das er sein Leben hingab. Er legte vor dem Schöpfer ein Gelübde ab, daß er sich gänzlich der Aufgabe widmen und all jene Dinge aufgeben wollte, an denen die Menschen - gewiß auch er - selbstsüchtig hingen. So wanderte er mehr als sechzig Jahre lang durch die Landstriche Nordamerikas und bis hinunter nach Südamerika, stets auf der Suche nach Wahrheit. Er blickte hinter die Fassade der Menschen, um die fundamentale Wahrheit zu finden. Großvater glaubte, der Mensch müsse alle Religionen, alle Philosophien, alle Lehren und Dogmen hinter sich lassen und einen lauteren Weg beschreiten, ohne die Entweihungen, Entstellungen und Ablenkungen der Menschen. Nur wer kein religiöses Spielzeug mehr braucht, hat die Freiheit, zur Lauterkeit geistigen Lebens zu finden. Alles andere sind nutzlose Krücken, Ballast und Fesseln, die unsere spirituelle Entwicklung hemmen. Großvater sagte: «Die Bräuche und Rituale der Alten sind nur eine Richtschnur für künftige Generationen. Sie zeigen, wohin der Mensch gegangen ist und wohin er gehen wird. Sie sind Lehrer, aber sie dürfen niemals Krücken sein, sie dürfen uns niemals versklaven. Die Schwierigkeit ist, daß wir leicht Sklaven des Rituals werden. Die Leute beginnen die Zeremonie anzubeten, sie glauben an den Schamanen statt an den Großen Geist. Die alten Riten und Zeremonien sollten also als Wegweiser genutzt werden, sie sollten erlernt,
abgewandelt, weitergegeben -und dann aufgegeben werden. Rituale sind etwas für die Schwachen im Geiste, die etwas brauchen, woran sie sich klammern können; etwas, das ihnen das Gefühl gibt, würdig und heilig zu sein. Für Menschen von spiritueller Lauterkeit ist es nicht nötig, sich dem Schöpfer zu nähern, beladen mit Dingen des Körperlichen, des Intellekts und der Emotionen; sie sollen lauter und rein zum Schöpfer kommen, ohne solche Krücken.» Großvater sagte auch: «Vergiß nicht, daß all diese machtvollen Dinge, besonders die Zeremonien - Worte, Lieder und Hymnen — größere Macht haben, solange sie vom Herzen kommen und reinen Herzens dargebracht werden. Sobald du anfängst, den Pfad des Geistigen zu wandeln, wird die Macht der Zeremonie dich lehren und leiten, wie es die Visionssuche tut. Sobald die Zeremonie dir aber den Weg zeigt und du die Krücken nicht mehr brauchst, sollst du die Zeremonie aufgeben. Eine Zeremonie brauchst du dann nur noch, wenn Menschen in deiner Umgebung das Bedürfnis haben, etwas Heiliges zu erleben.» Großvater ließ es nicht an Respekt fehlen vor Zeremonien oder religiösen Dingen, denn er glaubte, sie könnten den Weg zur Wahrheit lehren. War der Weg aber klar, dann sollte man diese Dinge aufgeben, sonst würden sie zu behindernden Krücken des Fleisches. Auch glaubte er, daß die wahren Tempel jene der Wildnis seien. Denn die Wildnis sei vom Schöpfer geschaffen und befolge alle seine Gebote. Großvater kam als alter Mann zu mir, oder ich kam zu ihm, wie auch immer. Ich weiß nur, daß er sagte, unsere Begegnung erfülle seine Vision des Weißen Koyoten. Ich war ein bereitwilliger Schüler, und er war ein bereitwilliger Lehrer. Beide rangen wir die zehn Jahre lang, die wir zusammen waren. Er rang darum, die Wahrheiten zu lehren, die nicht mit Worten erklärbar sind; und ich rang darum, diese Wahrheiten zu lernen. Ich wünschte mir verzweifelt, diese Wahrheiten zu erfahren; und er wünschte sich verzweifelt, sie weiterzugeben, bevor er ganz vom Körper zum Geist überging. Es fiel ihm leicht, mir die Kenntnisse des Überlebens, des Spurenlesens und der bewußten Aufmerksamkeit zu vermitteln, doch gleichzeitig war es schwer, mich die Weisheit des Geistes zu lehren. Wohl war ich noch sehr jung, aber wir kamen aus zwei verschiedenen Welten, zwei verschiedenen
Kulturen
und
konnten
uns
anfangs
kaum
verständigen.
Die
Wahrheiten des Geistes waren zunächst nicht leicht für mich zu verstehen. Doch in dem Maß, wie meine inneren Einsichten sich entwickelten und meine alten Werte und Überzeugungen von mir abfielen, wurde die Wahrheit leichter verständlich für
mich. Wenn ich auf unsere erste Begegnung zurückblicke, weiß ich, daß ich - auch wenn ich erst sieben Jahre alt war - bereits durch die Vorstellungen und Ideen dieser Gesellschaft verdorben war. Erst als ich in der Wildnis zu leben und im Geist der Wildnis zu denken begann, konnte ich endlich diese alten Überzeugungen ablegen. Und dennoch gab es manchmal Widersprüche in mir, denn während die Gesellschaft das eine tat, lehrte Großvater mich ein anderes, und oft gerade das Gegenteil. Es dauerte nicht lange, bis dieser Konflikt endete, denn die Bräuche und Dogmen der Gesellschaft waren Lügen; nur die Wildnis birgt die lautere Wahrheit. Bei all dem, was ich von Großvater lernte, über das Überleben, das Spurenlesen, das Leben im Einklang mit der Erde, war dies doch nur ein kleiner Teil seiner gesamten Lehren. Diese Fertigkeiten wurden zur Pforte zu höheren Dingen. Den größten Anteil an dem, was Großvater lehrte, hatten geistige Dinge. Der größere Teil des menschlichen Lebens, so glaubte Großvater, liege im Reich des Geistigen, und das Körperliche sei nur ein kleiner Teil des menschlichen Lebens. Er glaubte an die Dualität aller Dinge, wobei wir zugleich im Körper und im Geiste wandeln. Er glaubte auch an die Einheit alles Bestehenden und sah uns als einen Teil der Schöpfung und gleichzeitig die Schöpfung als einen Teil von uns; unser Leben fließt durch das Leben dieses Planeten Mutter Erde, und zugleich fließt die Erde durch uns hindurch. Diese «Lebenskraft» nannte er den «Geist, der sich in allen Dingen bewegt». Es gab also keine innere oder äußere Dimension, kein getrenntes Ich, nur eine beseligende Einheit. Seine spirituellen Lehren waren sehr einfach; ja, so einfach, daß die meisten Menschen sie nicht glauben oder akzeptieren wollten. Er hatte gesagt: «Der moderne Mensch kann die Welten nicht erkennen, diese Universen jenseits seines eigenen Ich. Nie wird das logische Denken dem Menschen erlauben, sich über das Ich oder das Körperliche zu erheben, denn nur hier fühlt das logische Denken sich sicher. Das moderne Denken ist ein Gefängnis der Seele; es steht zwischen dem Menschen und seinem spirituellen Geist. Das logische Denken kennt keinen absoluten Glauben; auch kennt es kein reines Denken, denn die Logik lebt von der Logik und kann nichts akzeptieren, was nicht zu erkennen und zu beweisen ist. So hat der Mensch ein Gefängnis für sich und seinen Geist geschaffen, weil es ihm an Glauben und Reinheit des Denkens fehlt. Der Glaube braucht weder Beweise noch Logik, aber der Mensch braucht Beweise, bevor er glauben kann. Der Mensch hat sich also einen Teufelskreis geschaffen. Denn wo Beweise nötig sind, kann es keinen Glauben
geben.» Zehn Jahre lang blieb ich bei Großvater und lernte, was immer er zu lehren bereit war. Zehn Jahre lang wanderte ich in die Wildnis und versuchte, noch mehr dieser einfachen Wahrheiten herauszufinden. Je mehr ich suchte, je länger ich in der Wildnis lebte, desto mehr Kraft fand ich in den Lehren Großvaters. Heute, aus der Wildnis in die Welt der Gesellschaft zurückgekehrt, stelle ich fest, daß diese Lehren noch stärker der Wirklichkeit entsprechen. Ich sehe eine Gesellschaft, die zerbricht, eine Gesellschaft, die nur für das Materielle lebt und nichts vom Geistigen weiß. Ich sehe Menschen, die sich verirrt haben, die nach sich selber suchen, ohne zu wissen, wohin sie sich wenden sollen, um einen spirituellen Lebensweg zu finden. Und ich sehe eine Welt, die sich rasch ihrem letzten Winter nähert, wo das Leben auf diesem Planeten, wie wir es heute kennen, bald zu Ende sein wird. Ich weiß nur, daß eine physische Veränderung nicht genügen wird. Die globale Gesellschaft braucht eine tiefgreifende Veränderung, und dazu gehört ein Bewußtseinswandel - zum spirituellen Bewußtsein. Der Mensch muß zur Erde zurückkehren und bald begreifen, daß er nicht außerhalb der Gesetze der Schöpfung leben kann, denn die Zeit wird knapp. Viele Religionen und Philosophien ersticken heute in überalterten Bräuchen und Zeremonien; Sie sind durch Dogmen gefesselt und können wegen all dieser spirituellen Vergiftung und Verzerrung nicht mehr wirksam sein. Für eine so verirrte Gesellschaft bringen diese versklavenden Dogmen nichts als Verwirrung. Darum erleben wir heute die Hinwendung zu anderen, nicht-traditionellen Religionen; wir pendeln von einer zur ändern und hoffen, eine zu finden, die uns die Wahrheit bringt. Zudem erleben wir, wie die Gesellschaft Teile der einen Religion herausgreift und sie mit Teilen von anderen Religionen kombiniert, in der Hoffnung, das Ergebnis werde uns Erkenntnis schenken und Antworten geben. Solche Kombinationen bringen leider nur Komplikationen und Verwirrungen, die verhängnisvoller sind als die ursprünglichen Formen. Was Großvater und mich betrifft, so sollte jede Philosophie auf Einfachheit, Hingabe und Erhobenheit zielen, auf für alle nachvollziehbare Erfahrungen. Wie oft sagte mir Großvater, ich solle solche Dinge getrost in den Tempel der Schöpfung bringen und dort erproben. Wenn sie wahr sind, wenn sie für jeden gültig sind, wenn sie einfach sind - dann sind sie eine universelle Wahrheit. Wenn diese Dinge im Tempel der Schöpfung erprobt werden und sich als ungeeignet erweisen,
dann sollten wir sie aufgeben; dann sind sie nur Produkte einer lebhaften Phantasie des Menschen. Der Mensch ist es, der die einfache Wahrheit kompliziert macht und verzerrt. Und das Bedürfnis des Menschen nach Komplikationen hat den Niedergang vieler
Religionen
verursacht.
Es
gibt
heute
kaum
zwei
Religionen,
die
Übereinstimmung erzielen; es wird über Dogmen gestritten, und die trennende Kluft wird immer breiter. Auch die Kluft zwischen der Religion und ihren Anhängern vergrößert sich. Warum? Die Religionen erfüllen nicht mehr die Bedürfnisse der Gesellschaft; sie sind nicht mehr wahr und lebensfähig. Sie sind im wesentlichen gescheitert; sie weigern sich, ihr kompliziertes Beiwerk aufzugeben und ihre Fehler zu berichtigen, um wieder wirksam zu werden. Darum war es Großvaters Anliegen, diese Komplikationen und Verzerrungen abzustreifen, um zur einfachen, wirksamen Wahrheit zu gelangen, jenem roten Faden von Wahrheit und Wirklichkeit, der alle Philosophien und Religionen der Welt durchzieht. Es wäre falsch zu behaupten, Großvater hätte mir nur die Bräuche, Traditionen
und
Zeremonien
der
amerikanischen
Ureinwohner
vermittelt.
Er
verwendete diese Dinge, aber nur als Pforte: als Zugang zu höheren Wahrheiten. Darum geht meine Suche noch heute weiter, selbst jetzt, da ich diese einfache Wahrheit in vielen Kursen lehre. Ich führe die Suche fort, wo Großvater sie aufgeben mußte, aber ich weiß, daß Großvater gar nicht aufgegeben hat, denn er fand die letzte Wahrheit, und seine Suche war damit beendet. Die tiefste Wahrheit ist, daß die Erde und mit ihr die Gesellschaft geheilt werden muß. Die Menschheit muß ein Gleichgewicht mit der Natur finden, in Harmonie mit ihr leben, und dabei ist die Suche nach dem Geist wesentlich wichtiger als das Streben nach materiellen Götzen. Wenn es uns nicht gelingt, uns zu verändern, und zwar uns schnell zu verändern, auf der physischen und spirituellen Ebene, dann wird uns bald der Letzte Winter bevorstehen.
1
Geheimnisse des Visionärs
Beinah vom ersten Augenblick an, als Rick und ich Großvater begegneten, wußten wir, daß er geheimnisvolle Fähigkeiten hatte. Wir wußten: er konnte mehr, als sich die meisten Menschen auch nur erträumen. Es waren nicht nur seine Fähigkeiten im Überleben und Spurenlesen, obwohl auch diese erstaunlich genug waren. Vor allem zeigte sich dies in seiner bewußten Aufmerksamkeit. Diese erstaunliche Bewußtheit war es, die uns den ersten Hinweis gab, daß es mit ihm etwas Wunderbares auf sich hatte. Er wußte nicht nur, was in seiner unmittelbaren Umgebung vor sich ging, sondern ebenso, was sich in weiter Ferne ereignete. Seine Fähigkeit, das sahen wir deutlich, überstieg das normale Spektrum menschlicher Sinneswahrnehmung und übertraf sogar die der wachsamsten Tiere. Und nicht nur über seine Bewußtheit wunderten wir uns, sondern auch über etwas, das wir gar nicht benennen konnten. Mit unserem jugendlichen Verstand begriffen wir zweifelsfrei, daß er offensichtlich all das verkörperte, was Wildnis für uns bedeutete; alles Geheimnisvolle, das wir wissen wollten. Daß Großvater von Dingen jenseits dessen wußte, was die meisten Menschen erkennen können, merkten wir schon am zweiten Tag unseres Zusammenseins. Rick und ich, zutraulich wie junge Hunde, folgten Großvater durch ein Sumpfgelände hinter dem Haus meiner Eltern. Den ganzen Vormittag lang erforschten wir die Wunder der Natur, und wir erlebten ein Abenteuer nach dem andern. Großvater schien alles zu wissen. Er sprach zu uns von Pflanzen und Tieren, auf die wir trafen, erzählte uns von ihrem geheimen Leben und führte uns auch an Dinge heran, die wir noch nie gesehen hatten. So deutete Großvater auf eine bestimmte Pflanze und sagte, daß sie zu Pfeilschäften verwendet werde, oder er zeigte uns einen Baum, aus dessen Holz Bögen geschnitzt würden. Solche Lektionen und Abenteuer waren vermischt mit Geschichten über die Ureinwohner Amerikas, die einst in dieser Gegend lebten. Am stärksten fesselten uns Geschichten von den Indianern. Großvater konnte sie lebendig machen, und seine Erzählungen von ihrer Lebensweise fesselten uns.
Während wir mit Großvater zusammensaßen und mit ihm sprachen, zog er ein Stück Feuerstein aus der Tasche und begann, mit einem Hornmeißel kleine Steinsplitter von der Oberfläche des Steins zu schlagen. Im Handumdrehen, so schien es, überreichte er uns eine wunderbar gezackte Pfeilspitze und sagte, dies sei genau die Form, wie die Ureinwohner dieser Gegend sie benutzt hätten. Wir konnten nur staunen, denn nie im Leben hatten wir etwas so Wunderbares gesehen. Wir hatten nicht gewußt, daß es noch jemanden gab, der Pfeilspitzen herstellen konnte, und baten Großvater, uns zu zeigen, wie man es machte. Er aber meinte nur, wir müßten vorher noch vieles andere lernen, doch eines Tages würde er es uns beibringen, wenn wir dann noch immer daran Interesse hätten. Wir bedrängten ihn und fragten, wie er denn wissen könne, daß die amerikanischen Ureinwohner, die einst hier in der Gegend lebten, genau solche Pfeilspitzen benutzten. Soviel wir wußten, waren die Indianer vor langer Zeit aus dieser Gegend fortgezogen. Großvater lächelte uns an, ein verschmitztes Lächeln, das uns zu weiteren Fragen anstachelte, und sagte: «Ich habe die Geister dieser vergangenen Zeit gefragt, und sie haben es mir verraten.» Rick und ich lachten; wir wußten, daß Großvater nur Spaß machte. Wir meinten, es gäbe doch keine Geister und keine Gespenster. Er sah uns ausdruckslos an und stellte ganz sachlich fest: «Die Geister haben mir eben gesagt, wo eine alte Pfeilspitze vergraben liegt. Wenn ihr wollt, könnt ihr sie haben und behalten.» Wieder glaubten wir, er mache Spaß. Wir erwarteten, er würde in die Tasche greifen und noch eine Pfeilspitze hervorziehen, die er gemeißelt hatte. In spöttischem Ton warf ich ein, wie gerne ich eine von Geisterhand angefertigte Pfeilspitze besäße. Großvater deutete auf eine glatte Sandfläche neben einem alten Baumstumpf - ein Platz, den wir noch nicht erforscht hatten. Er sagte: «Ein paar Zentimeter von dem Baumstumpf entfernt, auf der uns zugewandten Seite, wirst du deine Pfeilspitze finden. Sie liegt nicht obenauf, darum mußt du eine Handbreit tief graben.» Unmöglich konnte er wissen, dachte ich mir, daß die Pfeilspitze dort lag, und ich zögerte nicht, ihm dies zu sagen. Er lächelte nur und sagte: «Na, wenn du die Pfeilspitze nicht haben willst, soll's mir recht sein.» Er stand auf, als wollte er fortgehen. Ich bat ihn zu warten und meinte, daß ich die Pfeilspitze zwar gern haben möchte, aber doch wüßte, daß ich sie dort nicht finden würde. Ich dachte bei mir, Großvater sei womöglich ein bißchen verrückt im Kopf, und ich sollte ihn besser nicht herausfordern.
Rick und ich liefen hinüber zum alten Baumstumpf und fingen an zu graben und kicherten über Großvaters greisenhaften Starrsinn. Unser Kichern verstummte, nachdem wir ein paar Zentimeter tief gegraben hatten und eine Pfeilspitze in der Hand hielten, genau wie Großvater es uns gesagt hatte. Plötzlich wurde mir ganz mulmig und unheimlich, aber auch meine Neugier erwachte. Wir liefen zu Großvater und hielten ungläubig unseren Fund empor. Großvater blickte gleichgültig auf. Wir fragten ihn, wie er den Geist kennen, wie er mit dem Geist sprechen könne, und er antwortete: «Genauso, wie ich mit dir spreche, mein Enkel.» Die Antwort verblüffte mich. Und noch mehr verblüffte es mich, daß er mich seinen Enkel nannte. Ich wunderte mich, wie er zu einem unsichtbaren Wesen sprechen konnte. Außerdem fragte ich mich, ob er vielleicht nicht richtig im Kopf sei, da er mich für seinen Enkel hielt, und gleichzeitig fühlte ich mich auch geehrt durch seine Art, wie er es sagte. Ich wünschte mir, ich wäre wirklich sein Enkel. Großvater wollte nicht mehr über die Pfeilspitze sprechen; statt dessen spielten wir einfach drauflos und erkundeten den Rest dieses Tages die Gegend. Als Rick und ich an diesem Abend endlich zu ihm nach Hause kamen, saßen wir da und sprachen noch stundenlang, bis es dunkel wurde, über die Pfeilspitzen. Großvater verschwand wie immer über Nacht im Wald. Er hatte wenig übrig für Häuser wie für die Zivilisation im allgemeinen. Auch wenn wir ihn eben erst kennengelernt hatten, wußten wir, daß er am nächsten Tag wieder auftauchen würde. Es fiel ihm nicht schwer, uns zu finden - oder vielmehr, sich von uns finden zu lassen. Ich hatte den Verdacht, er arrangiere dies alles, um uns glauben zu machen, daß wir ihm zufällig begegneten. Dennoch war es unheimlich, daß er stets wußte, was wir zu tun beabsichtigten und wohin wir gehen wollten, noch bevor wir selbst es beschlossen hatten. Ich hatte zudem das Gefühl, daß er Lektionen für uns arrangierte zu dem Zweck, daß wir ihn um weitere Belehrung bitten sollten; denn niemals erzwang er etwas. Stets hielt er uns in Lernbereitschaft, so daß wir nicht nur etwas wissen wollten, sondern es geradezu wissen müßten. Diese Pfeilspitze war ein gutes Beispiel dafür, denn wir hungerten nach solchen Erlebnissen. Bald aber gerieten Rick und ich in Streit, wer von uns beiden die Pfeilspitze behalten durfte. Schließlich beschlossen wir, uns in dem Besitz abzuwechseln. Rick sollte für ein paar Tage die alte Pfeilspitze nehmen und ich die neue, und dann wollten wir tauschen. Die Schwierigkeit war, daß wir nicht entscheiden konnten, wer als erster welche Pfeilspitze bekommen sollte -und wieder brach Streit aus. Und bei diesem
Streit stießen Ricks Bruder und ein älterer Freund von ihm zu uns. Sie hörten sich unsere Geschichte an, und ich merkte, daß der ältere Junge sie ziemlich skeptisch aufnahm, obwohl er die Pfeilspitze in der Hand hielt. Er sagte, daß Großvater - «der Alte», wie er ihn nannte - wahrscheinlich die Pfeilspitze dort vergraben und uns dann in ein Gespräch über sie verwickelt hätte, damit wir glauben sollten, er könne zaubern. Falls er wirklich mit Geistern gesprochen habe, so sagte er, sollten wir ihn anderntags ersuchen, noch einmal mit dem Geist zu sprechen und nochmals um eine Pfeilspitze zu bitten. Auf diese Weise könnten wir schließlich beide eine besitzen - oder zumindest beweisen, daß alles ein Schwindel sei. Ricks Bruder und der ältere Junge zogen schließlich ab, und Rick und ich blieben zurück und überlegten uns, ob das eine gute Idee war. Wir beschlossen also, Großvater auf die Probe zu stellen und ihn in eine Gegend zu führen, wo er noch nicht gewesen war; eine Gegend, die wir selbst aussuchen wollten. Dann wollten wir ihn bitten, noch einmal eine Pfeilspitze zu finden. Falls es ihm nicht gelingen sollte, würden wir wissen, daß alles ein Schwindel war und es keine Geister gibt. Falls es ihm aber gelang, würden wir nie wieder an ihm zweifeln. Im Stillen hoffte ich, daß es klappt, denn ich hatte Großvater wirklich gern und nahm ernst, was er uns lehrte. Am nächsten Tag spielten wir am Fluß, als wir plötzlich auf Großvater stießen, der auf einer kleinen Hügelkuppe saß, anscheinend im Gebet begriffen. Wir liefen hin begeistert, ihn dort zu sehen. Sofort sagte er: «Die Geister haben mir euren Plan verraten, und daß ihr mir nicht wirklich glauben wollt.» Seine Worte schockierten uns, aber Rick flüsterte mir zu, daß er sich wahrscheinlich letzten Abend in der Nähe versteckt und unser Gespräch belauscht habe. Großvater ließ das Thema offenbar fallen, und wir zogen weiter, den Fluß hinauf zu der Stelle, wo wir am Vortag gewesen waren. Und nun fand Rick, es sei Zeit, Großvater auf die Probe zu stellen. Wir wanderten zu einem Sandplatz, setzten uns dort und erwarteten, Großvater würde sich zu uns setzen. Statt dessen deutete er auf den Sandfleck und befahl uns, die Oberfläche genauer anzusehen. Dann forderte er Rick auf, über den Sand zu gehen und sich umzuschauen. Ricks Füße sanken tief ein und hinterließen große, unübersehbare Spuren. Großvater fragte ihn, ob er noch weitere Spuren sähe, und Rick, der sich peinlich durchschaut fühlte, mußte verneinen. Großvater deutete nun auf eine Stelle, keinen Meter von Rick entfernt, etwa im Mittelpunkt der Sandfläche, und befahl ihm, dort ein paar Zentimeter tief nachzugraben. Rick musterte den Boden vor seinen Füßen; er war frei von
irgendwelchen Spuren. Leicht verlegen und wohl wissend, was nun kommen würde, grub Rick nach und fand eine weitere Pfeilspitze. Rick und ich waren so außer uns, daß wir in einen großen Jubel ausbrachen. Immerhin hatte Großvater nicht versagt! Wir besaßen jetzt beide eine echte Pfeilspitze — und was das beste war: die Geister waren echt. Oder zumindest das, was sie Großvater sagten. Wir beide waren glücklich, fühlten uns aber auch schuldbewußt, weil wir an ihm gezweifelt hatten. Immerhin hatte er so viele magische Dinge vor unseren Augen getan, zum Beispiel die Anfertigung jener ersten Pfeilspitze, oder wenn er mit Bogen und Drillstab Feuer machte, daß wir nicht hätten zweifeln dürfen. Doch ich vermutete, daß Großvater an solche Zweifel gewöhnt war. Großvater hieß uns niedersitzen bei dem Loch, das die Pfeilspitze enthalten hatte, und sagte: «Ich nehm's euch nicht übel, daß ihr mich auf die Probe gestellt habt. Vieles, was ich tue, ist von mancherlei Leuten überprüft worden, denn so ist's nun einmal, so denkt die Gesellschaft. Die Leute glauben heute nicht mehr an Unsichtbares und Ewiges, und sie verlangen immer Beweise. Selbst wenn dann Beweise geliefert werden, wollen sie diese nicht zur Kenntnis nehmen, so wie ihr beide gestern abend. Auch jetzt noch habt ihr gewisse Zweifel, ich könnte diese Pfeilspitze vergraben und meine Spuren verwischt haben. Der Glaube ist aber die stärkste Kraft auf Erden, und wahrer Glaube braucht keine Beweise. Ihr stellt euch vor, ihr würdet gern mit den Geistern sprechen, aber ihr könnt das nicht, solange ihr nicht glaubt. Wenn ihr keinen Glauben habt, wenn ihr nicht ohne Beweise glauben wollt, dann könnt und werdet ihr sie nicht sehen. Doch wenn ihr glaubt, auch wo es keine Beweise gibt, dann wird euch die Welt der Geister aufgetan.» Noch in derselben Woche, in der wir die Pfeilspitzen gefunden hatten, machten wir wieder Bekanntschaft mit Großvaters Magie, wie wir es jetzt schon nannten. Wir befanden uns in seinem Camp, tief im Walde, nicht weit vom Haus meiner Eltern, und packten unsere Sachen zusammen, um nach Hause zu gehen. Großvater wandte sich an Rick und sagte: «Tut mir leid, daß dein Bruder einen Unfall hatte.» Rick guckte erschrocken und sagte zu Großvater, sein Bruder habe doch keinen Unfall gehabt. Großvater achtete nicht darauf und vertiefte sich wieder in seine Arbeit. Rick und ich kicherten wieder mal, weil wir glaubten, Großvater sei nicht recht bei Verstand. Immerhin war es Ricks Bruder noch gut gegangen, als wir vor ein paar Stunden zu Hause waren, und überhaupt hatten wir zu Großvater kein Wort über Ricks Bruder verloren. Den ganzen Heimweg lang kicherten wir und überlegten, ob
Großvater vielleicht ganz gut die Stimmen der Geister, nicht aber menschliche Stimmen verstehen konnte. Nach einem Marsch von zweieinhalb Stunden kamen wir endlich bei Rick zu Hause an - um festzustellen, daß Ricks Bruder vor zwanzig Minuten vom Fahrrad gestürzt war und sich den Knöchel gebrochen hatte. Wir waren erschüttert, gelinde gesagt, aber auch fasziniert. Großvater hatte gesagt, der Unfall täte ihm leid, den Ricks Bruder gehabt habe: aber dies war vor zweieinhalb Stunden gewesen! Während wir bei Rick zu Hause warteten, bis seine Mutter und sein Bruder aus dem Krankenhaus wiederkamen, diskutierten wir darüber, was Großvater da getan haben mochte. Konnte es sein, fragten wir uns, daß Großvater nicht nur mit Geistern sprach, sondern auch die Zukunft vorhersagte? Ein furchtbarer Gedanke beschlich uns: Wie, wenn Großvater seinen Geistern aufgetragen hätte, sie sollten Rick vom Fahrrad stürzen lassen? Aber wir wußten sofort, daß Großvater viel zu freundlich und liebevoll war, um so etwas zu tun. Und plötzlich merkten wir, daß es uns diesmal genauso erging wie das letztemal: Wir hatten Zweifel und brauchten Beweise. Kurz bevor die beiden aus dem Krankenhaus zurück waren, trat Großvater aus dem Wald und begann über Ricks Bruder zu sprechen. Er sagte uns, daß die erste Röntgenaufnahme einen Knochenbruch zeigen würde, doch bei der zweiten Aufnahme wäre kein Bruch mehr feststellbar. Ricks Bruder würde keinen Gipsverband brauchen. Er habe nur eine Prellung. Rick wandte mit Nachdruck ein, die Sanitäter hätten den Knochensplitter durch die Haut ragen sehen; folglich sei es unmöglich, daß kein Bruch vorliege. Großvater lächelte uns wortlos zu und verschwand im Wald. Gerade als er verschwunden war, bogen Ricks Mutter und sein Bruder in die Einfahrt. Während Rick und ich aufsprangen, um dem Bruder aus dem Auto zu helfen, stellten wir verblüfft fest, daß er keinen Gipsverband trug. Sein Fuß war nur bandagiert. Seine Mutter sagte uns, es handle sich nur um eine Prellung; aber ich schaute recht verblüfft, als sie dies sagte. Niemand war verblüffter als Rick und ich. Wir verstanden einfach nicht, wie Großvater mit solcher Leichtigkeit die Zukunft vorhersagen konnte. Wir wußten auch nicht, wieso er das Resultat der Röntgenuntersuchung wissen konnte. Lange spekulierten wir an diesem Abend, er könne vielleicht sogar mit der Heilung des Knöchels etwas zu tun haben; aber was, konnten wir uns nicht vorstellen. Wir wußten nur, daß Großvater Heilkräuter sammelte, und wir wußten, daß solche Heilkundigen
bei den amerikanischen Ureinwohnern als Medizinmänner bezeichnet wurden. Darum kamen wir zu dem Schluß, daß Großvater einer von diesen Medizinmännern sein müsse. Diese Annahme hüllte Großvater in eine Aura des Geheimnisvollen, und wir beide begeisterten uns für die Idee. Wir verstanden allmählich auch, warum Großvater so oft Männer und Frauen besuchte, die draußen im Wald lebten. Er war irgendwie ihr Heiler. Wieder sprachen Rick und ich bis tief in die Nacht und dachten uns viele Fragen aus, die wir Großvater stellen wollten. Er war nicht allzu freigebig mit Informationen über die Geister gewesen, darum beschlossen wir mehr in ihn zu dringen, um mehr zu erfahren. Gleich am nächsten Tag, noch bevor wir Großvater begrüßt hatten, ließen wir ein Trommelfeuer von Fragen auf ihn los. Er lächelte nur und nickte unbestimmt zu jeder Frage, antwortete aber nicht. Im großen und ganzen sagte er nur, er habe einfach gewußt, daß Ricks Bruder keine Komplikationen haben würde, und deutete an, daß er vielleicht etwas mit der raschen Heilung des Knöchels zu tun habe. Sonst aber sagte er nichts. Dies machte Rick und mich um so neugieriger, wie all dies geschehen konnte. So neugierig, daß wir den ganzen Tag nichts anderes taten, als unsere Vermutungen zu diskutieren. Wochen vergingen und wurden zu Monaten, aber Großvater verlor kein Wort mehr über Geister, Heilungen oder das Vorhersagen zukünftiger Ereignisse. Doch beinahe jeden Tag erlebten wir neue Wunder, die unseren Schatz an unerklärlichen Erfahrungen vermehrten. Mit jedem neuen Tag und mit jedem neuen Wunder lernten wir Großvaters Welt und seine Fähigkeiten besser verstehen. Er tat Dinge, die die meisten verblüffen und in Erstaunen versetzen würden, aber wir nahmen solche Dinge allmählich für selbstverständlich. Unser Glaube an die Geisterwelt wuchs täglich, auch wenn wir keine wirklich greifbaren Beweise hatten. Wir akzeptierten dies einfach, ohne zu wissen warum. Und immer dann, wenn wir alles gesehen zu haben glaubten, tat Großvater ein weiteres Wunder, das uns noch mehr verblüffte. Wir wußten es damals nicht, daß Großvater versuchte, Schritt für Schritt unseren Glauben zu festigen. Dieser Glaube mußte fest verankert sein, bevor wir den ersten Schritt unserer spirituellen Reise tun konnten. Erst im Herbst des Jahres, in dem wir Großvater kennenlernten, erhielten wir unsere ersten Lektionen in geistiger Schulung. Auch wenn wir Großvater noch kaum sechs Monate kannten, waren wir schon ganz tüchtig in manchen Fertigkeiten des Spurenlesens, der Überlebenstechniken und der Wahrnehmung. Wir glaubten fest an
die Welt des Geistigen und an die Möglichkeiten, die diese Welt für uns bereithielt. Wir fanden es prima, daß unsere Eltern nichts dagegen hatten, wenn wir weit von zu Hause im Walde ein Camp aufschlugen, und dies für mehrere Tage. Dies gab uns öfter Gelegenheit, mit Großvater zusammen zu sein, und wir hatten mehr Zeit, unsere Fähigkeiten in einer Umgebung reiner Wildnis zu üben. Unsere Freunde beneideten uns, weil ihre Eltern ihnen nur erlaubten, ihr Zelt über Nacht im Garten aufzustellen. Doch schon im Garten bekamen sie Angst, und die meisten schafften es nicht bis zum Morgen. Sie konnten nicht verstehen, wieso es uns so weit von zu Hause so gut ging. Ein großes Plus war es für uns, glaube ich, daß meine Leute instinktiv Großvater zutrauten, daß er sich gut um uns kümmerte. Während eines der ersten Wochenenden, die wir draußen campierten, empfingen wir unsere erste Lektion in spiritueller Wahrheit. Vier Wochen waren vergangen, seit wir Großvater zu irgendwelchen spirituellen Dingen befragt hatten, und wir wußten, daß wir ihn nicht zu Antworten drängen durften, besonders wenn er uns nicht für bereit hielt. So erschraken wir, als Großvater von sich aus darauf zu sprechen kam und sagte, wir seien nun bereit für unseren ersten Schritt in die Spiritualität. Als wir das hörten, waren Rick und ich begeistert - und erschraken gleichzeitig. Für mich war es, als sollte ich einem Geist begegnen. Bis dahin hatten wir beide geglaubt, daß Geister so etwas wie Gespenster wären, und Gespenster waren beängstigend, besonders nachdem wir manche Märchen über den sagenhaften und Teufel»
gehört
hatten.
gefürchteten
«Jersey-
Einerseits konnte ich es kaum erwarten, diesen ersten
Schritt zu tun, andererseits wußte ich nicht, ob ich das bewältigen könnte, was dabei herauskäme. Ironischerweise kam alles ganz anders, und es hatte wirklich nichts mit Geistern zu tun, so wenigstens dachte ich. Großvater begann die Lektion, indem er uns ruhig am Bach sitzen ließ, der durch unser Camp floß. Nach einer Weile verlangte er, wir sollten den Blick auf irgendeinen Gegenstand vor uns richten und alle anderen Gedanken dabei ausblenden, so daß es nichts gäbe außer uns und dem Gegenstand. Damals begriff ich nicht, was all dies mit der Geisterwelt zu tun haben sollte, aber ich folgte seinen Anweisungen, ohne zu zweifeln. Es war schwierig genug, längere Zeit alle Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand zu konzentrieren, ganz zu schweigen vom langen Stillsitzen. Rick und ich steckten einfach so voller Energie, daß wir nicht lange sitzen bleiben konnten, auch wenn wir erschöpft waren. Nach einer Weile begann ich anzunehmen, daß Großvater diese Lektion irgendwie
als Bestrafung einsetzte, denn es war wie «Eckenstehen» in der Schule, wenn man etwas ausgefressen hatte. Es war eine unmögliche Geduldsprobe, und je mehr ich mich anstrengte, desto schwerer wurde es. Endlich, nach zwei Stunden inneren Kampfes um das reglose Sitzen und die Konzentration, sagte Großvater: «Hör auf mit dem Kampf! Streng dich nicht an! Laß es einfach passieren! Mach es wie damals, als du die Vögel füttertest! Es war ein Kampf, bis die Vögel anfingen, dir aus der Hand zu fressen, doch dann war aller Kampf vorbei. So mußt du's hier und jetzt machen.» Ich erinnerte mich daran, wie Großvater einmal, vor einem Monat, Rick und mir befohlen hatte, Vögel zu füttern. Was uns damals nicht klar sein konnte: dies war unsere erste Lektion über den geistigen Weg. Es hatte uns gelehrt, unser Denken und schließlich auch unseren Körper zur Ruhe zu bringen. Wir hatten im Gras gelegen, tagelang, und hatten Vogelfutter in den Händen gehalten und es auch über den ganzen Körper verstreut. Es war mühsam gewesen, weil wir absolut reglos liegen müßten. Immer wenn wir eine Bewegung machten, flatterten die Vögel auf, und unser Warten verlängerte sich. Als wir endlich ganz reglos lagen, begannen die Vögel zu picken. Sobald sie uns über den Körper zu trippeln begannen, war die Erregung so stark, daß sie das Zeitgefühl und alle Unannehmlichkeit vertrieb. Und jetzt verlangte Großvater, wir sollten es genauso machen. Es erwies sich jedoch als schwieriger, weil die Dinge, auf die wir unsere Aufmerksamkeit zu richten versuchten, nicht so erregend waren, uns nicht so beanspruchten wie Vögel, die uns über Arme und Brustkorb trippelten. Ich strengte mich an, mich nicht anzustrengen, ich bemühte mich, nicht zu zappeln, und bemühte mich auch noch, mich nicht zu langweilen, aber es ging nicht. Dann, als ich wieder einmal meine Aufmerksamkeit auf den alten Baumstrunk fixierte, den ich als Blickpunkt benutzte, hatte ich irgendwie genug davon oder gab auf oder ließ los - ich weiß nicht, was es war. Plötzlich sahen die Dinge ringsumher anders aus, ich hörte auf zu zappeln, die Langeweile war verflogen so wie damals, als ich die Vögel fütterte. Für einen Moment, nur einen kurzen Moment, konnte ich dieses Gefühl festhalten und spürte, wie Dinge sich außerhalb meiner physischen Sinneswahrnehmung bewegten. Es war, als hätte ich einen kurzen Blick von einer anderen Welt erhascht, die ich noch nicht verstehen konnte. Was ich als einen kurzen Moment in diesem veränderten Bewußtseinszustand empfand, dauerte — wie sich zeigte — länger als eine Stunde. Ich war verblüfft, als
ich schließlich wieder zu mir kam, denn die Sonne war ein ganzes Stück weitergewandert. Es schien, als hätte ich jedes Gefühl für Ort und Zeit verloren. Wo immer ich gewesen sein mochte, es war ein wunderbares Gefühl gewesen, obwohl ich nicht ahnte, woher das Gefühl kam. Ich wußte nur, daß ich etwas Tieferes berührt hatte als nur die physische Realität meines Jetzt — eine seltsame neue Welt, eine Welt, die ich mit meinem Verstand nicht beschreiben konnte. Großvaters Stimme rüttelte mich aus meiner Träumerei. Er sagte: «Versuche nicht, solche Dinge mit dem Verstand zu beschreiben, die unerklärlich sind. Die Geisterwelt spricht nicht in den Sprachen der Menschen, sondern durch die Sprache des Herzens. Du mußt lernen zu wissen, ohne zu wissen. Lerne zu verstehen ohne Worte! Manche Dinge bleiben besser unerklärt, denn sie zu erklären, würde nur Verwirrung stiften.» Das war leichter gesagt als getan, fand ich. Mein Verstand brauchte einfach Antworten, damit ich verstehen konnte, was ich erlebt hatte. Ohne auf meine Fragen zu warten, fuhr Großvater fort: «Die Geisterwelt kennt weder Ort noch Zeit, auch kommuniziert sie nicht in menschlicher Sprache mit uns. Sie spricht zu uns durch Träume, Visionen, Zeichen, Symbole und Gefühle. Darum kannst du mit Worten nicht beschreiben, was du eben empfunden hast. Darum war ein kurzer Moment in der Geisterwelt tatsächlich eine lange Zeitspanne in der Realität. Es ist dir gelungen, auch wenn du's nicht erklären kannst, die Welt der Geister zu berühren. Du hast gespürt, wie sich die Dinge außerhalb deiner selbst regen, und doch magst du sie noch nicht akzeptieren, weil sie in der Realität nicht beweisbar sind, weil sie mit Worten nicht beschreibbar sind. Verzichte darauf, mit deinem physischen Verstand denken zu wollen, dann wirst du die Lauterkeit des spirituellen Verstandes verstehen, die keiner Worte oder Beschreibungen bedarf.» Großvater fuhr fort: «Ich weiß, dies alles ist neu für dich, und du verstehst noch nicht. Aber vertraue mir, daß dein Geist es völlig versteht. Es ist nicht deine Schuld, denn die Gesellschaft und die Schule haben euch gelehrt, daß man nur mit dem rationalen Verstand verstehen könne. Ihr seid es noch nicht gewohnt, mit eurem spirituellen Verstand zu verstehen. Vergeßt nicht: der Mensch ist eine Dualität, er lebt im Fleisch und im Geist zugleich. Auch alles andere existiert in solcher Dualität. Zwei Körper, zwei Arten von Verstand - alles in ein- und demselben Menschen. Ihr habt gelernt zu glauben ohne sichere Beweise, darum müßt ihr auch ohne Erklärung glauben, daß diese spirituellen Realitäten wahr sind. Ob ihr versteht oder nicht, jedenfalls hattet ihr Kontakt mit diesen geistigen Welten; und dies schon seit langem, aber ihr versteht
ihre Sprache noch nicht. Diese spirituellen Realitäten, diese immateriellen Welten versuchen schon lange zu euch zu sprechen; ihr kennt ihre Stimmen, aber ihr wißt nicht, wann und wie sie zu euch sprechen.» Soviel ich verstand von dem, was Großvater nur mitteilte, hatte die Geisterwelt seit langem versucht, mit mir Kontakt aufzunehmen, aber ich wußte nicht, wie man ihr zuhört. Ich fragte ihn, wieso er dies wisse, denn ich hatte niemals den Versuch zu solcher Kommunikation wahrgenommen. Großvater lächelte und sagte: «Du weißt es nur allzu gut. Aber du kannst diese Welt nicht erkennen oder mit ihr in Verbindung treten.» Nun war ich wirklich verblüfft, denn ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach, und dies — glaube ich — war mir anzusehen. Großvater schmunzelte und sagte: «Wie ich euch sagte, kommuniziert die Geisterwelt nicht mit menschlichen Worten, sondern durch Träume, Visionen, Zeichen, Symbole und Gefühle oder Emotionen. Du hast dies oft erlebt, aber nicht erkannt. Du weißt nicht, was diese Dinge bedeuten.» Ich war immer noch verblüfft, denn ich hatte nichts dergleichen erlebt, wovon Großvater sprach. Ohne auf meine Fragen zu warten, fuhr er fort und sagte: «Hast du noch nie das Gefühl gehabt, daß du beobachtest wirst, oder daß etwas, was du gerade tust, oder ein Ort, an dem du dich befindest, sich irgendwie falsch anfühlt? Hattest du nicht schon einmal das Gefühl, daß zu Hause etwas nicht stimmte, und später stelltest du fest, daß da wirklich etwas nicht stimmte? Wenn du Menschen über ihre Intuition oder ihr Gefühl in der Magengrube sprechen hörst - das ist die Kommunikation des tieferen Selbst und der jenseitigen Welten. Das ist es, was wir als Innere Vision bezeichnen, durch die unser Geist und viele andere Geister mit uns zu kommunizieren versuchen. Jetzt müßt ihr erkennen, wie eure Innere Vision, die Stimme des Geistes, empfunden wird, wenn sie mit euch zu kommunizieren versucht. Darum muß ich euch zeigen, wie es ist, wenn diese Stimme euch antwortet. Für mich ist es die Stimme der Schöpfung, die Stimme der geistigen Welten, sogar die Stimme des Schöpfers; und ich gehorche allen ihren Befehlen. Wenn ihr gelernt habt, was diese Stimme ist und wie sie zu euch spricht, müßt ihr lernen, sie zu läutern, damit sie niemals durch euren logischen Verstand entstellt wird.» Großvater setzte sich dann zu mir und erzählte mir eine Geschichte. In dieser Geschichte, sagte er, sei ich derjenige, über den er spreche, und er selbst spiele die Rolle meiner inneren Vision, die alles über mich wisse. Er sagte: «Stell dir vor, du
gehst einkaufen für deine Mutter, und sie hat dir aufgetragen, verschiedene Dinge zu holen. Du kommst in den Laden und legst all die Sachen in den Korb, an die du dich erinnern kannst. Aber als du bezahlen sollst, hast du das Gefühl, etwas vergessen zu haben. Während du zwischen den Ladenregalen hin und her wanderst, beschleicht dich dieses Gefühl und erzeugt eine Enge in deiner Brust, wie sie auch bei einem Konflikt zustande kommt. Du strengst dich an, aber du kannst dich nicht mehr erinnern, was es war. Du weißt, du hast es vergessen. Es ist ein nagendes Gefühl, genauso, wie du es jetzt empfindest. Manchmal scheint es ein allgemeines Unbehagen zu sein, manchmal nur ein allgemeiner Eindruck, daß etwas nicht stimmt; aber meistens ist es wie ein Druck in der Magengrube, ein Wissen, daß etwas nicht zutrifft, daß etwas vergessen wurde.» Großvater machte eine Pause, bis das Gefühl, etwas vergessen zu haben, in meiner Magengrube bemerkbar wurde. Dann fuhr er fort: «Und nun, mein Junge, bezahlst du all die Dinge, die du für deine Mutter eingekauft hast. Noch immer sitzt tief in dir das Gefühl, etwas vergessen zu haben, aber du weißt noch immer nicht, was es ist. Du bezahlst all die Dinge, die du gekauft hast, und hast immer noch das Gefühl, etwas vergessen zu haben, und so schickst du dich an, das Geschäft zu verlassen. Du blickst auf und siehst eine Schachtel voll Glühbirnen, und plötzlich fällt dir ein, daß es ein Dutzend Eier sind, die du für deine Mutter kaufen solltest. Du hast ein erhebendes Gefühl der Erleichterung, da dir endlich die Eier eingefallen sind. Jetzt fühlst du dich gut, bist endlich im reinen mit dir.» Großvater sprach weiter: «Die Spannung, die du in der Magengrube spürtest, das unbehagliche Gefühl, daß etwas nicht stimmte - das war deine Innere Vision, die dir zu sagen versuchte, daß du etwas vergessen hast. Bedenke, die Innere Vision ist nicht nur die Stimme der Geisterwelt, sondern auch deines tieferen Selbst, das alle Dinge weiß. Deine Innere Vision kann nicht mit Worten zu dir sprechen, sie muß Symbole verwenden - Zeichen, Gefühle, Träume und vieles andere. Plötzlich siehst du diese Glühbirnen, ordentlich verpackt in eine abgeteilte Schachtel. Genauso werden Eier verpackt, und endlich erkennt dein logischer Verstand das Symbol, das dein spiritueller Verstand dir gesendet hat, und du erinnerst dich an die Eier. Sobald du dich erinnerst, ist deine Innere Vision, dein spiritueller Verstand zufrieden, und es gibt keine Spannung mehr. Wenn die Spannung verschwunden ist, lautet die Antwort: ja. Wenn die Spannung da ist, lautet die Antwort: nein.» Ich war mehr als verwundert, nicht nur wegen der Klarheit, mit der ich dies alles
empfand, sondern vor allem über die Einfachheit dieser Erklärung. Wie oft schon hatte ich dieses Gefühl gehabt, aber bislang wußte ich nicht, was es bedeuten sollte. Dennoch war ich verwirrt, weil ich nicht begriff, was ein Dutzend Eier mit der Geisterwelt zu tun haben sollten — oder mit der Kommunikation mit Geistern. Großvater ließ mir Zeit, meine Gedanken zu ordnen, und sagte dann: «Mein Enkel, beruhige dich jetzt und frage diese Stelle in dir, genau die Stelle, wo du die Spannung wegen der vergessenen Eier spürtest, ob es Geister gibt.» Ich fragte mich also im Stillen, aber da war keine Spannung, nichts war im Konflikt. Dann forderte Großvater mich auf, die Geisterwelt zu fragen, ob sie mir in diesem Moment etwas zu sagen habe. Das tat ich, und die Spannung war wieder da. Anscheinend wollte die Geisterwelt in diesem Moment nicht mit mir kommunizieren. Großvater sagte: «Du mußt noch viel lernen, bevor du den nächsten Schritt tun kannst. Du wirst die Suche nach deiner Inneren Vision bald fortsetzen - aber vorher mußt du lernen, was es in dieser spirituellen Welt alles gibt und woher es kommt. Es geht um viel mehr, als dir nur zu sagen, daß du ein Dutzend Eier vergessen hast.» Am Abend, als die Lektion dieses Tages hinter uns lag, stellten Rick und ich fest, daß wir beinah die gleichen Erlebnisse gehabt hatten - auch wenn wir die Dinge auf unterschiedliche Art gelernt hatten. Beide wollten wir mehr über die Innere Vision erfahren, doch Großvater blieb unerbittlich und sagte, wir müßten noch sehr viel lernen, bevor wir noch einen Versuch machen durften, sie zu erreichen. Was mich betraf, so war ich sehr neugierig auf diese Innere Vision. Sie ging mir dauernd durch den Kopf und floß diesen Abend in alle meine Gespräche ein. Ich wollte mich nicht mit der Tatsache abfinden, daß ich ihre Macht noch nicht kennen lernen durfte. Ich spürte einen Durst, ein Gefühl der Entbehrung, und trotzdem war das Entbehrte vorläufig noch unerreichbar. Rick und ich fragten uns, was die Innere Vision erreichen könnte, welche neuen Erkenntnisse sie uns bieten würde. Ich wollte alles wissen. Besonders jetzt, da ich glaubte, daß sie Antworten auf viele Fragen enthielt. Am nächsten Tag führte Großvater uns wieder zum Fluß und forderte uns auf, uns auf einen einzelnen Gegenstand zu konzentrieren. Es würde uns nichts nützen, sagte er, die Innere Vision zu erfahren, solange wir nicht die reine Stille kennengelernt hatten, doch weder Rick noch ich verstanden, wovon er sprach. Wieder befielen mich quälende Zerstreutheit und Langeweile, bis ich aufgab und losließ und mir jene Welt wieder offenbart wurde. Diesmal aber geschah noch mehr, denn die Spannung in meiner Magengrube begann zu mir zu sprechen. Allerdings in
einer Sprache, die ich nicht verstand. Den größten Teil des Vormittags verbrachten wir damit, immer wieder in diese Welt einzutreten. Ob Wirklichkeit oder Phantasie, sie machte doch einen anhaltenden Eindruck auf uns beide. Wie ich dort so saß und nachdachte, fielen mir Großvaters Worte ein: «Die Ergebnisse, die wiederholbaren Endergebnisse sind das Entscheidende, Durch sie wird all das wirklich.» Am Abend saßen Rick und ich dann mit Großvater zusammen und sprachen über unsere Erfahrungen, obwohl wir sie noch nicht richtig verstanden. Großvater sagte: «Ihr plagt euch noch immer mit der Frage, ob dies alles wirklich sei. Ihr fragt flieh, ob es Einbildung oder Realität sei, doch wie ich euch sagte, sind es die Ergebnisse, die zählen, und es ist nicht die Art, wie ihr zu diesen Ergebnissen kommt. Wenn ein Geist mit euch Kontakt aufnimmt und dieser Geist zu euch von Dingen spricht, die ihr unmöglich mit euren diesseitigen Sinnen erkennen könnt — welchen Unterschied macht es da, ob ihr die Begegnung für eingebildet oder real haltet? Was einzig zählt, ist das Wissen, das euch geschenkt wird.» Noch immer verstand ich nicht, wovon Großvater sprach. Anscheinend hielt er die Frage nach der realen Existenz dieser Dinge für unwichtig. Obwohl ich nicht verstand, spürte ich doch, wie etwas in mir sich verschob, sich unmerklich veränderte. Ich hatte nur eine schwache Ahnung von dieser phantastischen neuen Welt, und dies schien mir genug. Ich fragte Großvater, ob wir wissen könnten, was in der Zukunft passieren wird. Denn ich verstand nicht, welche Rolle die Zukunft in der Geisterwelt spielt. Er antwortete: «Es gibt nicht nur eine einzige Zukunft, sondern viele Möglichkeiten der Zukunft. Gäbe es nur eine Zukunft, dann hätte der Mensch keine freie Entscheidung im Leben.
Aber
weil
wir
die
freie
Entscheidung
haben,
gibt
es
viele
Zukunftsmöglichkeiten. Es ist nicht schwer, die Möglichkeiten der Zukunft mit Hilfe der geistigen Wirklichkeit vorherzusagen; denn man sieht die Ereignisse, die mit Sicherheit zusammentreffen werden, um die wahrscheinliche Zukunft zu bilden.» Verblüfft schaute ich Großvater an. Ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach. Ich verstand nicht, wie es möglich sein sollte, die Zukunft vorherzusagen. Großvater lächelte mir zu - ein Lächeln, das mir verriet, daß er meine Gedanken lesen konnte. Dann sagte er: «Es ist ganz leicht, die Zukunft vorherzusagen, wenn man in der Lauterkeit des Geistes lebt. Du selbst könntest in diesem Moment leicht die Zukunft vorhersagen.» Immer noch verständnislos meinte ich, daß ich unmöglich die Zukunft vorhersagen könne. Großvater führte Rick und mich hinüber zu einem fernen Wäldchen. Einer der
größeren Bäume war abgestorben, seine Borke blätterte ab, und auf einer Seite des Stammes klaffte ein Loch. Großvater stemmte sich leicht gegen den riesigen Baum, und dieser schwankte hin und her. Dann sagte Großvater: «In der geistigen Welt die kommende Zukunft vorhersagen, ist nicht schwerer, als die Zukunft dieses Baumes vorherzusagen. Seht nur, wie leicht der Baum sich bewegen läßt; also wißt ihr auch, daß der nächste Sturm aus dem Norden diesen Baum stürzen wird. Die Schwäche des toten Baumes, im Zusammenwirken mit einem starken Wind, wird die Zukunft dieses Baumes bilden und ihn fällen. Genauso mache ich es in der Geisterwelt. Zwei Ereignisse wirken zusammen, um etwas geschehen zu lassen. Zwei Möglichkeiten bilden zusammen eine Wahrscheinlichkeit.» Nichts mehr wurde an diesem Tag über die geistige Welt oder die Zukunft gesprochen. Großvater sagte, wir müßten noch sehr viel lernen, bevor wir die Geisterwelt, die Stimme der Inneren Vision und das Vorhersagen der Zukunft auch nur annähernd verstehen könnten. Jeden Tag erfuhr ich mehr über diese fremdartige Welt, aber es sollte noch Jahre dauern, bis mir das Wesentliche gesagt wurde. Gewiß, wir lernten viele Lektionen in der Kunst des Überlebens, des Spurenlesens und der Bewußtheit und übten uns in der inneren Stille und Meditation. Aber erst, als ich die fundamentalsten Wahrheiten ganz verstanden hatte, sollte ich mehr über die geistige Wirklichkeit erfahren. Als es so weit war - drei Jahre später - geschah es als eine Lawine neuer Erkenntnisse und brauchte nur knapp einen Monat.
2
Suche nach der Inneren Vision
Ende Juni, im dritten Jahr meines Zusammenseins mit Großvater, machte ich wieder Bekanntschaft mit den Kräften der Inneren Vision. Gewiß hatte ich Großvater oft über diese erstaunlichen Kräfte sprechen hören, aber er gab keine Anleitung, sie zu gebrauchen, noch nicht einmal nachvollziehbare Erklärungen, was dies für Kräfte waren und woher sie kamen. Jahrelang hatten wir miterlebt, wie das Wunder der Inneren Vision sich immer aufs Neue ereignete. Großvater verblüffte uns mit Vorhersagen von Dingen, die in der Zukunft geschehen würden, mit Kommunikationen aus der Welt der Natur oder des Geistes. Er schien sich mehr seiner Inneren Vision zu bedienen als seiner physischen Sinne oder gar seines logischen Verstandes. Instinktiv wußte ich, daß es die wichtigste führende Kraft seines Lebens war. Er bezeichnete die Innere Vision als
* « Suche» - amerikan. «quest» - ist in der indianischen Tradition ein fester Begriff: Mann oder Frau gehen für meistens vier Tage und Nächte allein in die Wildnis, ohne Nahrung zu sich zu nehmen, oft auch ohne Wasser. Abgesondert von allen sozialen Kontakten, suchen sie das Gespräch mit der Natur, mit ihrer eigenen Tiefe, ihrem Selbst. Diese «Suche» oder «Quest» gehört zum Archetyp der «Heiligen Reise» oder inneren Reise zu sich selbst. In unserer europäischen Tradition kennen wir die Quest der mittelalterlichen Ritter, z. B. Parzivals. Anm. d. Lekt.
die Innere Vision als Brücke zwischen dem Fleisch und dem Geist, als das Vehikel, durch das wir mit Welten jenseits des Stofflichen in Verbindung treten können. Manchmal hörte ich ihn diese Innere Vision als Stimme des Schöpfers selbst bezeichnen. Für ihn konnte sie niemals irren, selbst wenn logischer Verstand und stoffliche Realität anderer Meinung waren. Der Inneren Vision konnte man immer vertrauen, in allen Dingen der stofflichen und der geistigen Existenz. Der Mensch, sagte Großvater, sei eine Dualität, teils Fleisch und teils Geist. Der Mensch habe zwei Arten von Verstand, einen logischen Verstand, diesen übermäßig geschulten und übermächtigen Teil unseres Denkens, und einen spirituellen Verstand - eine Fähigkeit, die viel subtiler, aber auch viel mächtiger sei als alles, was Logik uns bieten könne. Großvater sagte, daß das logische Denken und das spirituelle Denken immer im Streit lägen. Das logische Denken wolle herrschen und nicht die Kontrolle an das spirituelle Denken abgeben, das wiederum nicht logisch zu begreifen oder zu erklären sei. Laut Großvater sollte das spirituelle Denken im Vordergrund stehen, denn dieses enthalte die Visionen, Kommunikationen und Geheimnisse des Universums. Vor langer Zeit hatte Großvater uns erklärt, der Mensch sei eine Insel, eingesperrt in sein logisches Denken, in sein Ich, in seine stoffliche Existenz: «Der Mensch ist wie eine Insel, ein Kreis innerhalb von Kreisen. Er ist von diesen äußeren Kreisen getrennt durch sein Denken, seine Glaubensvorstellungen und die Begrenzungen, die ihm durch ein Leben ohne den Kontakt zur Erde auferlegt sind. Der Kreis des Menschen, diese Insel des Selbst, ist der Ort der Logik, das Ich, das physische Selbst. Dieses Inselgefängnis hat starke Mauern, bestehend aus Zweifel und mangelndem Glauben. Die Isolation des Menschen von jenen weiteren Kreisen engt ihn ein und hindert ihn daran, das Leben klar zu erkennen. Er lebt in einer Welt der Unwissenheit, in der das Fleisch die einzige Wirklichkeit, der einzige Gott ist.» Großvater fuhr fort: «Jenseits dieser Insel des Ich, die den Menschen gefangen hält, liegt die Welt des Geistes, der sich in allen Dingen regt, jene Kraft, die sich in allem findet. Es ist eine Welt, die mit allen Wesen und Dingen der Schöpfung kommuniziert und in Verbindung mit dem Schöpfer steht. Es ist ein Lebenskreis, der alle Instinkte des Menschen umfaßt, seine tiefsten Erinnerungen, seine Fähigkeit, Körper und Geist zu beherrschen, und er ist zudem eine Hilfe, die es dem Menschen ermöglicht, sich über das Fleisch zu erheben. Diese Welt erweitert das Universum des Menschen und hilft ihm, mit der Erde zu verschmelzen. Vor allem führt sie ihn zu
seinem tieferen Selbst und zu spiritueller Ekstase.» «Es gibt noch einen weiteren Kreis, eine Insel jenseits des Kreises der Lebenskraft», fuhr Großvater fort. «Dies ist die Welt des Geistes. Der Mensch lebt auch in dieser Welt, sein Geist wandelt in diesem Land der Geister. Dort findet der Mensch eine Dualität seines Selbst, er kann einmal im Fleisch, einmal im Geiste wandeln. Es ist eine Welt des Unsichtbaren und Ewigen, wo Leben und Tod, Zeit und Raum nur Märchen sind. Hier ist alles möglich. Hier kann der Mensch sein Selbst überwinden und mit allen Dingen der Erde und allen geistigen Wesen verschmelzen. Diese Welt steht den grenzenlosen Kräften der Schöpfung ganz nahe. Jenseits dieser Welt liegt das Bewußtsein aller Dinge, der letzte Kreis der Macht vor dem Schöpfer. Der Mensch, der auf der Insel seines Selbst lebt, erfährt nur einen kleinen Teil dessen, was das Leben sein könnte. Er muß die Schranken seines Ich-Gefängnisses und seines Denkens durchbrechen und mit dem Schöpfer in Verbindung treten. Alle Inseln, alle Machtkreise müssen überwunden werden. Jede Welt muß völlig verstanden
und
schließlich
zu
einem
absoluten
und
reinen
<Eins-Sein>
verschmolzen werden. Es kann keine inneren und äußeren Dimensionen geben, keine Trennung des Selbst, nur reines Eins-Sein, wo der Mensch eine Absolutheit von Geist und Fleisch zugleich ist. In dieser Verschmelzung der Welten wird der Mensch alles erkennen, den tieferen Sinn des Lebens erfahren. Der Mensch bewegt sich in allen Dingen, und alle Dinge bewegen sich im Menschen. Dann, nur dann kann der Mensch hoffen, mit Gott in Berührung zu kommen. Der moderne Mensch kann diese Welten nicht erkennen, diese Kreise jenseits seines eigenen Ich. Das logische Denken wird ihm niemals erlauben, sich über das Ich und das Fleisch hinaus zu erweitern, denn nur in diesen Grenzen fühlt sich das logische Denken sicher. Das moderne Denken ist ein Gefängnis der Seele, es steht zwischen dem Menschen und seinem spirituellen Verstand. Das logische Denken erlaubt keinen absoluten Glauben, auch kein reines Denken, denn Logik lebt von Logik und akzeptiert nichts, was das Fleisch nicht erkennen und beweisen kann. So hat der Mensch ein Gefängnis für sich und seinen Geist geschaffen; was ihm fehlt, ist Glaube und reines Denken. Der Glaube braucht weder Beweise noch Logik, aber der Mensch braucht Beweise, bevor er zum Glauben finden kann. Der Mensch hat also einen Kreislauf geschaffen, den er nicht mehr unterbrechen kann. Wo Beweise nötig sind, kann es keinen Glauben geben.» Großvater beschloß das Gespräch mit den Worten: «Die Innere Vision ist das
spirituelle Denken, das Vehikel, die Brücke, die den Menschen mit jenen weiteren Welten verbindet, mit den weiteren Kreisen und Zyklen der Macht. Die Innere Vision ist es, die dem Menschen hilft, Fleisch und Logik zu transzendieren und mit den Welten jenseits des Fleisches zu kommunizieren. Die Innere Vision ist das reine Denken, das reine Selbst, sie muß geläutert und gepflegt werden, mehr als das logische, stoffliche Denken. Die Innere Vision ist es, die uns hilft, unsere Dualität zu erkennen und diese Dualität zu leben. Für mich ist es das wahre Denken, die einzige Wahrheit.» Obwohl ich diese Lehren vor mehr als einem Jahr in mich aufgenommen hatte, waren sie in meiner Erinnerung so frisch und aufregend wie am ersten Tag, als ich ihre Wahrheit erkannt hatte. Seit damals war kein Tag vergangen, an dem ich nicht an Großvaters Innere Vision dachte. Immer wurde ich an ihre Wahrheit erinnert, wenn ich beobachtete, wie Großvater täglich so wunderbaren Gebrauch von ihrer Kraft machte. Und in diesem dritten Jahr, das ich mit Großvater zusammen war, begann ich diese Kraft endlich zu verstehen. Es sollte eine der wichtigsten Lehren meines Lebens werden. Seit zwei Tagen hatten wir unser Camp bei der Medizinhütte aufgeschlagen und freuten uns auf die kommende Zeit, bevor wir Jungen wieder nach Hause müßten. Es war unser erster längerer Ausflug in die Wildnis in diesem Sommer, und wir wollten die Tage voll genießen. Die Schule war nur noch ferne Erinnerung, und die Endlosigkeit der vor uns liegenden Ferien schien uns das kostbarste Geschenk auf Erden. Doch am Morgen des dritten Tages im Camp, während Rick und ich den benachbarten Sumpf erforschten, bestürmten mich wieder viele Fragen nach der Inneren Vision. Wohl kannten wir die Fähigkeit Großvaters, mit den Welten jenseits des Stofflichen zu kommunizieren. Nach drei Jahren, in denen wir solche Wunder erlebten, hatten wir gelernt, auf seine Worte und Vorhersagen zu hören und sie als Wahrheit anzunehmen, auch wenn es keine logische oder materielle Erklärung gab. Wir konnten noch keinen Gebrauch von der Inneren Vision machen, aber wir lernten, Großvaters Fähigkeit zu vertrauen, denn er irrte niemals. In der letzten Nacht, während wir am Lagerfeuer saßen und sprachen, hatte Großvater uns erzählt, daß wir am nächsten Morgen von fünf verwilderten Hunden überfallen würden. Darum sollten wir auf der Hut sein. Wir hatten gelernt, niemals an Großvaters Worten zu zweifeln, und darum wußten wir, daß es so kommen würde. Während wir diesen
Sumpf erforschten, warteten wir auf die Ankunft der Hunde. Irgendwann unterbrachen Rick und ich unsere Erkundung; wir machten Rast, und ich lag im Gras und dachte an die Ereignisse des letzten Abends. Lebhaft erinnerte ich mich daran, wie Großvater irgendwann zu sprechen aufhörte, wie er in die Dunkelheit schaute mit seinem typischen, in die Ferne gerichteten Blick. Sofort wußte ich: er lauschte auf Dinge, die der normale menschliche Verstand nie verstehen würde. Sobald Rick und ich ihn in jene andere Welt eintreten sahen, verstummte unser Gespräch, und bebend vor Erwartung harrten wir dann der Dinge, die er dort vernehmen würde. Nachdem wir dies all die Jahre beobachtet hatten, wußten wir, daß etwas Wunderbares stattfinden würde, und stellten bei solchen Gelegenheiten nie eine Frage. Während Großvater in verzücktem Schweigen saß, dachte ich zurück an jenes erste Mal, als ich ihn «entschweben» sah, wie wir diesen Vorgang anfangs nannten. Rick und ich waren an diesem Wochenende ins Camp gekommen, um Großvater zu sehen und eine Weile bei ihm zu bleiben. Unterwegs hatten wir beschlossen, uns in den Überlebenskünsten zu üben und ein paar Fallen zu stellen. Nur ein paar Meilen vom Camp entfernt hatten wir einen brauchbaren Wildwechsel gefunden und dort unsere Fallen gestellt. Ich stellte eine Schlagfalle, und Rick legte eine Schlinge. Rasch beendeten wir die Arbeit und eilten weiter in Großvaters Camp. Während wir unsere Reisighütten bauten, kam Großvater endlich ins Camp zurück. Wir begrüßten ihn, und er überraschte uns damit, daß wir diesmal ein spirituelles Camp erleben sollten, ohne Jagd, nur mit Fasten und Meditation. Rick und ich tauschten Blicke und bauten wortlos unsere Schutzhütten fertig. Keiner von uns wagte Großvater zu erzählen, daß wir Fallen gestellt hatten. Doch wir beschlossen, daß wir, wenn er eingeschlafen wäre, zurücklaufen und die Fallen abbauen wollten. Nach dem Abendbrot saßen wir am Feuer und sprachen bis in den späten Abend von spirituellen Dingen. Als das Gespräch schließlich verebbte, begann ich einen Talking stick zu schnitzen, Rick bestickte einen Pfeifenbeutel mit Perlen, und Großvater saß an einen Baumstamm gelehnt — anscheinend schlief er. Langsam beugte sich Großvater vor, öffnete aber nicht die Augen. «Mein Enkel», sagte er und sah mich an, «ein Kaninchen hat deine Schlagfalle ausgelöst, aber es ist entkommen.» Nach kurzem Schweigen sprach er, nun an Rick gewandt, weiter: «Deine Schlinge hat es erwischt.» Er sank zurück gegen den Baumstamm und schlief wieder ein — oder was immer er nachts tun mochte.
Rick und ich waren höchst verwirrt. Wie konnte er wissen, daß wir Fallen gestellt hatten? Er befand sich viele Meilen südlich von uns, als wir sie aufbauten, und keiner von uns hatte die Fallen erwähnt. Wie konnte er wissen, wann sie ausgelöst wurden und daß es dasselbe Kaninchen war? Wir hatten die Fallen weit entfernt vom Camp aufgestellt, zwei Sümpfe lagen dazwischen, und es hätte lange gedauert, bis die konzentrischen Ringwellen einer Bewegung zu Großvater gelangten. Rick warf einen Blick auf seine Taschenuhr, und dann schlichen wir uns aus dem Camp und liefen zu dem Platz, wo die Fallen waren. Ich kam als erster bei meiner Falle an, und zu meiner Bestürzung war sie von einem Kaninchen ausgelöst worden. Wir folgten den Spuren, die unter Ricks Falle endeten. Dort hing das Kaninchen, hoch über unseren Köpfen. Damals konnten wir eine zwei Wochen alte Fährte nicht nur bestimmen, sondern auch auf die Minute feststellen, wann sie entstanden war. Diese Spuren waren genau zu der Zeit entstanden, als Großvater von den Fallen gesprochen hatte. Es war unmöglich, in so kurzer Zeit irgendwelche konzentrischen Wellen einer Bewegung aufzufangen, die ihm die Beute verraten hätten. Großvater erwartete uns im Camp. Erklärungen waren überflüssig, denn er hatte die ganze Situation vorausgesehen. Leicht beschämt, so erinnere ich mich, fragte ich ihn, wie er so genau hatte wissen können, zu welchem Zeitpunkt die Fallen ausgelöst wurden, was für Fallen es waren und daß es dasselbe Kaninchen war, das beide zuschnappen ließ. Was Großvater damals sagte, erklärte nicht nur die Innere Vision, sondern hing auch mit dem «Eins-Sein» zusammen, von dem er so oft sprach. Er sagte: «Wenn ein Kaninchen dir über den Rücken liefe, würdest du es nicht spüren? Es gibt keine Trennungen in der Kraft der Natur, keine innere und äußere Dimension. Wir sind Teil der Natur und die Natur ist Teil von uns.» Dies war meine erste Begegnung mit Großvaters Innerer Vision, und unzählige sollten folgen. Jetzt wanderten meine Gedanken zurück zu dem Sumpf, an dem ich saß. All die Ereignisse des letzten Abends, Großvaters Prophezeiung und seine Innere Vision, wirbelten mir durch den Kopf. Ich fragte mich, warum er niemals versucht hatte, uns diese Innere Vision zu lehren — vor allem, da sie für ihn das wahre und reine Denken war, die spirituelle Brücke? Möglicherweise, so dachte ich, war ich irgendwie unwürdig; oder vielleicht glaubte Großvater, ich sei noch nicht bereit. Auch erwog ich, daß sie vielleicht nicht gelehrt werden konnte. War es vielleicht eine Gabe, die nur wenige Sterbliche besitzen durften? Wie bereitwillig war ich, diese Innere Vision zu lernen, schon seit ich Großvater zum erstenmal davon hatte sprechen hören! Aber
aus irgendwelchen Gründen war er noch nicht bereit, sie mich zu lehren — wenn überhaupt. Rick und ich erforschten dann weiter den Sumpf, all unsere Sinne geschärft und regsam, und niemals länger bei einer Sache verweilend. Wir wollten sicher sein, daß wir es merkten, wenn die verwilderten Hunde kämen, so daß wir genügend Zeit hätten, uns kletternd auf Bäume zu retten. Rick und ich sprachen über das künftige Zusammentreffen mit diesen Hunden, als sei es ein unumstößliches Faktum. Wir hatten nicht die Spur eines Zweifels. Lachend stellten wir uns vor, wie wir Außenstehenden solche Dinge erklären sollten. Unsere Freunde, alle Menschen in dieser Gesellschaft, würden uns für verrückt halten. Dies galt solange, bis die Hunde endlich da waren. Aber auch dann, so glaubten wir, würde niemand wirklich verstehen, was wir seit vielen Jahren erlebten. Während wir weiter den unteren Sumpf erforschten, beschlich mich ein sonderbares Gefühl. Es war nicht unähnlich dem Gefühl, beobachtet zu werden, vermischt mit banger Ahnung und Furcht. Wenngleich unbegründet durch die äußere Realität, war es doch eine deutliche Spannung, irgendwo tief in meinem Inneren. Ohne Zögern rief ich Rick zu, er solle den nächsten Baum erklettern. In meiner Stimme lag soviel Furcht und Erregung, daß Rick nicht säumte, und schnell kletterten wir zwei hohe Fichten hinauf, nicht weit von dem kleinen Bach. Wortlos klammerten wir uns an die oberen Äste und suchten beide die Landschaft ab - auf Zeichen von streunenden Hunden. Doch es war keine Bewegung zu sehen, keine Veränderung im Ablauf der Dinge, die uns die Anwesenheit von Hunden verraten hätte. Ich wunderte mich allmählich, warum ich so plötzlich in Panik geraten war und uns beide auf die Bäume hinaufgejagt hatte. Nach langem, forschendem Schweigen rief Rick zu mir herüber und erkundigte sich, wo ich die Hunde eigentlich gesehen hätte. Ich wußte keine Antwort und konnte ihm nur sagen, daß ich aus irgendeinem Grund eine unbehagliche Panik empfunden hätte. Mit einer hübschen Sammlung frischer Kratzer von den rauhen Ästen verziert, fühlte ich mich wie ein Idiot. Die Vorahnung vom Kommen der Hunde hatte mich ganz nervös gemacht, so glaubte ich, und so war ich in Panik geraten. Rasch entschuldigte ich mich bei Rick für meine Dummheit und ließ mich den Baumstamm hinabgleiten. Rick verstand, glaube ich, denn er sagte kein Wort, und ich wußte, daß er selbst schon viele Male den gleichen Fehler gemacht hatte. Ja, wir beide! Angst kann eine ganze Menge sonderbarer Gefühle und wunderlicher Handlungen auslösen.
Beinah am Boden angekommen, überfielen mich wieder Angst und Panik. Wieder schrie ich zu Rick hinüber, ohne an meinem Gefühl zu zweifeln, wie in blinder Reaktion auf einen inneren Zwang. Und wieder kletterten wir hinauf, ohne Zögern und ohne Fragen. Das heißt, bis wir den Wipfel erreicht hatten. Nachdem wir noch einmal die Landschaft abgesucht und nichts entdeckt hatten, blickte Rick spöttisch zu mir herüber und fragte: «Habe ich dir schon mal die Geschichte von dem Jungen erzählt, der <Wolf! Wolf!> schrie?» Am Ton seiner Stimme merkte ich, daß er nicht wütend war, sondern nur leicht belustigt. Während wir wieder hinunterkletterten, fühlte ich mich in meinem Stolz und meiner Glaubwürdigkeit getroffen. Gewiß, so dachte ich, war ich schon früher in ähnlichen Situationen in Panik geraten, doch nie in so extremer Form. Als wir den Boden erreicht hatten, stiegen wiederum Furcht und Panik in mir auf, irgendwo ganz tief innen. Diesmal bekämpfte ich dieses Gefühl, denn schon zweimal hatte ich mich benommen wie ein Idiot und wollte es nicht ein drittesmal tun. Wir waren nur ein paar Schritte von unseren Bäumen entfernt, als mich wieder dieses Gefühl packte - diesmal mit unglaublicher Macht. Ich blieb so plötzlich stehen, daß Rick sich unwillkürlich nach mir umdrehte — eine Mischung von Spott und Verachtung in seinen Zügen. Ich lauschte hinaus in die Landschaft und spähte nach Zeichen für irgendwelche konzentrischen Ringe, die eine Bewegung verrieten - doch da war nichts. Dennoch war ich starr vor Furcht, gelähmt von Gefühlen, die ich nicht ganz verstand, nicht mal genau erkannte. Diesmal mußte ich mich mit Gewalt zwingen, meine Lähmung zu überwinden und mich in Bewegung zu setzen. Wir lösten uns von den Bäumen, die wir erklettert hatten, und wollten wieder hinauswandern in die geheimen Winkel des Sumpfes. Genau in diesem Moment passierten mehrere Dinge gleichzeitig. Erstens kehrten Furcht und Panik zurück, und zweitens wurde mir klar, daß die einzigen beiden Bäume, die man erklettern konnte, mehrere Meter entfernt waren. Es waren die einzigen höheren Bäume in diesem Teil des Sumpfes, zumindest leicht erreichbar. Jetzt machte Rick endlich den Mund auf. Mit bebender Stimme sagte er: «Ich habe ein ganz schlechtes Gefühl, seit wir die Bäume verlassen haben.» Und ohne zu zögern, rannten wir beide zurück zu den Bäumen am Bach. Kaum unter den Bäumen angekommen, hörten wir ein Knacken im Gebüsch und heftige Bewegungen, kaum drei Meter entfernt von der Stelle, wo wir gestanden hatten. Dann folgten wütendes Knurren und Kläffen, und wir konnten uns gerade
noch auf die Bäume schwingen, als die Hunde schon an den Stämmen hinaufsprangen und wütend nach unseren Fersen schnappten. Dann klammerten wir uns mit letzter Kraft an die Äste der Wipfel, zitternd, nachdem wir mit knapper Not entkommen waren. Lange sprachen wir kein Wort - starrten nur hinunter auf die fünf Hunde, die unsere Bäume umkreisten. Wir wunderten uns nicht, daß die Hunde gekommen waren, denn wir hatten sie erwartet. Noch bevor ich hinunterschaute, wußte ich, daß es fünf waren. Für mich gab es keinen Zweifel. Aber ich glaube, wir waren beide froh, hoch in den Bäumen zu sitzen, denn wären wir einen Schritt weitergegangen, hätten eine Sekunde länger gezögert, hätten wir es nicht mehr rechtzeitig geschafft. Eine Ewigkeit schien es zu dauern, bis die Hunde sich endlich entfernten. Aber jedesmal, wenn wir hinunterklettern wollten, empfanden wir wieder Furcht und Panik - und kletterten wortlos wieder hinauf. Jedesmal kehrten die Hunde sofort zurück, als beobachteten sie uns von irgendwoher. Rick und ich sprachen kein Wort miteinander, denn aus jahrelanger Erfahrung mit solchen Hunden wußten wir, daß der Klang menschlicher Stimmen sie noch stärker reizte. Besonders Stimmen, in denen Furcht mitschwang. Tatsächlich sollte es lange dauern, bevor wir auch nur einen Blick wechselten. Ich vermute, daß Rick seinen Gedanken nachhing, genau wie ich — über die Ereignisse bis zu dem Moment, als wir den Hunden mit knapper Not entkamen. Uns beiden war rätselhaft, wieso wir gewußt hatten, daß die Hunde da waren, wo doch alle physischen Beweise für das Gegenteil sprachen. Endlich sank die Sonne zum Horizont, und sofort überkam mich ein Gefühl tiefer Erleichterung. Ich sah zu Rick hinüber und erkannte an seinem Gesichtsausdruck, daß es ihm genauso erging. Es war, als sei ein unsichtbarer Schleier von meinem Körper gelüftet, als könne ich wieder frei atmen. Alle Furcht und Panik waren verschwunden, und irgendwie wußte ich, daß die Hunde nicht mehr wiederkommen würden. Ich forschte in mir nach einer logischen Erklärung für dieses Gefühl, aber es gab keine. Ich wußte nur, ich war sicher, daß die Hunde uns verlassen hatten, daß sie fortgelaufen waren und uns nicht mehr gefährden konnten. Fast konnte ich sie noch in der Ferne spüren. Wortlos kletterten Rick und ich hinunter, dabei in die Landschaft horchend nach irgendwelchen Geräuschen, die uns die Rückkehr der Hunde verraten hätten. Diesmal aber gab es keine bösen Ahnungen, kein Gefühl der Furcht oder Panik. Ich fühlte mich in Sicherheit. Als ich nach Ricks Baum hinüberspähte, war ich überrascht,
ihn schon unten am Boden stehen zu sehen. Auch er schien zufrieden mit seiner Entscheidung. Ohne uns abzusprechen, pirschten wir uns dann vorsichtig aus dem Sumpf, immer die dunkle Landschaft im Auge behaltend und den Geräuschen der Natur lauschend. Meine Sinne waren angespannt bis zum Zerspringen, aber kein Zeichen verriet, daß etwas nicht stimmte. Ich war sehr wachsam und fühlte mich dennoch sicher und frei, besonders als wir endlich den Weg aus dem Sumpf und die hohen Bäume am Rand erreichten. Wir liefen noch ein paar Meilen, ohne daß einer von uns ein Wort sprechen konnte. Nachdem wir uns endlich zu einer kurzen Rast niedergelassen hatten, brachen wir unser langes, intensives Schweigen. Zuerst sahen wir uns nur staunend an. Wir wußten nicht, was wir sagen sollten, wie wir es sagen sollten. Irgendwie waren wir mit einer höheren Bewußtheit in Verbindung getreten, von der wir bis dahin nichts wußten. Aber keiner von uns konnte es erklären, zumindest nicht mit Worten. Endlich sagte Rick: «Du hattest von Anfang an recht. Hast du gesehen, wie nah diese Hunde waren? Hast du gesehen, wie lange sie im Gebüsch lagen, bevor sie uns angriffen? Nach den Lagerspuren, die wir gesehen haben, sind sie länger als eine halbe Stunde dort gewesen. Du hast gewußt, daß sie kommen würden — mindestens eine Stunde, bevor sie sich auf die Lauer legten. Wie, zum Teufel, konntest du das wissen? Nichts Ungewöhnliches zeigte sich in der Umgebung, und ihre Spuren verraten, daß sie sich langsam in diese Gegend pirschten. Na, ich hätte auf dich hören sollen.» Ich dachte lange nach über Ricks Worte. Ich hatte die Spuren der Hunde gesehen, die zu ihrem Versteck führten. Darum wußte ich, sie hatten sich angepirscht zu der Zeit, als mich dieses sonderbare Gefühl beschlich, beobachtet zu werden, verbunden mit tiefer Furcht und Panik. Doch hatte ich nicht gewußt, wieso ich dieses Gefühl gehabt hatte oder woher es kam. Ich wußte nur, daß ich mit Worten nicht erklären konnte, was ich empfunden hatte. Ich wußte, es gab keine konzentrischen Ringe irgendeiner Bewegung, denn die Hunde hatten sich leise angepirscht und sich dann auf die Lauer gelegt. Allerdings wußte ich, daß meine Gefühle sehr real gewesen waren — so real, daß ich ihnen fraglos gehorchen mußte. Sie waren wirklicher gewesen als alles, was ich mit meinen physischen Sinnen hätte aufnehmen können. Zu Rick sagte ich, daß ich vermutlich nur Glück gehabt hätte, und ließ es dabei bewenden. Es war schon dunkel, als wir das Camp erreichten. Beide waren wir müde von unserer Anstrengung, aber so voller Fragen, daß wir uns nicht recht entspannen konnten. Zum Glück hatte Großvater ein Feuer gemacht, und ein Topf mit Fleisch
und Kräutern stand zum Essen bereit. Ich wollte ihn gleich mit Fragen überfallen, die mir im Kopf herumgingen. Aber Großvater wollte nichts davon wissen, bevor wir gegessen und uns ein Weilchen ausgeruht hatten. Schweigend verzehrten Rick und ich unser Abendbrot. Von außen betrachtet, sah es vielleicht so aus, als ob wir in uns hineinschwiegen. In unserem Innern aber brodelten Fragen und Gefühle, wir waren in das Wirken unseres Selbst vertieft und gleichgültig gegen die äußere Welt. Großvaters Stimme holte mich wieder in die bewußte Realität. Er sagte: «Ich mußte warten, bis ihr das Gefühl der Inneren Vision ganz und gar erfahren würdet. Vorher war sie nicht geläutert, nicht wahrnehmbar für euch, also konnte ich sie euch nicht lehren. Nun ist euch beiden heute dies passiert. Es war schon lange fällig, aber ihr hättet die Lehre nicht ganz verstanden und die Weisheit der Inneren Vision nicht eher aufnehmen können, bevor sie so tief und mächtig zu euch sprach, wie ihr es heute erlebt habt. Wie hätte ich euch etwas lehren können, was ihr nur vage verstehen könnt? Obgleich es schon immer in euch steckte, bedurfte es eines mächtigen Anstoßes, um den Keim dieses Wissens in euch zu pflanzen. Und daraus wird die reine Innere Vision wachsen.» Ich war nicht im mindesten überrascht, daß Großvater genau wußte, welche Fragen mich bewegten, noch wunderte ich mich darüber, daß er wußte, was uns in diesem Sumpf widerfahren war. Ich war ebenso wenig erstaunt, daß er meine Fragen kannte, wie ich mir ja auch sicher gewesen war, daß die Hunde kommen würden, wie er es vorhergesagt hatte. Überrascht war ich allerdings darüber, daß er sagte, Rick und ich seien mit unserer Inneren Vision in Verbindung getreten. Mir war nicht klar gewesen, daß dies der Ursprung meiner unangenehmen Gefühle war. Aber ich verstand vor allem nicht, wieso er meine Innere Vision als ungeläutert und unwahrnehmbar bezeichnete. Hatte sie mich nicht auf den Baum klettern lassen und mich vor den Hunden gerettet? Hatte sie nicht nachgelassen, als die Gefahr schließlich verschwand? Wieso war sie also ungeläutert oder unwahrnehmbar, fragte ich mich? Wieder unterbrach Großvaters Stimme meine Gedanken. Er sagte: «Wäre die Innere Vision geläutert gewesen, dann hättet ihr genau gewußt, wo die Hunde euch finden würden, und zwar lange, bevor ihr heute morgen aus dem Camp aufgebrochen seid. Ihr hättet genau gewußt, wo sie sich befanden, als ihr zum ersten Mal auf die Bäume geklettert
seid;
und
ihr
hättet
auch
gewußt,
wann
es
Zeit
war,
wieder
herunterzuklettern. Die reine Innere Vision braucht kein logisches Denken. Ihr hättet
nicht nur gewußt, daß die Hunde da sind, sondern ihr hättet sie auch im Kreislauf des Geistes gesehen, der sich in allen Dingen bewegt — und in dem weiteren Kreis, der Insel der Geisterwelt. Wie ich euch sagte, habt ihr seit jeher diese Gabe; sie ist euer Geburtsrecht, wie auch alle anderen diese Gabe besitzen. Nun müßt ihr lernen, diese Gabe zu läutern und euch von ihr führen zu lassen.» «Was meinst du damit, ich hätte die Gabe seit jeher gehabt?» fragte Rick. Großvater sah uns lange an, musterte unsere fragenden Gesichter und sagte verschmitzt: «Ihr kennt eure Gabe ganz gut. Aber sie ist noch schwach und ungenutzt. Sie wird gefangen gehalten von eurem logischen Verstand, der sie ihrer Macht beraubt.» «Aber ich hatte noch nie Gefühle, wie ich sie heute erlebte», warf ich ein. «Vielleicht nicht mit solcher Intensität», sagte Großvater. «Aber du hattest schon solche Gefühle. Du wußtest nur nicht, wie du sie deuten oder bezeichnen solltest. Darum hast du sie beiseite geschoben.» Rick und ich schwiegen lange. Wir staunten über Großvaters Worte. Ich wußte, noch nie hatte ich Gefühle gehabt wie an diesem Tag mit den Hunden. Wenn ich früher einmal in Panik geriet, war sie niemals berechtigt, und nichts kam dabei heraus. Großvater riß mich aus meinen Gedanken und sagte: «Hattest du nie das Gefühl, beobachtet zu werden, und fandest dann heraus, daß dich tatsächlich jemand beobachtete? Oder bist du niemals einen Weg entlang gewandert mit einem unbehaglichen Gefühl und merktest später, daß du an einem vergessenen Friedhof vorbeigekommen warst? Wie oft hast du mir erzählt, daß du glaubtest, du würdest zu Hause gebraucht, und es war dann tatsächlich so?» Wir konnten beide zustimmen, daß solche Dinge uns bereits früher passiert waren. Dann sagte Großvater schlicht: «Dies also ist die ungeläuterte Form der Inneren Vision.» Ich beobachtete Großvater, wie er aufstand und sich vom Feuer entfernte, und meine Augen folgten ihm in die Dunkelheit der Nacht. Es war Großvaters Art, uns ein Stück neuen Wissens zu vermitteln und sich dann zu entfernen, um uns Zeit zum Nachdenken zu geben, bevor er seine Unterweisung fortsetzte. Manchmal konnte es Wochen dauern, ja Monate und sogar Jahre, bevor er weitere Einzelheiten hinzufügte. Denn er wollte uns genügend Zeit lassen, um zu verstehen und unsere Kenntnisse zu üben, bevor er fortfahren konnte. Niemals übereilte er etwas, immer breitete er seine Lektionen langsam aus. Manchmal ging er sogar so weit, uns nur
einen Teil des Wissens zu vermitteln, so daß wir scheitern müßten, sobald wir es in der Praxis erprobten. Auf diese Weise konnten wir, wenn die abschließende Lektion erfolgte, aufgrund der Erfahrung unseres Scheiterns verstehen, wie und warum etwas auf eine bestimmte Weise getan werden mußte. Viele Lektionen konnten nur nach erheblicher Übung abgeschlossen werden und manchmal erst nach solchem Scheitern. Ich hoffte nur, daß es sich diesmal nicht so verhielt. Weder war mir klar, was ich eigentlich üben sollte, noch wo ich anfangen sollte, und ganz gewiß wollte ich nicht versagen. So aber war Großvaters Art, und wie ich aus Erfahrung wußte, war seine Art der Unterweisung die beste. So beschloß ich, mich um Erfolg oder Scheitern nicht weiter zu sorgen, sondern nachzudenken über all das, was Großvater uns gefragt hatte. Ja, ich hatte oft das Gefühl gehabt, beobachtet zu werden. Auch kannte ich diese unbehagliche Gewißheit, daß zu Hause etwas nicht stimmte. Es gab solche und andere Dinge, die mir widerfahren waren - nie aber so mächtig wie die Gefühle, die ich heute mit den Hunden erlebt hatte. Noch immer verstand ich nicht ganz, was Großvater meinte, als er unsere Innere Vision als ungeläutert bezeichnete. Ich verstand nur, daß die Innere Vision, die wir erfahren hatten, uns nicht verraten konnte, wo die Hunde sich befanden. Dennoch hatte sie uns rechtzeitig gewarnt, und zwar sehr deutlich. Zu meinem Bedauern wußte ich immer noch nicht, woher diese Innere Vision kam, noch war mir klar, wie sie mit mir kommuniziert hatte. Zumindest konnte ich dies nicht logisch begreifen. Die halbe Nacht schien vergangen, bis Großvater zum Camp zurückkehrte und sich ans Feuer setzte. Ohne meine Fragen abzuwarten, fing er an zu sprechen: «Die Innere Vision kommuniziert mit uns nicht mit menschlichen Wörtern oder Begriffen, sondern durch die Sprache des Herzens. Sie spricht zu uns nur durch Gefühle, Symbole, Zeichen, Träume und Wach-Visionen. Schwierig wird es nur, wenn wir versuchen, solche Mitteilungen in Worten auszudrücken, wie das logische Denken sie versteht. Wenn aber diese Dinge interpretiert werden, geschieht es oft, daß sie entstellt oder gänzlich mißverstanden werden, weil der logische Verstand sie nicht akzeptieren kann. Der logische Verstand, dieser über-trainierte Teil des Selbst, baut ein Gefängnis für den menschlichen Geist und zerstört oder erstickt damit die reine Innere Vision.» Großvater wartete ein Weilchen und ließ uns Zeit, seine Worte aufzunehmen und zu verstehen. Dann fuhr er fort: «Bei eurer Begegnung mit den Hunden war eure Innere
Vision deshalb so stark und fühlbar, weil euer logischer Verstand abgelenkt war durch Furcht und Wachsamkeit. Durch diese Ablenkung konnte sich die Innere Vision stark und deutlich bemerkbar machen. Sie sprach zu euch nicht in Worten, sondern durch Gefühle und Emotionen, und ihr wußtet genau, auch ohne physische Beweise, wodurch diese Gefühle hervorgerufen wurden. Da gab es keinen Zweifel, nur ein unmittelbares Wissen, dessen Grund ihr nicht kanntet. Hätte euer Verstand geschwiegen, wäre eure Innere Vision geläutert gewesen, dann hättet ihr all dies von Anfang an gewußt. Ihr hättet Klarheit gehabt, ohne daß Worte oder Erklärungen nötig gewesen wären.» Großvater stand auf, warf uns schmunzelnd einen Blick zu und verschwand in der Dunkelheit. Während ich langsam zu unserem «heiligen Platz» ging, um dort zu beten, und mich dann schlafen legen wollte, erinnerte ich mich wieder an meine zweite Visionssuche, die mich lehrte, das geläuterte Denken einzusetzen. Drei Tage lang hatte ich damals an meinem Quest-Platz gesessen, als ich eine der wertvollsten Lektionen meines Lebens erfuhr. Bis dahin hatte ich geglaubt, meine Visionssuche
wäre
zum
Scheitern
verurteilt.
Ich
wußte
noch
nichts
vom
Zusammenhang zwischen physischer und geistiger Welt. Ich verstand einfach nicht, wie ich mit der geistigen Welt umgehen sollte. Ich konnte nicht richtig kommunizieren mit dieser Welt, weil ich viel zu wenig von ihr wußte. Großvater hatte gesagt, ich müsse reinen Glaubens sein. Mir fehle es an solcher Reinheit, und mein logisches Denken dränge sich zu stark in den Vordergrund. Damals verstand ich nicht, was er damit meinte. Am ersten Morgen meiner Visionssuche geschah es, daß ich mich unabsichtlich von meinem Quest-Platz entfernte, ohne zu bedenken, daß ich eigentlich am Platz hätte bleiben sollen. Die Frage nach jener Reinheit ließ mir keine Ruhe. Es zog mich zu einem Fluß in der Nähe, als führte mich eine äußere Kraft dorthin. So saß ich am Ufer, starrte in das stille Wasser und dachte an das Problem der Reinheit. Jetzt sah ich das reine Abbild der Natur auf der spiegelblanken Wasseroberfläche, dazu auch mein eigenes Spiegelbild. Dann kam eine leichte Brise auf, und das Wasser begann sich zu kräuseln. Das reine Bild schwankte und zitterte, und dann war jegliche Spiegelung verschwunden. In diesem Moment kam mir das Wort «Gedanken» in den Sinn — ich hatte die Antwort auf das Problem der Reinheit gefunden! An diesem Tag hatte ich gelernt, daß unser Verstand ähnlich dem Wasser ist. Wenn uns
Gedanken,
Analysen
und
Definitionen
bewegen,
rühren
wir
die
Gemütsoberfläche auf, und es kann keine reinen Bilder geben. Alles verliert sich in der Bewegung der Gedanken. Nur wenn das Denken still und rein ist, ohne Bedürfnis nach Definitionen, erhalten wir ein reines Spiegelbild. Jetzt wurde mir endlich klar, daß ein Zusammenhang zwischen der natürlichen Welt und der geistigen Welt bestehen muß. Endlich verstand ich die Reinheit des Denkens und wie ich auf reine, wahrhafte Art kommunizieren konnte. Ich hatte damals gelernt, daß man jene Welten in der Stille verstehen muß, um mit ihnen zu kommunizieren. Ich wußte nun, daß unser logischer Verstand solche wahre Kommunikation nur behinderte, solch wirkliches Sehen und Verstehen. Es war eine meiner größten Entdeckungen gewesen. Den nächsten Vormittag und den größeren Teil des Nachmittags nach unserem Abenteuer mit den Hunden verbrachte ich mit Arbeiten im Camp. Die Ereignisse des letzten Tages schienen mir fern, aber noch immer glühte in mir das Verlangen, die Innere Vision besser kennen zulernen. Mit Gewalt mußte ich mir jeden Gedanken an sie aus dem Kopf schlagen, sonst hätte ich mich auf nichts anderes konzentrieren können. So zerstreut war ich manchmal, daß ich sogar die einfachsten Arbeiten verpfuschte. Großvater sah meine Zerstreutheit und kicherte jedesmal vor sich hin, wenn ich wieder einen Patzer machte. Ich glaube, er wußte, wie mir zumute war, denn er meinte: «Konzentriere dich jetzt auf das, was du tust. Heute abend sprechen wir wieder von der Weisheit der Inneren Vision. » Nachdem die Last fruchtlosen Nachdenkens von mir genommen war, fand ich wieder Spaß an meinen Aufgaben. Doch war mir klar, daß ich den ganzen Tag mit überflüssigen Gedanken verschwendet hatte. Nach dem Abendbrot machte ich Ordnung im Camp und versuchte noch ein paar Arbeiten zu verrichten, die bei Dunkelheit nicht mehr getan werden konnten. Großvater hielt sich etwas abseits vom Camp auf an der Stelle, wo er nach dem Essen oft saß. Er bewegte sich nicht, sondern schien vielmehr auf etwas zu warten, wie seine Haltung verriet. Von Neugier überwältigt, lief ich zu ihm hinüber und fragte, ob alles in Ordnung sei. Er musterte mich aufmerksam und fragte: «Hast du nicht etwas vergessen?» Seine Frage erschreckte mich, und im Kopf überprüfte ich all die Dinge, die ich während des Tages getan hatte. Ein nagendes Gefühl machte sich in meiner Magengrube breit, während seine Augen mich fragend musterten. Wortlos stand Großvater auf und ging fort, anscheinend unzufrieden mit mir. Wohl erinnerte ich mich, daß Großvater mich gebeten hatte, irgend etwas für ihn zu
besorgen. Aber mir wollte nicht einfallen, was es gewesen sei. Während mein Kopf um Antworten rang, legte sich ein Druck auf meine Magengrube, und das Gefühl, etwas vergessen zu haben, überwältigte mich. Stundenlang grübelte ich nach. Doch was er verlangt hatte, wollte mir nicht einfallen. Bis weit in die Nacht ging ich im Camp auf und ab. Es war spät geworden, und es wurde still im Lager. Rick schlief schon, und ich blieb allein in der Stille mit meinen bohrenden Gedanken. Diese wanderten rastlos durch die Ereignisse des Tages und zu allen Gesprächen, die ich mit Großvater gehabt hatte, aber noch immer fiel mir nichts ein. Dabei wußte ich ganz gut, daß er mich gebeten hatte, irgend etwas für ihn zu tun. Und wenn ich etwas für Großvater zu tun vergaß, so war das für mich eine Todsünde. Solch ein Vergessen plagte mich bis ins Innerste meiner Existenz, und mein Herz lechzte nach Antworten. Irgendwie gab ich mein grübelndes Nachdenken schließlich auf und starrte nur noch ins Feuer, eingehüllt in die Reinheit meines Alleinseins. Dabei spielte ich gedankenlos mit einem Stöckchen. Ich begann damit in der Asche zu stochern, so daß das Feuer hell in die Nacht loderte. Noch immer verzehrte ich mich nach einer Antwort, was ich vergessen haben könnte, aber ich hatte den Kampf mit meinen Gedanken längst aufgegeben. Ich hob den Stock aus dem Feuer und hielt ihn empor, scharf abgezeichnet gegen die Schwärze des nächtlichen Himmels. Plötzlich sah ich das Bild einer Fackel vor mir, und eine riesige Last war mir vom Herzen genommen. Ich hatte vergessen, eine Fackel auf Großvaters heiligen Platz zu bringen! Die Erleichterung, als ich mich endlich erinnerte, war überwältigend. Auf einmal konnte ich wieder atmen. Ich sprang auf und rannte zum Vorratslager hinter meiner Hütte, um eine der Fackeln zu holen, die ich Anfang der Woche angefertigt hatte. Auch wenn es spät geworden war, konnte ich die Fackel hinübertragen zu Großvaters heiligem Platz, um sie dort für ihn hinzulegen. Vielleicht würde er uns morgen das Wissen der Inneren Vision lehren - jetzt, da ich mich erinnert hatte, ihm die Fackel zu bringen. Ich konnte nur hoffen, daß er mir nicht böse war, weil ich sie so spät brachte. Aber andererseits schien Großvater nie böse zu sein wegen solcher Dinge. Jedenfalls war ich froh und glücklich, daß ich mich erinnert hatte. Denn nie wollte ich Großvater enttäuschen. Ich lief hinüber zu Großvaters Lager, das eine knappe Meile entfernt war. Vorsichtig bahnte ich mir meinen Weg durch die Dunkelheit und schlich langsam näher. Ich wollte ihn nicht stören, falls er ins Gebet vertieft saß, aber andererseits gab es ja
kaum etwas, das Großvater nicht merkte. Ich kicherte bei der Vorstellung, daß Großvater längst von meinem Kommen wußte, noch bevor ich aus meinem Camp aufgebrochen war. Ich pirschte mich an den Platz heran, aber es war zu dunkel, um zu erkennen, ob er sich dort befand. Leise schob ich mich durchs Gebüsch und legte die Fackel neben den alten Baumstamm am Rand seiner heiligen Stätte. Als ich gerade gehen wollte, drang seine Stimme durch die Stille der Nacht. Er sagte: «Setz dich, mein Enkel. Ich habe dich erwartet. » Ich war so überrascht und erschrocken, daß ich beinah stolperte. Nicht oft geschah es, daß Großvater an seinem heiligen Platz zu uns sprach. Aber wenn er es tat, war es immer eine besondere Lektion. Meine Stimme bebte vor Aufregung, als ich mich dafür entschuldigte, daß ich die Fackel so spät gebracht hatte. Großvater lachte nur und hieß mich sitzen. Er deutete auf eine Strohmatte neben ihm. Es war offenkundig, daß er mich erwartet hatte. Ich fragte ihn, wie er habe wissen können, daß ich kommen würde. Ich hätte gar nicht daran gedacht, in sein Camp zu kommen, bevor mir die Fackel eingefallen sei. Er meinte lachend: «Ich wußte, du würdest dich an die Fackel erinnern - wie ich auch wußte, daß du sie zunächst vergäßest. Ich habe dir diesen Gedanken eingepflanzt, damit du ihn vergessen und dich später erinnern solltest. » Ich war verwirrt, gelinde gesagt. Wie konnte er mir einen Gedanken einpflanzen, den ich — wie er wußte — vergessen würde, nur um mich später daran zu erinnern? Gerade als ich ihn fragen wollte, fiel er mir ins Wort. In spielerischem Ton, aber keineswegs spöttisch, sagte er: «Ich bat dich um die Fackel, als du in Gedanken mit etwas anderem beschäftigt warst. Ich brachte meine Bitte so vor, daß du sie zwar hören, nicht aber bewußt wahrnehmen konntest. So hast du sie einfach vergessen. Du konntest dich zwar erinnern, daß du etwas vergessen hattest, aber du wußtest nicht, was es war. Dies tat ich nur, um dich das Wissen der Inneren Vision zu lehren. Jetzt, da du dich an die Fackel erinnert hast, kann ich mit der Lektion anfangen. Vorher war dies nicht möglich - zuerst mußtest du diesen Punkt erreichen. Diese Spannung in deiner Magengrube, als du dich erinnern wolltest, aber nicht konntest, war deine Innere Vision, die sich verzweifelt bemühte, zu dir zu sprechen. Wie ich schon sagte, haben die Welten des Geistes und jener weiteren Kreise genaue Kenntnis von allen Dingen. Tief in deinem Innern wußtest du genau, was du vergessen hattest. Weil deine Innere Vision mit deinem logischen Verstand kommunizieren wollte, aber nicht konnte, spürtest du diese Spannung. Diese
Spannung, dieses Gefühl in der Magengrube zeigen uns, daß unsere Innere Vision zu uns zu sprechen versucht. Darum lockert sich die Spannung in der Magengrube, sobald die Antwort auf mentaler Ebene gefunden ist. Dein höheres Selbst ist erleichtert, daß du eine Antwort gefunden hast - eine Antwort, die es während der ganzen Zeit schon wußte.» «Ich weiß aber noch immer nicht, wie die Innere Vision schließlich mit mir kommunizieren konnte», sagte ich. Großvater entgegnete: «Erinnere dich, daß die Innere Vision nicht mit Worten zu uns spricht, sondern durch Gefühle, Symbole, Wach-Visionen, Träume und Ahnungen. Als du den brennenden Stock emporhobst, war dies ein Symbol für die Fackel, und mit Hilfe deiner Inneren Vision konnte dein logisches Denken dieses Symbol verstehen. Es ist die gleiche innere Spannung, wie du sie empfindest, wenn du das Gefühl hast, beobachtet zu werden, oder immer dann, wenn etwas aus der natürlichen oder Geisterwelt mit dir kommunizieren will. Durch diese innere Spannung teilt die Innere Vision uns mit, daß sie kommunizieren will, und das Nachlassen der Spannung sagt uns, daß wir die Antwort gefunden haben.» Großvater machte eine Pause, um mir wie immer Gelegenheit zu geben, alles in mich aufzunehmen, was er gesagt hatte. Bislang war mir nicht klar gewesen, daß dies die Art war, wie die Innere Vision mit mir kommunizierte. Ich hatte schon häufig dieses Gefühl gehabt, aber nicht begriffen, woher es kam. Auch das Nachlassen dieser Spannung in der Magengrube kannte ich wohl, aber jetzt endlich verstand ich, woher es kam und was es bedeutete. Noch immer war mir sehr unklar, wie ich mit diesen Dingen tatsächlich und in verständlicher Form kommunizieren sollte. Ich wußte, es war das Symbol der Fackel gewesen, das meiner Erinnerung half- aber wie funktionierte dies in der natürlichen und Geisterwelt? Falls der brennende Stock tatsächlich das Symbol war - warum konnte ich es nicht früher finden? Ich dachte, es müsse einen besseren Weg geben, die Innere Vision zu befragen, um sofort klare und verständliche Antworten zu bekommen. Großvater fuhr fort: «Solange du nicht gelernt hast, die Mitteilungen der Inneren Vision zu läutern, wird diese Kommunikation stets etwas unbestimmt und schwer verständlich sein. Ohne Läuterung der Inneren Vision sind die Antworten manchmal schwach und unklar, und der Erfolg bleibt uns versagt. Zuerst mußt du lernen, eine starke Verbindung zu den Mitteilungen der Inneren Vision herzustellen; dann mußt du lernen, sie vollkommen zu läutern. Du kannst dich auch mit den schwierigen,
ungeläuterten Formen dieser Kommunikation begnügen. Doch um Vollkommenheit zu erreichen, muß alles geläutert sein. Ohne solche Läuterung könnten die Antworten unvollständig und sehr gefährlich sein. » «Wie kann ich diese Kommunikation einüben?» fragte ich. «Das Fackel-Symbol war doch Zufall, und ich kann nicht erkennen, wie ich mit dieser Kommunikation arbeiten könnte, selbst wenn sie geläutert wäre. » Großvater sagte: «Alle Geschöpfe haben doch einen Überlebensinstinkt. Jedes Lebewesen weiß genau, wie es auf die Jagd gehen und was es fressen soll und wo es Unterschlupf findet. Wenn eine Hirschkuh stirbt, stirbt dann ihr Kitz ebenfalls? Natürlich nicht. Denn es weiß, was es fressen soll, wie es am Leben bleiben kann. Selbst wenn die Kuh noch da ist, bringt sie dem Kitz nur wenig bei. Die Instinkte sind da, und die Hirschkuh kann diese Instinkte bestenfalls fördern. Auch du hast solche Instinkte. Tief in deiner Inneren Vision weißt du alles, was du zum Überleben wissen mußt. Du weißt, welche Pflanzen du essen kannst, welche heilsam und welche giftig sind, auch wenn du die betreffende Pflanze noch nie gesehen hast. » Ich war begeistert von der Aussicht, den Umgang mit Heilkräutern zu lernen. Denn allzu lange hätte ich Bestimmungsbücher wälzen oder Großvater fragen müssen, wenn ich etwas über die Pflanzen wissen wollte. Jetzt aber sagte er, daß ich solche Kenntnisse in mir hatte, so sicher wie jedes andere Geschöpf auf Erden. Großvaters Stimme riß mich aus meinen Gedanken und sagte: «Diese Form der Kommunikation, die du zuerst lernen wirst, also die ungeläuterte Form, kann sehr gefährlich sein, vor allem im Umgang mit dem Volk der Pflanzen. Wenn die Kommunikation abreißt oder vom logischen Verstand irgendwie verzerrt wird, kannst du womöglich einen Fehler machen. Aus diesem Grunde ist Läuterung so wichtig. Bedenke auch, daß diese Innere Vision nicht nur mit deinen Instinkten und Erinnerungen verbunden ist, sondern auch mit den äußeren Welten von Geist und Natur. » Bei diesen Worten zog Großvater eine Pflanzenwurzel aus seinem Hirschlederbeutel und zeigte sie mir. Noch nie hatte ich solch eine Wurzel gesehen. Ich wußte nicht mal, ob sie aus der Gegend der Pine Barrens stammte. Großvater sammelte viele Pflanzen außerhalb dieser Gegend, und auch diese hier stammte vielleicht von außerhalb. Sogar in der Dunkelheit sah ich ihn lächeln, und in Erwartung des Kommenden zitterte ich vor Erregung. Großvater meinte nur: «Nimm die Wurzel in die Hand, schließe die Augen und entspanne dich. » Ich befolgte seine Anweisung und unterdrückte meine Erregung. Indem ich mich körperlich entspannte und meine
Gedanken klärte, verband ich mich mit dem «Heiligen Schweigen», wie Großvater es nannte. Lange hielt ich dieses Heilige Schweigen ein, aber nichts geschah. Da war keine Spannung in der Magengrube, wie ich sie früher am Abend erlebt hatte. Enttäuscht erzählte ich Großvater, daß ich nichts empfand. Er sagte: «Natürlich empfindest du nichts! Du hast deiner Inneren Vision noch keine Frage gestellt. Jetzt aber», sagte er, «sollst du auf dein tieferes Selbst achten, jene Region des Selbst, in der du die Innere Vision heute abend spürtest. » Ich konzentrierte mich und lauschte auf diese Region tief innen, wo ich früher jene Spannung empfunden hatte, aber wieder geschah nichts. Ich hatte wohl einen Seufzer ausgestoßen, denn Großvater hörte mich und sagte mir noch einmal, daß kein Gefühl sich einstellen könne, solange ich keine Fragen stellte. Ich horchte nach innen und wartete. Dann sagte Großvater: «Frage dich, während du die Pflanze in der Hand hältst, ob es eine eßbare Pflanze ist. » Kaum hefteten sich meine Gedanken an diese Frage, als sich mein Magen zusammenzog, wie schon früher an diesem Abend, obwohl es diesmal etwas stärker und deutlicher war. Nun verlangte Großvater, ich solle mich fragen, ob es eine Heilpflanze sei. Sofort ließ die Spannung nach, und ich wußte irgendwie, daß es sich um eine Heilpflanze handelte. Dann sollte ich mich fragen, ob die Pflanze giftig sei, und wieder zog sich mein Magen zusammen. Dann forderte er mich auf, mich der Führung der Inneren Vision zu überlassen und jene Stelle an meinem Körper zu finden, wo die Pflanze mir ein gutes Gefühl vermittelte. Sobald ich an meine Augen dachte, verschwand die Spannung der Inneren Vision wieder. Wieder aufgetaucht aus dem Reich des «Heiligen Schweigens», war ich verblüfft und konnte nichts sagen. Großvater kicherte leise und sagte: «Jetzt verstehst du also deine Innere Vision zu befragen, und du hast die Wahrheit gefunden. Du weißt, was für eine Wurzel das war, denn sie stammt aus meiner Heimat im Westen. Du weißt, daß es keine eßbare Wurzel ist, sondern eine Heilpflanze. Du weißt auch, daß sie giftig ist, wenn sie nicht richtig zubereitet wird, und vor allem weißt du, daß sie bei Entzündungen der Augen hilft. Du kennst nicht den Namen der Pflanze, doch sonst weißt du alles über sie. Du kennst ihren Geist. » Ich konnte nicht glauben, daß mir dies wirklich gelungen sei, und mußte gleichzeitig lachen und weinen. Auch Großvater lachte, lange und herzlich. Nachdem wir uns beide beruhigt hatten, fuhr Großvater fort: «Ich muß dich abermals
warnen, dich nicht gänzlich auf deine Innere Vision zu verlassen, bevor du gelernt hast, ihre Botschaften zu läutern. Ein Fehler mit dieser Wurzel, und du wärst vergiftet. Diese Art der Kommunikation darfst du ruhig bei weniger gefährlichen Dingen einsetzen, bis du gelernt hast, die Verbindung zwischen deinem Selbst und der Inneren Vision zu läutern. » Die Ruhe in seiner Stimme verriet mir, daß er es tödlich ernst meinte, und ich nahm die Warnung mit dem gleichen Ernst auf. Dann aber fuhr er fort: «Ich will dir zeigen, was die Innere Vision noch vermag. Du hast durch die Innere Vision eine Botschaft deines Instinkts erfahren. Jetzt also sollst du mit der Welt der Natur kommunizieren, mit einer Region jenseits deiner physischen Sinne. » Großvater befahl mir, aufzustehen und auf den Sumpf hinauszublicken, dabei meine Gedanken und mein Selbst loszulassen und mich mit dem Heiligen Schweigen zu vereinen. Dann sagte er: «Frage dich, wo jenseits des Sumpfes ein Hirsch im Gras liegen könnte. » Kaum hatte die Frage meinen Verstand erreicht, spannte sich mein Magen wieder an. «Jetzt dreh dich langsam im Kreis, bis die Spannung nachläßt. » Wieder befolgte ich seine Anweisung, und nachdem ich eine Vierteldrehung gemacht hatte, war die Spannung verschwunden. «Jetzt aber», sagte er, «wie weit ist die Stelle? Laß deine Gedanken über den Sumpf schweifen, hinaus in die Nacht. » Wieder befolgte ich seine Anweisungen, und als meine Gedanken über dem anderen Ende des Sumpfes schwebten, verschwand die Spannung. In Gedanken sah ich genau, wo die Hirsche sich niedergelegt hatten. Unverzüglich befahl Großvater mir, die Tiere dort anzupirschen, und ohne Widerrede machte ich mich auf den Weg. Also stapfte ich durch den Sumpf. Alle möglichen Gedanken, vor allem Zweifel, zogen mir durch den Kopf. Es war jetzt Mitternacht, und Hirsche legten sich doch um diese Zeit nicht nieder. Außerdem kannte ich den Platz, wohin ich unterwegs war, und es war kein üblicher Lagerplatz für Hirsche. Außerdem verstand ich nicht, wie ich mit meiner inneren Vision deren Anwesenheit gespürt haben sollte. Sie waren zu weit entfernt, als daß ich konzentrische Ringe hätte fühlen können, die von ihrem Standort ausgingen. Es hätte eine sehr heftige Bewegung sein müssen, die sich über den ganzen Sumpf hinweg bemerkbar machte, und so etwas hatte es nicht gegeben. Dennoch kämpfte ich mich weiter durch den Sumpf, nur in der vagen Hoffnung, ich könnte Recht behalten. Als ich die Stelle erreichte, die ich in Gedanken gesehen hatte, pirschte ich mich leise heran. Falls dort Hirsche standen, wollte ich sie nicht in die Flucht jagen, bevor
ich angekommen war. Als ich genau den Platz erreichte, den meine innere Vision mir gezeigt hatte, bewegte ich mich noch langsamer und pirschte noch leiser. Zu meiner großen Enttäuschung fand ich nichts an dieser Stelle. Ich war niedergeschlagen. Ich hatte nicht nur versagt, sondern ich hatte auch einen dummen Fehler gemacht. Ich wußte ganz gut, daß Hirsche sich zu dieser Nachtzeit nicht niederlegen, besonders nicht an einer solchen Stelle. Ich war wütend, fluchte laut und stampfte auf den Boden. Knapp einen Meter hinter mir rauschte es im Gebüsch, und zwei Hirsche sprangen von ihrem Lager auf. Ich war wie vor den Kopf geschlagen, so daß ich nach hinten fiel. Ich landete mit einem harten Schlag auf dem Hintern. Es schmerzte natürlich, aber ich mußte so lachen, daß ich es kaum spürte. Ich hatte es geschafft, ich hatte recht gehabt - oder vielmehr meine Innere Vision hatte recht gehabt, auch wenn mein logischer Verstand mir einreden wollte, daß ich mich irrte. Ich kroch ins Gebüsch zu der Stelle, wo die Hirsche gelegen hatten. Ich wollte mich vergewissern, daß sie sich tatsächlich niedergelegt hatten und nicht nur zufällig hier vorbeigekommen waren. Mit gehöriger Skepsis tastete ich den Boden ab, und zu meiner Freude fand ich ihre Lagerstellen. Unzweifelhaft hatten sie dort gelegen, sogar ein paar Stunden lang, nach der Tiefe der Abdrücke zu urteilen. Ich konnte noch immer nicht glauben, was mir da gelungen war. Ich lief nicht - nein, ich rannte zurück durch den Sumpf, den Kopf voller Fragen. Wie konnte solch ein Wunder geschehen, dachte ich? Da waren keine Geräusche gewesen jenseits des Sumpfes, die ich hätte auffangen können. Es gab keine logischen Gründe oder Beweise dafür, daß Hirsche an diesem Platz stehen sollten. Aber ich hatte recht gehabt, trotz aller Zweifel meines Verstandes. Vielleicht hatte ich einfach Glück gehabt, vielleicht war es ein sonderbarer Zufall gewesen. Ich wußte, es war spät geworden, aber ich hoffte, daß Großvater mich an seinem heiligen Platz erwartete. Mein Gefühl in der Magengrube sagte mir zweifelsfrei, daß er dort sei, und diesmal war ich mir sicher, mich nicht zu irren. Kaum hatte ich mich gesetzt, als Großvater zu sprechen anfing: «Du fragst dich also, wie du mit diesen Hirschen kommunizieren konntest; wieso du wissen konntest, daß sie dort waren, auch wenn es keinen logischen Grund oder physischen Beweis dafür gab. Wie oft habe ich dir gesagt, daß alle Dinge dieser Erde miteinander verbunden sind! Diese Verbindung aber nennen wir den Geist, der sich in allen Dingen bewegt. Durch die Innere Vision konntest du mit diesem Geist kommunizieren. Als du die
Verbindung spürtest, wurdest du eins mit der Kraft. Auf ähnliche Weise wußte ich auch, daß ihr die beiden Fallen gestellt hattet, in denen sich das Kaninchen verfing. Genauso hast du es gemacht. Nun mußt du noch lernen, diese Art der Kommunikation zu läutern, damit sie klar und stark wird, damit du keine Fehler machst. » Und Großvater fuhr fort: «Schon einmal hast du einen Teil der Antwort erfahren, nämlich durch die Weisheit des stillen Wassers, durch das reine Spiegelbild der Gedanken, das durch die Wirbel und Ablenkungen des logischen Denkens gestört wird. Jetzt aber mußt du über diese Weisheit hinausgehen und lernen, deine Innere Vision zu läutern. Dies kann erst geschehen, wenn du einige Zeit mit dem Problem der Läuterung allein geblieben bist. Nur du allein kannst die Lösung finden, denn ich kann dich nicht zu ihr hinführen. » Damit ging Großvater fort, und ich wanderte zurück in mein Camp. Ich ging langsam, fast wie betäubt. So vertieft war ich in Gedanken, daß ich häufig gegen das Buschwerk stieß und stolperte. Ich war verblüfft, was mir da gelungen war und wie leicht es gewesen war. Endlich aber verstand ich, warum Großvater so lange gewartet hatte, mir dieses Geheimnis zu offenbaren. Ich mußte so vieles lernen vor dieser Nacht, sonst hätte ich niemals verstanden. Während ich mich dem Lager näherte, tief in Gedanken versunken, spürte ich eine Spannung in der Magengrube und hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. Statt das Gefühl zu verdrängen, blieb ich stehen und gab mich ihm hin. Ich ließ die Bilder aller möglichen Tiere an meinem inneren Auge vorüberziehen, doch keines lockerte meine Spannung. Dann dachte ich an Rick, und plötzlich war dieses Gefühl verschwunden. Ich rief seinen Namen. Überrascht rief er aus dem Gebüsch: «Wie, zum Teufel, konntest du wissen, daß ich da bin?» Ich lachte und sagte nur: «Geh und frage Großvater!» Bald danach war ich eingeschlafen.
3
Suche nach Läuterung
Lange saß ich am Sumpf und versuchte zu verstehen, was Großvater meinte, wenn er von der Reinheit der Inneren Vision sprach. Ich wußte, es gab drei mögliche Antworten. Es mochte sein wie die Reinheit des Denkens, die ich bei meiner zweiten Visionssuche gelernt hatte, oder es konnte die Lauterkeit sein, die man im Heiligen Schweigen fand, oder es war die Reinheit, die man fand, wenn man allein und ohne Ziel dahinwanderte. Es mochte auch eine Kombination von allen dreien sein. Stundenlang wanderte ich ziellos umher, machte irgendwann halt und legte mich hin, um mich zu entspannen, wann immer mir danach zumute war. Schließlich setzte ich mich für ein Weilchen, aber ich hatte ein falsches Gefühl. Plötzlich war mir, als brauchte ich Anleitung, wohin ich gehen sollte - aber ich wußte es nicht. Ich beschloß, meinen zweifelnden Verstand zu beruhigen. Ich versuchte mich mit der Reinheit des stillen Wassers zu verbinden, die so notwendig ist für das Öffnen von Seele und Geist. Jede Richtung, in die ich zu gehen gedachte, fühlte sich falsch an. Ich überlegte, ob ich bis zum Ende des Sumpfes weitergehen sollte, hatte aber ein überwältigendes Gefühl dabei, daß das falsch sei. Vielleicht, so dachte ich, sollte ich weiter ziellos dahinwandern, aber auch dies machte es nicht besser. Dann kam mir das stille Wasser in den Sinn. Ich begriff nicht warum, doch der Gedanke, zum stillen Wasser zu gehen, gab mir das gute Gefühl, und mehr brauchte ich nicht. Endlich konnte ich die Tatsache akzeptieren und erlaubte mir nicht mehr den Luxus, warum zu fragen. Oftmals, besonders in Großvaters Gegenwart, brauchte man nicht zu wissen, warum etwas richtig war; man konnte sich darauf verlassen. So viele Dinge, so viele Wunder entzogen sich der analytischen Beschreibung. Jede Art von Analyse verzerrt nur die Ereignisse, und wie immer war das aktive Denken eine gewaltige Ablenkung. Doch Ablenkung brauchte ich jetzt am allerwenigsten, denn ich mußte meinen Sinn frei und offen halten, um Antworten zu finden. Dies mochte der Grund sein, so dachte ich, warum Großvater verlangte, ich solle allein und ganz ohne Ablenkung bleiben. Schließlich kam ich genau an der Stelle heraus, wo ich an jenem dritten Tag meiner
zweiten Visionssuche gesessen hatte doch nichts geschah. Ich wußte, es war ein gutes Gefühl, an dieser Stelle zu sitzen, und für den Augenblick genügte dies. Wieder versuchte ich in das stille Wasser zu starren, wie ich es bei der Visionssuche getan hatte, und spürte die Weisheit des Wassers in mich einfließen, aber es kamen keine neuen Einsichten. Ja, ich verstand die reinen Spiegelungen des reinen Denkens, aber über diese Lektion hinaus erfuhr ich nichts. Ich wußte nur, daß es mich aus irgendeinem Grund hierher gezogen hatte, und dieser Grund mußte sich irgendwo in der spiegelnden Oberfläche des Wassers finden oder im Wissen des reinen Denkens. Dies zumindest, so dachte ich, war der einzige Grund, warum ich wieder zu diesem Platz geführt worden war. Wie ich dort saß und aufs Wasser starrte, hatte ich das Gefühl, daß mehr dahinterstecken mußte als diese Reinheit der Spiegelung. Es mußte etwas sein, das über alles hinausging, was ich auf meiner zweiten Visionssuche gelernt hatte. Möglicherweise, dachte ich, enthielt jene Lektion noch etwas, das ich übersehen hatte; etwas, das ich bereits besaß, aber noch nicht verstand. Immer wenn meine Aufmerksamkeit vom Wasser abgelenkt war oder ich den Blick von der Oberfläche hob, hatte ich das Gefühl, daß dies falsch sei, und blickte rasch wieder auf das Wasser. Dies war mein sicherstes Zeichen dafür, daß ich auf der Suche nach etwas war; doch wußte ich nicht, wo ich es finden sollte. So starrte ich einfach auf das Wasser, manchmal fast unbewußt, dann wieder forschend, mit gesteigerter Aufmerksamkeit. Mit einem Schimmer unmittelbarer Einsicht und ohne Erklärung hatte ich das Gefühl, daß da mehr zu finden sei als nur die Spiegelung an der Oberfläche: denn das Wasser hatte Tiefe. Tiefe, dachte ich. Das Gefühl bei diesem Wort «Tiefe» überfiel mich so plötzlich und mit solcher Wucht, daß ich wußte: in dieser Richtung mußte die Antwort liegen oder zumindest ein Teil der Antwort. Ich blickte durch die Wasseroberfläche hindurch, vorbei an der Spiegelung und in die dunkle Tiefe. Ich sah winzige Strömungen flimmern, Erdkrumen schwammen vorbei, und eine Unzahl von Gegenströmungen, Wirbeln und Strudeln bewegten sich unter der Oberfläche. Alle diese Bewegungen in der Tiefe schienen im Widerstreit miteinander, und doch eine aus der anderen geboren. Manche waren verursacht durchs Ebben und Fluten der Strömung, durch Stellen rascher Strömung, die auf Stellen langsamer Strömung stießen, durch Strömungen, die gegen die Ufer schwappten und sich an Erdklumpen, Stöcken und Steinen brachen. All dies lag im Widerstreit, bewegte sich aber letztlich in der
allgemeinen Richtung der Strömung. Mir war, als schaute ich die Bewegung meiner eigenen Seele und meines Geistes. Wieder überwältigte mich das Gefühl, die Antwort gefunden zu haben, während mein Verstand sich noch bemühte, dies alles in Worten auszudrücken. Die Wirbel des logischen Denkens und des spirituellen Denkens im tieferen Selbst - dies entsprach genau den Unterströmungen im Fluß, dachte ich. Während ich losließ und in die Wassertiefe starrte, stellte ich mir vor, ich blicke hinauf zur Oberfläche, so, als sei ich unter Wasser. Auch der Blick von dort unten zur Außenwelt hinauf ist verzerrt, wenn es Bewegung und Gegenbewegung gibt. Es kann also nicht genügen, die Oberfläche des Wassers zu beruhigen; man muß auch die tieferen Wasser des Geistes selbst beruhigen, sonst kann es keine vollkommene Reinheit geben. Wie aber, dachte ich, kann ich zu solcher inneren Reinheit gelangen? Und plötzlich war das Gefühl, aufs Wasser zu schauen, nicht mehr wichtig. Ich begann über dieses Gefühl nachzudenken — und dann wurde es mir klar. Was mich vorantrieb, war meine Innere Vision, und plötzlich hatte ich das Empfinden, ich könne diesen Platz verlassen. Diese absolut sichere Erkenntnis überraschte mich. Im Grunde war ich nicht nur durch meine Innere Vision in diese Gegend geführt worden, sondern auch zum Platz des stillen Wassers. Ich dachte mir, daß meine Innere Vision mich zu den tieferen Antworten führen konnte, die ich brauchte, ja, noch mehr: daß sie sich tatsächlich irgendwie selbst läutern konnte. Bis dahin hatte ich gelernt, daß ich nicht nur die Oberfläche des Geistes beruhigen mußte, sondern auch die tieferen Wasser der Seele. Zudem hatte ich gelernt, daß die Innere Vision zu Antworten und schließlich zur Läuterung führte. Bis dahin war alles nur zufälliges Umhersuchen gewesen, aber nun hatte ich in meiner Vision eine starke Verbündete. Da meine Innere Vision mir bis hierher geholfen hatte, beschloß ich, mich sogleich hinzusetzen und mich mit ihr in Verbindung zu bringen. Ich ließ mich nieder, wo ich gerade stand, und versenkte mich in das Heilige Schweigen; ich versuchte meinen Geist zu klären, so gut es ging. Ich glaube, ich war dabei zu aufgeregt, denn diese Versenkung, die normalerweise nur einen Moment gedauert hätte, brauchte fast eine Stunde. Schließlich fühlte ich mich leidlich frei von Körper und Geist und fragte meine Innere Vision, was ich als nächstes tun solle. Zwei Bilder standen vor meinem inneren Auge. Eines war Großvater, der wartend in seinem Camp saß; das andere war ich selbst, auf meinem Platz der Visionssuche. Sofort verwarf ich diese Bilder, denn ich wußte bereits, daß die Innere Vision sich mir durch eine Spannung in der
Magengrube anzukündigen pflegte. Frustriert beschloß ich, einen anderen Weg auszuprobieren. Ich versenkte mich ins Heilige Schweigen und fragte meine Innere Vision, in welcher Richtung ich wohl die Antworten finden würde. Während ich die Landschaft vor meinem inneren Auge vorbeiziehen ließ, fand ich schließlich eine Richtung, bei der ich mich völlig entspannt fühlte. Wieder fragte ich, und wieder antwortete die Innere Vision auf die gleiche Weise. Ohne Zögern marschierte ich los, ohne auf Weg oder Zeichen zu achten. Immer wenn ich die Richtung verlor, beschlich mich das Gefühl «falsch», wie ich es bei mir zu nennen begann. Die Wanderung zog sich hin, und die Innere Vision wurde immer stärker, so fordernd sogar, daß ich meinen Schritt beschleunigte. Ich mußte dem Drängen folgen, denn jedesmal, wenn ich langsamer ging, wurde ich von jenem Gefühl überwältigt. So gelangte ich zu einer Stelle, wo das Gebüsch so dicht war, daß ich über kleine Wildwechsel und Steigspuren kriechen mußte. Endlich sah ich vor mir im Gebüsch eine Öffnung und kroch rasch dorthin. Wie aus einem Gefängnis befreit, stürzte ich aus dem Gebüsch und stolperte direkt auf Großvaters Lagerplatz. Ich war verblüfft, denn ich hatte nicht geglaubt, mich in der Nähe seines Camps zu befinden. Ich war auf einem Weg in sein Lager gekommen, den ich noch nie gegangen war, auch wenn es mich kaum hätte überraschen sollen. Ich erschrak, als Großvater sagte: «Komm, setz dich zu mir. Ich habe dich erwartet. » — «Mich erwartet?» sagte ich staunend. «Bis jetzt habe nicht mal ich mich erwartet. » Und wir beide lachten. Großvater fuhr fort: «Dein Weg wäre viel einfacher gewesen, wärst du einfach deiner Inneren Vision gefolgt. Statt dessen hast du den längeren, beschwerlicheren Umweg gewählt. » «Aber ich folgte doch meiner Inneren Vision», sagte ich. «Nein», sagte Großvater. «Du folgtest deiner Inneren Vision in ihrem verzweifelten Bemühen, dich zurück in mein Camp zu führen. Denn beim erstenmal wolltest du nicht hören. » Ich überlegte mir, was er gemeint haben könnte, verstand es aber nicht. Meine Innere Vision hatte mich nur einmal geführt, nicht zweimal. Ohne auf meine Frage zu warten, sagte Großvater. «Na, zumindest hat sie dich hierher geführt, nicht wahr?» Noch immer verwirrt, fragte ich Großvater, was er meinte. «Du hattest zwei Bilder, als du zum erstenmal deine Innere Vision befragtest. Zum einen das Bild von mir, zum anderen das Bild einer Visionssuche. » Ohne zu zögern und völlig verblüfft fragte ich Großvater, wie er das wissen könne. Er lachte und sagte: «Weil ich zur gleichen Zeit, als du deine Innere Vision befragtest, die meine befragte — nach dir, und wie es dir
ginge. Ich hatte ein Bild von dir, hier im Camp im Gespräch mit mir, und ein Bild von dir auf Visionssuche. Wie, glaubst du, kenne ich deine Fragen, bevor du sie stellst?» Ich wollte nicht länger bei diesem Thema verweilen. Es gab so viel anderes, was auf Antwort harrte, und einstweilen brauchte ich keine weiteren Fragen. »Du willst also sagen, daß diese Bilder gar keine Bilder waren, sondern eine Botschaft meiner Inneren Vision?« sagte ich. Großvater antwortete: «Weißt du noch, wie ich dir sagte, daß die Innere Vision durch Gefühle, Emotionen, Symbole, Zeichen, Träume und Wach-Visionen zu uns spricht? Nun, deine Innere Vision hatte wohl beschlossen, durch eine Wach-Vision mit dir zu kommunizieren — oder durch ein Bild dessen, was du tun solltest. » Großvater machte eine Pause, um mir Zeit zum Nachdenken zu geben, und dann sagte er. «Du weißt jetzt, was du zu tun hast. Zuerst müssen wir miteinander sprechen, und dann mußt du auf Visionssuche gehen. Wo sie stattfindet und wie lange sie dauern soll, das wird deine Innere Vision entscheiden. Jetzt soll deine Innere Vision dich führen und lehren, nicht mehr ich. » Großvaters letzte Worte erschreckten mich, denn ich fürchtete, er wolle nicht mehr mein Lehrer sein. Er kam mir zuvor und sagte: «Die Innere Vision ist nur der Anfang eines langen Weges. Wenn du sie gemeistert hast, gibt es noch immer sehr viel zu lernen. Ich werde noch lange dein Lehrer sein. Jetzt aber brauchst du einen Verbündeten, der dir bei deinem Bemühen hilft. » Bis dahin hatte ich die n I nere Vision für die höchste Form von Bewußtheit gehalten und mußte jetzt feststellen, daß ich eben erst meinen spirituellen Weg ins Leben beginnen sollte. Mir war, als ob jedesmal, wenn ich etwas gelernt hatte und glaubte, mehr könne ich nicht lernen, eine ganze Welt neuer Dinge vor mir aufgetan würde, die es zu lernen galt. Großvaters Stimme unterbrach meine Grübelei. «Du hast gelernt, in die Tiefe des reinen, stillen Wassers zu blicken, und du bist einer Antwort recht nahegekommen. Jetzt verstehst du, daß die Innere Vision dein Führer ist. Und bevor man sich in die Innere Vision versenken kann, muß das Heilige Schweigen einsetzen, wie du weißt. Aber du weißt noch nicht, wie du diese Innere Vision läutern könntest. Du weißt, was dazu notwendig ist, was die wichtigsten Voraussetzungen sind; aber du weißt nicht, was danach kommt - weißt nichts von jener Läuterung, die du noch kennenlernen mußt. Und aus diesem Grund befiehlt deine Innere Vision dir jetzt, eine Visionssuche zu unternehmen, um die letzten Antworten, die höchste Reinheit zu finden. Was aber sagt dir die Innere Vision? Wie sollst du die Visionssuche anfangen?» Großvaters Frage überraschte mich so sehr, daß ich mit meiner Antwort zögerte. Bis
dahin war ich nicht mal auf die Idee gekommen, meine Innere Vision zu Rate zu ziehen. Wortlos schloß ich die Augen und versenkte mich in die Stille und dann in die Innere Vision. «Die Innere Vision befiehlt mir, jetzt zu gehen», sagte ich. «Und wie lange wirst du fort sein?» fragte Großvater. «So lange, wie es dauern wird», sagte ich. «Dann hast du gut zugehört», sagte Großvater. Lächelnd erhob er sich und machte sich in seinem Camp zu schaffen. Sofort überfiel mich ein unbehagliches Gefühl, und ich verließ das Camp ohne ein weiteres Wort, nicht aus mangelnder Höflichkeit, sondern weil wir beide wußten, daß unser Gespräch zu Ende war. Ich wußte, was ich zu tun hatte, und weitere Diskussionen waren überflüssig. Ich beschieß, in mein Lager zurückzukehren und ein paar Sachen zu holen, die ich für meine Visionssuche benötigte. Da solch eine Suche meist vier Tage dauerte, brauchte ich Wasser. Meine Innere Vision aber sagte mir etwas anderes, und so machte ich mich auf den Weg — wohin, das wußte ich nicht. Ich wußte nur, daß ich auf Visionssuche gehen mußte, um weitere Antworten zu erhalten. Mehr brauchte ich nicht zu wissen. In Gedanken suchte ich nach einem Platz für meine Visionssuche, aber nichts überzeugte mich, nichts gab mir ein gutes Gefühl. Es dauerte auch nicht lange, bis ich erkannte, daß ich gar nicht über diese Frage nachdenken sollte. Also suchte ich die Antwort in meiner Inneren Vision. Ich versenkte mich ins Heilige Schweigen, dann in die Innere Vision und fragte, wo meine Suche stattfinden sollte. Schnell und überraschend erschien mir ein Bild vom Platz des stillen Wassers. Ohne weiter über dies Bild nachzudenken, ja, ohne es mir logisch erklären zu wollen, lief ich einfach weiter - im Vertrauen darauf, daß meine Innere Vision genau wisse, was mir gut tut. Das Wort «Vertrauen» fiel mir ein, mit überwältigender Wucht. Nicht einfach Vertrauen, sondern blinder Glaube; und da wußte ich, daß ich einen weiteren Teil der Antwort erhalten hatte. Es war nicht nötig, dieses Gefühl in Frage zu stellen. Denn ich wußte, es war absolut richtig. Ich wußte aber nicht, wie dies alles zusammenpaßte, und so lief ich weiter zum stillen Wasser. Die Sonne war eben untergegangen, als ich am Ufer ankam. Wieder setzte ich mich an dieselbe Stelle, wo ich vorher an diesem Tag gesessen hatte, an denselben Platz, wo ich damals meine zweite Visionssuche unternommen hatte, aber diesmal hatte ich kein gutes Gefühl. Die Gegend gab mir ein gutes Gefühl, nicht aber die Stelle, wo ich saß. Den größten Teil des Abends suchte ich mit meinem Herzen nach dem richtigen Platz, fand aber keinen. Und nun erweckten mir Frustration und Erschöpfung erste Zweifel. Ich glaubte sogar, ich hätte nicht auf meine Innere Vision
hören sollen - ich sollte besser nicht hier an diesem Platz sein. Vielleicht aber täuschte mich meine Innere Vision, weil sie noch nicht geläutert war. Auch bei solchen Erklärungen hatte ich kein gutes Gefühl. Völlig erschöpft nach diesem langen Tag und den Kopf voller Zweifel, streckte ich mich aus und schlief bald ein. Mein Schlaf war unruhig und voller Unterbrechungen. Mein Unterbewußtsein träumte viel - meist von Vögeln, die umherflatterten oder auf Bäumen hockten. Manchmal gingen die Träume in seltsame Alpträume über, wobei ich einmal hoch über einer großartigen Landschaft schwebte, dann wieder plötzlich zur Erde stürzte. Jedesmal, wenn ich mich im Sturz dem Erdboden näherte, erwachte ich mit einem Schreck — mein Körper zitterte vor Angst, mein Herz pochte heftig. Bald schlief ich wieder ein, und erneut begann das Schweben. Und dauernd spürte ich die Freiheit des Fliegens, wie losgelöst von allen Problemen des Körpers. Im Schweben war alles vollkommen, ich blickte hinunter und sah das Chaos der Welt nur von weitem, auf distanzierte, geläuterte Art. Wieder stürzte ich herab und erwachte mit einem Schreck. Diesmal war das Erwachen ganz anders. Nicht nur sah ich alles im Dämmerlicht, sondern ich starrte in den Wipfel einer riesigen alten Fichte, die am Platz des stillen Wassers stand. Die Spannung in meiner Magengrube ließ nach, und ich hatte ein gutes Gefühl. Ich mußte hinlaufen und auf den Baum klettern, denn dort, sagte mir meine Innere Vision, sollte ich jetzt sein. Es gab keine Zweifel mehr. Auch die Innere Vision meiner Träume handelte von Vögeln, vom Fliegen, von erhabenen Höhen. Aus diesem Grund hatte ich ein gutes Gefühl dort beim stillen Wasser, auch wenn der Platz, den ich mir ausgesucht hatte, mir kein gutes Gefühl gab. Wahrscheinlich deshalb, weil ich hoch oben auf dem Baum sein sollte! Meine Erleichterung war unbeschreiblich, obwohl ich nicht wußte, wie ich die ganze Zeit einer Visionssuche in einem Baumwipfel hängend überstehen sollte. Während ich hinaufkletterte, wirbelten mir alle möglichen Gedanken durch den Kopf. Ich überlegte mir verschiedene Möglichkeiten, die nächsten vier Tage oben auf dem Baum zu bleiben. Wie aber, wenn ich einschlief, wenn ich den Halt verlor und abstürzte? War das die Botschaft meiner Träume dieser letzten Nacht — immer wieder dieses Gefühl des Stürzens? Vielleicht war es so, aber meine Innere Vision war stärker als alle negativen Bedenken. Ich beschloß, mir erst wieder Sorgen zu machen, wenn die Nacht gekommen war und ich müde wurde. Meine Innere Vision sagte mir, ich solle mir überhaupt keine Sorgen machen.
Es war mühsam, mich zwischen den Ästen hindurchzuschieben, doch kaum war ich oben, fühlte ich mich ganz angenehm und sicher, auch wenn ich noch immer zweifelte. Der Ausblick auf die Landschaft war atemberaubend. Ich fühlte mich tatsächlich wie ein Vogel, der hoch über allen Problemen der Welt schwebte. Mein Traum schien Wirklichkeit geworden, in voller Lebensgröße. Ich schaute mich um und sah hinunter zur Basis des Baumes. Dort strömte das Wasser wie ein silbern spiegelndes Band über den grünen Teppich von Torfmoos. Ich überblickte den Fluß und erkannte die Harmonie, mit der er sich in die Landschaft einfügte. Durch die Zweige hindurch spähte ich nach dem Platz des stillen Wassers. Da sah ich die absolut schönste Spiegelung auf der Oberfläche. Mehr denn je schien mir das Wasser wie ein Spiegel. Ich sah mich hoch auf dem Baum sitzen und hinunterschauen, und ich staunte über die Reinheit der Spiegelung. Alle Details schienen sich zu spiegeln. Dann versuchte ich in die Tiefe des Wassers zu schauen. Und nun bemerkte ich, daß ich die Turbulenzen und Wirbel dort nicht mehr erkennen konnte - zumindest nicht aus dieser Höhe. Damit war das Gefühl, hier auf dem Baum sein zu müssen, verschwunden. Verwundert bemerkte ich, daß ich nicht mehr das Bedürfnis hatte, hoch im Baumwipfel zu sitzen. Ich staunte, wie schnell dies Gefühl mich verlassen hatte. Ich konnte mich nicht erinnern, irgendwelche Einsichten oder Antworten zum Problem der Läuterung empfangen zu haben; und dennoch glaubte ich, etwas bekommen zu haben. So kletterte ich hinunter und kehrte zurück zu der Stelle, wo ich anfangs gesessen hatte. Jetzt war es ein gutes Gefühl, hier zu sein. Ich dachte an das Wasser und was es mir zu sagen hatte, aber es kam keine klare Botschaft. Während ich über meine Fragen nachgrübelte, drängten sich wieder die Träume der Nacht in mein Denken - und da hatte ich die Antwort. Ganz einfach: Aus der Ferne betrachtet, ist das Denken klarer und reiner, die Probleme verschwinden, es gibt keine Unruhe und keine Wirbel. Aus der Nähe betrachtet, gibt es Unruhe. Die Schwierigkeit war, daß ich diese Erkenntnis nicht in meine Vorstellung von Reinheit und Läuterung einfügen konnte. Wohl verstand ich, daß das Heilige Schweigen und die Führung der Inneren Vision notwendige Voraussetzungen waren. Eindeutig erkannte ich die Notwendigkeit eines Glaubens an die Innere Vision und sah auch das Erfordernis, all dies zu läutern, l )och konnte ich nicht einsehen, warum es dazu einer erhabenen Höhe bedurfte. Allenfalls, so dachte ich, sollten wir uns irgendwie über uns selbst, über unsere
Probleme erheben, um alles aus der Ferne oder von oben zu betrachten. Wie die Vögel uns lehren, müssen wir manchmal über die Dinge hinwegfliegen, um sie in richtiger Perspektive zu sehen und zu verstehen, wie alles zusammenpaßt. Vielleicht müssen wir, um zur Reinheit der Inneren Vision zu finden, uns über alles erheben. Immerhin hatte ich mich in meinen Träumen heil und ganz gefühlt, irgendwie geläutert, als ich so hoch schwebte. Nur wenn ich zur Erde zurückstürzte, empfand ich die Unruhe. Diese Antwort gab mir doch teilweise ein gutes Gefühl. Ich wußte aber, daß es nicht die vollständige Antwort war, denn wie bei jener anderen konnte ich nicht voraussehen, wie alles zusammenpaßte. Ich wußte nicht, wie ich diese erhabene Position erreichen konnte, ohne auf Bäume zu klettern. Ich mußte lachen, als ich mir vorstellte, es müsse doch eine Möglichkeit geben, auf einen Baum in uns selbst zu klettern. Den ganzen Tag, bis die Sonne unterging, dachte ich über dieses Problem nach, ohne mich von der Stelle zu rühren. Ich sah die Sonne untergehen, bis sie hinter fernen Baumwipfeln verschwand. Mit ihrem Verschwinden spürte ich, wie die Hitze in Wellen verebbte, während kältere Nachtluft heranwehte und sie verdrängte. Bald stiegen Nebelbänke vom Sumpf und vom Wasser auf und schwebten umher wie eine Schar von Gespenstern aus der Geisterwelt. Die Geräusche der Nacht, besonders die Insektenstimmen schwollen an zu einer großartigen Symphonie. Die Nacht war ein herrliches Schauspiel von Leben, Nebel und Wasser, im Einklang mit der Symphonie von Geräuschen - wie ein gut einstudierter Tanz. Nebel sammelten sich zu wehenden Schleiern und segelten über den Sumpf, getragen auf den Schwingen der kühleren Luft. Jedesmal, wenn der Nebel über meinen Platz strich, brachte sein kühler Hauch die Insekten zum Schweigen, und manchmal verstummte jedes Geräusch. In solchen Augenblicken schien die Welt stillzustehen, alles hielt den Atem an — da war Reinheit. Dann überfiel mich mit Macht eine weitere Erkenntnis. Die Nebel waren ganz wie die «Schleier» des Heiligen Schweigens. Wenn wir durch diese Schleier eintreten, so hatte Großvater oft erläutert, erreichen wir einen tieferen Teil unseres Selbst. Wir gehen über unser Selbst hinaus, in die weiteren Kreise der Natur und der Geisterwelt. Und diese Schleier des Heiligen Schweigens sind es, die uns schließlich Läuterung bringen. Darum ließ Großvater mich in das Heilige Schweigen eintreten, bevor ich versuchen durfte, mit der Inneren Vision zu kommunizieren. Das Heilige Schweigen also, dachte ich, muß das Vehikel zu weiteren Welten und Kreisen sein,
und die Innere Vision kommuniziert mit diesen weiteren Welten. Je reiner und tiefer das Heilige Schweigen, je mächtiger die Innere Vision, desto reiner und klarer die Kommunikation. Vor allem der absolute Glaube verleiht ihr dann Kraft. Ich floh von meinem Platz der Visionssuche und kümmerte mich wenig darum, daß es schon spät geworden war und ich nur einen Tag dort verbracht hatte statt vier. Ich mußte Großvater finden und ihm sagen, was ich entdeckt hatte. Ich war der Antwort so nahe gekommen, und alles wirbelte mir durch den Kopf. Wenn ich wartete bis zum Morgen, fürchtete ich, meine Hinsichten nicht mehr in Worte fassen zu können. So lief ich los in die Nacht hinaus, aber plötzlich bremste mich eine unbekannte Kraft in meinem Innern. Es war jenes Gefühl, das sich wieder einstellte und mir nicht nur anzuhalten befahl, sondern mich zurücktrieb an meinen Platz der Visionssuche. Ich wollte mich auflehnen, doch das Gebot der Inneren Vision war noch mächtiger. Widerstrebend ging ich zurück zu meinem Platz und setzte mich. Ich war verwirrt, denn ich wußte, daß eine Kraft außerhalb meiner selbst mich gedrängt hatte, mit Großvater zu sprechen: dieses Gefühl war unleugbar. Während ich mich setzte, fühlte ich Spannung und Unbehagen und fürchtete, wenn ich nicht in derselben Nacht mit Großvater sprach, würden sich die Einsichten verwirren oder verwischen, die ich empfangen hatte. Schon wieder schwirrten mir Fragen durch den Kopf, mehr, als ich ertragen konnte. Lange blieb ich dort sitzen und versuchte noch einmal zusammenzufassen, was ich gelernt hatte. Mein Verstand begann schon wieder, jene Einsichten zu verzerren, darum versenkte ich mich - im verzweifelten Bemühen um Läuterung - in das Heilige Schweigen und dann in die Innere Vision. Kaum war ich in Verbindung mit meinem tiefsten Inneren, als ein Bild vor mir auftauchte. Ich sah Großvater neben mir sitzen, hier am Platz des stillen Wassers, und ich sprach mit ihm. Beinah unbewußt, mehr aus Gewohnheit als aus freiem Entschluß, fing ich in Gedanken ein Gespräch mit Großvater an. Das Gespräch kam mir wirklich echt vor, und die Antworten, die er mir gab, erschienen mir wichtig und praktikabel. Große Erleichterung überkam mich, und dann schwand Großvaters Bild vor meinem inneren Auge. Noch einmal hallte seine Stimme als Echo in meine Gedanken. Er sagte: «Na, warum hast du mich gerufen, mein Enkel?» Erschrocken öffnete ich die Augen — und sah ihn direkt vor mir sitzen! Verblüfft hielt ich die Luft an, als sei er ein Geist oder Gespenst. «Nein, mein Enkel», sagte er, «ich bin es wirklich. » «Aber wie konntest du wissen, daß ich mit dir sprechen wollte?» sagte ich. Großvater
lächelte mich an — ein langes, freundliches Lächeln, bis ich seine Zähne im Dunkel schimmern zu sehen glaubte. Dann sagte er: «Wolltest du mich nicht sprechen? Hast du mich nicht gerufen durch die universelle Stimme der Inneren Vision?» - «Ich sah dich, als ich mich in die Innere Vision versenkte, aber ich dachte, es sei nur ein Bild, das mir eingegeben wurde», antwortete ich. «Ist es denn nicht das, was du wolltest?» erwiderte er. «Doch», sagte ich - aber er fiel mir ins Wort: «Vergiß nicht, mein Enkel, daß die Innere Vision nach beiden Seiten wirkt. Nicht nur empfangen wir Botschaften aus der weiteren Welt, sondern wir übermitteln auch unsere Stimme und unsere Wünsche an diese. Also wußte ich, daß du mit mir sprechen wolltest. Du kommuniziertest mit mir durch die Stimme der Inneren Vision. » Wieder machte Großvater eine Pause, um seine Worte auf mich einwirken zu lassen. Ich zitterte buchstäblich vor Erregung. Ich hatte nicht gewußt, daß wir unsere Wünsche durch die Stimme der Inneren Vision übermitteln konnten. Diese Vorstellung begeisterte mich, denn nun konnte ich mit allen stofflichen und geistigen Wesen der Welt kommunizieren! Das bedeutete, daß ich nicht nur zu lauschen brauchte. Ich war außer mir vor Begeisterung. Bevor ich aber eine Frage stellen konnte, sagte Großvater: «Warum überrascht dich dies alles? Hattest du deiner Inneren Vision denn keine Frage gestellt, bevor sie antwortete? Manchmal schickte die Innere Vision dir Botschaften aus dem tieferen Selbst, manchmal aus der Welt des Geistes, der sich in allen Dingen bewegt, manchmal auch aus der Welt der Menschen, die ebenfalls Teil der natürlichen Welt sind. » Wieder sann ich nach über seine Worte. »Warum aber», fragte ich, «habe ich nie eine Botschaft von dir empfangen?» — «Doch, du hast, und zwar gestern, als ich dir durch die Innere Vision befahl, in mein Lager zu kommen», sagte er. «Wenn du mich bislang nie gehört hast, so deshalb, weil du nicht auf deine Innere Vision hören konntest. Auch heute nacht habe ich dir eine Botschaft gesandt, aber deine Innere Vision war noch ungeläutert und schwach. Nun ist sie stärker geworden — durch alles, was du bislang auf dieser Visionssuche gelernt hast. Du hast gelernt, daß du Vertrauen haben mußt, daß du, um Läuterung zu finden, die Schleier des Heiligen Schweigens aufsuchen mußt, und daß du dich über dein Selbst erheben mußt, damit deine Innere Vision stark und lauter sei. Jetzt aber sagt dir deine Innere Vision, daß du die Suche fortsetzen und die Weisheit der Kommunikation erfahren mußt, damit Botschaften in beiden Richtungen übermittelt werden können. » Damit ging Großvater fort in die Nacht, und ich blieb wie betäubt und sehr erregt
zurück. Es war genauso gekommen, wie ich es mir vorgestellt hatte: Eben noch glaubte ich die Dinge zu verstehen, und schon wurden mir neue Aufgaben gestellt. Die Innere Vision überragte alles, was ich mir je erträumt hatte. Wohl begann ich die Läuterung der Inneren Vision zu verstehen, aber ich war mir nicht sicher, wie ich mit den weiteren Welten kommunizieren sollte, so daß sie meine Stimme hören. Ich war mir nicht sicher, wie es mir gelingen konnte, Großvater in dieser Nacht hierher zu rufen. Ich wußte nur, daß mir viel Arbeit bevorstand, nicht nur zur Läuterung der Inneren Vision, sondern auch mit der beidseitigen Kommunikation, von der Großvater gesprochen hatte. Mit solchen Gedanken streckte ich mich aus und schlief rasch ein, so erschöpft war ich.
4 Geistige Kommunikation: Ruf und Antwort
Ich erwachte bei strahlendem Sonnenaufgang. Jubilierende Vögel vereinigten ihre Stimmen zu einer Symphonie, vermischt mit dem Plätschern und Murmeln zahlloser Bäche und Quellen im Sumpf. Der Zauber dieses Morgens zusammen mit den Aufregungen der letzten Nacht brachte mich sofort zu hellwachem Bewußtsein. Alle geistige und körperliche Erschöpfung war verschwunden. Ich hatte so tief geschlafen, daß ich mich nicht einmal an einen Traum erinnerte. Mir fiel ein, was Großvater über Träume gesagt hatte: «Träume sind nur für diejenigen wichtig, die nicht täglich mit ihrer Inneren Vision zu kommunizieren wissen. Träume sind nur für jene gut, die nicht bewußt auf die Welten jenseits des eigenen Selbst lauschen. Dann nämlich versucht die Innere Vision, durch Träume mit ihnen zu kommunizieren. Für jene, die auf die weiteren Welten lauschen, sind Träume nicht nötig — außer in Zeiten von Not und Gefahr. » Solche Gedanken machten mir klar, warum ich nichts Wichtiges geträumt hatte. Wahrscheinlich deshalb, weil ich in den letzten Tagen so oft in Verbindung mit meiner Inneren Vision gewesen war. In der Nacht zuvor hatte ich von fliegenden Vögeln und erhabenen Höhen geträumt, aber da war es notwendig gewesen, weil ich keine lautere Kommunikation mit der Inneren Vision gehabt hatte. Wie gut tat mir das jetzt, nicht nur die Erquickung des Schlafes, sondern auch das Gefühl, irgendwie mit allen Dingen verbunden zu sein, auch mit Großvater. Während mir die Ereignisse der letzten Tage durch den Kopf gingen, vor allem meine Kommunikation mit Großvater, traten wieder alle möglichen Fragen und Überlegungen in den Vordergrund. Ich mußte die höchste Reinheit der Inneren Vision entdecken, und ich mußte lernen, mit den weiteren Welten zu kommunizieren und nicht nur zu lauschen. Ich wußte, daß diese Visionssuche, wie lange sie auch dauern würde, nicht mit dem Kopf bewerkstelligt werden konnte. Schon in der damaligen Zeit, und besonders nach all den Lektionen, die ich in den vergangenen Tagen gelernt hatte, war mir klar, daß es nicht ausreichte, Seele und Geist zu beruhigen. Es brauchte viel mehr. Alles mußte lauter sein, geführt von der Inneren Vision. Vor allem wußte ich, daß mir noch immer entscheidende Teile der Wahrheit fehlten, und diese mußte ich finden.
Zunächst beschloß ich, mich in das Heilige Schweigen zu versetzen und Kontakt mit der Inneren Vision aufzunehmen, um mich von ihr führen zu lassen. Ich wußte, mir blieb keine andere Wahl, denn ich konnte mir keine logische Lösung meines Problems denken. Diese Visionssuche durfte nicht unter der Führung der Logik stehen, sondern ich mußte meinem Herzen folgen. So betete und meditierte ich, bevor ich etwas anderes anfing. Sonnenaufgang und Sonnenuntergang waren stets eine Zeit des Gebets, der Entspannung, des Nachdenkens und Plänemachens. Dann versenkte ich mich in den Platz der Stille und fragte meine Innere Vision, was ich tun solle. Was ich empfing, war nur ein Bild von mir selbst, wie ich an dieser Stelle saß und auf den Sumpf hinaus starrte. Der Platz war also der richtige, aber die Kommunikation gab mir keinen Rat, was ich tun sollte. Als erstes, so glaubte ich, sollte ich mich der Läuterung der Inneren Vision widmen. Auf logischer Ebene wußte ich wohl, daß diese geläutert sein mußte, bevor ich mit anderen Wesen der weiteren Ebenen kommunizieren konnte. Doch wußte ich noch immer nicht, wie ich diese Reinheit finden sollte. Meine Innere Vision empfahl mir, einfach zu bleiben und abzuwarten, dort wo ich war. So blieb ich den ganzen Tag sitzen, und mein Kopf wirbelte von Gedanken und Fragen. Linderung fand ich nur, wenn ich in das stille Wasser schaute, und selbst dann ließen mir meine Fragen keine Ruhe. Meine Gedanken kreisten um das Heilige Schweigen. Ich wußte, es war ein Vehikel, ein Werkzeug der Läuterung, aber ich wußte nicht warum. Großvater sprach häufig vom «Schleier des Heiligen Schweigens», erwähnte auch Schleier jenseits dieses Schweigens. Bis jetzt aber hatten wir nichts weiter gelernt, als diesen ersten Schleier zu erreichen und uns in das Schweigen zu versenken. Dennoch wußte ich, daß es jenseits dieses ersten Schleiers noch etwas geben mußte. Beinah glaubte ich es zu fühlen, sogar zu sehen, und doch konnte ich diese Kraft weder verstehen noch erreichen. Es war wie die Nebelschleier über dem Sumpf in der letzten Nacht. Ich mußte den nächsten Schleier erreichen, aber wie? Während meine Gedanken rasten, erinnerte ich mich an meine erste Lektion über das Heilige Schweigen in diesem letzten Sommer. Ich saß damals nackt und allein auf einem kleinen Hügel und beobachtete, wie spätsommerliche Regenschauer über die Fichten peitschten und auf den See niederprasselten, dessen Oberfläche sie in einen dunstigen Schleier hüllten. Kein Windhauch bewegte die kleineren Eichen, und nur die lederigen Blätter bebten im Takt der Regentropfen. Die Vögel waren verstummt bis auf vereinzelte Rufe, mit
denen sie ihren Kameraden einen guten Ruheplatz für die Nacht verrieten. Während dunkleres Grau den Himmel färbte, erhob sich ein Chor von Fröschen in der würzigen, dunstigen Luft und läutete die kommende Nacht ein. Die meisten Tiere schienen in ihrem Unterschlupf zu bleiben und lieber das Unwetter abzuwarten, als sich in den endlos rauschenden Wasserguß hinauszuwagen. Ich war verbittert, wie ich dort saß, ohne Verbindung zur Natur, ungeschützt und naß, fröstelnd in der Kälte der aufziehenden Nacht. Ich unterdrückte das Schaudern, das mir über den Rücken lief, und blieb reglos sitzen. Still und stumm saß ich da, äußerlich wie ein alter Baumstamm. Meine inneren Rhythmen und Gedanken aber waren in Aufruhr, versuchten es dem Körper gleichzutun und eine ähnliche Ruhe und Reglosigkeit zu erreichen. Mein Geist lehnte sich auf gegen die Kälte, versuchte sich über die schweifenden Gedanken zu erheben, versuchte sich zu erinnern, warum ich hier war. Monatelang hatte ich beim Beobachten von Tieren die äußere Ruhigstellung des Körpers gelernt, doch nun verlangte Großvater von mir, die innere Ruhe und Stille zu lernen. Auf bewußter Ebene war es leicht, jede Körperbewegung zu unterdrücken, Atem und Herzschlag zu kontrollieren und die Elemente durch mich hindurchfließen zu lassen, statt mich gegen sie aufzulehnen. Doch die innere Ruhe, das Abstellen aller Gedanken und das Eingehen in die Leere des Nichts und des Eins-Seins, schien ganz unmöglich. Diese innere Ruhigstellung nannte Großvater «das Eintreten in den Schleier»; für ihn war es die wichtigste Übung, die Rick und ich bislang absolviert hatten. Die Beherrschung dieser Fähigkeit war für ihn so etwas wie eine Durchgangspforte, ein Rite de passage zu spirituellen Welten. Auch wenn ich erst knapp neun Jahre alt war, fand er es an der Zeit, daß ich die Schleier des Geistes und ihre weitere Anwendung verstehen solle. Anfangs war es mir schwergefallen, meinen Körper zu kontrollieren, und dies sogar bei der Vereinigung mit der inneren Stimme, doch im Vergleich mit dem, was ich hier und jetzt zu erreichen versuchte, war das eher leicht gewesen. Sonst konnte ich bei allem, was er mich lehrte, die Gründe einsehen, doch für die Schleier, diese Übung tiefer Ruhe, gab er mir keine eindeutige oder verständliche Erklärung. Großvater sagte nur, daß die Ruhigstellung des Körpers von selbst komme, wenn die Stille des Schleiers erreicht sei. Es war ein vollkommenes Gleichgewicht im Nichts, ein absolut reiner und fruchtbarer Boden, aus dem alles Spirituelle erwachsen sollte.
Lebhaft kann ich mich an unser abendliches Gespräch am Feuer erinnern, bevor ich aufbrach zu diesem Hügel. Großvater versuchte mir die Welt der Geister zu erklären und wie man dorthin gelange, aber es war nicht logisch zu begreifen. Man konnte es nur verstehen, indem man mit dem Herzen lauschte und den Verstand völlig beiseite ließ. Großvater lebte in einer ganz anderen Welt als jener oberflächlichen Welt, in der die meisten Menschen leben. Immer schien er auf ferne Stimmen zu lauschen, auf Dinge, die wir nicht hören oder verstehen konnten. Seine Vision war tief mit dem Leben verflochten, mit Ebenen, die wir uns nicht im Traum vorstellen konnten. Rick und ich wünschten sehr, in dieser Welt leben zu können. Großvater sah über die physischen Landschaften hinaus, in Vergangenheit und Zukunft, und kommunizierte wirklich mit Geistern. Es lag etwas in all seinem Tun, das uns zu verstehen gab, daß er niemals allein war, sondern in einer Welt lebte, viel tiefer und weiter, als wir ahnten. An seiner Sprache und seinem Verhalten erkannten wir, daß es weit mehr geben mußte als die Welten physischer Realität: eine höhere Ordnung der Dinge, eine Kraft, einen Raum und eine Zeit jenseits all dessen, was wir uns bislang vorstellen konnten. Großvater hatte oft das Los der modernen Gesellschaft beschrieben - eine Gesellschaft, durch ihre eigene Oberflächlichkeit zu verwirrendem Besitzdenken verleitet und dennoch frustriert durch ihr bedrückendes Gefühl des Mangels. Es gibt eine geistige Welt jenseits der materiellen Existenz des modernen Menschen, eine Welt des Unsichtbaren und Ewigen, eine Welt, die die meisten Menschen niemals verstehen oder anstreben würden. Gewiß, sagte er, gäbe es schwache Versuche des modernen Menschen, sich mit diesen spirituellen Welten in Verbindung zu setzen, doch solche Versuche seien meist oberflächlich und allzu schwer befrachtet mit Sitten und Traditionen, die offenbar nicht mehr wirksam wären. Großvater war der Meinung, daß der Mensch, auch wenn er die Annehmlichkeiten des Materiellen und den Gipfel der Gelehrsamkeit erreicht hat, sich dennoch verloren fühlt und nach einem tieferen Sinn des Lebens sucht. Verzweifelt verlangt er nach immer ausgefalleneren Formen der Zerstreuung und Spielerei, und nichts kann seine verzweifelte Sehnsucht stillen, nichts die Leere in ihm füllen, Großvater glaubte, daß die Gesellschaft irgendwann in der Geschichte ihre Verbindung mit der spirituellen Welt verloren habe, vor allem mit dem Geist, der sich in allen Dingen bewegt der Lebenskraft. Großvater wußte, daß der Mensch eine Dualität ist, teils in der Logik und teils im Körper lebend, vor allem aber dem
Spirituellen angehörig. Die Schwierigkeit ist jedoch, daß der Mensch nur sein logisches Denken weiterentwickelt hat, während er sein spirituelles Bewußtsein verkümmern ließ. Großvater glaubte, daß es dem Menschen schwer falle, sich in spirituellen Welten zu bewegen, und daß er deshalb nach Logik strebe, weil sie praktischer und weniger anstrengend sei. Dieses Streben nach logischem Denken habe die Menschheit durch die Jahrhunderte begleitet, bis in die heutige Zeit. Und heute glaubt der Mensch nur noch an Dinge, die durch die Wissenschaft erwiesen sind und hat keine Ahnung mehr von der Bedeutung des Glaubens. Folglich begann der logische Mensch all jene zu verfolgen und zu vernichten, die in der spirituellen Welt lebten, und erklärte sie zu Heiden, Verrückten und Traumtänzern. Denn das Leben im Geist untergräbt die wissenschaftlichen Erklärungen des modernen Menschen — es zeigt die Oberflächlichkeit aller Bemühungen der Gesellschaft um Religion. Großvater führte uns deutlich vor Augen, wie einseitig die heutige Gesellschaft in ihrer Logik geworden ist und wie schwach und ohnmächtig in spirituellen Dingen. Die Welt
des
heutigen
Menschen
ist
oberflächlich
und
unbefriedigend.
Seine
Verzweiflung hat ihn bereits an den Rand der Zerstörung getrieben. Sein Hunger nach Erfüllung durch Logik, Wissenschaft und Technik hat die Erde in einen Friedhof für seine Enkel verwandelt. Er hat sich von der Erde abgewandt und ist zum Fremden geworden auf seinem eigenen Planeten. Ohne Verbindung zur Erde und ihren Gesetzen kann er die spirituellen Welten nie kennen lernen. Darum wollte Großvater uns fortlenken von der oberflächlichen Spiritualität dieser Gesellschaft und hin zur größeren Welt des Geistes und der Lebenskraft, und darum hatte er mich zu diesem Hügel geschickt, wo ich nun saß und mich verzweifelt bemühte, mich von den fesselnden Forderungen der Gesellschaft zu befreien. Der moderne Mensch würde das, was ich da unternahm, als Meditation bezeichnen. Aber es war viel größer als das, was er Meditation nannte. Zu meditieren hatte mich Großvater vor vielen Monaten gelehrt. Anfangs lehrte er mich die Meditation der Bewegung. Ein vorsichtiges Dahinschreiten, zusammen mit ungerichtetem, weitem Blick und leichten Bewegungen, bei absoluter Konzentration auf die Natur - dies bewirkte eine wunderbare Meditation. Dann wieder hieß er uns sitzen und aufmerksam eine Fährte betrachten, bis es nichts anderes mehr gab als uns selbst und diese Fährte, bis jedes Bewußtsein für äußere Dimensionen geschwunden war. Die Tierfährte war im Grunde unser Mandala geworden, und die Nähe zur Erde
bewirkte eine tiefe Meditation. Solche Meditationen kannten wir gut, denn sie standen im Zentrum der Kraft, der wir dienten - der Kraft der Inneren Vision, des ursprünglichen Bewußtseins und der absoluten Körperkontrolle. Doch was Großvater jetzt verlangte, war viel schwerer und größer als diese Art von Meditation. Es war die Abwesenheit aller Gedanken, allen Bewußtseins für Zeit, Ort, Schwerkraft oder Körperempfindung. Es war ein absolutes Nichts, ein Gleichgewicht, eine grenzenlose Leere. Der Schleier war die Abwesenheit des Selbst, die absolute Reinheit der Existenz und Nicht-Existenz. In dieser Leere, diesem Schleier, so sagte Großvater, sei alle Spiritualität enthalten. Dort würden wir absolutes Verstehen finden und die physische Ebene der menschlichen Existenz überwinden. Dort sei das ursprüngliche Selbst zu finden; dort war die Stätte der Lebenskraft, des Geistes, der sich in allen Dingen bewegt, und aller Geister, die unsere Welten bewohnen, Dort würden wir auch alles Wissen finden, neue Wirklichkeiten schaffen und mit dem Schöpfer in Verbindung treten. In diesem Schleier sei alle Kraft und Herrlichkeit enthalten — und auch die Welt der Schamanen. Dies war die Welt, in der wir leben sollten, denn sie ist der beste und großartigste Teil menschlicher Existenz. Hier und nur hier kann der Mensch völlige Ruhe und den tieferen Sinn des Lebens finden. So verzweifelt war ich bemüht, in diesen Schleier einzutreten, daß ich nun zitternd auf diesem Hügel saß. Ich fühlte mich der Realität entrückt, doch mein Verstand wollte nicht gänzlich loslassen. Etwas war immer noch da — etwas, das mir im Weg stand und mich vom Rande des Nichts zurückriß. Mit jedem Rückfall in die Realität strengte ich mich noch mehr an, in den Schleier vorzudringen, und je mehr ich mich anstrengte, desto schwieriger wurde es. Während der Nachthimmel sich schwarz herabsenkte, verlor ich alle Kontrolle über meinen Körper und fing unbeherrscht an zu zittern. Unmöglich jetzt, zu mir selbst zurückzukehren - und so trieb es mich fort von dem Hügel. Nun erinnerte ich mich, wie ich damals ganz niedergeschlagen ins Camp zurückgewandert war, weil mir nicht gelungen war, was Großvater von mir erwartet hatte. Lebhaft erinnerte ich mich an seine Worte: «Anstrengung führt zur Unmöglichkeit, nur Loslassen führt zum Erwünschten. Du glaubst, es sei unmöglich, in den Schleier vorzudringen, denn dies zu glauben hat man dich gelehrt. Du hast dir selbst diese Realität geschaffen, beruhend auf der Überzeugung anderer Leute, daß es keine geistige Welt geben könne. Irgendwie glaubst du, daß es sehr schwierig sei,
diese Welt zu betreten und daß du leiden und dich anstrengen müßtest, dorthin zu gelangen. Diese Realität hast du dir selbst geschaffen. Wenn du aber absoluten Glauben hast und lernst, in völliger Lauterkeit loszulassen, dann — und nur dann — wirst du den Schleier erreichen. » Auf dem Rückweg zu meinem Platz der Visionssuche
bedrückten
mich
vielerlei
Gedanken,
die
alle
um
das
Wort
«Anstrengung» kreisten. Ich dachte gründlich nach über alles, was Großvater gesagt hatte. Während ich mich forschend
auf
die
offenkundigen
und
tieferen
Bedeutungen
seiner
Worte
konzentrierte, verlor ich ganz das Bewußtsein für Raum und Körper. Nichts gab es mehr in meiner Welt, als diese Worte und meine Überlegungen dazu, Endlich schwanden auch sie aus meinem Bewußtsein, und ich fand mich schwebend in einer Leere von absoluter Finsternis, ohne Bewußtsein für Raum und Zeit, ja ohne Existenz in der Außenwelt. Auch wenn es nur einen Augenblick dauerte, glaubte ich eine Ewigkeit lang dort zu sein, wo die Zeit stillstand. Und als ich in der Dunkelheit die Augen öffnete, erfaßte mich ein tiefes Gefühl der Entspannung. Ich fühlte mich geläutert, mein Geist war völlig frei und klar. Ich war körperlich da, aber zugleich war ich auch nicht da - zumindest nicht in dem Sinn, wie ich es sonst empfand. Während ich über die fichtenbestandene Landschaft zum See schaute, verstand ich viele Dinge, die ich niemals mit meinen physischen Sinnen allein hätte begreifen können. Ich sah Rhythmen und Zyklen, und die Schattierungen der Natur wirkten zusammen zu herrlicher Kraft. Ich wurde Teil dieser Kraft. Ich bewegte mich in der Wildnis, und die Wildnis bewegte sich in mir. Zugleich wußte ich, wo alle Dinge waren, die physischen und die spirituellen, Gestalt und Raum, Aktion und Reaktion. Ich war wirklich da, und zum erstenmal war ich mir des Geistes, der sich in allen Dingen bewegt,
ganz
real
bewußt.
Mein
Bewußtsein
kehrte
zurück
zu
meinem
gegenwärtigen Ort in der Zeit, zu diesem stillen Wasser, zu dieser Visionssuche. Seit damals habe ich so viel erfahren von dieser Welt des Schleiers, die wir heute das Heilige Schweigen nennen. Ich begriff, daß es der Schleier war, durch den wir hindurchgehen müßten, wenn wir in die Welt des Schweigens eingingen. Dieser Schleier war im Grunde ein Transzendieren des physischen Selbst, des logischen Denkens und unserer stofflichen Verbindung zur Welt. Gewiß gab es dort Reinheit, aber nun wußte ich, daß es noch tiefere Bereiche geben mußte, tiefere Schleier, wie Großvater mir vor langer Zeit gesagt hatte. Die Wörter «loslassen» und «nicht anstrengen» hallten mir noch immer durch den Kopf. Was damals gegolten hatte, so
dachte ich, müsse auch jetzt gelten. Trotz all dieser Erlebnisse in der Vergangenheit, an die ich mich erinnerte, sah ich keine Möglichkeit, mich tiefer in das Schweigen zu versenken. Jetzt mußte ich versuchen, über alles hinauszugehen, was ich im letzten Jahr gelernt und geübt hatte. Mich nicht anzustrengen, das wußte ich, würde eine wichtige Rolle dabei spielen, wie auch der Glaube und die Überwindung des Selbst. Irgendwie mußte ich tiefer in die Turbulenzen des tiefen Wassers einsteigen, und der einzige klare Anhaltspunkt schien sich aus meinem Blick aus der Höhe des Baumwipfels zu ergeben. Ich mußte mich über mich selbst erheben, um mein Selbst zu transzendieren. Irgendwie mußte ich diesen inneren Baum erklettern, falls es einen solchen Baum gab. Ich mußte einen Weg nach innen finden, auf dem ich wirklich nach außen über das Selbst hinausgelangen konnte, um mein spirituelles Bewußtsein zu läutern und zu erweitern. An diesem Punkt glaubte ich mich verloren, ohne Richtung und ohne Ort, wohin ich gehen könnte. Die Logik sagte mir nicht, was ich tun sollte, und auch meine Innere Vision wollte nicht antworten. Ich wußte nur, daß ich jedesmal, wenn ich die Innere Vision befragte, mich hier sitzen sah — wie ich auf den Sumpf hinausblickte. Zwischen Innerer Vision und stofflicher Realität konnte ich nur einen Unterschied erkennen: daß es damals, als ich dies Bild von mir selbst gesehen hatte, Nacht gewesen war. Ich wußte genau, daß mein Platz, jetzt so düster und neblig, am Rande des stillen Wassers gelegen war, denn das Wasser und die Umrisse der Landschaft konnte man gut sehen. Möglicherweise bedeutete dies, daß ich bis zum Anbruch der Nacht warten mußte, bevor mir mehr offenbart werden sollte. Die Nacht war noch nicht gekommen, da sah ich ein deutliches Spiegelbild meiner selbst und des dunkler gewordenen Wolkenhimmels auf der Wasseroberfläche. Und nun hatte ich ein sehr sonderbares Gefühl — keineswegs geweckt, sondern sehr spontan. Für einen Moment nur vergaß ich Raum und Ort und konnte nicht mehr unterscheiden, ob ich tatsächlich mein Spiegelbild im Wasser sah oder ob ich aus dem Wasser mein körperliches Selbst anschaute. Die Erfahrung wurde so intensiv, daß ich einen Moment die Balance verlor und beinah ins Wasser fiel. Das aufspritzende Wasser brachte mich in mein physisches Bewußtsein zurück. Ich empfand Angst und Faszination zugleich. Nie im Leben hatte ich einen solchen Konflikt der Dualität erlebt: nicht zu wissen, wo ich mich eigentlich befand. Alles wirkte so real und gültig und schien doch so zufällig. Ich wußte, daß das Erlebnis,
wenn ich es zu wiederholen versuchte, hinter der Realität zurückbleiben würde. Und nun beschloß ich, mich wieder hinzusetzen und alles noch einmal zu überdenken. Ich ließ all die Ereignisse an mir vorbeiziehen, die unmittelbar zu diesem Erlebnis geführt hatten, doch nichts schien mir Sinn zu machen. Dann aber wurde mir klar, daß ich schon vor dem Erlebnis in das Heilige Schweigen eingetreten war, zwar eher zufällig als aus freier Entscheidung. Ob dies die einzige Voraussetzung war, um die phantastische Erfahrung zu wiederholen, so daß ich sie als real empfand? Also beschloß ich, mich tief in das Heilige Schweigen zu versenken und mir Zeit zu nehmen, um mich möglichst von meinem Selbst zu befreien. Danach wollte ich mich zurückerinnern an die Erlebnisse und feststellen, ob ich diese bizarre Realität noch einmal wiedergewinnen konnte. Ich stellte mich also geistig auf das reine Spiegelbild ein, frei von allen Gedanken, genau wie die Spiegelung auf dem Wasser. Ich verlor mich in eine tiefe Stille, in der alles Stoffliche überwunden war. Jetzt sprach meine Innere Vision auf sehr deutliche und reale Art zu mir. Ich sah mich in meiner inneren Vorstellung über die sumpfigen Ebenen streichen, die jenseits des stillen Wassers lagen. Ich kam in Gegenden, wo ich nie gewesen war, und fand den Schädel eines Hirsches mit deformiertem Geweih, dessen eine Stange abwärts gerichtet war. Es war kein vorgestelltes Dahinwandern, als sähe ich mich vor meinem inneren Auge, sondern tatsächliches Wandern in seiner Realität. Da überkam mich ein Gefühl der Freiheit und Loslösung von der Welt. Unermeßliche Sphären schienen sich aufzutun, und die Wälder und Sümpfe waren belebt von Tieren und Geistern, die meine Wanderung beobachteten. Ich fühlte mich so frei und geläutert, und die führende Kraft der Inneren Vision war rein und klar. Nun begann ich durch dunstige Schleier hindurchzuwandern, und mit jedem Schleier, den ich durchschritt,
fühlte
ich
mich
noch
freier
und
klarer.
Hier gab
es
keine
Beschränkungen, weder durch Raum noch Zeit, und hier schien alles möglich. Die Kommunikation zwischen Körper und Geist, zwischen Natur und Mensch, wurde umfassend und mächtig. Es gab keinen Zweifel an dieser Kommunikation, denn sie war wirklich und wechselseitig zugleich. Ich wanderte weiter und kam schließlich in eine Gegend des Sumpfes, wo mich ein schlechtes Gefühl befiel - und sofort kehrte ich mit einem Ruck in mein physisches Bewußtsein zurück. Ohne nachzudenken, sprang ich aus meiner sitzenden Haltung auf, mein Körper erstarrt und schmerzend vom langen Sitzen in dieser Stellung. Was ich erlebt hatte, war ganz unglaublich, denn ich hatte dabei ein starkes Gefühl von Realität gehabt.
Ich war außer mir vor Freude, weil ich erreicht hatte, was ich suchte - die Läuterung der Inneren Vision. Auch wenn die ganze Reise in meiner Vorstellung vonstatten ging, verstand ich wohl, was sie mir sagen wollte. Ich mußte mich tief in das Heilige Schweigen versenken, ganz tief unter die Oberfläche, noch tiefer als alle Wirbel und Turbulenzen, wo die Wasser des Geistes in ruhiger Stille flössen. Ich fühlte mich gut, fühlte mich erleuchtet und wollte zu Großvater laufen, um ihm davon zu erzählen, aber meine Innere Vision befahl mir zu schlafen. Kaum hatte ich meinen Kopf auf den Körper der Erde gebettet, als ich schon einschlief. Ich erwachte in grauer Morgendämmerung. Der Wolkenhimmel verhieß zwar keinen Regen, sah aber dennoch bedrohlich aus, und der Tag versprach heiß zu werden. Kein Windhauch war zu spüren. Ich fühlte mich so gut, so im Frieden mit mir, daß ich mich einfach hinsetzte und die dämmerige Landschaft genoß, in ihrem ewigen Auf und Ab des Lebens. Dann stand ich auf, um meinen Platz zu verlassen und ins Camp zurückzukehren, aber wieder hielt meine Innere Vision mich zurück. Es schien nicht richtig, jetzt fortzugehen. Richtig schien es hingegen, den Sumpf und die Schlammflächen jenseits zu erkunden. Dort war ich noch nie gewesen — außer in meiner Vorstellung —, und ich wollte wirklich gern wissen, wie es dort aussah. Es tat mir gut, endlich den Platz des stillen Wassers zu verlassen — aber es war dennoch wie ein Abschied von einem alten Freund. Während ich das jenseitige Sumpfland durchquerte, hatte ich eindeutig das Gefühl, als sei ich schon einmal hier gewesen. Auch wenn die Landschaft mir sehr vertraut war, wußte ich doch genau, daß ich noch nie über den Platz des stillen Wassers hinausgekommen war. Je weiter ich kam, desto klarer wurde mir, daß ich diese Landschaft bestimmt kannte. Ich wußte sogar, wo die gestürzten Baumstämme lagen, bevor ich dort ankam. So wanderte ich munter drauflos. Diese Landschaft sah genauso aus, wie ich sie in der Nacht vor meinem inneren Auge gesehen hatte. Es gab keinen Unterschied zwischen dieser Landschaft in ihrer stofflichen Realität und jener, die ich mir vorgestellt hatte. Dann kam mir der Gedanke, daß ich vor ein paar Tagen, als ich hoch auf dem Baum saß, ohne weiteres diese Schlammflächen überblicken konnte. Ich wußte ja, daß das Bewußtsein niemals etwas vergißt, und sicherlich hatte ich den Blick über diese Ebene schweifen lassen, auch wenn ich mich nicht an Einzelheiten erinnerte. Allmählich akzeptierte ich diese Erklärung als einzige Möglichkeit. Das heißt, bis ich die kleinen Inseln und Dickichte am anderen Ende erreichte. Genau wie
in meiner vorgestellten Wanderung in der Nacht kroch ich auf allen Vieren auf eine dieser Inseln, und dort, teilweise im Gebüsch versteckt, fand ich den Hirsch-Schädel mit der nach unten gebogenen Geweihstange. Ich wollte meinen Augen nicht trauen. Ich war so aufgeregt, daß ich nicht mehr klar denken konnte. Rasch drehte ich mich um und schaute hinüber in Richtung des stillen Wassers, aber der Tümpel lag gut versteckt hinter einer Mauer von hohen Büschen. Dann suchte ich nach der riesigen alten Fichte, doch dieser Baum war am Horizont verdeckt von anderen hohen Fichten. Unmöglich, daß ich den Schädel von jenem Baum aus gesehen haben konnte. Kaum kann ich mich noch erinnern, was von jetzt an passierte - nur, daß ich zurückwanderte durch den Sumpf, den Schädel mit dem Geweih unter den Arm geklemmt. Ich war wie benebelt, beinah bewußtlos vor Fragen und Zweifeln. Auf dem Rückweg zum stillen Wasser spähte ich immer wieder nach jenem hohen Baum, aber er wurde erst sichtbar, als ich in die Nähe des Tümpels kam. Nein, es war unmöglich, daß ich von dort oben den Sumpf überblicken konnte. Als ich endlich wieder am Platz meiner Visionssuche saß, hatte ich das überwältigende Gefühl, im Gespräch mit Großvater zu sein. Ich war überzeugt, er wußte bereits alles. Nun rastete ich an meinem Platz und hatte dabei das Gefühl, beobachtet zu werden. Es war, als sei irgendein Wesen hinter mir, das jede meiner Bewegungen verfolgte. In meiner Vorstellung sah ich Großvater hinter mir stehen — und wandte den Kopf. Ja, hinter mir stand Großvater, um seine Lippen dieses vertraute Lächeln, das mir verriet, er wisse genau, was ich empfand. Er sprach nur: «Ja, die Innere Vision erlaubt uns auch, solche Geist-Reisen zu unternehmen. Doch dies ist nicht die richtige Zeit noch der richtige Ort, um solche Fragen zu diskutieren - dies wollen wir später tun. Denn jetzt mußt du deine Kommunikation mit den Welten der Inneren Vision vervollkommnen, so daß deine Stimme und deine Wünsche deutlich und stark vernehmbar sind. Ja, mein Enkel, du hast den Schädel gesehen, als dein Geist über den Sumpf wanderte. Es war keine Einbildung. Aber auch dies wollen wir aufschieben, denn du hast viel Arbeit vor dir. » Mit diesen Worten entfernte er sich und ließ mich allein mit meinen quälenden Gedanken. Was mag er wohl meinen, dies sei nicht die richtige Zeit noch der richtige Ort, dachte ich? Wie sollte ich mich auf die Kommunikation konzentrieren, wo er mir eben sagte, daß ich eine Geist-Reise unternommen hatte? Meine erste Geist-Reise, und sie wurde ein mächtiger Erfolg! Was Großvater mir eben gesagt hatte, bestätigte meine
tiefsten Überzeugungen und Befürchtungen - und so überwältigt war ich, daß ich weinte wie ein kleines Kind. Ja, sicher, jetzt war weder die richtige Zeit noch der richtige Ort, denn ich fühlte mich einfach zu erregt, zu überwältigt durch die ganze Erfahrung. Während ich all die Ereignisse in Gedanken an mir vorüberziehen ließ, drängte sich wieder das «falsch-Gefühl» in mein Bewußtsein - so stark, daß ich nicht einmal mehr an die Geist-Reise zu denken vermochte. Frustriert beschloß ich, mich aufmerksam auf jene Kommunikation zu konzentrieren, wie Großvater mir empfohlen hatte. Die wenigen Botschaften, die ich in den letzten Tagen empfangen hatte, waren mehr Zufall als Absicht gewesen. Jedesmal, wenn ich durch die Innere Vision mit Großvater kommunizierte, geschah es ganz spontan, fast ohne mein Zutun. Es war, als würde ich von einer äußeren Kraft geleitet. Ich hatte die Kommunikation nicht bewußt gewollt, und darin bestand mein Problem. Wie aber könnte ich die Verbindung mit bewußtem Willen herstellen, und welche Reihe von Ereignissen konnte schließlich zu solcher Kommunikation führen? Dies waren die Fragen, die mich beschäftigten. Wieder wußte ich nicht, wo ich nach Antworten suchen sollte. Doch konnte es nicht durch den bewußten Verstand geschehen, sondern nur durch die Innere Vision. Großvater hatte mir gesagt, daß die Innere Vision in Verbindung mit dem tieferen Selbst stehe, mit der Sphäre des Geistes, der sich in allen Dingen bewegt, überhaupt mit der geistigen Welt. So beschloß ich, es einmal zu versuchen und mit jener riesigen alten Fichte zu kommunizieren, die am Ufer des stillen Wassers stand. Ich fühlte mich diesem Baum irgendwie verbunden, denn ich war hinaufgeklettert, und er hatte mich so vieles gelehrt. So ging ich hinüber zu dem Baum, setzte mich vor seinen Stamm und schaute hinauf in den Wipfel. Aber mein Hinaufschauen und starren führte zu keiner Art von Kommunikation. Aus irgendeinem Grund hatte ich nicht das richtige Gefühl. Ich ignorierte das «falsch-Gefühl» und versuchte es noch einmal, aber wieder gab es keine Kommunikation über die physische Schönheit des Baumes hinaus. Enttäuscht ging ich hinüber zum Ufer des Tümpels und schaute auf das stille Wasser. Das Wasser war schön und ruhig wie immer, doch abgesehen davon gab es auch hier keine tiefere Kommunikation. Sicherlich hätte das Wasser mich noch mehr zu lehren, denn es war doch der Mittelpunkt so vieler Belehrungen. Ich schob mein «falschGefühl» beiseite und versuchte es noch einmal, aber vergebens. Das Wasser blieb
stumm, beinah spöttisch-stumm. Vielleicht klappte es nicht, weil ich versäumt hatte, mich in den Schleier des Heiligen Schweigens zu versenken. Überzeugt, daß dies der Ursprung meines Problems sei, kehrte ich zu dem Baum zurück und lehnte mich gegen seinen Stamm. Ich entspannte mich und versenkte mich in die Stille, beinah so tief wie in der Nacht, als ich meine Geist-Reise antrat. Die Landschaft und besonders der Baum fühlte sich jetzt ganz anders an, aber sonst gab es keine Kommunikation. Da war nichts, bis auf die reine und stumme Erwartung der Seele. Ich versuchte es abermals, versenkte mich diesmal noch tiefer, doch ich empfing nichts als die reine Stille des Geistes. Ich war frustriert, beinah wütend. Nun kehrte ich zurück zu dem Platz am stillen Wasser, aber ich war fast am Ende meiner Geduld. Allmählich glaubte ich, daß alles, was ich gelernt hatte, noch immer nicht ausreiche. Entweder machte ich etwas nicht richtig, oder es fehlte ein Stück zu dem Puzzle, das ich bislang übersehen hatte. Ich konnte nicht verstehen, warum es früher so gut gelungen war und ich nun überhaupt nicht mehr kommunizieren konnte. Um alles noch komplizierter zu machen, war auch meine Innere Vision wenig hilfreich. Sie sagte mir nur, daß alles, womit ich zu kommunizieren versuchte, nicht das Richtige sei. Ich glaubte bereits, dass die Dinge mir tatsächlich nichts zu sagen hätten, weil ich ihrer Mühe unwürdig wäre. Den ganzen Tag versuchte ich weiter, mit geistigen und stofflichen Welten zu kommunizieren, aber ergebnislos. Ich war nun wirklich frustriert, beinah wütend auf mein vielfaches Scheitern, und zunehmend war ich enttäuscht von meiner Inneren Vision und ihren Möglichkeiten, mir zu helfen. In meiner Verzweiflung fragte ich endlich die Innere Vision, womit ich eigentlich kommunizieren sollte, statt ihr vorzuschreiben, was ich wollte. Kaum hatte ich die Frage gestellt, stand deutlich Ricks Bild vor meinem inneren Auge. Das Bild tauchte so plötzlich auf, daß ich ganz überrascht war. Tatsächlich hatte ich die letzten Tage überhaupt nicht an Rick gedacht, weil ich so von meiner Suche beansprucht war. Nun fragte ich mich, was er wohl tun mochte, nachdem auch er am Problem der Inneren Vision arbeitete. Unbewußt versenkte ich mich in die Stille und lauschte der Stimme meiner Inneren Vision. Wieder dachte ich an Rick, und sein Bild, wie er dort weiter unten am Fluß sitzt, stand mir klar vor Augen. Ich stellte mir vor, ich säße neben ihm und spräche mit ihm. Wie gut wäre es, dachte ich, jetzt mit ihm zu sprechen und zu erfahren, wie es ihm geht! Möglicherweise könnten wir sogar
unsere Erfolge und unsere Fehler diskutieren und unsere geistigen Kräfte vereinigen, um Antworten zu finden. Jedenfalls wäre es eine gute Sache, einen Freund zur Gesellschaft zu haben. Hinter mir neben dem Weg raschelte es im Gebüsch, und als ich mich umwandte, tauchte Rick bei mir auf. Wortlos setzte er sich zu mir. Dann fragte er, wie es mir ginge. Nachdem ich mir so verzweifelt gewünscht hatte, mit jemandem zu sprechen und meine Zweifel loszuwerden, erzählte ich ihm von meinen letzten Tagen, vor allem von meiner Geist-Reise, doch auch von meinem Scheitern und meiner Verwirrung an diesem Tag. Rick sah den Hirsch-Schädel und erzählte mir von seiner Reise in die Innere Vision. Witzigerweise hatten wir nicht nur ganz ähnliche Erlebnisse, sondern standen auch beide vor der gleichen Schranke, die uns den Zugang zu neuen Erfahrungen versperrte. Auch er war damit beschäftigt, jene Kommunikation zu erproben, und wunderbarerweise hatte er vor kaum einer Stunde versucht, sich mit mir in Verbindung zu setzen. Er habe von seinem Platz der Stille her meinen Namen gerufen, erzählte er mir, habe jedoch keine Antwort gehört. Er wünschte mich zu treffen, und dann habe ihm ein Bild von uns beiden vor Augen gestanden, wie wir im Gespräch beieinander saßen. Seine Innere Vision hatte ihm befohlen, mich aufzusuchen. Ich erzählte ihm, daß ich ihn zwar nicht meinen Namen hatte rufen hören, daß ich aber die bildliche Vorstellung gehabt hätte, mit ihm sprechen zu wollen. So redeten wir bis spät in die Nacht und versuchten zu verstehen, warum meine Innere Vision mir erlaubte, Rick herbeizurufen, während Rick mich nicht rufen konnte. Im Gespräch untersuchten wir die Ereignisse, analysierten die eingesetzten Techniken und halfen uns gegenseitig, Antworten auf unsere Fragen zu finden. Dennoch konnten wir nicht entscheiden, wieso ich mit Rick hatte kommunizieren können, er aber nicht mit mir. Eine aufschimmernde Ahnung brachte mir endlich die Antwort: Es lag nicht an der Inneren Vision, sondern an der Art, wie wir zu kommunizieren versucht hatten. Ich hatte mir die Kommunikation vorgestellt, sie visualisiert, während Rick nur Worte eingesetzt hatte. So einfach war es! Großvater hatte gesagt, daß die Innere Vision nicht mit Worten kommuniziert, sondern mit Zeichen, Symbolen, Gefühlen und Wach-Visionen. Warum ich Erfolg hatte und Rick nicht, lag wohl daran, daß ich mit Bildern arbeitete und er mit Worten. Wir waren uns einig, daß die Kommunikation nicht mit Worten stattfinden konnte, sondern durch eine Art von kontrollierter Phantasie. Großvater
hatte oft davon gesprochen, daß man Dinge vor seinem geistigen Auge sehen könne. Er hatte diesen Vorgang als Visualisierung bezeichnet, und jetzt wurde er uns verständlich. An diesem Punkt beschlossen wir, es beide nochmals zu versuchen und mit dem stillen Wasser zu kommunizieren. Wir setzten uns also nebeneinander ans Ufer. Beide versenkten wir uns in den Platz der Stille und begannen mit dem Wasser zu kommunizieren, wobei wir alle möglichen geistigen Bilder wachriefen. Beide scheiterten wir. Dann nahmen wir unser Gespräch wieder auf und versuchten herauszufinden, was wir falsch machten. Beinah gleichzeitig hatten wir beide das Gefühl, daß wir mit Großvater sprechen müßten. Er würde Antworten wissen. Ohne mich mit Rick zu verständigen, stellte ich mir vor, daß Großvater zu uns käme — aber ich wußte nicht, daß Rick dasselbe tat. Ich fühlte die Spannung aus meiner Magengrube weichen, und das «falsch-Gefühl» verschwand; an seine Stelle trat das Gefühl, meine Sache richtig gemacht zu haben. Ich spähte zu Rick hinüber, und sein Gesicht verriet mir, daß er es genauso gemacht hatte. Wir grinsten uns an, drehten uns nach dem Waldweg um und warteten auf Großvaters Ankunft. Kaum hatten wir uns umgedreht, als Großvater auch schon auftauchte. Er setzte sich zu uns, anfangs ohne ein Wort zu sprechen. Aber er hatte so einen bestimmten Zug im Gesicht, der uns sagte, daß wir die Wirkungsweise der Kommunikation verstanden hätten. Es verging eine Weile, bis er zu uns sprach. «Ihr beide habt nun gelernt, eure Innere Vision zu läutern, so daß die Botschaften klar und deutlich ankommen. Aber die Ablenkung von Körper und Geist könnte die Botschaft abschwächen. In solchen Zeiten der Unruhe und Ablenkung muß man wohl darauf achten, sich tief in den Platz der Stille zu versenken, sonst wird die Botschaft unklar. Ihr habt auch gelernt, daß das Heilige Schweigen die Brücke zu weiteren Welten ist, eine Brücke, die den läutert, der sie betritt. Und ihr habt gelernt, daß die Kommunikation in beiden Richtungen vonstatten geht; ihr habt auch gelernt, daß ihr, um durch die Innere Vision eine Botschaft in die Außenwelt zu senden, die Botschaft visualisieren müßt, also nicht mit Worten, denn die Sphären jenseits des Selbst sprechen nicht in Menschenzungen. » Großvater machte eine Pause, duldete aber keine Fragen. «Nun wollt ihr wissen, wie die Kommunikation vonstatten geht. Wie ihr herausgefunden habt, genügt nicht der Wunsch, mit den natürlichen und geistigen Welten zu kommunizieren. Euer Wunsch mag stark sein, aber das heißt noch nicht, daß irgendwelche Wesen mit euch
kommunizieren wollen. Es ist spirituelle Überheblichkeit anzunehmen, daß jedes irdische oder geistige Wesen euch etwas zu sagen hätte. Solange ihr euch bei der Kommunikation nicht von eurer Inneren Vision leiten laßt, wird alles andere stumm bleiben. Botschaften werden dann nicht übermittelt. Doch wenn eure Innere Vision euch leitet, dann ist die Kommunikation klar und stark. Dies ist der Grund, warum ihr beide gescheitert seid, als ihr mit dem Wasser kommunizieren wolltet. Im Augenblick hat das Wasser euch nichts mehr zu lehren. Vielleicht später einmal, aber nur dann, wenn ihr euch durch die Kraft der Inneren Vision zum Wasser leiten laßt, wird es zu euch sprechen. » Wieder machte Großvater eine Pause und ließ uns Zeit, geistig aufzunehmen, was er gesagt hatte. Ich wußte genau, wovon Großvater sprach. Die Kommunikationen, die mir gelungen waren, kamen ganz leicht und spontan - und durch Führung der Inneren Vision. Keine Anstrengung war dazu nötig, denn es geschah einfach. Großvater aber fuhr fort: «Ihr braucht nur durchs Leben zu laufen wie immer, ohne zu suchen, nur müßt ihr euch offen halten für alle Stimmen der Erde und des Geistes. Dann werdet ihr von selbst zur Kommunikation geführt, wenn die Zeit gekommen ist und eines der Wesen euch lehren will. Doch ihr müßt immer offen sein und lauschen auf die Stimme der Inneren Vision. » Großvater fuhr fort: «Jetzt ist die Zeit gekommen, die Welt der Geister zu erforschen, wo ihr im Fleisch und zugleich im Geist wandeln könnt. Es gibt zwei Arten der Reise dorthin: eine im stofflichen Bereich, die andere im Geist. Ihr beide habt das Unmögliche wahr werden sehen. Ihr habt in der Vorstellung Reisen unternommen und dann festgestellt, daß diese Reisen irgendwie doch in der Realität stattfanden. Der Beweis ist der Schädel, den ihr gefunden habt, als ihr die Reise mit eurem Körper wiederholtet. Nein, diese Reise ist nicht Einbildung, sondern Wirklichkeit, wie ihr euch überzeugen konntet. Jetzt geht die Woche zu Ende, und ihr müßt immer noch die Sphäre der Geist-Reisen erkunden. Ihr müßt noch einmal für eine Weile allein sein — und den Pfad der Geister wandeln. » Damit verließ Großvater das Camp, und bald danach wanderte ich den Fluß hinauf. Mein Herz sagte mir, daß Rick dort am Platz des stillen Wassers bliebe. Es würde ihn lehren, genau wie es mich gelehrt hatte. Er würde andere Lektionen lernen, denn das stille Wasser spricht zu jedem einzelnen so, wie er es verstehen kann. Ich hatte keine Ahnung, wohin ich unterwegs war, aber ich machte mir keine Sorgen. Meine Innere Vision würde mich zu meiner nächsten Lektion führen und noch weiter - zu
einem Wissen, das es irgendwo schon gab, wenn auch vorläufig für mich unerreichbar.
5
Geist-Reisen in die andere Wirklichkeit
Ich marschierte bis weit in die Nacht, ohne auf meine Richtung zu achten - auch nicht auf meine Müdigkeit, die mir die Beine so schwer machte, daß ich stolperte. Mein Kopf schwappte förmlich über von Gedanken, Fragen und Erwartungen. Bevor ich erneut anfing, die geistigen Welten zu erforschen, wollte ich sichergehen, daß ich die Dinge verstand, die ich gelernt hatte. Ich wollte keine Fehler mehr machen. Die Zeit wurde knapp, und in ein paar Tagen mußte ich auf eine Woche nach Hause. Es fiel immer so schwer, geistige Dinge in einer Welt fern der Wildnis zu üben. Es gibt keine Klarheit in der Welt der Menschen, nur Zerstreuung und Verunreinigung - auch geistige Verunreinigung. Ich hatte es jetzt eilig, denn ich wollte das Reisen im Geist verstehen, bevor ich wieder nach Hause mußte. Ich war der Erkenntnis nah - und wollte nicht das Risiko eingehen, doch noch zu verlieren, was ich begriffen hatte. So dachte ich nach über die Kraft der Inneren Vision. Jetzt verstand ich, warum Großvater gesagt hatte, sie sei nicht nur die Stimme der geistigen und natürlichen Welten, sondern auch die Stimme des Schöpfers selbst. Durch die vielen Erfolge und Mißerfolge der letzten Tage hatte ich erkannt, daß die Innere Vision niemals irren konnte. Ja, manchmal war sie schwach und unklar gewesen, und manchmal hatte ich die Botschaften falsch interpretiert, aber letzten Endes hatte sie nie geirrt. Nach all dem wußte ich jetzt, warum Großvater immer die Innere Vision befragte, bevor er etwas tat. Sie war die führende Kraft seines Lebens, und ich wollte sie auch zu der meinen machen. Ich konnte nun endlich verstehen, warum man immer der Inneren Vision folgen sollte, auch wenn alle Beweise auf stofflicher Ebene das Gegenteil nahelegten. Das logische Denken war fehlbar, aber das spirituelle Bewußtsein, die Innere Vision, irrte nie — sie war nur manchmal unzugänglich durch unser ungeläutertes Denken. Nachdem ich gebetet und dem Schöpfer die Ehre erwiesen hatte, beschloß ich, das Reisen im Geist zu erproben. Jetzt war ich mehr als bereit, in der Praxis zu üben, was Großvater von mir verlangte. Ich versenkte mich tief ins Heilige Schweigen, wie
ich es vorher schon getan hatte, und wanderte weiter durch den Sumpf. Irgendwie kam mir die Sache unwirklich vor, denn ich wanderte nicht in der inneren Vorstellung, sondern sah mich dahin wandern - wie von außen. Es gelang mir nicht wirklich, mein Bewußtsein ins Innere meines vorgestellten spirituellen Körpers zu verlagern. Es blieb eine gewisse Fremdheit dieser inneren Vorstellung, und je mehr ich mich konzentrierte, desto fremder fühlte ich mich. Das Bild war einfach nicht real, und die Innere Vision bot mir keine Hilfe. Also verließ ich den Ort der Stille und tauchte wieder auf in i mein physisches Bewußtsein. Nun wanderte ich weiter durch den Sumpf auf demselben Weg, den ich mir vorgestellt hatte. Nichts war so, wie ich es mir ausgemalt hatte, nicht einmal annähernd. Enttäuscht, aber unverzagt lief ich zurück zu der Stelle, wo ich gesessen hatte, und machte noch einen Versuch. Diesmal achtete ich darauf, wirklich den Ort der Stille zu erreichen, und konzentrierte mich ganz auf die Visualisierung. Auch wenn es jetzt besser war, etwas wirklicher als das letztemal, fehlte immer noch etwas. Ich war einfach nicht im Bild. Die physische Wanderung, die meine GeistReise bestätigen sollte, brachte wieder nur einen Mißerfolg, und jetzt war ich ziemlich frustriert. Noch immer bot mir die Innere Vision keine Hilfe, denn sie sprach weder pro noch contra: Sie blieb einfach wohlwollend gleichgültig. Ich glaubte schon, es liege ihr nichts mehr an der Kommunikation, nichts daran, ob ich scheiterte oder nicht. Als ich zurückkehrte an meinen Platz, war die Sonne untergegangen. Wolken waren am fernen Horizont aufgezogen — wie Rauchfahnen trieben sie über dem riesigen Feuerball der untergehenden Sonne. Wieder brachte die aufziehende Nacht mir ein Gefühl der Erleichterung, denn in der letzten Nacht war mir so vieles gelungen. Jetzt hoffte ich, die Dunkelheit würde wieder helfen. Und wieder unternahm ich GeistReisen in meiner Vorstellung, die ich anschließend durch physische Wanderungen zu bestätigen suchte, doch jedesmal war es ein Fehlschlag. Es kam so, wie es tagsüber gewesen war: Je mehr ich mich anstrengte, desto fremder blieb mir das vorgestellte Bild. Diese Reisen erschienen mir noch unwirklicher als jene während des Tages. Ich war sehr frustriert, weil es mir vorkam, als sei meine Innere Vision unaufmerksam oder eingeschlafen. Großvater trat aus dem Gebüsch und setzte sich neben mich. Er sagte: «Ich weiß, mein Enkel, daß du frustriert und wütend bist auf dich selbst, aber du hast nicht recht auf das gehört, was ich dir sagte. Wenn du etwas erreichen willst, muß zuerst deine
Innere Vision es dir befohlen haben. Wie du es selbst erlebt hast, als du vergeblich mit
den
verschiedenen
Wesen
der
natürlichen
und
geistigen
Welten
zu
kommunizieren versuchtest, muß zuerst die Innere Vision die Führung übernehmen. So auch, wenn wir durch geistige Sphären reisen. Auch dabei brauchen wir Führung durch eine Instanz außerhalb unseres Selbst.» «Aber», sagte ich, «meine Innere Vision schweigt oder schläft. Jedesmal, wenn ich im Geist zu reisen versuche, ist es ein Fehlschlag.» Großvater antwortete: «Die Innere Vision schläft nie. Der Grund, warum sie bei deinen Geist-Reisen nicht mit dir kommunizieren wollte, liegt darin, daß es noch nicht an der Zeit ist, eine solche Reise zu unternehmen. Es gibt keine Absicht, gegenwärtig ruft dich nichts auf eine solche Reise.» Großvater hatte recht, meine Geist-Reisen standen nicht unter der Führung der Inneren Vision, und wie meine Bemühungen um Kommunikationen waren diese Reisen gescheitert, weil kein Befehl von innen vorlag. Doch was meinte Großvater mit Absicht? Dieses Wort war schon oft gefallen. Während wir schwiegen und Großvater mir Zeit ließ, seine Worte in mich aufzunehmen, erinnerte ich mich an den letzten Winter, als Großvater von der Absicht gesprochen hatte. Damals hatten wir versucht, das Wandern im Geist zu verstehen - eine Art des Wanderns, bei der wir geschützt waren vor allem Stofflichen. Wir hatten versucht - und waren dabei gescheitert -, eine lange Fußwanderung zu machen, die nur in spirituellem Bewußtsein zu schaffen war. Damals hatte Großvater zum erstenmal von der Absicht gesprochen - eine Situation und eine Belehrung, an die ich mich nun lebhaft erinnerte. Wir hatten Großvater gefragt, wie der Eintritt in die geistige Welt vonstatten ginge, und er hatte gesagt: «Ich habe euch gelehrt, in die geistige Welt einzutreten. Jetzt aber muß ich euch zeigen, wie man in dieser Welt arbeiten und diese Welt in sich arbeiten lassen kann. Der Zyklus menschlicher Existenz ist so beschaffen, daß das Ich wie ein Gefängnis ist. Daneben aber gibt es die Welt der Lebenskraft, die ihr bereits kennt. Jenseits dieser Welt liegt die Welt der Geister, und wir müssen lernen, die Kraft dieser Welt zu nutzen. Ihr seid nun in die Welt der Lebenskraft, des ursprünglichen Bewußtseins und der primären Instinkte gelangt durch Konzentration auf diese Welt, durch Loslassen allen logischen Denkens und durch den Glauben. Es war eine bewußte Anstrengung, eine dynamische Meditation, die euch in die Sphäre des Heiligen Schweigens führte. Dieses Heilige Schweigen wurde zum Vehikel, das
euer Leben erweiterte und euch teilnehmen ließ an der Welt des Geistes, der in allen Dingen lebt. Jetzt aber müßt ihr lernen, in die Welt der Geister einzutreten und mit ihrer Kraft zu arbeiten. Es ist eine Welt, die euch dem heiligen «Eins-Sein» näherbringt. Denn wenn ein Mensch teilhat an allen Zyklen und Kreisen, dann ist er eins mit allen Dingen. Es genügt nicht, nur einzutreten in diese Sphären, sondern ihr müßt lernen, mit diesen Kräften zu arbeiten, damit ihr eins werdet mit der Kraft. Was nützt es, lediglich in eine andere Sphäre einzutreten? Dorthin zu gelangen, ist nur der Anfang, nur ein Vehikel. Erst das, was man dort tut, eröffnet den Zyklus der Kraft. Diese geistige Welt steht dem Schöpfer näher; es ist die Welt, von der alle Heilung ausgeht, in der es weder Raum noch Zeit gibt - eine Welt, wo der Körper nicht mehr existiert und wo man das Fleisch transzendiert. Wenn wir im Geist wandeln, dann fällt der Körper von uns ab, und alles ist grenzenlos. Dann ist der Körper geschützt durch den Geist, und der Geist verschmilzt mit dem Körper. Um in diese Welt des Geistes zu gelangen, müßt ihr zuerst wissen, wohin ihr unterwegs seid. Sodann müßt ihr glauben, daß ihr dorthin gelangen könnt. Der unbedingte Glaube ist es, der euch als Pforte dient, und dieser Glaube gibt uns Macht in der Welt der Geister. Um in die geistige Welt einzutreten, braucht ihr eine Absicht — eine Absicht, die das Selbst übersteigt. Wenn die Absicht selbstsüchtig ist, dann könnt ihr die Sphäre des Geistigen nicht betreten.» Damals hatte ich lange über Großvaters Worte nachgedacht. Ich verstand, daß man, um in die geistige Welt einzudringen, Führung und Anweisung braucht. Die Führung lag in der Weisheit der Inneren Vision. Zudem bedurfte man des reinen Glaubens, denn ohne solchen Glauben konnte man nichts außerhalb des eigenen Selbst erreichen. Was ich damals nicht verstand, war die Absicht — die selbstlose Absicht. Dies also verbot alle Erforschung der geistigen Welt zu nur praktischen Zwecken, um etwas zu lernen; denn man lernt doch für sich selbst. Ich hatte Großvater gefragt, ob wir nur mit der Absicht zu lernen die Welt der Geister betreten dürften. Damals antwortete er: «Wenn du versuchst, die Geisterwelt zu betreten, um zu persönlichen Zwecken zu lernen, dann wirst du nicht in diese Welt eintreten können. Wenn du die geistige Welt aber mit der Absicht betrittst, von dort mitzubringen, was du erfahren hast, um dieses Wissen anderen mitzuteilen, dann wäre dies eine lautere Absicht. Wenn es dir nur um dich selbst geht und nicht um das Teilen, dann ist dies nicht deine Welt. Die
Geister wissen, ob deine Motive und dein Herz lauter sind. Deshalb muß man wohl darauf achten, seine Absicht zu klären, bevor man versucht, in diese Welt einzutreten. Auf diese Weise können wir, wenn unsere Absicht stark und klar ist, mit Leichtigkeit unser Vorhaben ausführen.» Ich erinnere mich, daß ich Großvater damals fragte, wie ich den Eintritt in die Geisterwelt rechtfertigen könne, wenn ich doch nur lernen wollte, eine so lange Wanderung
zu
unternehmen?
Ich
hatte
gefragt,
ob
nicht
auch dies eine
selbstsüchtige Absicht wäre. Und er hatte geantwortet: «Wäre diese Wanderung deine einzige Absicht, dann könntest du nicht eintreten. Willst du sie aber unternehmen, um anderen zu helfen, dann soll diese Welt dir gehören.» Wieder mußte ich nachdenken über die Absicht. Wie konnte ich sicher sein, ob meine Absicht wirklich lauter und frei von selbstsüchtigen Motiven war? Und wie konnte ich sie nutzen, um andere zu belehren? Konnte ich denn etwas im Leben erreichen, wenn ich so etwas lernte? Oder täuschte ich mich nur selbst? Ich sah nicht ein, wie der Erfolg einer so unglaublichen Fußwanderung jemandem nützen sollte außer mir selbst. Damals hatte Großvater meine Grübelei unterbrochen und gesagt: «Wenn du jemandem helfen wolltest, der viele Meilen weit entfernt wohnt, und wenn du nur durch einen solchen Fußmarsch zu ihm gelangen könntest - würdest du den Weg schaffen? Wahrscheinlich nicht; falls ja, wärst du wohl zu erschöpft, um noch Hilfe zu leisten. Das Leben im Geist aber hilft uns, die Grenzen unserer körperlichen Existenz zu überwinden, damit wir uns nicht durch Schmerz und Erschöpfung ablenken lassen. Letzten Endes lernst du diese Dinge - auch in der Praxis - nur, um anderen zu helfen. Dann wird deine Absicht klar und lauter sein. Dann transzendiert deine Absicht das Selbst.» Ich fragte Großvater damals, ob wir die Verschmelzung mit dem Geist nutzen dürften, um uns in einer schwierigen Situation, wenn es ums Überleben ginge, zu retten, oder ob dies schon zu selbstsüchtig wäre. Er hatte geantwortet: «Doch, es wäre eine lautere Absicht. Denn sie schützt den Tempel des Schöpfers. Vergiß nicht, du bist der Tempel des Schöpfers, wie alle Wesen es sind. Der Schöpfer wohnt in allen Dingen gleichermaßen.» Damals fragte ich Großvater, warum früher so viele Menschen ihre Zuflucht zur Wildnis nahmen? Er hatte geantwortet: «Jeder kann in die Welt des Geistes eintreten, besonders in der Lauterkeit der Wildnis. Dort spricht die Geisterwelt zu
jedem Einzelnen und mit besonderer Kraft zu jenen, die die geistige Welt zur Erleuchtung anderer aufsuchen. Wenn es also die Absicht des Menschen ist, spirituelle Erleuchtung um seiner selbst zu suchen, dann wird die Geisterwelt ihm nicht viel Kraft geben. Aber denjenigen, die diese Welt in lauterer und hoher Absicht aufsuchen, wird Kraft reichlich zuteil werden.» Rick richtete damals an Großvater die Frage, wozu es gut sei, in der Wildnis zu leben, wenn doch jemand, der in der Welt der Menschen lebte, mehr Kraft bekomme. Großvater hatte geantwortet: «In der Lauterkeit der Wildnis müssen wir lernen, dort, wo wir frei sind von den Zerstreuungen des Menschen. Die Wildnis ist es, die uns dem Schöpfer und der Wirklichkeit des Lebens näherbringt. Hier am Herzen der Schöpfung wird alles Spirituelle geboren, denn die Schöpfung ist unser Tempel, und sie gehorcht dem Gebot des Großen Geistes. Dies ist keine von Menschenhänden erbaute Welt; sie wird nicht beeinflußt von den Gesetzen der Gesellschaft. Wenn aber das Lernen in der Wildnis vorbei ist, muß man sich oft in die Welt der Menschen begeben, um das zu übermitteln, was die Lauterkeit der Wildnis einen gelehrt hat; denn in der Wildnis wird das Feuer der Geistigkeit geboren. Dort also wird der Mensch vor die Entscheidung gestellt. Wenn er sich dafür entscheidet, spirituelle Erleuchtung nur für sich selbst zu suchen, dann ist seine Ausbildung beendet oder bestenfalls begrenzt. Doch für denjenigen, der die Wildnis verläßt, um großzügig sein Wissen weiterzugeben, gibt es keine Grenzen.» Nach einem langen Schweigen ging Großvater nochmals auf diese Frage ein: «Die Macht des Schamanen, die Kraft der Geisterwelt wird nur denjenigen zuteil, die stark in der Liebe zu ihren Mitmenschen sind. Wer den Geist erkannt hat, der sich in allen Dingen bewegt, der weiß: Wenn ein Teil dieses Geistes krank ist oder fehlt, dann ist alles krank und verloren. Wer nur für das eigene Selbst arbeitet, der weiß nichts vom Geist, der in allem lebt. Wer diesen Geist nicht kennt, der kennt die Liebe nicht, und kann daher sein Selbst nicht transzendieren.» Meine Gedanken flogen zurück ins Jetzt, an diesen Ort, als Großvaters Worte mein stummes Grübeln unterbrachen. Leise flüsterte er: «Mein Enkel, jetzt ist es Zeit für dich zu erkennen, daß deine Absicht nur dann lauter ist, wenn der Befehl aus der Lauterkeit der Inneren Vision kommt. Denn die Stimme der Inneren Vision erreicht dich aus Sphären außerhalb des Selbst -und hat daher keinen Raum für das Selbst. Darum mußt du warten, bis deine Innere Vision zu dir spricht und dir sagt, wann eine spirituelle Reise notwendig ist. Alle anderen Versuche werden scheitern, denn ein
Versuch, der sich gegen die Innere Vision richtet, bleibt unlauter und dem Selbst verhaftet. Wie ich dir schon gesagt habe, ist es schwierig, in die Geisterwelt einzutreten, wenn man nur selbstsüchtige Motive hat. Du mußt warten, bis die Innere Vision dich zu solch einer Reise führt. Dann, und nur dann wird dir gelingen, was du begehrst.» Mit diesen Worten verschwand Großvater in die Nacht. Jetzt verstand ich auch meine Schwierigkeit. Es war wie bei meinen mißlungenen Versuchen, mit den Wesen der Natur zu kommunizieren: Solange die Innere Vision nicht die Führung übernahm, müßten sie fehlschlagen - und so schlugen sie immer wieder fehl. Doch es war gut zu wissen, daß die Innere Vision mir eine selbstlose Absicht eingeben würde, denn mit diesem Problem hatte ich mich seit dem letzten Winter auseinandergesetzt. Jetzt endlich hatte ich Hilfe gefunden, dieses Problem zu lösen. Denn oft fiel es mir bei meinen spirituellen Unternehmungen schwer, das Selbst aus dem Spiel zu lassen. Nun brauchte ich nur, wie Großvater gesagt hatte, stillzusitzen und abzuwarten, bis die Innere Vision mir das Motiv zu einer Reise durch geistige Welten gab. Die Nacht war fortgeschritten, es war schon spät, und ich gab alle Anstrengung auf und entspannte mich. Ich brauchte wohl eine Pause bei all dem Lernen, darum versenkte ich mich in die Stille, um meinen Kopf von allen Gedanken zu befreien. Kaum hatte ich den Ort der Stille erreicht, als ein eindringliches Bild vor meinem inneren Auge auftauchte. Es war das schreckliche Bild einer Meute verwilderter Hunde, die beim stillen Wasser umherschlichen, wo Rick saß. Sogleich empfing ich das Bild Ricks, der nichts vom Kommen der Hunde ahnte. So sehr erschreckte mich dieses Bild, daß ich schlagartig aus der Stille in die bewußte Realität zurückwechselte - Bild und Angst in mir. Ich wollte sofort zu Rick laufen und ihn warnen. Also versuchte ich aufzuspringen, aber diesmal hielt meine Innere Vision mich fest, hielt mich buchstäblich am Boden. Ich geriet in Panik, konnte mich aber nicht von der Stelle rühren. Es war, als sei ich am Boden festgenagelt. Ich mühte mich trotzdem weiter, bis mir endlich klar wurde, daß dies meine Chance war, eine Geist-Reise zu unternehmen. Es war eine riskante Chance, denn wenn ich versagte, konnte Rick schlimmen Schaden nehmen. In meiner Verzweiflung befragte ich meine Innere Vision, die sehr klar zu mir sprach: Ich mußte gehen, aber nicht im Körper, sondern im Geist. Entschlossen zu diesem riskanten Schritt, setzte ich mich wieder an meinen Platz, und endlich ließ mich die Erde los. Rasch versenkte ich mich in das Heilige Schweigen, was mir trotz des inneren Druckes leicht gelang.
Normalerweise ist es unter Streß recht schwer, das Heilige Schweigen zu erreichen. In meiner Vorstellung verließ ich meinen Körper und lief eilig zu der «Stelle, wo Rick saß. Diesmal war die Visualisierung ganz real. Ich mußte mich gar nicht anstrengen, denn alles geschah von selbst, wie getrieben von einer äußeren Kraft. Ich war nicht mehr dort in meinem physischen Körper, sondern fest verankert im geistigen Leib meiner Vorstellung. Ich war ganz und gar da. Ich spürte die Erde unter mir, hörte die Geräusche der Nacht, atmete die würzige Luft und ahnte Bewegungen um mich her; all dies erzeugte ein Gefühl der Realität, stärker noch, als wäre ich in meinem stofflichen Körper dort gewesen. Rasch und leicht ging die Geist-Reise vonstatten. Wie ein Windhauch glitt ich durchs Gebüsch, ohne ein einziges Blatt zu streifen. Lautlos bewegten sich meine Füße, und die Tiere an meinem Weg ergriffen nicht die Flucht. So lebendig fühlte ich mich, so frei und so klar. Es war, als sei alles möglich geworden ohne die Begrenzungen des Fleisches. Rasch hatte ich Ricks Platz am stillen Wasser erreicht, doch er war nirgends zu sehen. Verzweifelt suchte ich überall, aber ich fand nur meinen Tierschädel mit dem verbogenen Geweih an einem Ast. Ich spürte die Nähe der Hunde, doch Rick fand ich nirgends. Er hatte sich wohl in Sicherheit gebracht. Darum wanderte ich im Geist zurück zu meinem Platz. Wieder ging die Reise schnell und ohne Aufenthalt vonstatten. Aber ich machte mir immer noch Sorgen um Rick und die streunenden Hunde. Während ich in meiner Vorstellung den Weg zu meinem Meditationsplatz zurückflog, spürte ich jemanden kommen. Ich stellte mir vor, daß ich stehenblieb und am Wegrand wartete, als Rick plötzlich vor mir auftauchte - mit sehr besorgter Miene. Sofort sprach er mich an: «Ich konnte dich an deinem Platz nicht finden. Hunde kommen vom anderen Ende des Sumpfes, und ich glaubte, du wärst in Gefahr.» Nun erzählte ich Rick, daß auch ich solche Hunde an seinem Platz hätte umherschleichen sehen, daß ich ihn aber dort nicht angetroffen hätte. Rick sagte: «Natürlich nicht, weil ich zum anderen Ufer des stillen Wassers hinübergegangen bin.» Ich sagte ihm, daß auch ich mich nicht an meinem ursprünglichen Meditationsplatz befunden hätte, sondern weiter draußen im Sumpfgelände. Ich schlug dann vor, wir beide sollten wohl besser in unsere Körper zurückkehren, um sie zu schützen. Meine eigenen Worte erschreckten mich, denn ich wußte nicht, woher sie kamen. Irgendwie machte meine Phantasie wohl Überstunden — und ließ sich Dinge einfallen, die ich mir nie hätte träumen lassen?
Ich stellte mir vor, wie ich in Panik zurücklief zu meinem Platz. Ich sah die Hunde, die mich anschlichen. Ich lief so schnell, daß ich förmlich in meinen Körper flüchtete und mein Körper reagierte sofort, indem er auf einen Baum kletterte, ohne lange zu fragen, ob dieser Zwischenfall nun Realität oder Phantasie sei. In den Wipfel des Baumes geschmiegt, brauchte ich einige Zeit, bis ich mein physisches Bewußtsein vom spirituellen Bewußtsein meiner Imagination trennen konnte. Endlich wieder in der physischen Realität zu Hause, kehrte auch mein logischer Verstand zurück, und jetzt erst konnte ich sehen, daß dort eine Meute von Hunden den Stamm meines Baumes umkreiste. Ihr knurrendes Gebell war deutlich genug, um mir begreiflich zu machen, daß ein Teil meiner Vorstellung durchaus wahr gewesen sein mußte. cI h fragte mich nicht mehr, ob Rick tatsächlich zu mir gesprochen hatte oder nicht — denn er hatte mich gerettet, und irgendwie hoffte ich, daß auch ich ihn gerettet hatte. Die Realität dieses Augenblicks verbot alle anderen Überlegungen. Fast zwei Stunden lang blieben die Hunde, bis sie endlich in die Nacht verschwanden, und allmählich verklang ihr Gebell in der Ferne. Ich blieb noch auf dem Baum sitzen, bis meine Innere Vision mir sagte, daß ich ungefährdet heruntersteigen konnte. Bis ich am Boden angekommen war, ging auch die Morgensonne auf. Nun setzte ich mich erst einmal und versuchte zu verstehen, was eigentlich passiert war. Ich wußte noch immer nicht, ob diese Reise in Wirklichkeit oder in der Phantasie stattgefunden hatte. Also beschieß ich, zu Rick hinüberzulaufen und zu sehen, wie es ihm ging. Immerhin war er es, der mein Leben gerettet hatte. Unterwegs begann ich ernstlich die Echtheit meines Erlebnisses zu bezweifeln. Es mochte wohl eher ein Traum gewesen sein als eine innere spirituelle Erfahrung. Tatsächlich kommt die Symbolik der Träume aus der Inneren Vision, und wahrscheinlich hatte die Innere Vision mir diese Botschaft gesandt
und
nicht
Rick.
Mit
solchen
Gedanken
näherte
ich
mich
Ricks
Meditationsplatz — vorsichtig, falls mein Traum doch echt war. Ich erreichte den Platz, aber Rick war nirgends zu sehen. Als ich mich umschaute, entdeckte ich meinen Tierschädel, der im Geäst eines Baumes hing — genauso, wie ich ihn in meiner Reise visualisiert hatte. Dies erschütterte nun doch meine anfänglichen Zweifel, alles wäre nur ein Traum gewesen. Hoch über mir raschelte es in den Zweigen, und Rick schaute zu mir herunter. «Danke für die Warnung, alter Freund!» Als er wieder am Boden stand, dankte auch ich ihm dafür, daß er mir das Leben gerettet hatte. Stundenlang sprachen wir dann
über unser Erlebnis, beinah den ganzen Tag, und erst bei Sonnenuntergang verließ ich seinen Meditationsplatz. Wir stellten fest, daß wir beide dasselbe visualisiert hatten. Alle Details, sogar das Gespräch, stimmten überein. Auch erfuhr ich, daß Rick diesen Schädel früher an diesem Tage an einen Ast gehängt hatte, genau wie ich es in meiner Vorstellung gesehen hatte. Und beide waren wir nicht an unserem Platz gewesen, wo wir eigentlich sein sollten, als der andere kam, um vor der Gefahr zu warnen. Das Ganze war zu geheimnisvoll, um es weiter zu diskutieren, und gleichzeitig wußten wir beide, daß wir zu Großvater gehen und mit ihm sprechen müßten. In dunkler Nacht erreichten wir Großvaters Camp und fanden ihn am Feuer sitzen und auf uns warten. Endlich verstand ich nach all den Erlebnissen der letzten Tage, wieso er wissen konnte, was mit uns vorging und sogar die Fragen kannte, die wir ihm stellen wollten. Für ihn war es ganz einfach, da er dauernd mit seiner Inneren Vision in Verbindung stand. Tröstlich zu wissen, daß Großvater immer für uns da gewesen war — seit dem ersten Tag unserer Begegnung. Ob körperlich oder im Geist, das machte kaum einen Unterschied, denn die Kraft war dieselbe. So viele Dinge wurden mir jetzt bewußt, so viele Fragen, die mich seit Jahren bewegt hatten, fanden endlich Antwort. Doch wieder gab es neue Fragen, und wieder gab es Neues zu lernen. In diesem Moment aber hatte ich endlich eine der größten Gaben des Lebens verstanden und angenommen: die Gabe der Inneren Vision. Wir setzten uns zu Großvater und warteten darauf, daß er spräche. Wir zweifelten nicht, daß er wußte, was wir brauchten. Lange sah er uns an, mit einem Lächeln und einem Blick, der uns verriet, daß er mit unseren Fortschritten sehr zufrieden sei. Dann strafften sich seine Züge, und er sagte: «Wieder habt ihr nicht richtig auf eure Innere Vision gehört. Beide wart ihr so begeistert von eurem Erfolg, daß ihr die Mahnung der Inneren Vision überhört habt, die euch empfahl, weiterzumachen. Jetzt kann ich euch nichts weiter lehren. Bevor ihr nicht vollendet habt, was eure Innere Vision euch vorschrieb, könnt ihr nicht verstehen, was ich euch zu sagen habe. Geht also beide zurück zum stillen Wasser und findet heraus, was es denn sei, das ihr übersehen habt. Und Vergeßt nicht, daß Freude über einen Erfolg manchmal auch eine Zerstreuung sein kann, die von der Inneren Vision ablenkt und sie schwächt.» Also war es falsch gewesen, Großvater aufzusuchen? Rick und ich hatten uns so gefreut über unseren Erfolg, über die vielen neuen Fragen, daß wir die Innere Vision ignorierten, die uns beide ermahnte. Schweigend kehrten wir also zum stillen Wasser
zurück, und beide erforschten wir unser tieferes Selbst, um zu finden, was unsere Innere Vision hatte sagen wollen. Erst als wir wieder beim stillen Wasser saßen, regte sich etwas in uns. Noch bevor ich ein Wort herausbrachte, sagte Rick: «Meine Innere Vision sagt mir, wir sollten zusammen eine Geist-Reise unternehmen. Aber Großvater hat nichts über gemeinsame Reisen gesagt, und ich fürchte, es könnte das Falsche sein.» Ich konnte Ricks Worte nur bestätigen, denn auch ich hatte dasselbe Gefühl; aber wie Rick wollte ich nicht glauben, es könne richtig oder gar möglich sein. So diskutierten wir die Möglichkeit einer gemeinsamen spirituellen Reise, aber wir hatten keine Ahnung, wie uns dies gelingen sollte. Es war für mich schwierig genug gewesen, die bisherigen Reisen allein zu unternehmen, doch hier waren die Vorstellungsbilder so eindringlich, daß sie keine Ablenkung duldeten. Aber das einzige Mal, daß wir uns wirklich auf spirituellen Wegen begegneten, war mehr Zufall als freie Entscheidung. Es kostete keine Anstrengung, denn es geschah ganz spontan. Wenn es aber zufällig geschehen konnte, meinten wir, konnte es sich doch auch wiederholen. Beide hatten wir ein gutes Gefühl bei der Idee, diese Geist-Reise gemeinsam zu unternehmen, und so war die Sache schon halb gewonnen. Wir wußten ja, wenn die Innere Vision etwas verlangte, dann war es leicht zu verwirklichen. Wieder verging eine Stunde, während wir redeten, überlegten und in die Nacht starrten. Unser Zögern, gemeinsam auf die Geist-Reise zu gehen, kam daher, daß wir nicht wußten, wohin wir reisen sollten - oder wie wir zusammen reisen könnten. Wir besprachen alle Möglichkeiten. Dann beschlossen wir, daß jeder sich die Reise allein vorstellen sollte, beide aber ins selbe Zielgebiet. Falls dann der andere im Vorstellungsbild auftauchte, wäre es ja Zufall. Nachdem diese Frage gelöst war, müßten wir uns nur noch einigen, wohin wir reisen sollten - ein Ort, der uns beiden ein gutes Gefühl gab. Es war der Ort, den ich in meiner Vorstellung aufgesucht hatte, kurz nachdem ich den Hirsch-Schädel gefunden hatte dieser Ort, der mich zu Tode erschreckt und in mein physisches Bewußtsein zurückgeworfen hatte. Ich ahnte nicht, warum meine Innere Vision mich wieder an einen unbehaglichen Ort führen sollte, der Böses ausstrahlte. Auch Rick hatte diesen Ort gewählt. Dorthin war er am Vortag in seiner Vorstellung gegangen und war mit der gleichen Panik und Furcht vor dem Bösen vertrieben worden. Wir wußten, wir sollten der Inneren Vision gehorchen, aber aus
Furcht schoben wir die Reise hinaus. Je länger wir zögerten, desto stärker drängte uns unsere Innere Vision, die Reise anzutreten. Schließlich beschlossen wir, die Sache hinter uns zu bringen, denn die Nacht war weit fortgeschritten, und bald dämmerte der Morgen. Wir setzten uns nebeneinander ans Ufer des stillen Wassers und starrten in die Richtung unserer vorgestellten Reise. Ich fühlte zwar schlimme Ahnungen in mir aufsteigen, aber stärker war doch das Motiv meiner Inneren Vision, den Weg fortzusetzen. Beide versetzten wir uns an den Ort der Stille und beschwichtigten unseren logischen Verstand. Beinah sofort fand ich mich weit draußen im Sumpf wandern. Es war so real, daß ich jedes Gefühl für meinen physischen Körper verlor. Während ich zu der bestimmten Stelle wanderte, spürte ich vor mir eine Bewegung. Anfangs hatte ich Angst, fand aber bald zu meiner Überraschung, daß es Rick war, der vor mir herging. Ich rief ihn an und begab mich an seine Seite. Im Weitergehen sprachen wir kaum ein Wort - nur verständigten wir uns über die Tatsache, daß unsere imaginierte Reise bei hellem Tageslicht stattfand, während es in der physischen Realität noch immer Nacht war. Wir kamen zu dem Schluß, daß es gleichgültig sei, welche Tageszeit uns die Vorstellung eingab, und so marschierten wir weiter. Im Verlauf unserer Reise stellte sich ein Realitätsgefühl ein, wie ich es auf früheren Geist-Reisen niemals erlebt hatte. Wohl machte ich mir manchmal Sorgen um die Sicherheit meines physischen Körpers, aber dies ging bald vorbei. Während wir weiterwanderten, fiel mir auf, daß die Landschaft ein sonderbares Aussehen hatte und ein befremdliches Gefühl vermittelte. Ja, sie war der realen Landschaft ganz ähnlich und dennoch irgendwie anders. Ich spürte etwas dort in der Ferne sich bewegen, doch es waren keine Tiere, sondern eigenartige Lichter, Geräusche, schemenhafte Erscheinungen, die ich am Rande wahrnahm. Wenn ich aber direkt hinschaute, verschwanden sie — nur das Gefühl ihrer Gegenwart blieb. Es war faszinierend und gleichzeitig sonderbar beängstigend. Zwei Landschaften, die eine real, die andere imaginiert - ähnlich und doch verschieden. Wir wanderten schweigend weiter und verlangsamten unseren Schritt, als wir dem Ziel näherkamen. Beide spürten wir unser Herz vor Angst pochen, während die Empfindung des Bösen sich verstärkte. Doch abgesehen von diesem schlimmen Gefühl trieb uns die zunehmende Kraft unserer Inneren Vision vorwärts. Manchmal strauchelten wir und stützten uns gegenseitig - wir wollten beides: fortrennen und
dennoch weitergehen. Wir pirschten uns an den Ort heran, als könne dies lautlose Pirschen jenes Böse hindern, uns zu entdecken, und uns vor der vorgestellten Gefahr bewahren. Wir sahen eine Lichtung dort am ändern Ende des Sumpfes, und sofort wußte ich, daß dies der Ort war, den ich aufsuchen sollte. Bis dahin hatten wir nur die Richtung gekannt und die Gegend im allgemeinen; jetzt kannten wir den exakten Ort. Vorsichtig traten wir auf die Lichtung hinaus, und jetzt pochte die Ahnung des Bösen förmlich in unseren Köpfen. Trotz meiner Panik hielt mich meine Innere Vision aufrecht. Wir musterten die Lichtung. Nichts wuchs dort, keine einzige Pflanze. Es war, als habe die Natur diesen kreisrunden Platz vergessen, denn hier gab es nur Sand und Kies. Nicht einmal die Geräusche der Natur schienen an diesen Ort vorzudringen. Im Mittelpunkt des Kreises saß, mit dem Rücken uns zugekehrt, ein männliches Wesen. Es saß vornüber gebeugt und schlief offensichtlich. Tief innen wußte ich, daß dieser Mann, dieses Wesen kein Mensch war, sondern eine Art böse Erscheinung. Ich sah Rick an und merkte an seinem Ausdruck, daß er genauso darüber dachte wie ich. Während wir voll Grauen zu diesem Wesen hinüberstarrten, drehte es sich plötzlich nach uns um - als habe es eben erst gemerkt, daß wir da waren. Das Gesicht des Ungeheuers war so schrecklich, daß ich den Anblick nicht ertrug. Wir sahen kaum mehr als den Kopf- verwestes, von Maden zerfressenes Fleisch, das kaum den Knochen bedeckte, ähnlich einem Totenschädel. Es begann zu schnaufen und zu knurren, wie ich es noch nie gehört hatte. Plötzlich sprang es uns an wie eine wilde Katze, fauchend und knurrend. Wir hielten es nicht mehr aus und flohen in Panik zurück zum stillen Wasser. Anfangs glaubten wir, daß uns das Wesen verfolge, doch als wir uns umschauten, schien es, als sei es an jene Lichtung gebannt. Sein Knurren und Kreischen aber hallte über den ganzen Sumpf und heizte unsere hemmungslose Panik erst recht an. Plötzlich tauchten Rick und ich aus unseren Phantasien auf, mit einem Schrei aus unserem physischen Körper. Die Panik hatte uns bis in die Realität verfolgt. Ich sah mich um und hielt Ausschau nach diesem Wesen, aber das Licht der aufziehenden Dämmerung verriet mir, daß dies alles nur Phantasie oder Traum gewesen war. Der Sumpf und die ganze Gegend lagen friedlich wie immer. Jetzt erinnerte ich mich an Ricks ängstlichen Schrei, als ich aus meinem Traum aufgetaucht war. Sein Schrei war Realität und nicht nur Vorstellung. Lange saßen wir da, keuchten und müßten
erst langsam zu Atem kommen, bevor wir ein Wort wechseln konnten. Die ganze Erfahrung war so beängstigend real gewesen, daß wir einige Zeit brauchten, bis wir uns wieder in dieser Realität zurechtfanden. Wir begannen über unser Erlebnis zu sprechen, zögernd zuerst, denn Angst und Furcht waren noch nicht geschwunden. Beide stellten wir verblüfft fest, daß wir das gleiche erlebt hatten. Wir erinnerten uns an unsere wenigen Gespräche unterwegs und erinnerten uns sogar an den Weg, den wir genommen hatten. Die Lichtung stand uns beiden lebhaft vor Augen, und Rick beschrieb jenes Wesen genauso, wie ich es erlebt hatte - bis hin Zu unserer panischen Flucht. So sprachen wir, während die Sonne aufging und das Tageslicht unsere Furcht zerstreute. Wir fühlten uns jetzt wohler, aber neue Fragen drängten sich in unser Gespräch. Warum hatten wir uns die Reise bei Tageslicht vorgestellt und nicht bei Nacht? Warum hatte unsere Innere Vision uns überhaupt dorthin geführt? Als wir aufstanden, um den Meditationsplatz am stillen Wasser zu verlassen und zu Großvater zurückzukehren, überfiel uns beide das falsche Gefühl. Wir sahen uns an, und ohne ein Wort zu wechseln, wußten wir beide, was wir zu tun hatten. Wir müßten unsere Reise in der physischen Realität wiederholen, denselben Weg noch einmal abschreiten. Dies wollte uns beiden gar nicht gefallen. Falls es den Ort dort draußen wirklich gab, dann mußte es auch dieses Wesen wirklich geben. Wir hätten zwar lieber mit Großvater gesprochen, wanderten dann aber doch hinaus in den Sumpf, um die Lichtung zu suchen, die wir in unserer Vorstellung gefunden hatten. Langsam bahnten wir uns einen Weg durch den Sumpf. In der Phantasie zu reisen ist so viel leichter als im stofflichen Körper. Wir brauchten Stunden für eine Strecke, für die wir in der Vorstellung oder im Traum nur Minuten brauchten. Noch immer wußte ich nicht, war es Traum oder Wirklichkeit gewesen oder was sonst? So stießen wir in Gegenden vor, die wir in der materiellen Wirklichkeit noch nicht kannten, in Gegenden, die wir uns bislang nur vorgestellt hatten. Wir redeten viel. Es war genau dieselbe Landschaft, nur daß wir diesmal nicht die Gegenwart von Tieren und anderen Wesen spürten. Je näher wir der Lichtung kamen, desto langsamer schritten wir aus. Meine Angst machte mich so nervös, daß ich am ganzen Körper zu zittern anfing. Wir traten auf die Lichtung hinaus, wie wir es vorher getan hatten, und genau wie in unserer Vorstellung gab es dort keinen Pflanzenwuchs. Es war nur eine unbestimmte Kreisfläche von Sand und Kies, ohne daß irgendwelche Spuren oder Fährten zu
erkennen waren. Es schien, als habe sich die Natur zurückgezogen von diesem Ort. Vorsichtig schoben wir uns am Rand der Büsche entlang, bis wir die ganze Lichtung überblicken konnten. Als wir einen guten Ausblick hatten, fanden wir zu unserer Erleichterung kein solches Wesen im Mittelpunkt. Das einzige dort war ein alter, geschwärzter Baumstumpf, der die Stelle bezeichnete, wo wir das Wesen gesehen hatten. Ganz vorsichtig näherten wir uns dem Stubben, und beide spürten wir das Böse. Als wir uns auf Zehenspitzen an den Baumstumpf herangeschlichen hatten, klopfte uns das Herz bis zum Halse; ich wurde von Angst überwältigt. Beide verloren wir den Kontakt zur Inneren Vision, und blindlings flohen wir von der Stelle - genau wie wir's in der Nacht zuvor getan hatten. Wir machten nicht mal am Platz des stillen Wassers halt, sondern liefen gleich weiter zu Großvaters Camp. Großvater war an seinem heiligen Gebetsplatz, als wir ihn fanden. Wir wagten nicht, ihn zu stören, denn dies war ein ungeschriebenes Gesetz. Ganz gleich, wie wichtig ein Problem sein mochte - niemand durfte an seinem heiligen Platz gestört werden. Ohne die Augen zu öffnen oder den Kopf zu wenden, winkte er uns zu sich heran. Dann vertiefte er sich erneut ins Gebet, eine Ewigkeit lang, wie es uns schien. Während er betete, wurde uns klar, daß er uns damit sagte, was wir tun sollten. In unserer Ungeduld, unsere Geist-Reise und unser Gelingen aufzuklären, hatten wir ganz unser Morgen- und Abendgebet vergessen. Auch dies war ein allgemeines Gesetz: Ganz gleich, was wir taten und wo wir waren, stets nahmen wir uns die Zeit, den Schöpfer zu ehren. Es gab keine Ausnahme von diesem Gesetz, und jetzt war nicht der Zeitpunkt, darüber zu streiten. Endlich vollendete Großvater sein Gebet und blickte auf. Er sah uns an und überzeugte sich, daß auch wir zu Ende gebetet hatten. Tatsächlich hatte ich, wie ich glaube, nur Sekunden lang beten können. Großvater sagte ganz beiläufig: «Na, also. Der Schöpfer schenkt euch die Gabe der Inneren Vision, der Reisen im Geist, und ihr beide wollt euch nicht die Zeit nehmen, ihn zu ehren. Gewiß, die Innere Vision ist euer Geburtsrecht, wie sie das Geburtsrecht jedes Menschen ist, aber wir verstehen diese Stimme nur durch die Liebe des Schöpfers. Wenn wir uns keine Zeit nehmen, den Schöpfer zu ehren und ihm zu danken für all diese Gaben - wie könnten wir dann hoffen, er werde uns helfen in Zeiten der Not und Verwirrung?» Wortlos schlossen Rick und ich die Augen und versenkten uns tief ins Gebet. Wir dankten aus vollem Herzen, und einen Moment gelang es uns, all unsere dringenden Fragen beiseite zu schieben.
Endlich sprach Großvater wieder und sagte: «Jetzt begreift ihr die Weisheit der Geist-Reisen. Obwohl ihr noch immer an euren Zweifeln festhaltet, könnt ihr nicht leugnen - weil ihr es selbst erlebt habt —, daß die Landschaften, die ihr in eurer inneren Vorstellung gesehen habt, auch in der Realität existieren. Doch ihr versteht nicht, warum und wieso all dies möglich ist. Ihr glaubt, ihr hättet euch diese Reise vorgestellt oder sie geträumt. Als ihr den Weg dann aber im stofflichen Körper noch einmal erforscht habt, konntet ihr feststellen, daß es beinah derselbe war, wenn auch etwas anders. Dies hat euch verwirrt, ich weiß, aber so muß es sein - bis ihr die Geisterwelt ganz verstanden habt. Vorläufig ist es nicht so wichtig, ob ihr glaubt, ihr hättet die Reise in der Realität oder nur in der Vorstellung erlebt, denn es kommt nur auf das Endergebnis an: Das Resultat macht schließlich alles real. Denn ihr habt Dinge erfahren, die ihr auf stofflicher Ebene nicht erkennen konntet.» Und Großvater fuhr fort: «Der Mensch ist, wie ich euch oft gesagt habe, eine Dualität. Er lebt in der stofflichen Welt und gleichzeitig in der spirituellen Welt. Der Mensch ist nur dann eins mit allen Dingen, wenn er im Geist wie im Fleisch zugleich wandelt, wenn er in beiden Welten zu Hause ist. Die Welt, die ihr gesehen habt, ist nicht nur stoffliche Realität, sondern auch deren geistiges Gegenstück. Darum habt ihr all die Wesen dort in der Landschaft gespürt. Deshalb habt ihr den Dämon gesehen, als ihr in der spirituellen Welt weiltet. Für einen Augenblick in Zeit und Raum seid ihr in der Dualität gewandelt, habt ihr beide Wirklichkeiten gesehen. So sollt ihr immer leben: zwischen beiden Welten wandeln und mit beiden eins werden.» Großvater versank in tiefes Schweigen und schloß die Augen. Ich war überzeugt, er wollte uns Gelegenheit geben, alles in uns aufzunehmen, was er gesagt hatte. Ja, ich verstand all dies, was er uns lehrte; doch warum hatte uns unsere Innere Vision zu einem Ort des Bösen geführt? Ich sah nicht ein, was dies uns hätte lehren können. Ohne die nächste so offenkundige Frage abzuwarten, sprach Großvater wieder: «Wenn ihr in die Welt des Geistes eintretet, so besteht nur eine gewisse Ähnlichkeit zu unserer stofflichen Welt. Es gibt einen seltsamen, interessanten Unterschied: Sie ist nämlich nicht nur eine Welt der Abbilder unserer stofflichen Realität, sondern dort gibt es auch eine unermeßliche spirituelle Sphäre, wo die Wesen der Geisterwelt leben. Ihr habt sie gespürt, wie sie sich bewegten, und habt gewußt, daß sie real sind. Also existierte auch die Welt des Bösen an diesem Ort, wie der Dämon euch lehrte, der euch von diesem Ort des Todes vertrieb. In der Geisterwelt gibt es sowohl das Gute wie das Böse. Zeit und Ort, wie wir sie kennen, existieren dort nicht, und
der Mensch muß, genau wie im Körper, eine Wahl zwischen Gut und Böse treffen.» Wieder machte Großvater eine Pause und ließ mir Zeit, seine Worte und Lehren zu verarbeiten. Immer noch gab es drei Dinge, die ich nicht ganz verstand. Erstens, warum wurde ich zu dem Dämon geführt? Ich begriff nicht, was meine Innere Vision und die Geisterwelt mich damit zu lehren versuchten. Zweitens: Warum habe ich die Landschaft bei Tageslicht gesehen, während dies alles in meiner stofflichen Realität doch in der Nacht stattfand? Mir war klar, daß die Geisterwelt, wie Großvater gesagt hat, weder Raum noch Zeit kennt, doch wenn es sich so verhielt - in welchem Raum und in welcher Zeit hatte meine Geist-Reise dann stattgefunden? Und schließlich verstand ich wohl, wenn Großvater uns sagte, wir müßten in der Dualität von Fleisch und Geist wandeln: Aber ich sah nicht ein, wie dies gleichzeitig geschehen konnte. Gewiß müßten stofflicher Leib und Verstand zur Ruhe kommen, in tiefes Schweigen eingehen, bevor der Geist hervortreten konnte. Großvater fuhr fort: «Die Welt der Geister und die Stimme der Inneren Vision haben euch zu diesem Ort des Bösen geleitet und zu diesem Dämon, um euch zu lehren, daß all dies existiert. Sie lehrten euch, daß man sehr vorsichtig sein muß, wenn man sich in spirituelle Sphären vorwagt, denn dort kann das Böse einen verletzen. Wenn man sich auf der Reise nicht von der Inneren Vision leiten läßt, dann wird der Geist sehr anfällig für die Dämonen des Bösen. Doch wenn ihr euch leiten laßt und wenn eure Absicht lauter ist, dann seid ihr weniger verletzlich und stark. Ihr habt das Böse dieses Dämons gesehen, und bald werdet ihr auch das Gute der Geisterwelt wahrnehmen. Diese Geister, denen ihr auf eurer Reise begegnet, werden euch lehren und führen, wie ich euch führe - in Körper und Geist. Denn auch das Böse kann, wie ihr schon oft erlebt habt, ein Lehrer sein, wenn man die Weisheit der bösen Macht zu erkennen sucht.» Ohne eine Antwort abzuwarten, sprach Großvater weiter: «Ihr fragt euch, wie es sein kann, daß ein Mensch in der Dualität von Fleisch und Geist gleichzeitig wandelt. Bis jetzt war es schwierig für euch, in die spirituelle Realität zu gelangen, ohne Körper und Geist vorher zur Ruhe zu bringen. Auch habt ihr gesehen, daß es für eine Weile schwierig war, das logische Bewußtsein vom spirituellen Bewußtsein zu scheiden, nachdem ihr wieder in die stoffliche Realität eingetreten wart. Es braucht einige Zeit, bis das logische Bewußtsein voll wiedererlangt ist. Während dieser Zeit lebt man im Fleisch und im Geist zugleich. Ihr habt nun eure stoffliche Realität mit jener der weiteren Kreise verschmolzen. Mit jedem Übergang werdet ihr die Mauern weiter
abbauen, bis ihr eines Tages in der Dualität wandeln könnt. Bis dahin müßt ihr euch weiterhin zuerst in das Heilige Schweigen versenken, bevor eine spirituelle Reise beginnen kann.» «Und schließlich», sagte Großvater, «hat es euch am meisten verblüfft, daß ihr die spirituelle Realität eurer Reise bei vollem Tageslicht erlebt habt, während es Nacht war in der stofflichen Realität eurer Existenz. Doch wie ich euch sagte, kennt die Geisterwelt weder Raum noch Zeit. Alles, was jemals existiert hat, besteht weiter in der spirituellen Realität. Jedes Lied, das je gesungen, jedes Wort, das je gesprochen wurde, jede Tat – all dies lebt weiter dort, irgendwo. Zum Glück haben die Wege und Irrwege normaler Menschen keine wirkliche Macht in der Geisterwelt. Darum könnt ihr in vergangene Zeiten zurückkehren und lernen, wie es damals war. Und darum kehrt ihr manchmal von dort zurück und singt Lieder, die seit Jahrhunderten nicht mehr gesungen wurden. Alles, was jemals war und ist, existiert weiter im Land der Geister.» Er machte eine Pause, eine lange Pause, und fuhr dann fort: «Außerdem enthält die Welt der Geister alle mögliche und wahrscheinliche Zukunft. Wie ich euch sagte, gibt es nicht eine Zukunft, sondern nur Zukunftsmöglichkeiten. Wenn der Mensch eine freie Wahl haben soll, im Leben wie im Geistigen, dann kann es kein Gesetz der Zukunft geben. Das Jetzt ist wie eure offene Hand, und jeder Finger weist in die Richtung einer möglichen Zukunft. Doch einen Finger gibt es, der anscheinend der stärkste ist: der Finger, in dem der Fluß des Lebens sich zu versammeln scheint, und dies ist die Zukunft, die wir die wahrscheinliche Zukunft nennen. Oft warnt die Geisterwelt uns vor der wahrscheinlichen Zukunft, davor, wie der Gang der Dinge uns verschlingen könnte. Der Mensch kann aber jederzeit seine wahrscheinliche Zukunft ändern und sie eintauschen gegen eine andere wahrscheinliche Zukunft ganz als deutete er mit einem anderen Finger. Was ihr dort im hellen Tageslicht eurer geistigen Reise gesehen habt, war die wahrscheinliche Zukunft. Wie ihr dann sehen konntet, als ihr den Weg noch einmal im Fleisch gegangen seid, habt ihr begonnen, die wahrscheinliche Zukunft zu leben - und so wurde sie euer Jetzt. Die einzige Möglichkeit, wie ihr die Zukunft hättet ändern können, wäre gewesen, heute morgen nicht in den Sumpf hinauszugehen.» Lange saß ich in tiefem Schweigen und dachte nach - über alles, was Großvater mir gesagt hatte. Mir war, als fließe mein Kopfüber von Informationen, mehr, als ich aufnehmen konnte. So viele Fragen waren beantwortet worden, und jetzt spürte ich
noch weitere Fragen aufsteigen. Der Gedanke, mit Geistern sprechen zu können, fesselte
mich
tatsächlich;
so
auch die Möglichkeit von Zeitreisen in die
Vergangenheit. Was mich aber wirklich faszinierte, war die Fähigkeit, der Zeit vorauszureisen, um die möglichen Zukünfte und die wahrscheinliche Zukunft zu erforschen. Die Idee mutete mich phantastisch an - aber wie man dorthin gelangen konnte, wie man die Zukunft oder die Geister heraufbeschwören sollte, das war mir immer noch ein Rätsel. Ich wußte ja: Die Voraussetzung all dessen, was wir taten, lag in der Führung der Inneren Vision und in der Lauterkeit der Absicht. Ich glaubte nicht mehr daran, daß man irgend etwas zum Spaß tun konnte oder nur um des Lernens willen. Und irgendwie wußte ich, daß künftig alles von der Kraft der Inneren Vision geleitet würde. Großvater brach sein Schweigen und sprach noch einmal zu uns: «Jetzt ist die Zeit gekommen, euch voneinander zu trennen und dann in die Welt der Geister zurückzukehren. Diese Welt hat euch noch so vieles zu lehren, bevor ihr wieder nach Hause geht. Denn von nun an sollt ihr in eurem Leben all das verwirklichen, was ihr gelernt habt. Darum müßt ihr die Wesen der Geisterwelt und das Problem der möglichen und wahrscheinlichen Zukunft verstehen. Was ihr in den letzten Wochen gelernt habt, ist wichtig genug — es darf nicht aufhören oder durch eine lange Trennung von der lauteren Wildnis unterbrochen werden. Wieder einmal wird die Zeit knapp, und ihr müßt eure Reise in die Welt der Geister vollenden. Ihr müßt sogleich zurückkehren.» Mit diesen Worten stand Großvater auf, gab Rick ein Zeichen und deutete in die Richtung des Waldes. Mich schickte er zurück in den Sumpf.
6 Was die Zukunft wahrscheinlich bringen wird
Wir sprachen kein Wort mehr mit Großvater oder miteinander. Rick zog davon hinauf in den Wald, und ich kehrte zurück in den Sumpf. Mein Kopf schwappte förmlich über von Informationen. All das, was in den letzten Tagen passiert war, was ich bis jetzt gelernt hatte, überwältigte mich. Es war so viel, daß ich es gar nicht bewußt verarbeiten konnte. Das Aufregende und Faszinierende all der neuen Möglichkeiten erschütterte mich. Ich weinte wie ein kleines Kind - im Laufen betete ich zum Schöpfer und dankte ihm für diese Gabe: daß er mir mein Geburtsrecht wiedergegeben hatte. Wenn meine Lehrzeit damit zu Ende gewesen wäre, so hätte es, was mich betrifft, vollauf genügt für ein ganzes Leben. Mehr konnte ich mir einfach nicht vorstellen -und doch hatte Großvater gesagt, wir stünden erst am Anfang. Stundenlang wanderte ich dahin und machte mir keine Sorgen, wohin der Weg mich führte. Aber sonderbar, aus irgendeinem Grund schienen jetzt alle Gedanken aus meinem Kopf verflogen, alle Fragen verschwunden, und ich durchforschte mit wachen Augen den Sumpf. So ließ ich mich durch die Landschaft treiben, folgte verschiedenen Fährten, ließ meine Aufmerksamkeit von den Blumen im saftig grünen Moosteppich zu den hohen Wipfeln der Fichten hinüberschweifen. Mein Kopf hallte wider vom Schnattern und Zirpen der Vögel; und überall waren Leben und Natur in ständiger Bewegung. Nie hatte ich den Sumpf so herrlich erlebt, nie hatte er mir so wunderbare Ablenkung meines Bewußtseins geboten und meine ganze Seele mit seiner Schönheit durchtränkt. Es war wirklich der Tempel der Schöpfung, ein Ort der Erleuchtung, wo Mensch und Natur verschmolzen, wo man Gott erreichen konnte. In der Natur lebt ein wunderbares Bewußtsein, das jede Seele tief zu durchdringen scheint. Sie schenkt uns Reinigung, Heilung und Erweckung, als würden Hast und Trubel des Lebens von uns abfallen, als gäbe es nichts als lautere Reinheit. Ich kann mir kaum vorstellen, daß man durch die Natur wandern könnte, ohne daß alle Bürden des Lebens von einem abfallen. Jeder von uns kann wahrhaft im Geist der Natur wandeln, und hier findet sich alle Wahrheit und alles Entzücken. Denn nirgendwo bist
du dem Schöpfer näher als in den Tempeln, die seine Hände geschaffen haben. Diese Wanderung an diesem Tag, in diesem sommerlichen Sumpf war so notwendig für mich, denn sie befreite mich von allen lastenden Sorgen, und endlich vermochte ich klar zu denken. Stundenlang verlor ich mich in Entzücken. Auf einer unbewußten Reise durch reine Bewußtheit wurde ich neu geboren. Es kam mir gar nicht in den Sinn, daß mir Arbeit bevorstand, bis ich die Sonne am fernen Horizont sinken sah. Großvater hatte mich in den Sumpf geschickt, doch er hatte mir keinen Hinweis gegeben, welche Übungen ich hier verrichten oder wie ich diese Übungen anfangen sollte. Die drei Fragen, die mich bewegt hatten, waren beantwortet worden; aber ich glaubte, daß Großvater von mir erwartete, sie noch tiefer zu erforschen. Da gab es die Kommunikation mit den Geisterwesen, die mögliche und wahrscheinliche Zukunft, und es galt alles noch einmal zu überdenken, was ich gelernt hatte. Aber im Augenblick zu später Stunde blieb mir nichts anderes, als mich von meiner Inneren Vision zum nächsten Ort, zur nächsten Lektion führen zu lassen. Hier und jetzt war meine Innere Vision es zufrieden, daß ich nur so dahinwanderte, direkt ins Herz der Nacht. Es war zu schön! Endlich erreichte ich eine Stelle am anderen Ende des Sumpfes, wo ich noch nie gewesen war. Die kleine Anhöhe am nördlichen Rand des Sumpfes, wo ich mich niederließ, bot mir weiten Ausblick über das ganze Gebiet. Die Sterne schienen herabzuregnen auf die Wipfel der hohen Fichten in der Ferne, während die kleineren Bäume in der Nähe in einem dunklen Teppich zu versinken schienen, der nur so vor Leben wimmelte. Hier hatte meine Innere Vision mir befohlen, mich hinzusetzen, zu warten und zu lauschen. Ich saß erst einen kurzen Moment, als ich mich auch schon ins Gras streckte und einschlief. Es gab keinen Widerspruch dagegen, weder von meinem Verstand noch vom Herzen, denn ich war in jeder Hinsicht jenseits aller Erschöpfung. Die Nacht war warm und schön, so tröstlich und friedvoll, daß ich tief und traumlos schlief. Mit jähem Ruck erwachte ich, als ich ein kleines Rudel Hirsche näherkommen hörte, die durch den Sumpf zogen. Zuerst hatte ich keine Ahnung, was da im Gebüsch raschelte. Angst legte sich mir auf die Brust, und unbewußt hielt ich den Atem an, während das gestrige Bild des Dämons vor meinem inneren Auge aufblitzte. Aber im nächsten Moment konnte ich das Geräusch identifizieren, und schon war alle Furcht von mir gewichen. Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich geschlafen hatte, aber es war immer noch dunkle Nacht. Nach der Stellung der Sterne am Himmel zu urteilen
fehlten noch etliche Stunden bis Zum Morgengrauen. Ich hätte gut noch ein Weilchen schlafen können, doch meine Innere Vision erlaubte es nicht, und das jähe Erwachen hatte meine Energien mobilisiert. Ich war nicht müde, sondern fühlte mich sehr erfrischt. Jetzt war es Zeit, an die Arbeit zu gehen, denn meine Innere Vision machte sich pochend bemerkbar - und dies war die Kraft, die mich am Schlafen hinderte. Lange blieb ich nun sitzen und schaute hinaus auf den Sumpf, zwischendurch betete ich und bat um Führung. Ich glaube, ich zögerte irgendwie, denn die Furcht vor dem Dämon belastete noch mein Herz, obwohl ich ihr nicht nachgeben mochte. Irgendwie ahnte ich, daß ich noch einmal in die Geisterwelt eingehen mußte, um dort meine nächste Lektion zu lernen. Während ich also betete und immer wieder zauderte, gewahrte ich das leise Schwirren von Insektenflügeln, aber es war gar kein Insekt. Eher klang es wie eine ferne Kettensäge, aber irgendwie unwirklich, denn der Sumpf sang noch immer sein nächtliches Lied. Nun hatte ich es lange genug hinausgeschoben, jetzt mußte ich meiner Inneren Vision folgen — zu meiner nächsten Lektion. Wieder dachte ich an die spirituelle Reise, und wieder stieg Furcht vor dem Dämon in mir auf. Ja, ich erinnerte mich, daß Großvater gesagt hatte, die Dämonen hätten keine Macht über mich, solange ich mich von meiner Inneren Vision führen ließe und meine Absicht lauter wäre. Aber irgendwie half mir das nicht. Die Begegnung mit diesem Dämon tat ihre Wirkung: Sie vermittelte mir einen gesunden Respekt vor der Welt jenseits des Stofflichen. Ich war mir verdammt sicher, daß ich kein Risiko mehr eingehen und nur zum Spaß diese Welt erforschen würde. Dorthin wollte ich nur gehen, wenn meine Innere Vision es mir so eindringlich befahl, daß ich nicht mehr zweifelte. Bei dieser Überlegung machte meine Innere Vision sich so stark bemerkbar, daß sie förmlich mein Herz überflutete und ich gehorchen mußte - ohne Rücksicht auf meine Angst. Wieder blickte ich über den Sumpf; die Schönheit der Landschaft war überwältigend. Ich betete um Führung und versenkte mich tief in die Welt der Stille. Ich brauchte nicht lange, um wirklich in das Heilige Schweigen einzutreten, und in blitzartiger Klarheit waren Körper und Geist verschwunden. Da stand ich bei vollem Tageslicht in der blendenden Helle der Sumpflandschaft. In meiner Vorstellung gab der Sumpf mir ein neues Gefühl - ein Gefühl, das mein Bewußtsein und meine Seele reinigend und heilend durchströmte. Ringsumher floß das Leben in breiter Bahn, anders als alles,
was ich bislang erlebt hatte. Grüne Moosteppiche, ein Chor von Vogelstimmen und emsig flatternde Flügel, andres Getier, das zum Rhythmus der Erde tanzte, und eine Schönheit, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Stundenlang, so schien es mir, streifte ich durch dies Wunderland meiner inneren Vorstellung, aber die Zeit stand still - denn Zeit spielte hier keine Rolle. Ich begann im Sumpf herumzuspielen, sprang über gefallene Baumstämme und tanzte durchs Moos wie ein menschlicher Phantasievogel. Tiere pirschte ich an, bis ich sie anfassen und streicheln konnte. Sie wölbten den Rücken, Streckten sich und genossen das Kraulen. Vögel landeten auf meinen Schultern, meinem Kopf, und ich verstand die Sprache der Reiher, der Fische, der Schildkröten. Der Sumpf war zum Paradies geworden, zu einem Garten Eden, wo meine Welt vollkommen wurde. Es gab keine Krankheit mehr, keinen Schmerz, keine Verletzung, nur Reinheit und Kraft und vor allem Frieden, Liebe und grenzenlose Freude. Ich fühlte mich heil, ganz und geläutert. Ich ließ mich zurückfallen auf den smaragdgrünen Moosteppich und ließ die Natur in mich einströmen. Ich spürte die Geister um mich her, als ob sie abwarteten und mich beobachteten, aber ich hatte keine Angst. Ich spürte keine anklagenden oder prüfenden Blicke der Geistwesen. Es war, als beobachteten sie nur, als warteten sie, während auch sie über die Ruhe und Reinheit der Sumpflandschaft jubelten. Ich konnte sie nicht sehen, aber ich spürte sie - mächtig, abwartend, beobachtend und liebevoll. Nie im Leben hatte ich mich so gut, so geläutert gefühlt. Das war es, so sollte der Mensch auf Erden leben. Ich empfand keinen Hunger und keinen Durst, ich war nicht müde und fühlte mich auch nicht einsam. Es gab keinen Tod und keine Krankheit, nur die Lauterkeit der Schöpfung und die allgegenwärtige Liebe des Schöpfers. Wieder wurde meine Welt erschüttert durch den knarrenden, summenden Laut, den ich gehört hatte, bevor ich in geistige Welten reiste. Zuerst klang es wie zornige Bienen oder Moskitos, dann aber wurde mir klar, daß es das Dröhnen von Motorsägen sein mußte. Ich war mir ganz sicher, nachdem die Tiere vor dem Geräusch zu fliehen begannen. Der splitternde Tod von Bäumen hallt hörbar über den Sumpf, und der Aufprall ihrer Körper, die zu Boden stürzten, machte die Erde zittern. Plötzlich gab es keinen Frieden mehr, keine Freude, keine Lauterkeit, denn alles versank im Chaos, und Tod und Furcht waren überall. Ich spürte, wie Fichten ringsum zitterten vor Angst, und ihre Furcht teilte sich allen Pflanzen, Tieren und
Geistern mit in diesem eben noch so schönen und reinen Paradies. Auch ich versuchte zu fliehen, zusammen mit Tieren und Geistern, doch ich wurde am Boden festgehalten, unfähig zu flüchten oder mich zu bewegen, an die Erde gefesselt und wehrlos wie die Bäume. Ringsumher krachten die sterbenden Körper der Bäume zur Erde, während ich eine kleine Gruppe von Männern mit Motorsägen näherkommen sah. Anfangs dachte ich, sie wollten mich von der Erde losschneiden, aber sie zogen an mir vorbei und schnitten die Bäume hinter mir um. Sie sahen mich gar nicht und fällten weiter Bäume, während ich verzweifelt versuchte, ihnen Einhalt zu gebieten. Aber sie hörten meine Stimme nicht, und ich fühlte mich so hilflos wie die Bäume, die sie fällten.
Die
dröhnenden
Kettensägen
entfernten
sich
tiefer
in
den
Sumpf.
Stundenlang, so schien es, ging das Bäumefällen weiter, während der Sumpf widerhallte vom Splittern der Stämme, vom Stürzen der Fichtenriesen. Ich sah die Bäume ringsumher sterben, ihr Leben langsam aus offenen Wunden versickern. Bäume sterben nicht gleich, wenn sie gefällt werden, sondern in langsamer Agonie und das bedeutet Leiden. Der Lärm der Kettensägen hörte endlich auf, und Ruhe lag über dem einst so schönen Sumpf. Ich stellte mir vor, wie ich durch ein Gewirr gestürzter Bäume wanderte und ein Gebiet überblickte, das mehrere Quadratmeilen umfaßte. Wo einst riesige Fichten im saftgrünen Sumpf aufragten, gab es jetzt offenes Land, wirres Buschwerk, tote Tiere und sterbende Bäume. Nicht länger war es das spirituelle Paradies, das ich mir vorgestellt hatte, sondern die sprichwörtliche Hölle. Verschwunden waren die Tiere, die Ruhe, die Reinheit, verschwunden die Kathedrale Gottes. Was blieb, war nur eine offene Wunde, schwärend im Fleisch der Erde. Verschwunden waren auch Liebe und Leidenschaft, die ich empfunden hatte, und damit alle Hoffnung. Ich hatte keine Ahnung, warum diese Menschen den Wald hier fällten, denn es war Staatsforst, und der durfte nicht gerodet werden. In mir kochte eine Wut, wie ich sie nie empfunden hatte. Alles war jetzt verloren, alle Hoffnung dahin, und ich hatte es nicht verhindern können. Lange blieb ich auf dem Stamm eines sterbenden Baumriesen sitzen und überblickte das Massaker. Mir war übel. So schnell war all dies geschehen, schneller, als es normalerweise gedauert hätte, einen Wald zu roden. Es war, als ob diese Leute sich vorsätzlich beeilten, doch warum? Dann drangen neue Menschenlaute durch den Wald. Diesmal war es das Surren von Seilen und Seilwinden, die die Bäume
fortschleiften. Das Pochen hackender Äxte erfüllte die Luft, begleitet vom Poltern riesiger Raupenschlepper. Wütende Männerstimmen waren zu hören, hin und her schallten sie mit einer hektischen Intensität, die mir sagte, daß sie in Eile sein müßten. Stundenlang ging es in meiner inneren Vorstellung weiter, bis nach Sonnenuntergang und weit in die Nacht. So plötzlich, wie alles begonnen hatte, rumpelte dann der letzte Lastwagen davon, und Stille zog wieder ein -eine tödliche Stille. Kein Tier und kein Blatt mochte sprechen, denn alle waren geflohen, viele waren tot. Ich reckte mich und brüllte vor Wut, meine Schreie kamen jetzt aus meinem physischen Körper. Aus einem schrecklichen Traum war ich erwacht - doch der Wald lebte noch. So außer mir war ich vor Freude, daß ich den nächsten Wildwechsel entlangrannte, hinein in die Tiefen des Sumpfes. Noch immer standen die Fichten dort, noch nicht gefällt, und überall waren die Stimmen der Tiere. Ich streifte durch den Sumpf, streichelte die Bäume und umarmte sie, dankbar dafür, daß sie noch lebten. Es war wie ein Wiedersehen, eine Zusammenkunft lieber alter Freunde. Als die ersten Strahlen des Tageslichts die Bäume am Horizont erreichten, fiel ich auf die Knie und betete inbrünstig. Mein Herz war voll Dankbarkeit. Traum oder nicht, all dies war mir so real erschienen! Ich zweifelte nicht, daß alles ein Traum gewesen war, denn der Wald war unversehrt und lebendig geblieben. Langsam schlendernd verließ ich den Sumpf. Mein Herz sagte mir, ich solle zu Großvaters Camp zurückkehren, aber mir war, als hätte ich noch Arbeit vor mir. Immerhin war ich noch nicht in die mögliche Zukunft eingekehrt, wie Großvater es verlangt hatte. Ich wollte nicht zu ihm zurückkehren, bis ich etwas zu berichten hätte. Während ich den Sumpf hinter mir ließ, wo noch Morgennebel hingen, umarmte ich die letzte große Fichte. Währenddessen frischte der Wind auf, und alle Bäume des Waldes begannen zu tanzen und zu winken. Ganz fest umarmte ich diesen Baum, als ich plötzlich eine leise Stimme hörte, wie ein schwaches Flüstern an meinem Ohr. Sie schien zu sagen: «Waldfrevler. Darum haben sie's eilig.» Dann war alles wieder still. Ich warf den Kopf zurück, um diese Stimme abzuschütteln. Tatsächlich war die Trennlinie zwischen der stofflichen Realität und der geistigen Realität nur schmal. So verließ ich den Sumpf und wanderte weiter bis zum Spätnachmittag. Da beschieß ich, auf einen Hügel zu steigen, der südlich unseres Lagerplatzes gelegen war, um dort zu beten. Großvater hatte diesen Hügel immer den «Gebetshügel» genannt. Ich liebte den Aufenthalt dort, denn er war nicht sehr hoch, bot aber einen herrlichen
Ausblick über die Pine Barrens. Während ich zur Kuppe hinaufstieg, empfand ich im Magen das falsche Gefühl, allerdings nicht sehr stark. Fast während meiner ganzen Wanderung hatte ich vergessen, meine Innere Vision zu befragen, denn mein Bewußtsein kreiste noch immer um den Traum der letzten Nacht. Jetzt an diesem Ort der Stille und des Gebets machte sich meine Innere Vision bemerkbar. Noch immer lag Arbeit vor mir, und dieser Hügel war gut geeignet, meine Suche fortzusetzen. Ich wollte jetzt nicht zu Großvater zurückkehren, obgleich meine Innere Vision mir etwas anderes gebot. Noch lange nach Sonnenuntergang blieb ich auf dem Hügel sitzen, bis tief in die Nacht. Ich hatte alles verfehlt, was ich in geistigen Welten suchte, sogar im Gebet, und ich war sehr frustriert. Nichts wollte gelingen; nur daß meine Innere Vision mir eindringlich gebot, Großvater aufzusuchen. Je mehr ich mich dagegen sträubte, der inneren Stimme zu lauschen, desto mächtiger wurde sie, bis ich nachgeben mußte und zurückkehrte zu Großvaters Camp. Es war schon spät, als ich endlich an seinem Lagerplatz eintraf. Mehr als ein Tag war vergangen seit meinem Traum von dem herrlichen Sumpf, und er war jetzt nur noch ferne Erinnerung, ohne die Eindringlichkeit, die er gehabt hatte. Bevor ich zu Großvater kam, hatte ich beschlossen, daß es vielleicht nicht so wichtig wäre, von meinem Erlebnis zu sprechen. Es war mir Sogar etwas peinlich, da ich nichts anderes als diesen Traum zu berichten hatte. Während ich mich seinem heiligen Platz näherte, war ich fast überzeugt, ich sollte ihm einfach sagen, daß meine Innere Vision nicht zu neuen Lektionen geführt hätte was ja, was mich betraf, der Wahrheit entsprach. Endlich fand ich ihn. Er saß nicht an seinem Platz, sondern abseits am Rande des Sumpfes. Ohne aufzublicken, winkte er mich heran. Kein Wort wurde gesprochen, und ich spürte, daß ihn etwas traurig machte. An den Spuren am Boden erkannte ich, daß er schon lange hier saß. Wir schwiegen noch eine Weile, dann stand er auf, und ich folgte ihm. Er stieg die Böschung hinunter und ging hinaus in die Weite des Sumpfes. Schließlich kamen wir in die Gegend des stillen Wassers und gingen weiter - auf demselben Weg, den ich tags zuvor genommen hatte. Es war eine beschwerliche Wanderung für mich, nicht wegen des schwierigen Terrains, sondern weil ich darauf brannte, mit ihm zu sprechen. Ich hatte das Gefühl, daß er mir böse sei, auch wenn er mir dies nicht durch Taten zu verstehen gab, sondern nur durch sein Schweigen. Oft blieb er stehen und lauschte, nicht mit seinem physischen Gehör, sondern mit einem tieferen,
umfassenderen Sinn. Dann ging er weiter, noch immer ohne ein Wort. Ich wußte, er suchte etwas jenseits des Stofflichen und lauschte hinein mit seiner Inneren Vision. Doch meine innere Stimme blieb diesmal stumm. Als wir uns jener Stelle im Sumpf näherten, wo ich gesessen hatte, hörte ich plötzlich das ferne Poltern eines großen Lastwagens, und Bilder aus jenem Traum der letzten Nacht stürzten wieder in meine Realität. Gleichzeitig überfiel mich ein schmerzliches Verlustgefühl, das ich nicht benennen konnte. Ich wußte nur, daß es aus den Tiefen der Inneren Vision kam. Fast wurde mir übel, aber nicht aus körperlichen Gründen. Ich folgte Großvater bis zum Ausgangspunkt des Wildwechsels, der zu der Stelle führte, wo ich gesessen hatte. Jetzt wußte ich, daß Großvater mich an dieselbe Stelle zurückführte, wo ich den Traum gehabt hatte. Ich spürte, daß mit dem Walde etwas nicht stimmte — ein Gefühl, das ich in der Nacht zuvor nicht gehabt hatte. Es war, als hätte ich irgendwie versagt, und weder die Bäume noch die Tiere wollten zu mir sprechen. Wir schritten noch ein paar Meter weiter - und kamen an einer breiten Schneise heraus, an die ich mich nicht erinnern konnte. Anfangs fühlte ich mich desorientiert, wußte nicht, wo wir eigentlich waren. Dann aber trat Großvater zur Seite und bedeutete mir, ich solle auf die Lichtung hinaustreten. Erst jetzt erkannte ich, daß es eine Bresche der Zerstörung war. Alle Bäume waren gefällt, und der Wald stand nicht mehr. Es war derselbe Wald, den ich im Traum gesehen hatte, doch die Zerstörung war frisch - die Bäume abgeschlachtet erst an diesem Tag. Mir -wurde furchtbar schlecht, und das Gefühl meines Versagens erdrückte mich. Zu traurig, um etwas sagen zu können, folgte ich Großvater zu dem Platz, wo ich die Nacht zuvor gesessen hatte. Es wirkte alles so wirklich wie im Traum, doch es war ganz und gar kein Traum! Dies war die wahrscheinliche Zukunft, nunmehr Wirklichkeit geworden. Lange saßen wir und schwiegen, während ich auf die kahle Rodung hinausblickte. «Waldfrevler», dachte ich. «Darum hatten sie es so eilig.» Mir war übel, denn ich hatte die mögliche Zukunft vorausgesehen — und nichts getan, um ihre Wirklichkeit zu verhindern. Nein, ich wußte nicht, was ich hätte tun sollen, denn ich war nur ein kleiner Junge. Aber wenigstens hätte ich die Behörden alarmieren können. Vielleicht wäre der Wald nicht gerodet worden, wenn ich meiner Inneren Vision gehorcht hätte und hier geblieben wäre. Immerhin konnten sie keine Zeugen brauchen, und wenn sie mich dort entdeckt hätten, wären sie vielleicht geflohen. Trotz allem fühlte ich mich grauenhaft, fühlte mich verantwortlich, als hätte auch ich Teil an der Zerstörung
des Waldes. Indem ich nicht versucht hatte, ihnen Einhalt zu gebieten, hatte auch ich mich schuldig gemacht. Aber ich war zu sehr mit mir selbst beschäftigt gewesen, Um auf andres zu achten als auf mich selbst. Großvaters Stimme drang in meine Grübelei, aber sie klang Weder vorwurfsvoll noch böse. Er sagte: «Seit vielen Sonnenkreisen hast du gelernt, deine Innere Vision zu befragen und auf sie zu hören. In dieser letzten Nacht aber hast du es versäumt. Dein logisches Bewußtsein erkannte keinen Beweis dafür, daß das Traumbild real sein könnte, weil der Wald noch ungerodet dastand. Hättest du auf die inneren Stimmen gehört, dann hättest du gewußt, daß es die Realität der wahrscheinlichen Zukunft war, die du miterlebtest. Du hörtest die Stimme des Haimi-Geistes, die dir sagte, daß es Waldfrevler seien. Aber wieder verkanntest du es als Einbildung, als Geflüster des Windes. Du bist dem Wald nichts schuldig geblieben, denn ich bezweifle, ob du etwas hättest tun können, um den Holzeinschlag zu verhindern. Was du aber versäumt hast, war, die Stimme der möglichen oder wahrscheinlichen Zukunft zu erkennen. Jetzt kennst du sie wohl. Ich glaube nicht, daß du sie wieder mit Launen oder Phantasien verwechseln wirst, denn jetzt sieht drin Vorstand das Ergebnis.» Ich antwortete nicht, nein, ich konnte nicht antworten. Ich fühlte mich dennoch verantwortlich, ganz gleich, was Großvater sagte. Wie recht er hatte! Ich hatte angenommen, dies alles sei nur ein Traum, und als ich erwachte, gab es keinen physischen Beweis dafür, daß der Wald gefällt worden sei. Ich hatte nur auf mein physisches Denken gehört, nicht auf mein spirituelles Bewußtsein, und die Stimme als Traum verkannt. Und dann sagte Großvater: «Wie du gesehen hast, gibt es oft keine physischen Beweise für das, was die Innere Vision uns sagt. Was mich betrifft, so folge ich immer meiner Inneren Vision, ganz gleich, was mein physisches Bewußtsein denken oder wissen mag. Die Innere Vision des spirituellen Bewußtseins weiß Dinge, die sich das stoffliche Bewußtsein nicht mal erträumen kann. Allerdings hast du eine wertvolle Lektion gelernt. Höre also auf das spirituelle Bewußtsein, wann immer es zu dir spricht, denn es spricht die Wahrheit.» Wieder schwiegen wir. Nach einer Weile sprach Großvater weiter: «Indem du nach Erklärungen suchtest, nach Beweisen, um deinem physischen Bewußtsein zu schmeicheln, hast du das spirituelle Bewußtsein geschwächt und verzerrt. Wie du jetzt siehst, kann das stoffliche Bewußtsein unser größter Feind wie auch unser stärkster Verbündeter sein. Wie oft müssen wir einfach akzeptieren, was die Innere
Vision uns als Wahrheit verkündet, und unseren Wunsch nach Erklärungen und Beweisen beiseite schieben. Denn der Glaube, vergiß es nicht, ist ein Teil der Kraft.» Wieder machte Großvater ein Pause, und dann sagte er: «Du hast es noch nicht vollendet. Wenn du auf deine innere Stimme hörst, wird sie dir sagen, daß du hierbleiben und lernen sollst. Noch immer gibt es so vieles, was du verstehen mußt, bevor die Nacht vorbei ist.» Damit verließ Großvater den Platz, wo wir saßen, und wanderte zurück durch den hingemetzelten Wald. Ich blieb sitzen, ganz gedemütigt durch mein Versagen. Ich hatte mich von meinem physischen Bewußtsein beherrschen lassen, hatte den Glauben vergessen und nicht meiner inneren Vision gehorcht. Jetzt mußte ich den Preis bezahlen. Der Wald war verloren, der Tempel zerstört, und ich trug die Schuld. Taub war ich gegen die Laute der Nacht, während ich auf den Sumpf blickte, der einst so schön war. Ich wußte, es würde Jahre dauern, bis der Wald wieder nachwüchse, so, wie er einmal gewesen war. Die Natur bemüht sich, die vom Menschen geschlagenen Wunden zu heilen, aber es ist ein langsamer Prozeß. Ich war so bedrückt, so enttäuscht von mir selbst, daß ich glaubte, ich hätte nicht nur die Zerstörung der Sumpflandschaft zugelassen, sondern auch vor dem Schöpfer versagt. Ich hatte es nicht verhindert, daß einer seiner Tempel zerstört wurde. So betete ich um Führung, aber ich fühlte mich unwürdig, zum Schöpfer zu sprechen. Dann aber, im Augenblick meiner tiefsten Trauer und Selbstkritik, schien mein Bewußtsein sich zu klären, und ich versenkte mich in tiefe Stille. Wieder fühlte ich Frieden, fühlte mich frei von aller Trauer. Ich fühlte mich geliebt. Ich blickte hinaus auf den kahlen, gerodeten Sumpf. Die Stille war überwältigend, aber nicht anklagend. Dann aber nahm ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Es war nur ein kurzer Moment, aber es war kein Tier; es war eher etwas -wie ein Mensch, auch wenn ich kein Geräusch hörte. Ich schaute genauer hin, versuchte die Dunkelheit zu durchdringen, und ja, jetzt sah ich etwas, das mir zuerst wie ein dichtes Gebüsch erschien. Sofort befahl mir meine Innere Vision, dorthin zu gehen, und ich gehorchte ohne Zögern. Ich wollte die Stimme nicht mehr verleugnen und wieder den gleichen Fehler begehen. Während ich zur Mitte der Rodungsfläche vordrang, sah ich etwas, das gar kein Busch war, sondern irgend jemand, der über einen gefällten Baum gebeugt lag wie im Gebet. Ich empfand keine Angst, wie ich sie einst vor dem Dämon auf jener Lichtung empfunden hatte; vielmehr spürte ich eine eigenartige Ruhe. Ich wußte, daß
dieser Mann, falls es ein Mann war, nicht von dieser Welt stammte, sondern aus der geistigen. Ich war verwirrt, denn ich konnte mich nicht erinnern, zu einer Reise in spirituelle Welten aufgebrochen zu sein. Ich war hellwach und in meinem physischen Bewußtsein. Ich ging näher heran, hatte aber keine Furcht. Ich sah, daß er oder sie oder es damit beschäftigt war, ein kleines Fichtenbäumchen einzupflanzen und liebevoll dabei betete. Langsam erhob sich das Wesen und drehte sich zu mir - auf eine Art, die mir verriet, daß es die ganze Zeit von meiner Anwesenheit gewußt hatte. Wie es dort stand und mich ansah, war ich noch zu weit entfernt, um sein Gesicht zu erkennen, aber es winkte mich wortlos heran. Aus der Nähe sah ich, daß es ein alter Mann war, in eine sehr alte, zerschlissene Decke gehüllt. Ich dachte sofort, er könne einer der Ureinwohner sein, auch wenn seine Gesichtszüge keine rassische Zuordnung erlaubten. Allerdings zeigte er das Verhalten eines Menschen aus alter Zeit, als er nun auf einen Baumstumpf zeigte und mir bedeutete, mich zu setzen. Es folgte ein langes Schweigen, während er mich mit seinen traurigen, großen Augen zu mustern schien. Das erinnerte mich daran, wie Großvater uns beide manchmal ansah. Sein Mund war ausdruckslos, und mir wurde etwas unbehaglich. Dann sprach er zu mir in sehr freundlichem und liebevollem Ton: «Ich bin nicht die Stimme des Volkes der Bäume, die heute morgen zu dir gesprochen hat, sondern ich bin die Stimme der Geisterwelt, der Hüter dieses Waldes und vieler Wälder. Du bist nicht verantwortlich für die Zerstörung des Waldes, denn du hättest nichts tun können, um seinen Tod zu verhindern. Diese Männer, die lieblos und unwissend Bäume fällten, hätten dich verletzt, denn sie haben auch andere verletzt, die sich ihnen in den Weg stellten. Du hast eben erst gelernt, auf die Möglichkeiten der Zukunft und auf die Stimmen der Geister zu hören. An dir ist kein Makel.» Er machte eine Pause und setzte sich feierlich auf einen Baumstamm. Ich zögerte zuerst, dann sagte ich zu ihm: «Das ist nicht wahr. Wäre ich hier gewesen, dann hätte ich sie in ihr Lager verfolgen und sie dann bei der Polizei oder den Waldhütern anzeigen können.» Sein vorher ausdrucksloser Mund lächelte jetzt liebevoll, als er sagte: «Du hättest ihnen nicht folgen können, denn ihr Versteck ist viele Meilen entfernt. Die Waldhüter fahnden schon seit Monaten nach ihnen, doch ohne Erfolg. Ich kenne sie gut, denn sie haben viele meiner Wälder vernichtet. Jetzt aber kannst du helfen, denn ich weiß, wo ihr Versteck sich befindet, und du sollst die Leute führen, die nach ihnen fahnden.» - «Aber was könnte ich ausrichten? Und wer wird
mir glauben?» fragte ich. Wieder sprach der Geist und sagte: «Sie verstecken sich am alten Teich, nicht weit von dort, wo die zerstörte Mühle steht. Dort schlachten sie Bäume für den Markt, und dort sind sie zu finden.» Plötzlich erwachte ich wieder in meinem stofflichen Leib, und der Geist war verschwunden. Ich scherte mich nicht darum, ob es Traum oder Wirklichkeit gewesen war. Jetzt wußte ich, was ich zu tun hatte. Ich wollte meinem Verstand keine Chance geben, wegzudiskutieren, was ich eben gehört hatte - oder was ich zu hören mir vorgestellt hatte. Immerhin hatte ich bereits einen Fehler gemacht, und ich durfte nicht riskieren, diese Mitteilung zu ignorieren, sei sie real oder nicht. Meine Innere Vision hatte mich noch nie getäuscht, und jetzt sagte sie mir, daß die Vorstellung und die Mitteilung auf Wahrheit beruhten. Dennoch wußte ich nicht, was ich tun sollte. Es wäre schwierig, die Behörden - oder wen immer - davon zu überzeugen, daß ich von illegal operierenden Holzfällern wußte, die meilenweit von unserem Camp ihr Geschäft betrieben. Ich zögerte aber nicht, sondern machte mich gleich auf den Weg zum Camp. Unterwegs ließ ich mir alles durch den Kopf gehen, was mir zugestoßen war. Falls es sich so verhielt und nicht nur Einbildung war, dann hatte ich nicht nur in die mögliche Zukunft geblickt, sondern auch ganz real mit einem Geist kommuniziert. Schon früher hatte ich Begegnungen mit der Welt der Geister gehabt, aber sie waren nicht von mir gewollt. Solche Begegnungen fanden eher in Träumen statt, eher aus Zufall als aus freier Entscheidung. Wie ich dahinschritt, erinnerte ich mich, wie ich zum erstenmal eine Botschaft von einem Geist empfangen hatte. Wir befanden uns auf einer langen Wanderung, als dieser Geist im Traum zu mir kam. In der ersten Nacht unserer Wanderung hatten wir Reisighütten gebaut und waren in lange ersehnten Schlaf versunken. Und dann war der Geist mir erschienen. Irgendwann in der Nacht hatte ich einen lebhaften Traum. Er ragte heraus unter all den ändern, weil er mir so wirklich vorgekommen war, so eindringlich. Zuerst kamen Bilder, wie wir dahinwanderten auf dem Weg, den wir anderntags einschlagen wollten. Die Landschaften, durch die ich kam, waren sehr deutlich, das Fortkommen war leicht, und es war viel wärmer als am vorhergehenden Tag. Ich erkannte alle Einzelheiten der Landschaft, auch daß Großvater und Rick sich dort befanden. Dann träumte ich, daß ich mich einem Bach näherte - ein Bach, aus dem ich zu trinken pflegte, und der erste, an dem wir seit Beginn unseres Marsches vorbeikommen sollten. Tiefe Erleichterung überkam mich, als ich ans Ufer trat. Ich freute mich
darauf, meinen Durst zu stillen - nach solch langer, beschwerlicher Wanderung. Der Bachlauf
bot
Ansichten
von
unverfälschter
Schönheit,
tröstlicher
Kraft
und
lebensspendender Schöpfung. Als ich mich im Traum niederbeugte, um aus dem Bach zu trinken, erschrak ich über das Bild eines alten Indianers im Spiegel des Wassers. Ich hob den Kopf, ich blickte hinüber - und dort stand derselbe alte Indianer und schaut zu mir herüber. Er schien sehr alt, älter als Großvater, und doch stand er sehr aufrecht, stolz und stark. Er schwenkte die flache Hand vor der Brust als grüßende Geste und sprach dann mit ernster Stimme seine Warnung: «Trinke nicht mehr von diesem Wasser von heute an. Und übermittle diese Warnung auch deinen Enkeln und Enkelkindern.» Damit deutete er den Bach hinauf und sagte: «Der Bach ist vergiftet worden. Laß dich nicht täuschen durch die Klarheit des Wassers.» Bevor ich weitere Fragen stellen konnte, war er verschwunden, und dann war ich wieder in tiefen, traumlosen Schlaf versunken. So lebhaft erinnerte ich mich jetzt, wie ich am ändern Morgen erwachte. Der Traum war mir noch bewußt, aber ich wollte Großvater und Rick nichts davon erzählen und nicht riskieren, als Narr dazustehen, ganz gleich, wie wichtig der Traum mir vorgekommen war. Wie ich damals den Fehler begangen hatte, von einer spirituellen Begegnung nichts zu erzählen, so hatte ich ja auch jetzt den Fehler gemacht, die bevorstehende Zerstörung des Fichtensumpfes zu verschweigen — und folglich den Tempel verloren: aus Furcht, als Narr dazustehen, genau wie bei meiner ersten Begegnung mit einem Geist. Jetzt war ich daher entschlossen, den Fehler nicht zu wiederholen. Und darum schob ich meinen Stolz beiseite wie auch meine Furcht zu versagen. Wie lebhaft erinnerte ich mich, während ich weiterwanderte, was dann passierte, nachdem wir an diesem Morgen nach meiner ersten Begegnung mit einem Geist vom Camp aufgebrochen waren. Schon früh war es heiß geworden, viel heißer als am Vortag. In der Klarheit der Morgendämmerung zeichnete sich der Wald deutlich ab, und jenes Gefühl der Eindringlichkeit, das ich im Traum gehabt hatte, verstärkte sich wieder. Als wir zu diesem Bach kamen, wollte ich Großvater von meinem Traum erzählen, aber ich zögerte immer noch - und ließ die Gelegenheit verstreichen. Ich trat an den Bach und beugte mich über das Wasser. Rick und Großvater taten es ebenso. Als ich das klare Wasser vor mir sah, wirkte es so rein, unverdorben und schön. Doch als ich dann mit der Hand schöpfen und trinken wollte, spiegelte sich einen Moment lang das Bild jenes alten Indianers auf der Oberfläche, genau wie ich
es im Traum gesehen hatte. Ohne nachzudenken, rief ich Großvater und Rick zu, sie sollten nicht von dem Wasser trinken. Rick hatte kurz aufgeblickt, dann ignorierte er mich und hob die Hand an den Mund, um zu trinken. Ich hechtete hinüber zu ihm und stieß ihn vom Ufer zurück, während das Wasser spritzte. Sofort sprang er auf und ging auf mich los, und wir verstrickten uns in einem erbitterten Ringkampf. Großvater trat sofort dazwischen, er beruhigte uns und fragte mich, was dies alles auf sich hätte. Zögernd hatte ich ihm dann von dem Traum erzählt und die Vorgänge ausführlich geschildert, wie sie sich an diesem Tag wiederholt hatten, und wie das Gesicht des alten Indianers sich wieder auf dem Wasser gespiegelt hätte. Ich fügte hinzu, daß ich nichts hatte erzählen wollen, weil ich glaubte, es wäre nur meine Phantasie. Rick lachte versöhnlich und trat wieder an den Bach, um zu trinken. Großvater hielt ihn zurück und sagte: «Laß uns zuerst am Oberlauf nachsehen.» Widerstrebend hatte Rick eingewilligt, er hatte mir einen bösen Blick zugeworfen und im Vorbeigehen gezischt: «Na, du mit deiner Phantasie.» Jetzt erinnerte ich mich, wie dumm ich mir vorgekommen war, als er dies sagte. Dann waren wir bachaufwärts gewandert und Rick hatte den ganzen Weg lang gejammert, das Wasser komme ihm doch gut vor. Ich erinnere mich auch, daß Großvater auf die verwelkten Pflanzen deutete und meinte, das Wasser müsse wohl krank sein. Endlich fanden wir am Oberlauf mehrere Blechtonnen, illegal dort ausgekippt, aus denen eine durchsichtige chemische Flüssigkeit über die Böschung ins Wasser floß. Erst jetzt fand ich meinen Traum bestätigt und kümmerte mich nicht mehr darum, ob ich als Narr dastand. Mir war auch klar, daß Großvater längst von meinem Traum gewußt hatte - und auch, daß das Wasser vergiftet war. Er wollte mich nur auf die Probe stellen, um zu sehen, ob ich ihm oder Rick davon erzählen würde. Er wollte sehen, ob ich zu stolz wäre, die Wahrheit anzuerkennen. Doch es hätte auch geschehen können, daß wir uns, hätte ich nichts gesagt, alle drei vergiftet hätten - vielleicht gar gestorben wären an diesem Wasser. Meine Furcht hatte uns schon den Schöpfungstempel des Fichtensumpfes gekostet! Endlich kam ich an den Weg, der zu Großvaters Lager führte, ging aber einfach daran vorbei. Ich hatte keine Angst, es ihm zu sagen, sondern wollte auf direktem Weg die Einöde der Pine Barrens verlassen und die Behörden benachrichtigen. Ich glaubte fest genug an meine Begegnung mit dem Geist, so daß ich es nicht nötig fand, zuerst Großvater davon zu berichten. Möglichst rasch wollte ich die Pine
Barrens verlassen und jemanden alarmieren, denn je eher ich dies tat, desto schneller konnte etwas gegen die Waldfrevler unternommen werden. Meine Innere Vision war einfach zu stark und eindringlich und erlaubte keinen anderen Gedanken, als in die Stadt zu laufen und den Banditen das Handwerk zu legen. Ich wußte, daß gleich am Stadtrand ein kleines Haus stand, wo einer der Wildhüter wohnte. Und ich fand, wenn ich ihn informierte, dann bestand die beste Aussicht, daß etwas unternommen werden würde. Endlich kam ich dort an und klopfte an die Tür. Erst als ich den Mann herauskommen hörte, überlegte ich mir, was ich ihm eigentlich sagen wollte. Der Wildhüter öffnete die Tür - aber auf eine Art, die mir verriet, daß er wütend war über die Störung. Ich verstand nicht, warum er sich an einem so schönen Tag nicht draußen im Walde aufhielt. Er war ein stämmiger Mann mit dickem Bauch und schien mir wirklich schlecht in Form zu sein. Sein Gesicht war gerötet, und Schweiß tropfte unter der Hutkrempe hervor. In der Hand hielt er etwas, das nach den Resten eines Schweineschnitzels aussah, und seine Hände glänzten vor Fett. Er musterte mich mit einem Blick, irgendwie zwischen Arroganz und Autorität, als sei ich ein hergelaufener Lump und seiner Aufmerksamkeit nicht würdig. Bevor ich ein Wort - oder auch nur Hallo - sagen konnte, knurrte er mich an: «Was, zum Teufel, willst du hier, Junge?» Ich war so entsetzt über seine Art und seine Worte, daß ich zu stottern anfing. Schließlich brachte ich den Mut auf, ihm zu sagen, was ich gesehen hatte. Er glotzte mich gleichgültig an und verriet mit keiner Miene, ob es ihn interessierte, was ich zu sagen hatte. Tatsächlich schien er sich mehr für sein Schweineschnitzel zu interessieren als dafür, das Wald-Morden zu beenden. Zu meiner Erleichterung aber fragte er nicht, woher ich meine Information hätte. Nur gab er mir deutlich zu verstehen, daß er Wildhüter sei und nichts mit den Bäumen zu tun habe; daß er noch nicht mal ein hauptberuflicher Wildhüter sei. Außerdem meinte er, daß sich unmöglich jemand verstecken konnte dort bei der alten Mühle, weil nämlich die Straße dorthin seit Jahren verfallen sei. Und jeder wisse von dem illegalen Holzeinschlag, sagte er, doch niemand sei bereit, etwas dagegen zu unternehmen. Ich solle mich davonscheren und lieber spielen, statt ihn mit Dingen zu belästigen, die ihn nichts angingen. Damit schlug er mir die Tür vor der Nase zu - und sagte nicht einmal Goodbye. Ich war schockiert über seine Worte. Wie konnte dieser Mann ein Wildhüter sein und sich nicht um die Bäume kümmern? Bäume sind doch so wichtig für das Wild und für
vieles andere. Er schien viel zu schlecht in Form zu sein für den Beruf eines Wildhüters, und selbst seine Stiefel verrieten nicht, daß er im Wald umhergelaufen wäre. Auf Bürgersteigen und Straßen hatte er sich die Absätze schiefgetreten, nicht aber im Wald. Seine harten Worte und daß ihm die Bäume egal waren, machte mich wirklich traurig. Ich begriff nicht, wie der Wald jemandem egal sein konnte. Jedenfalls wußte ich nicht, wohin ich mich nun wenden sollte. Dieser Mann würde gewiß nichts unternehmen. Ich wollte schon wieder in den Wald zurückkehren, als das Bild eines alten Freundes unserer Familie wie aus dem Nichts vor meinem inneren Auge auftauchte. Dieser Freund war ein alter Angehöriger der Staatspolizei namens Joe. Anfangs verwarf ich das Bild, weil die staatliche Polizei nur die Autobahnen kontrolliert und sich nicht um den Wald kümmert. Aber das Bild stand hartnäckig vor mir. Allerdings wußte ich, daß Joe den Wald liebte - vielleicht wollte meine Innere Vision mich zu ihm führen, weil er irgendwie helfen konnte. An diesem Punkt hätte ich alles versucht. Ich mußte die Bäume retten, ich mußte alle Möglichkeiten ausschöpfen, bevor ich ins Camp zurückkehren konnte. Und damit lief ich zurück in die Stadt zu Joes Haus hinüber und hoffte, er sei zu Hause. Ich klopfte an seine Tür, und noch vor dem dritten Klopfen flog sie auf. Anders als der dicke Wildhüter begrüßte mich Joe mit seinem herzlichen breiten Lächeln und bat mich, hereinzukommen und Platz zu nehmen. Er war ein hochgewachsener Mann, hager und kräftig, sogar einschüchternd irgendwie, aber sehr herzlich und offen. Er fragte mich, wie es mir ginge, was meine Leute wohl machten, und schließlich fragte er auch, was ich von ihm wollte. Ohne Zögern erzählte ich ihm die Geschichte der Bäume, wobei ich wieder den Teil mit dem Geist überging und nur sagte, ich hätte jemanden davon erzählen gehört. Er hörte aufmerksam zu und zeigte großes Interesse. Und als das Telefon klingelte, sagte er dem Teilnehmer am ändern Ende der Leitung, er würde zurückrufen, weil er damit beschäftigt sei, eine Zeugenaussage aufzunehmen. Das machte mich zuversichtlich. Wollte er mir nur gefällig sein, oder interessierte er sich wirklich für den Fall? Meine Innere Vision sagte mir, daß er es ehrlich meinte. Mehrmals fragte er mich, woher ich die Nachricht über das Lager der Waldfrevler wisse, und jedesmal tischte ich ihm dieselbe Geschichte auf - oder wich der Frage aus. Er sagte, er werde mich nicht weiter ausfragen. Mir war klar, daß er glauben mußte, ich wolle jemanden schützen. Er hatte recht. Doch nicht den Geist wollte ich
schützen, sondern mich selbst, um nicht in Schwierigkeiten zu kommen. Joe führte mehrere Telefonate und kam dann zu mir zurück. Er sagte, er habe von seiner zentralen Dienststelle erfahren, daß die Polizei bereits gegen die Waldfrevler ermittle; niemand könne aber ihr Lager finden, und niemand wisse, wer diese Männer seien. Es gäbe Verdachtsmomente, aber es sei noch niemand verhaftet worden, weil die Beweise fehlten. Falls es stimmte, was ich ihm erzählt hatte, sagte er, dann wäre dies ein echter Fortschritt in dem Fall. Ich erschrak allerdings, als er mir sagte, ich solle mit ihm hinausfahren, um das Gelände bei jener alten Mühle zu kontrollieren. Fast eine Stunde lang waren wir unterwegs dorthin, wo wir nach dem Hinweis des Geistes die Waldfrevler finden würden. Wir parkten den Wagen am Waldrand und gingen auf der verfallenen Straße weiter. Die Straße war so überwachsen, daß wir uns immer wieder unter Ästen bücken müßten. Als wir endlich bei der alten Mühle ankamen, war nichts zu finden. Gewiß hatte niemand diese verfallene Straße benutzt, außerdem gab es keine Spuren von Lastwagen oder zersägten Stämmen. Mir schwindelte, denn nicht nur schien sich der Geist als meine Einbildung zu erweisen, sondern ich hatte Joe auch um einen Teil seines dienstfreien Tages gebracht. Ohne Vorwurf sagte er nur, die Information, die ich gehört hätte, müsse falsch gewesen sein. Doch er hielt mir zugute, daß ich wenigstens zu helfen versucht hatte. Ich wußte es damals noch nicht, aber dies war der Anfang einer langen Freundschaft, und Joe war der Mann, der mich nur zwei Jahre später als Fährtensucher in den Polizeidienst brachte. Joe nahm mich noch ein Stückchen mit, soweit es sein Wagen auf diesen schlechten Straßen zuließ, dann sagte er Goodbye und ließ mich im Wald aussteigen. Ich war zu traurig, um gleich ins Lager zurückzukehren, und schämte mich, Großvater gegenüberzutreten. Irgendwie waren die Innere Vision und der Blick in die Zukunft wohl ein Irrtum gewesen, vielleicht auch fehlerhaft, und ich wollte herausfinden, warum. Hatte meine Innere Vision mich getäuscht? Dauernd hatte sie mir doch gesagt, daß ich meine Sache richtig mache. Ich fürchtete, nicht mehr kommunizieren zu können mit meiner Inneren Vision, und führte es auf den mißglückten Trip in die Zivilisation zurück. Möglicherweise, so dachte ich, wollte ich Wiedergutmachung leisten für die Zerstörung des Sumpfes, die ich zugelassen hatte, und hatte in diesem verzweifelten Bemühen das Ganze zusammengeträumt. Meine Wanderung führte mich dann irgendwie zurück zu der Stelle, wo alles angefangen hatte. Ich blickte auf den öden, kahlgeschlagenen Sumpf hinaus und fing
an zu weinen. Ich weinte nicht nur um den Sumpf und meine Unfähigkeit, ihn zu retten, sondern ich weinte auch um mich selbst, denn ich fürchtete, ich hätte die Lauterkeit der Inneren Vision verloren. Ich schämte mich so sehr. Nicht nur hatte ich irrtümlich meiner Phantasie geglaubt, sondern ich hatte auch vor Joe als Narr dagestanden. Selbst wenn es schien, als ob er meine Bemühungen anerkannte, hatte ich den Verdacht, daß er in Wahrheit über mich lachte. Als ich aufblickte über die zerstörte Sumpflandschaft vor mir, nahm ich seitlich eine Bewegung wahr. Schnell wandte ich den Kopf und sah wieder den Geist, der mir von den Waldfrevlern erzählt hatte. Bevor ich nachdenken oder auch nur reagieren konnte, sagte er schlicht: «Danke, Krieger», und verschwand. Seine Worte überraschten mich tatsächlich. Ja die ganze Erscheinung überraschte mich. Nachdem mein erster Schreck abgeklungen war, schob ich die ganze Begegnung beiseite. Immerhin war dieser Geist ein Irrtum, eindeutig eine Phantasie, denn wäre er Wirklichkeit gewesen, dann hätten wir das Lager der Waldfrevler gefunden. Und nun beschloß ich, kein Wort darüber Großvater zu sagen, wenn ich ins Camp zurückkehrte. Ich wollte ihn einfach nicht wissen lassen, daß ich versagt hatte. Statt dessen wollte ich noch einmal das Weistum der möglichen Zukunft suchen - doch erst, nachdem ich eine gute Mütze voll Schlaf gefunden hatte. Spät schlüpfte ich also ins Camp und kroch schnell in meine Reisighütte. Am nächsten Morgen erwachte ich, als Rick meinen Namen rief. Ich kroch aus der Hütte und sah Rick mit seinem Hirschlederbeutel vor mir stehen; er sah aus, als sei er im Begriff, sich auf den Weg zu machen. Er sagte mir, er wolle einen Tag früher nach Hause gehen, um einen Tag früher wieder in der Wildnis zu sein, und fragte, ob ich mitkommen wolle. Das wollte ich und meinte, ich müsse erst Großvater benachrichtigen, wohin wir gingen. Rick aber sagte, das täte er lieber nicht - wobei er leicht sorgenvoll und verlegen dreinschaute. Rick machte ein Gesicht, als quäle ihn irgend etwas. Es war ganz untypisch für ihn, auch nur eine Sekunde früher als nötig das Camp zu verlassen, um nach Hause zu gehen. Ich vermutete, daß er etwas vor mir verbergen wollte, und dachte, es müsse mit Großvater zusammenhängen. In diesem Moment hatte auch ich das Gefühl, daß ich Großvater lieber nicht begegnen sollte - besonders nicht nach meinem Scheitern. Wortlos liefen wir aus dem Camp und schlenderten zu dem breiten Waldweg, der uns nach Hause bringen sollte. Unterwegs sprachen wir kein Wort über das, was uns bewegte. Einmal fragte ich, wie es ihm auf seiner Reise in die mögliche Zukunft ergangen sei, aber wir
wechselten rasch das Thema. Irgendwie war ich froh darum, denn ich fürchtete, Rick könne mir die gleiche Frage stellen. Dann sprachen wir nur noch über Belanglosigkeiten. Endlich erreichten wir die Teerstraße und wollten sie überqueren, als wir am andern Straßenrand einen Wagen der Staatspolizei parken sahen, direkt vor dem Weg, der zu mir nach Hause führte. Als wir näher kamen, flog die Tür auf, und heraus sprang Joe. Er lief uns entgegen, die Hand freundschaftlich ausgestreckt. Er begrüßte mich und Rick und dankte uns beiden für den wichtigen Hinweis, der zur Verhaftung der Waldfrevler geführt habe. Wir waren beide sprachlos vor Staunen. Verwirrt fragte ich Joe, wo man die Kerle denn geschnappt habe, und er sagte: «Genau an der Stelle, wohin du mich gestern geführt hast.» - «Aber dort waren sie gestern nicht», sagte ich. Das wisse er, sagte Joe, doch als Rick dann eine Stunde später kam und ihm die gleiche Geschichte erzählte, sei er der Sache ernsthafter nachgegangen. Er sei zu dem Schluß gekommen, die Gegend dort überwachen zu lassen - und kurz nach Anbruch der Dunkelheit seien die Banditen gekommen und hätten mehrere Fuhren Holz abgeladen. Sie seien vorher noch niemals dort gewesen, aber dies sollte ihr neuer Standort werden, sagte Joe. Wer immer uns von der Sache benachrichtigt hätte, meinte Joe, müsse genau gewußt haben, daß sie diesen Platz bald nutzen würden. Er dankte uns noch einmal überschwenglich, stieg in sein Auto und fuhr davon. Wir beide starrten dem Polizeiwagen nach, noch immer sprachlos über das, was passiert war. Dann aber tanzten wir herum wie zwei Narren, fielen uns in die Arme und gratulierten einander. Wir lachten, bis uns die Seiten schmerzten. Wir hatten nun wirklich nicht mehr viel zu besprechen, aber sofort machten wir kehrt und liefen zurück zum Camp. Jetzt wußte ich, warum Rick nach Hause gehen wollte! Als wir nun erkannten, daß der Geist recht gehabt und wir weiteren Waldfrevel verhindert hatten, konnten wir Großvater entgegentreten — ohne das Gefühl, ihn und uns selbst enttäuscht zu haben. Im Laufschritt flogen wir den Weg zurück zum Camp und gönnten uns keine Atempause. Wir waren viel zu aufgeregt. Dann entdeckten wir, daß wir beide denselben Geist gesehen hatten, obwohl wir uns an weit getrennten Stellen des Waldes befunden hatten. Ich war am Sumpf gewesen, und Rick saß auf dem Hügel. Auch er hatte in seiner Vorstellung die Fichten stürzen sehen, und dann war ihm der Geist erschienen und hatte ihm gesagt, daß ich seine Hilfe brauche. Der Geist hatte ihn sogar zu Joe geführt, allerdings hatte er genau
vorgeschrieben, um welche Zeit Rick dorthin gehen sollte. Rick hatte sich als Versager gefühlt, als Joe ihm erzählte, daß er die Sache bereits überprüft und nichts festgestellt habe. Mich hatte Joe dabei nicht erwähnt. Wir versprachen uns feierlich, einander künftig alles zu sagen, ganz gleich, wie absurd es scheinen mochte - damit solche Dinge nicht wieder passierten. Am späten Nachmittag erreichten wir Großvaters Lager, doch er war nirgends zu finden. So beschlossen wir, uns hinzusetzen und auf seine Rückkehr zu warten noch immer sehr aufgeregt über alles, was uns passiert war. Wie wir dort saßen und redeten, platzte Großvaters Stimme in unser Gespräch: «Der einzige Grund für eure Verlegenheit war, daß ihr glaubtet, versagt zu haben, daß ihr nicht wahrhaben wolltet, was ihr erlebt habt. Ihr habt beide die Kraft der Inneren Vision am Werk gesehen, auch wenn alle stofflichen Beweise dagegen zu sprechen schienen. Aber diesmal konntet ihr die Wahrheit nicht akzeptieren. Laßt ihr euch denn noch immer von eurem körperlichen Bewußtsein vorschreiben, was ihr glauben sollt und was nicht? Ihr müßt doch inzwischen erkannt haben, daß das Herz niemals irrt, sondern nur unsere Deutung dessen, was das Herz uns sagt!» Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr Großvater fort: «Ihr solltet das Weistum der möglichen und der wahrscheinlichen Zukunft suchen. War euch denn nicht klar, daß der Hüter der Wälder euch die Zukunft weissagte, nicht die jetzige Gegenwart? Ihr müßt doch verstanden haben, daß euch ein Weistum aufgetan wurde, das nur wenige je erfahren, geschweige denn glauben werden. Nicht nur habt ihr einen Blick in die Zukunft geworfen, sondern die Zukunft wurde euch von Geistern kundetan. Jetzt, da der Geist euch beiden gedankt hat, erkennt ihr wohl, daß die Trennlinie zwischen Fleisch und Geist sehr schmal geworden ist. Die Dualität eurer Wahrnehmung und eurer Existenz wird nun für euch Wirklichkeit. Der Geist hat euch beide Krieger genannt, weil ihr euch und euren Stolz geopfert habt, um den Wald zu retten. Ein Krieger wird immer als letzter zur Lanze greifen, aber als erster sein Leben hingeben für die Liebe.» Lange und gründlich dachte ich nach - in der Stille, die Großvaters Worte hinterlassen hatte. Ich fühlte mich geehrt, aber auch etwas traurig, weil ich meiner Inneren Vision nicht absolut geglaubt hatte. Wieder hatte ich meinem Verstand die Entscheidung überlassen, was er für wahr halten wollte und was nicht. Ich hatte zugelassen, daß physische Beweise und die jetzige Gegenwart meine Meinung beeinflußten - und damit die Wahrheit der Inneren Vision verzerrten. Hätte ich nur
gewußt, daß der Geist von der Zukunft sprach, dann hätte ich abwarten und Joe an dem Tag benachrichtigen können, als es passierte. Großvater unterbrach meine Grübelei und sagte: «Ihr beide müßt noch Zuhören lernen, bevor ihr nach Hause geht. Erstens müßt ihr lernen, den richtigen Zeitpunkt der möglichen Zukunft zu wählen, und dann müßt ihr anfangen, in der Dualität von Fleisch und Geist zu leben. Erst dann werdet ihr all dies verstehen. Geht jetzt, denn es bleiben euch nur noch zwei Sonnenkreise.» Wir liefen ein Stück gemeinsam, dann ging jeder für sich auf die Suche.
7 Zeitreisen in die Vergangenheit und Zukunft
Ich wanderte zurück in den Sumpf, ein ganzes Stück den Bach hinunter. Mir blieb knapp ein Tag, um die letzte Lektion zu lernen. Ich mußte herausfinden, wie ich der Inneren Vision genau Zeit und Ort in der möglichen Zukunft mitteilen könnte, die ich aufsuchen wollte. In den letzten Tagen hatte ich so viel gelernt, daß ich mir kaum vorstellen konnte, noch mehr zu lernen. Mein Kopf schwappte über von neuem Wissen, und ich war in Gefahr, vieles zu vergessen, was ich schon wußte. Großvater mußte Gründe haben, so viel von uns zu verlangen. Immerhin hatte ich binnen einer Woche mehr gelernt als in den letzten sechs Monaten. Im Dahinwandern dachte ich daran, wie ich früher einmal mit Zeit und Datum meine Schwierigkeiten hatte. Es war Ende des letzten Sommers gewesen, als Rick und ich zum erstenmal die Weisheit des «Schleiers» entdeckten, der, wie wir jetzt wußten, der Eingang zum Ort der Stille war. Großvater hatte mir damals gesagt, daß der Schleier die Geheimnisse des Universums enthülle. In dem Schleier gab es weder Raum noch Zeit, noch einen bestimmten Ort, nur die Reinheit aller Dinge. Damals entdeckte ich, daß ich Schwierigkeiten beim Gebrauch eines bestimmten Jagdgeräts hatte, und so fragte ich Großvater, wie ich es gebrauchen sollte. Er antwortete: «Wenn du wissen willst, wie man eine Fähigkeit gebrauchen soll, dann geh hin und sie zu, wie die Alten es machten. Dann weißt du es aus erster Hand.» Damals fragte ich ihn, wie so etwas möglich wäre. Und ich erinnere mich, wie er lachte und sagte: «Ach, durch den Schleier natürlich! Dort gibt es keine Zeit.» Damals war ich verblüfft über seine Auskunft. War es denn möglich, konnten wir denn mit Hilfe des Schleiers durch die Zeit reisen? Oder war dies wieder eine von Großvaters Koyote-Lehren? Nicht direkt ungläubig, aber doch scherzhaft hatten Rick und ich über die Möglichkeit gesprochen, einen Blick in die Zukunft zu tun. Wir hofften wohl, daß es möglich wäre, doch es schien uns allzu weit hergeholt, um es ganz glauben zu können. Stundenlang malten wir uns kühne Phantasien aus; wir sprachen von Dinosauriern und Menschen der Urzeit, von Mythen und längst vergessenen Geschichten. Schließlich überredeten wir uns doch selbst zum Glauben
und beseitigten viele Zweifel. Wir beschlossen, ein Datum in der Vergangenheit auszusuchen und vor dem Eintreten in den Schleier über dieses Datum zu meditieren. Wir wollten beide das gleiche Datum wählen, damit die Chance bestand, daß wir zum gleichen Datum am gleichen Ort landeten. Wir wählten den 15. Mai 1700, eine Zeit, als die Eingeborenen noch in den Wäldern lebten, vor der Invasion der Weißen. Wir hatten uns einen geeigneten Platz ausgesucht und setzten uns dort, ein paar Meter voneinander entfernt, mit Blick über einen kleinen Sumpf. Stundenlang hatten wir versucht, in den Schleier einzutreten oder an jenes Datum zu denken, aber nichts geschah — bei keinem von uns beiden. Wieder versuchten wir, das Datum durch den Schleier mitzunehmen, doch jedesmal, wenn wir den Schleier berührten, verloren wir das Datum und alle anderen Gedanken. Ich weiß noch, wie ich dann zu Großvater lief und ihn fragte, warum ich nicht mit dem gewünschten Datum unbeschädigt durch den Schleier gelangen könne. Großvater sagte nur: «Erstens brauchst du absoluten Glauben, und zweitens darfst du nicht versuchen, Zeit oder Ort mitzunehmen. Du kannst den Schleier nicht mit irgendwelchem Gepäck durchschreiten. Sage ihm lieber, wohin und in welche Zeit du gehen möchtest, und laß den (allwissenden) Schleier für alles andere sorgen.» Rick und ich waren sehr froh um die Auskunft, die Großvater uns gegeben hatte. Denn wir erinnerten uns, wie schwer es gewesen war, sich beim Eintritt in den Schleier auf das Datum zu konzentrieren. Jetzt brauchten wir kein Gepäck mitzuschleppen, sondern konnten mit lauterem Sinn in den Schleier eintreten. Wir beschlossen, es gleich am nächsten Tag zu versuchen. Es war gegen Ende dieses Tages, als ich kurz vor Sonnenuntergang zum Beten hinausgegangen war. Nicht weit von mir sah ich Rick, der ebenfalls seine Abendandacht und sein Gebet verrichtete. Ich entspannte mich und dachte an Großvaters Worte und versuchte sie in mich aufzunehmen - in allen Einzelheiten, um sie nie mehr zu verlieren. Schon hatte ich ein Weilchen gebetet, dann glitt ich in eine Phase absoluter Gedankenlosigkeit, eine Phase der Meditation. Ich erwachte von Stimmen, die durch den Wald schallten. Das Geräusch erschreckte mich, weil ich es nicht verstand. Ich erinnere mich, wie ich die Augen aufschlug und sah, daß die ganze Landschaft sich so verwandelt hatte, daß ich sie kaum noch wiedererkannte. Riesige Fichten standen dort, wo vorher keine gewesen waren. Die Vegetation war dichter, doch die Konturen des Geländes waren genauso wie immer. Nur ein paar Meter vor mir war ein schmaler, ausgetretener Pfad, den ich nie vorher gesehen
hatte. Wieder hörte ich Stimmen, die näher kamen, und deutliche Schritte, ganz ähnlich wie Großvaters Gang, aber offensichtlich von vielen Menschen. Aus dem dichten Gebüsch, das am Rand des Sumpfes stand, tauchte ein Indianer auf - jung, stark und sehnig. Er trug eine Keule in der Hand und über dem Rücken einen entspannten Langbogen. Bald folgten ihm andere mit federndem Schritt, lächelnd und aufmerksam in die Runde spähend. Viele trugen Bündel im Arm oder auf dem Rücken. Am Ende der Reihe war ein alter Mann aufgetaucht, der etwas gemächlicher ging als die anderen und auf die leiseren Stimmen der Wildnis horchte. Ich wußte sofort, dies war ein Mann von geistiger Macht, und als er auf dem Pfad an mir vorbeiging, nickte er und lächelte mir zu. Die übrigen beachteten mich nicht, denn sie hatten mich nicht gesehen. Noch ein paar andere folgten dem Alten, und ich erinnerte mich lebhaft, daß ganz am Ende ein junges Mädchen ging. Sie trug ein Bündel im Arm und ein noch größeres Bündel auf dem Rücken. An einer Schnur hing von ihrem Rucksack ein kleiner Beerenstößel herab — eine Steinkugel mit einem hölzernen Handgriff. Als das Mädchen am Wegrand stehenblieb und am Stamm eines hohen Baumes hinaufschaute, fiel der Beerenstößel zu Boden und landete am Rand des Pfades. Unwillkürlich rief ich sie an und deutete auf den Beerenstößel, doch niemand beachtete mich oder schien mich zu hören; das heißt, nur der alte Mann hörte mich, der sich umwandte und herüberlächelte. Ich erinnere mich, wie ich auf die Stelle blickte, wo der Stößel heruntergefallen war — und sobald ich eine Bewegung machte, fing die Landschaft an zu schwanken. Es war, als ob alles flimmerte, dann verschwommen wurde und in dunkler Schwärze versank. Ich tat die Augen auf und fand mich an meinem ursprünglichen Platz wieder, und Rick ganz in der Nähe. Die Landschaft war dieselbe, wie ich sie immer schon gekannt hatte. Ich war verblüfft über die Intensität meiner Phantasie oder meines Tagtraums, denn alles war mir so wirklich, so lebendig vorgekommen. Ich lief hinüber zu Rick, doch er rührte sich nicht, als ich näherkam. Er saß da und betrachtete einen großen Baum in der Ferne. Ich mußte lachen und sagte: «Du suchst die Indianer?» Rick aber sah mich kühl an und sagte nur: «Der Beerenstößel.» Mir verging das Lachen, und ich erstarrte. Dann saßen wir lange und sprachen darüber, was jeder von uns gesehen hatte. Bald war uns klar, daß wir beide dasselbe gesehen hatten oder wenigstens den gleichen Traum gehabt hatten. Damals kam es nicht selten vor,
daß wir den gleichen Gedanken hatten, da wir so viel zusammen waren, und wir übten eine Form von Telepathie, die Großvater uns gelehrt hatte. Da beschlossen wir, Großvater von unserem Erlebnis zu erzählen. Beide erzählten wir Großvater sehr ausführlich unsere Geschichte. Wir schilderten die Landschaft, die Indianer, ihre Kleidung, den alten Mann, sogar das Herabfallen des Beerenstößels. Wir sagten ihm auch, daß das Ganze wohl eine Art von Tagtraum sein müsse, den wir beide geträumt hätten, und daß wir ganz begeistert wären, so gut miteinander kommunizieren zu können. Ich hatte erwartet, daß Großvater
uns
sagen würde, wie Zufrieden er mit unserer gemeinsamen
Gedankenverbindung sei, aber statt dessen sagte er: «Geht hin und grabt den Beerenstößel aus.» Rick und ich sahen uns an, beide nicht wenig verwundert über seine Antwort. Ohne weitere Fragen und in großer Eile, weil es bald dunkel wurde, liefen wir zu dem Platz, wo wir den Beerenstößel gesehen hatten. Wir fanden eine längliche, wannenförmige Vertiefung im Boden - vielleicht einmal eine alte Pfadspur. Ich zog eine Linie von dort, wo ich gesessen hatte, zu der Stelle, wo ich den Beerenstößel fallen sah, und Rick zog eine von seinem ursprünglichen Platz. Am Schnittpunkt der beiden Linie begannen wir zu graben. Wir hatten erlebt, als wir die Szene sahen, daß es dort am Weg keine Bäume gab. Aber dort, wo wir graben wollten, stand jetzt eine riesige alte Fichte. Fieberhaft gruben wir bis zum Anbruch der Dunkelheit, fanden aber keinen Beerenstößel. Als wir schon aufgeben wollten, beschieß ich, unter einer großen abgestorbenen Wurzel der Fichte nachzugraben. Mein Grabstock stieß hart und klirrend gegen etwas unter der Wurzel. Es war ein Geräusch, als berührte man mit sondierendem Pflanzstab den Panzer einer Schnappschildkröte, ein Geräusch wie von festem Stein. Schnell scharrte ich die Erde unter der Wurzel weg, und heraus fiel ein Beerenstößel. Er war ordentlich aus einem glatten Flußkiesel gehauen in der Art, wie man es am Delaware River findet. Dies war eindeutig ein Werkzeug, wie die einheimischen Indianer dieser Gegend es einst benutzten und häufig auf ihren Wanderungen zur Bucht und zur Küste mitnahmen. Ich war damals sehr erstaunt, nicht nur, weil ich noch nie ein so großes Werkzeug gefunden hatte, sondern vor allem über die Umstände dieses Fundes. Aufgrund meiner topographischen Kenntnisse wußte ich, daß es in dieser Gegend keine Indianersiedlungen gegeben hatte. Und hier war ein Faustkeil, meilenweit entfernt
von jedem bekannten Lagerplatz. Wir liefen zu Großvater zurück und legten ihm den Beerenstößel auf den Schoß. Er lächelte und sagte: «Warum seid ihr so überrascht? Hat das, was ihr gesehen habt, eure Überzeugungen geändert?» Rick und ich redeten damals bis zum Morgengrauen, abwechselnd unser Fundstück in Händen haltend, während wir uns an jede Einzelheit unseres Erlebnisses zu erinnern versuchten. Unsere aufgeregte Begeisterung erlaubte uns keinen Schlaf. Als unser Gespräch dann mit aufgehender Sonne verebbte, gaben wir uns das feierliche Versprechen, niemandem zu erzählen, wie wir den Keil gefunden hatten. Niemand würde uns glauben oder gar verstehen, denn jenseits des Wildnistempels lebten die Menschen ungläubig in ihrer materiellen Wirklichkeit. Wie ich nun meine Wanderung stromabwärts fortsetzte bis weit in die Nacht, da sah ich ein, daß ich viel gelernt hatte aus dem Erlebnis mit dem Beerenstößel — meiner ersten Reise in die Zeit. Manches, was ich noch nicht verstanden hatte, wurde mir jetzt klar. Jetzt erkannte ich, daß der alte Mann aus der Indianergruppe in der Dualität lebte. Er wandelte in der stofflichen Realität, aber er sah zugleich das Leben im Geist. So kam es, daß er mich dort sitzen sah, was keiner der anderen vermochte. Das hieß aber auch, daß unsere Anwesenheit, wenn wir zurück in andere Zeiten reisten, von spirituellen Menschen wie diesem Alten wahrgenommen werden konnte. Er brauchte anscheinend keine umständliche Technik einzusetzen, um die Kluft zwischen Fleisch und Geist zu überbrücken, sondern dies war für ihn ganz natürlich! Was der alte Mann damals in seiner Zeit und an seinem Ort tat, war im Grunde nichts anderes als eine Geistreise in die Zukunft - genau wie Großvater es uns vor Tagen gelehrt hatte. Jetzt verstand ich auch, daß uns beiden, als wir den Beerenstößel fallen sahen, nicht weniger gelungen war als eine spontane Form der Geist-Reise. Zwar wußten wir in jenem Augenblick nichts davon, doch jetzt kannte ich den Vorgang. Was uns damals unbewußt und zufällig gelungen war, konnte ich jetzt willkürlich tun - vorausgesetzt, daß es nicht meiner Inneren Vision widersprach. Es bedurfte einer selbstlosen Absicht. Nun wußte ich auch, warum die Landschaft geschwankt hatte und dann verschwunden war, als ich die junge Indianerin aufmerksam zu machen versuchte, daß sie ihren Stößel verloren hätte. Denn ich hatte noch nicht gelernt, mich in der Geisterwelt zu bewegen, sondern nur, sie von Ferne zu schauen. Jetzt war mir klar, daß die gleichen Prinzipien, die bei einer Rückkehr in die Zeit galten, auch auf das Vorwärtsgehen in die Zeit - in die mögliche und wahrscheinliche Zukunft - gelten
müßten. Ich wanderte also weiter, und da war noch etwas, was mich beunruhigte. Wohl verstand ich, daß man sich für einen Tag in der Vergangenheit entscheiden und dann in diese Zeit und an diesen Ort gelangen konnte. Doch wie gelangte man in eine Zukunft, die noch nicht gelebt war? Es gab zu viele Möglichkeiten, aus denen man wählen konnte. Nicht nur mußte ich lernen, eine bestimmte Zeit und einen Ort in der Zukunft auszuwählen, sondern ich mußte auch alle Möglichkeiten der Zukunft kennen, um dann eine dieser Möglichkeiten auszuwählen und zu erforschen. Dies alles war so erstaunlich und verwirrend. Ich hatte eine gewisse Ahnung, wie all dies geschehen könnte, aber keinen klaren Weg, es geschehen zu lassen. Es war immer noch eine unbestimmte Theorie - eine Theorie ohne richtige Anweisung. Ich hatte verstanden, daß e j des Ereignis, jeder Gedanke, jede Tat und jedes Lied und jede Kunstfertigkeit der Vergangenheit für alle Zeiten überliefert werden. Manche dieser Überlieferungen waren eindeutiger als andere, und manche schwammen nur ziellos und zufällig im Strom der Zeit. Diese letzteren Überlieferungen waren wie nebensächliche Gedanken, denen die Kraft fehlte, tatsächlich etwas Reales zu bewirken. All dies war so kompliziert, daß mein Verstand überfordert schien - und ich mußte mich setzen und ausruhen. Stundenlang erforschte ich die Weisheit der Inneren Vision, aber es kam keine Antwort. Ich versuchte es mit logischer Vernunft, aber dies führte zu weiteren Fragen und machte alles noch komplizierter. Dann aber überfiel mich plötzlich und ohne Vorwarnung ein überwältigendes Bedürfnis, umzukehren und mit Großvater zu sprechen. Obwohl die Innere Vision mich zwang, ihn aufzusuchen, hatte ich keine Ahnung, was ich ihn eigentlich fragen wollte. Immerhin war ich mir nicht mal sicher, was ich selbst glauben sollte. Sicher war nur, daß ich nun vor einer Mauer stand, einer Schranke, die ich nicht umgehen konnte. Ich mußte Großvater sehen. Vielleicht konnte er mir helfen, diese Mauer zu überwinden. Als ich endlich Großvaters Camp erreichte, traf witzigerweise auch Rick dort ein. Wir schauten uns lange an - und erkannten beide, daß wir gleichzeitig hierher gerufen worden waren; doch keiner von uns wußte den Grund. Es war seltsam, aber wir brauchten kein Wort miteinander zu wechseln, um zu begreifen, daß wir beide vor der gleichen Mauer gestanden hatten. Großvater war nirgends zu sehen, darum setzten wir uns und kamen ins Gespräch. Es war seltsam, daß wir beide die gleiche Erfahrung hatten, die wir «die Mauer» nannten. Beinah gleichzeitig hatten wir beide
auch das Gefühl gehabt, wir müßten Großvater aufsuchen, und doch wußten wir nicht, was wir ihm erzählen, was wir ihn fragen sollten. Es war offenbar da ein größerer Zusammenhang, den wir noch nicht verstanden. Aber wir hatten Vertrauen, daß wir schließlich dort ankommen würden - auch wenn wir nicht wußten, wo dieses dort war. Großvaters Stimme unterbrach unser Gespräch; er sagte, wir sollten uns zu ihm setzen. Er winkte uns zum Feuer heran und sprach: «Ihr habt beide einen Ort in euch erreicht, wo ihr ohne Hilfe nicht weiterzukommen glaubt. Das stimmt nur zum Teil. Denn falls ihr euch unbegrenzt Zeit nehmen könntet, um zu suchen, würdet ihr schließlich einen Weg über diese Mauer finden. Zum Teil ist die Mauer ein Produkt eures logischen Denkens, eurer Unfähigkeit, die Idee der Zukunft mit eurem physischen Bewußtsein zu begreifen. Ihr versteht nicht, wie es ist, wenn etwas noch nicht gelebt wurde - wieso es dennoch in der geistigen Welt existieren kann. Ihr wollt verstehen, wie dies auf physischer Ebene sein kann, bevor ihr es auf spiritueller Ebene verstanden habt. Aber wie ich euch sagte, sind manche Dinge der geistigen Sphären nicht mit dem logischen Verstand, mit dem stofflichen Bewußtsein zu verstehen.» Nach einer Pause fuhr er fort: «In der Geisterwelt existiert der Ort der möglichen Zukunft nicht auf dieselbe Weise wie die Vergangenheit. Die Zukunftsmöglichkeiten sind wie unfertige Gedanken, die ziellos umherschweben; und dennoch enthalten sie eine eigene Energie. Wenn die Ereignisse im Jetzt stärker werden, werden diese Möglichkeiten der Zukunft eindeutiger, sie wirken mit dem Jetzt zusammen, bis sie schließlich zur wahrscheinlichen Zukunft werden und danach zur Realität des Jetzt. Einmal gelebt, werden sie für alle Zeiten in der geistigen Welt überliefert. Was aber in der Zukunft außerdem hätte sein können, wird ebenfalls überliefert, wenn auch nicht so eindeutig. Dies sind die niemals gelebten, höheren Gedanken und Träume der gewöhnlichen Menschen. Sie sind gleichwohl da wie Wegweiser, um uns zu zeigen, was der Mensch hätte werden können.» Großvater machte eine lange Pause, um seine Worte nachwirken zu lassen. Ich verstand alles, was er gesagt hatte - nur begriff ich nicht, woher die Möglichkeiten der Zukunft kamen. Es mußte komplizierter sein als «zwei plus zwei gleich vier». Großvater unterbrach meine Überlegungen und sagte: «Die Zukunftsmöglichkeiten werden aus dem Bewußtsein des Jetzt geboren. Sie sind wie die ungelebten Gedanken der Menschen.
Die Energien des jeweiligen Jetzt bringen diese Möglichkeiten hervor — im Zusammenwirken mit dem gesamten Bewußtsein der Geisterwelt, mit dem Geist, der sich in allen Dingen bewegt, und mit der Weisheit des Schöpfers. Durch diese Möglichkeiten hat der Mensch eine freie Entscheidung. Ohne diese Möglichkeiten hätte er nicht die Freiheit der Wahl. Die Zukunft ist kein Gesetz. Nur Wahlfreiheit und Wandel sind Gesetz. Kümmert euch also nicht darum, wo und wie diese Möglichkeiten der Zukunft existieren, denn euer Herz weiß es, und eure Innere Vision wird euch dorthin führen. Auch wird eure Innere Vision die lautere Absicht kennen. Gebt also euer Bedürfnis auf, mit dem logischen Denken etwas verstehen zu wollen, das man so nicht verstehen kann.» Mit diesen Worten gab Großvater Rick und mir ein Zeichen, wir sollten das Camp verlassen und dorthin zurückkehren, wo wir gewesen waren. Wir gingen also schweigend davon, bis wir an einen Bach kamen, der durch den Sumpf floß. Lange saßen wir dort und dachten nach über alles, was Großvater gesagt hatte. Doch anfangs sprach keiner von uns ein Wort. Beide müßten wir zuerst verstehen, was Großvater uns lehren wollte, bevor wir hoffen durften, es miteinander zu diskutieren. So viele Gedanken flogen mir durch den Kopf, so viele unausgesprochene Fragen, auch wenn ich irgendwie begriff- allerdings auf tieferer Ebene, einer Ebene, die jenseits gewöhnlicher Logik lag. Wie sehr wünschte ich mir, die Möglichkeiten der Zukunft auch logisch zu begreifen, um wenigstens meinen Wissensdurst zu stillen. Aber das konnte nicht sein. Wie oft hatte Großvater gesagt, daß manche Dinge, denen wir in der spirituellen Welt begegnen, sich nicht erklären ließen. Unsere jetzige Situation war ärgerlich, aber ein gutes Beispiel dafür. Ich beschieß weiterzuwandern, immer den Bach entlang. Seltsamerweise empfand ich kein Bedürfnis mehr, viel nachzudenken. Der leidenschaftliche Wunsch, die Möglichkeiten der Zukunft mit meinem logischen Verstand zu begreifen, war verschwunden - und ich fühlte mich erleichtert. Meine innere Vision führte mich; ich konnte nur folgen und brauchte keine Fragen zu stellen. Ich fühlte mich gut beim Dahinwandern, trotz aller Erschöpfung des Körpers. Ich wanderte eigentlich nicht, sondern ließ mich ziellos umhertreiben - und ebenso meine Gedanken. Tief im Innern spürte ich eine Reinigung vor sich gehen, wie ein Prozeß der Läuterung oder Offenbarung. Irgendwie war mir, als sei ich unterwegs auf einer langen Visionssuche, doch es war keine Suche von Körper und Seele, sondern es hatte etwas mit Geistigem zu tun. Irgendwo auf meinem Weg hatte ich mein Ich überwunden, und
jetzt gab es keine Müdigkeit mehr. Es war, als ob etwas mich vorantriebe, eine befreiende l Energie, geschöpft aus unsichtbaren äußeren Kräften. Es war, als sei ich beflügelt vom Geist, der sich in allen Dingen bewegt, jener Lebenskraft, die mich jetzt stärkte. Ich war ein gutes Stück gewandert, die Sonne stand schon hoch am Himmel. Vorbei war jenes unstillbare Bedürfnis zu lernen und zu verstehen. Doch gleichzeitig wußte ich, daß ich zu einem höheren Verstehen geführt wurde. So weit war ich gewandert, daß ich schon den fernen Autoverkehr dröhnen hörte, was mir eindeutig verriet, daß ich mich wieder der Zivilisation näherte. In diesem Augenblick wollte ich der Welt dieser Gesellschaft nicht nahe kommen, aber genau dorthin führte mich meine Innere Vision. Ich konnte mir nicht vorstellen, warum die Innere Vision mich aus der Wildnis hinausführen sollte. Wie kann die Gesellschaft mich etwas über die Zeit und die mögliche Zukunft lehren? Aber vielleicht stand mir mehr bevor als nur ein Ausflug zum Rande der Zivilisation. Ich wußte, mein Hauptziel war nicht, die Welten der möglichen Zukunft zu suchen, sondern zu verstehen, wie Zeit, Ort und Datum mit dem Eingehen in diese Zukunft zusammenhingen. Immerhin war ich schon an Orten der Zukunft gewesen; jetzt sollte ich genau herausfinden, wie ich mich in eine bestimmte Zeit in der Zukunft versetzen und dies irgendwie selbst entscheiden konnte. Dies war, schätze ich, mein Problem hier und jetzt. Noch immer sah ich nicht, wie ich eine bewußte, logische Entscheidung treffen und gleichzeitig diese Entscheidung völlig vom Ich freihalten konnte. Wenn die Innere Vision mich tatsächlich in eine bestimmte mögliche oder wahrscheinliche Zukunft führte, so war dies eine ichlose lautere Absicht, aber dies mit dem Bewußtsein erreichen zu wollen, würde die Sache nur irgendwie verzerren. Dies war die Schwierigkeit, mit der ich zu kämpfen hatte, während ich weiter dem Bachlauf folgte, hinaus in die Zivilisation. Stunden verstrichen, und ich hörte das Dröhnen des Straßenverkehrs immer deutlicher. Der Gestank der Gesellschaft drang bereits in die Reinheit der Wälder. Manchmal wurden diese Gerüche beinah erstickend; sie überdeckten selbst die stärksten Düfte der Natur. Die Tiere schienen wachsamer und unruhiger. Der Wald und die natürliche Ordnung waren aus dem Gleichgewicht. Ich wußte, daß dieser Bach zwei große Autobahnen kreuzte, aber dort standen keine Häuser, denn dieser Teil der Pine Barrens war noch von Siedlungsprojekten verschont geblieben. Schließlich kreuzte der Bach die Autobahnen und ergoß sich in das Marschland der
Bucht, das wieder unberührt war. Zumindest war es ein tröstlicher Gedanke, daß die einzige Art von Zivilisation, der ich begegnen würde, nur aus Schnellstraßen bestünde. Leute, die so schnell reisten, nahmen sich nicht die Zeit, auch nur aus dem Fenster zu schauen. Für sie waren die Wälder am Straßenrand fremd, und sie schienen nichts andres zu wünschen, als sie möglichst schnell hinter sich zu lassen. Endlich kam ich zur ersten breiten Fahrbahn. Wie ein Messer schnitt sie durch den äußeren Rand der Pine Barrens, eine riesige, klaffende und entzündete Wunde im Leib der Erde. An Straßenrändern dehnten sich die üblichen Müllhalden, wo Menschen seit Jahren achtlos ihre Abfälle aus dem Fenster geworfen hatten. Stellenweise bedeckte der Schutt buchstäblich die Erde. Es war wie ein Krebsgeschwür, auswuchernd von der Wunde der Fahrbahn. Noch störender waren die Auspuffgase, die tief in den Wald fluteten und sogar die Rinden der Bäume mit ihrem Gestank infizierten. Die einzige Möglichkeit, auf die andere Straßenseite zu kommen, bestand darin, im Wasser unter der Brücke hindurchzuschwimmen. Denn ein Versuch, die Fahrbahn zu überqueren, wäre Selbstmord gewesen. Ohnehin haßte ich es, Teer unter meinen Füßen zu spüren. So beschloß ich, lieber zu schwimmen als oben hinüberzugehen. Ich bahnte mir einen Weg durch Abfälle aller Art, Autoschrott und Drahtverhau, die ins Wasser geworfen worden waren. Die Pflanzen am Bachufer waren welk und kränklich, ganz anders als am Oberlauf des Bächleins, das durch unser Camp floß. Selbst das Wasser war scharf und ätzend, und stellenweise, besonders über den Wirbeln, schwamm eine schillernde Ölschicht. Wie krank machte mich der Gedanke, daß ein so schöner Fluß von der Gesellschaft vergiftet und beinah vernichtet worden war! Ich wußte, daß die Menschen sich nicht wirklich um die reine Welt der Natur kümmerten. Alles, was dem Fortschritt der Gesellschaft im Wege stand, wurde zerstört, mochte es noch so schön sein. All die Leute auf dieser Straße hatten nur eines im Sinn, eilig woandershin zu rasen, blind für eine der schönsten Wildnisregionen in diesem Land. Es war, als reisten sie von einer Insel der Zivilisation zur anderen und müßten alles dazwischen schnell hinter sich bringen. Ich beschloß, im Wasser zu bleiben, bis ich auch unter der Zweiten Straße hindurch wäre. Die Wildwechsel, denen ich bachabwärts durch den Wald gefolgt war, bestanden nicht mehr. Tiere gab es nicht mehr auf dem Landstreifen zwischen den beiden Straßen, und ein Vorwärtskommen zu Fuß wäre ohne jene Wildwechsel schwierig gewesen. Also schwamm ich lieber und ließ mich die nächsten Meilen
treiben- in dem jetzt dunklen und trüben Wasser. Je weiter ich mich treiben ließ, desto schmutziger und ätzender wurde das Wasser. Müll und Unrat hatten so zugenommen an den Ufern, daß ich fürchten mußte, mich an Glasscherben und scharfen Metallkanten zu verletzen. Es war tatsächlich eine Prüfung, sich durch solche stark verunreinigten Strecken hindurchzuquälen. Oft wollte ich schon aufgeben und ins Camp zurückkehren, doch meine Innere Vision trieb mich weiter bachabwärts. Mir graute vor dem Gedanken, meinen letzten Tag draußen im Wald in einer so verschmutzten Region zu verbringen. Ja, ich fühlte mich sogar betrogen. Unter
der
zweiten
Straße
hindurchzukommen
war
noch
ekelhafter.
Diese
Schnellstraße bestand schon seit Jahrzehnten, und die Müllhalde rundherum sah entsprechend aus. Auf der anderen Straßenseite, teils im Wasser, lagen die Reste eines alten Autowracks, das jemand hier abgekippt hatte. Der Gestank des ölverschmutzten Wassers und der Auspuffgase wurde so stark, daß es mich würgte. Mir war, als badete ich in einem Pfuhl menschlicher Ignoranz. Zum Glück war das Wasser an dieser Stelle des Bachlaufs etwas tiefer, und so konnte ich schwimmen, ohne den Grund zu berühren und Verletzungen zu riskieren. Ich achtete aber darauf, mein Gesicht nicht unterzutauchen - aus Angst, Öl in den Mund zu bekommen. Darum schaute ich mich nach einer Stelle um, wo ich an Land steigen und wieder zu Fuß gehen könnte, nicht nur, um dem widerlichen Wasser zu entkommen, sondern weil ich zu frieren anfing. Endlich, eine Meile bachabwärts, fand ich eine Stelle, wo ich aus dem Wasser steigen konnte. Zwar stank der Bach noch immer nach Müll und Abfällen, doch die Uferstreifen und der Wald dahinter waren wieder saftig grün und voll tierischen Lebens. Bald darauf entdeckte ich einen Wildwechsel, dem ich folgte, und jetzt war das Fortkommen leichter als bisher. Aber selbst hier, weit entfernt von den Schnellstraßen, gab es noch Müll und Ölschlieren, die auf dem Wasser schaukelten. Auch die Tiere schienen das Wasser zu meiden, denn nirgends gab es Tränken am Bach, die sie aufgesucht hätten. Ihre Wasserstellen lagen vielmehr an Rinnsalen und kleinen Quellen, die sich überall am Bachlauf fanden. Hier sogar, meilenweit entfernt von dem Straßensystem, hatte der Mensch in den natürlichen Ablauf des Lebens eingegriffen. Alles hier war verunreinigt durch sein Wirken. Der Wald hörte plötzlich auf, und ich fand mich am Rand eines weiten Marschlandes, an dessen Horizont die Bucht sich dehnte. Wie gut fühlte ich mich hier in der Marsch, denn sie war so voll Leben und herrlicher Pflanzen! Nur im Bach gab es noch den
Müll der menschlichen Zivilisation; alles andere war rein und natürlich. Abgesehen vom fernen Lärm der Motorboote und dem Anblick schimmernder Segel in der Bucht gab es keine Spuren von Zivilisation. Stets hatte ich dieses Marschland geliebt, das so voll Leben war, und jedesmal, wenn ich hierher kam, überfiel mich die Abenteuerlust. Für mich barg diese Marsch viele Geheimnisse und einen Reichtum an Leben. Auch Großvater liebte dies unberührte Gebiet genauso wie wir. Es war immer eine willkommene Abwechslung, die offene Weite der Marsch zu erforschen, sich von Fischen und Muscheln zu nähren und all das zu tun, was die amerikanischen Ureinwohner einstmals taten, wenn sie alljährlich zu den Buchten der Küste wanderten. Lange blieb ich am Waldrand sitzen und schaute hinaus auf die Marsch mit ihren Grasflächen, Rieden und Schilfinseln. Wieder spürte ich meine Erschöpfung, stärker noch als zuvor, und so streckte ich mich aus, um ein Weilchen zu schlafen. Dort in der warmen Sonne und würzigen Meerluft der Bucht versank ich bald in tiefen Schlaf aber der Schlaf sollte nicht lange dauern. Kaum war ich in einen Traum entschwebt, da erwachte ich von einem mächtigen saugenden Geräusch, wie ich es nie zuvor gehört hatte. Sofort fuhr ich auf und schaute mich um, versuchte den Ursprung dieses Geräusches zu finden und meine Schläfrigkeit abzuschütteln. Einen Moment hatte ich jedes Gefühl für Raum und Zeit verloren und wußte nicht, wo ich war. Erst als ich die Bucht sah, fiel mir schlagartig alles ein. Das saugende Geräusch war noch stärker geworden und ließ sogar die Erde beben. Von dort, wo ich saß, konnte ich die Quelle des Lärms nicht erkennen, aber ich wußte, er kam von jenseits eines kleinen Wäldchens, das sich wie eine Landzunge ins Marschland zog. Als ich mich zu dieser Halbinsel vorgearbeitet hatte und mich nun durch dichteren Pflanzenwuchs schob, sah ich die Spitze eines sehr hohen Baukrans. Auf der anderen Seite des Wäldchens angekommen, hielt ich die Luft an so schrecklich war der Anblick dort. Ein riesiges Baggerschiff pumpte das Marschwasser ab und vertiefte den Kanal, indem es hohe Sand- und Schlickwälle aufwarf, wo einst blühendes Marschland gewesen war. Bulldozer wühlten sich durch den Schlamm und schoben Uferböschungen auf. Weiter draußen im Marschland sah ich ein Netz von Straßen und Lagunen, eingekeilt in die Marsch und sogar in die Wälder. Häuser und Docks waren in unterschiedlichen Stadien der Fertigstellung, und der Geruch frischer Asphaltbahnen hing in der Luft. Ich war entsetzt, mir wurde übel von dieser Schlächterei. Alles Leben in der Marsch
war vernichtet, und ich konnte nichts dagegen tun. Ich wollte fliehen vor diesem Zerstörungswahn und rannte davon. Doch nach den ersten Schritten begann die Landschaft zu schwanken, und ich erwachte genau an der Stelle, wo ich mich vorhin ausgestreckt hatte. Dies alles war ein Traum gewesen, furchtbar und tödlich real, aber doch nur ein Traum. Ich seufzte erleichtert auf, denn die Marsch war noch unberührt. Weil mich der Traum aber beunruhigte und ich mich an die Vorkommnisse im Fichtenwald erinnerte, beschieß ich, zu jener Waldinsel hinüberzulaufen, die ich im Traum gesehen hatte. Ich schob mich also durch das Unterholz und trat hinaus auf den jenseitigen Teil der Marsch, wo ich die Bauarbeiten gesehen hatte. Zu meiner Erleichterung war es dort wie immer, reine Unberührtheit, vibrierend vor Leben. Ich war überwältigt vor Freude und mußte weinen. Alles war nur ein Traum gewesen! Ich wollte mich abwenden - blieb aber starr vor Schreck auf der Stelle stehen. Zu meinem Entsetzen entdeckte ich keine drei Meter vor mir eine Landvermesserstange im Boden, mit einem Wimpel an der Spitze. Als ich mich umschaute und herauszufinden suchte, woher sie kam, entdeckte ich noch Hunderte mehr, jede mit einem Wimpel gekennzeichnet. Als ich das ganze Gebiet dann überblickte, erkannte ich deutlich, daß diese Stangen ungefähr das Baugelände absteckten, das ich in meinem Traum gesehen hatte. Obwohl noch keine Bau- oder Baggerarbeiten im Gang waren, war die Struktur künftiger Straßen, Bauplätze und Lagunen deutlich abgezeichnet. Wieder wurde mir übel, als ich erkennen mußte, daß mein Traum ein Schritt in die Zukunft war. Ich konnte diese Zukunft nicht abwenden, alles war ganz legal. Diese Leute wußten offenbar nicht, was das Marschland für laichende Fische und alle möglichen Tiergattungen bedeutete. Für sie war es nur eine riesige Brutstätte der Moskitos - und letztlich ein Platz, wo sie mit ihren Freizeitbooten vor Anker gehen konnten. Ich setzte mich hin, erschüttert und keines Gedankens fähig. Dieses ganze herrliche Marschland würde eines Tages zerstört sein wie so vieles andere. Rick, Großvater und ich würden einen anderen Platz suchen müssen, eine Marsch weiter unten im Süden, für unsere Aufenthalte im Sommer. Wir müßten immer weiter ziehen, bevor wir die Lauterkeit der Natur und die Magie finden konnten, die einst so nah war. Ich wußte ja, etwas weiter nördlich von dort, wo ich saß, befand sich unser Lagerplatz vom letzten Jahr, und nach den Meßlatten der Geodäten zu urteilen, lag er genau in der Mitte des ganzen Projekts. Ich konnte nur noch entsetzt auf die Bescherung starren. Obwohl die Landschaft noch schön und ursprünglich war, markierten die
Stangen den Anfang vom Ende. Nie wieder würde ich in diesem Teil der Wildnis spielen und forschen dürfen. Ach, wäre mir doch noch ein Sommer in dieser Landschaft vergönnt! Dann könnte ich dem Ort zum letztenmal Ehre erweisen. Ich könnte meinen Geist mit diesem Land verschmelzen, so daß es immer ein Teil von mir und immer in meinen Gedanken lebendig bleiben würde. Flüsternd fragte ich mich, fragte eine unsichtbare Kraft dort draußen, wann dies geschähe? Wann würde all diese Schönheit verschwinden? Und wieder schien die Landschaft zu schwanken, als wolle sie antworten auf meine Fragen. Zuerst erschreckte mich das Gefühl, aber dann faszinierten mich diese unmerkliehen Veränderungen, die ich direkt vor mir vor sich gehen sah. Es war, als rollte die Zeit beschleunigt ab, und die Tage flimmerten vorbei wie Blätter eines Buches. Ich sah diesen Frühsommertag, an dem ich hier saß, in die wabernde Hitze des Sommers übergehen, gleich darauf abgelöst vom leuchtenden Spätsommer und frühen Herbst. Die Pflanzen färbten sich braun und verdorrten. Stürme fegten über das Land, und Schnee bedeckte die Erde. Die kleinen Wasserrinnen froren ein und tauten. Es kam der Schnee, der sich wieder verzog, bis die Landschaft sich erneut in frühsommerliches Grün hüllte. Wie faszinierend war dieses Schauspiel — und auch verwirrend! Plötzlich
hörte
ich
das
gleiche
saugende
Geräusch
wie
im
Traum.
Die
Frühlingslandschaft hatte sich in Trubel und Aktivität verwandelt. Bagger, Bulldozer, Lastwagen und Preßlufthämmer - der ganze Wahnsinn hektischer Betriebsamkeit. Und dann, so plötzlich alles begann, schwankte die Landschaft und kehrte abermals zurück zu diesem Raum in der Zeit. Ich war so erschüttert durch mein Erlebnis, daß ich anfangs keinen Gedanken fassen konnte. Ich konnte nur staunen über all das, was ich hatte geschehen sehen. Ich hatte eine Antwort bekommen auf meine Frage, wann dies alles passieren würde. Diese Antwort entsprach auch meiner inneren Vision, und ich wußte, es war die Wahrheit. Trotz der Tatsache, daß ich krank war vor Trauer über die kommende Zerstörung der Marsch, wußte ich ohne Zweifel, daß mir wenigstens noch ein Jahr bleiben sollte, bevor ich all dies aufgeben mußte. Zumindest durfte ich dem Land ein letztes Mal die Ehre erweisen. So begann ich hinauszuwandern in die offene Marsch, indem ich mir einen Weg suchte von Insel zu Insel, und forschte nach dem Lagerplatz, den wir im letzten Sommer benutzt hatten. Es war nicht schwer, unser einstiges Camp zu finden, aber für jeden Außenstehenden hätte der Platz ausgesehen wie die übrige Landschaft.
Kein Zeichen verriet, daß hier Menschen gelagert hatten, denn so verließen wir stets unser Camp. Wie ich vermutet hatte, steckte auch hier eine Meßlatte - genau in der Mitte unseres einstigen Camps, und nach der Farbe des Wimpels zu urteilen, würde hier bald eine Straße hindurchführen. Nun war es spät geworden, und ich mußte aufbrechen zurück zu Großvaters Camp. Doch ich beschloß, noch ein Weilchen an unserem alten Platz sitzenzubleiben und nachzudenken über die Konsequenzen der bevorstehenden Baumaßnahmen. Ich konnte nur hoffen, sie würden nicht die ganze Marsch einbeziehen und die äußeren Ränder unberührt lassen, doch es gab wenig Chancen dafür. Tagträumend stellte ich mir vor, wie dieser Ort in ein paar Jahren aussehen würde. Sobald diese Frage in mein Bewußtsein drang, hörte ich das Motorengeräusch eines Autos und sah mich am Rand einer Straße sitzen. Das Auto raste vorbei, und ich schleppte mich vom Straßenrand fort zu einem kleinen Baum. Wie ich dort stand und mich umschaute, fand ich mich mitten in einem Meer von Häusern, Straßen und Lagunen. Ich war wie gebannt und konnte mich nicht bewegen. Alles war so schnell geschehen, daß ich die Orientierung verlor. Ich hatte keine Ahnung, wo ich mich befand. Eben noch war ich an unserem alten Lagerplatz gewesen, und nun stand ich mitten in einem Siedlungsprojekt. Wie betäubt wanderte ich umher. Nichts machte Sinn. Nun rannte ich los, versuchte mich in den Wald zu retten wie ein Tier, das sich auf einen Parkplatz verirrt hat. Schließlich fand ich Zuflucht im Wald hinter einem der Häuser und lief, so weit ich konnte. Wieder schwankte die Landschaft, aber ich bemerkte es kaum. Ich lief weiter, aber ich spürte, daß etwas sich verändert hatte. Ich blieb stehen, schaute mich um - und alle Bilder des Siedlungsprojekts waren verschwunden. Also beschloß ich, daß ich jetzt genug gesehen hatte, und machte mich auf den Rückweg zu Großvaters Camp, beinah im Laufschritt und auf anderen Wegen. Ich glaubte, schneller voranzukommen, wenn ich dem alten, Indianerpfad durch die Pine Barrens folgte - dem gleichen Pfad, auf dem wir immer das Marschland erreichten. Der Nachteil dieser Route war, daß ich beide Straßen überqueren mußte, aber wenigstens würde ich vor Anbruch der Dunkelheit zurück sein. Ich wollte Großvater viele Fragen stellen, bevor der Tag vorbei war. Morgen wäre keine Gelegenheit mehr, denn ich mußte zu Hause sein, bevor mein Daddy zur Arbeit ging. Mir schwindelte vor Schlafmangel und Furcht, und tausend Fragen schwirrten mir durch den Kopf.
Als ich mich anschickte, die erste Fahrbahn zu überqueren, bemerkte ich eine riesige Reklametafel.
Oben
verkündeten
große
Buchstaben:
«DEMNÄCHST
ERSCHLOSSEN», und darunter war von Künstlerhand eine Feriensiedlung am Rande der Bucht dargestellt. Kein Zweifel, dies war das Bild der Siedlung, aus der ich gerade kam. Es waren die gleichen Häuser, die gleichen Straßen, die gleichen Lagunen. Eine Landkarte zeigte all das, was zerstört werden würde, denn die Ausläufer der Siedlung reichten bis ans Gestade der Bucht. Es würde kein Marschland mehr geben im folgenden Jahr! Ich wollte zu Großvater laufen und ihm erzählen, daß wir die Marsch noch einmal aufsuchen müßten, denn bald wäre sie für immer verloren. Diese Reklametafel gab mir die Gewißheit, daß alles so käme, wie ich es gesehen hatte. Ich hatte nach der Zukunft gefragt, auch das Datum angegeben, und das war die Antwort. Ich hatte mich sehr beeilt, und so erreichte ich Großvaters Camp, als eben das letzte Licht vom Himmel wich. Schon bevor ich mich seinem Lager näherte, wußte ich, daß er mich an seinem heiligen Platz erwartete. Und sofort hieß er mich niedersitzen. Ich brauchte auch gar keine Frage zu stellen, denn er begann zu sprechen und sagte: «Ja, mein Enkel, ich weiß, was dem Marschland bevorsteht. Vor vielen Jahren habe ich die gleiche Vision der möglichen Zukunft empfangen. Jetzt hast du selbst gesehen, daß es die wahrscheinliche Zukunft sein wird - und wir können nichts dagegen tun, wenigstens jetzt noch nicht. Wir werden ins Marschland gehen, wenn du nächste Woche von zu Hause wiederkommst. Wir werden dem Land die Ehre erweisen und es in unserem Herzen bewahren, damit wir seine Schönheit an unsere Enkel weitergeben können. Dieses Land wird für immer in uns lebendig bleiben.» «Aber warum habe ich die Vision dieser wahrscheinlichen Zukunft empfangen? Ich hatte doch keine Absicht - außer meiner Neugier», sagte ich. Großvater antwortete: «Mag sein, daß du keine lautere Absicht hattest, wie du sagst, doch die Stimme deiner Inneren Vision hatte solch eine Absicht. Du hast die erste Vision der möglichen Zukunft empfangen, damit du weißt, daß nur noch ein Sommer bleibt, um dem Land die Ehre zu erweisen, bevor es hingemordet wird. Die zweite Vision dessen, was erst nach vielen Jahre kommen wird, hatte ebenfalls eine Absicht. Das Wissen, was mit diesem Land geschehen soll, wird die Glut in dir anfachen. Der Tod, den dieses Land sterben muß, wird dich lehren, daß du in Zukunft andere Landschaften vor solcher Zerstörung bewahren sollst. Du sollst den Menschen helfen, das empfindliche Gleichgewicht solcher Regionen zu begreifen, denn sie sind
Quelle des Lebens für Buchten und Meere. Die Geisterwelt hat dir einen Blick in die Zukunft gewährt, damit du die Zukunft verändern kannst. Das Opfer dieser Landschaft soll dir als Lehre dienen - als Lehre für alle Zukunft. Das ist die Absicht, ja, das ist deine Absicht.» «Wie kann ich denn verhindern, daß solche Dinge in Zukunft passieren? Die Leute, die dieses Land zerstören, sind sehr mächtig, und ich bin ein Kind», sagte ich. Großvater antwortete: «Man kann auf verschiedene Art etwas bewirken und die mögliche Zukunft verändern. Es ist die gleiche Macht, die wir benötigen, um andere zu heilen. Nur daß wir in diesem Fall die menschliche Dummheit heilen müssen. Man kann durch die physische Realität etwas verändern was aber schwierig und sehr begrenzt ist. Man kann aber auch durch den Geist etwas verändern - durch den Geist, der allmächtig ist und keine Grenzen kennt. Denn die geistige Kraft wird die Veränderung bewirken. Aber, mein Enkel, jetzt mußt du ausruhen. Nutze die kommende Woche, um zu verstehen, was du erfahren hast! Wenn du dann wiederkommst und wir das todgeweihte Marschland besuchen, werde ich dich die Weisheit der geistigen Kraft lehren, der größten Macht auf Erden.» Wortlos und ohne weitere Fragen kroch ich in meine Reisighütte und sank in tiefen, traumlosen Schlaf.
8
Die Kraft des Geistes und ihre Wirkung
Die Woche zu Hause war, gelinde gesagt, ereignislos. Rick und ich begnügten uns damit, in unmittelbarer Umgebung unserer Stadt durch die Wälder zu streifen, doch diese Wälder waren der Zivilisation zu nah, um noch rein und unberührt zu sein. Auch die Natur hatte sich schon verändert, aber was uns betraf, so war dies besser als nichts. Die ganze Woche lang dachte ich ununterbrochen an die vielen Lektionen, die ich über die Innere Vision gelernt hatte, über die Welt der Geister, die Möglichkeiten der Zukunft und vieles andere. Dauernd hing ich meinen Gedanken nach, war in Tagträumen versunken, und meine Familie glaubte bereits, ich sei krank. Dennoch war ich entschlossen, meine Pflichten zu Hause in bester Form zu erfüllen, denn nichts sollte mich daran hindern, eine weitere Woche mit Großvater und Rick in der Wildnis zu verbringen. Nicht nur wollte ich noch einmal das Marschland aufsuchen, sondern ich hatte auch viele Fragen, die einer Antwort bedurften. Obwohl Großvater mehrmals in dieser Zeit auf Besuch kam, hielten Rick und ich uns mit Fragen zurück — besonders mit Fragen zu spirituellen Dingen. In, dieser Zeit zu Hause sprachen Rick und ich oft miteinander, besonders über die spirituellen Erfahrungen der letzten Woche. Seltsamerweise hatten Rick und ich ganz ähnliche Erfahrungen gemacht, was den Zeitpunkt der möglichen Zukunft betraf. Ähnlich wie ich hatte auch Rick in seiner Vision einen Wald gesehen, der von einer Erschließungsgesellschaft zerstört wurde. Er war am selben Tag bachaufwärts gewandert, als auch ich dem Bachlauf hinauf in die Marschen folgte, und dort am Oberlauf sah er ein Baugelände, wo meilenweit der Wald geschlagen worden war. In Wirklichkeit standen die Bäume zwar noch, aber aus der Zeitung hatte Rick erfahren, daß dieses Land tatsächlich eine Baugesellschaft gekauft hatte und daß noch im gleichen Jahr die Bulldozer kommen sollten. Ricks Vision der wahrscheinlichen Zukunft hatte sich bewahrheitet. Also war auch Rick mit der Frage zu Großvater gekommen, was wohl die Absicht seiner Vision gewesen sei, und Großvater sagte ihm ungefähr dasselbe, was er mir gesagt hatte. Rick sollte sich diese Naturzerstörung immer vor Augen halten, damit
er andere Landschaften davor bewahren könne, der Bauspekulation zum Opfer zu fallen. Der drohende Tod dieses Waldes wie auch die Vernichtung meiner Marsch waren eine wertvolle Lektion, die uns wieder einmal die Dummheit des Menschen vorführte, seine gedankenlose Zerstörungswut. Auch mit Rick hatte Großvater, wie ich dann hörte, über die Macht der geistigen Welt gesprochen: davon, wie unsere stoffliche Realität durch den Geist verändert werden könne, denn die spirituelle Welt sei mächtig und frei von den Grenzen des Materiellen. Dies beflügelte unsere Phantasie, und während der Zeit zu Hause hatten wir viel nachzudenken. Dann aber ging auch diese Woche zu Ende, und unsere Vorfreude wurde unerträglich. Der geplante Ausflug ins Marschland war ein Traum, dessen Erfüllung bevorstand, und die Aussicht auf tiefere spirituelle Lehren erschien uns als großes Geschenk. Kaum wollten wir glauben, was wir in so kurzer Zeit lernen durften. Aber zurückblickend wurde uns klar, daß Großvater Jahre gebraucht hatte, um uns an diesen Punkt des Verstehens heranzuführen. So viele Dinge hatten wir gelernt, daß wir sie kaum zu ordnen vermochten. Und so bemühten wir uns stundenlang, unser ganzes Wissen in Form einer kurzen Liste zusammenzufassen. Wir müßten aber feststellen, daß die Gesamtheit unseres Wissens nicht in der Summe seiner Teile lag, sondern in einer umfassenderen und mächtigeren Philosophie, die wir einstweilen noch nicht verstehen konnten. Einen Zwischenfall hatte es während meiner Zeit zu Hause gegeben, der mich wirklich beunruhigte. Ich mußte Großvater in dieser Sache befragen, denn ich befürchtete, ich hätte ein spirituelles (lesetz gebrochen und könnte die Fähigkeit verlieren, mit meiner Inneren Vision zu arbeiten. Meine Mutter und ich waren mit unserem alten Auto zur Stadt gefahren, als dieser Zwischenfall sich zutrug. Die Ampel vor uns sprang auf Grün, und trotzdem hatte ich das unabweisbare Gefühl, wir müßten sofort anhalten. Aber warum, das wußte ich nicht. Ich wußte nur, daß meine Innere Vision sich drängend bemerkbar machte: Ich solle meine Mutter bitten, sofort den Wagen anzuhalten. In meiner Not erzählte ich ihr, mir sei schlecht und ich müsse mich übergeben. Ich fing schon an zu würgen, und sie trat auf die Bremse und fuhr an den Rand - keine fünfzig Meter vor der Ampel, die eben Grün zeigte. Im nächsten Moment kam ein Sattelschlepper mit erhöhtem Tempo auf einer Querstraße angebraust. Mit kreischenden Bremsen schoß er über die Ampel hinaus, mitten auf die Kreuzung, wo er sich querstellte und beide Fahrbahnen blockierte. Zum Glück wurde niemand verletzt, und der Lastzug fuhr weiter. Hätten wir aber nicht angehalten, dann wären wir mitten auf der Kreuzung
gewesen, als der Schlepper das rote Licht überfuhr! Meine Mutter sah mich an und sagte: «Gott sei Dank, daß dir übel geworden ist. Sonst wären wir jetzt tot.» Dabei musterte sie mich argwöhnisch und fragte: «Oder hast du vorausgewußt, daß er kam?» Bislang hatte ich mich gehütet, versehentlich allzuviel über die spirituelle Welt zu verraten, doch nun wurden meine Eltern mißtrauisch, weil ich manchmal Dinge vorhersagen konnte, bevor sie eintrafen. Jetzt machte ich mir Sorgen, ich könnte gegen ein spirituelles Gesetz verstoßen haben, indem ich meine Fähigkeiten verriet und zudem meine Innere Vision benutzte, um meine Mutter und mich zu retten. Ich hatte das sonderbare Gefühl, daß man, wenn man die Innere Vision benutzte, um sich selbst zu helfen, sie irgendwie zu selbstsüchtigen, also falschen Zwecken gebrauchte. Diese Frage konnte nur Großvater beantworten. Schließlich war das Wochenende gekommen, und wir befanden uns unterwegs zu Großvaters Camp. Die letzte Woche hatte sich hingezogen wie ein Monat, auch wenn es kaum sechs Tage gewesen waren. Unsere Vorfreude auf den Ausflug ins Marschland war gewaltig und steigerte sich noch, als wir uns Großvaters Camp näherten. Als wir den Weg erreichten, der zum Lagerplatz in der Marsch führte, sahen wir Großvater am Ufer eines kleinen Süßwassertümpels sitzen. Er hatte sein Camp aufgeschlagen, doch nicht am einstigen Platz, sondern näher am Teich. Wir setzten uns zu Großvater, und sofort begann er zu sprechen: «Mein Enkel», sagte er, «du hast keine schlechte Medizin gemacht, als du die Innere Vision gebrauchtest, um dich und deine Mutter zu retten. Was uns durch die Innere Vision zuteil wird, besonders jene Dinge, die zu uns kommen, ohne daß wir darum bitten, kann nur von lauterer Absicht sein. Auf diese Art warnen die Geisterwelt und der Schöpfer uns vor Gefahren und bevorstehenden Dingen, die uns betreffen. Du mußt aber besser aufpassen, um dein Wissen zu verbergen. Du mußt immer auf der Hut sein und demütig bleiben. Jetzt aber an die Arbeit», schloß Großvater. Ich war sehr erleichtert, und dann waren wir bis zum Abend damit beschäftigt, unser Camp aufzubauen, bis wir schließlich zum Schlafen in unsere Reisighütten krochen, tief erschöpft von den Mühen des Tages. Es tat so gut, sich in den Abgrund des Schlafs zu flüchten. Die nächsten zwei Tage erforschten Rick, Großvater und ich das Marschland. Es war herrlich, die Marsch vibrierte vor Leben, die warmen Sommertage verwöhnten uns mit ihren lebenspendenden Kräften. Wir schwammen jeden Tag in der Bucht, gruben Austern aus dem Sand und sammelten Muscheln und dürres Treibholz. Es war ein
Naturparadies, und nie gab es einen Moment ohne Abenteuer, ohne neue und wunderbare Entdeckungen. Wir freundeten uns sogar mit einem Entenvölkchen an. Anfangs tarnten wir uns mit Schilfgras, schmierten uns Schlamm ins Gesicht und ließen uns wie schwimmende Inseln zu den Vögeln hinübertreiben. Schließlich brauchten wir die Tarnung nicht mehr und konnten nach Belieben mit ihnen umherschwimmen. Wir konnten uns sogar ihren Rastplätzen auf der Sandbank nähern, und sie hoben kaum den Kopf. Am zweiten Tag durften wir ihnen sogar den Rücken streicheln, ohne daß sie aufschreckten, wenn wir die Hand ausstreckten. Wir waren sozusagen vom Volk der Enten adoptiert worden. Nicht nur von den Enten wurden wir akzeptiert, sondern wir lebten im Einklang mit allen Tieren. Wir schwammen mit Schildkröten, sammelten mit Bisamratten unsere Nahrung und konnten die Fische am Bauch kitzeln. Es war tatsächlich ein Paradies, ein vibrierender Lebensquell für die Bucht und das Meer. Hier fanden kleine Fische ihre Nahrung, bis sie herangewachsen waren, um schließlich hinauszuschwimmen ins Meer. Hier stand alles mit allem in engem Zusammenhang - eine Kette, aus der kein Glied herausgebrochen werden durfte, ohne folgenschweres Unheil auszulösen. Während ich in der Sonne spielte und immer wieder im klaren Wasser der Bucht badete, war ich abgelenkt von dem Gedanken an die drohenden Katastrophe, die bald dieses Lebenszentrum heimsuchen sollte. Unendlich schienen die Tage. Wie reich war die Zeit für uns! Wir fühlten uns verwandelt, indem wir Teil dieses Marschlandes wurden; und als Teil der Marsch wurden wir Teil aller Meere und aller Lebewesen der Welt. Dies war der Ort, von dem soviel Leben seinen Ausgang nahm - ein wimmelnder Kindergarten des Lebens, und wir waren akzeptiert und angenommen. Am Morgen des dritten Tages, als ich am äußeren Rand der Marsch saß und die Sonne aufgehen sah, erschreckte mich der Motorenlärm eines näherkommenden Fahrzeugs. Wie alle Tiere dort lief auch ich fort, verbarg mich in einem größeren Rohrkolben-Dickicht und legte mich auf die Lauer, um abzuwarten, was kommen würde. So sehr war ich Teil der Natur geworden, hatte beinah vergessen, daß ich ein Mensch war - ich fühlte mich fast •wie ein Tier. Genau wie die Tiere erschrak ich über das Dröhnen des näherkommenden Motorfahrzeugs. Horchend und ängstlich kauerte ich im Ried und sah den fliehenden Tieren nach. Vögel flatterten auf, Bisamratten tauchten ab in ihre Tunnels unter Wasser, Schildkröten glitten von den Sandbänken, und alle Tiere versteckten sich. Es war, als habe sich eine Giftwolke
über das Land gelegt, und mir schien es, als ob sogar die Pflanzen sich unter ihr duckten. Mehr denn je fühlte ich mich mit der Marsch verbunden, denn jetzt war ich einer ihrer Bewohner, die sich vor dem Lärm des zivilisierten Fortschritts verbargen. Das Motorengeräusch kam vom fernen Waldrand, der das Marschland abgrenzte. Es hörte auf, dann setzte es wieder ein. Jedesmal, wenn es aussetzte, hörte ich eine Kettensäge starten, dann das knirschende Splittern eines Baumstamms und zuletzt den krachenden Sturz auf die Erde. Jedesmal wurde ich wütender und verzweifelter, denn es schien, als würde der Wald selbst vergewaltigt und ermordet. Jedesmal, wenn ein Baum stürzte, reagierten die Tiere der Gegend mit hektischer Unruhe, als sei der Baum ein Teil ihres Lebens und Körpers. Auch mich erfaßte das Entsetzen. Der Wald war eine Barrikade vor der Marsch, und jetzt wurde dieser Schutzwall abgetragen, Stück für Stück, um dem Krebsgeschwür der Gesellschaft Platz zu schaffen und dieses Paradies zu vernichten. Mir würde übel, denn alle Schönheit, die ich in den letzten Tagen erlebt hatte, wurde jetzt besudelt. Vor meinen Augen wurde das Heiligtum zerstört, und ich konnte nichts tun. Ich mußte zuschauen, wie ein Mann die letzten Bäume am Rande des Marschlandes fällte. Kaum lagen sie am Boden, als ein riesiger Lastwagen über die Wiese geholpert kam. Mehrere Männer und eine Frau kletterten heraus und begannen einen Klapptisch aufzustellen. Sie holten Landkarten und anderes Gerät aus dem Wagen und versammelten sich um den Tisch, um wieder das Land im Umkreis überblickend. Ihre Körpersprache war mir leicht verständlich, während sie mit der Hand auf die Bucht deuteten, auf verschiedene Punkte der Marschwiesen. Daher wußte ich, daß sie über einen Schiffskanal sprachen, den sie von der Bucht ins Binnenland bauen wollten, und daß sie sich schlüssig zu werden versuchten, wo die Gebäude stehen sollten. Anschließend wurde geodätisches Gerät herangeschafft, und zwei der Männer und die Frau wanderten über die Maisch, um ihre Geräte aufzustellen und all das zu tun, was Landvermesser eben tun mit solchen Instrumenten. Der ganze Vorgang machte mich wütend. Die Natur kennt keine imaginären Grenzen, die die Erde unterteilen. Nur der Mensch in seiner Habgier muß Dinge trennen, das Land in Parzellen aufteilen, die er dann sein eigen nennen kann. In der Natur gibt es nur natürliche Grenzen wie die Grenze zwischen Land und Meer, zwischen Marschland und Wald, zwischen Bergen. Wäldern und Wüsten. Niemand darf das Land sein eigein nennen, denn das Land ist Eigentum des Schöpfers. Nur
im Herzen kann der Mensch das Land besitzen, und dann auch; mir, wenn er alles andere hingibt, um selbst Teil des Landes zu werden. Nur wenn der Mensch ganz aufgeht im Land, mit dem er lebt, wird er es als sein eigen bezeichnen dürfen. Diese Landvermesser oder Techniker oder was immer sie waren, kannten das Land nicht; denn hätten sie es gekannt, dann hätten sie es nicht zerstören können. Ihre Anwesenheit stieß mich zurück in die rauhe Wirklichkeit der drohenden Zerstörung dieser Marschen. Fast den ganzen Vormittag sah ich sie arbeiten. Eine Ente, die wir «Gimpy» getauft hatten, kam herangewatschelt, hockte sich neben mein Bein und stieß mich immer wieder fragend mit ihrem Schnabel an. Es schien, als wollte sie mich überreden, endlich etwas zu tun gegen diese Schlächterei, die am anderen Ende der Marsch stattfand. Flüsternd und mehr mit mir selbst sprechend als mit Gimpy, erzählte ich ihr, daß ich nichts dagegen tun könne. Ich sei zwar ein Mensch, sagte ich, aber ein ohnmächtiger. Immerhin, so erzählte ich der Ente, hatten diese Leute amtliche Dokumente. Sie waren Besitzer des Landes, und sie besaßen das nötige Geld. Sie konnten sich das Recht herausnehmen, das Land zu töten. Und Menschen wie ich könnten nichts dagegen tun. Das Land sei bedeutungslos für diese Leute. Sie sähen darin nur Geld und Profit — nicht aber die Mutter allen Lebens. Durch ihre Unwissenheit würde nicht nur das Land sterben, sondern auch Buchten und Meere zugrunde gehen. Inzwischen hatten die Landvermesser allerlei Geräte aufgestellt, wie ich noch niemals welche gesehen hatte. Sie schienen eher wissenschaftlichen Zwecken zu dienen als der Bautechnik. Dieser Umstand weckte meine Neugier, und ich begann mich über die Marschwiesen anzuschleichen, um mir die Sache aus der Nähe anzusehen. Zuerst fand ich ausreichend Deckung, so daß ich rasch vorwärts kam. Als ich mich aber dem Standort der Techniker näherte, war die Vegetation spärlicher geworden, und ich mußte mich auf dem Bauch heranrobben. Manchmal mußte ich sogar durch den Schlamm schwimmen, um die nächste Schilfinsel zu erreichen, und bald war ich von Kopf bis Fuß bedeckt von Schilf und Pflanzenteilen. Für die letzten fünfzig Meter bis zu den Leuten dort brauchte ich fast zwei Stunden. Endlich aber war ich so nah herangekommen, daß ich nicht nur ihre Gespräche verstehen, sondern sie beinah berühren konnte. Menschen anzupirschen, das war nicht schwer, denn sie waren so unvorsichtig in der Wildnis. Selbst Jäger und Naturfreunde, obwohl besser als die breite Masse, wußten nichts von den Lebensrhythmen des
Waldes. Mir schien es, als lebten die meisten Menschen in einem Vakuum, gefühllos für alles, was sie umgab. Anfangs, als Rick und ich Pirschen lernten, hatten wir unser Können
an
Menschen
erprobt;
bald
aber
fanden
wir
heraus,
daß
der
Durchschnittsmensch für uns keine Herausforderung war. Meist konnte ich direkt vor die Leute hintreten, ohne daß sie mich sahen. Doch hier in der Marsch wollte ich kein Risiko eingehen. Ohnehin fühlte ich mich inzwischen eher den Tieren verwandt als den Menschen - und diese Lebewesen dort waren Fremdlinge nicht nur im Marschland, sondern auch für mich. Dies wäre eine gute Gelegenheit, dachte ich mir, meine Mitgliedschaft im Verein der Menschheit zu kündigen und künftig ein Tier zu bleiben. Ich wollte einfach nichts mit diesen Lebewesen gemein haben. Meinetwegen hätten sie eben sogut von einem anderen Planeten stammen können. Ohne daß ich es wußte, war Gimpy mir leise den ganzen Weg gefolgt. Fast wäre ich aus der Haut gefahren vor Schreck, als ich ihren Schnabel an meiner Wade knabbern spürte. Zum Glück hatte ich genügend Selbstbeherrschung, erst mal herauszufinden, wer da an mir knabberte. Denn hätte ich eine Bewegung gemacht, dann hätten die Techniker mich unweigerlich bemerkt. Derweil war die Ente unbeirrt auf meinen Rücken geklettert und hatte sich, dort häuslich niedergelassen. Ich versuchte sie abzuschütteln, aber sie war beharrlich und richtete sich anscheinend auf ein langes Nickerchen ein. Na, mochte sie bleiben, dachte ich mir: Als Tier der Wildnis war sie ohnehin bestens getarnt, und auch ich war mit Schlamm und Erde bedeckt und sah aus wie ein Teil der Landschaft. Wir beide waren in Sicherheit, und so beschieß ich, diesen Arbeitstrupp weiterhin beim Aufstellen seiner Geräte zu belauschen und zu beobachten. Bald darauf merkte ich, daß zwei Mitglieder der Gruppe in einen hitzigen Wortwechsel gerieten. Die junge Dame, eine Landkarte in der Hand, stritt sich mit einem der Techniker. Dieser Mann, so vermutete ich, mußte der Boß der ganzen Gruppe sein, denn er trug teure Kleidung und half nicht mit beim Aufstellen der Geräte. Auch sprach er mit Autorität und kommandierte die anderen Arbeiter hin und her, die ihm ohne Widerrede zu gehorchen schienen. Die Dame schaute immer wieder auf die Landkarte und sagte dem Mann, der wie ein Boß aussah, daß die Behauung an dieser Stelle enden müsse — dabei stets über die Marsch deutend. Der Boß schüttelte jedoch den Kopf und redete von notwendiger Wirtschaftlichkeit. Er mußte alles herausholen aus dem Areal, sagte er, und der schmale Landstreifen, den sie verschonen wolle, mache kaum einen Unterschied. Die Auseinandersetzung
zwischen den beiden wogte geräuschvoll hin und her. Manchmal schienen sie sich in einem Punkt zu einigen, meist aber waren sie geteilter Meinung. Derweil versprühte der Boß wie auch alle anderen Männer seines Trupps dauernd Insektengift aus der Dose und schimpfte mächtig über den Schlick-Geruch, die Aasfliegen und die Moskitos. Immer wenn die Frau verlangte, den äußeren Rand der Marsch zu bewahren, sagte der Boß, dies sei doch nur eine Brutstätte für Moskitos, und dieser Schlick-Gestank werde bei seinen Kunden wenig Anklang finden. Sie wandte dagegen ein, daß die Bewahrung des äußeren Marschenstreifens dem Areal einen gewissen Reiz der Ursprünglichkeit verleihen und somit den Käufern das Gefühl geben würde, als lebten sie wirklich am Meeresstrand. Der Streit wurde hitziger, die Standpunkte unversöhnlicher, und so ging es weiter — noch gut eine Stunde lang. Schließlich wurde die Frau ganz böse, feuerte die Landkarte auf den Boden und stapfte direkt zu mir herüber. Mir schlug das Herz bis zum Halse. Ich spürte, wie Gimpy den Kopf hob und erschreckt nach der Frau starrte, die rasch näherkam. Flucht war unmöglich. Ich mußte bleiben, wo ich war, und konnte nur hoffen, sie werde an mir vorbeilaufen und nicht über mich stolpern. Und dann, welch ein Pech, entdeckte sie Gimpy auf meinem Rücken. An ihrer Stimme erkannte ich, daß sie mich noch nicht entdeckt hatte. Für sie war ich nichts als ein Hügel im Schlamm. Ganz langsam ging sie auf Gimpy zu und sprach leise auf das Entchen ein. Ich war überrascht, daß Gimpy sich nicht von der Stelle rührte. Vielmehr blieb sie einfach sitzen, anscheinend beschwichtigt durch die Stimme der Frau. Sie kam bis auf Zentimeter an mich heran, immer noch auf die Ente einredend und ohne zu merken, daß sie auf meinen Fingern stand. Ich versenkte mich an den Ort der Stille, um meinen Atem zu kontrollieren und um den Schmerz ihres Stiefels auf meiner Hand zu vergessen. Die Frau sprach weiter auf Gimpy ein, die jetzt genau auf meinem Hintern stand. Noch immer ahnte die Frau nicht, daß der Hügel, auf dem die Ente saß, tatsächlich ein Mensch war. Sie sagte: «He, kleiner Kumpel du. Ich weiß, du bist traurig, weil wir dein Marschland stehlen wollen. Aber ich will mich bemühen, den äußeren Landstreifen an der Bucht zu retten. Das Problem ist nur, der Eigentümer und Bauherr verlangt das ganze Areal. Nur aus einem Grund wollen diese Leute auch den äußeren Streifen haben: Nämlich um den Geruch von Schlick und Seetang während der Ebbe loszuwerden und um die Moskitos auszurotten. Ihre Kunden begreifen nicht, daß dieses Land ein wichtiger Lebensraum für viele Tiere ist. Ich
versuche mein Bestes zu tun, aber ich bin nur eine angestellte Beraterin, und der Boß braucht nicht auf mich zu hören. Trotzdem will ich sehen, was ich für dich tun kann!» Ohne zu überlegen — und da war es schon zu spät - sagte ich: «Danke.» Die junge Dame fiel rückwärts in den Schlamm und stieß einen markerschütternden Schrei aus, der über die ganze Marsch hallte. Gimpy schwang sich flügelschlagend in die Luft, und ich stand auf, ohne nachzudenken. Dadurch geriet die Frau noch mehr in Panik, sie kreischte wieder und flehte mich an, ihr kein Leid anzutun. Ich muß sonderbar ausgesehen haben, wie ein Ungeheuer der Sümpfe, mit Schlamm bedeckt und in eine äußere Schicht von Reisig und Schilfstreu gehüllt, was mich gewiß noch schrecklicher erscheinen ließ. Ich versuchte die Frau zu beruhigen - aber je länger ich sprach, desto lauter kreischte sie, rückwärts durch den Schlamm kriechend, um sich vor mir zu reiten. Nach langem, gütlichem Zureden beruhigte sie sich ein wenig und brach endlich in hysterisches Lachen aus. Auch ich mußte lachen, und spielerisch warf sie mir dann eine Handvoll Schlamm ins Gesicht. Sie lachte so hemmungslos, daß ihr beihah Tränen über die Wangen kugelten. Ich setzte mich neben sie und erzählte ihr, was ich hier im Marschland machte und daß die Ente tatsächlich eine Freundin war, die hier wohnte. Die junge Frau hörte aufmerksam zu, alles schien sie zu interessieren. Dann sagte sie mir genau dasselbe wie vorhin der Ente, daß sie so gerne den äußeren Rand der Marschen bewahren wolle. Sie heiße Nancy und sei eigentlich von ihrem Großvater hierher geholt worden in die Bucht. Sie hatte am College studiert, und jetzt plante sie, sich hier niederzulassen. Diesen Job als Umwelt-Beraterin hatte sie mit der geheimen Absicht angenommen, doch einen Teil des Landes zu retten. Aber sie mußte zugeben, daß die Eigentümer nichts davon wissen wollten. Nancy war jetzt an dem Punkt angelangt, wo sie ihren Job riskierte, wenn sie sich weiterhin widersetzte. Sie habe schon alle legalen Mittel eingesetzt, um die Bauarbeiten zu verzögern. Aber die Leute begriffen einfach nicht, warum diese Landschaft so wichtig sei. Sie sähen nur Geld und Siedlungsraum. Zwei Männer, die zu dem Arbeitstrupp gehörten, hatten jenseits der Marsch das Geschrei gehört - und jetzt kamen sie in Panik gerannt, weil sie fürchteten, Nancy könnte verletzt sein. Kaum hatten die Arbeiter mich entdeckt, blieben sie stehen. Ja, sie erschraken so sehr, daß einer von ihnen ausglitt und fluchend in den Schlamm stürzte. Endlich kam auch der Boß angestampft, und nachdem er mich von oben bis unten gemustert hatte, begann er mich anzuschreien. Er befahl mir, von seinem Land
zu verschwinden - und fand, ich hätte ein Tracht Prügel verdient, weil ich die junge Dame so erschreckt habe. Dann klaubte er einen Knüppel auf, ein Stück Treibholz, das er jetzt über dem Kopf schwang, während er näherkam. Die Dame versuchte ihn aufzuhalten, sie packte ihn am Arm, als er an ihr vorbeiging. Er aber stieß sie beiseite, und sie fiel platschend in den Schlamm. Der Mann kam immer näher, wütend und angriffslustiger noch als vorhin, während sich eine Flut von Flüchen und Schimpfwörtern aus seinem Mund ergoß. Als ich Nancy rückwärts in den Schlamm stürzen sah, wurde ich wütend. Ich war nur ein kleiner Junge, halb so groß wie der Boß, aber ich wußte mich zu behaupten. Großvater hatte mich vor langer Zeit die Kampftechnik des Vielfraß gelehrt, und ich konnte es leicht mit diesem Mann aufnehmen. Er war übergewichtig und untrainiert und rang keuchend nach Atem, während er sich auf mich stürzte. Er war verblüfft, als ich meinen Platz behauptete. Doch als er hörte, wie seine Männer über ihn lachten, führte er einen Schlag gegen meinen Oberkörper. Ich konnte mit Leichtigkeit ausweichen, und der Schwung seiner Bewegung warf ihn fast aus dem Gleichgewicht. Wieder holte er aus, diesmal gegen die Beine, und noch wütender jetzt, weil sein erster Schlag fehlgegangen war. Wieder konnte ich leicht ausweichen, und diesmal warf die aggressive Wucht seines Angriffs ihn auf die Knie. Schäumend vor Wut, versuchte er mich am Kopf zu treffen. Ich aber verlor die Geduld mit ihm, denn jetzt versuchte er mich ernstlich zu verletzen. Das Tier in mir bäumte sich auf, ich parierte den Stock, packte den Mann am Arm und warf ihn über die Schulter - in ein tiefes Schlammloch hinter mir. Diesen Selbstverteidigungsgriff hatten wir so oft geübt, daß ich nicht nachzudenken brauchte. Der Boß flog mit dem Kopf voran in den Tümpel und versank bis über die Hüften. Jetzt hielt ich den Stock in der Hand, und als einer der Männer mich angreifen wollte, schleuderte ich das Stück Holz und traf den Kerl unter den Knien, was ihn bäuchlings in den Schlamm schickte. Der andere Mann wich mit ausgestreckten Händen zurück, mit einer beschwörenden Geste, als wolle er nichts mit dem Kampf zu tun haben. Nancy saß im Schlamm und grinste nur. Der Boß befahl seinen Männern jetzt fluchend, mich einzufangen. Ich glitt aber lautlos in den Schlamm
und
verschwand
in
der
Marsch.
Mein
rasches
und
müheloses
Verschwinden brachte den Mann erst recht in Rage, und aus der Ferne noch hörte ich Nancy schadenfroh kichern. Der Boß und zwei seiner Arbeiter suchten wohl eine gute Stunde nach mir, bevor sie
aufgaben und zu ihrem Auto zurückkehrten. Ich sah sie davonfahren und wußte, daß der Boß wirklich wütend und beschämt war, weil ihn ein kleiner Jungen besiegt hatte. Und erst recht, weil ich so leicht entkommen konnte. Nancys Job war nach diesen Ereignissen sicher ein Ding der Unmöglichkeit geworden. Es würde ihr nicht mehr möglich sein, den äußeren Rand der Marsch zu retten. Dieser Boß schien nicht bereit, noch eine weitere Schlacht zu verlieren. Und während ich die Sonne untergehen sah, begann ich den Mann zu hassen - und alles, wofür er einstand. Ich haßte seine Habgier, seine Dummheit und seine Arroganz. Er verkörperte alles, war mir verhaßt war an der Gesellschaft, und je länger ich darüber nachdachte, desto wütender wurde ich. Diesen belanglosen Kampf hatte ich gewonnen, doch er würde den größeren und wichtigeren gewinnen. Er würde die ganze Landschaft zerstören, nur aus Dummheit und Habgier. Während ich aber solchen Haß auf den Mann verspürte, fühlte ich mich auch schuldig. Großvater, der uns die Kampftechnik eines Vielfraß-Kriegers lehrte, hatte uns auch ermahnt, daß ein wahrer Krieger immer als letzter zur Lanze greift. Ein Krieger, so hatte Großvater uns gelehrt, mußte alle Möglichkeiten ausschöpfen, um den Kampf zu vermeiden. Nur als letztes Mittel durfte er den tödlichen Schlag des Vielfraß führen. Ich aber hatte nicht versucht zu verhandeln; ich war nicht dem Weg des Herzens gefolgt, sondern der bösen Medizin des Hasses. Ich hatte zugeschlagen und einen Mann durch Zorn und Haß gedemütigt. Dies waren nicht die Tugenden eines Kriegers, und ich wußte, daß ich mehr Schaden als Gutes bewirkt hatte. Ich hatte Wut und Aggression mit Wut und Aggression beantwortet, und in solch einem Fall kann keiner gewinnen. Mir war klar, daß ich versagt und Großvater verraten hatte; daß ich mich seines Vertrauens nicht würdig erwiesen hatte, indem ich die Kunst eines Kriegers mißbrauchte. Wie oft war ich in der Schule vor einem Gegner zurückgewichen, nur um dem Weg des Kriegers zu folgen. Nun aber hatte ich gegen dieses geheiligte Gesetz verstoßen. Ich mußte Großvater finden und ihm erzählen, was mir passiert war. Großvater lag abseits von seinem Camp und starrte hinauf in den leuchtenden Sternenhimmel. Er wartete nicht, bis ich das Wort an ihn richtete, sondern sprach unvermittelt: «Ich habe die ganze Szene gesehen.» Dann schwieg er, und mir wurde so klamm im Magen, daß ich mich fast übergeben hätte. Obwohl seine Stimme nicht vorwurfsvoll oder böse klang, machte ich mir doch Sorgen, was er von dem, was er gesehen hatte, nun halten mochte. Endlich sagte er: «Du hast keinen Fehler
gemacht, mein Enkel, denn du wärst schlimm verletzt worden, Der Mann hätte nicht auf dich gehört, auch wenn du versucht hättest, vernünftig mit ihm zu verhandeln. Seine Vernunft wurde von seinem Zorn beherrscht. Auch du hast den Fehler begangen, dein Herz durch deinen Zorn beherrschen zu lassen. Es war nicht unrecht von dir, ihm die Waffe zu nehmen. Sehr unrecht aber war dein Haß, der darauf folgte. Wie oft habe ich dir gesagt, du mußt alle Lebewesen lieben, auch Menschen und Situationen, die du normalerweise hassen würdest.» Großvater machte eine Pause, und ich hing im Stillen meinen Gedanken nach. Wie schwer war es doch, jemanden zu lieben, der für all das Böse verantwortlich war, das ich ablehnte. Doch solchem Haß mit Haß zu begegnen, konnte nur die Macht des Verhalten stärken. Wenn Liebe den Haß ersetzte, dann gab es Hoffnung. Dies war leichter gesagt als getan, besonders im Umgang mit einem so starken Gefühl wie dem Haß. Wieder sprach Großvater und sagte: «Ich weiß, mein Enkel, daß Lieben manchmal schwerfällt. Dieser Mann ist von Habgier beherrscht, und er wird bald diesen Ort zerstören, den wir so lieben. Aber eigentlich trägt nicht er die Schuld. Du mußt die Sache auch von »einer Seite betrachten, um ihn zu verstehen und ihn schließlich im Herzen zu lieben. Er ist von den Werten dieser Gesellschaft beherrscht und weiß nicht, was er dem Land wirklich antut. Seine Unwissenheit ist es, die ihn antreibt und ihn hassenswert macht. Du sollst aber den Mann nicht hassen, sondern seine Unwissenheit korrigieren.» Wieder entstand eine Pause, während Großvater mir Zeit ließ, alles aufzunehmen, was er gesagt hatte. Jetzt erkannte ich, daß es wahrscheinlich nicht die alleinige Schuld dieses Mannes war. Er war nichts andres als das Produkt dieser Gesellschaft, die das Land nur als Profitquelle sieht. Auch die Gesellschaft hatte nicht ausschließlich Schuld, denn bislang hatte noch niemand versucht, die breiten Massen die Wahrheit zu lehren. Doch die moderne Gesellschaft, so fand ich, ist eine starke Bestie; man mußte sehr stark sein und große Geldsummen einsetzen, um jeden zu erreichen. Auch war es jetzt zu spät, das Marschland noch zu retten. Und wie der Boß sich benahm, schien es unmöglich, seine Haltung zu ändern. Für mich gab es keine Hoffnung mehr, auch nur einen kleinen Teil des Areals zu retten. Nancy hatte es schließlich versucht, und sie war gescheitert. Immerhin hatte sie diese Dinge am College studiert. Je mehr ich darüber nachdachte, desto hoffnungsloser erschien mir die ganze Sache. Großvaters Stimme unterbrach wieder mein Grübeln, und er sagte: «Nichts ist
hoffnungslos. Du fragst dich, wie wir die Haltung und Überzeugung dieses Menschen ändern können, der das Land zerstören will. Du hast recht, wir sind machtlos - nach den Maßstäben dieser Gesellschaft; nur durch Logik und materielle Argumente wird er sich niemals ändern. Es gibt aber, mein Enkel, ein anderes Mittel - ein Mittel, das machtvoll und grenzenlos ist. Das ist die Macht des Geistes. Wenn dieser Mann durch das stoffliche Bewußtsein nicht erreicht werden kann, so ist er vielleicht erreichbar durch den Geist. Es ist ähnlich wie eine Geistheilung durch die Macht des Geistes, nur daß wir jetzt die Dummheit der Seele zu heilen versuchen und nicht den Leib. Solange uns aber nicht befohlen ist, die Macht des Geistes einzusetzen, können wir nichts unternehmen. Doch jetzt, mein Enkel, mußt du schlafen. Morgen bei Aufgang der Sonne müssen •wir diesem Marschland die Ehre erweisen, wie wir es dem Geist des Landes gelobt haben.» Lange konnte ich nicht einschlafen. Alles, was Großvater mir gesagt hatte, wirbelte mir durch den Kopf. Bis dahin hatte ich nicht glauben wollen, daß dieser Boß irgendwie zu erreichen sei. Jetzt sagte mir Großvater, daß es wohl ein höheres Mittel gäbe als alle Mittel des körperlichen Bewußtseins. Ich wußte, die Geisterwelt kannte keine Grenzen, und doch verstand ich nicht, wie ihre Macht dazu dienen konnte, jemanden zu erreichen, jemanden zu heilen, der nicht einmal die Erde verstand, geschweige denn die Welt des Geistes. Die Aussicht verblüffte mich, aber sie faszinierte mich auch. Wo es keine Hoffnung mehr gab, hatte Großvater mir neue Hoffnung geschenkt. Nachdem ich alle Gedanken an diesen Mann beiseite geschoben hatte, stellte ich mir vor, wie wir am ändern Morgen diesem Land die Ehre erweisen würden - wahrscheinlich zum letzten Mal. Ach, welch ein Verlust! Mit Tränen in den Augen schlief ich endlich ein. Es war noch dunkel, als Großvater Rick und mich weckte. Wir brachen gleich auf und begaben uns zum Mittelpunkt des Areals, wobei wir uns einen Weg zwischen Rinnsalen und Schlammlöchern bahnen müßten. Als wir endlich im Mittelpunkt der Marsch anlangten, verkündete ein heller Streifen am Horizont die nahe Dämmerung. Wir standen da und harrten der .mischenden Sonne. Großvater, hoch aufgerichtet vor seinem Schöpfer, begann die Gebete zu sprechen, während Rick und ich andächtig den Kopf neigten. Obwohl ich nur wenig von Großvaters Sprache verstand, wußte ich, daß er Gott dankte für dieses Lind, für das Wasser und für den Sonnenaufgang. Und während die Sonne am Horizont aufstieg, verweilten wir im stillen Gebet. Großvater begann seine kleine Trommel leise zu schlagen. Dann
wurden Lob- und Preislieder gesungen, gefolgt von Hymnen des Dankes und der Freude. Die ganze ehrende Zeremonie war sehr schön, aber auch sehr traurig. Es war wie ein Lebewohl an einen alten, vertrauten Freund — ein Freund, der seinen letzten Weg in den Tod antreten sollte. Ich weinte wie ein Kind, Rick weinte, und auch Großvaters Augen waren von Tränen gerötet. Nur mit Mühe konnte ich den Haß niederkämpfen, den ich auf jene empfand, die diesen Ort vernichten wollten. Endlich, als die Gebete gesprochen waren und die Sonne hoch um Himmel stand, hörte Großvater auf zu trommeln, und die Zeremonie war beendet. Nun wußten wir, daß dieses Land immer m unseren Herzen und unseren Gedanken lebendig sein würde. Nur taten mir die Kinder nach uns leid, die niemals die Kraft dieser Landschaft kennenlernen sollten. Da gelobte ich, daß ich eines Tages die Geschichte dieser Marschen, dieses Tempels der Schöpfung erzählen würde. Langsam drehte Großvater sich herum und schaute zum fernen Rand der Marschen hinüber, zur Waldgrenze. Dann lächelte er, als wolle er jemanden willkommen heißen. Überrascht fuhr ich herum; ich spähte in die Richtung, in die Großvater grüßend genickt hatte — und anfangs dachte ich, ich sähe Geister. Zu meiner großen Verwunderung stand dort in der Ferne ganz deutlich der Boß, der uns beobachtete. Auch er winkte Großvater zu, dann verschwand er im Wald. Nun wandte sich Großvater an uns beide und sagte — mit einer Stimme, aus der absolutes Vertrauen sprach: «Der äußere Rand des Marschlandes wird gerettet werden.» Damit drehte er sich um und ging in sein Camp. Lange saß ich, in Schweigen vertieft. Auch Rick hatte sich entfernt, und zum erstenmal an diesem Morgen war ich allein. Ich konnte nicht glauben, was Großvater gesagt hatte. Wie konnte er es wissen, besonders mit solcher Zuversicht, daß der Rand der Marschen bewahrt werden würde? Er hatte den Boß nie persönlich kennengelernt und konnte nicht viel von ihm wissen. Und doch schimmerte aus seinen wenigen Worten eine Vertrautheit mit diesem Mann, als ob er ihn dennoch kannte; auch wenn es mir völlig unbegreiflich war. Noch mehr aber beschäftigte mich die Frage, warum dieser Mann so früh morgens ins Marschland herausgekommen war. Es überraschte mich nicht, daß Großvater wußte, er würde kommen. Doch was mich wirklich überraschte, war dies Einverständnis zwischen Großvater und dem Mann. Ich beschloß, zum Waldrand hinüberzulaufen und nachzusehen, was ich über den Aufenthalt des Mannes dort herausfinden könnte. Ich kam zu dem Platz, wo der Boß in der Morgenfrühe gestanden hatte. Die Sonne
stand bereits hoch am Himmel, doch hier war kein Mensch zu sehen. Keine Spur von der Mannschaft und ihrem Boß! Ich bildete mir schon ein, daß es gar nicht der Boß gewesen sei, den ich am Morgen gesehen hatte, sondern sein Geist. Aber ich wußte nicht, wie das zugehen sollte. Nach längerem Suchen fand ich endlich die Spuren des Mannes - Spuren von stofflicher Realität, also kein Geist! Seltsamerweise waren die Spuren noch vor dem ersten Morgenlicht entstanden, wahrscheinlich zur selben Zeit, als wir den Mittelpunkt der Marschen erreichten, um für das Land zu beten. Ich folgte der Spur bis hinaus zu dem Platz, wo sein Lastwagen an diesem Morgen geparkt hatte, und stellte fest, daß er mit hohem Tempo hierher gefahren sein mußte, mit einer Vollbremsung aus dem Wagen springend, dann aber ganz gemächlich zum Waldrand schlendernd, wo er mehr als zwei Stunden gestanden hatte. Das ganze Szenario erzählte von einem Mann, der wie getrieben hierher geeilt war, offenbar in größter Eile. Gewiß war er nicht zum Spazierengehen gekommen, sondern offensichtlich in einer Mission. Eigenartig, wie früh und wie eilig er hierher gekommen war; trotzdem hatte er am Waldrand alle Eile vergessen und einfach dagestanden! Nichts deutete daraufhin, daß er etwas anderes getan hätte, als herzukommen, zu schauen, und dann wieder fortzufahren. Auch verriet nichts seine Wut, die ihn am Vortag beherrscht hatte; vielmehr wirkte er sehr freundlich, als er Großvaters Gruß erwiderte. Ich begann schon zu ahnen, daß Großvater etwas damit zu tun hatte! Aber was — und wie? Einen guten Teil des Tages verbrachte ich damit, forschend durchs Marschland zu streifen, besonders durch den Teil am Gestade der Bucht. Dies war die Stelle, um die der Streit ausgebrochen war. Und dieser Teil, sagte Großvater, würde gerettet werden. Jetzt sah ich auch, warum es für Nancy so wichtig war, gerade dies äußere Areal zu retten, denn hier in den saftigen Marschwiesen zwischen den Schilfstauden wimmelte es förmlich vor Leben. Hier tummelten sich Schwärme von jungen Fischen im Wasser der Priele, hier gab es riesige Kolonien von Seevögeln und anderen Tiergattungen. Wenn dieser Teil der Marsch erhalten blieb, dann waren zahlreiche Lebensformen gerettet, und die Zerstörung der Binnenmarsch wäre nicht so verheerend. Unter allen Gebieten der Marsch, die ich besucht hatte, war dieses Randgebiet das aufregendste; es bot Abenteuer und reiche Möglichkeiten der Erforschung. Es wurde sogleich mein Lieblingsplatz. Ein Weilchen blieb ich am Ufer liegen, die Augen geschlossen und ganz entspannt. Die würzige Seeluft der Marsch, das Rauschen der Wellen, die Vogelrufe und die
Intensität der Nachmittagssonne wirkten fast berauschend auf mich. Welch ursprüngliches Lebensgefühl war es doch, einfach hier zu sitzen! Sogar die Pfeilkrabben waren Boten der Urzeit, die einem unergründlichen Schöpfungsmorgen entstammten. Hier war es, wo alles Leben einst begonnen haben mochte; hier, an den Küsten der Buchten und Meere, der Großmutter allen Lebens. Friede und Reinheit erfaßten mein Bewußtsein, als habe die Intensität des Augenblicks alle Sorgen von mir abgestreift. Noch immer fürchtete ich um dieses schöne Land, aber ich haßte nicht mehr den Boß, besonders nach der Begegnung an diesem Morgen. Irgend etwas in mir hatte sich verändert, und es war gut. Ich wäre vollauf zufrieden gewesen, wenn ich im ganzen Leben nur einmal diesen einen Nachmittag hier liegen durfte. Auch dann würde die Marsch in meine Seele eindringen und immer ein Teil von mir bleiben. Meine Tagträumerei wurde plötzlich gestört, als ich Stimmen hörte. Ich drehte mich vorsichtig auf den Bauch und spähte über die Marsch in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Wieder war dieser Arbeitstrupp gekommen, Nancy und auch der Boß, und sie taten dasselbe, was sie tags zuvor getan hatten. Diesmal gab es keinen Streit, wie ich sah, sondern Nancy und der Boß schienen gut zusammenzuarbeiten. Lachen hatte die dauernden Sticheleien von gestern abgelöst. Ich war verwundert, aber auch leicht beklommen, weil ich mir keine Wiederholung des Kampfes wünschte, den ich bestanden hatte. Noch immer fürchtete ich den Jähzorn des Mannes; immerhin hatte sich eigentlich nichts geändert. So beschloß ich, an Ort und Stelle zu bleiben und mich nicht zu rühren, bis sie fortgingen — oder notfalls, bis die Dunkelheit mir Deckung böte. Dann würde ich davonschleichen, ohne entdeckt zu werden. Es war besser so, vor allem im Sinne des wahren Kriegers, nicht den Kampf zu suchen, sondern ihn zu fliehen. Der Nachmittag zog sich hin, und es wurde heißer. Aber die Mannschaft arbeitete weiter. Meist blieben sie nah beisammen, sie zogen hierhin und dorthin, entfernten sich aber niemals weit von meinem Versteck. Schließlich am Spätnachmittag kamen sie dorthin, wo ich im Schilf lag, und wollten wahrscheinlich auf direktem Weg zum Strand der Bucht hinuntergehen. Gewiß würde ich entdeckt werden, dachte ich, darum glitt ich ins Wasser hinaus, schob mich am Rand des Dickichts zu einem Kanal und schwamm lautlos zurück zu meinem Lagerplatz. Und wieder fühlte ich mich wie ein Tier, als ich dem Arbeitstrupp so leicht entschlüpfte. Großvater sagte manchmal, daß der Verfolgte immer im Vorteil ist, und diese Gelegenheit zeigte,
warum das stimmt. Ich schwamm weiter den Priel entlang und bemühte mich, kein Geräusch und keine Wellen zu machen. Irgendwann war ich keine zwei Meter von diesen Leuten entfernt, doch nach den Stimmen zu urteilen, hatte mich keiner bemerkt. Auch gelang es mir, die Vögel und andere Tiere am Ufer nicht aufzuscheuchen. Während ich weiterglitt, fast wie ein Alligator, hörte ich die Stimmen der Leute immer weiter hinter mir. Jetzt in Sicherheit, kroch ich ans Ufer - und blickte direkt auf zwei menschliche Füße. Ich ließ mich zurück in den Priel fallen und ging in Verteidigungsstellung, als Nancy schallend lachte: «Na, endlich hab ich's dir heimgezahlt», sagte sie. «Jetzt bist du an der Reihe, vor Schreck rückwärts in den Schlamm zu fallen.» Ich konnte es gar nicht fassen, daß ich sie, wie sie dort am Ufer saß, übersehen hatte. Das war dumm von mir, denn solcher Mangel an Aufmerksamkeit hätte zu anderer Zeit und an anderem Ort gefährlich sein können. Ich hatte geglaubt, sie wären alle unten am Strand der Bucht, aber ich hatte mich getäuscht. Es war mir direkt peinlich, daß ein menschliches Wesen mich so leicht entdeckt hatte. Es war demütigend, kein Zweifel. Rick und Großvater würden sich schieflachen, wenn ich es ihnen erzählte. Ich spülte den Schlamm ab, spähte mißtrauisch nach dem Arbeitstrupp in der Ferne und kroch wieder die Uferböschung hinauf. Ich war noch ein wenig verlegen, als ich mich zu Nancy ins Gras setzte, aber dann müßten wir beide lachen. Bald darauf begann sie, über das Marschland zu sprechen - diesmal aber mit großer Hoffnung in der Stimme. Sie erzählte mir, daß der Boß — er hieß Bill — beschlossen hatte, die äußere Marsch nicht zu zerstören. Ja, sie erzählte mir, daß er noch mehr bewahren wollte, als sie verlangt hatte, und daß dieses unberührte Land so ins Kataster eingetragen werden sollte, daß niemand dort jemals ein Haus bauen durfte. Es sollte für immer ein Reservat bleiben. Und dann sagte Nancy: «Ich weiß nicht, was mit ihm geschehen ist. Es ist wie eine Bekehrung, ein Wunder! Gestern noch wollte er alles haben, und heute, besonders nach seinem Ausflug in die Marsch heute morgen, will er einen Großteil des Landes bewahren. Er selbst erwähnte, daß er in der Nacht einen Traum gehabt habe, in dem ihm ein alter Indianer erschienen sei und ihn gebeten habe, das Land zu retten.» Ich war sprachlos vor Staunen — nicht nur, weil es die beste Nachricht war, die ich seit Tagen gehört hatte, sondern weil ich verdammt genau wußte, wer dieser Indianer in seinem Traum war. Die äußere Marsch -würde gerettet werden, und das
war die Hauptsache! Wirklich ein Wunder. Ich war so glücklich und aufgeregt, daß ich aufsprang und einen Freudenschrei ausstieß. Und dann weiß ich nur noch, daß Nancy und ich uns wie Kinder im Schlamm wälzten. Wir lachten jubelnde Tränen. Plötzlich aber hörten wir Bills Stimme, und als ich erschrocken aufblickte, sah ich ihn stehen — kaum einen Meter von uns entfernt. Ich erstarrte vor Schreck und vor Befangenheit, denn wieder spürte ich, wie das Tier sich in mir regte. Im nächsten Moment aber hechtete Bill zu uns in den Priel und kugelte durch den Schlamm, juchzend wie ein Kind. Am Schluß waren wir ganz erschöpft, alle drei waren wir schlammverkrustet, und dann zeigte ich den anderen, wie man sich abwaschen konnte, ohne sich wieder schmutzig zu machen, wenn man ans Ufer stieg. Während wir in der Sonne saßen und uns wärmen und trocknen ließen, sah ich verblüfft, wie Gimpy, die Ente, über den Priel zu uns herübergeschwommen kam. Sie watschelte ans Ufer, kam zu mir her und ließ sich vor meinen Füßen nieder. Ich hob sie vorsichtig auf und setzte sie auf den Schoß. Als ich den Kopf hob und Bill ansah, schaute er ganz verwundert. Auch wenn wir noch kein Wort über die Rettung der Marsch gesprochen hatten und keiner sich für die gestrige Rauferei entschuldigt hatte, bestand ein gewisses Einvernehmen zwischen uns. Ich sah ihm lange in die Augen, dann nahm ich Gimpy und setzte sie Bill auf den Schoß. Staunend streichelte er die Ente. Ich sah ihn an, stand auf und sagte: «Auch sie ist eine von denen, die Sie retten werden.» Ich deutete auf die Ente und entfernte mich rasch. «Sag dem alten , ich lasse ihn herzlich grüßen», rief Bill, und dann verschwand ich im Priel und schwamm lautlos davon. Auf meinem Rückweg zu Großvaters Camp schwirrten mir tausend Fragen durch den Kopf. Ich wußte jetzt ohne Zweifel, daß Großvater eine wichtige Rolle bei diesem Wunder gespielt hatte, Doch wie war es ihm gelungen, eine so plötzliche und wunderbare Veränderung bei dem Mann zu bewirken? Im Grunde hatte Großvater irgendwie sein Herz erreicht, und folglich war das Marschland gerettet. Nicht nur dies hatte Großvater geschafft, sondern er hatte ihn auch an diesem Morgen zum Rande der Marsch geführt. So außer mir war ich vor Freude über die Rettung der äußeren Marsch und über das Wunder, das mit Bill geschehen war, daß ich Freudentränen weinte, als ich in Großvaters Camp ankam. Dies alles hatte mich zu tief berührt. Eine einst aussichtslose Situation war jetzt voller Hoffnung. Großvater schien mich nicht zu beachten, als ich ins Lager spazierte und mich
hinsetzte. Ohne den Kopf zu heben, sagte er: «Ich hatte euch doch gesagt, daß die äußere Marsch gerettet werden würde. Wieso bist du so erstaunt? Oder hast du nicht geglaubt, daß ich die Wahrheit sprach?» Jetzt schämte ich mich ein wenig, denn anfangs hatte ich Großvater tatsächlich nicht geglaubt. Auch nachdem ich Bills Spuren entdeckt hatte, gab es noch Zweifel. Ohne eine Antwort abzuwarten, sagte Großvater: «Du fragst dich, wie all dies geschehen konnte, und noch dazu so rasch. Die Antwort kennst du bereits, denn wie ich dir sagte, gibt es viele Wege, das Herz eines Menschen zu erreichen — und viele Mittel, einen Menschen zu heilen. Auch im Fleisch können wir solche Dinge tun, aber das Fleisch ist schwach und ohnmächtig. Jedoch durch die Kraft des Geistes, die grenzenlos ist, wird alles möglich. Wenn die Mittel des Körpers erschöpft sind, rufen wir die Kräfte des Geistes an.» Großvater machte eine Pause und versenkte sich in sich selbst. Er schloß die Augen, als sei das Gespräch beendet. Mir war bewußt, was er gesagt hatte — daß nämlich Heilungen und vieles andere durch die Kraft des Geistes bewirkt werden konnten. Aber wie geschah das? Nun sprach Großvater wieder, ohne die Augen zu öffnen: «Wie ich dir schon vor langer Zeit sagte, mein Enkel, wird alles, was in der physischen Welt geschieht - ob Taten, Gedanken, Worte oder Träume — auch in der Geisterwelt geschehen und dort bewahrt bleiben. Unsere Taten hier wirken zurück auf die Taten im Geisterreich. Jede Tat verändert also die Welt der Geister. Auch sagte ich dir, daß Taten und Mächte in der Geisterwelt die Taten der physischen Realität beeinflussen und verändern können. Was für die einen gilt, muß auch für die anderen gelten. Du siehst also, mein Enkel», fuhr Großvater fort, «wir können Veränderungen in der physischen Welt bewirken, die auch die Realität in geistigen Sphären verändern werden. Hätten •wir diesen Bill auf physischer Ebene herausgefordert, dann hätten •wir ihn auch auf spiritueller Ebene beeinflußt. Aber diesen Mann durften wir nicht auf physischer Ebene ansprechen; wir müßten seinen Geist ansprechen. Wenn wir also zuerst eine geistige Veränderung bei ihm bewirken können, dann wird diese Veränderung sich auch in seinem physischen Selbst manifestieren. Wenn wir uns wünschen, daß etwas sich verändere, und wir diese Veränderung nicht auf physischer oder verstandesmäßiger Ebene erreichen können, so können wir die Veränderung bewirken, indem wir die Macht des Geistes einsetzen, um die geistige Realität zu verändern. Die Ergebnisse werden noch eindrucksvoller, dauerhafter und
umfassender sein. Aber dies muß, wie bei allen geistigen Dingen, von der Inneren Vision geleitet sein, denn sonst gibt es keine Macht.» «Aber wie willst du eine solche Veränderung in der spirituellen Wirklichkeit bewirken? Und wie wird sie sich physisch manifestieren? Wie hast du Bill erreicht und ihn heute morgen hinaus in die Marsch geführt?» fragte ich nun. Großvater antwortete: «Gestern abend, als du schon schliefst, unternahm ich eine Geistreise und suchte Bills Geist auf. Ich nahm ihn mit auf eine Wanderung durch die Marsch und zeigte ihm, wie wichtig dies Land für alle Lebewesen sei. Und dann setzte ich mich zusammen mit seinem Geist und sprach mit ihm über alles, was er im Leben versäumte: Wie er sich gefangen fühle in dieser Gesellschaft, und daß er eigentlich kein Leben mehr habe, da er sich so versklavt fühle durch materielle Dinge und die Fesseln des Erfolgs. Ich sagte ihm, das heißt seinem Geist, daß er uns diesen Morgen im Marschland besuchen könne, um selbst zu sehen, wie Menschen, die dieses Land lieben, mit ihm umgehen. Dann würde er wissen, daß sein Traum doch Wirklichkeit werden könnte. Auf diese Weise sprach ich ihn an, und zwar durch den Geist.» «Aber», sagte ich, «Bill scheint mir kein sehr spiritueller Mensch zu sein, und ich bin sicher, daß er keine Ahnung hat von dem Geist, von dem du sprichst. Wie kannst du also einen Mann erreichen, der nichts von geistigen Dingen weiß?» Da sagte Großvater: «Niemand, kein Lebewesen ist ohne Geist. Der Geist eines Menschen, der nichts von geistigen Dingen weiß, existiert gleichwohl, auch wenn er nur in der geistigen Realität zu Hause ist und darauf wartet, erweckt und eingesetzt zu werden. Wir brauchen nichts anderes zu tun, als uns der Führung der Inneren Vision anzuvertrauen und diesen Geist zu finden, um ihn dann zu erwecken. Auch diejenigen, die einst kein spirituelles Wissen besaßen, sind sich dessen bewußt, wenn ihr Geist angesprochen wird. Wenn du den Geist darin heilen kannst, ihn heilen durch Glauben und geistige Macht, transzendiert diese Macht den Geist und manifestiert sich im Fleisch. Aber vergiß nicht: wir sind nur eine Brücke, ein Fahrzeug im Dienste des Schöpfers; wir sind es nicht, die entscheiden, diese Macht zu gebrauchen.» Ich begriff nur ungefähr, gelinde gesagt, wovon Großvater sprach. Aber es reichte doch, um mich manche Werke des spirituellen Bewußtseins besser verstehen zu lassen. Bei allem, was ich in den letzten Wochen gelernt hatte, fehlte immer noch die Kraft, und noch immer war ich in spirituellen Dingen ein kleines Kind. Noch immer
fehlte etwas, noch immer war das Puzzle unvollständig, aber ich wußte nicht, was es sei. Noch immer glaubte ich allzu sehr, in meinem physischen und logischen Bewußtsein zu leben statt in den Sphären des Geistes. Selten nur wagte ich Ausflüge in die Geisterwelt, und solche Ausflüge waren noch immer kraftlos und unverständlich. Großvaters Stimme unterbrach meine Grübelei: «Um all dies zu begreifen, was ich dich gelehrt habe, mußt du die Dualität von Fleisch und Geist verstehen; du mußt anfangen, in der Dualität zu leben, wo beide Welten zu einer einzigen verschmelzen. Diese letzten Tage an diesem Ort sollst du lernen, in der Dualität zu wandeln.» Mit diesen Worten wandte Großvater sich ab, um zu beten, und auch ich sprach ein Gebet - in Erwartung der Morgenröte der Dualität.
9
Dualität:
Grenzgänger zwischen zwei Welten
Ich erwachte beim ersten Schimmer des Morgenlichts, das die Nebelschatten über der Marsch noch vertiefte und die Landschaft in ein Wunderland weicher Farben und dunkler Nuancen verwandelte. Irgendwann in der Nacht war ich eingeschlafen an derselben Stelle, die ich aufgesucht hatte, um zu beten und zu meditieren. Es war ein sonderbares Gefühl, denn ich konnte mich kaum an meine Gebete erinnern, und jetzt brauchte ich ein Weilchen, um wieder mit der Realität in Verbindung zu kommen. Ich erinnerte mich nur noch an das Gespräch mit Großvater am letzten Abend; alles andere schien so verschwommen und unbestimmt. Es war alles zuviel für mein Bewußtsein, und ich halte noch viel Arbeit vor mir. Am wichtigsten war es, jene Dualität zu verstehen und sie zu leben, da Großvater so oft von ihr gesprochen hatte. Doch wo sollte ich anfangen? So dachte ich nach über diese Dualität von Körper und Geist, Diese Dualität, so vermutete ich, sei eine Art Pforte, und wenn man schließlich durch diese Pforte hindurchging, war es ähnlich wie ein Rite de passage. Doch in solcher Dualität zu wandeln, im Heisch und im Geist zugleich, war leichter gesagt als getan. Für mich war der Durchgang zu geistigen Realitäten immer schwierig gewesen. Ich mußte mich zuerst an den Ort der Stille versezen, wo alle Wasser tief und ruhig waren, wo das physische Bewußtsein und der Körper transzendiert wurden. Erst danach konnte ich in diese Welt eintreten, aber auch dann nur mit wenig Kraft und nicht sehr wirksam. Ich mußte durch die Stille gehen, jedesmal, wenn ich meine Innere Vision oder überhaupt jede Kommunikation — läutern wollte. Wenn ich dieser Dualität nahe kam, geschah es selten und nur zufällig, und darum fiel es mir schwer, bewußt Fleisch und Geist zu trennen. Wohl sah ich, wie wichtig es war, in der Dualität zu wandeln, denn es brachte einen in dauernde Verbindung mit der Welt des Geistes, während man noch in der stofflichen Welt lebte. Wie oft entgingen mir wichtige spirituelle Botschaften, weil ich
zu sehr im Stofflichen existierte. Dann konnten nur die stärkeren Stimmen der Geister zum physischen Bewußtsein durchdringen. Wenn aber die Dualität erreicht war, dieses vollkommene Gleichgewicht, dann entging mir nichts. Allerdings vermochte Großvater jederzeit in der Dualität zu leben, denn er bemerkte alles in den stofflichen und geistigen Welten; er war dauernd und gänzlich verbunden mit den Welten jenseits des Fleisches. Wie oft sagte er, wir sollten in beiden Welten leben, doch ich vermutete, daß Großvater mehr im Geist als im Fleisch lebte. Tatsächlich geschah das meiste dessen, was er tat, in geistigen Sphären. Ich stellte mir vor, daß es eine Schranke zwischen Fleisch und Geist gab, ähnlich einem dichten Schleier, denn wenn ich selbst in die Geisterwelt ging, sah ich mich durch einen Schleier hindurchgehen. Großvater hatte dies stets den «Schleier» genannt, und darum vermutete ich, daß man, um gleichzeitig im Fleisch und im Geist zu leben, in diesem Schleier verweilen und Teil seiner Macht werden mußte. Selbst wenn meine Vermutungen richtig waren, wußte ich aber nicht, wie man in diesen Schleier gelangen und in seiner Macht verweilen sollte. Jedesmal, wenn ich den Schleier, die Pforte erlebte, ging ich hindurch, ohne dies selbst kontrollieren zu können. Ich stand erst am Anfang meiner Suche im Bereich des Schleiers. Diese Vermutung jedenfalls gab meiner Inneren Vision ein gutes Gefühl. Irgendwie mußte ich einen Weg finden, um in diesen Schleier zu gelangen. Auf diese Weise konnte ich noch mein physisches Selbst festhalten, aber auch im spirituellen Selbst leben. Indem ich die Bewußtseinsebene wechselte, konnte ich eine Sache im Stofflichen betrachten und dann im nächsten Moment dieselbe Sache auf geistiger Ebene erfahren. Auch glaubte ich, daß es in diesem Fall nicht nötig wäre, all die Techniken der Stille einzusetzen, die ich jeweils brauchte, um Körper und physisches Bewußtsein zu transzendieren. Bis jetzt kannte ich nur ein ausschließlich physisches oder ein ausschließlich geistiges Leben -und nichts dazwischen. Im Grunde könnte dies ein lebendes Beispiel dafür sein, was Großvater «die Brücke» nannte. Alle Heiler, sagte er, alle Schamanen, spirituellen Führer und Visionäre seien Brücken zwischen Fleisch und Geist, und über diese Brücke müsse alle Kraft (ließen. Jetzt verstand ich auch, daß es nicht die Macht der Spirituellen war, sondern die Macht der Schöpfung, und daß es der Geist war, der diese Brücke schuf. Fast den ganzen Vormittag vergeudete ich mit solchen Auseinandersetzungen im Kopf. Aber ich schaffte nichts weiter, als mir Dinge bewußtzumachen, die ich bereits wußte. Wie ich dort saß, noch immer in meine Betrachtung versunken, fiel mir eine
Bewegung in der Ferne auf; doch als ich genauer hinschaute, war da nichts. Anscheinend hatte sich dort ein Mensch bewegt, und ich hatte seine Anwesenheit gespürt, ohne etwas zu sehen. Dann wurde mir plötzlich klar, was ich dort gesehen hatte oder vielmehr, welche Antwort ich da bekommen hatte. Wenn ich schon nicht herausfinden konnte, wie solche Dualität auf physischer Ebene zu erreichen war, dann sollte ich vielleicht noch einmal die Führer der Geisterwelt fragen. Sie würden mir sicherlich helfen, und womöglich versuchten sie bereits, mich zu erreichen - mit jener Bewegung, die ich eben gespürt hatte. Mehr vom Instinkt als von der Inneren Vision geleitet, war mir deutlich, daß ich diesen Platz verlassen mußte, bevor ich etwas anderes unternehmen konnte. Ich begann durch die Marsch zu streifen, erforschte Stellen, die ich noch nie gesehen hatte, und ließ mich unbewußt von meiner Inneren Vision dorthin führen, wo ich sein sollte. Es war ein sonderbares Gefühl, das eine zu tun und auf tieferer Ebene genau zu wissen, daß man gleichzeitig etwas anderes tat - etwas, das dem physischen Bewußtsein noch nicht ganz klar war. Es war so ähnlich wie das Wissen, daß alles, was ich auf physischer Ebene tat, auch in den spirituellen Sphären geschah. Gewiß, es war ein sonderbares, aber sehr schönes Gefühl — und dennoch auch verwirrend. Erstaunlicherweise kam ich, nachdem ich eine Stunde ziellos umhergestreift war, genau an der Stelle im Marschland heraus, wo der Bach, der an unserem Camp vorbeifloß, in die Bucht mündete. Es war derselbe Bach, dem ich letzte Woche gefolgt war und der mich zur Vision über die Zukunft der Marschen geführt hatte. Für mich gab es keinen Zweifel mehr, daß ich hier sein mußte — an derselben Stelle wie vorige Woche. Ich setzte mich und entspannte mich ein Weilchen. Ich horchte nach innen, um sicher zu sein, daß meine Innere Vision mich wirklich hier an dieser Stelle haben wollte. Wie ich dort saß und über das Marschland schaute, glitt ich unmerklich an den Ort der Stille. Meine Gedanken kamen zur Ruhe, und ich konnte meinen Körper transzendieren. Ich spürte den Nebelschleier vorbeistreichen, fast unbemerkt, und wußte, daß ich ganz in die spirituelle Realität eingegangen war. Ganz zufällig schwebte ein weiterer Schleier vorbei - und das Marschland war völlig verändert. Als ich durch den ersten Schleier ging, hatte die Marsch sich nicht verändert - bis auf die Tatsache, daß ich eine Vielzahl spiritueller Erscheinungen spürte, die ich nicht definieren konnte. Als ich aber den zweiten Schleier ganz zufällig passierte, hatte sich alles verändert. Die Sonne ging unter, und jetzt sah ich sogar dort Geister, wo
vorher keine gewesen waren. Ich hatte das absurde Gefühl, als sei ich von einem Zimmer ins andere gegangen, und nochmal in ein anderes, ohne zu wissen, wie dies geschehen konnte. Anfangs fürchtete ich mich, denn so etwas war mir erst zwei mal passiert, und beide Male rein zufällig. Dies aber war die umfassendste Veränderung, die ich jemals empfunden hatte, und dies ängstigte mich. Das Unbekannte in der Geisterwelt kann beängstigend und gefährlich sein, wenn man nicht weiß, was man tut. Ich saß also in spiritueller Ehrfurcht und schaute auf diese weite geistige Landschaft, wo verschiedene Gestalten und Wesen umherschritten. Es waren keine Wesen in Gestalt von Menschen, Tieren oder anderer mir bekannter Dinge, sondern eher so etwas wie Empfindungen nebelhafter Energie, die ich mehr fühlte als sah. Was sollte ich tun? Ich versuchte zu kommunizieren, aber vergeblich. Ich konnte nur sitzenbleiben, schauen und staunen über das, was sich vor mir abspielte. Ich verstand nicht, was da geschah oder wo ich eigentlich war. Plötzlich, ohne Vorwarnung, glitt wieder ein Nebelschleier vorbei. Die spirituellen Gestalten, die ich vorher nur gespürt hatte, schienen jetzt deutlicher sichtbar zu werden. Es war, als sähe ich Wesen in dichtem Nebel umherschreiten, wo alle klaren Konturen verwischt und nur unbestimmte graue Umrisse zu erkennen waren. Dies ängstigte mich ungeheuer, aber ich gab meiner Furcht nicht nach. Wieder versuchte ich zu kommunizieren, traf aber auf Schweigen bei diesen Wesen, die an mir vorbeischwebten. Schließlich sah ich im Nebel eine Gestalt näherkommen, und ich spürte, sie wußte, daß ich da war. Ich konnte nicht feststellen, ob diese Gestalt männlich oder weiblich sei, aber es war eindeutig eine menschliche Gestalt. Noch immer in dichten Nebel gehüllt, konnte ich klar erkennen, daß sie mir zuwinkte — mit jener altüberlieferten Geste, mit Großvaters Geste —, und da war es klar: Dieses Wesen war der Geist eines amerikanischen Ureinwohners. Ohne an der Erscheinung zu zweifeln, stand ich auf und ging dem nebligen Bild entgegen. Alle Furcht war verschwunden, denn dieses Wesen würde mir kein Leid tun. Ich trat näher, und wieder fühlte ich einen Schleier vorüberstreichen. Und dann stand ich plötzlich in strahlendem Sonnenlicht. Es war, wie wenn man die Tür eines dunklen Zimmers aufstößt und in den hellen Tag tritt. Zuerst war ich geblendet, aber bald sah ich wieder deutlich. Dort vor mir stand aufrecht diese Erscheinung, die mir zuwinkte. Jetzt war es kein nebelhaftes Bild mehr, sondern ein junger Indianer, bekleidet mit dem Gewand eines Kriegers. Er hieß mich mit einer Handbewegung
willkommen und gebot mir, mich zu setzen. Anfangs wurde zwischen uns kein Wort gewechselt, denn er musterte mich nur, und ich war so verblüfft, daß ich nicht sprechen konnte. Endlich, nach einer langen Pause, sprach er: «Willkommen! Du bist einen weiten Weg gegangen, mein Enkel. Und doch hat deine Reise erst angefangen.» Er hielt kurz inne, vielleicht um mich die Fassung wiederfinden zu lassen, und dann sprach er wieder, ohne eine Antwort abzuwarten: «Deine Reise wird dein ganzes physisches Leben lang andauern. Soeben hast du den ersten Schritt getan. Alles, was du in den vergangenen Wochen und Monaten gelernt hast, hat dich an diesen Ausgangspunkt geführt, und jetzt mußt du die Reise antreten. Es ist der Anfang eines langen, beschwerlichen Weges, denn nur wenige, die im Fleisch wandeln, verstehen wirklich. Als erstes mußt du lernen, in der Dualität zu leben und zur Brücke zu werden, wie Großvater lehrte. Erst dann, wenn du gelernt hast, in der Dualität zu leben, wird deine Reise wirklich beginnen. Es gibt nur wenige, die diesen ersten Schritt schaffen, denn die Masse scheint sich mit der Stille zu begnügen, mehr nicht. Du hast über den Ort der Stille hinausgeblickt, und jetzt weißt du in deinem Herzen, daß da noch mehr ist.» Wieder schwieg er, und auch ich sagte nichts. Mir war plötzlich bewußt geworden, daß dieser Geist in einer Sprache redete, die ich klar verstand, nur mit ganz leichtem Akzent. Ich war überwältigt, als ich ihn sagen hörte, dies sei nur der Anfang eines sehr langen Weges. Wieviel er von mir wußte! Nun sprach er wieder: «Du mußt ins Innere der Schleier eingehen und die alte Frau suchen, die Körbe flicht. Diese Großmutter, die du suchen sollst, wird dich das Weistum der Schleier lehren - aller Schleier, die du durchschritten hast, um hierher zugelangen.» Damit stand er auf, blickte auf die einstige Marsch hinaus, wandte sich wieder mir zu und sagte: «Ich muß jetzt gehen. Du hast viel Arbeit zu tun.» Und er verschwand, die ganze Schöpfung geriet ins Schwanken, und ich fand mich wieder in meiner stofflichen Realität, in meinem Körper. Ich hatte keine Ahnung, ob ich dies alles geträumt hatte oder ob es eine Vision von geistiger Realität war. Alles war so real gewesen! Aber was meinte der Geist, als er sagte, ich müsse die Großmutter aufsuchen, die Körbe flicht? Außer Großvater kannte ich niemanden, der Körbe flocht, und der Geist hatte mir keine Anweisung gegeben, wohin ich mich wenden sollte. Er hatte mir nicht mal angedeutet, wo ich diese Großmutter finden könne. Er hatte nur gesagt, ich müsse mich ins Innere der
Schleier versetzen, und ich verstand nicht, was er damit gemeint hatte. Jedenfalls glaubte ich bislang, es gebe nur einen Schleier in der spirituellen Welt, nicht mehrere. Auch verwirrte mich die Tatsache, daß ich auf dieser Reise mehrere Gebilde durchschritten hatte, die irgendwie nach Schleiern aussahen. Ich mußte Großvater finden, denn meine Verwirrung ängstigte mich, und mir war klar, daß sie weitere Fortschritte verhindern konnte. Am Spätnachmittag endlich erreichte ich Großvaters Camp. Er saß am Rande der Marsch, und als ich zu ihm trat, sagte er, ohne aufzublicken: «Ich habe mit dem Geist des jungen Kriegers gesprochen.» Die Worte fielen wie Hammerschläge in mein Bewußtsein. Wie konnte er wissen, daß ich einem Geist begegnet war? Konnte es sein, daß er im Geiste ebenfalls dort war, wo ich gewesen war? Und falls ja, warum hatte Großvater nicht versucht, mir zu helfen? Wieder sprach Großvater und sagte: «Du bist hierhergekommen, um zu erfahren, was der Geist meinte mit der Suche nach der Großmutter, die in der Welt des äußeren Schleiers Körbe flicht.» Und er gebot mir, mich zu ihm zu setzen. Großvater sagte: «Der Geist hat dir keine weiteren Anweisungen zu deiner Reise gegeben. Der Grund dafür war, daß er bei dir eine gewisse Unsicherheit und Furcht spürte. Er wußte, du würdest zu mir kommen, um deine Angst und Verwirrung loszuwerden. Aber deine Innere Vision hat dir doch gesagt, dieser Geist würde dir kein Leid antun. Hätte deine Innere Vision dir das Gefühl schlechter Medizin vermittelt, dann wüßtest du, daß das Wesen, mit dem du sprachst, böse Absichten hatte. Dies war aber nicht der Fall. Du weißt doch, was der Geist meinte, als er dir von den äußeren Schleiern sprach. Als du die vielen Schleier zu durchschreiten begannst, um den Geist zu finden, hättest du sehen und im Herzen -wissen sollen, daß es nicht nur einen Schleier gibt, sondern viele.» Viele Schleier, dachte ich. Dabei fiel es mir schon schwer, mir nur einen Schleier vorzustellen und ihn zu verstehen. Und jetzt behaupteten Großvater und der Kriegergeist, daß es deren viele gäbe. Dies machte die Dinge tatsächlich sehr kompliziert. Wieder sprach Großvater: «Die Geisterwelt ist eine bestimmte Region — und zugleich viele Regionen. Sie ist ein Land von vielen Dimensionen, jede durch einen Schleier von den anderen getrennt. Mit den ersten Schleiern, die du durchschreitest, betrittst du die spirituelle Realität des physischen Gegenstücks dieser Dimensionen. Dann aber mußt du noch weitere Schleier durchschreiten, und du erreichst die Schleier der Vergangenheit und der Zukunft — jenseits davon gibt es
unermeßliche Sphären voll mächtiger Geister und Regionen. In diesen Sphären gibt es das Gute wie das Böse. Je weiter du vordringst in diese Schleier, desto mächtiger werden die Geister und die Regionen dort.» Und Großvater fuhr fort: «Wenn du deine geistige Reise durch dieses Leben beginnst, werden diese Regionen und diese Schleier deine Lehrer sein. Du wirst lange und kurze Reisen in diese Schleierwelten machen und lernen, was diese Geister dich zu lehren haben. Sie werden dir Führer und Lehrer sein und dich zu weiteren Lehrern und Führern geleiten, wie der Geist des jungen Kriegers es eben mit dir getan hat. Wie immer muß deine Reise dann unter der Führung der Inneren Vision stehen, denn diese Welt kannst du nicht aufs Geratewohl erkunden. Ohne klare Absicht dort einzugehen würde heißen, deinen Geist allen möglichen Angriffen auszusetzen. Mit diesen Regionen darf man nicht spielen, denn ein Geist, der ohne Führung in diese Schleier eintritt, ist in Gefahr, sich für immer im Bodenlosen zu verlieren. Es gibt kein Spiel dort, nur Weisheit und Erkenntnis, und der Weg ist sehr lang
und
schwierig.
Auch
kann das Ringen dort unwiderruflich physische
Auswirkungen auf dein Leben haben. Achte also bei deiner spirituellen Suche immer darauf, daß du deinem Herzen folgst!» Mit diesen Worten war Großvater verschwunden, und ich fand mich wieder an dem Ort, wo ich dem jungen Krieger begegnet war. Bei allem, was ich in meinem kurzen Leben bislang erlebt hatte, war ich nicht vorbereitet auf einen so raschen Wechsel der Bewußtseinsebene, wie ich ihn eben durchgemacht hatte. Es kam so überraschend, daß ich buchstäblich am ganzen Leib zitterte. Ich brauchte einige Zeit, um meine Fassung wiederzufinden und mir klarzumachen, wo ich war. Noch länger brauchte ich, um die Furcht loszuwerden, die in mir steckte und die mich lahmte. Großvaters mahnende Worte über die Macht der Schleier machten mir wirklich angst, und ich wollte sicher sein, daß meine Innere Vision unversehrt war, bevor ich mich weiter vorwagte. Als ich mich umdrehte, war der Geist des jungen Kriegers nirgends zu sehen. Ich spürte Wesen in diesem einstigen Marschland umherschreiten, doch keines der Wesen wollte sich manifestieren. Plötzlich entdeckte ich den Kriegergeist, weit entfernt von mir und wieder teilweise verborgen von einem dunstigen Schleier. Er winkte mir, und ich ging ohne Zögern hinüber, dabei bemüht, meine Furcht zu unterdrücken. Während ich zu ihm hintrat, in dichten Nebel gehüllt, hörte ich seine Stimme: «Beginne jetzt deine Reise zur Großmutter, sie wohnt gleich jenseits dieser Region.»
Und schon war die Stimme verstummt. Gleich beim Durchschreiten des Schleiers wurde ich in eine andere Dimension versetzt. Wieder tauchte die Marsch in ihrem einstigen Zustand vor mir auf, doch jetzt hörte ich Stimmen von Menschen, die jedoch nicht Englisch sprachen. Ich wandte mich dorthin, woher die Stimmen kamen, zurück in Richtung des Schleiers, den ich eben durchschritten hatte. Zu meiner Verwunderung lag dort ein ganzes Dorf von amerikanischen Ureinwohnern. In dem Dorf gab es allerlei Aktivitäten — Männer und Frauen arbeiteten, und Kinder spielten. Ohne nachzudenken, lief ich zu diesem Dorf, aber du meiner Verwunderung bemerkte mich niemand; alle widmeten sich weiter ihren Tätigkeiten. Ich wußte, daß dieses Dorf, weil es am Rande der Marsch gelegen war, ein Dorf der Lenni-Lenape sein mußte. Als ich mich umschaute, um ihre Lebensgewohnheiten und Kunstfertigkeiten aus erster Hand kennen zulernen, sah ich am anderen Ende des Dorfes eine alte Frau sitzen, die einen Korb flocht. Dies war zweifellos die Großmutter, die ich aufsuchen sollte. Sie blickte auf und lächelte mir zu, doch ich begriff nicht, wieso sie mich sehen konnte, während alle anderen im Dorf mich offenbar nicht bemerkten. Ohne zu zögern, sagte sie: «Sei unbesorgt wegen der Leute im Dorf. Denn nur mich bist du besuchen gekommen. Die anderen aber betrifft es nicht. Ich bin die Korbflechterin und Kräuterkundige dieses Volkes, und meine Medizin erlaubt mir, dich zu sehen. Du wirst vielen Geistern begegnen auf deinen Reisen durch die Schleier, aber nicht alle werden dich sehen können. Nur solche Geister, die ein sehr spirituelles Leben führten, solange sie im Fleisch wandelten, werden mit dir kommunizieren. Den anderen wird deine Gegenwart verborgen bleiben.» Sie machte eine Pause, dann fuhr sie fort und sagte: «Sieh mal, mein Enkel, in der Welt der Geister ist es wie in der Welt der Körper. Es gibt solche, die ruhig schlafen und ihr spirituelles Leben genauso verbringen, wie sie ihr Leben verbrachten, solange sie im Fleisch lebten. Ihre Existenz in diesen geistigen Welten ist harmlos und hat keine Konsequenzen irgendwelcher Art. Anders bei uns anderen, die wir im Leben nur nach Geistigem strebten; unsere Existenz hier ist voller Macht - aber einer Macht von sehr unterschiedlicher Art. Jetzt suchen wir die Reinheit der Leere, wie wir einst nach der Lauterkeit des Geistes strebten, als wir im Stofflichen lebten. Unsere Welt hat sich zwar verändert vom Fleisch zum Geist, aber die Suche ist dieselbe geblieben. Wahre Erleuchtung wird uns nur zuteil, wenn wir die Leere erreichen, die sich zwischen uns und dem Schöpfer befindet, bevor wir ihn selbst erreichen. Wir wechseln vom
physischen Leben zum geistigen Leben, aber es ist dasselbe Ringen, und es gibt kein Ausruhen hier, mein Enkel. Sei also bereit für einen langen und schwierigen Weg — ein Weg, der zu Gott führt.» Mein Verstand - oder mein spirituelles Bewußtsein, ich wußte nicht, welches von beiden — befand sich in Aufruhr und war überwältigt von ihren Worten. Was sie mir eben gesagt hatte, hieß nichts anderes, als daß der Kampf weitergeht, wenn wir auf die «andere Seite» wechseln. Die Kämpfe in der physischen Welt finden auch in der geistigen Welt statt, und der Kampf wird nicht enden, bis wir Gott erreichen. Es kam mir vor wie ein endloser Pfad der Tränen, von dem ich Großvater so oft hatte sprechen hören: ein langer und schwerer Weg, der niemals zu enden schien. Doch das eigene Leben hinzugeben für die Rettung der Erde, für die zahllosen Enkelkinder, das sollte genügen als Belohnung, wenn wir genug Liebe haben. Ich fand, daß es das Selbstopfer wohl wert sei: Das Ich mußte hingegeben werden, wenn wir die spirituelle Grenze erreichen wollten, wo es keine Grenzen mehr gab. Die alte Frau fuhr fort und sagte: «Wenn du nun deine Reise beginnst, wirst du sehen, daß diese geistige Welt viele Schleier hat, viele Länder, viele geistige Wesen. Doch wenn du alt geworden bist und weise im Geist, dann werden diese Schleier zu einem einzigen verschmelzen, und die spirituelle Welt wird nicht mehr durch Schleier abgeteilt sein. Dies wird erst dann geschehen, wenn du die Schleier nicht mehr als Wegweiser
brauchst,
die
die
verschiedenen
Regionen
der
geistigen
Welt
bezeichnen. Nutze also die Schleier auf deiner geistigen Reise, denn sie helfen dir zu erkennen, wohin du gehst — wie topographische Punkte in der Wildnis. Vorläufig brauchst du nur zu wissen, daß sie da sind - mehr nicht. Aber ich warne dich: manche Schleier verwehren anfangs den Zutritt, solange du nicht die Macht und die Weisheit hast, die man braucht, um in sie vorzudringen, um zu verstehen, was auf der anderen Seite ist.» Und die Großmutter, die Körbe flocht, fuhr fort: «Deine Suche, mein Enkel, gilt vorläufig nur dem Verständnis, was wirklich mit Dualität gemeint ist. Wenn du dies verstanden hast, dann mußt du in der Dualität leben; denn in der Dualität beginnen wir wahrhaft unsere spirituelle Reise durchs Leben. Wer nicht unentwegt in der Dualität lebt, der wird nur unvollständige Botschaften empfangen, und das nur gelegentlich. Das Leben ist nicht nur eindimensional, sondern hat zwei Dimensionen, und beide müssen gelebt werden. Diese Dimension wird für dich eine Pforte sein, und vorläufig sei Selbstbeherrschung das wichtigste bei deiner Suche. Um jene
Dualität zu finden, mußt du sogleich auf Visionssuche gehen. Hier muß es geschehen, am Rande dieser Marsch, wo ich jetzt sitze.» Sie stand auf und deutete auf den Boden, wo sie gesessen hatte. Ich rückte auf ihren Platz und blieb dort, ohne ein Wort zu sagen. Ich wußte nicht, ob ich diese Visionssuche in der geistigen Dimension antreten sollte oder in der physischen. Ich gehorchte einfach ohne weitere Frage. Als ich nun auf das Land hinausblickte, war die Alte verschwunden, das Tageslicht war verschwunden - und ich fand mich wieder in meiner körperlichen Realität sitzen, spät nachts am Rande der Marsch. Anfangs wunderte ich mich weniger über die Geschwindigkeit dieses Wechsels, sondern mehr über den Ort, an dem ich nun saß. Es war mitnichten der Platz am Bach, wo ich tagsüber gesessen hatte. All dies war erstaunlich. Denn das einzige, woran ich mich noch erinnern konnte, war mein Weg von dem Platz am Bach, wo ich dem Geist des jungen Kriegers begegnet war, zurück zu Großvaters Camp. Wie ich aber von Großvaters Camp zu dem Dorf der alten Frau und dann zu diesem Ort und in diese Zeit gelangt war, daran erinnerte ich mich nicht. Eins wußte ich: Jetzt war ich hier in meinem physischen Körper und meinem stofflichen Bewußtsein, aber an einem völlig anderen Ort — und ohne Erinnerung, wie ich hierher gelangt war. Ob ich vielleicht unbewußt zu diesem Ort hier gewandert bin, während ich im spirituellen Bewußtsein lebte? Obwohl es noch ganz dunkel war, kroch ich auf Händen und Knien über das ganze Areal und suchte nach Fußabdrücken von mir, die dorthin geführt haben könnten. Dies hätte meine Vermutung eines bewußtlosen Wanderns bestätigt. Normalerweise konnte ich eine Fuchsfährte im Laub ausmachen und mit verbundenen Augen dieser Fährte folgen, aber in dieser Nacht fand ich überhaupt keine Spur. Tierfährten schon, aber gewiß keine menschlichen Spuren! Dies gab mir ein Rätsel auf, weil es sich jeder logischen Erklärung widersetzte. Doch ich nahm an, daß ich nur müde und zu unaufmerksam für das Spuren lesen sei. Ich war sehr erschöpft — geistig wie körperlich. Ich st reckte mich also aus, um klarer denken zu können, sank aber schnell in den lange versäumten Schlaf. Ich erwachte beim herrlichsten Sonnenaufgang, tief erquickt und mit mir im reinen. Bald aber übermannte mich die Neugier, warum ich keine Spuren von mir gefunden hatte — dorthin, wo ich saß. Ich entfernte mich von dem Platz und suchte nach Anhaltspunkten für mein Kommen, konnte aber nichts finden. Also lief ich zu meinem
ursprünglichen Lagerplatz am Bach. Dort gab es Spuren von mir - nur führten diese Spuren in das Gebiet, wo ich am Vortag gewesen war, aber nicht weiter. Ich fand keine Spuren, die wieder hinausgeführt hätten, aber auch keine, die zu Großvaters Camp führten. Ich hatte keine Ahnung, was das bedeuten sollte; ich erinnerte mich nur, daß ich zu Großvaters Camp gelaufen und schließlich an jenem neuen Platz gelandet war. Den Weg zu Großvaters Camp konnte ich mir allenfalls als Geistreise erklären. Aber ich vermochte mir nicht zu erklären, wie mein Körper an den Platz gelangt war, den die alte Frau mir angewiesen hatte. So begann ich in weiten Kreisen meinen ursprünglichen Platz am Bach zu umrunden, wie ich's getan hätte, wenn ich nach Spuren eines verirrten Jägers oder Kindes gesucht hätte. Auch dort fand ich nichts, und je länger ich suchte, desto verwirrter wurde ich. Auf einmal hatte ich das Gefühl, daß jemand mich beobachtete, während ich meinen Platz umkreiste. Zu meiner Verwunderung stand dort die Körbe flechtende Großmutter und sah mich ernst an. Sie war aber nicht an ihrem Ort und in ihrer Zeit, sondern in meiner. Sie sagte: «Mein Enkel, ich hab' dir gesagt, du hast Arbeit zu tun. Du solltest dort sein, wo ich dir stillzusitzen befahl, und eine Vision suchen. Warum verschwendest du deine Zeit mit Dingen, die du später lernen wirst, jetzt aber noch nicht erklären kannst? Kehre also zurück zu deiner Visionssuche. Antworten auf diese Fragen wirst du erst erhalten, wenn du sie verstehen kannst.» Damit war sie verschwunden. Ich war beschämt, denn irgendwie hatte ich sie enttäuscht, und folglich war ich mir selbst untreu geworden. Ich hatte erlaubt, daß mein Verstand nach Antworten gierte und mich von der spirituellen Aufgabe entfernte, die mir gestellt war. Am vorigen Abend, als ich vergeblich nach meinen Spuren suchte, hätte ich erkennen müssen, daß ich aus einem bestimmten Grund auf diesen Platz gestellt worden war. So wanderte ich zurück, leicht deprimiert über die ganze Sache, beschieß aber dann, alle Fragen beiseite zu schieben, bis ich meine Visionssuche vollendet hätte und Großvater wiedersah. Vorläufig mußte ich dorthin zurück, wo die alte Frau mich hingeschickt hatte, und mich der Aufgabe widmen, die Dualität zu verstehen. Alles andere würde sich schon finden, wenn ich endlich die Dualität verstand. Auch alle meine anderen Fragen würden dort wahrscheinlich Antworten finden. Wieder zurück auf meinem Platz, richtete ich mich auf einen langen Aufenthalt ein. Mir blieben nur noch fünf Tage, bis ich wieder nach Hause mußte, und vier Tage brauchte man für eine traditionelle Visionssuche. Ich hatte schon zuviel Zeit
verschwendet mit Schlafen und anschließendem Suchen nach Spuren und Antworten; noch mehr Zeit durfte ich nicht vergeuden. Wie vor einer Visionssuche üblich, betete ich zum Schöpfer und flehte um Segen und Erleuchtung. Nur durch die Liebe des Schöpfers wird uns die Welt der Natur und die Welt des Geistes geschenkt. Nur durch unser Geburtsrecht, das uns vom Schöpfer verliehen wurde, kommen wir diesen Gaben näher. Nach langer Meditation blickte ich auf das Marschland hinaus und dankte dem Schöpfer für all die Schönheit, die ich schaute, und all das Wissen, das ich aufnehmen durfte. Die lautere Schönheit dieser Region mit all ihrem vibrierenden Leben versetzte mich in einen Zustand der Euphorie. All dies schien mir so vollkommen - ein vollkommenes Geschenk des Lebens an einem vollkommenen Tag. Mehr konnte ich nicht erwarten. In diesem Zustand ließ ich alle meine Fragen und Bedenken fallen - zufrieden damit, einfach zu sitzen und mich zu entspannen, während meine Visionssuche begann. Es tat gut, ein Weilchen loszukommen von meinem angespannten Gedankenleben im Kopf, und ich konzentrierte all meine Aufmerksamkeit auf die Natur. Immerhin war es die Wildnis, der ich all dies verdankte und die ich zu retten versuchte, und es tat so gut, sich noch einmal in ihre Schönheit zu verlieren. Das war das Beste, was die stoffliche Realität zu bieten hatte. Nicht lange danach schwand dieser Zustand von Ruhe und Euphorie, und ich kehrte zurück in das Bewußtsein meiner Gedanken und konzentrierte mich auf die Dinge, die ich zu verstehen suchte. Die Dualität schien mir so schwierig, und doch hatte ich in den letzten Tagen so viel erfahren. Auf jede nur mögliche Weise versuchte ich Antwort zu finden. Ich versuchte meine Gedanken zu klären, mich an den Ort des stillen Wassers zu versetzen, wo es nichts mehr gab als reines Denken, das nichts hervorbrachte. Dann versuchte ich stundenlang, mich von der Inneren Vision fuhren zu lassen. Aber es kam keine eindeutige Antwort von der Art, die ich brauchte. Ich versuchte in die Stille der Schleier einzudringen, und obgleich ich mit Leichtigkeit durch die tieferen Schleier eintreten konnte, wollten die Wesen nicht kommunizieren. Ich hoffte nur, meine Absicht beim Suchen nach Antwort sei lauter genug, damit ich ungefährdet durch diese spirituellen Sphären wandern konnte; aber einstweilen blieb meine Furcht noch überwältigend. Ich hatte es oft erlebt, besonders bei früheren Visionssuchen, daß keine irdischen oder geistigen Wesen mit mir kommunizieren wollten. Ich glaubte, das Ausbleiben solcher Verbindung sei durch meine Unwürdigkeit bedingt, durch irgend etwas, was
ich falsch gemacht hatte und wofür ich nun bestraft wurde. Wieder glaubte ich, wie immer, ich würde aufmerksam beobachtet und geprüft. Ich fühlte mich sehr verletzlich — in einem Maß, das manchmal an Panik grenzte. Je mehr ich mich anstrengte, Antworten oder Aufklärung über das Weistum der Dualität zu finden, desto mehr — so schien es - stieß ich auf Widerstand, desto stärker hatte ich das Gefühl, beobachtet zu werden. Trotz äußersten Bemühens erreichte ich nichts. Ich war lediglich frustriert und wütend auf mich selbst. Ich glaubte zu versagen bei meiner Visionssuche und wußte nicht, warum. Dann kam ich spät abends an einen Punkt, wo ich so verzweifelt und geistig erschöpft war, daß ich das ganze Bemühen um ein Verständnis der Dualität einfach aufgab. Ich fühlte mich unwürdig und wollte nicht mehr um Antworten ringen. Noch nie im Leben hatte ich auf einer Visionssuche so viele spirituelle Techniken angewandt, und nie zuvor hatte ich so wenig Wissen empfangen. Mir war, als sei ich gescheitert, und nun war ein weiterer Tag der Visionssuche vergeudet. Doch hatte ich nicht schon viel von der Geisterwelt erfahren? Immerhin erfuhren die meisten Menschen nicht annähernd so viel, wie ich bereits wußte. Vielleicht war meine spirituelle Erziehung nun abgeschlossen, und mehr sollte es für mich nicht geben? Oder vielleicht müßten noch viele Jahre vergehen, bevor ich den nächsten entscheidenden Schritt zur Dualität tun konnte? Was ich in den letzten Wochen gelernt hatte, war mir so rasch zuteil geworden; und nun schien es mir, als habe die geistige Welt sich ein Weilchen zurückgezogen - als habe sie mich im Stich gelassen. Damit versank ich in tiefen Schlaf. In dieser Nacht hatte ich viele Träume, auch Alpträume, die mich manchmal, in kalten Schweiß gebadet, aus dem Schlaf fahren ließen. Ich träumte von Baugesellschaften und Siedlungsprojekten, von abgeholzten Wäldern und von den verschmutzten, vergifteten Wassern der Erde. Ich träumte von schrecklichen Wesen, halb Mensch und halb Geist, die mich ins Genick bissen und meinen Körper zerstückelten.
Vor
allem
träumte
ich
von
den
Schleiern,
die
sich
zu
undurchdringlichen Mauern von Dickicht und Fels verbanden, oder ich saß gefangen in solchen Mauern, erstickt und eingezwängt, ohne mich befreien zu können. Ich schrie nach den Geistern um Hilfe, aber sie wandten sich ab, spotteten meiner sogar, bis ich weinte. Manchmal vermischten sich diese Träume und erzeugten noch schrecklichere, qualvollere Bilder. Endlich, bevor der Morgen graute, träumte mir, ich hätte mich zu Großvater geschleppt, ihn um Hilfe zu bitten. Er sah mich an und
sagte: «Nenne mir einen Grund, warum ich dir helfen sollte.» Damit wandte er sich ab und ging fort. Ich erwachte in Panik und in Schweiß gebadet und weinte wie ein Kind. Die ganze Nacht war ein einziger langer Kampf gewesen, und als ich zum Morgenhimmel hinaufschaute, der schon heller wurde, seufzte ich vor Erleichterung. Einen Moment befürchtete ich, meine Träume könnten daher rühren, daß ich während des Tages nicht in Kontakt mit meiner Inneren Vision gewesen sei und daß sie nun eine tiefere Botschaft enthielten. Von dieser Botschaft hatte ich keine Ahnung - nur davon, daß ich Qualen gelitten hatte und alles sich von mir abzuwenden, ja, mich anzugreifen schien. Selbst die Wesen, denen ich vertraute — und sogar Großvater - hatten sich von mir abgewandt, und ich fühlte mich so allein, so unwürdig. Nun fing ich an, eindringlich zu beten. Ich schrie zum Schöpfer und sagte laut: «Bitte, ich muß die Weisheit der Dualität finden. Ich muß wissen, was es heißt, jene Brücke zu sein. Ich kann nicht weiterleben ohne dieses Wissen. Ich kann niemandem helfen und nichts bewirken, auch der Erde nicht helfen, ohne die Fähigkeit, in der Dualität zu leben. Ich will diese Brücke sein. Zeige mir bitte den Weg!» Ich blickte auf aus meinem tiefen Gebet, mein Herz war gepeinigt, und Tränen der Verzweiflung standen in meinen Augen. Als ich den Kopf hob und über das Marschland schaute, war ich sehr überrascht, Nancy und einen älteren Mann am äußeren Rand der Bucht Spazierengehen zu sehen. Ich wurde neugierig, denn ich hatte diesen Mann noch nie gesehen und fragte mich, ob er etwas mit dem Bauprojekt zu tun habe. Auch beunruhigte mich der Gedanke, er könne Nancy davon abbringen,
sich
für
die
Bewahrung
der
Marschen
einzusetzen.
Ohne
viel
nachzudenken und einem Impuls folgend beschloß ich, zu ihnen hinüberzulaufen vergaß aber, daß ich am Platz meiner Visionssuche bleiben sollte. Im Näherkommen sah ich, daß der Mann etwas älter war als Nancy, und nahm daher an, daß er vielleicht ihr Freund sei. Er schien auf sie einzureden, aber sie achtete nicht auf ihn, als ob sie ihn absichtlich und im Zorn ignorierte. Ich sprang auf und winkte; die beiden grüßten zurück, und Nancy rief mich zu sich herüber. Ich sprach sie an und fragte, wie es um die Rettung des Marschlandes stände; dabei erwartete ich, sie würde mich ihrem Freund vorstellen. Sie wirkte traurig und besorgt. Ich erfuhr von Nancy, daß der äußere Streifen der Marsch bereits ins Grundbuch eingetragen und besiegelt sei und daß alles zum Besten stände. Dann fragte ich sie, warum sie so deprimiert aussähe.
Bevor sie antworten konnte, sagte ihr Freund: «Weil sie eine Beziehung mit Bill hat, der aber zu alt für sie ist. Und weil sie ihn nicht verlassen will, um ans College zurückzukehren und ihr Diplom zu machen. Sie liebt ihn eigentlich gar nicht, aber sie will es sich nicht eingestehen.» Nancy ignorierte ihn einfach und sagte zu mir, sie fühle sich etwas krank. Ich antwortete: «Na, das ist wohl ein Grund! Kein Wunder, daß du Sorgen hast.» An ihrer verwunderten Reaktion merkte ich, daß sie keine Ahnung hatte, wovon ich sprach. Nancy sah mich bestürzt an. Dann sagte der Mann: «Wie konntest du wissen, was ihr Sorgen macht? Kannst du mich sehen?» In diesem Moment wurde mir klar, daß es gar kein Mensch war, sondern ein Geist. Instinktiv gehorchte ich dem Befehl meiner Inneren Vision, seine Anwesenheit nicht zu verraten; darum versuchte ich schnell abzuschwächen, was ich zu Nancy gesagt hatte, und meinte wie beiläufig, sie wirke einfach irgendwie frustriert. Mehr sagte ich nicht. Insgeheim hoffte ich, daß ich nicht allzuviel verraten hatte. Gleichzeitig aber war ich sprachlos vor Staunen, denn ich sah jetzt beide Welten, die stoffliche und die geistige! Dies wurde mir schlagartig klar, und ich war außer mir vor Freude, weil ich jetzt auf der Brücke zwischen Fleisch und Geist stand. Auch der Geist war außer sich vor Freude. Nancy dagegen trat einen Schritt zurück, einen bestürzten Ausdruck in ihren Zügen. Nun stellte der Geist sich vor als ihr Vater und sagte mir, sein Name sei Mike. Er habe sich immer verzweifelt bemüht, so erklärte er, Kontakt mit Nancy aufzunehmen - seit er und seine Frau Vorjahren bei einem Autounfall starben. Er war begeistert davon, daß er endlich mit Nancy sprechen konnte - das heißt, durch mich sprechen konnte. Und während wir miteinander sprachen, seufzte Nancy plötzlich und begann mir ihr Problem zu erläutern. Mike gab ihr väterliche Ratschläge, die ich weitergab, so gut ich konnte. Nachdem wir ein Stündchen miteinander geredet hatten, sagte Nancy schließlich: «Na, schön. Na, schön. Ich weiß nicht warum, aber ich will deinen Rat befolgen. Ich werde mein Studium abschließen und mein Diplom machen. Meine Güte, du bist nicht mein Vater, weißt du?» In diesem Moment aber drehte sie sich zu mir um, als habe sie Antwort auf eine Frage bekommen, die sie gar nicht gestellt hatte. Und sie fuhr fort: «Irgend etwas an dir ist mir vertraut. Aber ich kann mir nicht schlüssig werden, was.» Dann umarmte sich mich rasch, dankte mir für den guten Rat und verschwand aus meinem Leben. Auch Mike dankte mir und wandte sich ab, um Nancy zu folgen. Ich blieb sitzen und dachte an Nancy, wie glücklich sie gewesen war, als sie ging.
Wie stark und beherrscht hatte sie gewirkt, als ich sie kennen lernte, und nun hatte ich sie tief verstört erlebt. Wenigstens einen Moment, glaubte ich, war ich eine Brücke für sie gewesen. Ich machte mir klar, daß ich zum Platz meiner Visionssuche zurückkehren sollte, um endlich nach Antworten zu forschen. Mein größtes Problem war, überhaupt in das Bewußtsein der Dualität zu gelangen. Eben noch hatte ich an meinem Visionsplatz gesessen, und im nächsten Moment sah ich Nancy mit diesem Geist daherkommen! Absolut sicher war ich mir nur darüber, daß ich, bevor ich die beiden sah, in ein tiefes Gebet versunken war - hatte dies womöglich als Katalysator gewirkt? Doch wie sollte das zugehen? So kam ich zu dem Schluß, daß die Antwort irgendwie im Gebet beschlossen liegen mußte, oder zumindest in den Umständen, unter denen ich mein Gebet verrichtete. Ich versenkte mich wieder ins Gebet und sprach fast die gleichen Worte wie vorhin, diesmal nur mit noch tieferem Ernst. Ich schlug die Augen auf, wie vorhin, aber anders als vorhin blieb das Marschland stumm und unverändert. Nichts geschah, und keine Wesen gaben mir ihre Anwesenheit kund. So versuchte ich es immer wieder, hatte aber keinen Erfolg. Frustriert versuchte ich in den Schleier einzutreten und langsam und vorsichtig den Ort der Stille zu erreichen; aber zu meinem Leidwesen passierte nichts, ja es gab nicht mal einen Schleier. Ich mußte den Platz verlassen, um Großvater zu benachrichtigen — als wüßte er nicht längst, was passiert war! Also verließ ich den Platz meiner Visionssuche und lief zu Großvaters Camp. Es war eine Qual für mich, dieser Weg, denn ich wollte Großvater nicht unter die Augen treten - aber ich wußte, mir blieb keine andere Wahl. Nur in einem Punkt hatte ich ein gutes Gefühl, nämlich daß ich fähig gewesen war, Nancy mit ihrem Problem zu helfen. Ja, es war ein gutes Gefühl wie schon lange nicht mehr, und irgendwie war ich stolz auf mich. Aber ich verhielt mich auch demütig gegenüber der Macht, die über meine «Brücke» floß, und fühlte mich geehrt, daß ich der Geisterwelt dienen durfte. Verzweifelt wünschte ich mir, noch einmal so etwas tun zu dürfen, um anderen Menschen zu helfen. Bei Anbruch der Dunkelheit kam ich in Großvaters Lager und fand ihn vor einem erloschenen Feuer sitzen. Er hob den Kopf, sah mich an und lächelte. Dann sagte er: «Es ist die Pflicht eines wahren Heilers, eine Brücke zu sein für jene, die nicht sehen können. Du wirst ein Licht in der Dunkelheit sein, im Dienste des Schöpfers und der Geisterwelt, um anderen zu helfen.» Großvater machte eine Pause, und ich spürte,
wie ein Lächeln über mein Gesicht flog. Dann fuhr er fort: «Aber, mein Enkel, du hättest beinah die Macht verraten, ohne daß deine Innere Vision es dir erlaubte. Man muß solche Fähigkeiten sehr achtsam verbergen, und jede Situation wird dir vorschreiben, was du zu tun hast. Ich spüre aber in deinem Herzen, daß du wissen wirst, was du zu sagen hast, denn deine Innere Vision ist stärker geworden; sie ist geläutert. Schon bevor du zu mir kamst, hättest du auf die Stimme deiner Inneren Vision hören sollen, die dir sagte, daß du recht getan und keine Gesetz gebrochen hast. Auch hat dein Herz dir gesagt, daß es gut war, was du getan hast, und du freutest dich über das Gefühl, jemand anderem helfen zu können. Eins der besten Gefühle, die du je hattest! Irgendwie ist es wie eine Belohnung für Nancy, denn die Schöpfung belohnt sie dafür, daß sie geholfen hat, das Marschland zu retten.» Er fuhr fort und sagte: «Jetzt aber mußt du zurückkehren und deine Visionssuche vollenden — und die übrigen Antworten finden, die du brauchst. Du hast nichts verloren von dem, was du bislang gefunden hast. Wenn du glaubst, die Dualität habe dich verlassen, so deshalb, weil du im Augenblick nicht vom Geist oder vom Schöpfer gebraucht wirst. Im Moment gibt es nichts zu tun, aber du lebst trotzdem noch immer in der Dualität. Auch wenn diese noch nicht stark ist in dir, bist du fähig, beide Welten zu sehen, wenn der Geist es dir gebietet. Deine Innere Vision wird dich rufen, wenn du von einer Welt zur anderen wechseln oder beide Welten gleichzeitig sehen sollst. Erst wenn wir das letzte Gelübde abgelegt haben, ist es uns gestattet, in der stofflichen und in der spirituellen Welt gleichzeitig zu leben. Du hast dich bereits dem Schöpfer und dem Geist angelobt, doch eines Tages mußt du ein volles Gelübde ablegen.» Damit schickte Großvater mich zurück an den Platz meiner Visionssuche, und ich ging fort, ohne an weitere Fragen zu denken. Als ich an meinen Visionsplatz zurückgekehrt war, herrschte dunkle Nacht. Nur noch ein Tag war mir geblieben für meine Suche, und immer noch gab es so viel Arbeit zu tun. An diesem Punkt konnte ich kaum noch wach bleiben, nicht nur wegen der tiefen Erschöpfung, die ich spürte, sondern auch aus Erleichterung, weil ich nun wußte, daß ich die Dualität nie verloren hatte. Es war, als sei mir das Leben zum zweitenmal geschenkt •worden. Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn diese Gaben mir genommen worden wären, denn ich war noch sehr jung und konnte mir nicht vorstellen, den Rest meines Lebens nur noch in der fleischlichen Realität zu verbringen. Für mich wäre dies überhaupt kein Leben gewesen, und ich verstand nicht, wie die meisten Menschen in dieser Welt sich damit begnügen können,
ausschließlich in stofflicher Materialität zu leben. Spiritualität ist für die meisten etwas, dem sie sich an einem Tag der Woche nicht länger als eine Stunde widmen. Spiritualität ist in Wirklichkeit aber unentwegte Huldigung an den Schöpfer. Nicht lange danach versank ich in tiefen Schlaf, den ich sehr nötig hatte. Anders als in der Nacht zuvor gab es keine quälenden Träume oder Gedanken, die mich geweckt hätten. Vielmehr erwachte ich im Morgengrauen genau an der Stelle, wo ich eingeschlafen war. Ich fühlte mich erquickt und bereit, den letzten Tag meiner Visionssuche mit klarem Sinn und gestärktem Körper anzugehen! Als ich nun auf die Marsch hinausblickte und mich auf meine Morgenandacht vorbereitete, bemerkte ich einen Mann, der direkt zu mir herüberkam. Als er näherkam, stellte ich verwundert fest, daß es Mike war. An meinem Visionsplatz setzte er sich etwas abseits und schenkte mir ein liebevolles Lächeln. Schnell sah ich mich um in der Gegend und stellte begeistert fest, daß ich auch die physische Welt sehen konnte. Ich war wieder in der Dualität — und fast außer mir vor Freude. Wieder lächelte Mike und sagte: «Ich möchte dir danken für das, was du für mich und meine Tochter getan hast. So lange schon versuche ich Kontakt mit ihr aufzunehmen. Aber sie konnte und wollte nicht auf mich hören. Wärst du nicht gewesen, dann hätte sie einen furchtbaren Fehler gemacht. Ich kann dir nicht genug danken.» Ich wußte nicht gleich, was ich ihm sagen sollte. Mir war nicht klar gewesen, daß ich nicht nur Nancy geholfen hatte, sondern auch ihrem Vater. Es war eine gute Lektion, fand ich, denn ich hatte vorher geglaubt, ich könne nur jemandem in der physischen Welt helfen, nicht aber in der spirituellen. Ich hatte nicht gewußt, daß die Macht der Brücke in beide Richtungen fließen konnte. Nun sprach der Geist wieder und sagte: «Da du mir so sehr geholfen hast, möchte auch ich dir einen Gefallen tun und dir helfen. Aber du mußt verstehen, daß ich nicht viel Macht habe, weil ich, solange ich im Fleisch wandelte, kein sehr spirituelles Leben geführt habe. Und hier habe ich zu kämpfen.» Darauf versicherte ich Mike, daß es nicht auf eine Belohnung für irgendeine geleistete Hilfe ankäme. Dies sei nicht der Grund, warum ich ihm oder Nancy helfen wollte. Schließlich sagte er: «Großvater hat dir gesagt, daß du dich eindeutiger für den Schöpfer und die Geisterwelt entscheiden mußt, bevor die Dualität für dich stärker werden kann und bevor du in beiden Welten gleichzeitig leben kannst. Was er damit sagen wollte, ist etwas ganz Einfaches, doch sehr Fundamentales: Diese
Entscheidung bedeutet, daß du dein Leben für den Schöpfer hingeben mußt. Alle deine Hoffnungen und Träume, dein Ich und alles andere mußt du ihm widmen, alles, was du bist, bis zur Hingabe des eigenen Lebens. Aber du bist noch zu jung, um solch ein Gelübde abzulegen, und es gibt so vieles, was du noch lernen mußt. Ich wünschte nur, ich hätte solch ein Gelübde ablegen können, als ich jung war. Dann könnte ich jetzt mehr Gutes tun. Ganz gleich, welcher Philosophie, geistigen Lehre oder Religion wir anhängen — wir können nur dann Werkzeuge des Schöpfers sein, wenn wir diese totale Verpflichtung eingehen. Bis dahin kann die Macht und Klarheit der Dualität nicht für uns wirklich werden.» Er dankte mir noch einmal und ging davon über die Marsch, und dann verschwand er in den Morgennebeln. Ich war zu erschrocken, um Lebewohl zu sagen. Totale Verpflichtung, dachte ich, absolute Hingabe des eigenen Lebens im Dienste des Schöpfer! Wie schwer wäre es, solch ein Gelübde jetzt abzulegen, denn ich liebte die Wildnis über alles und wollte sie nicht verlieren. Ich wollte nicht zurückkehren in die Gesellschaft. Meine Innere Vision pochte an mein Herz und sagte mir, daß ich recht habe - aber nur für den jetzigen Augenblick. Den größten Teil des Tages blieb ich dort sitzen und grübelte über die Dinge, die der Geist mir verkündet hatte. Nein, es quälte mich nicht, was er gesagt hatte. Eher war ich voll Ehrfurcht. Die endgültige und absolute Verpflichtung sollte die letzte Glaubensprobe sein — und ein feierliches Gelübde, den Rest des Lebens für diese Verpflichtung einzustehen. Auf logischer und spiritueller Ebene kam ich zu dem Schluß, daß Mikes Geist recht gehabt hatte: daß ich noch nicht bereit war, jetzt ein solcher Gelübde abzulegen. Nicht, weil ich nicht gekonnt hätte, sondern weil ich nicht genug wußte. Dies wenigstens gab mir einige Herzensruhe und beflügelte meinen Geist. Auch Großvater mußte ein ähnliches Gelübde getan haben, und nur noch dafür lebte er. Ich verstand, warum er das tat, was er tat: weil sein Leben nicht mehr ihm selbst gehörte, sondern unter der Führung des Schöpfers stand. Ich weinte um ihn, lange und schweren Herzens. Ich blieb noch ein Weilchen und versuchte Tränen und leidvolle Ahnung abzuschütteln. Den Rest der Nacht verharrte ich im Gebet und dankte dem Schöpfer und der Geisterwelt für all die wunderbaren Gaben. Beim ersten Lichtstrahl der aufgehenden Sonne war ich wieder unterwegs zu Großvaters Lagerplatz. Obwohl ich wußte, daß ich am nächsten Morgen nach Hause zurückkehren mußte, machte es mir nichts aus. Zu viel Neues hatte ich in mein Bewußtsein aufnehmen müssen, und
nun brauchte ich eine Pause nach all der Suche. Dieser letzte Monat war eine gewaltige Lektion über die Macht des Geistigen gewesen, und jetzt fand ich es an der Zeit, mich ein Weilchen unbeschwert zu tummeln. Endlich erreichte ich Großvaters Camp, kurz nachdem die Sonne am Himmel aufgestiegen war. Ich erzählte Großvater alles, was mir widerfahren war, und ließ nur die Tränen aus, die ich um ihn geweint hatte. Nach einer Pause sagt er mit einem Lächeln um seinen Mund: «Weine nicht um mich, Enkel, ich habe mein Gelübde vor langer Zeit abgelegt, und ich möchte kein anderes Leben führen. Ich tue, was der Schöpfer von mir verlangt, und meine Seele schwebt himmelhoch. Es gibt keine größere Befriedigung im Leben, als selbstlose Arbeit zu tun, besonders zur Heilung der Erde und aller Menschen. Ich tue, wie es meine Vision und mein Herz mir gebieten. Denn ein Mensch, der nicht seiner Vision lebt, der lebt dem Tod. Für mich, mein Enkel, gibt es kein anderes Leben. Alles andere ist nur Stoff und Fleisch — und nichts mehr. Entweder fühlst du dich verpflichtet — oder nicht. Denn niemand kann halb verpflichtet sein. Auch du wirst es eines Tages wissen und dann vor der letzten Entscheidung stehen.» Und Großvater fuhr fort: «Vorhin beschäftigte dich die Frage, wie du so rasch und leicht von meinem Lagerplatz zu dem der alten Frau gelangen konntest, zum Platz der Korbflechterin. Wenn du in der Dualität wandelst, dann kannst du mühelos von einer Welt zur anderen wechseln, denn die Innere Vision befähigt dich, dorthin zu gehen, wo du sein mußt oder gebraucht wirst. Du fragst dich vielleicht auch, wie du von deinem Platz am Bach zum Platz deiner Visionssuche gelangen konntest, ohne Spuren zu hinterlassen. Es kommt daher, mein Enkel, daß dein Geist am Meditationsplatz stark genug war, um deinen Körper durch
den
Schleier
hindurchzutragen.
So
brauchte
der
Körper
sich
nicht
fortzubewegen, sondern nur dort zu erscheinen, wo er gebraucht wurde. Diese Dinge verstehst du noch nicht, denn du mußt noch viel lernen. Die Zeit aber wird kommen, die Zeit wird bald kommen.» Unsere restliche Zeit in der Marsch verging ohne weitere Gespräche über spirituelle Dinge. Vielmehr gingen Rick, Großvater und ich einfach unbeschwert auf Erkundung und spielten, solange wir konnten. Es tat so gut, ein Weilchen frei zu sein von der unentwegten Suche und einfach zu schwelgen in all dieser Herrlichkeit. Bei Sonnenaufgang am anderen Morgen verließ ich das Camp und machte mich auf den Weg nach Hause. Ein letztesmal wandte ich mich um und blickte hinaus auf die
Marsch; und dort, im Licht der aufgehenden Sonne, stand Mike und winkte mir zu. Zu meiner Verblüffung stand Großvater neben ihm, und beide winkten. Endlich begann ich zu verstehen - ohne aber wirklich zu verstehen, was ich verstand. Es sollte mir aber genügen. Ich hatte geschaut, was einst war und was einmal sein könnte. Endlich war ich in eine Welt eingetreten, die nur wenige Menschen im Fleisch jemals kennen- oder gar zu verstehen lernten. Ich gab mich aber damit zufrieden, daß alle Menschen, wie sehr sie auch der materiellen Gesellschaft verhaftet waren, mit ihren Sinnen spürten, daß es eine höhere Welt gab, die sich ihrem Verständnis entzog. Mochten sie noch so sehr die Existenz dieser Welt leugnen, mochten sie noch so sehr versuchen, sich mit erdrückend rationaler Skepsis zu rechtfertigen, so gab es doch tief im Innern eines jeden von uns einen schlummernden Geist, einen Geist, den ich so verzweifelt erwecken wollte. Während ich auf der Schotterstraße nach Hause wanderte, spürte ich, daß ich dem Zeitpunkt der totalen Verpflichtung unmerklich nähergekommen war. Und jetzt verstand ich Großvater.
10
Wasser - das kostbare Blut des Lebens
Es war Mitte August - staubig, heiß und still. Kein Windhauch bewegte die drückende Luft. Die Feuchtigkeit wirkte wie ein Vergrößerungsglas, und die Sonne sengte mit solcher Intensität, daß selbst schattige Plätze keine Erleichterung boten. Ich plagte mich diesen Weg entlang, den wir «die Plackerei» nannten, durch eine Gegend der Pine Barrens, die «die Hölle» hieß. Die Hölle, das war eine gute Bezeichnung für diesen Landstrich, denn hier gab es meilenweit keine Quellen oder Bäche, und dieser Teil des Waldes war immer trocken. Wir vermieden es stets, die Hölle direkt zu durchqueren, besonders im heißen Sommer, denn es konnte mörderisch heiß werden. Oft machten wir Umwege von vielen Meilen, nur um das Innere dieser Landschaft zu meiden. Obwohl wir Stunden brauchten, um außen herumzugehen, wurden die zusätzlichen Meilen aufgewogen durch ausreichend Wasser am Weg. Mir blieb keine andere Wahl, als mitten durch dieses Gebiet zu gehen. Denn ich suchte einen Ort, den wir «den Kessel» nannten, wo ich ein paar Tage bleiben sollte. Der Kessel lag beinah im Zentrum der Hölle, und dorthin gab es keinen anderen Weg als die «Plackerei». Der Kessel war ein Ort, der im Sommer stets gemieden wurde: eine alte Kiesgrube, nicht größer als dreißig Meter im Durchmesser, aber so tief, daß man von unten nicht mehr die Bäume sah. Nichts wuchs in dieser Grube, keine einzige Pflanze, denn es gab kein Wasser und keine Sickerquellen, und der Boden bestand nur aus Steinen und hartgebackenem Sand. Im Sommer war es hier wie in einer Esse, die sengende Hitze wurde verstärkt durch weißen Sand und undurchlässige Steine. Seit dem ersten Tageslicht war ich diesen Pfad entlanggewandert, und jetzt verbrannte die Sonne mir die Haut und zerriß mir die Lippen. Ich hatte kein Wasser ich hätte aber auch nicht getrunken, wenn ich welches gehabt hätte. Ich sollte bestraft werden, gewissermaßen bestraft durch meine eigene Gleichgültigkeit und dafür, daß ich das Geschenk des Wassers für selbstverständlich genommen hatte. Großvater hatte mich hierher geschickt oder vielmehr verlangt, daß ich hierher kommen sollte, und seine Bitte war für mich Befehl. Wenn ich lernen wollte, mußte
ich mich anstrengen bis an die Grenze meiner Kräfte und wenigstens versuchen zu tun, was er verlangte, sonst würde ich in meinem Wissen und meiner Erkenntnis stagnieren. Jede Lektion, jede Bitte war wie eine Sprosse an einer Leiter und führte mich mit jedem Schritt, den ich höher stieg, näher zum letztlichen «Eins-Sein». Großvater war überzeugt, dies würde eine der wichtigsten Lektionen meines Lebens werden. Wie ich den Pfad der Plackerei entlang trottete, kehrten meine Gedanken zurück zu den Ereignissen des Vortages — eines Tages, der jetzt in der erstickenden Hitze so weit entfernt schien. Dieser gestrige Tag schien anzufangen wie manche andere Tage, doch in dem Maß, wie die Augusthitze immer drückender wurde, schien auch unser Tun immer langsamer, unsere Stimmung immer bedrückter zu werden - alles vollzog sich wie in Zeitlupe. Jede Aufgabe fiel uns schwer, das Denken war ein Affront gegen die Realität. Die täglichen Pflichten im Camp wurden in der Hitze des Nachmittags zu einer wahren Ausdauerprüfung. Aber ich wußte, daß ich auch in dieser Hitze voll leistungsfähig sein mußte, denn nur dann würden Körper und Geist so gestärkt, daß ich mich bei jeder Witterung behaupten konnte. Wir waren es gewöhnt,
unser
tägliches
Routinetraining
unter
den
schlimmsten
Witterungsverhältnissen zu absolvieren, die wir finden konnten. Auf diese Weise würden
wir
nicht
vor
widrigen
Bedingungen
kapitulieren,
wenn
eine
Überlebenssituation uns das Höchste abverlangte. Am Spätnachmittag aber begannen für mich die Schwierigkeiten. Wir waren eben von einer langen Wanderung zurückgekehrt, die uns - ohne Wasser am Weg - von unserem Lagerplatz zum Sandsteinbruch führte und wieder zurück zum Camp. Nicht nur war die Hitze gewaltig, sondern es gab auch keinen Schatten am Weg. Dies alles wurde mir noch schwerer, denn ich mußte zwei riesige Sandsteinblöcke schleppen, den ganzen Weg vom Steinbruch zum Camp. Wir brauchten die Blöcke zum Schleifen, um unsere Pfeile zu glätten, die wir in den letzten Tagen angefertigt hatten. Zu sagen, daß ich erschöpft war, als wir den Lagerplatz erreichten, wäre eine Untertreibung gewesen. Ich war so müde, so verschwitzt und durstig, als ich im Camp ankam und die schweren Sandsteinblöcke absetzte, daß mir fast schwarz vor den Augen wurde. Großvater schien wie immer völlig unbeeindruckt von der ganzen Qual, obwohl er die doppelte Anzahl von Steinblöcken geschleppt hatte. Kaum hatte ich die Blöcke abgestellt, rannte ich auf schnellstem Weg zur Wasserstelle, wo wir zu schwimmen pflegten, und stürzte mich sofort hinein. Ich
schwamm und trank gleichzeitig und stellte mir vor, daß mein Körper im Wasser zischte wie wenn man die glühenden Steine der Schwitzhütte mit Wasser begoß. Ich trank so gierig, daß ich mich beinahe verschluckte. Langsam fühlte ich meine Kraft und Energie wiederkehren, und mein Kopf wurde klar, während das Wasser sein Wunder wirkte. Es wusch alle Müdigkeit ab von Körper und Geist, und ich fühlte mich wieder heil und ganz, erquickt und gestärkt. Nun erst bemerkte ich, daß Großvater am Ufer sä K und auf das Wasser schaute, reglos und mit feierlichem Blick. Ich wußte, gewiß war er genauso ausgedörrt und durstig wie ich, aber er ging nicht ins Wasser. Statt dessen betete er wie immer und strich mit der Hand über das Wasser. Irgendwann zitterte er vor Verzückung. Dann erst ging er ins Wasser, langsam und gelassen, beinahe wie beim Taufritual. Und erst viel später sah ich ihn trinken. Zuerst berührte er nur das Wasser mit der Fingerspitze, dann hob er diesen einen Tropfen an seine ausgedörrten Lippen. Er hielt eine Handvoll empor, als Dankopfer an den Schöpfer, und wieder schaute er auf das Wasser, schöpfte mit hohl gewölbter Hand, hielt es empor zur Sonne und atmete tief seinen Duft. Dann erst begann er zu trinken. Zuerst einen langen, bedächtigen Schluck, wie ein Weintester, der einen kostbaren Jahrgang prüft; dann wieder ein Gebet und schließlich die lang ersehnte Labsal. Ich schaute ihm zu, wie immer voll Staunen. So tat er es jedesmal, wenn er ins Wasser ging oder trank - aber warum, fragte ich mich, wenn er doch so verdammt durstig war, von der Hitze ganz zu schweigen? Er hatte immer dem Wasser die Ehre erwiesen, aber manchmal hätte er sich dennoch sofort hineinstürzen können, wie ich es tat, besonders an einem so heißen Tag. Ich bin sicher, der Schöpfer und der Geist des Wassers hätten Verständnis gehabt, daß er gleichwohl die Gabe ehrte. Ohne mich anzusehen, sprach Großvater: «Ganz gleich, wie brennend unser Durst auch sein mag, müssen wir uns doch immer Zeit nehmen, die Gabe des Wassers zu ehren, denn sie ist heilig. Sie ist das Geschenk des Lebens. Gerade bei brennendem Durst, wenn der Körper am meisten nach Wasser verlangt, sollten wir uns Zeit nehmen für Gebet und Dank. Indem wir dies tun, opfern wir dem Wasser einen Teil unsres Selbst, oh, nur ein kleines Opfer, und zügeln unseren Durst, bis wir die Gabe geehrt haben. So weiß der Schöpfer, daß uns die Dankbarkeit für das Wasser •wichtiger ist als der Durst, wichtiger als unser körperliches Wohlbefinden.» Es schockierte mich nicht mehr, daß Großvater genau wußte, was ich dachte. Denn immer schien er es zu wissen. Im Laufe der Jahre hatte ich dies fraglos zu
akzeptieren gelernt. Ich sagte ihm aber, ich könne nicht einsehen, warum der Schöpfer oder der Geist des Wassers kein Verständnis haben sollten, daß wir ihre Gaben ehrten, auch wenn wir es nicht mit einem Dankgebet ausdrückten. Ich fand, der richtige Zeitpunkt, das Wasser zu ehren, sei dann gekommen, wenn wir nicht mehr unseren brennenden Durst stillen müßten; wir ehrten das Wasser doch immer mit den Zeremonien der Schwitzhütte. «Ist das nicht genug?» fragte ich. Großvater sah mir in die Augen und sagte: «Es kann niemals genug sein. Die Massen ehren das Wasser nicht mehr. Sie sprechen nicht mehr zum Wasser, denn sie benutzen es und infizieren es mit ihrer Gleichgültigkeit. Sie nehmen das Wasser, dies Blut unserer Mutter Erde, als Selbstverständlichkeit. Darum müssen wir darauf achten, die Gabe zu ehren, damit wir sie nicht für selbstverständlich halten. Wir müssen erkennen, daß das Blut der Erde auch unser Blut ist und das Blut aller unserer Ahnen.» «Du behauptest also, daß wir das Wasser jedesmal ehren müssen, wenn wir es benutzen, damit wir nicht so denken wie die Massen», sagte ich. «Aber ich glaube nicht, daß ich das jemals tun könnte, denn ich bin immer dankbar für die Gabe des Wasser.» - «Nein, bist du nicht», sagte Großvater. «Du bist bereits gleichgültig und undankbar geworden, sonst hättest du das Wasser geehrt, bevor du deinen durstigen Körper labtest.» Ich dachte gründlich nach und versuchte Worte zu finden, um mich zu rechtfertigen. «Aber wieso darf ich das Wasser nicht ehren, nachdem mein Durst gestillt und mein Körper erquickt ist?» fragte ich. «Weil es dann», sagte Großvater feierlich, «kein Selbstopfer mehr ist. Schon wenn du einen Moment dankbar stehen bleibst, bevor du zu trinken anfängst, zeigt diese symbolische Handlung dem Schöpfer, daß du bereit wärst, dich für das Blut deiner Mutter zu opfern.» Noch einmal dachte ich nach über das, was Großvater sagte, und war jetzt verzweifelt bemüht, mein Verhalten zu rechtfertigen. Auch wenn kein Vorwurf und kein Tadel in Großvaters Stimme lag, mußte ich tief in mir eine Antwort finden. «Ich sehe trotzdem nicht ein, warum wir jedesmal das Wasser ehren müssen», sagte ich trotzig. Großvater antwortete: «Du kannst es nicht verstehen, mein Enkel, weil du den Geist des Wassers nicht kennst. Du glaubst, es sei zuviel verlangt, deinen Durst auch nur einen Augenblick zurückzustellen, um das Wasser zu ehren. Du weißt nichts vom Wasser. Wie kann ich also annehmen, du wärst bereit, für das Wasser zu sterben? Solange du nicht das Wasser kennst und damit die Bestimmung des Bluts deiner
Mutter, wirst du es nicht nötig finden, das Wasser zu ehren, jedesmal, wenn du die Gabe empfängst. Solange du nicht in der Weisheit des Wassers lebst, kann ich dir nicht begreiflich machen, wovon ich spreche.» Ich war verletzt, wußte aber, daß Großvater recht hatte mit dem, was er sagte. Ich verstand das Wasser nicht, wie er es tat. Wo konnte ich Antworten finden — oder jene Weisheit des Wassers? Wie konnte ich jemals die Weisheit des Wassers lernen und auch erfahren, was ich versäumte? Seine Stimme unterbrach meine Überlegungen: «Wenn du vom Wasser lernen willst, dann mußt du eine spirituelle und physische Reise zum Wasser unternehmen, eine Reise in der Dualität, wobei du das Wasser auf physischer und spiritueller Ebene zugleich kennenlernen sollst. Wohl kennst du das Wasser auf der physischen Ebene von Durst und Bedürfnis, aber dein Wissen ist unvollständig. Du mußt das Blut unserer Mutter auch auf spiritueller Ebene kennenlernen, bevor du verstehen kannst, und eins werden mit der Weisheit des Wassers.» «Und wie soll ich diese Reise antreten?» fragte ich. Großvater antwortete: «Wandere zu jenem Ort, den wir den Kessel nennen, und nimm kein Wasser mit. Begib dich an diesen Ort, als "wolltest du dich für die Visionssuche opfern, und warte auf Antworten. Triff keine Vorbereitungen, und versage dir unterwegs jeden Gedanken daran, Wasser zu suchen. Geh einfach hin mit lauterer Absicht, und gib dich der Weisheit des Wassers hin.» Diese Worte hallten noch immer durch meinen Kopf, während ich diesen endlosen Pfad entlang trottete, den wir die Plackerei nennen und der sich wie ein glühender Amboß unter meinen Füßen anfühlte. Aber wie kann ich mich dem Wasser opfern und hingeben, wenn es in der Gegend, wo ich sein werde, kein Wasser gibt? Mein Durst brannte mir Löcher ins Gehirn, während kleine Staubwolken hinter meinen schleppenden Füßen aufstiegen. Am frühen Nachmittag erreichte ich den Rand der Grube, und die Sonne brannte noch heißer herab als den ganzen Tag schon. Wie ich nun in die Grube hinunterschaute, war deutlich zu sehen und zu spüren, warum sie «der Kessel» hieß. Die Hitze brodelte aus der Tiefe herauf. Alles wirkte öde und konturlos, nicht anders als eine becherförmige Vertiefung in der Erde. Die Wände waren meist sehr steil und zernarbt von tiefen Erosionsrinnen. Keine Pfade führten hinein oder heraus aus der Grube, und falls es welche gegeben hatte, waren sie längst durch die tiefen Erosionsrillen zerstört worden. Sogar der Waldweg, der vom Pfad der Plackerei zum
Kessel führte, war völlig überwachsen. Ich sprang ab von der Kante und hangelte mich über steile felsige Böschungen hinunter zur Mitte der Grube. Bei dieser Visionssuche konnte wahrhaftig von Komfort keine Rede sein, denn der Boden war mit Felsbrocken übersät, vermischt mit weißem Sand, zusammengebacken und hart wie Beton. Es gab kaum Spuren tierischen Lebens bis auf ein paar Vögel, die im Sand nach Insekten pickten oder kleinen Kieseln, die sie für ihre Verdauung brauchten. Dort vom Grunde der Grube sah man nichts als Himmel. Die Bäume rings um die Grube standen so weit vom Rand entfernt, daß sie nicht zu sehen waren. Hier am Grund dieser heißen Grube bestand die Welt aus glühend kahler Erde und einem konturlosen Himmel. Es war ein Extrem der Verschmelzung von Erde und Himmel, die eins wurden und in ihrer Fusion einen Feuerofen schufen. Allein am Boden der Grube zu sitzen wurde schon zur Prüfung. Ich trug nur ein Lendentuch, das kaum mein Hinterteil bedeckte. Die Erde verbrannte meine Fußsohlen, versengte mir die Hinterbacken und glühte unter den Händen. Es dauerte eine Ewigkeit, bis ich mich hinsetzen und von dem anstrengenden Marsch erholen konnte. So blieb ich stundenlang sitzen, bis der Schatten, den mein Körper warf, dann die Erde abkühlte. Endlich konnte ich mich ausstrecken, ohne mir den Rücken zu verbrennen. Wie gut tat es, einfach dazuliegen und sich zu entspannen. Die Sonne verschwand hinter dem Rand der Grube, und endlich wurde es kühler. Bald war ich fest eingeschlafen, ein dringend notwendiger Schlaf. Mir schmerzten alle Glieder vor Erschöpfung, und der Schlaf brachte eine zeitweilige Linderung meiner Qual. Ich
erwachte
in
tiefdunkler
Nacht,
hemmungslos
zitternd.
Mein
glühender
Sonnenbrand bewirkte, daß die kühle Nachtluft sich auf der Haut noch kälter anfühlte. Kaum zu glauben, daß ich mir trotz meiner tiefen Bräune einen Sonnenbrand geholt hatte. Ich konnte nicht schlucken, so trocken war mein Mund, und Speichel wäre ein Luxus gewesen. Unruhig schlief ich dann für den Rest der Nacht. Immer wieder erwachte ich von schlotternder Kälte oder brennendem Durst. Meine Träume waren qualvoll und sinnlos und handelten stets von Wasser. Es gab aber keine Linderung für meine körperliche und seelische Qual. Wie oft erwachte ich, ohne zu wissen, wo ich war, und jedesmal brauchte ich länger, bis ich mich orientieren konnte und mich erinnerte, warum ich hier war. In Panik erwachte ich mit dem Gefühl, daß die Sonne mein Fleisch auf den Knochen
kochte und ich nicht wußte, wo ich mich befand. Ich hatte bis in den hohen Morgen geschlafen, als die Sonne schon ihren flammenden Weg über die Sandgrube antrat. Ich konnte nicht mehr klar denken, auch nicht mehr längere Zeit stehen bleiben, ohne umzufallen. Jedesmal, wenn ich es versuchte, spürte ich eine wirbelnde Schwärze im Kopf,
und
ich
mußte
mich
schnell
wieder
setzen,
um
einer
Ohnmacht
zuvorzukommen. Endlich erhob ich mich mit letzter Kraft auf Hände und Knie. Mühsam hielt ich mich im Gleichgewicht, bis ich langsam aufstehen konnte und zu gehen versuchte. Jeder Schritt versengte mir die Fußsohlen, und ich war gezwungen, mich wieder vorsichtig hinzusetzen. Der Tag war lang und qualvoll. Keine Wolke belebte die Monotonie des dunstigen Himmels, kein Windhauch kühlte dort unten meine glühende Haut. Der Durst wurde so stark, daß ich mich danach sehnte, der Feuergrube zu entrinnen und ins Lager zurückzukehren. Blasen bildeten sich auf meinen Schultern, auf meinem Rücken und meinen Schenkeln, und ich spürte tiefe Risse in meinen Lippen klaffen. Meine Stirn, meine Nase, Wangen und Kinn waren mit wäßrigen Pusteln bedeckt, die bei Berührung näßten. Die Augen brannten mir vom unentwegten Zwinkern, bis die ganze Sandgrube in der flimmernden Hitze verschwamm. Vor allem rumorten schreckliche Kopfschmerzen unter meiner Schädeldecke, und trotz der hämmernden Hitze fiel ich abwechselnd in Phasen von Schüttelfrost oder Überhitzung. Der entsetzliche Durst aber blockierte jeden klaren Gedanken. Bis heute kann ich mich kaum erinnern, wie ich den Nachmittag und den Abend des zweiten Tages überstand. Ich erinnere mich nur noch an die brütende Hitze und den gnadenlosen Durst. Es gab nichts mehr in meinem Leben als diesen dauernden Durst und die Trugbilder von glitzerndem Wasser in all der flimmernden Hitze. Immer wieder versagten meine Kräfte, wenn ich aufzustehen versuchte, und ich konnte nicht mehr klar denken. Nichts unterbrach die Monotonie dieser Folter, nicht mal die Ablenkung der Gedanken war mir vergönnt in dieser Feuerhölle von Himmel und Erde — von logischem Denken ganz zu schweigen. Am Nachmittag des dritten Tages, als ich kaum noch konnte» versuchte ich mehrmals, aus dem Kessel zu fliehen, um ins Camp zurückzukehren. Ich war außer mir vor Angst, denn ich wußte, lange würde ich es nicht mehr aushaken ohne Wasser«r Unmöglich schien es, die endlosen Meilen zum Camp ohne Wasser zu schaffen — doch meine einzige Hoffnung war, das Lager zu erreichen. So versuchte ich immer wieder aufzustehen und ein paar Schritte zu gehen, aber jedesmal wurde
mir schwarz vor den Augen. Ich war am Ende meiner Kräfte. Meine Haut war stellenweise aufgesprungen und blutete, meine Lippen von tiefen Spalten zerrissen und überzogen von angetrocknetem Blut. Ich war dabei, die Schlacht zu verlieren, ja, mein Leben zu verlieren. Ich brauchte Wasser, und ich brauchte es bald — sonst mußte ich sterben. Jetzt wurde mir klar: Wenn ich keine Hilfe fand, würde ich verdursten. In blinder Panik und unter Aufbietung aller Kraft, die noch in mir steckte, versuchte ich den Grubenrand zu erklimmen. Ein paar schwache, von Panik getriebene Schritte — dann brach ich zusammen. Wie ich dort im Staub lag, versuchte ich zu beten. Aber nur ein paar schwache, tonlose Worte kamen hervor, kaum verständlich. Ich dachte an Wasser, ich hörte Wasser und roch und schmeckte sogar Wasser. Ich sah Bilder des Wassers vor mir und ringsumher, doch wenn ich die Lippen an dieses Wasser führte, um zu trinken, warf mich die Berührung staubiger Erde zurück in die Realität. Stundenlang mußte ich dort gelegen sein, irgendwo zwischen Qualen und Schlaf und halluzinierend in todähnlicher Starre. Wieder hörte ich Wasser, diesmal aus großer Höhe herabstürzend. Ich schüttelte immer wieder den Kopf, aber das Bild eines Wasserfalls wollte nicht vergehen. Und nun hörte ich eine schwache Stimme aus dem Wasserfall dringen. Da schien sich das nebelhaft verschwommene Bild einer Gestalt in der Gischt zu bewegen. «Rette mich, rette mich», flehte sie. Verwundert hob ich den Kopf und sagte: «Dich retten? Wie könnte ich dich retten. Ich bin am Verdursten. Du mußt mich retten, bevor ich dir helfen kann.» Es folgte ein Schweigen, unterbrochen nur vom Rauschen des Wasserfalls. Dann kam die Stimme wieder und sagte: «Die Zeit, als ich noch zu retten gewesen wäre, ist lange vorbei. Jetzt erleidest du das Los der Enkel, die nach dir kommen werden. Du kommst zu spät.» Die Stimme verschwand im Brausen des Wassers und schwieg auf mein beschwörendes Rufen. Das Wasser brauste weiter, wirbelnde Wassermassen in aufgelöster Gischt, wogend und tosend wie tausend brüllende Stimmen, die mich jetzt wieder anflehten, etwas zu tun, irgend etwas, um die Ermordung der Enkelkinder zu verhindern. Aus der schäumenden Gischt trat der Geist einer Frau hervor, weiß wie die wirbelnden Wasser. Sie stand ungerührt mitten im Sturm der stürzenden Wassermassen. Ich winkte ihr, angezogen von ihrer Schönheit, und berührte ihre Hand, und für einen Moment war mein Durst nur noch ferne Erinnerung. Ich empfand Frieden, und meine Kräfte kehrten zurück. Jetzt, dachte ich, kann ich ihr wirklich helfen, kann ich den
Geist des Wassers retten. Aber plötzlich verwandelte sich ihre Schönheit in das häßliche und entstellte Bild eines Dämons. Ihre zarte Haut verging, abgelöst von Wunden und Narben, aus denen Blut und Eiter tropften. Vergiftet und würgend, giftige Dämpfe und menschlichen Unrat in großen Massen ausstoßend, fiel sie vor mir auf die Knie und flehte um Rettung, flehte mich wieder an, etwas zu tun. Irgend etwas, um ihr Leiden zu lindern. Ich stand starr vor Schreck, hilflos und unfähig, etwas zu tun. Nach einem qualvollen Moment war sie verschwunden, der Wasserfall war verschwunden, und ich befand mich wieder im Feuerofen, mein Durst noch schlimmer denn je zuvor, und ich spürte, wie der Tod mich umkreiste. Viel früher hätte ich etwas tun sollen; Reue und Bedauern lasteten auf meinem Gewissen, und ich sank auf den staubigen Körper der Erde. Mein Kopf wirbelte. Einen Augenblick hatte ich Linderung verspürt, aber jetzt war alles vorbei. Ich weinte, ich schrie, aber meine Klage blieb tränenlos, jetzt, da mein Körper jeden Tropfen Flüssigkeit zu behalten suchte. Was hätte ich tun können? In meinem Zustand von Schwäche und Durst war ich ohnmächtig, konnte nicht helfen. Ich wußte nicht, was ich tun sollte, um das Wasser zu retten; und selbst wenn ich's gewußt hätte, war ich zu spät gekommen, wie der Geist des Wassers gesagt hatte. Wieder heulte ich und schrie: «Wäre ich doch gewarnt worden, wäre ich doch früher gewarnt worden!» Damals, als ich noch bei Kräften war, hätte ich etwas tun können. Und wieder stürzte ich in den Staub, und mir schwindelte vor Durst und Qual. Hätte ich doch gewußt... Dann erwachte ich wieder vom Duft und Geräusch frischen Wassers — ein Bach in den Pine Barrens. Ich hob den Kopf und sah ein winziges Rinnsal sich durch den Dom des Fichtenwaldes schlängeln. Leuchtende Sonnenstrahlen drangen durch den Dunst des Fichtentempels und fielen auf die weichen Moosteppiche, frisch wie smaragdgrüne Tümpel. Wasser plätscherte murmelnd unter gestürzten Baumriesen und suchte sich einen Weg in den Sumpf. Dieser Ort wirkte so frisch und rein und heilig, ein Ort, wo man gewiß den Großen Geist erreichen konnte. Und jetzt sah ich Großvater, der am Ufer des Bächleins saß und aufs Wasser schaute, und mein Herz tat vor Freude einen Sprung. Ich war gerettet. Ich lief zum Wasser und stürzte am Ufer auf die Knie. Unter mir spürte ich den kühlen Moosteppich und sah die Klarheit des Wassers vor meinen Augen. Im gleichen Moment hörte ich Großvater weinen und schaute mich nach ihm um. Seine Augen
standen voll Tränen, während er auf das Wasser starrte, und seine Lippen bewegten sich im Gebet. Ich fragte ihn, was ihm . fehle, und vergaß meinen Durst — mehr in Sorge um sein Leid. Er sah mich an, sah mir direkt in die Augen und sagte: «Das Wasser hier stirbt. Es ist vergiftet, du kannst es nicht trinken. Der Geist des Wassers hat mich gerufen und mir sein Leid geklagt, er müsse bald sterben.» - «Aber das Wasser scheint rein und klar», sagte ich, ungläubig auf das Wasser starrend. «Du siehst es nicht, was den Geist des Wassers mordet», sagte Großvater. «Es ist der unsichtbare Mörder, der von der Gesellschaft kommt und in dieses Wasser einsickert. Bald wird alles hier tot sein. Dieser Tempel wird sterben, und die hohen Fichten werden weiß gebleichte Skelette sein, ein Monument menschlicher Habgier und Gleichgültigkeit.» Wieder starrte ich ungläubig auf das Wasser, und mein Durst flammte auf wie Feuer in der Seele. «Siehst du, mein Enkel, die Fische und Schildkröten sterben, und manche sind bereits tot», fuhr Großvater fort. «Selbst die Blumen und Moospflanzen am Ufer sind schon farblos und welk.» Jetzt erst sah ich im Wasser die schlaffen, weiß gedunsenen Leichen von Fischen schweben. Schildkröten
schwammen
vorbei,
schwach
und
farblos
und
entstellt
durch
schwärende Wunden. «Trink nicht davon, Enkel», sagte Großvater. «Du bist gewarnt, das Wasser wird dir den Tod bringen. Du bist gewarnt.» Ich schrie auf vor Qual, so heftig bohrte mein Durst. Plötzlich aber war alles vorbei, und ich befand mich wieder im Kessel, in meinem Grab. Und ich erinnerte mich, dies war kein Traum. Vor ein paar Jahren war es geschehen, daß Großvater mich warnte, kein Wasser aus einem Bach zu trinken, der ein paar Meilen südlich von unserem Camp vorbeifloß. Er hatte recht gehabt, denn heute hier im Staub wußte ich, daß dieser Bach längst gestorben war wie auch der Fichtenwald. Dort gab es keine Fische und Schildkröten mehr, und nur wenige Tiere kamen noch zu dem Bach, um zu trinken. Wahrlich, ich war gewarnt worden, hatte aber nichts getan. Genau wie der Geist des Wasserfalls gesagt hatte: Ich war gewarnt worden. Fröstelnd erwachte ich in sternklarer Nacht. Ich wußte, es war ein günstiger Zeitpunkt, um es noch einmal zu versuchen: um mich aus der Sandgrube zu retten und ins Camp zurückzukehren. Wenn ich den Weg in der Nacht zurücklegte, brauchte ich nicht mit Hitze und sengender Sonne zu kämpfen. Mi konnte das bißchen Flüssigkeit sparen, das sich noch in meinem Körper befand. Das nächste Wasser war kaum mehr als acht Meilen von der Grube entfernt, und bis zum Morgengrauen konnte ich diesen kleinen See erreichen. Dort an seinen Ufern würde
ich mich einen Tag lang erholen, bevor ich zum Lagerplatz zurückkehrte. Ich wußte zwar, daß auch das Wasser des Sees kaum noch trinkbar war, aber wenn ich nicht allzu viel trank, dürfte es mir nicht schaden. Ich hatte vor, nur soviel zu trinken, daß ich die Kraft für den Rückweg ins Camp fände. Und wenn ich es bis zum See schaffte, konnte ich dort schwimmen und mir Linderung verschaffen für meine verbrannte Haut. Schon die Böschung des Kessels hinaufzuklettern schien eine Ewigkeit zu dauern. Bis ich oben war und mich über den Rand zog, hatte ich kaum noch Kraft in mir. Ich mußte mich hinlegen und mich ausruhen, bevor ich wagen konnte, mich auf den Weg zu machen. Mir war klar, daß die Fortbewegung viel langsamer und mühsamer sein würde, als ich angenommen hatte. Nach dem Stand der Sterne zu urteilen, glaubte ich immer noch ein paar Nachtstunden vor mir zu haben, die mich vor Sonne und Hitze bewahren würden, bis der See nicht mehr weit wäre. Ich zweifelte nicht, daß ich es versuchen mußte, denn unten im Kessel zu bleiben hätte den sicheren Tod bedeutet. Bei meinem Weg durch die Nacht spürte ich meine Haut brennen und meinen Durst lodern. Jeder Schritt war harte Mühe, denn oft stolperte und stürzte ich. Manchmal verlor ich die Orientierung und den Weg, der vom Kessel zum Pfad der Plackerei führte. Es dauerte viel länger, als ich gedacht hatte, bis ich endlich die Plackerei erreichte, und bereits nach der ersten Meile wurde es hell am Himmel. Ich lief aber weiter, und eine schreckliche Ahnung beschlich mich. Ich hatte nichts gewonnen aus meinem Aufenthalt in der Sandgrube. Ja, ich war dankbarer denn je für das Wasser, doch die Lektion, die ich gelernt hatte, war längst nicht so großartig, wie Großvater es mir verheißen hatte. Es fehlte etwas, aber ich war zu nah am Verdursten, um jetzt noch einmal umzukehren. Ich schleppte mich weiter und ignorierte das aufziehende Tageslicht. Wirre Gedanken, durch die surrealistisch nächtliche Landschaft noch gesteigert, wurden abgelöst von Phasen der Desorientierung und Panik. Ich war so niedergeschlagen, denn ich hatte in meiner Vision versäumt, den Geist des Wassers zu suchen. Ich hatte ihn nicht kennengelernt, und bis auf ein tieferes Gefühl der Dankbarkeit für das Wasser war meine Einstellung dazu dieselbe wie immer geblieben. Gewiß hatte ich eine Lektion gelernt durch meine körperlichen wie inneren Qualen, aber ich war nicht in die spirituelle Sphäre des Wassers eingetreten. Lange schwankte ich, ob ich zur Sandgrube zurückkehren oder mich weiter zum See schleppen sollte. Nur mein
quälender Durst trieb mich weiter zur ersehnten Linderung am See. So marschierte ich durch den Morgen, meine Schritte gehemmt jetzt durch glühende Sonne und drückende Hitze. Normalerweise hätte es viele Tiere am Weg gegeben, aber nun verbargen sich alle vor der Sonne. Mir schien, als sei ich das einzige Lebewesen, der einzige Narr, der in knallender Sonne marschierte. Der einzige Narr, der am Verdursten war. Ich fühlte mich so im Widerspruch zur Harmonie des Lebens und zu den Gesetzen der Natur. Auch meine Verletzlichkeit bekam ich zu spüren, da die Natur mich wieder einmal zur Vernunft brachte, meinen Stolz brach und mich demütigte. Und immer peinigte mich der Gedanke, daß ich dort in der Sandgrube im spirituellen Sinn nichts gewonnen hatte. Ich hatte versagt, aber zum Umkehren fehlte mir die Entschlußkraft. Kurz nach dem Höchststand der Sonne sah ich endlich das ferne Ufer des Sees. Losrennen konnte ich nicht mehr, denn meine Kräfte waren am Ende. Doch ungeheure Erleichterung überkam mich, als ich mich näherschleppte und eine Weile stehenblieb, um lange auf das Wasser zu starren, Wasser, das mir das Leben wiederschenken sollte. Was mich aber beunruhigte, war ein dichter Nebel, der den See verhüllte. Nebel zu dieser Tageszeit — das war nicht normal. Aber ich überlegte nicht lange und watete sofort in das dunstverhüllte Wasser. Ich dachte nur noch an die Linderung, die ich beim Trinken und Schwimmen finden würde. Kaum war ich im Wasser, da fingen meine Augen und meine Kehle heftig zu jucken an. Es war ein ätzendes Jucken, als atmete ich den Dunst eines aggressiven Putzmittels. Ich konnte kaum Luft holen, kaum noch sehen, und mir schwindelte. Auch meine Füße und Beine fingen an zu jucken. Jeder Körperteil, der mit dem Wasser in Berührung kam, begann zu jucken. Zuerst dachte ich, es sei nur eine Reaktion meiner sonnenverbrannten Haut auf das Wasser, und ohne zu zögern, stürzte ich mich ganz hinein. Im selben Moment war mir, als stünde mein ganzer Körper in Flammen, und es benahm mir den Atem. Das Wasser, das mir in den Mund drang, schmeckte nach Terpentin, und während ich aus dem Wasser floh, schüttelte mich ein unkontrollierbares Würgen. Noch ahnte ich nicht, was hier los war. Mein Kopf schien wie betäubt von chemischen Dünsten. Als ich das Ufer erreichte und die Böschung hinaufstürzte, heraus aus dem Wasser und diesem Nebel, konnte ich wieder Luft holen. Ich schaute an mir herunter und stellte entsetzt fest, daß ich am ganzen Leibe Verbrennungen hatte und offene Wunden, wo ich mit dem Wasser in Kontakt gekommen war. Ungläubig schaute ich
mich um - und entdeckte am anderen Ufer des Sees etliche Dutzend rostiger Blechtonnen liegen; viele waren aufgeplatzt, und chemische Gifte strömten hervor. Der Inhalt der Tonnen hatte sich über die ganze Wasserfläche ausgebreitet. Gedunsene und verweste Fischleiber trieben im Wasser, und die Vegetation am Ufer war welk oder abgestorben. Der See war tot, mein Körper von Chemikalien verbrannt und zerfressen, ich litt höllische Schmerzen, und meine Kehle war so abgeschnürt, daß ich nicht mehr atmen konnte. Verzweifelt rang ich nach Luft - und erwachte am glühenden Grund des Kessels. Alles war nur ein Traum gewesen, ein schrecklicher Traum. Ich mußte mich vorsichtig aufrichten und den Kopf schütteln, um mich aus seinem lähmenden Griff zu befreien. Mein Durst drang mir wieder bohrend ins Bewußtsein, und alles drehte sich vor mir, als ich aufrecht zu sitzen versuchte. Ich brauchte eine Weile, um zu erkennen, daß dieser glühende Horizont nicht das Ende des Tages bedeutete, sondern den Anfang eines neuen. Ich hatte jedes Gefühl für Zeit und Ort verloren, und
mein
Bewußtsein
war
verzweifelt
bemüht,
die
physische
Realität
wiederzugewinnen. Traum und Wirklichkeit flössen ineinander, so daß eine Unterscheidung fast unmöglich wurde. Als ich jetzt im weichen Morgenlicht den Kessel überblickte, hatte ich das Gefühl, daß irgend jemand oder irgend etwas mich beobachtete. Ich suchte mit den Augen den Grubenrand ab, aber dort an der dämmerhellen Seite der Grube war nichts zu sehen. Die östliche Seite lag noch im Dunkel des nächtlichen Himmels. Ein paar Sterne schimmerten aus dem tiefdunklen Firmament. Und jetzt gewahrte ich seine Gestalt. Anfangs glaubte ich, es sei Großvater, aber dann sah ich, er war zu hager und gebrechlich, als daß es Großvater hätte sein können. Und nun erkannte ich, daß es der Alte aus meiner Vision war, mein Enkel, der mich wieder mit seiner Gegenwart heimsuchte.* Die Erinnerung an diese Vision gemahnte mich auch daran, daß ich noch immer nichts getan hatte. Abwartend blickte ich der dunklen Gestalt entgegen und wartete auf diese Worte, die mir die Seele zerreißen würden. Er sagte nichts, schüttelte nur den Kopf und ging fort.
* Diese Vision mit dem Alten, seinem Enkel, erzählt der Autor in Kap. 11, S. 262ff. Anm. d. Lekt.
Sehnsucht und Einsamkeit überfielen mich. Nicht mal mein Durst konnte mich vom Bild dieses Alten ablenken, vom Gedanken an seine quälende Botschaft, die er mir immer brachte. Ich hatte noch immer nichts getan. Noch immer sollte ich Zerstörung und Leid als Vermächtnis für meine Kinder und Enkel hinterlassen. Ich lag mit dem Rücken auf dem staubigen Körper der Erde und weinte ohne Tränen. Ich hatte nichts getan, und ringsumher ging der Mord an der Erde weiter. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Meine Stimme würde kein Gehör finden in all dem Trubel und all den Zerstreuungen der Gesellschaft. Wie ich dort flach auf der Erde lag, eng angeschmiegt, hörte ich wieder das Wasser plätschern und tröpfeln und sickern. Anfangs wußte ich nicht, woher das Geräusch kam, und als ich spähend den Kopf hob, war es verschwunden. Verwirrt ließ ich den Kopf wieder zur Erde sinken, und das Geräusch fließenden Wassers war wieder da. Mir dämmerte, daß dieses Geräusch tief aus dem Innern der Erde kommen mußte. Ich wußte, daß unter mir ein riesiges Wasserreservoir lag. Die Pine Barrens waren nichts andres als ein riesiges Sandbecken voll klaren Wassers, das wußte ich wohl. Aber es war befremdlich, das Wasser tatsächlich zu hören. Ich erinnere mich, daß Großvater sagte, man könne das Blut der Mutter Erde in der Tiefe rauschen und pochen hören, wenn man das Ohr an den Boden legte. Ich lauschte lange in einem Zustand irgendwo zwischen Traum und Phantasie und war schließlich fest eingeschlafen. Und da träumte mir, daß ich in der Erde versank. Ich spürte das Erdreich ringsumher, es war wie Schwimmen in flüssiger Erde, ähnlich dem Gefühl, im Schlamm zu liegen. Immer tiefer sank ich hinunter, bis ich festen Boden erreichte — in einer riesigen unterirdischen Höhle. Überall sah ich nassen Fels, von dem Wasser tropfte. Das Murmeln und Plätschern von Rinnsalen hallte durch die riesigen Kavernen, und ich stand zitternd vor diesem gewaltigen Bild. In der Mitte der Höhle unter einer hohen Felswand floß ein tiefer, kristallklarer Bach - von einer Reinheit, desgleichen ich nie gesehen hatte. Mir wurde klar, daß ich träumte, doch aufwachen konnte ich nicht, so intensiv und real waren die Bilder. Ich spürte förmlich, wie ich am ganzen Leib zitterte in dieser klaren und feuchten Kühle. Ob es spirituelle Wirklichkeit war oder traumhafte Einbildung - jedenfalls begann ich durch die Kavernen zu wandern, immer dem Fluß entlang. Dort wo der Fluß gegen die feste Felsmauer stieß, sprang ich hinein und ließ mich schwimmend dahintreiben. Der Fluß schien mich meilenweit von der ersten Höhle fortzuführen, dabei immer
heftiger wogend und rauschend. Mir war, als schwimme ich in einem gewaltigen Blutstrom der Erde; ich trieb ohne Widerstand dahin und überließ mich ganz dem Fluß lauf. Nie vorher war ich in solcher Reinheit geschwommen. In diesem lindernden, heilenden Wasser fühlte ich mich wieder heil und ganz. Manchmal blickte ich unterwegs auf und sah Bäume über mir, sah sie durch Sand und Felsen hindurch. Es war, als sei ich ein Fisch und blickte durch unbewegtes Wasser nach oben. Ich fühlte die Wurzeln der Bäume, die sich ins Wasser hinunter streckten. Über mir sah ich Quellen aus dem Boden sprudeln, und Tiere tranken aus stillen Teichen. Ich schwamm im Lebensblut des Planeten und beobachtete alle Lebewesen, die sich am Wasser labten. Hier schaute ich die Reinheit der unterirdischen Wasser, zugleich sah ich all das, was vom Wasser lebte. Plötzlich wich diese ursprüngliche Schönheit verflochtenen Wurzelwerks und stiller Teiche über mir zurück, ersetzt durch ein Labyrinth von Rohren. Teils waren sie alt und rostig, teils waren sie neu — und größer als alle ändern. Rohre traten nun an die Stelle der Wurzeln, und ich fühlte den Wasserspiegel sinken, während die Rohre das Wasser in großen Mengen einsaugten. Nicht länger sah ich Bäume dort oben; jetzt traten die zementierten Fundamente von Bauten und Häusern an ihre Stelle. Das Wasser war trüb und roch nach Jauche und Chemikalien. Ich sah riesige Sickergruben ihre faulige Flüssigkeit ins Grundwasser abgeben, und ich schwamm im Unrat. Während ich weiterschwamm, wurde das Wasser dunkel und farblos. Nicht länger war es durchsichtig, sondern durchsetzt von einem trüben Schleim aufgelöster Fäkalien. Gestank und Fäulnis wurden immer ekelhafter und aggressiver. Plötzlich hörte ich über mir ein gleichmäßiges Tröpfeln ätzender Chemikalien, die das Wasser vergifteten und die Kavernen mit stechenden chemischen Dünsten erfüllten. Ich blickte auf und entdeckte vergrabene Fässer, die aufgeplatzt waren und ihren aggressiven Inhalt ins Wasser verströmten. Das unentwegte Tröpfeln und Sickern verstärkte sich dann gewaltig, als ich unter einem großen Siedlungsprojekt hindurchschwamm. Ich konnte nicht aufwachen, konnte aus meinem Traum nicht auftauchen. Meine Haut brannte von dem chemischen Gift, und die Luft raubte mir den Atem. Plötzlich wurde ich in ein mächtiges Rohr eingesaugt, und Schwärze herrschte in meiner visionären Traumwelt. Ich spürte aber, daß ich in dieser ätzenden Mischung aus Abwässern, Fäkalien und Chemikalien schwamm. Dann wieder draußen am
Licht, sah ich viele Rohre, die noch mehr scheußlichen Schmutz ins Wasser entließen, während ich schwimmend mitgerissen wurde von einem gewaltigen Strom voll Unrat. Ich schwamm an großen Fabriken und ankernden Schiffen vorbei, die alle den Tod ins Wasser entließen. Je weiter der Strom mich mitriß, desto schlimmer brannten meine Haut und meine Kehle. Ich konnte nicht mehr schwimmen, mich nicht mehr bewegen. Ich war hilflos, genau wie das Wasser. «Hilflos wie das Wasser», rief eine schwache Stimme, und ich spähte zum fernen Ufer, wo ich den Alten stehen sah, der seinerseits zu mir herüberschaute. Und jetzt wurde ich ein Spielball von Gefühlen und Bildern. Ich fühlte mich körperlich hochgehoben, dann wieder mächtig hinuntergestoßen, schwankend in rhythmischem Auf und Ab. Der ätzende Gestank ließ etwas nach, ersetzt jetzt durch würzigen Salzgeruch, und ich wußte, ich war in die Arme der See, unserer Großmutter, geschwemmt worden. Hier war das Wasser nicht ganz so hilflos, wie der Alte gesagt hatte. Ich spürte die Kraft der wogenden Brandung und sah die Wellen gegen die menschlichen Bollwerke rollen, gegen die Kaimauern vieler Küsten. Eine Art Machtgefühl stieg in mir auf, als ich die Kraft des alten Ozeans spürte, der den Menschen in die Knie zu zwingen vermochte. Ich schöpfte Hoffnung - ja Hoffnung darauf, daß die Sünden des Menschen ab gewaschen würden durch die Macht der Meere, der endlich wieder gereinigten Wasser. Etwas stieß krachend mit mir zusammen, etwas Großes und Schweres. Entsetzt fuhr ich
herum
und
sah
den
Kadaver
eines
riesigen,
aufgedunsenen
Wels.
Verwesungsgeruch drohte mich zu ersticken, und verzweifelt versuchte ich fortzuschwimmen. Panisch wirbelte ich das Wasser auf, aber vergeblich. Ich konnte nicht loskommen. Das Meer war voll von treibendem Müll, dazwischen gedunsene tote Fische. Ihre Haut war verbrannt und farblos, eiternde Wunden entstellten die Kadaver. Tote Möwen und viele andere Vögel trieben an der Oberfläche. Der Salzgeruch wurde wieder verdrängt vom scharfen Geruch chemischer Abwässer. Das Gefühl der Hilflosigkeit war wieder da, die Macht des Ozeans schwand, und ich wurde mit dem Treibgut an Land gespült. Dort lag ich lange auf dem Sand, bevor ich mich regen konnte. Am ganzen Körper war ich mit Seetang bedeckt, mit Fetzen von alten Netzen und toten Fischen. Ich stand auf und sah, daß der Strand mit fauligem Müll aller Art und toten Fischen bedeckt war. Die Wellen der See waren schwarz von Öl, und Hunderte toter Delphine, verwest und stinkend, lagen am Strand verstreut. Ich floh von dem Strand,
von dem ätzenden Wasser und wollte nur fort von hier. Stolpernd und stürzend rettete ich mich in die Dünen und brach zusammen. Dort über mir stand der Alte aus meiner Vision. «Dies wird kommen, Großvater. Dies wird eines Tages kommen, weil du nichts getan hast.» Und ich begrub mein Gesicht im Sand, um seinen Worten zu entfliehen. Wieder erwachte ich im Kessel und hörte mich schreien, und während ich mein Gesicht tief in den glühenden Sand drückte, hallten seine Worte mir noch im Kopf. In die Realität zurückgekehrt, setzte ich mich auf, entsetzt über den Traum oder die Vision, die ich eben erlebt hatte. All dies war zu grauenhaft, um es sich auch nur vorzustellen. Aber es würde eintreten. Ich wußte, es begann sogar schon, während ich in dieser Höllengrube saß. Der Alte hatte recht, das Wasser war hilflos, all dies konnte kommen, aber noch immer hatte ich nichts getan. Wenn die Vision oder der Traum recht hatten, würde ich diese Schreckensvision nicht mehr in der Realität erleben, wohl aber meine Kinder und Enkelkinder. Und all dies, weil ich nichts getan hatte und mich noch immer auf die Ausrede berief, ich wisse nicht, was ich tun sollte. Ich fühlte mich so hilflos wie das Wasser. Ich wußte, das Wasser war hilflos — aber ich nicht. Vielleicht konnte ich es irgendwie schützen. Aber wie? Ich rang um Antworten, aber mir fiel nichts ein. Und wieder verlor ich den Sinn für Zeit
und
Ort.
Ich
merkte
nichts
von
dem
Gewitter,
das sich über mir
zusammenbraute. Letzten Endes, so dachte ich, würden Verdampfung und Regen gewiß die Verpestung des Wassers reinigen. Vielleicht würden unsere Kinder glücklich leben, reichlich versorgt mit Wasser, das durch den Regen gereinigt war. Wie zur Bestätigung meiner Gedanken rollte ein Donnerschlag durch den Kessel, lauter noch hier unten in der Grube, die den Knall verstärkte wie eine große, zum Himmel gerichtete Ohrmuschel. Regen, dachte ich erlöst; endlich ein Aufschub von der sengenden Sonne; endlich Linderung für meinen Durst. Und wieder rollte der Donner über den Himmel, ein Windstoß kam auf, und die ersten Regentropfen prasselten in den Staub. Es wurde kühl, ich spürte die Feuchtigkeit, die sich ausbreitete und Linderung brachte, erquickender als das Naß, das mich gequält hatte. Der Himmel geriet in Bewegung, die Wolken brodelten, der Wind frischte auf. Staubwolken wirbelten durch die Sandgrube und verkündeten die nahe Rettung. Bald würde das Wasser vom Himmel meinen Durst stillen, und mein Körper und Geist zitterten vor Erwartung. Weitere Regentropfen fielen auf die verdorrte Erde, und stechend spornten sie
meinen verbrannten, von Blasen bedeckten Körper zu neuem Leben. Schmerzhaft war es, aber erquickend, und weit öffnete ich den Mund, um jeden Tropfen Linderung aufzufangen, so sehr gierte ich nach dem Naß. Als nun der Regen ernstlich einsetzte und Donner den Himmel erschütterte, schwankte die Landschaft, und plötzlich war ich nicht mehr in der Grube. Verzweifelt versuchte ich mich an der Wirklichkeit des Regens festzuhalten, um nicht das Bewußtsein zu verlieren. Wenn ich mich in einen Traum verlor, konnte ich das Regenwasser nicht auffangen, und der Durst würde mich töten. Ich wälzte mich auf den Rücken, sperrte den Mund weit auf und betete zum Himmel, ich möge - auch wenn ich ohnmächtig würde - genügend Wasser auffangen können, um meinem Leben noch eine Frist zu geben. Stechend prasselten die Regentropfen auf meine Haut und füllten meinen Mund. Gierig ließ ich das Wasser in die Kehle rinnen, vergaß zu atmen, verschluckte mich und erbrach das kostbare Naß, gefolgt von der bleichen Galle eines leeren Magens. Wieder hob ich den Kopf, versuchte erneut Wasser aufzufangen, aber es versengte mir den Mund. Es schmeckte mehr nach Säure als nach Regen. Kopfschüttelnd setzte ich mich auf und schaute mich in der Sandgrube um, aber sie war verschwunden. Statt dessen starrte ich nun auf einen immergrünen Wald, gebadet in dunstige Regenschleier. Der Nebel machte den Wald zur surrealistischen Kulisse, und
die
vorderen
Bäume
zeichneten
sich
scharf
gegen
ihre
im
Dunst
verschwimmenden Nachbarn ab. Und weiter schüttete es, wie aus Eimern, der Regen badete mich und das Land mit lebensspendender Kraft. Mein Durst war verschwunden, ich fühlte mich eingebettet in die Macht der Natur. Es regnete jetzt stärker, meine Augen schmerzten von der Wucht der Tropfen. Zunächst war der Regen sehr kalt, dann begann er wie vom Himmel fallendes Feuer die Landschaft zu versengen. Die Bäume verdorrten und färbten sich braun, Äste wurden von glühenden Regenschleiern geknickt. Seen schwollen und schwappten über, sie brodelten kochend und trieben Fische, Schildkröten und Frösche ans Ufer, wo sie sterbend liegen blieben, ohne der zerstörenden Einwirkung des Regens auf ihre Haut entfliehen zu können. Auch meine Haut brannte wieder, es gab keine Flucht vor dem flüssigen Feuer vom Himmel. Keine überhängenden Zweige von Bäumen boten mehr Schutz, und ich kauerte mich an die Stämme kahler Skelette. Der Wald war verbrannt, alles Leben zerstört — und verbrannt nicht vom Feuer der Schöpfung, sondern von sengenden Säuren der Menschen.
Meine Schmerzen überstiegen alles Maß; ich wälzte mich auf der heißen Erde und war verzweifelt bemüht, die schwärenden Feuer auf meiner Haut zu löschen. Aber es gab keine Linderung. Nur die quälende Folter glühender Schmerzen, unvorstellbar selbst in der Hölle. Der Regen schien sich durch die Haut hindurchzufressen, meine schmerzenden Lungen, ja meine Seele zu versengen. Ich schrie und brüllte und schlug mit den Händen um mich, als wollte ich ein unsichtbares Feuer löschen. In meiner Qual suchte ich nach einem Versteck, doch überall tobte der Alptraum. Tierkadaver und tote Pflanzen lagen auf der Erde verstreut, ihr Fleisch noch blubbernd vom Gas und den Dämpfen der Glut. Da war kein Ort, um dorthin zu fliehen und sich zu verstecken, nichts als Folter und Qual, und ich krümmte mich am Boden, unfähig, mich noch zu wehren. In einem aufblitzenden Moment von Bewußtheit sah ich, daß es aufgehört hatte zu regnen. Die Landschaft lag in sauren Nebel gehüllt. Nichts regte sich, da war kein Geräusch zu hören bis auf das unaufhörliche Zischen aus giftigen Pfützen, die Löcher in Erde, Bäume und lebendes Fleisch brannten. Ich zog mich an einem versengten Baumstamm hoch, meine Haut voller Blasen und Schwären, und flehte den Schöpfer an, mein Leben zu beenden. Niemand antwortete; da war nichts, und meine Worte fielen in die Stille tauber Ohren. Alles war verschwunden, das Physische wie das Geistige, und ich war allein in meinem Elend. Die Einsamkeit brannte wie Salz in der Wunde, verstärkte noch meine Pein. Ich kam mir vor wie das letzte Geschöpf auf Erden. Der Mensch mit seinen giftigen Chemikalien hatte endlich die Erde zerstört. Ich hatte die Erde zerstört durch meine Gleichgültigkeit, meine Ausreden, meine Unwissenheit — ich war schuld wie jeder andere. Ich wollte weinen, aber da gab es keine Tränen in meinen Augen, nur einen sengenden Schmerz, denn die giftigen Säuren des Menschen hatten sogar meine Tränen zerstört. Eine Stimme rief meinen Namen, und als ich aufblickte, sah ich eine Bewegung im sauren Nebel menschlicher Zerstörung. Es war eine Gestalt, die durch die Schatten eines verbrannten Waldes glitt. Ich hatte keine Angst, aber tief in meinem Innern regte sich eine schlimme Ahnung. Ich hätte nicht sagen können, was es war, und obwohl ich keine Angst spürte, war mir doch sehr unbehaglich zumute. Wieder kam diese Stimme und flüsterte heiser: «Nicht mal der Regen vermag die Sünden der Menschen zu läutern, Großvater.» Da wußte ich, daß es der Alte aus meiner Vision war, der mich wieder heimsuchte. Ich konnte seine Vorwürfe nicht mehr ertragen, nicht mehr das Leid, das ich ihm
angetan hatte. Blindlings rannte ich durch die verkohlten Reste des nebligen Waldes, stolperte und stürzte in einen giftigen Regentümpel. Aggressive Chemikalien erstickten mich, würgten mich, ich konnte nicht mehr atmen und versank im fauligen Sud verdorbenen Wassers. Keuchend reckte ich den Kopf — und erwachte am Grunde des Kessels. Unter meinem Gesicht lag eine Pfütze frischen Wassers, und sofort begann ich zu trinken. Kaum konnte mein Magen das Wasser behalten, aber ich zwang es hinunter, während der Donner über den Himmel rollte und der Regen noch dichter fiel. Lange blieb ich so liegen, versuchte das kostbare Wasser nicht zu erbrechen, versuchte, mich in der Wirklichkeit der Kesselgrube zu orientieren. Endlich schien mein Bewußtsein zurückgekehrt, und ich stemmte mich zitternd hoch, in eine sitzende Haltung. Mein Kopf schwindelte, mir wurde wieder schlecht, und ich erbrach das Wasser über Brust und Beine. Raum und Zeit wirbelten unaufhörlich, unbegreiflich, und wieder brannte der Durst in mir. Donner hallte abermals über den Himmel, und jetzt regnete es stark, daß der Grubenrand nicht mehr zu sehen war. Ich reckte den Kopf zum Himmel, versuchte noch einmal Wasser im Mund aufzufangen und hoffte nur, das Gewitter möge lange genug andauern, damit ich Wasser — damit ich Leben in meinen Körper bekommen konnte. Doch der Regen endete so plötzlich, wie er angefangen hatte, und der Donner rumorte nur noch am fernen Horizont. Entsetzt sah ich, wie die Wasserpfützen im porösen Boden der Grube versickerten. Ich saß im dunstigen Nachspiel des Regens, und mein Kopf wirbelte vor Panik und Ängsten. Gewiß, dachte ich, würde ich sterben. Ich hatte das Wasser verloren, meine letzte Chance. Verzweifelt stürzte ich mich auf die letzte verbliebene Pfütze, ich saugte das kostbare Naß aus dem Sand, aber ich verschluckte mich an dem Sand, der mir in die Kehle geriet. Alles war verloren, alle Hoffnung dahin, und ich konnte nicht mehr. Ich gab auf, fand mich ab mit einem langsamen Sterben, denn ich hatte auch nicht mehr die Kraft zu gehen. Der alte Mann aus meiner Vision hatte recht: Ich hatte nichts getan, und jetzt konnte ich nichts mehr tun. Das Wasser war mir genommen, so sicher, wie es auch meinen Kindern und Enkelkindern verwehrt sein würde. Dann regte sich etwas am dunstigen Horizont des Grubenrandes, und der Alte aus meiner Vision sprach wieder zu mir, diesmal mit einer bohrenden Frage. Seine Stimme war noch älter und schwächer geworden, und er sagte: «Glaubst du nicht, Großvater, daß du nicht mir etwas angetan hast, sondern dir selbst? Verstehst du
nicht, daß du das Wasser nicht trinken kannst, wenn du es nicht ehrst, jedesmal, auch wenn dich noch so dürstet? Wenn du das Wasser nicht ehrst und begrüßt, wie kannst du erwarten, daß andre es tun werden? Wie kannst du hoffen, etwas zu retten, das du für selbstverständlich hältst, etwas, das du nicht ehrst und begrüßt? Das du nicht wirklich kennst? Wie konntest du jemals hoffen, andre zu lehren, wenn du selbst nicht ein Beispiel gibst - das Beispiel, das dein spiritueller Großvater dir gegeben hat?» Ich saß wie zu Stein erstarrt und lauschte den Worten, die von den Lippen des alten Mannes, meines Enkels, kamen. «Du hältst es nicht für nötig, das Wasser jedesmal zu ehren», fuhr er fort, «weil du den Geist des Wassers nicht kennst. Jetzt aber hast du die mögliche Zukunft der Menschheit gesehen, und du verstehst, wie kostbar und gefährdet das Wasser, das Blut unserer Erde ist. Du hast gesehen, wie leicht es zerstört werden kann von jenen, die es nicht zu ehren wissen. Das Wasser ist Lebensblut, es ist das Blut deiner Ahnen und aller lebenden Wesen, die auf der Erde wachsen. Es ist das Blut deines Lebens und deiner Seele. Darum fließt der Geist des Wassers auch in dir. Ehre ihn also, wie brennend dein Durst auch sei, denn nur dann wirst du diesen Geist kennen.» Und der Alte verschwand im Nebel. Der Dunst wurde dichter, und leichter Regen setzte ein. Ich starrte zum Himmel hinauf, doch nicht mehr mit aufgerissenem Mund. Vielmehr betete ich, betete zum Schöpfer und ehrte aus tiefem Herzen das Wasser. Ich spürte Regentropfen über meine Lippen rinnen; sie flössen durch meine verdorrte Kehle in meinen sterbenden Leib. Ich spürte Linderung wie eine Woge durch meinen Körper rieseln; ich war demütig und erleuchtet. In diesem Augenblick der Verzückung, des Wissens und der Ekstase hörte ich wieder eine Stimme, aber es war eine andere Stimme als die des alten Mannes. Halb erkannte ich sie, denn ich hatte sie schon vorher vernommen. Es war die Frau aus dem Wasserfall. Mit freundlicher, liebevoller Stimme sagte sie schlicht: «Rette mich, wie ich dich gerettet habe.» Und es regnete wieder stärker. Ich war gerettet. Wieder zu Kräften gekommen, machte ich mich auf den langen Weg zu unserem Camp. Die Wolken blieben auch noch am folgenden Tag und sandten immer wieder erfrischende Schauer und kühle Winde herab. Jedesmal, wenn Regen fiel, jedesmal, wenn ich Wasser am Weg fand, betete ich voll tiefer Dankbarkeit. Endlich kannte ich den Geist des Wassers und verstand diese kostbare, aber gefährdete Gabe des Lebens. Als ich am Lagerplatz ankam, brauchte ich kaum noch mit Großvater über
meine Reise zu sprechen, denn er wußte bereits alles. Ich setzte mich einfach zu ihm ans Wasser und betete.
11
Vier warnende Visionen vom Ende der
Menschheit
In meinem Leben gibt es vier Visionen, die mir auf meinem Weg zur stärksten führenden Kraft wurden. Gewiß gibt es noch viele Visionen, die mich belehrt und geführt haben und mir Kraft gaben, aber diese vier betreffen die wahrscheinliche Zukunft des Menschen. Sie sind oft beängstigend und überwältigend und treiben mich an zu arbeiten, so hart ich nur kann, um zu retten, was wir noch von der Erde übriggelassen haben. Zwei dieser vier Visionen habe ich selbst gehabt, und zwei wurden Großvater zuteil, der sie mir schließlich vermittelte. Ich weiß, daß eine Vision, wenn sie einem vermittelt wird, auch Teil der eigenen Vision wird. Doch das Erschreckende
daran
war
Großvaters
unheimliche
Fähigkeit,
die
Zukunft
vorherzusagen. In allen Prophezeiungen, die er mir mitteilte, hat er niemals geirrt. Seine Prophezeiungen haben sich immer bewahrheitet, nicht nur, was Zeit und Ort, sondern auch, was die Ereignisse betrifft. Die erste Prophezeiung, die er mir über die Zerstörung der Welt des Menschen vermittelte, nannte er die Vier Prophezeiungen der Zerstörung. Gewiß hatte er oft die Zukunft vorhergesagt, bevor er mir diese Prophezeiung mitteilte, und das ist es, was die Sache so erschreckend machte. Er irrte sich nie. Daher hatten die Vier Prophezeiungen der Zerstörung eine beschwörende Wirkung auf mein Leben. Es gab keinen Zweifel daran, daß sie eintreffen würden, wenn nichts getan wurde, um die mögliche Zukunft zu ändern. Wie ich es heute sehe, war dies mein erster Schritt, um Großvaters Botschaft in diese Gesellschaft zu tragen. Auch wenn ich mir damals auf keinen Fall wünschte, die Wildnis zu verlassen, war seine Vision ganz klar. Ich durfte einfach nicht fortlaufen und mich verstecken. Denn sich verstecken heißt, verantwortlich für die Zerstörung der Erde zu sein. Gleichgültigkeit macht einen so schuldig wie jene, die diese Erde zerstören. Rick und ich waren seit fünf Jahren mit Großvater zusammen, als uns die Vier Prophezeiungen der Zerstörung zuteil wurden. Den ganzen Tag lang hatte Großvater
uns erklärt, wie notwendig es sei, die Botschaft zu den Menschen zu bringen - diese Botschaft, daß der Mensch in engerer Verbindung zur Erde leben müsse, in Harmonie und Gleichgewicht. Er glaubte, was auch ich heute glaube, daß der einzig wahre Weg, die Erde zu retten, in der Erziehung liegt. Gesetze und Petitionen haben in der Vergangenheit niemals gut funktioniert. Was wir brauchen, ist ein globales Bewußtsein, und niemand kann es sich mehr leisten, davonzulaufen und sich in der Wildnis zu verstecken. Wir waren damals ein wenig aufsässig, denn weder Rick noch ich hatten Lust, jemals die Wälder zu verlassen. Wir glaubten, daß die Gesellschaft uns nichts zu bieten habe und daß es nicht fair sei, uns , dorthin zurückzuschicken. Wir sagten ihm, wir sähen die Notwendigkeit nicht ein. Und da hämmerte er uns diese peinigende Vision ein, die für immer mein Leben verändert hat. Großvater war schon über vierzig Jahre alt, als er die Vision der Vier Prophezeiungen empfing. Er war auf Visionssuche gegangen am Eingang zu einer Höhle, die er die «Höhle der Ewigkeit» nannte. In dieser Höhle, so sagte er uns, werde jenen, die Visionen suchen, ein Blick in die Zukunft gewährt. Es ist die Höhle aller Vergangenheit und aller möglichen Zukunft. Am Eingang zu dieser Höhle geschah es, daß ihm der Geist eines Kriegers erschien und ihm die mögliche Zukunft der endgültigen Vernichtung der Menschheit enthüllte. Der Geist sagte Großvater, daß ihm Vier Visionen von der Zerstörung der Menschheit zuteil werden würden. Wenn der Mensch, nachdem die ersten beiden wahr geworden wären, die Warnung nicht hören wolle, dann könne die Erde auf physischer Ebene nicht mehr geheilt werden. Nachdem die zweite Vision eingetroffen sei, könne die Erde nur noch spirituell geheilt werden. Dann warnte der Geist davor, daß es, nachdem die dritte Vision wahr geworden, überhaupt keine Hoffnung mehr gäbe. Nur die «Kinder der Erde» würden überleben. Die Art, wie Großvater mir die Bezeichnung «Kinder der Erde» erklärte, war ganz einfach. Es waren diejenigen, die in vollkommenem Gleichgewicht und in Harmonie mit der Erde lebten und nichts benötigten, was von der Gesellschaft fabriziert oder produziert wurde. Außerdem brauchten sie nicht nur physische Fähigkeiten zum Überleben, sondern auch eine tiefe Verpflichtung gegenüber der Erde und den spirituellen Dingen. Alle anderen, ganz gleich, wie gut sie die Wildnis zu kennen meinten, würden in der Wildnis und in den Städten umkommen. Seit langem schon hätten sie die Wahl gehabt, und jetzt könnte die Wildnis sie nicht mehr akzeptieren. Die Kinder der Erde hingegen benötigten nichts, denn die Wildnis sei ihr Zuhause,
die Erde würde ihnen alles geben. Alle anderen müßten sterben. Der Geist des Kriegers offenbarte Großvater die erste Vision der Zerstörung, indem er ihn in ein afrikanisches Dorf führte. l her sah Großvater den Hunger der Massen, das Leiden der Kinder und eine Welt ohne Hoffnung. Ein Ältester begegnete ihm, der ihm sagte, daß die Welt dieses erste Zeichen erleben würde, diese Hungersnot ohne Beispiel. Aber die Welt würde nicht erkennen, daß sie selbst Schuld daran trug. Und dann kehrte der Krieger wieder und sagte Großvater, daß eine Seuche das Land heimsuchen würde. Diese Seuche würde jede Krankheit zu tödlichem Leiden machen, und lange gäbe es keine Hoffnung, keine Heilung. Und der Krieger weissagte Kriege auf den Straßen, wo Drogen die Stadt und das Land regierten. Dann kam das zweite Zeichen: die Löcher im Himmel. Dies wurde Großvater offenbart, als der Himmel aufriß und einen üblen Gestank absonderte. Er sah Müllhalden, himmelhoch aufgetürmt, schwimmenden Abfall im Wasser und Leichen von Delphinen. Es kamen schreckliche Stürme und gewaltige Erdbeben. Das Land wurde dürr und öde, Tiere und Menschen starben, und überall gab es Veränderungen am Himmel und1 auf der Erde. Die Erde fieberte und bäumte sich auf gegen die" Krankheit menschlicher Habgier. Und wieder wurde Großvater mitgeteilt, daß die Erde nach diesem Zeichen nicht mehr physisch geheilt werden könne. Das Bewußtsein der Menschen müsse sich verändern, und die Gesellschaft müsse nach geistigen Gütern streben und den falschen Göttern des Fleisches entsagen. Viele Tage verstrichen, bis Großvater die Macht des dritten Zeichens erfuhr. Dieses Zeichen besagte, daß die Gesellschaften der Welt keine Hoffnung mehr hätten und daß der Mensch sterben müsse. Nun würde offenbar werden, daß es keine Umkehr mehr gab, daß nur die Kinder der Erde überleben. Das dritte Zeichen zog donnernd am Himmel auf, und plötzlich färbte der Himmel sich rot. Selbst die Sterne glühten blutrot in der Nacht, und alle Schöpfung schien ohnmächtig auf einen geheimen Befehl zu warten. Die Sterne und der Himmel, sagte Großvater, blieben die folgenden sieben Tage rot. Und während dieser Zeit tat der Krieger-Geist Großvater kund, daß die Kinder der Erde nur noch ein Jahr hätten, um zu fliehen. Sie müßten die Wildnis aufsuchen und Schutz suchen vor dem Letzten Winter der Menschheit. Und dann sprach die Stimme eines Kindes zu Großvater und verkündete ihm das vierte und letzte Zeichen - das Zeichen, das den Letzten Winter einläuten sollte. Das Kind verkündete ihm, daß die Ernten und Tiere des Menschen sterben, das Wasser
vergiftet sein würde, sogar die Wasser tief in der Erde. Das Kind kündete Großvater von Kriegen und Krankheiten, die das Antlitz der Erde verwüsten. Er sprach von Hunger, Krieg und Gewalt. Das Kind sprach von plündernden Banden, die andere Menschen verfolgten und umbrachten, um sie aufzufressen. Und das Kind sprach von Enkelkindern, die sich von den verwesten Resten anderer Kinder nährten. Nur eine Hoffnung konnte das Kind Großvater schenken: daß es eine neue Gesellschaft geben werde, getragen von den Kindern der Erde. Und diese Gesellschaft werde blühen wie einst, eng verbunden mit der Wirklichkeit der Erde und des Geistes. Als ich von diesen prophetischen Visionen erfuhr, erschrak ich sehr, wollte aber nicht glauben, daß solche Dinge je wahr werden könnten. Ich erinnere mich, wie ich lachte über die Löcher im Himmel. Niemand glaubt mir, wenn ich so etwas erzähle, spottete ich. Wie kann man Löcher in der Luft sehen? Wie unmöglich erschien doch das Ganze. Doch in derselben Nacht, als ich die Vier Prophezeiungen erfuhr, hatte auch ich eine Vision oder einen Traum. In diesem Traum sah ich den Himmel von großen Löchern zerrissen, und die Sterne färbten sich rot. Ein Geist sprach zu mir und fragte mich, warum ich diese Prophezeiungen nicht glauben wolle? Wie könne ich diese Visionen leugnen, nachdem ich so oft Zeuge so vieler Wunder gewesen sei? Und genau in diesem Augenblick wurde mir Großvaters Vision der Vier Prophezeiungen übermittelt und wurde für immer Teil meiner Vision. Nicht lange, nachdem ich die Vier Prophezeiungen erfahren hatte, empfing ich eine der stärksten Visionen meines Lebens. Während meiner ersten Visionssuche von vierzig Tagen wurde sie mir offenbart und ist seither eine der mächtigsten Triebkräfte meines Lebens. Vorher und sicherlich auch nachher hatte ich viele Visionen von der Vernichtung der Menschheit, aber diese eine blieb die nachhaltigste, die mächtigste, die
bewegendste.
Den
Auftrag,
eine
Visionssuche
von
vierzig
Tagen
zu
unternehmen, hatte ich während einer anderen Quest erhalten. Während dieser ersten Suche hatte ich dauernd das Gefühl, beobachtet und auf die Probe gestellt zu werden, doch nichts und niemand sprach zu mir. Am letzten Tag erhielt ich schließlich den Befehl, eine Quest von vierzig Tagen zu unternehmen, sie bald zu unternehmen. Als diese Visionssuche vorüber war, fühlte ich mich, als hätte ich eine Prüfung bestanden, und doch wußte ich nicht warum. Diese Visionssuche von vierzig Tagen fand am Rande einer alten Kiesgrube statt. Anfangs sträubte ich mich gegen diesen Platz für meine Quest, weil ich es nicht ertragen konnte, vierzig Tage lang auf die von Menschen in den Körper der Erde
geschlagenen Wunden zu blicken. Aber der Ort rief mich immer wieder zu sich, während ich andere Visionsplätze suchte, und so fand ich mich ab mit diesem Platz. Ich hatte den größten Teil dieser vierzig Tage schon hinter mir, als mir die schrecklichste Vision zuteil wurde. Ich spähte über den Rand der Kiesgrube - und sah dort haufenweise Leichen verstreut: Menschen, die aussahen, als wären sie Hungers gestorben. Kinder fraßen von diesen Leichen wie eine Meute wilder Hunde auf einer Müllhalde. Diese Kinder wurden schließlich von Männern gejagt und getötet, ausgeweidet und aufgefressen — wie ein Jäger mit einem Stück Wild umgehen würde. Der Mensch - nichts anderes als Fleisch, ein Tier, das als Nahrung dient. Diesen Jägern machte es wenig aus, daß sie Kinder aßen. Und den Kindern machte es wenig aus, daß sie verweste menschliche Leichen aßen. Noch immer in meiner Vision folgte ich einem der Jäger in die Ruinen einer Stadt. Hier sah es aus wie in einer ausgebombten und ausgebrannten Stadt. Menschen lagen tot und sterbend am Rinnstein. Hunger war überall, menschliche Arme und Beine wurden auf improvisierten Fleischmärkten feilgeboten, und plündernde Horden schienen die einzigen Herrscher der Straße. In diesem Land spürte ich keine Hoffnung. Alles, was rein und natürlich gewesen, war jetzt tot, und es schien, als hätte sich die Geisterwelt von diesem Ort abgewandt. Ein alter Mann trat mir aus den Ruinen der Stadt entgegen. Er war hager, halb verhungert und krank. Er sah mich an und fragte: «Warum hast du nichts getan? Warum hast du mich verurteilt, in dieser Hölle zu leben? Ist dies das Vermächtnis, das du mir hinterlassen hast, Großvater?» Seine Worte erschütterten mich in tiefster Seele, denn ich erkannte in diesem Augenblick, daß dieser alte Mann mein Enkel hätte sein können - und ich hatte nichts getan. Ich wußte ihm nichts zu antworten. Nicht lange, nachdem der Geist meines Enkels mir erschienen war, erschien mir ein weiterer Geist. Während er sprach, rollte Donner am fernen Horizont, und die Erde bebte. Er ließ mich nicht zu Wort kommen, sondern sagte: «Du hast die blutenden Sterne gesehen und hast die Zerstörungen der möglichen Zukunft erlebt. Du hast die kranke und öde Erde gesehen, den Haß, die Zerstörung und das Bild deiner sterbenden Enkel. Du hast Kinder gesehen, die sich von Kinderleichen nährten, und du erlebtest eine Erde ohne Geist und ohne Hoffnung. Dies ist nicht die mögliche Zukunft, sondern die wahrscheinliche Zukunft, und alles, was du gesehen hast, wird eintreffen. Du bist verantwortlich für diese Zukunft, genau wie alle anderen. All jene, die in die Berge und in die Wildnis geflohen sind, um sich zu verstecken, sind
verantwortlich — wie all jene, die den falschen Göttern des Fleisches nachjagen. Es gibt keine Unschuldigen - bis auf die Kinder, die hier für die Sünden ihrer Großmütter und Großväter sterben.» Und der Geist fuhr fort: «Jener Alte hat dich gefragt, was du getan hast, um all dies zu verhindern, und du konntest ihm nicht antworten. Nicht im Traum konntest du ihm antworten, denn du hattest nichts getan. Für dich, der du dies Land des Todes gesehen hast, kann es keine Antworten geben, denn es gibt nur eine Frage: Wann wirst du etwas tun, um diesen Tod zu verhindern? Erst wenn du gearbeitet hast, um die Erde und die Enkel zu retten, wirst du Antwort bekommen. Erst wenn du nicht mehr fortläufst und dich versteckst, kann es Hoffnung geben. Fortlaufen und sich in der Wildnis verstecken heißt, verantwortlich sein für den Tod der Welt. Es darf kein Fortlaufen geben für jene, die Liebe haben.» Ich fragte den Geist, was ich denn tun könne, und berief mich auf die Ausrede, ich sei noch ein Kind, und niemand würde auf mich hören. Der Geist antwortete und sprach: «Du kannst etwas verändern, indem du daran denkst, etwas zu verändern. Du mußt etwas tun, nicht nur reden und träumen. Die einzigen Antworten liegen darin, die Leute zu lehren und sie zurückzuführen zur Erde und zum Geist. Alle anderen Methoden der Veränderung sind nur provisorisch und unwirksam. Du kannst die Dinge nur ändern, indem du das Herz der Menschen änderst. Jeder einzelne muß sich verändern, bevor die Gesellschaft sich verändern kann, denn der einzelne ist es, der zur Gesellschaft beiträgt, zum Krieg und zum Haß und zur Zerstörung der Erde. Wenn also genügend Menschen erreicht werden, wird sich die Richtung und auch das Schicksal der Menschenherde verändern. Lehren und Führen heißt Lieben.» Der alte Mann, der mich in jener Vision als Großvater angesprochen hatte, sucht mich noch heute in allen Träumen und Visionen heim. Anfangs kam er nur selten, beobachtete mich sozusagen, während ich heranwuchs und lernte. Jetzt aber ist er immer da und beobachtet und wartet. Die Frage bleibt, wenn auch unausgesprochen, immer dieselbe: Was hast du inzwischen getan? Er ist mein dauernder Mahner, daß ich nicht ausruhen darf, denn seine Zukunft und die Zukunft so vieler anderer Kinder liegt in unseren Händen. Er lebt in der wahrscheinlichen Zukunft, unserem Vermächtnis, unserer Habgier und unserem Haß. Er leidet an den Sünden seiner Großväter und Großmütter, die heute leben. Er wird unser Erbe sein — und unser Opfer, solange wir nicht die mögliche Zukunft verändern.
Als ich im neunten Jahr mit Großvater zusammen war, offenbarte er mir eine zweite Vision über die kommende Vernichtung des Menschen. Wie die Vision der Vier Prophezeiungen der Zerstörung drang auch diese Vision in mein Herz und beflügelte meinen Geist. Ihre anhaltende Wirkung verfolgt mich noch bis zum heutigen Tag, und es gibt Teile, die ich noch immer nicht ganz verstehe. In dieser Zeit geschah es auch, daß Großvater mir mitteilte, er werde bald zu seinem Volk zurückkehren, und dann müsse ich allein weiterwandern. Sein Weg hier sei beinah vollendet, so sagte er, und die Vision des Weißen Koyoten werde sich erfüllen. Er sagte auch Ricks frühen Tod voraus und betonte, daß ich andere Menschen lehren werde. All dies bedrückte mein Herz, aber die Vision, die darauf folgte, war unerhört. Großvater sagte, nachdem die Prophezeiung der Löcher am Himmel eingetreten sei, aber noch bevor Blut vom Himmel ströme, werde eine Zeit kommen, da noch weitere Warnungen gegeben würden. Es gäbe eine Zeit der Hoffnung und des Friedens, sagte er, wiewohl nur vorübergehend und vergänglich, denn diese Hoffnung und dieser Friede werde von den falschen Göttern des Fleisches getragen. Die Völker würden sich in Frieden begegnen, Grenzen würden niedergerissen, und ein neuer Morgen -würde anbrechen. Doch diese Epoche des Friedens, sagte er, würde auf ökonomischen und politischen Profiten beruhen statt auf der Hoffnung, die Erde zu retten. Und Hoffnung und Friede würden schließlich vergehen. Er warnte davor, daß die Völker der Welt nicht ihr Schicksal auf die falschen Götter des Fleisches gründen dürften. Damit diese Prophezeiung sich nicht erfüllte, müßten die Völker der Welt hier und jetzt nach dem Geistigen streben. Und dann erzählte mir Großvater, seine Vision habe verkündet, daß viele Menschen in diesem Land nach einer neuen Idee von Leben suchen würden. Viele, sagte er, würden der Sinnlosigkeit und Leere überdrüssig werden, wie sie die falschen Götter des Fleisches verleihen. Viele würden nach neuen spirituellen Wahrheiten suchen, und viele würden zurückkehren zur Philosophie der Erde. Die Vision habe Großvater auch offenbart, sagte er, daß es Menschen geben werde, die die Erde schützen wollten, denn das Bewußtsein der Gesellschaft würde sich allmählich verändern. Doch warnte er davor, daß die Menschen, die zur Erde zurückstrebten, Fremdlinge bleiben und ihren Rückweg verfehlen können. Sie könnten nur dann zurückkehren, wenn sie Kinder der Erde würden. Großvater sorgte sich, daß jene, die geistige Pfade erstrebten, nutzlose spirituelle Krücken gebraucht, um alles noch komplizierter zu machen und damit die Reinheit des Geistes zu entstellen. Und er sorgte sich, daß
die Bewegung zur Rettung der Erde nicht ernsthaft genug sein könnte, mehr eine Mode als eine Realität. Nachdem der Geist, der diese Botschaft überbrachte, in Großvaters Vision erschienen war, wurde der Fortgang der Vision unwirklich und nur schwer verständlich. Großvater sprach vom schwarzen Blut der Erde, das brennend und unstillbar über das Antlitz der Großmutter Ozean fließen würde. Er sprach von riesigen Fischen, die Feuer und Menschenleiber erbrachen. Er sprach von weißen Schlangen am Himmel, von unsichtbarem Tod. So gewaltig würde die Hitze im Treibhaus werden, daß den Menschen das Fleisch von den Knochen gesotten würde. Explosionen würden die Erde erschüttern und sie in die Zeit vor allem Leben zurückwerfen. Nichts würde mehr sicher sein vor den weißen Schlangen am Himmel, denn ihr Gift würde sich über Himmel und Erde verbreiten. Auch sprach er von einem endlosen Winter, da nicht einmal mehr die Kinder der Erde überleben könnten. Dies, sagte er, sei die andere wahrscheinliche Zukunft. An diesem Punkt seiner Vision angelangt, machte Großvater mir noch einmal klar, daß es viele Möglichkeiten der Zukunft gebe. Die stärkste, so betonte er, sei die Zukunft des blutenden Himmels und der menschenfressenden Menschen. Doch die mögliche Zukunft der weißen Schlangen am Himmel, wenngleich nicht so mächtig, sei ebenfalls eine starke Möglichkeit. Wenn das Ringen in der Welt der Geister so gewaltig würde, daß die physischen Kämpfe in Vergessenheit gerieten, so warnte er, dann würden die weißen Schlangen erscheinen. Dann würde der Schöpfer sich abwenden von Mensch und Natur. Dann wäre auch die Schlacht der Geisterwelt verloren. Erde und Geist würden zerstört durch menschliche Habsucht, durch menschliche Bosheit, und nichts mehr würde existieren. Nur noch das Nichts würde bleiben. Diese Vision Großvaters entsetzte mich. Die Vision der Vier Prophezeiungen der Zerstörung war schlimm genug, aber zumindest erlaubte sie einige Hoffnung. Die Vision der weißen Schlangen am Himmel ließ absolut keine Hoffnung mehr zu. Großvater hatte auch davor gewarnt, daß die beiden Visionen zusammenwirken und zu noch grausamerer Wirklichkeit werden könnten. Großvater hatte gesagt, daß diese Vision ihm kurz nach den Vier Prophezeiungen der Zerstörung zuteil geworden sei. Tatsächlich sei sie ihm von der Stimme einer weißen Schlange verkündet worden. Auch sprach er von Sternen, die vom Himmel fielen, weite Funkenschweife nach sich ziehend, von brodelndem Wasser und sengendem Regen. Niemand könne
sich verstecken, niemand könne davonlaufen, denn nirgends werde es Hoffnung geben. Menschen aller Nationen würden sterben, und die Geisterwelt werde sich vor dem Schöpfer dafür verantworten müssen. Dies wäre das Erbteil des Menschen, seine Hölle. Für mich war dies eine der eindringlichsten Visionen, denn falls ich noch Zweifel hegte, daß ich die Wildnis verlassen und Menschen lehren sollte, so sagte mir diese Vision, daß ich mich nirgends verstecken konnte. Ich durfte nicht gleichgültig werden, noch durfte ich mich weiter verstecken. Mir blieb keine Wahl - ich mußte arbeiten auf jede nur mögliche Art, um zu verhindern, daß diese Visionen der Zukunft eintrafen. Dennoch hatte ich damals keine Ahnung, was ich tun könnte. Ich hatte versucht, ein paar Menschen zu lehren, die mir begegneten doch ohne großen Erfolg. Manchmal verspotteten die Leute mich. Manchmal wieder hörten sie zu, gingen dann aber hin und taten das Gegenteil. Die Probleme der Weltgesellschaft schienen unlösbar. Ich sah immer noch nicht, was ein einzelner tun könnte. Ich sah nicht, was Heerscharen von einzelnen tun könnten. Die Menschen verstanden einfach nicht, und meine schwache Stimme schien nicht viel zu bewirken.
12
Giftige Luft und verseuchte Erde
Es war lange her, daß ich zum letztenmal in den Pine Barrens gewesen war. Meine Wanderungen hatten mich in den letzten Jahren weit durch das Land geführt, bis hinauf nach Kanada, und es tat gut, wieder den Ort meiner spirituellen Geburt aufzusuchen. Ich schlug mein Camp an einem unserer alten Lagerplätze auf und bereitete mich vor, zumindest den ganzen Sommer dort zu verbringen. Wie schwer fiel es mir, dort zu lagern, wo Großvater, Rick und ich so oft unser Camp aufgeschlagen hatten! Aus vielen Gründen war diese Gegend für mich so besonders. Während ich meine Reisighütte baute und Feuerholz sammelte, überwältigten mich die Erinnerungen. Großvater pflegte zu sagen, daß Einsamkeit etwas ganz anderes sei als Alleinsein, aber immer noch fehlte er mir so sehr. Gewiß genoß ich mein Alleinsein, aber wenn ich in solchen Gegenden lebte, die in den frühen Tagen meines Lebens eine so wichtige Rolle spielten, wurde es unerträglich. Zum Glück sollte die Einsamkeit nicht lange dauern. Immer spürte ich Großvaters Gegenwart, ganz gleich, wo ich war oder was ich tat. Es gab ja keinen Tod, und solange ich mich von der Inneren Vision führen ließ und eine lautere Absicht hatte, eine Absicht über das eigene Ich hinaus, konnte ich jederzeit Großvater in der Geisterwelt besuchen. Manchmal kam auch er zu mir im Geist, und seine Besuche waren stets ein Fest; stundenlang sprachen wir miteinander und erinnerten uns. Ich hatte das Gefühl, daß ich ihm fehlte, genau wie er mir, und dies zu wissen tat gut. Aber es war doch etwas anderes, als ihn allezeit in körperlicher Wirklichkeit um mich zu haben. Beide hatten wir Arbeit zu tun - er in . geistigen Welten und ich in der Welt zwischen Fleisch und Geist. Darum dauerten unsere Besuche nie so lange, wie ich es gewünscht hätte. Damals, als ich so intensiv mit Großvater und unserem heiligen Platz verbunden war, geschah es, daß der Wind leicht umschlug. Die Augen juckten und tränten mir vom Dunst scharfer Chemikalien. Die Luft, obgleich in Bewegung, schien mir die Kehle zu versengen und abzuschnüren. Ich wußte nicht, woher es kam, aber der Ursprung der giftigen Dämpfe mußte ganz in der Nähe sein. Der Wind wechselte hin und her, und
es war schwer, eine allgemeine Richtung auszumachen. Ich fragte mich, ob jemand gerade illegal chemischen Müll abkippte oder ob der Geruch von einer Fabrik in der Ferne kam, die ihr Gift in die Umwelt spuckte. Ich suchte den Himmel ab und spähte nach Rauch oder anderen Zeichen für den Ursprung der ätzenden Dämpfe, doch außer der Monotonie der Wolkendecke war nichts zu sehen. Wieder schlug der Wind um, und der Chemiegestank verschwand, auch wenn meine Augen noch ein Weilchen brannten. Ich legte die Hand ans Ohr und lauschte in die Richtung,
aus
der
die
Dämpfe
gekommen
waren,
aber
ich
hörte
nichts
Ungewöhnliches. Der Geruch kam für den Rest des Tages nicht wieder. Und da mich auch keine Botschaft aus spirituellen Welten über die Herkunft des Giftes erreichte, genoß ich jetzt unbeschwert die Ruhe und erinnerte mich an Großvater und all die Dinge, die ich hier gelernt hatte. Während die Sonne allmählich versank, führte der Abendwind erneut die ätzenden Chemiedünste heran. Diesmal waren sie stärker und aggressiver und verbrannten beinah die Haut. Inzwischen war ich beunruhigt und besorgt und wußte nicht, ob ich meinen Visionsplatz verlassen und der Sache nachgehen oder lieber am Ort bleiben sollte. Meine Hauptsorge war, daß jemand tatsächlich ganz in der Nähe chemischen Müll abkippen mochte, auch wenn ich nichts Ungewöhnliches feststellen konnte. Die konzentrischen Ringe tierischer Bewegung verrieten, daß im Wald alles in Ordnung war. Mich beunruhigte aber, daß ich kaum Vogellaute oder Tierstimmen aus der Richtung vernahm, aus der die Chemiedünste kamen. Noch spät in der Nacht lange nach Sonnenuntergang war ich unschlüssig, ob ich nachschauen oder hierbleiben sollte, bis meine Visionssuche beendet wäre. Die Nacht hindurch wurde ich immer wieder geweckt durch den scharfen Chemiegeruch. Jedesmal, wenn der Wind umschlug und in meine Richtung wehte, mußte ich würgen, und meine Augen tränten. Die drückende Nachtluft machte die Gerüche noch schlimmer — so schlimm, daß ich es kaum noch aushielt an meinem heiligen Platz. Ich wurde wütend, fast unbeherrscht wütend, denn jetzt war ich sicher, daß diese Dünste aus einer Giftmülldeponie kamen, aus einer illegalen Müllkippe, der das Handwerk gelegt werden mußte. Mir graute bei dem Gedanken, wo sie sich befinden mochte. Jeder Teil dieser Gegend war mir heilig, war Großvater heilig gewesen. Wenn ich die Chemikalien so stark roch, dann müßten sie irgendwo in der Nähe des Camp liegen. Was mich besonders aufregte, war die Tatsache, daß der Geruch aus der Gegend von Großvaters altem Camp herüberwehte. Dies machte
mich sehr wütend und besorgt. Der Schlaf in dieser Nacht war qualvoll. Wieder träumte ich von Leuten, die die Erde zerstörten und mich ermordeten. Die ganze Nacht kochte die Wut in mir, bis ich es nicht mehr aushielt. Ich verließ meinen heiligen Platz, um nach dem Ursprung dieser Gerüche zu suchen. In der Dunkelheit war die Suche beschwerlich, und der ständig wechselnde Wind erschwerte es, den Dunstwolken längere Zeit zu folgen. Nach ein paar Stunden fruchtlosen Suchens beschloß ich, nach Großvaters altem Lagerplatz aufzubrechen. Es war die Richtung, aus der die Dämpfe zuletzt gekommen waren. So war es wohl die vernünftigste Entscheidung. Den ganzen Weg lang betete ich darum, Großvaters Camp möge nicht zur illegalen Müllkippe geworden sein. Ein erstes Licht zeigte sich am Himmel, als ich Großvaters altes Camp erreichte. Zu meiner Erleichterung war der Platz so, . wie ich ihn in Erinnerung hatte. Zwar war die Lichtung teilweise zugewachsen, aber der Platz war so schön und so friedlich wie immer. Ich durfte die Augen schließen und Großvaters Gegenwart spüren. Aber ich fühlte mich auch einsam und deprimiert. Ich mußte mich setzen und gegen die Tränen ankämpfen. Ich hatte den alten Lagerplatz eigentlich nicht besuchen wollen, weil dieses mir von Anfang an so vertraute Camp alle alten Erinnerungen aufrühren würde. Als ich den Platz überblickte, konnte ich mir vorstellen, wo Großvaters Reisighütte gestanden hatte, wo seine Feuerstelle war, auch die Stelle, wo er so oft in Gedanken versunken saß. Ich glitt hinüber zu dieser Stelle und setzte mich dorthin - doch fühlte ich mich irgendwie unwürdig, an seinem Platz zu sitzen. Hier spürte ich ihn noch viel stärker, und die Einsamkeit nagte an meiner Seele. Der Morgenwind frischte auf. Ich sah ihn wirken am zitternden Laub der Eichenwipfel. Ich hob den Kopf und schnupperte in den Wind — und wieder überfiel mich der strenge Chemiegeruch. Meine Augen tränten, und es würgte mich. Diesmal war der Geruch noch aggressiver und durchdringender als zuvor. Ich blickte in die Richtung, aus der der Wind kam, und; stellte zu meinem Entsetzen fest, daß es nicht weit von Großvaters altem Meditationsplatz war. In wildem Zorn rannte ich los, entschlossen, diesen Platz zu suchen, und befürchtete das Schlimmste. Bald aber wurde ich aufgehalten durch dichtes Gebüsch und den immer drückenderen Gestank chemischer Abfälle. Ich konnte kaum atmen, und meine Augen tränten so' stark, daß ich wenig sehen konnte. Ich mußte die Augen zusammenkneifen und meinen Mund mit der Hand bedecken. So stolperte ich auf Großvaters einstigen Platz der Vision, ohne ihn gleich
wiederzuerkennen. Ich war entsetzt. Die Bäume ringsum waren abgestorben, nichts wuchs auf der Erde, und keine Spuren von lebenden Wesen konnte man sehen. Die Stämme der kleineren Bäume sahen aus wie von Säure versengt. Stellenweise sah ich giftige Dünste aus den Poren der verseuchten Erde aufsteigen. Deutlich erkannte ich die Reifenspur eines großen Lastwagens, aber es war sichtlich kein Sattelschlepper. Der Lastwagen war offenbar tief in den Wald gefahren und hatte dort seine ganze Ladung abgekippt. Da ich den Sandboden der Pine Barrens kannte, konnte ich vorhersehen, daß die Chemikalien bald ins Grundwasser eindrängen. Erst als ich zum Himmel schaute, um mich zu orientieren, dämmerte mir, daß dies doch Großvaters Platz der Visionen war — oder das, was davon übrig-geblieben war. Wieder merkte ich, daß meine Fußsohlen brannten und stachen, weil die Erde mir die Haut zerfraß. Ich zog mich aus dieser Gegend zurück, die Füße im Sand nachschleifend, aber Gestank und brennender Schmerz blieben nicht zurück, sondern wurden noch schlimmer. In blinder Panik lief ich zum Fluß, denn ich fürchtete, daß die chemischen Substanzen meine Füße so schlimm versengen könnten, daß ich nicht mehr laufen konnte. Ich mußte meine Füße waschen und schleunigst loswerden, was immer an ihnen kleben mochte. Mir kam es vor, als fräßen die Chemikalien sich durch die Hornhaut meiner Sohlen — Hornhäute, die so dick waren, daß ich ohne •weiteres die Glut eines Lagerfeuers austreten konnte, ohne etwas zu spüren. Jetzt aber war der brennende Schmerz so stark daß ich auf glühenden Kohlen zu laufen glaubte. Endlich am Fluß angekommen, stürzte ich mich hinein und rieb mir die Füße mit Torfmoos ab. Es dauerte fast eine Stunde, bis meine Füße nicht mehr brannten, und als ich nachschaute, stellte ich fest, daß fast die ganze Hornhaut von meinen Sohlen abgeätzt war. Nie im Leben hatte ich so etwas gesehen. Voll schlimmer Ahnungen und Wut ging ich vorsichtig zurück zu Großvaters einstigem Platz und nahm eine Schüssel voll Wasser mit. Ich wollte sehen, was passierte, wenn ich das Wasser auf die Erde goß; ich hoffte, es würde mir einen Hinweis geben, was für Chemikalien das waren. Als ich das Wasser dann auf die verseuchte Erde goß, gab es ein leises Zischen, und dann stieg eine giftige Rauchsäule aus dem Sand auf. Was immer hier abgekippt worden war, eines war klar: Es mußte eine Art Säure sein, nach dem Geruch der Dämpfe zu urteilen. Halb fühlte ich mich sogar erleichtert, daß es nichts Gefährlicheres war, denn meine Füße waren schon bis auf die rosige Haut verbrannt. Ich hätte viel schlimmer verletzt
werden können — auch jedes Tier, das diese Gegend durchquerte. Kein Wunder also, daß die Stämme der Bäume hier so verbrannt aussahen. Ich zog mich wieder von dem Platz zurück, denn ich fürchtete, daß der Wind mir die giftigen Dämpfe entgegentreiben könnte. Ich konnte mir leicht vorstellen, wie das Zeug auf meine Lungen wirken würde, besonders nachdem ich gesehen hatte, wie es meine Füße zugerichtet hatte. Mein Zorn flammte auf, und ich begann die Umgebung des Müllplatzes abzusuchen nach Hinweisen, wer dies getan haben könnte. Das Zeug war nach dem letzten Regen abgekippt worden und war offenbar immer noch stark konzentriert, da es seither nicht mehr geregnet hatte. Wieder sah ich die Reifenspuren des Lastwagens und folgte ihnen, hinaus zur Hauptschneise durch den Wald. Wer immer den Lastwagen gesteuert hatte, wußte anscheinend, was. er tat und wo er seine Ladung abkippen wollte. Kurz bevor ich die Schneise erreichte, entdeckte ich noch eine Stelle, die chemisch stark verätzt war. Diese Verseuchung war frisch, und die gleichen Reifenspuren führten auch hierher. Als ich diese Stelle absuchte, fand ich wieder die Fußabdrücke des Mannes, der die Chemikalien hier abgekippt hatte. Diese Spuren führten vom Lastwagen fort in eine andere Gegend der Landschaft. Selbst in der Dunkelheit war es nicht schwer, die Spur zu verfolgen, denn der Boden war vom Lastwagen tief aufgewühlt. Junge Bäume waren niedergewalzt, und die Reifen hatten tiefe Rinnen im Boden hinterlassen, die ich leicht mit dem Fuß ertasten konnte. Ich wurde unvorsichtig, während ich diesen Spuren folgte, murmelte vor mich hin und ließ mich wieder vom Zorn mitreißen. Zum Glück fiel mir auf, daß die Tierstimmen schwiegen, und ich spürte, daß irgend etwas sich vor mir bewegte, auch wenn ich nicht sehen konnte, was es war. Dann entdeckte ich das Aufflammen einer Zigarette in der Nacht, und meine Sinne -wurden hellwach. Möglicherweise war es der Mann, der eine neue Stelle zum Abkippen aussuchte. Das wäre ein tödlicher Fehler! Ich spürte das wütende Tier in mir aufspringen, es schien fast unkontrollierbar. Ich mußte mich näher heranpirschen und darauf achten, nicht das leiseste Geräusch zu machen. Ebenso mußte ich mich hüten, Tiere aufzuschrecken, die dem Kerl meine Anwesenheit verraten hätten. Im Näherkommen sah ich, schwach vor dem Himmel abgezeichnet, die Umrisse seines Lastwagens. Es war so, wie ich vermutet hatte. Es war ein kleinerer Tankwagen, der aussah, als sei er für illegales Abkippen von Chemikalien umgerüstet. Deutlich sah ich die weiße Beschriftung auf der Seite des Tanks, die besagte: Diesel-Öl. Ich entdeckte, daß die Nummernschilder
sorgfältig mit Brettern verdeckt waren. Soviel ich sah, gab es sonst keine Beschriftung auf dem Wagen. Leise glitt ich an den Wagen auf der Beifahrerseite heran und ließ mich fallen. Flink zog ich das Zündkabel aus der Verteilerkappe und vereitelte damit jegliche Flucht. Der Mann stapfte weiter vorne durch den Wald und achtete überhaupt nicht auf seinen Lastwagen. Ich kroch wieder unter dem Wagen hervor und spähte durchs Fenster, um zu sehen, ob es dort Waffen gab. Es war schwer festzustellen, aber am hinteren Fenster befand sich ein leerer Ständer für eine Schrotflinte. Ich mußte annehmen, daß der Mann das Gewehr bei sich trug. Außerdem bemerkte ich, daß Schrotmunition im offenen Handschuhfach lag. Jetzt durfte ich kein Risiko eingehen, denn es hätte für mich den sicheren Tod bedeutet. Wie leicht konnte er mich niederschießen und meine Leiche ins Gebüsch zerren. Man würde mich niemals finden. So glitt ich näher an den Mann heran, jeden Schritt berechnend, und wartete auf die Gelegenheit, ihn von hinten anzuspringen und ihm das Gewehr zu entreißen - vorausgesetzt, daß er es bei sich trug. Als ein Streichholz aufflammte, um eine neue Zigarette anzuzünden, sah ich ganz deutlich, daß er eine Schrotflinte trug. Ich spürte ein Beben tief im Innern, und mein Körper nahm die Herausforderung an. Meinen Zorn mußte ich niederkämpfen, denn Zorn würde zu Fehlern führen, die ich mir nicht leisten konnte. Schließlich hatte ich mich bis auf wenige Meter an ihn herangearbeitet. Ich bewegte mich nur, wenn er sich bewegte, und erstarrte, wenn er innehielt. Er ahnte nicht, daß ich da war, obwohl er nach seinem Verhalten zu urteilen mehr war als ein gewöhnlicher Waldgänger. Fast mußte ich lachen, wenn ich mir vorstellte, wie nah ich war. Ich hätte ihn mit einem Stöckchen berühren können. Jeder ApacheKundschafter hätte längst meine Annäherung gespürt. Dieser Mann schien mir in einem Vakuum zu existieren, isoliert von allen Vorgängen außerhalb seiner Welt. Mittlerweile war ich unvorsichtig geworden und knackte versehentlich einen Ast. Der Mann fuhr herum, und ich ließ mich lautlos zu Boden fallen. Er kam näher, um nachzusehen, woher das Geräusch gekommen sein mochte, blieb aber •wenige Zentimeter vor meinem Kopf stehen. Ich sah den Lauf seiner Schrotflinte, keine Handbreit entfernt. Eine Ewigkeit schien zu verstreichen, bis er sich wieder bewegte. Er war sehr nervös und schien bereit, die Schrotflinte abzudrücken, ohne viel nachzudenken. Wieder folgte ich ihm, während er seine Suche nach einer neuen Müllkippe fortsetzte. Ich durfte mein Leben nicht nochmal aufs Spiel setzten - durch eine Dummheit wie einen
knackenden Zweig. Ich wußte, ich mußte ihm die Schrotflinte wegnehmen, und hoffte, er werde sie abstellen. Wenn ich mich auf ihn stürzte und sie ihm zu entreißen suchte, würde ich nur mein Leben gefährden, und ich konnte mir nicht leisten, daneben zu greifen. Ich konnte nichts anderes tun, als ihn weiter zu verfolgen - in der Hoffnung, er werde irgendwann einen Fehler machen. Es dauerte auch nicht lange, bis der Mensch einen Augenblick stehenblieb, seine Zigarette wegwarf und die Schrotflinte gegen einen Baum lehnte. Dann entfernte er sich ein paar Schritt, und ich hörte seinen Reißverschluß knistern - er wollte also urinieren. Als ich seinen Urin auf den Boden prasseln hörte, glitt ich hinter dem Baum hervor und nahm rasch die Flinte. Ich wußte, das Pinkelgeräusch konnte eine blitzschnelle Bewegung tarnen. Dann ging ich auf Abstand zu dem Mann. Vermutlich würde er die ganze Gegend absuchen, wenn er merkte, daß sein Gewehr verschwunden war. Während ich überlegte, hörte ich den Mann zu jenem Baum tappen — und tonlos fluchen. Aus seiner Flucherei war ersichtlich, daß er keinen Verdacht geschöpft hatte, jemand könnte das Gewehr entwendet haben. Vielmehr ermahnte er sich immer wieder, er müsse vorsichtiger sein, wenn er in dunkler Nacht sein Gewehr abstellte. Je länger er aber nach der Waffe suchte, desto wütender wurde er, und desto schwerer fiel es mir, das Lachen zu verbeißen. Der Mann stampfte wütend auf und lief zurück zu seinem Wagen. Ich nahm an, er wollte eine Taschenlampe holen, darum nutzte ich die Gelegenheit, mich tiefer in den Wald zurückzuziehen und mich zur anderen Seite des Lastwagens vorzuarbeiten. Jetzt sah ich den flackernden Schein seiner Taschenlampe in der Ferne, während er nun hektisch nach seiner Flinte suchte. Ich versteckte die Waffe im Wald und kehrte zurück zum Lastwagen. Die Tür hatte er offengelassen in seiner Eile, die Taschenlampe zu finden. Ich durchsuchte die Fahrerkabine und hoffte, irgendein Schriftstück zu finden, das Informationen über ihn oder die Herkunft der Chemikalien enthalten hätte, aber der Wagen war sauber. Sauber, was verräterische Papiere betraf — ansonsten aber war er vollgestopft mit leeren Bierdosen und allem möglichen Schrott. Die Taschenlampe flackerte jetzt gefährlich nah vor der Kabine; ich ließ mich wieder zu Boden fallen und verschwand unter dem Wagen. Der Mann kehrte zum Wagen zurück, fluchend, was das Zeug hielt; er warf die Taschenlampe auf den Beifahrersitz, knallte die Tür zu und stapfte hinüber zur anderen Seite. Kaum war er hinter dem Wagen, glitt ich hervor, schnappte durchs offene Fenster die Taschenlampe und verschwand im Gebüsch. Der Mann sprang auf den Fahrersitz,
stieß den Schlüssel ins Zündschloß und versuchte den Motor zu starten. Daß seine Taschenlampe verschwunden war, merkte er nicht. Aber er tobte, als der Wagen nicht anspringen wollte, stieß die Tür auf und verfluchte den Wagen, indem er nach seiner Taschenlampe griff— ins Leere, denn sie war verschwunden. Er sprang heraus, rannte zur Beifahrerseite hinüber und suchte den Fußboden der Kabine ab, auch den Boden draußen vor der Tür. Plötzlich dämmerte ihm, daß das Verschwinden
seines
Gewehrs
und
seiner
Taschenlampe,
dazu
noch
die
Motorpanne seines Wagens bestimmt kein Zufall sein konnten. Beinah spürte ich die Veränderung seiner gefährlichen Stimmung, als ihm diese Zusammenhänge zu dämmern begannen. Er stellte sich vor den Wagen und spähte nervös in die Runde, während er die Motorhaube öffnete. Ich sah ein Zündholz aufflackern, während er in den Motorraum schaute, und hörte ihn ungläubig stöhnen. Er rannte zur Fahrertür, voller Wut jetzt auf all die Pannen. Er benahm sich wie ein Tier, das man in die Ecke getrieben hat — ein gänzlich aus seinem Element gerissenes Tier. Ohne die Sicherheit seines Lastwagens, seines Gewehrs und seiner Taschenlampe, das wußte er, saß er in der Klemme. Die einzige Art, wie er auf sein Problem noch reagieren konnte, war Gewalttätigkeit. Er zog einen großen Schraubenschlüssel unter der Sitzbank hervor und schwang ihn drohend gegen den nächtlichen Wald. Er brüllte in jede Richtung außer in meine -, er schüttelte seinen Schraubenschlüssel nach dem Unbekannten und forderte den «Feigling» heraus, sich zu zeigen. Anfangs fiel es mir schwer, mir ein Lachen zu verkneifen; dann aber machte es anscheinend «Klick» in mir. Die Wut packte mich, als ich ihn dort so frech stehen sah. Er sollte bescheidener sein, dachte ich! Wie wagt es der Kerl, mich herauszufordern — nach allem, was er mit meinem Wald und mit Großvaters Meditationsplatz angestellt hatte! Ganz ruhig stand ich da, packte meinen Stock und schob mich langsam vorwärts in die Nacht zu ihm hinüber. Ich spürte, wie meine Hand sich um den Stock spannte und die Muskeln in meinem Arm und meiner Schulter hart wurden vor Wut. Da war wieder das Tier in mir. Jetzt merkte ich auch, daß meine rationale Vernunft mich verließ. Zurück blieb nur unkontrollierbare Gewalt. Ich schlich von hinten an ihn heran und ließ meinen Stock so kräftig niedersausen, daß sein Zischen im Wald wiederhallte. Ich traf seinen Schraubenschlüssel knapp vor der Hand und ließ ihn hoch durch die Luft segeln. Wie betäubt stand der Mann vor mir. Mein Stock schwebte schon wieder in der Luft, hochgereckt wie ein Baseballschläger und bereit, auf seinen Körper niederzusausen. Ich merkte, wie das tobende Tier in mir außer
Kontrolle geriet. Der Kerl flehte mich an, ihm nichts zu tun; er fiel zitternd auf die Knie und hob schützend die Hände über den Kopf. Ich konnte sein Flehen nur mit einem tiefen Knurren beantworten — und mit einem gewaltigen Stockhieb auf den Erdboden, während das Tier in mir alle Fesseln sprengte. Ich konnte nur noch hervorpressen, er werde mir teuer bezahlen müssen für die Zerstörung meines Waldes. Jetzt sah ich eine Bewegung hinter dem Mann, und anfangs glaubte ich, es könne ein Komplize sein. Dann aber wurde mir klar, daß die Bewegung zu präzise gewesen war, um etwas andres zu sein als ein Geist. Wieder fiel mir eine rasche Bewegung ins Auge, und dort am Rande der Schneise stand ein alter Mann. Es war Großvater. Ohne den Zitternden vor mir zu beachten und immer noch von der Bestie in mir beherrscht, fragte ich Großvater unfreundlich, was zum Teufel er von mir wolle. Er sagte: «Nicht du bist es, mein Enkel, der aus dir spricht, sondern die Gewalt. Was glaubst du zu erreichen, indem du diesen Mann schlägst? Allzu oft versuchst du, unsere Mutter Erde mit Zorn und Gewalt zu verteidigen. Und wie oft hast du erlebt, daß dies nicht geht? Unsere Zahl wird sich nicht vermehren, wenn du fortfährst, jene zu schlagen, die unsere Verbündeten werden könnten. Warum fragst du den Mann nicht, warum er solche Dinge tut? Hättest du ihn gefragt, dann hättest du erfahren, daß ihn nicht allein die Schuld trifft.» Während ich dies Gespräch mit Großvaters Geist führte, sah der Mann zu mir auf, als sei ich verrückt. Er schaute sich um, mit wem ich wohl sprechen mochte, und als er niemanden sah, verlor er vor Angst die Beherrschung. Schluchzend flehte er mich an, ihn nicht zu töten. Jetzt, da die Bestie in mir sich beruhigt hatte, verlangte ich von ihm zu wissen, warum er die Chemikalien im Wald abkippte. Er schluchzte, er habe keine andere Wahl. Sein Boß, sagte er, habe seine Familie bedroht, und ein Freund von ihm sei ermordet worden, weil er den Befehlen nicht gehorcht habe. Ich hatte mich inzwischen ganz beruhigt und warf meinen Stock mit einer Friedensgeste weg. Endlich nannte er mir seinen Namen - David —, und dann erklärte er, daß er von einer Firma im Norden des Staates als Hilfsarbeiter angestellt worden sei. Er sei darauf angewiesen, und man verlange von ihm, Dinge zu tun, die — wie er wohl wisse — gegen das Gesetz verstießen. Die Bezahlung aber sei gut, und er könne endlich seine Familie durchbringen. Bald darauf habe sein Boß von ihm verlangt, chemische Abfälle in die Pine Barrens zu fahren, wo er sie nun seit zwei
Monaten abkippe. Er sagte mir, er habe versucht, aus dieser Firma auszusteigen, aber man habe ihn und seine Familie bedroht, und nun müsse er tun, was von ihm verlangt würde. Er sei ausgesucht worden für diesen Job, weil er sich gut im Wald auskenne. Schon als Elfjähriger sei er mit seinen Eltern hier in die Gegend gezogen, er sei hier auf die Jagd gegangen - und er sei selber entsetzt, was die Chemikalien hier anrichteten. Noch einmal beteuerte er, daß ihm nichts anderes übrigbliebe. Er tat mir wirklich leid, der arme Kerl, denn tatsächlich blieb ihm nichts andres übrig, als seinem Chef zu gehorchen. Ich sagte ihm, es müsse doch wirklich schlimm für ihn sein, daß seine Kinder und Enkel nie mehr hierher kommen könnten, nachdem das Land nun verseucht und vergiftet sei. Ich zeigte ihm meine Fußsohlen, und er war erschüttert. Um ihn nicht weiter unter Druck zu setzen - denn ich wußte wohl, daß er verstand —, sagte ich ihm, daß ich ihm aus seiner Zwangslage heraushelfen könnte. Ich verschwand rasch im Wald hinter dem Lastwagen, gab ihm seine Taschenlampe und das Zündkabel zurück und befahl ihm, den Wagen zu starten. Dann drückte ich ihm seine geladene Waffe in die Hand, ohne zu überlegen, ob er sie benutzen würde oder nicht. Als er das Gewehr entgegennahm, sahen wir uns in die Augen, und beide verstanden wir. Dave fuhr mich aus den Pine Barrens auf direktem Weg zu Joe. Ich hatte ihm erzählt, daß ich diesen alten Polizisten kannte, der helfen würde, wie er mir schon so oft geholfen hatte. Obwohl es gerade erst dämmerte, wußte ich, daß Joe mehr als glücklich wäre, sich Daves Geschichte anzuhören. Ich brauchte nicht lange, um die Situation zu erklären, und dann überließ ich es Dave und Joe, die Sache ins reine zu bringen. Ich wußte, wenn jemand Dave helfen konnte, dann war es Joe; ich sagte den beiden, sie wüßten, wo sie mich finden könnten, falls sie mich brauchten, und kehrte zurück in die Pine Barrens. Dort angekommen, fiel ich rasch in den bitter nötigen Schlaf. Gleichzeitig begann es zu regnen, und schon im Einschlafen stellte ich mir vor, wie all das chemische Zeug in die Erde gespült wurde. Schließlich würden Daves Kinder und Enkelkinder dies Wasser trinken müssen. Kurz vor Anbrach eines neuen Tages erwachte ich von Großvaters Worten. Er sagte: «Hättest du Unwissenheit und Angst mit Gewalt beantwortet, dann hättest du einen unschuldigen Menschen verletzt. Das Verhängnis menschlicher Habgier übersteigt manchmal die Schuld derer, die beim Zerstören der Erde ertappt werden. Durch dein Mitleid hast du mehr erreicht, als du mit Gewalt hättest erreichen können. Nun siehst du, wenn du einem anderen die Hand reichst und seine Unwissenheit zu verstehen
suchst, kannst du Wunder wirken. Durch Gewalt und Aggression werden keine Probleme gelöst. Ich kenne dein Leid, mein Enkel, denn man hat besudelt, was dir heilig ist. Doch was du für diesen Mann und seine Familie getan hast, ist noch viel heiliger. Du hast einen Teil von dir selbst für ihn hingegeben.» Damit verklang Großvaters Stimme im Morgennebel. Ich blieb noch einen ganzen Tag in der Gegend, aber ich wußte, daß ich nun keinen Grund mehr hatte hierzubleiben. Ich hatte viel aus dieser Lektion gelernt. Etwa, was es heißt, ein Krieger zu sein. Ein Krieger war keine Bestie, die mit Gewalt um sich schlug, sondern ein mitleidender und liebevoller Mensch. Jetzt wußte ich ohne allen Zweifel, daß die Probleme der Gesellschaft nicht durch Zorn oder Gewalt zu lösen waren. Freundlich und liebevoll müßten die Menschen zur Erde zurückgeführt werden. Die meisten wußten es ja nicht besser und sollten nicht bestraft werden für ihre Unwissenheit und Angst. Für jene aber, die es besser wußten, für jene, die sich nicht belehren lassen wollten, blieben immer noch Zorn und Gewalt. Zumindest wußte ich jetzt Bescheid über den Unterschied, und wo diese Grenze zu ziehen war, wie schmal sie auch sein mochte. Die Grenze zwischen Zorn und Mitleid war mir klargeworden. Zumindest konnte ich die Menschen jetzt etwas besser verstehen, sie etwas mehr lieben trotz ihrer Unwissenheit und Angst. Ich mußte Großvaters Lehre zu den Menschen bringen!
13
Einkehr in die Höhle der Ewigkeit
Ziellos wanderte ich durch den Südwesten des Landes, als ich wieder einmal die Höhle der Ewigkeit aufsuchte. Bewußt hatte ich das nicht geplant, noch hatte meine innere Vision mir befohlen, auf Visionssuche zu gehen. Damals war ich eher damit beschäftigt, Gegenden zu erforschen und Abenteuer zu suchen — an denselben Orten, wo Großvater wahrscheinlich einst wanderte. Ich hatte ganz den Bezug zu Raum und Zeit verloren und merkte nicht einmal, daß ich mich in der Nähe der Höhle befand. Als ich um den Fuß eines Berges bog, lag sie direkt vor mir, ihr Eingang hoch unter einer Klippe. Sie hatte sich nicht verändert in all den Jahren, und ich war verwundert und fast erschreckt, sie hier zu sehen. Nie hatte ich mich aus dieser Richtung genähert, und deshalb wohl war ich so überrascht, sie wiederzusehen. Beinah im gleichen Moment, als ich zu der Höhle hinaufschaute, überwältigte mich das Gefühl, daß ich sie wieder einmal aufsuchen mußte. Auch wenn dies Gefühl nicht aus meiner Inneren Vision kam, auch wenn es mir nicht sagte, daß ich eine Visionssuche unternehmen solle, glaubte ich einfach, ich müsse hingehen und herausfinden, ob sie sich im Lauf der Jahre verändert habe. Ich glaube, zum Teil kam dieses Gefühl daher, dass diese Höhle ein so wichtiger Teil meines Lebens und meiner Vision war und noch immer ist. Auch bildete die Höhle einen wichtigen Teil von Großvaters Leben. Hier war etwas, das uns gemeinsam gehörte, und obwohl es nicht zur gleichen Zeit geschah, hatte die Höhle doch zu mir auf dieselbe Weise gesprochen, wie sie zu Großvater gesprochen haben mochte. Die Visionen der möglichen und wahrscheinlichen Zukunft waren es, die uns beide auf unseren Wegen geführt hatten. Ich brauchte fast den ganzen Vormittag, um auch nur den Fuß der Klippe zu erreichen. Dann dauerte es ein paar Stunden, die Klippe hinaufzuklettern zum Eingang der Höhle. Manchmal spürte ich Großvaters Gegenwart so, als klettere er neben mir, denn der Weg, den ich nahm, war einer der wenigen, die dorthin führten. Ich konnte nur ahnen, wie viele Menschen in der Vergangenheit diese Felswand erstiegen hatten, und fragte mich, ob auch in Zukunft jemand das Weistum der Höhle
suchen wurde. Gewiß, wenn jemand die Gegend erforschte, würde er schließlich die Höhle finden; aber die Höhle sprach nicht zu jenen, die nicht spirituell von ihr angezogen wurden. Für sie wäre sie nichts als eine kleine Felsenhöhle. Doch für jene, die vom Geist zu ihr geführt wurden, barg sie das Weistum der Vergangenheit und alle mögliche Zukunft. Die Höhle war einer der stärksten Plätze in diesem Teil des Landes. Sogar im Stofflichen schien sie die umgebende Wildnis zu beherrschen. Ihre Stimme veränderte sich mit Wind und Wetter. Manchmal war es ein beschwörendes Heulen, dann •wieder ein leises Flüstern, manchmal ein tiefes Brummen. Auch Singen und Jubel waren zu hören. Es fiel schwer, reale Geräusche von den zahllosen Stimmen der Höhle zu unterscheiden, die aus ihrer Tiefe drangen. Des Nachts veränderten sich die Geräusche der Höhle abermals; dann klang es, als flüstere die Höhle so nah, daß ich sie mehr fühlte als hörte. Auch fühlte ich die Welt der Geister mit der Welt des Fleisches verschmelzen, besonders wenn ich durch den Eingang eintrat. Ich konnte nicht vor ihr stehen, ohne ein tiefes spirituelles Beben zu empfinden, das sich körperlich als unkontrollierbares Zittern zeigte. Als ich diesmal den Eingang der Höhle erreichte, war ihre Macht ungebrochen. Ich zitterte so stark, daß es beinah unmöglich war, mich über den Sims zu ziehen, der ihren Eingang bildete. Wieder einmal starrte ich in ihre dunklen Tiefen, wie ich es vor vielen Jahren getan hatte. Die Stimmen der Höhle schienen mächtig und beschwörend und zwangen mich, ins Dunkel einzutreten. Noch immer hatte ich keine Ahnung, warum ich hierhergerufen worden war, denn meine Innere Vision sandte keine klare Botschaft. Ich wußte nur, daß ich hier sein mußte und daß ich nicht zufällig hierhergekommen war. Als ich an die letzten Tage zurückdachte, erkannte ich, daß mein scheinbar richtungsloses Umherwandern mich tatsächlich auf direktem Weg zu der Höhle geführt hatte. Jetzt wußte ich, daß die Höhle mich die ganze Zeit gerufen hatte, aber warum? Noch immer hatte ich nicht das Gefühl, ich mußte hier auf Visionssuche gehen. Näher am Eingang überwältigte mich die Intensität der Erwartung so stark, daß ich kaum einen Schritt tun konnte. Ich erinnerte mich daran, was Großvater mir einmal gesagt hatte: Wenn die Höhle riefe, ob zur Visionssuche oder nicht, lernte man immer etwas. Solche Macht hatte die Höhle, daß die Visionssuche selbst — außer bei jenen, die unwürdig waren — fast eine sekundäre Rolle spielte. Kein Zweifel bestand bei mir, daß die Höhle mich nun gerufen hatte, um mich wieder etwas zu
lehren. Ich hatte nicht mehr die Wahl, denn das Gefühl drängender Erwartung hinderte mich fast am nächsten Schritt. Irgendwie machte dies Gefühl mir angst, auch das unerklärliche Gefühl der Dringlichkeit. Ich fragte mich, als ich dort stand wie erstarrt, ob die Botschaft, die sie mir offenbaren würde, von einem Verhängnis künde. Immerhin sprach die Höhle von möglicher Zukunft, und möglicherweise war es eine häßliche Zukunft, die sie bereithielt. Jetzt fürchtete ich mich noch mehr, denn bis dahin hatte ich noch immer nicht meiner Vision gelebt. Ich war nur jahrelang durch die Wildnis gewandert und hatte wenig getan, um Leute zu lehren. Gewiß hatte ich einige unterwiesen, doch unsere Begegnungen waren kurz, und die Leute schienen leicht ablenkbar durch die falschen Götter des Fleisches. Vielleicht rief die Höhle mich hierher, um mir zu sagen, daß meine Vision nun erstorben sei und der Erde ein Letzter Winter der Menschheit bevorstand? Schuldgefühl packte mich heftig, denn ich hatte nicht wirklich versucht, Menschen zu lehren oder etwas zu tun. Selbstsüchtig war ich gewesen auf meinen Wanderungen und hatte mir gesagt, ich hätte noch so vieles zu lernen, bevor ich die Wildnis verlassen durfte, um Menschen zu lehren. Wie oft hatte ich mir eingeredet, ich müsse zuerst Großvaters Alter erreichen, bevor ich genug Wissen hätte, um Gutes zu tun. Ich wußte auch, daß meine Vision in dieser Höhle die einzige meiner Visionen war, die mir Hoffnung für die Zukunft gegeben hatte. Dort hatte ich jene wunderbare Möglichkeit geschaut: den Tunnel des Friedens. Obwohl er nicht groß und nicht mächtig war, enthielt er doch Hoffnung. Nun fragte ich mich, ob diese mögliche Zukunft noch da sei. Vielleicht rief die Höhle mich hierher, um mir zu zeigen, daß die Zukunft für immer verloren war und keine Hoffnung mehr bestand? Dieser Gedanke machte mich wirklich krank, denn diese Hoffnung war es gewesen, die mich so lange aufrecht hielt. Diese Hoffnung war es gewesen, die mir über die schlimmsten Zeiten meines Lebens hinweggeholfen hatte. Jetzt rechnete ich mit der Möglichkeit, daß die Hoffnung wahrscheinlich dahin war, weil ich tatsächlich nichts getan hatte. Aber ich fand einen kleinen Trost in der Tatsache, daß ich doch wenigstens versuchte, etwas zu tun, um die Erde zu retten. Es war nur so schwer, Menschen zu finden, die zuhören wollten. Ich wußte, daß ich Ausreden für mich gefunden hatte, und diese Ausreden wurden hier nicht akzeptiert. Während ich nun tiefer in die Kammer eindrang, fühlte ich, daß hier die Zeit stillstand, und die Stimmen der Höhle wurden noch intensiver.
Manche dieser Stimmen schienen mich anzuklagen, manche mich zu verspotten und andere schrien nur vor Schmerz. Die Hauptkammer war aus solidem Fels, der den Zutritt zu den inneren Kammern und Stollen verwehrte. Es war eine äußere Felsenkulisse, die sich jenen entgegenstellte, die ohne spirituelle Berufung in die Höhle eindrangen. Ich wußte aber, daß es so sein mußte, wenn man nur mit den Augen des Körpers sah, denn die Felswände im Innern bewahrten die Geheimnisse vor dem Zugriff des Stofflichen. Ich ging tiefer hinein, jedoch langsamer, um meine Augen an das Dunkel zu gewöhnen. Die Intensität der Tiefe wurde so mächtig, daß ich mich ein Weilchen setzen mußte, um meine Fassung wieder zufinden. Ich schloß die Augen, um deren Anpassung an die Dunkelheit zu beschleunigen und um in meinem Innern nach Antworten zu suchen. Ich spürte den Höhlenboden schwanken. Im nächsten Moment hörte ich ein Weinen und hob erschrocken den Kopf. Als ich in die Tiefe der Kammer blickte in die Richtung, aus der das Weinen kam, sah ich, daß der Haupttunnel der menschlichen Existenz sich abzuzeichnen begann. Die feste Felswand hatte sich aufgetan, und die Stimmen der Vergangenheit drangen hallend hervor. Am Eingang saß auf einem Felsblock ein alter Mann. Er hielt den Kopf gesenkt und schluchzte, während er in den Tunnel hinunterblickte. Ich trat zu ihm hin und wollte ihn trösten, doch als ich näherkam, deutete er in die Tiefe des Tunnels und sagte: «Sie ist verschwunden.» Als ich nähergekommen war, hob er den Kopf, und voll entsetzen trat ich zurück. Es war der alte Mann aus meiner Visionssuche von vierzig Tagen, mein Enkelsohn. Tränen strömten über seine Wangen, und mit fordernder Geste deutete er in den Tunnel hinab. Ohne Zögern schritt ich dem Hauptstollen entgegen und stieß plötzlich gegen eine Felsmauer. Ich stürzte zu Boden, mein Kopf blutig vom Stoß gegen die Mauer. Der alte Mann war verschwunden wie auch der Tunnel, und ich saß in der Hauptkammer der Höhle. Die spirituellen Tunnels und Stollen waren weg, und ich konnte es mir nicht erklären. Ich war entsetzt über die Worte des Alten, daß alle Zukunft verschwunden sei und mit ihr die Höhle. Plötzlich kam mir Großvaters Vision der weißen Schlangen am Himmel in den Sinn. Nur dies konnte der einzige Grund dafür sein, daß alle Zukunft dahin war, und voll Grauen bei diesem Gedanken rannte ich aus der inneren Kammer hinaus. Ich konnte mir nur noch vorstellen, daß auch die ganze Welt bald verschwinden würde. Nicht nur die Welt des Stofflichen, sondern auch die spirituelle Welt, wie Großvaters Vision es angekündigt hatte. Ich stürzte aus dem Eingang der Höhle hinaus in die Nacht.
Zuerst erschrak ich, als ich den Nachthimmel sah, denn ich war, wie mir schien, nur einige Minuten in der Höhle gewesen. Dann erinnerte ich mich, daß es immer so war in der Höhle, was die Zeit des Stofflichen betraf. Man konnte in die innere Kammer eintreten und glauben, es seien nur wenige Minuten, um dann hinaus in die materielle Welt zu gehen und festzustellen, daß man sich mehrere Tage dort aufgehalten hatte. So war es mir früher schon ergangen, als ich die Höhle zum erstenmal aufsuchte. Jetzt wußte ich nicht, ob dies noch der Abend des Tages war, an dem ich die Höhle erreicht hatte, oder ob mittlerweile mehrere Tage verstrichen waren. Es war zu dunkel, um festzustellen, wie alt meine Fußspuren waren, die in die Höhle führten. Wären es Spuren in weicher Erde gewesen, dann hätte ich tastend ihr Alter bestimmen können. Aber es handelte sich um Spuren auf glattem Fels, darum mußte ich bis zur Dämmerung warten. Das Alter der Spuren spielte auch keine Rolle mehr, denn ich war zu sehr erschüttert über die Worte des alten Mannes wie auch über das Verschwinden der Tunnels und Kammern. Befürchtungen aller Art schössen mir durch den Kopf, bis mein Denken fast außer Kontrolle geriet. Schier unerträglich wurde das Auf und Ab von Furcht und Qual. Ich glaubte nun, der Alte habe mir nicht sagen wollen, daß die inneren Kammern der Zukunft gänzlich an den Letzten Winter verloren wären, sondern nur verloren für mich. Vielleicht war ich nicht mehr würdig, die Geheimnisse der Höhle zu entschlüsseln. Ich hatte nicht voll meiner Vision gelebt, und möglicherweise entzog mir die Höhle ihr Weistum als eine Art der Bestrafung. Schon der Gedanke daran jagte mir Schauder über den Rücken, denn dies bedeutete, daß sich die ganze Geisterwelt von mir abgewandt hätte. Zorn stieg in mir auf bei dem Gedanken, daß mir die Geisterwelt genommen sein sollte. Immerhin hatte ich alles getan, was ich tun konnte. Ich vermochte doch die Leute nicht zu zwingen, mich anzuhören oder den richtigen Umgang mit der Erde zu lernen! Alle, die ich zu lehren versucht hatte, waren zu tief verwickelt in Dinge außerhalb der Wildnis, sie waren nicht bereit, Zeit und Mühe aufzuwenden, um zu lernen. Ich wollte doch nicht umherziehen wie ein Sektenprediger in den Hallen der Gesellschaft! Es gab genügend Vertreter aller möglichen Philosophien, die dies versuchten, und das fruchtete gar nichts. Ich wußte nicht, wie ich es hätte anders machen sollen, wie ich mehr Menschen hätte erreichen können. Schon der Gedanke daran erbitterte mich. Nach all den Jahren, die ich geopfert hatte, nach all den Leiden, die ich auf mich genommen hatte, schien es mir, daß die Geisterwelt mir doch ein wenig helfen könnte.
Obwohl ich in die Höhle zurückkehren mußte, war ich noch nicht bereit. Ich mußte zuerst alle Selbstzweifel klären, bevor ich mich der Höhle noch einmal nähern konnte. Ich mußte herausfinden, was ich falsch gemacht und was ich übersehen hatte im Bestreben, meiner Vision zu folgen. Zudem mußte ich entscheiden, ob es nun an mir lag oder ob dies wirklich ein Zeichen für die Vernichtung von Fleisch und Geist war, wie die Vision der weißen Schlangen vorausgesagt hatte. Ich merkte jetzt, daß ich sehr erschöpft war; daß ich Antworten brauchte; daß nichts und niemand mir zu helfen schien. Ich sah auch, daß ich eine Bürde von Schuldgefühlen und Wut mit mir herumschleppte, die ich loslassen mußte, bevor ich etwas tun konnte. Damals durchschaute ich nicht, auf wen ich überhaupt wütend war: auf mich selber oder auf die Welt der Geister, weil sie mir so wenig geholfen hatte? Welche Vision ich im Leben auch immer gesucht hatte - die Geister weit machte alles, so schien es, oft noch schwieriger. Ich hatte wirklich genug davon, genug von allem, und so leid war ich es, die Bürde der möglichen Zerstörung der Erde auf meinen Schultern zu tragen! Besonders schlimm war, nicht zu wissen, was ich dagegen tun konnte, wie ich die Vision erfüllen konnte, die ich in mir trug. Möglicherweise hatte ich mich nach all den Jahren doch nicht meiner Vision würdig erwiesen. Sonst hätte sich doch ein Weg gezeigt, sie irgendwie zu leben! Es gab einfach zu viele unbeantwortete Fragen in meinem Leben, und ich brauchte wirklich jemanden, mit dem ich sprechen konnte. Ich lag vor dem Höhleneingang und fühlte mich sehr allein. Seit Monaten hatte ich mich nicht so allein gefühlt. Mein Bedürfnis, mit jemandem zu sprechen, wurde fast unerträglich. Aber nicht Großvater war es, mit dem ich sprechen wollte. Ich empfand das Bedürfnis, mein Leben mit jemandem zu teilen. Wie oft erlebte ich etwas Wunderbares, konnte es aber mit niemandem teilen, denn wie immer war ich allein. Ich sehnte mich danach, jemanden zu berühren, jemanden in den Armen zu halten, sehnte mich nach Vertrautheit. Ich spürte ein Verlangen, eine Sehnsucht, wie ich es nie empfunden hatte. So verwirrt und allein fühlte ich mich! Ich brauchte Schlaf, bevor ich mich weiter mit meinen Gedanken und Fragen herumschlagen konnte, vor allem, bevor ich noch einmal in die Höhle einzudringen versuchte. Wenn ich mich ihr stellen sollte, dann mußte ich in jeder Hinsicht ausgeruht sein. Im Morgengrauen erwachte ich von rollenden Donnerschlägen. In der Ferne sah ich Blitze in die Berggipfel einschlagen und wußte, es würde nicht lange dauern, bis das Gewitter über mir war. Ich wollte mich aber nicht in der Höhle in Sicherheit bringen, denn noch immer konnte ich mich nicht überwinden, dem Resultat ins Auge zu
blicken. Lange saß ich dort und beobachtete das näherkommende Gewitter. Der Wind steigerte sich zu einem böigen Tanz von Staub und wirbelndem Laub ringsumher. Die Stimmen der Höhle wurden zu einem Inferno des Heulens, das sich mit
jedem
Windstoß
steigerte.
Dann
kamen
Blitze
und
ohrenbetäubende
Donnerschläge. Blitze schlugen ins Tal unter mir und trafen schließlich die Felsklippe hoch über meinem Kopf. Während ich zum Höhleneingang rannte, brachen Schuttbrocken aus der Höhe herab. Es hatte mich ins Innere der Höhle getrieben, ich hatte keine Wahl mehr. Lange blieb ich im Eingang der Höhle stehen und versuchte nicht allzu tief hineinzugehen. Der Eingangsstollen war wie ein Schalltrichter und verstärkte das Krachen von Donner und Blitz in unerträglichem Maß. Während ich mich ins Innere zurückzog, schlug draußen ein Blitz ein, der mir fast das Trommelfell sprengte. Ich stürzte hinein in die Höhle und in die Dunkelheit. Ich hatte keine andere Wahl, und die Angst vor der Höhle spielte keine Rolle mehr. Ich konnte mich nur noch gegen die hintere Höhlenwand kauern und schauen, wie die Wölbung des Eingangs mit jedem Blitz aufflammte. Ich mußte die Ohren mit meinen Händen bedecken, so mächtig waren die Donnerschläge. Und während sich Blitz und Donner noch steigerten, lag ich am Fuß der Mauer am Boden, zusammengekauert wie ein geprügeltes Kind. Ich spürte, wie sehr ich zitterte, und konnte mich nicht mehr beherrschen. Es war, als bestraften der Schöpfer und die Höhle mich für die Sünde des Zauderns. Plötzlich war blendende Helle um mich, und ein Blitz prallte von den Höhlenwänden, zerstob dann am Boden in einer Staubwolke und schoß wieder zum Eingang hinaus. Der Höhlenboden schwankte mächtig, und dann kam ein Poltern von oben. Felsbrocken krachten herab und füllten den Höhleneingang mit der Gewalt eines Erdbebens. Staub wallte auf und füllte die innere Kammer. Es wurde stockdunkel, und ich preßte mich gegen die Felsenwand. Ich wußte nur, ich mußte sterben — wenn nicht sofort unter der einbrechenden Höhlendecke, so doch, weil ich in der Höhle gefangensaß. Ich spürte das Poltern der Blöcke, die draußen vor der Höhle herabrollten. Felsbrocken und kleinere Steine prasselten in der Kammer herab, manche gefährlich nahe daran, mich zu zerquetschen. Die Höhle sollte vom Antlitz der Erde gewischt werden, und ich mit ihr. Ich tröstete mich damit, daß dies ein viel besseres Grab wäre als alles, was ich mir vorstellen konnte - und plötzlich war alle Furcht gewichen. So rasch, wie es begonnen hatte, verstummte der Lärm. Bis auf einen letzten Stein,
der vor den blockierten Eingang kollerte, herrschte jetzt Stille in der Höhle. Manchmal hörte ich noch das tiefe Grollen des Donners von draußen, sonst aber nichts zur Bezeichnung von Zeit und Raum in dem ewigen Dunkel und Schweigen, das mich nun umgab. Ich tastete mich dorthin, wo der Höhleneingang gewesen war, traf aber auf eine feste Mauer von Schutt und Gestein. Fast bis zur Mitte der inneren Kammer reichte sie, und ich schätzte sie mindestens zehn Meter stark. Die schreckliche Erkenntnis, gefangen zu sein, wurde nur noch durch die Aussicht auf einen langsamen, qualvollen Tod übertroffen. Nicht mal in einem Monat wäre es möglich gewesen, mich ins Freie zu graben. Manche der Blöcke waren so groß, daß zehn Männer von meiner Statur sie nicht hätten bewegen können. Die Höhle und der Schöpfer hatten mich eingesperrt, und ich wußte, ich war zum Tod verurteilt. Nun durchlief ich die ganze Skala der Gefühle, von Zorn bis zu Resignation. Ich war wütend, weil ich all die Jahre mit einem Training verbracht hatte, das jetzt wertlos war. Jetzt konnte ich nicht mehr meiner Vision leben, und mein Leben war vergeudet. Mein einziger Trost war, daß ich es nicht anders gewollt hatte. Ich wollte nichts von dem, was die Gesellschaft zu bieten hatte; nichts von dem, wonach meine Freunde jagten. Wenn ich jetzt starb, hätte ich mein Leben genauso gelebt, wie ich es leben wollte. Nichts hätte ich daran geändert. Dennoch grenzte meine Wut an Raserei, denn jetzt blieb mir nur noch der Tod. Ich konnte nicht mehr für meine Vision leben, und ich würde die Wildnis nie Wiedersehen. Dies also war mein Vermächtnis, und nie würde ich die Chance bekommen, etwas zu bessern auf dieser Welt - für die Kinder, die nach mir kommen. Ich fühlte mich unendlich betrogen, doch wenn es dies war, was der Schöpfer mit meinem Leben vorhatte, dann wollte ich mich nicht auflehnen. Ich wollte den Tod akzeptieren wie ein Krieger. Plötzlich schwankte der Boden, ich verlor den Halt und stürzte lang hin. Ich wußte nicht, kam die Erschütterung von. einem einschlagenden Blitz, von einem Erdbeben oder von einem spirituellen Beben? Meine Angst steigerte sich ins Grenzenlose. Noch ein paarmal bebte die Erde, bis wieder Stille einkehrte. Als ich die Fassung wiederfand, war mir, als hätte ich eine Ewigkeit den Atem angehalten. Dichter Steinstaub hing in der Luft, nirgends ein Lichtfunken. Klaustrophobische Angst schnürte mich ein, und ich konnte nicht atmen. Finsternis erdrückte mich wie in einer Gruft, und meine Gedanken rasten. Verzweifelt suchte ich einen Ausweg aus der Schwärze. Es war eine Art von sensorischer Deprivation, die all meine Ängste verstärkte. Ich wußte, der Tod würde durch Ersticken eintreten, ich würde verdursten
oder an Unterkühlung sterben wegen der Kälte im Innern der Höhle. Jedenfalls wäre es ein langsamer, qualvoller Tod. Ich weiß nicht, wie lange ich auf dem Boden der Höhle gelegen hatte. Hier in der Dunkelheit wurden Raum und Zeit unwirklich. Es gab keinen Anhaltspunkt für die Bestimmung von Zeit und Ort, nur diese Dunkelheit. Langsam kroch ich zur Höhlenwand, um mich zum Fuß der gestürzten Gesteinsmassen zu tasten. Auch die Entfernungen verwischten sich, und mir war, als krieche ich schon eine Ewigkeit, ohne die Mauer zu erreichen. Vielleicht, dachte ich, bewegte ich mich im Kreis; denn je länger ich kroch, desto weniger kam ich vorwärts. Die innere Kammer der Höhle war gewiß nicht groß, und doch fand ich noch immer nicht die rückwärtige Wand. Alles war so verwirrend, und ich mußte mich hinlegen, um mich zu sammeln. Angestrengt starrte ich in die Finsternis und hoffte auf einen Lichtschimmer, der mir verraten hätte, wo ich mich befand. Aber die Schwärze wurde nur noch undurchdringlicher. Bald konnte ich nicht mehr feststellen, ob ich die Augen offen oder geschlossen hatte. Auch tanzten mir alle möglichen Bilder und Vorstellungen durch den Kopf, bis ich nicht mehr entscheiden konnte, wo die Wirklichkeit anfing und der Traum endete. Tatsächlich, ich wußte manchmal nicht mehr, ob ich schlief oder wachte. Immer wieder versuchte ich die Höhlenmauer zu finden, aber vergebens. Mir war, als sei ich wohl in der kleinen Kammer, gleichzeitig aber in einem riesigen Felsendom. Ob ich dies alles träumte? Ob es Wirklichkeit war? Falls es ein Traum sein sollte, konnte ich nicht erwachen. Die Angst war plötzlich verschwunden, und ich war eher neugierig denn in Sorge, ich könnte sterben. Hier ging etwas Höheres vor, als ich mir vorstellen konnte, und nun wollte ich es herausfinden. Wieder versuchte ich zur Höhlenwand zu kriechen, diesmal entschlossen, nicht aufzugeben, bis ich sie gefunden hatte. Ich streckte beim Kriechen nicht mehr die Hände vor, sondern kroch nur noch, so schnell ich konnte. Es war mir egal, ob ich mir dabei den Kopf anstieß. Ich mußte etwas Reales und Faßbares finden, etwas anderes als den Höhlenboden und die ewige Dunkelheit. Ich wußte, wenn ich die Mauer erreichte, dann hätte ich etwas, um mich zu orientieren — um von diesem Ausgangspunkt alle Wände der Höhle abzutasten und vielleicht einen Ausweg zu finden. Wenn ich schließlich doch sterben sollte, hätte ich wenigstens um mein Leben gekämpft, statt mich einfach hinzulegen und auf den Tod zu warten. Schon eine gute Stunde, so schien es mir, war ich umhergekrochen, hatte aber keine
Felswände entdeckt. Als ich mich wieder einmal hinlegte und ausruhte, wurde mir klar, daß die Höhle sich für mich geöffnet haben mußte, wie früher schon einmal vor vielen Jahren. Meine Gedanken klärten sich, und ich verstand allmählich, was mir widerfahren war; und da begann ich im Dunkel nach einem Lichtpunkt zu suchen, der mir das Ende des Tunnels bezeichnen könnte. Wie ich im Dunkeln tastete, fühlte ich eine leichte Brise über meinen Rücken wehen. Nachdem ich schon zahllose Höhlen erforscht hatte, wußte ich, daß solch eine Brise mich zu einem äußeren Stollen führen konnte, und darum folgte ich ihr. Die Brise war aber so schwach, daß ich immer wieder anhalten mußte, um sie über meine Haut streichen zu fühlen, denn solange ich mich bewegte, war dieser Windhauch nicht zu spüren. Je weiter ich kroch, desto stärker wurde die Brise, bis ich sie sogar durch den Tunnel streichen hörte wie einen tiefen Atem des Berges. Endlich sah ich einen schwachen Lichtschimmer von oben, der durch die Dunkelheit drang. Anfangs glaubte ich, daß meine Augen mich täuschten, doch als ich näherkam, wurde das Lichtlein stärker. Wohl war es nur schwach, grau und schleierhaft, aber es war Wirklichkeit. Ich kroch dem Licht entgegen und empfand namenlose Erleichterung; Tränen stiegen mir in die Augen, weil ich nun wieder Hoffnung hatte auf eine Chance, meiner Vision zu leben. Das Licht wurde immer stärker, je näher ich kam, doch es beleuchtete nichts in der Höhle. Es war nur ein Lichtschein, der langsam stärker wurde, während ich ihm entgegenkroch, aber er blieb konturlos. Ich wußte nicht, woher das Licht kam, aber es war meine einzige Hoffnung. Näher herangekommen an das Licht, entdeckte ich wieder die Gestalt des alten Mannes, der gebeugt und weinend vor dem Licht saß. Ich hörte sein Schluchzen, und wieder deutete er auf das Licht und sagte: «Es ist verschwunden.» Zutiefst erschrok-ken fragte ich ihn mit heiserer Stimme, was er wohl meine. Was war verschwunden? Schwach hallte seine Stimme von den Höhlenwänden, als er nun sagte: «Die mögliche Zukunft der Hoffnung ist verschwunden oder wird bald verschwunden sein, denn niemand hat versucht, sie zu retten. Wenn nichts getan wird, wenn deine Vision ungelebt bleibt, dann bleibt als einzige Zukunft der Menschheit das Sterben der Kinder und Enkelkinder, wie du es einmal gesehen hast. Du darfst es nicht mehr lange aufschieben, deine Vision zu leben. Du hast zu viele Entschuldigungen gefunden, und jetzt ist es vielleicht zu spät.» Während die Worte verhallten, verschwand der alte Mann, und ich trat ins Licht.
Im nächsten Moment befand ich mich in der Kammer der Jetzt-Zeit in dieser Welt: Es war dieselbe Kammer, in der ich vor vielen Jahren gewesen war. Dort vor mir lag der riesige Tunnel der wahrscheinlichen Zukunft: die wahrscheinliche Zukunft endgültiger Vernichtung der Menschheit. Ich begann die Höhlenwände nach allen anderen Möglichkeiten der Zukunft abzusuchen und suchte verzweifelt nach jener Zukunft der Hoffnung. Ich fand die Stelle, wo ich vor Jahren den kleinen Tunnel möglicher Zukunftshoffnung gesehen hatte, aber er existierte nicht mehr. Vielmehr war an der Stelle, wo ich nun stand, nur noch ein kleines dunkles Loch, in dem es kaum noch schimmerte. Das Licht dort flackerte, ähnlich wie eine ersterbende Kerzenflamme. Ich schaute und schaute, ich fühlte den Druck der Verzweiflung in mir, aber der winzige Tunnel wollte sich nicht mehr öffnen. Nur ein paar flüchtige Bilder schwankten vor meinen Augen, verschwanden dann aber bald. Ich wich zurück von dem Tunnel mit einem unstillbaren Gefühl des Verlusts. Diese Zukunft der Hoffnung, die ich einst gesehen hatte, starb oder war schon tot. Ich hatte sie sterben lassen, weil ich so lange meine Vision verraten hatte. Nein, ich hatte nicht mit aller Kraft versucht, sie zu leben. Sicher, ich wußte nicht, was ich tun oder wie ich die Vision leben sollte, aber dafür gab es keine Entschuldigung. Ich fühlte mich verantwortlich für die verlorene Zukunft der Hoffnung. Meine Qual war erdrückend, denn in meiner Gleichgültigkeit und Verweigerung war ich ebenso schuldig wie die aggressivsten Umweltverschmutzer, die die Erde zerstörten. Weinend und zornig schleuderte ich der Höhle die Frage entgegen, warum ich nicht früher gewarnt worden war, daß die Zukunft der Hoffnung sterben würde. Doch meine Stimme hallte von tauben Felsmauern wider, und ich war allein. Dann aber regte sich in der Höhle ein Wind, und ich hörte Schritte. Ich schaute mich um, doch ich war immer noch allein in der Leere einer toten Zukunft. Plötzlich hallte eine Stimme durch die innere Höhlenkammer, und ich wußte, es war Großvater. Er sagte: «Du warst mehr in Sorge, deine Vision nicht mehr leben zu können, als besorgt darüber, du könntest sterben. Ohne deine Vision, das hast du nun festgestellt, ist dein Leben tatsächlich der Tod. Höre also, mein Enkel, der Letzte Winter der Menschheit auf dieser Welt kommt rasch. Geh jetzt und lebe deiner Vision, und der Weg soll dir gezeigt werden. Wie du gesehen hast, liegt die mögliche Zukunft der Hoffnung bereits im Sterben. Auf dich kommt es an! Geh nach Hause und finde den Waschbär, er wird dich zu der Frau bringen, die dich zu deiner Vision führen soll. Der Letzte Winter steht bevor.»
Großvaters Stimme schwand, und es blieb nur noch ein Echo vom Letzten Winter. Da erwachte ich wieder aus tiefem Schlaf draußen vor der Höhle. Der Eingang war unverändert - aber meine Knie waren von all dem Umherkriechen im Traum arg zerschrammt und blutig. Ich hatte keine Ahnung, was Großvater meinte, als er von diesem Waschbären sprach - oder wer jene Frau sein mochte. Ich wußte nur: Jetzt mußte ich kämpfen, damit die Prophezeiung des Letzten Winters nicht Wirklichkeit wird. Ohne Zögern brach ich auf und kehrte zurück in die Zivilisation. Ich hatte den Glauben gefunden, daß der Schöpfer mir einen Weg weisen würde, und ich hatte keinen Zweifel mehr: Entweder werde ich meine Vision leben - oder ich werde gar nicht leben.
Über den Autor
Tom Brown begegnete seinem Lehrer Stalking Wolf, einem Schamanen vom Stamm der Apachen, bereits mit acht Jahren. Seine ersten Erfahrungen beschrieb er in seinem Bestseller «The Tracker» (Der Fährtensucher) sowie den Folgebänden «The Search» und «The Vision». Dazu verfaßte er noch eine Reihe von praktischen Naturführern und Büchern zum Thema des Überlebens in der Wildnis. Seine weltbekannte Überlebensschule vermittelte Tausenden von Teilnehmern eine neue Sicht der Natur und unseres ganzen Planeten. Auf der Höhe seines Ruhms zog er sich für ein Jahr in die Wildnis zurück und vertraute - nur ein Messer mit sich tragend — den erworbenen Fähigkeiten, die er in seiner Überlebensschule und in seinen Büchern lehrt. Das vorliegende Buch ist das zweite einer Trilogie über die geistige Suche. Weitere Bücher von Tom Brown in deutscher Übertragung im Ansata-Verlag sind vorgesehen. Wenn Sie mit Tom Brown in Kontakt treten oder an einem seiner Kurse teilnehmen möchten, hier seine Anschrift: Tom Brown, Tracker, Inc. P. O. Box 173 Asbury, N.J. 08802-0173, USA