Fragmente von 1869 bis 1885 von Friedrich Nietzsche
Friedrich Wilhelm Nietzsche Friedrich Nietzsche wurde am 15.10.1844 in Röcken bei Lützen geboren. Er stammt väterlicher- und mütterlicherseits von Pastoren ab. Er studierte von 1864-1865 klassische Philologie in Bonn und Leipzig. Mit 25 Jahren wurde er außerordentlicher Professor der klassischen Philologie in Basel. Nietzsche kam 1876 wegen eines Nerven- und Augenleidens vorübergehend und 1879 endgültig in den Ruhestand. 1889 brach seine Geisteskrankheit vollends aus, er kam in die Irrenanstalt in Basel. Er lebte seit 1897 in Weimar (in geistiger Umnachtung), wo er am 25.08.1900 starb. Die Fragmente der Jahre 1869 bis 1985 umfassen mehr als 60 Hefte, 40 Notizbücher und 12 Mappen mit losen Blätter.
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Teil I: Fragmente 1869 - 1874 Die Fragmente von 1869-1874 bestehen aus 19 Hefte, 3 Notizbücher, 2 Mappen mit losen Blättern. Fragmente 1869-1874 [Dokument: Heft] [ Herbst 1869] 1 [1] Wer heutzutage von Aeschylus Sophocles Euripides spricht oder hört, der denkt unwillkürlich zunächst an sie als Litteraturpoeten, weil er sie aus dem Buche, im Original oder in der Übersetzung hat kennen lernen: dies ist aber ungefähr so als ob jemand vom Tannhäuser spricht und dabei das Textbuch und nichts mehr meint und versteht. Von jenen Männern soll also gesprochen werden, nicht als Librettisten: sondern als Operncomponisten. Doch weiss ich wohl, dass ich mit dem Worte "Oper" Ihnen eine Carrikatur in die Hand gebe: wenn auch nur wenige von Ihnen das zuerst zugeben werden. Vielmehr bin ich zufrieden, wenn Sie am Schlusse überzeugt sind, dass unsere Opern gegenüber dem antiken Musikdrama nur Carikaturen sind. Characteristisch ist schon der Ursprung. Die Oper ist ohne sinnliche Vorlage, nach einer abstracten Theorie entstanden, mit dem bewussten Willen, hiermit die Wirkungen des antiken Drama's zu erzielen. Sie ist also ein künstlicher homunculus, in der That der bösartige Kobold unserer Musikentwicklung. Hier haben wir ein warnendes Beispiel, was die directe Nachäffung des Alterthums schaden kann. Durch solche unnatürliche Experimente werden die Wurzeln einer unbewussten, aus dem Volksleben herauswachsenden Kunst abgeschnitten oder mindestens arg verstümmelt. Beispiele bietet die Entstehung des französischen Trauerspiels, das von vorn herein ein gelehrtes Product ist und die Quintessenz des Tragischen, ganz rein, in begrifflicher Abgezogenheit enthalten sollte. Auch in Deutschland ist seit der Reformation die natürliche Wurzel des Dramas, das Fastnachtsspiel untergraben worden: auf rein gelehrtem Wege wird bis auf die klassische Periode, und diese mit eingeschlossen, eine Neuschöpfung versucht. Hier haben wir zugleich einen Beleg dafür, dass auch in einer verfehlten und unnatürlich erwachsenen Kunstgattung, wie es das SchillerGöthe'sche Drama ist, ein so unverwüstlicher Genius wie der deutsche sich Bahn bricht: dasselbe was die Geschichte der Oper erkennen lässt. Wenn die in der Tiefe schlummernde Kraft wahrhaft allmächtig ist, so überwindet sie auch solche fremdartige Einmischungen: unter dem mühsamsten, oft selbst convulsivischen Ringen kommt die Natur, freilich sehr spät, zum Siege. Will man aber kurz beschreiben, was der überschwere Harnisch ist, unter dem alle modernen Künste so oft zusammenbrechen und so langsam und abirrend vorwärtsschreiten: so ist dies die Gelehrsamkeit, das bewusste Wissen und Vielwissen. Bei den Griechen gehen die Anfänge des Dramas in die unbegreiflichen Äusserungen von Volkstrieben zurück: in jenen orgiastischen Festfeiern des Dionysos herrschte ein solcher Grad von Ausser-sich-sein von εκστασιζ dass die Menschen sich wie Verwandelte und Verzauberte geberdeten und fühlten: Zustände, die auch dem deutschen Volksleben nicht fern geblieben sind, nur dass sie nicht zu solcher Blüthe sich aufgeschlossen haben: wenigstens erkenne ich in jenen S. Johann- und Veitstänzern, die in ungeheurer immer wachsender Masse tanzend und singend von Stadt zu Stadt zogen, nichts anderes als eine solche Dionysische Schwärmbewegung, mag man immerhin in der heutigen Medicin von jener Erscheinung als von einer Volksseuche des 3
Mittelalters sprechen. Aus einer solchen Volksseuche ist das antike Musikdrama erblüht: und es ist das Unglück der modernen Künste, nicht aus solchem geheimnissvollen Quell zu stammen. 1 [2] Jene verfehlte Vorstellung, als ob das Drama seinen erhabenen hochlyrischen Character erst allmählich bekommen habe: als ob die Posse die Wurzel des Dramas sei. Es ist vielmehr die aufgeregte extatische Faschingslaune. Je mehr dieser Trieb abstirbt, um so kühler intriguanter familien-bürgerlicher wird das Schauspiel. Aus dem Schauspiel wird eine Art Schachspiel. 1 [3] Werth des griechischen Götterglaubens: er ließ sich mit leichter Hand bei Seite streifen und hinderte das Philosophiren nicht. 1 [4] Die Tragödie war ein Glaube an die hellenische Unsterblichkeit, vor der Geburt. Als man diesen Glauben aufgab, dann schwand auch die Hoffnung auf die hellenische Unsterblichkeit. 1 [5] Odysseus ist allmählich zum schlauen Sclaven geworden (in der Komödie). 1 [6] Das Gelächter war die Seele der neueren Komödie, der Schauer die des Musikdramas. Sophocles als Greis der Tragödie. Tod der Tragödie mit dem Oedipus Coloneus, im Haine der Furien. Sophocles erreicht als Einzelner einen ruhigen Punkt. "Rasender Dämon". Zeit des Sophocles ist die der Auflösung. Die Rhetorik überwindet den Dialog. Der Dithyramb wird der Tummelplatz des spezifischen Musikers: eine künstliche zweite Geburt des Musikdrama's vollzieht sich. Nachblüthe. Jetzt schwindet die Musik ganz von der Tragödie, und alle idealistische Neigung. 1 [7] Socrates und die Tragödie.
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- Euripides bei der neueren Komödie beliebt und einflußreich: er hat den Leuten eine Sprache gegeben: er läßt den Zuschauer in die Trägödie. Bis dahin eine ideale Vergangenheit des Hellenenthums: jetzt sieht sich Athen im Spiegel. Sophocles Aeschylus κοµποι, Euripides κατατεχνον. Sein Standpunkt als dichtender Kritiker und Zuschauer: in der Einheit im Prolog in der Musik usw. rhetorische Wechselreden. - Aristaphanes' Zusammenstellung. Sophocles ist "zweiter". - Er thut das Rechte, wissentlich. - Sokrates in Verdacht ihm zu helfen: sein Freund und Theatergänger. - Nach dem Orakel noch weiser, nach der Seite des Bewußten. - Mißachtung des Unbewußten im Menschen (in der Disputation) und im Künstler (Apologie). Vertreibung der Künstler aus dem platonischen Staate: von Plato, der den Wahnsinn anerkennt, aber ihn ironisirt. Der Tragödiendichter zugleich Komödiendichter. Nur der Philosoph ist Dichter. - Hiernach gehört Socrates zu den Sophisten. Das Dämonion ("treibe Musik"), verkehrte Welt. (Sein Tod nicht tragisch.) - Einfluß des Socroratismus auf die Vernichtung der Form bei Plato, bei den Cynikern. (Er selbst nicht-schreibend.) - Der Dialog der Tragödie: die Dialektik dringt in die Helden der Bühne, sie sterben an einer Superfötation des Logischen. Euripides ist naiv darin. Die Dialektik erstreckt sich auf den Bau: die Intrigue. Odysseus: Prometheus. Der Sklave. - Die unentwickelte Ethik: Bewußtsein ist zu mächtig und zwar optimistisch. Dies vernichtet die pessimistische Tragödie. - Die Musik ist nicht in den Dialog und den Monolog zu drängen: anders bei Shakespeare. Die Musik als Mutter der Tragödie. - Auseinanderfallen der Künste: Zeitpunkt vor Sophokles: die absolute Kunst ist Anzeichen, daß der Baum die Früchte nicht mehr halten kann: zugleich Verfall der Künste. Die Poesie wird Politik, Rede. Das Reich der Prosa beginnt. Früher selbst in der Prosa die Poesie. Heraclit, die Pythia. Democrit. Empedocles. 1 [8] Der Sokratismus unsrer Zeit ist der Glaube an das Fertigsein: die Kunst ist fertig, die Aesthetik ist fertig. Die Dialektik ist die Presse, die Ethik die optimistische Zurechtstutzung der christlichen Weltanschauung. Der Sokratismus ohne Sinn für das Vaterland, sondern nur für den Staat. Ohne Mitgefühl für die Zukunft der germanischen Kunst. 1 [9]
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Wunderbare Gesundheit der griechischen Dichtkunst (und Musik): es giebt nicht Gattungen neben einander, sondern nur Vorstufe und Erfüllung, schließlich Verfall, d. h. hier Auseinanderfallen des bisher aus einem Triebe Erwachsenen. 1 [10] Einleitung in die griechische Litteratur. Der Gesammtkörper im Wachsen und Verfallen. 1 [11] Ich zeige eine Karikatur. Nicht in der Meinung, daß alle sie als Karikatur erkennen: Hoffnung daß am Schluß sie jedermann als Karikatur klar sein wird. Wesen, später Verfall. 1 [12] 1. Naturgemäßer Ursprung. 2. Religiöser Inhalt und feierliche Stimmung. 3. Periodische Aufführungen. 4. Volkstheater, daher ungeheure Dimension. 5. Innere Einheit, auch zwischen Musik und Wort. 1 [13] Aeschylus hat den freien Faltenwurf des Gemüths aufgebracht. 1 [14] Das Dekorationswesen der antiken Bühne war ganz ähnlich der uraltgeheiligten Ausstattung der Tempelbezirke. 1 [15] Socrates war das Element in der Tragödie, überhaupt dem Musikdrama, das sie auflöste: bevor Socrates lebte. Der Mangel der Musik, andernseits die übertriebene monologische Entwicklung des Gefühls nöthigte das Hervortreten der Dialektik heraus: das musikalische Pathos im Dialog fehlt. Das antike Musikdrama geht an den Mängeln des Princips zu Grunde. Mangel des Orchesters: es gab kein Mittel, die Situation der singenden Welt festzuhalten. 6
Der Chor herrscht musikalisch vor. 1 [16] Musikdrama und Oper Ersteres ein Ansatz zum Rechten, letztere hat ihr Leben nicht in der Sphäre der Kunst, sondern der Künstlichkeit. 1 [17] Aeschylus erfand die Zierlichkeit und den Anstand der Toga, dem hierin die Priester und die Fackelträger folgten. Vorher barbarisirten die Griechen in ihrer Kleidung und kannten den freien Faltenwurf nicht. Drei Grundformen: Schurz Hemd Überwurf. Frauenrock und Männerhose haben diesen Ursprung aus dem Schurz. Der Chiton aus dem Hemd: die katholische Priestertracht ist der asiatische doppelte Chiton. Der Überwurf in Asien ein Umschlagtuch (Kashmirshawl bei unseren Damen). Übergang zur freien Draperie war das Resultat eines plötzlichen Auffassens des Kunstschönen: der ganze Aufschwung Griechenlands war ein plötzlicher, nachdem es lange hinter den civilisirteren Nachbarvölkern zurückgeblieben war. Polychrome Anschauung der antiken Architectur und Plastik, wonach sie nicht nackt, mit der Farbe des Stoffes, der in Anwendung kam, sondern mit einem farbigen Überzug bekleidet erscheint. Souveräne Verachtung der barbarischen Kunst, uneingedenk der Bewunderung, welche die Hellenen selbst Herodot Xenophon Ktesias Polybios Diodor Strabo der Grösse und Harmonie dieser barbarischen Werke zollen. Das hellenische Schiedsgericht muss als Maassstab der Schätzung jener Werke dienen. Aber man ist hellenischer gesinnt als die Hellenen: Barbarenthum eine Art modificirter Menschenfresserei. 1 [18] Die Autorität eines Kunstwerkes hieng bei den Alten sehr von der Magnificenz der Erbauung, den Kosten des dazu genommenen Stoffes und der Schwierigkeit der Bearbeitung ab. Theure, Schwierigkeit der Bearbeitung, Seltenheit des Stoffs. Der Tempel zu Delphi ungefähr 520 v. Chr. vollendet. 1 [19]
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Berühmter Wettkampf zwischen Apelles und Protogenes Semper, "Textile Kunst", p. 470. Plinius, XXXV 10 1 [20] Es muß nur ein Deutscher wieder ein neues Gebiet ungeheuren Fleißes, aber mit wenig Geist zu verwaltendes, aufgedeckt haben: so ist er berühmt, denn er findet zahllose Nachfolger. Daher der Ruhm Otto Jahn's, des so guten stumpfen aufschwunglosen Mannes. 1 [21] "Der Karnevalskerzendunst ist die wahre Atmosphäre der Kunst." Semper, p. 231 1 [22] Welche Zeit des Schauspielerthums, als Sophocles und Aeschylus selbst die ersten Rollen spielten! 1 [23] Zur griechischen Philosophen- und Dichtergeschichte. Heft I. Homer als Wettkämpfer. Heft II. Zur Philosophengeschichte. Heft III. Aesthetik des Aeschylus. Heft IV. --1 [24] Socrates ist der ideale "Naseweise": ein Ausdruck, der mit dem nöthigen Zartsinn aufgefaßt werden muß. Socrates als der "Nichtschreiber": er will nichts mittheilen, sondern nur erfragen. 1 [25] Trivialität des Prozesses: außerordentlich naiver Stand des Socrates, des fanatischen Dialektikers.
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Die Vernichtung der Form durch den Inhalt: richtiger der künstlerischen Arabeske durch die gerade Linie. Der Sokratismus vernichtete bei Plato bereits die Form, noch mehr die Stilgattungen bei den Cynikern. 1 [26] Die Entwicklung der Opernmelodie ist Heidenthum in der Musik. 1 [27[ Die absolute Musik und das Alltagsdrama: die beiden auseinandergerissenen Stücke des Musikdramas. Die glücklichste Stufe war der Dithyramb und noch die ältere aeschyleische Tragödie. In Socrates dringt das Princip der Wissenschaft ein: damit Kampf und Vernichtung des Unbewußten. 1 [28] Das griechische Musikdrama. Das Musikdrama selbst: 2. Th. die Vernichtung. Mangel einer vertieften Ethik. Entwicklung der modernen Musik künstlich. Unendliche Differenz zwischen der aesthetischen Erkenntniß und dem wirklichen Schaffen bei den Griechen. Daher war das Wachsen der Kunstgattungen nätürlich richtig. Das Wachsen der Kunstgattungen aus einander: jede aufgeblühte vernichtet die frühere Stufe. Wir haben nur nachgeahmte Dichtungsarten. Das Musikdrama ist der Höhepunkt: es wird aufgelöst durch die erweiterte Reflexion und stillestehende ethische Entwicklung. 1 [29] Das Griechenthum hat für uns den Werth wie die Heiligen für die Katholiken. 1 [30] Schönstes deutsches Wort zur Bezeichnung des Ehrenmannes (13. Jahrhundert vom Meier Heimbrecht): "Willst du mir folgen, so baue mit dem Pfluge! dann genießen deiner viele, dein
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geneußt sicherlich der Arme und der Reiche, dein geneußt der Wolf und der Aar und sicherlich alle Kreatur." Uhland, p. 72. Rührender Bauernspruch gegen die Feldmäuse vom Jahre 1519. "Für die Abziehenden sicheres Geleit vor Hunden und Katzen, auch den trächtigen und ganz kleinen Mäuschen ein Aufschub von 14 Tagen bewilligt." 1 [31] Das Poetische, abstrahirt aus dem Epos und der Lyrik, kann unmöglich zugleich die Gesetze für die dramatische Poesie enthalten. Dort wird alles auf die nachschaffende Phantasie des Hörers hin gesagt: hier ist alles gegenwärtig und anschaulich: die Phantasie wird niedergehalten durch die wechselnden Bilder. 1 [32] Die einzellebenden Germanen sahen im Gerichtskampf- und Wechselrede ein Drama: ihre älteste dramatische Dichtung ist nach dieser Analogie, z. B. die Wechselrede von Sommer und Winter, bis Frau Venus den Streit schlichtet (Uhland, p. 21). 1 [33] Der Sturz vom Leukadischen Felsen hat eine Parallele bei den Veitstänzern, die in wilde Ströme sprangen, bei den Tänzern der Tarantella: "zum Meere tragt mich, wenn ihr mich heilen wollt, zum Meere hinweg! So liebt mich meine Schöne. Zum Meere, zum Meere! Solang ich lebe, lieb ich dich!" Uhland, p. 402. 1 [34] Die orgiastischen Züge des Dionysos haben ein Ebenbild in den S. Johann- und S. Veitstänzern (Köln. Chron., gedruckt 1491): "Here sent Johan, so so vrisch' ind vro here sent Johan" war der Refrain ihrer Lieder. Cf. Hecker, die Tanzwuth eine Volkskrankheit im Mittelalter, Berlin 1832. 1 [35] Das Vermögen der Vogelstimme, den Heldengeist zu wecken. Die Nachtigall ruft ocihi ocihi schlag todt, fier fier schlag zu. Verwaisten heimatlosen Heldensöhnen wird die Stimme der Wildniß vernehmlich. 1 [36] Ein griechisches Scolion: War' ich doch nur eine goldene Leier usw. hat viel Ähnlichkeit mit deutschen Wunschliedern. Uhland, p. 282. 1 [37] Der platte und dumme Gervinus hat es als einen "seltsamen Fehlgriff" von Schiller bezeichnet, daß er dem Schönen der Erde das Loos der Vernichtung zutheile.
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1 [38] "Die poetische Muse Shakespeare's hat noch eine Begleiterin bei sich, die Musik: die Goethes - die Plastik." Enorm! 1 [39] Die Zartheit der Empfindung und die Neigung zur Symbolik ließ ihm auch die unbedeutende Handlung bedeutsam erscheinen. Darum unbühnengemäß. 1 [40] Der griechische Chor einmal der lebendige Resonanzboden, sodann das Schallrohr, durch das der Akteur seine Empfindung colossalisch dem Zuschauer zuschreit, drittens der lautgewordene lyrisch gestimmte leidenschaftliche singende Zuschauer. 1 [41] 1549 sagt ein Italiäner: sie gleichen eher den Katzen im Januar als den duftenden Blumen des Maimonds. 1564 forderte eine Kommision von acht Cardinälen, daß die heiligen Worte des Gesanges unausgesetzt und deutlich müßten vernommen werden. Dieser Forderung entsprach Palestrina. Die Kompositionen Palestrina's sind auf eine bestimmte Umgebung berechnet, in eine bestimmte Stelle im Kult hineingedacht. Dramatischer Charakter der liturgischen Handlungen. Die Formen des künstlichen Satzes haben aufgehört Selbstzweck zu sein: sie sind Mittel zum Ausdruck. In der Totalität des Werkes ist der Ausdruck zu suchen. Die Werke wurden regelmäßig wiederholt Sonntag für Sonntag und deshalb sehr vertraut. Wichtig ob ein Werk für eine einmalige Aufführung geschaffen ist oder für eine wiederholte: die Dramen der Griechen waren durchaus für einmaliges Hören gedichtet und componirt: und wurden unmittelbar darauf auch beurtheilt. Furchtbarer Kampf der Melodie und Harmonie: letztere drang in das Volk und verbreitete überall den mehrstimmigen Gesang, so daß der einstimmige ganz verloren gieng: damit zugleich die Melodie. Die dramatische Chormusik der Griechen ist ebenfalls jünger als der Einzelgesang und doch etwas ganz anderes als der eben erwähnte Chorgesang: sie war unisono: also nur die fünfzigfach verstärkte Einzelstimme. Einen Kampf von Melodie und Harmonie haben die Griechen nie erlebt. 1 [42] 1600 wird die Melodie neu entdeckt. 11
1 [43] Die griechische Tragödie fand in Sokrates ihre Vernichtung. Das Unbewußte ist größer als das Nichtwissen des Sokrates. Das Dämonion ist das Unbewußte, das aber nur hindernd dem Bewußten hier und da entgegentritt: das wirkt aber nicht produktiv, sondern nur kritisch. Sonderbarste verkehrte Welt! Sonst ist das Unbewußte immer das Produktive, das Bewußte das Kritische. Plato's Austreibung der Künstler und Dichter ist Consequenz. Das delphische Orakel vertheilt den Preis der Weisheit nach der Bewußtheit. Der Prozeß hat nichts Weltgeschichtliches. 1 [44] Socrates und die griechische Tragödie. Euripides als Kritiker seiner Vorgänger. Einzelheiten: Prolog, Einheit. Euripides der dramatische Sokrates. Sokrates Fanatiker der Dialektik. Sokrates Vernichter der Tragödie. Es wird Aristophanes Recht gegeben: Socrates gehörte zu den Sophisten. Aeschylus thut das Rechte, ohne es zu wissen: Sophokles glaubt also das Rechte wissend zu thun. Euripides meint, Sophokles habe unbewußt das Unrichtige gethan: er wissend das Richtige. Das Wissen des Sophokles war nur technischer Art: Socrates hatte volles Recht ihm entgegenzutreten. In der Stufenfolge der göttlichen Bewußtheit bezeichnete das Delphische Orakel Sophocles als unweiser als Euripides. 1 [45] Wir sind leider gewöhnt, die Künste in der Vereinzelung zu genießen: Wahnsinn der Gemäldegalerie und des Konzertsaals. Die absoluten Künste sind eine traurige moderne Unart. Es fällt alles auseinander. Es giebt keine Organisationen, die die Künste als Kunst zusammenpflegen, d. h. also die Gebiete, wo die Künste zusammengehen. Jede Kunst hat ein Stück des Wegs allein und ein andres wo sie mit den andern Künsten zusammengeht. In der neueren Zeit sind z. B. die großen italienischen trionfi solche Vereinigungen der Künste. Das antike Musikdrama hat ein Analogon in dem katholischen Hochamt : nur daß die Handlung nur noch symbolisch oder gar nur erzählend dargestellt wird. Dies vermittelt allein 12
noch eine Vorstellung vom antiken Theatergenuß zur aeschyleischen Zeit: nur daß alles viel heller sonniger zutrauensvoller klarer war, freilich auch weniger innerlich, intensiv, räthselvoll-unendlich. 1 [46] Wodurch unterscheidet sich die Rhythmik der Bewegung und die Rhythmik der Ruhe (d. h. Anschauung)? Große Verhältnisse der Rhythmik können nur von der Anschauung gefaßt werden. Dagegen ist die Rhythmik der Bewegung im Einzelnen und Kleinsten viel exakter und mathematischer. Der Takt ist ihr eigenthümlich. 1 [47] Was ist Kunst? Die Fähigkeit die Welt des Willens zu erzeugen ohne Willen? Nein. Die Welt des Willens wieder zu erzeugen, ohne daß das Produkt wieder will . Also es gilt Erzeugung des Willenlosen durch Willen und instinktiv. Mit Bewußtsein nennt man dies Handwerk. Dagegen leuchtet die Verwandtschaft mit der Zeugung ein, nur daß hier das Willensvolle wieder entsteht. 1 [48] Ist es nur Zartsinn, daß alles Ergreifendste auf der attischen Bühne nicht dargestellt wurde? Also: es wurde nicht eigentlich gehandelt, sondern nur so viel gesagt und gethan, was der Handlung vorangieng und nachfolgte. Umgekehrt die englische Bühne. 1 [49] Was thut die Musik? Sie löst eine Anschauung in Willen auf. Sie enthält die allgemeinen Formen aller Begehrungszustände: sie ist durch und durch Symbolik der Triebe, und als solche in ihren einfachsten Formen (Takt, Rhythmus) durchaus und jedermann verständlich. Sie ist also immer allgemeiner als jede einzelne Handlung: deshalb ist sie uns verständlicher als jede einzelne Handlung: die Musik ist also der Schlüssel zum Drama. Die Forderung der Einheit, unberechtigt wie wir sahen, ist die Quelle aller Verkehrtheiten der Oper und des Liedes. Man sah die Unmöglichkeit nun die Einheit des Ganzen herzustellen: jetzt schritt man dazu, die Einheit in die Stücke zu legen und das Ganze in lauter auseinanderlegbare absolute Stücke zu zerstückeln. Parallel geht der Schritt des Euripides, der auch in das Einzelstück des Dramas die Einheit legt. Das griechische Musikdrama ist eine Vorstufe der absoluten Musik, eine Form in dem ganzen Prozeß. Die lyrisch-musikalischen Partien sind zunächst allgemeinen beschaulich-objektiven Inhalts: Leiden und Freuden, Triebe und Verabschiedungen aller darstellend. Der Anlaß hierzu wurde vom Dichter imaginirt : weil er keine absolute Musik und Lyrik kannte. Er fingirte einen vergangenen Zustand, in dem diese oder jene allgemeine Stimmung ihren lyrisch-musikalischen Ausdruck verlangte. Dies mußte ein Zustand verwandter anheimelnder Wesen sein: nichts ist aber verwandter als die mythische Welt, eine Spiegelung unsrer 13
allgemeinsten Zustände in einer idealen und idealisirenden Vergangenheit gesehn. Hiermit behauptet also der Dichter die Allgemeinheit der musikalisch-lyrischen Stimmungen für alle Zeiten, d. h. er thut einen Schritt zur absoluten Musik. Dies ist die Grenze der antiken Musik: sie bleibt Gelegenheitsmusik, d. h. man nimmt an, es gebe bestimmte musikalische Zustände und wiederum unmusikalische Zustände. Der Zustand, in dem der Mensch singt, galt als Maßstab. Auf diese Weise erhielt man zwei Welten nebeneinander, die ungefähr miteinander alternirten, so daß die des Auges verschwand, wenn die des Ohres begann und umgekehrt. Die Handlung diente nur, um zum Leiden zu kommen, und der Ausguß des Pathos machte wieder eine neue Handlung nöthig. Die Konsequenz war, daß man nicht die Vermittlung der beiden Welten, sondern ihre scharfe Gegenüberstellung suchte: hatte man dem Gemüth sein Reich abgesteckt, so sollte nun auch der Verstand zu Rechte kommen; Euripides führte die Dialektik, den Ton der Gerichtshalle, ein in den Dialog. Wir sehen hier die ärgerliche Konsequenz: trennt man Gemüth und Verstand, Musik und Handlung, Intellekt und Willen unnatürlich von einander, so verkümmert jeder abgetrennte Theil. Und so entstand die absolute Musik und das Familiendrama, aus dem auseinandergerissenen Musikdrama der Alten. 1 [50] Einheit des Dichters und Komponisten. Unsre Gegenwart wäre zuerst befähigt diese Einheit zu begreifen, da wir einen Vermittler zwischen uns und der Idee haben (das was die Katholischen einen Heiligen, ein klassisches exemplum nennen), wenn unsre Zeit nicht in Schrecken gerathen wäre beim Hervorbrechen der allgewaltigen Naturkraft und durch Korybantenlärm ihrer Furcht sich zu entledigen suchte: indeß lebt und stirbt der Heilige, ungekannt, doch der Nachwelt zum rührenden Gedächtniß! 1 [51] Die rührende Theilname für das Thier geht bei Richard Wagner bis zum Krampf. - Einer der jüdischen Feinde Richard Wagner's hatte ihm brieflich ein neues Germanenthum angekündigt, das jüdische Germanenthum. 1 [52] Das Höchste, was die bewußte Ethik der Alten erreicht hat, ist die Theorie der Freundschaft: dies ist gewiß ein Zeichen einer recht queren Entwicklung des ethischen Denkens, dank dem Musageten Sokrates! 1 [53] Die Forderung der Einheit im Drama ist die des ungeduldigen Willens, der nicht ruhig anschauen, sondern auf der eingeschlagenen Bahn zu Ende ungehemmt stürmen will. Die schöne Komposition des Drama's: man ist versucht und verführt, die Reihe der Scenen sich als Gemälde neben einander zu stellen und dies Gesammtbild seiner Komposition nach zu untersuchen. Dies ist eine wirkliche Verwirrung von Kunstprincipien: insofern man die Gesetze für das Nebeneinander auf das Nacheinander anwendet.
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Das reine Nacheinander wolle man nicht überschauen : z. B. ein Musikstück: es ist ein Fehler, hier von einer Architektonik des Ganzen zu reden; ebenso beim Drama. Wo liegen die Gesetze des Nacheinanders? Z. B. in den Farben, die sich gegenseitig herausfordern, in den Dissonanzen, die eine Auflösung verlangen, in der Folge von Gemüthsströmungen. Scheinbare Einheiten z. B. viele Sinfonien. Es sind vier Theile, deren Grundcharakter eine schablonenmäßige Einheit bildet. Man verlangt nach einem feurigen Allegro nach einem erhabenen oder zärtlichen Adagio; jetzt vielleicht nach einer Humoreske; endlich nach einem Bachanal. Ähnlich schon sind die Kontraste im Nomos Pythios des Sakadas. Das Nacheinander drückt den Willen aus, das Nebeneinander das Beruhen im Anschauen. Woher stammt nun die thatsächliche Bemühung der griechischen Dramatiker nach Einheit? Besonders da eine Philosophie noch keine Forderungen stellte? Wunderbare Zeit, in der die Künste sich noch entwickelten, ohne daß der Künstler fertige Kunsttheorien vorfand! So ein antikes Drama ist ein großes Musikwerk: man genoß aber die Musik nie absolut, sondern immer hineingestellt in die Verbindung mit Kult und Umgebung, oder Gesellschaft. Es war kurz Gelegenheitsmusik. Höchst wichtige Einsicht! Der verbindende Dialog ist nur der Gelegenheitsmacher; nämlich für die Musikstücke, deren jedes seinen scharfen Gelegenheitscharakter festhielt: Einheit der Empfindung, gleiche Höhe der Erregung. 1 [54] Die ursprüngliche Tragödie enthält und fordert verschiedene Einheiten: die des musikalischlyrischen Theils: die der epischen Erzählung, die der mimischen Bilder. Auch für den Anblick giebt es zwei Welten, die neben einander ihren Lauf gehen, im Parallelismus, nicht in Einheit: die Welt der Bühne und die der Orchestra. Die Griechen kennen aber auch die absolute Statue nicht: sie ist eben so mit der Architektur in Parallelismus gesetzt, wie die Bühne mit dem Chor. Moderne Unart, die Künste theoretisch auseinandergehalten als einzelne genießen zu müssen: zusammenhängend mit der Ausbildung der Einzelfähigkeit. Charakteristisch für das Hellenische ist die Harmonie, für die Modernen die Melodie (als absoluter Charakter). 1 [55] Der Tragiker ist der Langenweile mehr ausgesetzt als der Epiker, da dieser viel mehr Abwechslung bringen dürfe. 1 [56] Warum gieng das Drama der Griechen nicht aus von der dargestellten Epik? Wichtigst. Die Handlung kam in die Tragödie erst mit dem Dialog. Dies zeigt, wie es in dieser Kunstart von vornherein gar nicht abgesehn war auf das δραυ: sondern auf das παϑ οζ . Es war zunächst nichts als objektive Lyrik, d. h. ein Lied aus dem Zustande bestimmter 15
mythologischer Wesen heraus, daher auch im Kostüm derselben. Zuerst gaben sie selbst den Grund ihrer lyrischen Stimmungen an: später trat eine Person heraus: hierdurch konnte man einen Kyklus von Chorliedern in eine stoffliche Einheit bringen. Die heraustretende Person erzählte die Hauptaktionen: bei jedem wichtigen erzählten Ereigniß erfolgte der lyrische Ausbruch. Diese Person wurde nun ebenfalls kostümirt: und als Herr des Chors gedacht, als Gott, der seine Thaten erzählt. Also Liedercyklen für Chor, mit verbindender Erzählung : dies der Ursprung des griechischen Drama's. Der kunstgerecht componirte Zug, das προσοδιου: hat dies nicht einen Einfluß auf das Drama? Nur daß der Zuschauer kein begleitender, sondern ein sitzender ist? Vielleicht ist die Komödie daraus entstanden, vielleicht auch die Tragödie: der Sinn ist: immer neue Gruppen mit neuen Liedern, das Ganze aber doch eine Einheit, eine Geschichte darstellend. Man vergleiche die Darstellungen auf Basreliefs. Vorausgesetzt für solche maskirte Züge die Allgemeinverständlichkeit der Grundlage, des mythischen Stoffs. 1 [57] Zum Satyrspiel. Nachspiele, ein- oder zweiaktig, sind bei den Franzosen gebräuchlich. So auch die kleinen Farcen des Garrick. Hamlet, sagt Rapp, ist beinahe eine Parodie des antiken Dramas (Orestie). 1 [58] Als Grundmangel des Griechenthums charakterisirt Shakespeare in Troilus und Cressida die noch nicht erstarkten sittlichen Gewalten. 1 [59] Die Zeit des Euripides ist die der Götterdämmerung. er hat ein Gefühl davon. Er wendet sich energisch gegen das delphische Orakel und die Wahrhaftigkeit des Apollo. Die Bacchen an der Hofbühne des Archelaus aufgeführt. 1 [60] Die Römer sahen lange Zeit den Schauspielen stehend zu: das Sitzen galt als Verweichlichung. 1 [61] Das Grab des Euripides wurde vom Blitz getroffen, d. h. das Darinliegende ist ein Liebling der Götter, die Stätte heilig. 1 [62]
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"Die Kunst nicht für den privaten Genuß, nach antiker Auffassung: sie hat ihre Stelle in den Agonen und ist zur Ergötzung von vielen da. Das richtende Publikum zieht den Künstler herab." Euripides ist der ungewöhnliche Versuch, gegen den Strom zu schwimmen und seinen Lauf umzuändern. Der Philosoph konnte seine Werke der Zeit widmen: der Dichter des Musikdrama's mußte auf die Gegenwart rechnen. 1 [63] τριλογια zeigt eine ältere Stufe: eine Verbindung des epischen Rhapsodenthums und der Lyrik. Dreimal trat der Rhapsode auf: und erzählte eine große Vergangenheit. Er alternirte mit dem Chor, der die lyrischen Momente feierte. Wichtig ist, daß der Rhapsode des Epos im Kostüm auftrat: später auch auf dem Theater. 1 [64] Passende Schlußworte für Euripides (Plat. Phaedr. 245, Schleiermacher): "die dritte Eingeistung und Wahnsinnigkeit von den Musen ergreift eine zarte und heilig geschonte Seele aufregend und befeuernd, und in festlichen Gesängen und andern Werken der Dichtkunst tausend Thaten der Vorfahren ausschminkend bildet sie die Nachkommen. Wer aber ohne diesen Wahnsinn der Musen in den Vorhallen der Dichtkunst sich einfindet, meinend er könne durch Kunst allein genug ein Dichter werden, ein solcher ist selbst ungeweiht, und auch seine, des Verständigen, Dichtung wird von der des Wahnsinnigen verdunkelt." 1 [65] Nach Aristoteles hat die Wissenschaft nichts mit dem Enthusiasmus zu thun, da man sich auf diese ungewöhnliche Kraft nicht verlassen kann: das Kunstwerk ist Erzeugniß der Kunsteinsicht bei gehöriger Künstlernatur. Spießbürgerei! 1 [66] Die Einheit ist von vorn herein der Tragödie nicht eigenthümlich als τελοζ : wohl aber liegt sie im Wege der Entwicklung, so daß sie gefunden werden mußte. Was ist Einheit im lyrischen Gedicht? Die der Empfindung. Aber in größerer lyrischer Komposition? 1 [67] Sehr bedeutend ist die ältere Benennung der Komödie τρυγωδια "Mostgesang": sie führt mich auf eine neue Ableitung von τραγωδια, nämlich "Essiggesang". ταργανον ist "Essig", also ταργωδια, verwandelt in τραγωδια. Dann fällt der Ursprung aus dem Satyrdrama: wesentlichst! Älteste Weinleselieder, die einen süß und ausgelassen wie Most, die andern herb und zusammenziehend wie Essig. Dies sind nur Bilder, Unsinn daß Most die Belohnung des Siegers war. Wichtig, daß in Sikyon dem Adrast Lieder gesungen werden, die erst offiziell auf Dionysus übertragen werden. Dies waren doch keine Satyrdramen: was hatte Adrast mit Satyrn zu thun? Es waren eben Mysterien.
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Gab es eine Form der Dichtung, in der wie in einem Keime Tragödie Satyrdrama und Komödie schlummerten? Soll das Satyrdrama die Vorstufe für Trägödie und Komödie sein? Ist nicht die Geburt der Tragödie aus dem Dithyramb eine falsche Folgerung aus der wirklichen Entwicklung des Dramas aus dem Dithyramb zu Zeiten des Timotheus usw.? Ist vielleicht daher die falsche Etymologie ταργων ωδη entstanden? Wichtig ist der Anstoß, den die Mysterien gegeben haben müssen. Die heilige Aktion mit Theatereffekten im geschlossenen Raume, bei Licht, mit Beleuchtungseffekten. Wahrscheinlich entstand das Drama als öffentliches Mysterium, als eine Reaktion gegen die Geheimthuerei der Priester, zum Schutze der Demokratie seitens der Obergewalt. Ich denke, die Tyrannen führen diese "öffentlichen Mysterien" ein, aus Opposition gegen das Priesterthum der Mysterien. Von Pisistratus wissen wir, daß er Thespis begünstigte. 1 [68] Die ältesten Orgeln des Mittelalters hatten Tasten von der Breite eines halben Schuhs und merkliche Zwischenräume und mußten mit den Fäusten oder Ellenbogen in Bewegung gesetzt werden. Gegensatz des einstimmigen weltlichen Gesangs und der gelehrten Musik, die nur mehrstimmigen Gesang kennt. Die begleitenden Instrumente unisono mit der Stimme. Die Chormusik entwickelt sich zuerst kunstmäßig. Nirgends aber Übereinstimmung zwischen Text und Musik. Dies gilt alles von den Niederländern. Absoluter Indifferentismus, ja Haß gegen die Textesworte, die sinnlos durcheinander und verzerrt gesungen wurden. Sehr originell, wie man dem Mangel an Ausdruck begegnete: man färbte die Noten mit der Farbe der Dinge, von denen die Rede war, Pflanzen Felder Weinberge grün, Licht und Sonne Purpur usw. Es war dies Litteraturmusik, Lesemusik. Höchst wichtig, daß auch die Musikentwicklung diesen unnatürlichen Weg gegangen ist, wie das deutsche Drama. Allen diesen Standpunkten gegenüber sind die Griechen unvergängliche Muster. Cardinal Domenico Capranica sagte dem Papst Nicolaus V: "wenn sie da zusammen singen, kommen sie mir vor, wie ein Sack voll kleiner Schweine, denn ich höre wohl einen furchtbaren Lärm und ein Quieken und Schreien durch einander, kann aber nicht einen einzigen artikulirten Laut unterscheiden." 1 [69] Der Ursprung aus dem Satyrdrama ist mir wunderlich fremd: doch sagt es ja der Name. Jedenfalls müssen Dithyramb und Phallika verschieden sein. Und daß das Satyrspiel später wieder willkürlich-offiziell restaurirt wird? Ist das nicht µυϑ οποιια? Die τραγωδια wird zunächst eine singende Gruppe im Kostüm gewesen sein.
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Die Phallika eine wandernde Prozession mit Lied und Possenreissern. Also natürlich dialogisch vom Beginn, mit wechselnder Umgebung und immer neuen Anlässen zu Spott und Hohn, ganz persönlichster Art: ein Fastnachtsspiel, eine Mummerei durch die Stadt ziehend. Sind vielleicht die εξαρχοντεζ του διϑ υ ραµβου die, welche zunächst das Ganze, die singende Gruppe zu erklären haben? Etwa in einem Euripideischen Prolog? Oder ist letzterer nur mit Unrecht als archaischer Prolog bezeichnet? Ich glaube. Wie kommt es, daß nur an den Dithyramb sich Schaustellungen anknüpfen, nicht an die Päanen etc.? 1 [70] Die griechische Tragödie ist von maßvollster Phantasie: nicht aus Mangel an derselben, wie die Komödie beweist, sondern aus einem bewußten Princip. Gegensatz dazu die englische Tragödie mit ihrem phantastischen Realismus, viel jugendlicher, sinnlich ungestümer, dionysischer, traumtrunkener. Der religiöse Chortanz mit seinem Andante umschränkte die Phantasie des griechischen Tragikers: lebende Bilder, nach den gemalten der Tempelwände. Zu den lebenden Bildern Musik, andauernde: dies bedingt einen Gang der Entwicklung und ein pathetisches Gemüthsleben im Andante. Euripides will ausdrücklich nicht durch die Neuheit des Stoffs, durch die Überraschungen der Fabel packen: sondern durch die pathetischen Scenen, die er aus der dürren Fabel schafft. Vor allem aber will er durch den Prolog den Zuhörer belehren, wie er sich die Fabel gemodelt hat: damit der Zuhörer nicht mit falschen Präsumptionen dasitzt. 1 [71] Sehr wichtig, daß das Drama nicht unmittelbar aus dem Epos entspringt: wie dies bei dem englischen deutschen französischen Drama ist: sondern aus einer musikalisch-lyrischen Epik. Denken wir an den Pythios Nomos des Sakadas: zu dem, was hier die Musik darstellte, wurden Bilder gestellt: natürlich mußten bekannte Stoffe genommen werden, damit nicht zuviel zu entwickeln blieb, sondern der reine Gefühlserguß sich bald und leicht vor aller Augen und Gedächtniß motivirte. Mir scheint es, als ob die Komödie einen wesentlich andern Ursprung habe: von ihr beeinflußt bekommt die Tragödie das Dialogisch-Dialektische. 1 [72] Zum deus ex machina. In monarchischen Staaten wird der deus ex machina im Schauspiel häufig nur der Fürst sein: niemals in Athen. Die Könige der Griechen können allein die Tragik des Lebens recht verstehn, weil sie hoch genug gestellt sind: darum spielen die Perser am Hofe des Darius-Xerxes. 1 [73] Die vornehmen jungen Männer auf der englischen Bühne rauchten (1616 Todesjahr Shakespeares): ihre Stühle standen auf der Scene. Fletcher beklagt sich. - Man spielte nachmittags: der Bridgestand aß um 11 Uhr zu Mittag, um 6 zu Abend: das Schauspiel fällt hinein. 1 [74] 19
Shakespeare ist offenbar von seiner Gegenwart nicht hinreichend begriffen worden: dies beweisen die Liebhabereien des Publikums, die Parodien seiner Sachen usw. 1 [75] Auflösungen vor dem Richterstuhl des Königs, sehr häufig in der englischen Komödie, eine Art des deus ex machina. 1 [76] Wichtige Unterschiede des griechischen Theaters die Aufführungen waren periodisch - mit grossen Zwischenräumen: die Zuschauer nicht nach dem Range eingetheilt: das Ganze im Einklang und Zusammenklang mit der Volksreligion, mit dem Priesterthum: kein Gewinn an Geld war zu erhoffen für den Dichter: die Zuschauer waren Männer: jedenfalls die Richter ältere Männer: anständige Frauen waren ausgeschlossen: Aktion durchaus im Freien: Spielzeit am hellen Tage: wenige Schauspieler, die viel übernehmen mußten und Zeit haben mußten sieh auszuruhn: Masken, keine individuellen Züge: ungeheure Dimensionen, daher viel plastisch-lang-ruhende Scenen: langsamster Rhythmus des Ganzen: Andante vorherrschend. Volkstheater durchaus. 1 [77] Die Passionen auf Wegen zur Wallfahrtsstätte: wenn man diese wandelnd denkt und den Zuschauer fest stehend, dann ein Vorspiel des Dramas. 1 [78] Ich komme immer wieder darauf, daß Euripides die Konsequenzen des Volksglaubens übertreibend ans Licht stellen wollte: vornehmlich in den Bacchen: er warnt vor den Mythen, zeigt z. B. Aphrodite, die einen reinen Jüngling zu Grunde richtet, Hera und Iris, die Herakles in Raserei versetzen, daß er Weib und Kind erwürgt. Sollte nicht Ironie sein der Vers der Bacchen? Was fromme Väter uns gelehrt, was uns die Zeit Vorlängst geheiligt, kein Vernünfteln stößt es um, Auch wenns der höchste Menschengeist ausklügelte. 1 [79] Bernhardy nennt Euripides den Sprecher und Sittenmater der Ochlokratie, seine Dichtung ihr ehrwürdiges Denkmal. O. Müller bemerkt, Euripides fasse den Mythos nicht mehr wie eine Grundlage und Weissagung der Gegenwart, sondern ergreife nur die Gelegenheit, den Athenern durch den Preis ihrer Nationalhelden und die Schmähung der Heroen ihrer Feinde zu gefallen. 1 [80] Schnelligkeit der Entwicklung der Tragödie: Königin Elisabeth von England hat unter ihrer Regierung das Drama von der Marionette aufwärts bis zu der höchsten Höhe sich entwickeln sehn.
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Das französische Theater des Mittelalters, die Mysterien, geistlichen und weltlichen Inhalts, stirbt aus mit dem Dialekt. Die Blüthe des deutschen Fastnachtsspiel fällt ins 15te Jahrhundert. Es lebt noch im 16ten und stirbt in den Kämpfen der Reformation. Beide Litteraturen sind dialogisch: sie blühten ohne Folge. Das spanische Theater in Portugal anhebend mit dem Anfang des 16. Jahrhunderts, dann springt es über Andalusien nach Castilien, wo es nach kleinen Anfängen sich fast gleichzeitig mit der englischen Bühne entwickelt. Es entwickelt sich unangefochten, blüht durch's ganze 17te Jahrhundert und erst mit Eintritt des 18ten stirbt es an Erschöpfung. Es hat fast 200 Jahre gelebt. Das altenglische Theater erhebt sich in der Mitte des 16ten Jahrhunderts und erreicht die Höhe mit dem Antritt des 17. Es stirbt in der Mitte dieses Jahrhunderts gewaltsam durch die politische Revolution. Seine Blüthe kaum 100 Jahre. 1 [81] Wichtigkeit des Volkstheaters. In Spanien und England gieng das Theater von ganz volksthümlicher Grundlage aus und wurde nach und nach Hoftheater. In Frankreich war das mittelalterliche Volksdrama mit dem Dialekt ausgestorben. Corneille bemächtigt sich auf rein gelehrtem Wege der Bühne und nimmt die fertige Form von Spanien herüber: das Unglück ist, daß <sie> von vorn herein Hofbühne <war> und nie wieder die volksthümliche Basis fand. Das deutsche Fastnachtsspiel durch Reformation untergraben: jetzt isolirte Versuche von Gelehrten, bis auf Lessing. Jetzt Einfluß Shakespeares. Durch ihn ist sie der Beschränkung durch antike Nachahmung entgangen, welche die ursprünglich spanische Bühne der Franzosen in Fesseln schlug. (Vornehmheit der attischen Schauspiele.) Einfluß der Weiber. Auf der altenglischen Bühne spielten Knaben die Weiberrollen und eben durch diese ursprünglich sittlichscheue Institution wurde die Darstellung in die maßloseste Indezenz getrieben. Aristophanes Zoten sind wilder Übermuth in einzelnen Ausbrüchen, gegenüber der Immoralität der letzten altenglischen Theaterschule. 1 [82] Winckelmann sagt, die Schönheit sei bei den Alten die Zunge an der Wage des Ausdrucks gewesen. 1 [83] Die Anmuth des Schrecklichen - die "furchtbaren Grazien": nur den Alten recht bekannt. 1 [84] Faunische Züge der Verzweiflung: z. B. bei Kleist, siehe den Abschiedsbrief, oder das Bild Lessings über den Tod des Kleinen sammt der Mutter. 1 [85] Der Philosoph findet, wie der geplagte und todtmüde Oedipus, erst im Haine der Furien Ruhe und Frieden.
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1 [86] Schlegel nennt die sophokleische Poesie einen heiligen Hain der dunkeln Schicksalsgöttinnen, worin Lorbeer, Oelbaum und Weinreben grünen und die Lieder der Nachtigallen unaufhörlich tönen. 1 [87] "Vollkommenheit in Kunst und Poesie verglichen mit dem Gipfel eines steilen Bergs, wo sich eine hinaufgewälzte Last nicht lange halten kann, sondern sogleich an der anderen Seite unaufhaltsam wieder hinunterrollt. Dies geht schnell und mit Leichtigkeit vor sich, es sieht sich bequem mit an, denn die Masse folgt ihrem natürlichen Hange: während das mühsame Hinanstreben ein gewissermaßen peinlicher Anblick ist." 1 [88] Plato beschuldigt die tragischen Dichter, sie gäben die Menschen in die Gewalt der Leidenschaften und machten sie weichlich, indem sie ihren Helden übermäßige Klagen in den Mund legten. 1 [89] "Die Darstellung des Euripides nimmt sich Vertraulichkeiten gegen die Götter heraus." 1 [90] Lessing über die Prologe: Euripides verlasse sich nur auf die Wirksamkeit der Situationen und habe nicht auf die Spannung der Neugier gerechnet. - Schlegel meint, man möchte diese Weise mit den Zetteln aus dem Munde der Figuren auf alten Gemälden vergleichen. Sehr mit Unrecht: ein historisches Bild ist so lange wirkungslos, so lange wir nicht die Personen in den Zusammenhang der Handlung gebracht haben: dies ist eine Aufgabe, die bei Gemälden gefordert werden darf, nicht bei vorübergehenden Schauspielen: denn so lange wir rechnen, genießen wir nicht. Nach Schlegel erhoben sich die dei ex machina nur durch das Schweben der Maschine über die Menschen. 1 [91] II.. Der Komiker Philemon sagt wenn die Todten in der That noch Empfindung hätten, wie einige meinen, so ließe ich mich aufhängen, um den Euripides zu sehen." 1 [92] Enormes Wagniß des Euripides, sich vom delphischen Orakel zu emancipiren. Trotzdem nach dem Orakel fast so weise als Socrates. 1 [93] II. Aristophanes sagt "o Leben und Menander, wer von euch beiden hat den andern nachgeahmt?" 22
1 [94] Lessing sagt: es ist ein durchaus ekler Anblick, eine Spinne die andre fressen zu sehn (zwei Kritiker die sich gegenseitig todt machen wollen). 1 [95] Schlegel sagt: die Furcht vor dem Lächerlichen sei das Gewissen der französischen Tragiker. Die Furcht vor dem Schrecklichen das des bürgerlichen Rührstücks bei den Griechen. 1 [96] Zur Rhetorik bei Euripides: "die conventionelle Würde ist ein Panzer, welcher verhütet, daß der Schmerz ins Innerste dringt. Die Helden im französischen Trauerspiel gleichen den Königen auf altfränkischen Kupferstichen, welche sich mit Mantel Krone und Scepter zu Bett legen". 1 [97] Schlegel findet die "Heiligkeit des Moments" nicht genug geehrt: lyrische Ruhepunkte dafür in der alten Tragödie. 1 [98] Jeder Held und jede Heldin schleppt einen Vertrauten mit sich, wie einen diensthabenden Kammerherrn. 1 [99] Von vielen Euripideischen Prologen gilt, was Chaulieu von Crebillons Rhadamist sagt: "das Stück wäre vollkommen klar, hätte es nicht die Exposition." 1 [100] Die Euripideische Tragödie ist ähnlich wie die französische nach einem abstrakten Begriff gebildet. Schlegel: "sie verlangten tragische Würde und Größe, tragische Situationen, Leidenschaften und Pathos, ganz nackt und rein, ohne allen fremdartigen Zusatz." 1 [101] Euripides reflectirte: die Voraussetzungen muß jeder bereits haben, um von vorn herein lebhaft sympathisiren zu können. Muß er sie sich langsam aus- und zusammenrechnen, so geht das Gefühl inzwischen verloren: und was schlimmer ist, er verrechnet sich vielleicht. Darum der Prolog. 1 [102] Wie füllte man die durch Weglassung des Lyrischen entstandene Lücke im französischen Drama aus? Durch Intrigue. 23
1 [103] Die dumme Lehre von der poetischen Gerechtigkeit gehört ins bürgerliche Familienschauspiel, in die Wiederspiegelung des Philisterdaseins: sie ist der Tod der Tragödie. 1 [104] Gebrauch, daß vornehme Personen ihre Sitze auf der Scene selbst zu beiden Seiten hatten und den Schauspielern kaum die Breite von zehn Schritten zur Handlung ließen. Diesem "Chor" zuliebe veränderte man nicht die Dekoration! Alle Theatereffekte bedürfen der Entfernung: also wurden sie unmöglich. Die Aufgabe war ein Oelgemälde wirksam zu machen, das mit dem Mikroskop angeschaut wurde. Die Bühne wird förmlich wie ein Vorzimmer. 1 [105] Ein Geist, der bei einer Mttagsmahlzeit erscheint, macht sich lächerlich. Schlegels glänzendes Bild: das homerische Epos ist in der Poesie was die halberhobene Arbeit in der Skulptur, die Tragödie was die freistehende Gruppe. - Das Basrelief ist gränzenlos, es läßt sich vor- und rückwärts weiter fortsetzen, weswegen die Alten auch am liebsten Gegenstände dazu gewählt, die sich ins Unbestimmbare ausdehnen lassen, als Opferzüge, Tänze, Reihen von Kämpfen usw. Deshalb haben sie auch an runden Flächen als an Vasen, am Fries einer Rotunde, Basreliefs angebracht, wo uns die beiden Enden durch die Krümmung entrückt werden und so, wie wir uns fortbewegen, eines erscheint und das andre verschwindet. Die Lesung der homerischen Gesänge gleicht gar sehr einem solchen Herumgehen, indem sie uns immer bei dem Vorliegenden festhalten und das Vorhergehende und Nachfolgende verschwinden lassen. 1 [106] II. In Socrates der naive Rationalismus in dem Ethischen. Alles muß bewußt sein, um ethisch zu sein. II. Euripides ist der Dichter dieses naiven Rationalismus. Feind allem Instinktiven, sucht er das Absichtliche und Bewußte. Die Leute sind, wie <sie> sprechen, nicht mehr. II. Die Figuren des Sophokles und Aeschylus sind viel tiefer und größer als ihre Worte: sie stammeln über und von sich. II. Euripides schafft sich die Gestalten, indem er sie anatomisch entstehn läßt: es giebt nichts Verborgenes in ihnen. II. Sokrates ist in der Ethik dasselbe was Demokrit in der Physik ist: eine begeisterte Engherzigkeit, eine enthusiastische Oberflächlichkeit: doch spricht die Urtheile von "engherzig" und "oberflächlich" erst die deutsche Nachwelt, die instinktiv reicher und stärker ist als die hellenische: der Fanatiker der Erkenntniss. II. Euripides ist der erste Dramatiker, der einer bewußten Aesthetik folgt. Il. Die Mythologie des Euripides als die idealistische Projection eines ethischen Rationalismus.
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II. Euripides hat von Socrates die Vereinzelung des Individuums gelernt. 1 [107] I. Der Chor in der Tragödie: Öffentlichkeit des ganzen Treibens: alles wird im Freien berathen. I. Eine Nothwendigkeit, eine Gruppe von Männern oder Frauen zu erdenken, die mit den handelnden Personen eng verbunden sind. Nicht der ideale Zuschauer, sondern der lyrischmusikalische Resonanzboden des Dramas, d. h. der Handelnden. I. Es müssen häufige Anlässe gesucht werden zum Ausbruch des Massengefühls, also Gebetsstimmungen vornehmlich. I. Der religiöse Ursprung und die Cultfeier hielt die Chorgesänge fest. Die Satyrn sind zuerst übergegangen in ernste nichtbacchische Figuren: der Ursprung des Tragisch-Ernsten liegt im Chor. Die Tragödien vertiefen die ganze heiter-homerisch-olympische Volksmythologie. Dem aeschyleischen Zeitalter gegenüber, einem sentimentalischen, ist das kyklisch-homerische naiv. I. Die Typen der großen tragischen Gestalten sind die großen zeitgenössischen Männer: die aeschyleischen Helden haben mit Heraclit Verwandtschaft. 1 [108] Die ethische Philosophie der Tragiker: wie steht sie zu den anerkannten Philosophen? Äußerlich gar nicht (außer bei Euripides), man schied Poesie und Philosophie. Die Ethik gehörte der ersteren an: deshalb ein Theil der Pädagogik. II. Das philosophische Drama des Plato gehört weder zur Tragödie noch zur Komödie: es fehlt der Chor, das Musikalische, das Religiöse des Motivs. Es ist vielmehr Epik und Schule Homers. Es ist der antike Roman. Vor allem nicht bestimmt zur Praxis, sondern zum Lesen: es ist eine Rhapsodie. Es ist das Litteraturdrama. 1 [109] Trilogie. In der Blüthezeit Brauch, daß an den großen Dionysien (am Hauptfeste der dramatischen Aufführungen) von jedem Tragiker vier Dramen zur Aufführung kamen, drei Tragödien und ein Satyrdrama, während die Komödiendichter nur mit einem auftraten. Solche Listen sind uns mehrfach noch erhalten: zufällig nicht von Sophokles. Bei Euripides findet unter den Stücken kein Zusammenhang statt. Dagegen ausnahmslos bei Aeschylus. Orestie. Herstellung der Tetralogie. Aeschylus wählte also einen mythologischen Stoff, theilte ihn in vier Theile, drei Bilder tragisch-ernster Färbung, eine heitere Seite desselben Stoffes. Die dramatische Bewegung durch die Aufeinanderfolge der Dramen hergestellt: drei Akte. Das Satyrdrama Forderung des dionysischen Kultes. 1 [110] Alterthümliche Betrachtungen. 25
Die Aesthetik des Aristoteles. Die Alterthumsstudien. Zur Aesthetik der Tragiker I. II. Homers Persönlichkeit. Pessimismus im Alterthum. Griechische Lyrik. Demokrit. Heraklit. Pythagoras. Empedokles. Sokrates. Blutrache. Die Idee des Geschlechts. Selbstmord. Geselligkeit und Einsamkeit. Handwerk und Kunst. Freundschaft. Hesiods Mythologie. Die Philosophen als Künstler. 1 [111] Philologie der Gegenwart und Zukunft. Litteraturgeschichte im Alterthum. Homerfrage. Musikdrama. Socrates und das Drama. Aristoteles' Aesthetik. 26
Pessimismus. Zur Aesthetik der Musik. Das a priori construirte Hellenenthum. 1 [112] 1870 April - Philologus: Democritea. Februar - Fleckeisen: Fragmente des Alcidamas. Text. März - Rheinisches Museum: Über die Form des Wettkampfes. Mai usw. im Herbst: Vortrag: Hesiod-Homer, Wettkampf. 1 [113] Democritea. 30 Seiten. Laertiana. 1 [114] Zustand unterdrückter Idealität 1869. Erkenntniss dessen Weihnachten auf Tribschen. [Dokument: Heft] [Winter 1869-70 - Frühjahr 1870] 2 [1] Das Christenthum, ursprünglich Sache des Talentes, mußte demokratisirt werden. Langsames Ringen zur Weltreligion, nur indem alles Vertiefte, Esoterische, dem Einzelnen Talentvollen Zugängliche exstirpirt wurde. - Dadurch trat auch der Optimismus wieder hinein, ohne den eine Weltreligion sich nicht halten kann. Purgatorio und καταστασιζ sind seine Schöpfungen. 2 [2] Das certamen Hesiodi et Homeri. Die Homerfrage. 27
Die Hesiodfrage. Demokrit und die Vorplatoniker. Sokrates und die Tragödie. Freundschaftsbegriff. Musik und Cultus. Die christliche Religion als ethische Demokratie. Platonische Frage. Die aristotelische Aesthetik. Delphi als Herd der Staatsreligion. Der Bacchuskult und der Alexanderzug. Der platonische Staat (der kretische Staat als Musikstaat). 2 [3] Die Demokratie als Rationalismus siegend und kämpfend mit dem Instinkt: letzterer verzerrt sich. 2 [4] Einleitung. "Der Lehrer". (Das Germanenthum.) Die Sklaverei etwas Instinktives im Hellenenthum. Idealisirung des Geschlechtstriebes bei Plato. Alexandrinismus der römischen Dichtung. Das ägyptisirende Hellenenthum. 2 [5] Das Christenthum siegte als unmystische Offenbarungsreligion über eine ganz mystisch gewordene Welt. Ungeheure Einwirkung der Wissenschaft: für den ϑ εωρητικοζ mußte erst eine Lebensart geschaffen werden: im ersten Griechenland war er unmöglich. 2 [6) Die hellenischen Wahnvorstellungen als nothwendige und für das Hellenenthum heilsame Vorkehrungen des Instinktes. Das Griechenthum muß nach den Perserkriegen zu Grunde gehn. Jene waren das Erzeugniß starker und im Grunde unhellenischer Idealität. Das Grundelement, der heiß und glühend geliebte Kleinstaat, der sich im Ringkampf mit den anderen bethätigte, war bei jenem Kriege 28
überwunden worden, vor allem ethisch. Bis zu ihm existierte nur der trojanische Krieg. Nach ihm der Alexanderzug. Die Sage hatte die Trojaner hellenisirt: es war jener Krieg ein Wettspiel der hellenischen Götter. Höhepunkt der Philosophie bei den Eleaten und Empedocles. Der "Wille" des Hellenischen ist mit dem Perserkrieg gebrochen: der Intellekt wird extravagant und übermüthig. 2 [7] Alterthümliche Betrachtungen. 1. Homer und die klassische Philologie. 2. Homer als Wettkämpfer. 3. Das griechische Musikdrama. 4. Socrates und die Tragödie. 5. Democrit. 2 [8] Winter 1870-71 6 Vorträge. Sommer 1870 ein Vortrag. Winter 71-72 6 Vorträge. Sommer 1871 2 Vorträge. Sommer 1872 2 Vorträge. 17 Also im Herbst 1872 können die "Betrachtungen" fertig sein.. Im Winter sollen sie erscheinen. Im Herbst 70 soll Homer als Wettkämpfer erscheinen. Im Herbst 71 Laertius Diogenes. Im Herbst 72 Betrachtungen. 2 [9]
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Das Musikdrama im griechischen Alterthum. Sokrates und die griechische Tragödie. 2 [10] Die Musik ist eine Sprache, die einer unendlichen Verdeutlichung fähig ist. Die Sprache deutet nur durch Begriffe, also durch das Medium des Gedankens entsteht die Mitempfindung. Dies setzt ihr eine Grenze. Dies gilt nur von der objektiven Schriftsprache, die Wortsprache ist tönend: und die Intervalle, die Rhythmen, die Tempi's, die Stärke und Betonung sind alle symbolisch für den darzustellenden Gefühlsinhalt. Dies ist zugleich alles der Musik zu eigen. Die größte Masse des Gefühls aber äußert sich nicht durch Worte. Und auch das Wort deutet eben nur hin: es ist die Oberfläche der bewegten See, während sie in der Tiefe stürmt. Hier ist die Grenze des Wortdramas. Unfähigkeit, das Nebeneinander darzustellen. Ungeheurer Prozeß des Veraltens in der Musik: alles Symbolische kann nachgemacht werden und dadurch todtgemacht: fortwährende Entwicklung der "Phrase". Darin ist die Musik eine der flüchtigsten Künste, ja sie hat etwas von der Kunst des Mimen. Nur pflegt das Gefühlsleben der Meister eine geraume Zeit voraus zu sein. Entwicklung der unverständlichen Hieroglyphe bis zur Phrase. Die Dichtung ist häufig auf einem Wege zur Musik: entweder indem sie die allerzartesten Begriffe aufsucht, in deren Bereich das Grobmaterielle des Begriffs fast entschwindet - - 2 [11] Wort und Musik in der Oper. Die Worte sollen uns die Musik deuten, die Musik aber spricht die Seele der Handlung aus. Worte sind ja die mangelhaftesten Zeichen. Wir werden durch das Drama zur Phantasie des Willens angeregt, ein scheinbar unsinniger Ausdruck; durch das Epos zur Phantasie des Intellekts, speziell des Auges. Ein gelesenes Drama kann die Phantasie des Willens nicht recht zur Aufregung und Produktion stimmen, weil die des Schauens zu sehr stimulirt ist. In der Lyrik treten wir nicht aus uns heraus: aber wir werden zur Produktion eigener Seelenstimmungen angeregt, meistens durch αναµνσζ. 2 [12] Lessing als der ideale Gelehrte, Herder der ideale Dilettant. 2 [13] Wer nicht mehr den Muth hat Wunder zu erleben, der -laufe zum Protestantenverein - ultima ratio rationis -
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2 [14] Bei der Musik, als bei einer Kunst, in der das Walten des Instinktes übergewaltig ist, erlebt man täglich, wie der Einzelne sein veto gegen Künstler und Kunstwerke ausspricht, wo die Grenze des Verstandenen und Unverständlichen für ihn gekommen ist. Wir wären von allen Musen der Tonkunst verlassen, wenn sie uns um Erlaubniß fragen müßten: aber sie kommen, die Freundlichen, Tröstlichen freiwillig und haben auch jene kräftige Sprache nicht verlernt, mit der sie weiland die böotischen Bauern anredeten: ihr Hirten des Feldes, faules unangenehmes gefräßiges Gesindel! 2 [15] Derselbe Trieb, der im Anhören des Epos seine Befriedigung fand, fand sie später im Drama. Dadurch erweist sich das Drama als vollkommene Form des Epos. Verwirklichung der bis dahin nur eingebildeten Gemälde: 1. Die Oper, im künstlichen Anlehnen an die Vergangenheit erzeugt, hindert die naturgemäße Erzeugung des Musikdrama's: weil sie die Kräfte dafür an sich saugt. 2. Das Dramatische entsteht aus einem starken Triebe, einem Glauben an das Unmögliche, das Wunder: höhere Gefühlsstufe als im Epos, dessen ganze Erbschaft es übernimmt. Damit war das Epos todt, weil ausgelebt. 3. Weil nicht die Phantasie zu vorwiegend beschäftigt wird beim Anhören des Dramas (wie bei dem Epos), so ist die Versetzung unsres Selbst in das Fremde möglicher: Selbstvergessen ist Voraussetzung für beide Künste, hier durch stärkste Phantasiethätigkeit, dort durch stärkste Gemüthsthätigkeit. Der Wille durch das Drama, die Anschauung durch das Epos produktiv gestimmt. Man vergleiche die Erzählung und die persönliche Anschauung eines Selbstmordes. 2 [16] Die angebliche Scheidung in schöpferische und kritische Naturen ist eine Täuschung, aber eine sehr palpable und unter Geistern der mittleren Zone recht beliebte. Dies alles soll nur verdeutlichen, wie wichtig und bestimmend für unser als der Spätergeborenen Urtheil jede Kunde ist, die uns über das persönliche Verhalten großer Künstler und Denker zu einander ins Klare setzt. Bei ihnen wirkt vor allem die ganz untrügliche Weisheit ihres Instinktes, mit der sie das Echte und Gute auch unter unscheinbarer Hülle, auch bei noch so großer zeitlicher und räumlicher Entfernung als etwas ihnen Verwandtes entdecken. Mit der Wünschelruthe dieses Instinktes deuten sie auf dunkle Stätten der Vergangenheit, wo Schätze zu haben sind, mit derselben Wünschelruthe verwandeln sie, was in der Gegenwart als Gold gilt, in schwarze Kohle. Die kleine Gemeinde dieser in allen Jahrhunderten zerstreuten und doch sich treulich die Hände reichenden Genien führt ein unerbittlich hartes oligarchisches Regiment, gegen das es keinen Schutz giebt als in der zeitweiligen Täuschung des Wahnes. Ohne diesen Wahn aber würden es jene schon erwähnten Geister der Mittel- und Unterwelt nicht im Dasein aushalten können: für sie ist er ein betäubender zauberischer Trank, den sie schlürfen, um zu leben: wenn seine Macht plötzlich sich kraftlos erwiese, so würden sie sofort von der Leiter herabstürzen, an deren Stufen sie mühsam klimmen. In diesem traumhaften Zustand sehen sie die obersten Sprossen der Leiter und die dort stehenden Genien: aber sie erscheinen dem Wahnverblendeten weniger
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ferne und voll von schwarzen Flecken, mit dem Ausdrucke niederer Leidenschaften in den Zügen und unter einander beständig uneins und scheelsichtig. Dies sind die fundamentalen Sätze einer litterar-historischen Forschung: was uns aus dem Alterthum an Urtheilen überliefert ist, ist entweder congenial oder nicht, im letzteren Falle jedenfalls verzerrend, abblassend, entweder panegyrisch, mikrologisch, feindselig usw. Hier frage ich nun sofort: ist es die Ausgeburt jenes Wahnes oder das unendlich schätzbare Zeugniß eines großen Genius über den anderen, was sich in jener symbolischen Erzählung vom wettkämpfenden Homer verbirgt? Homer, der in --2 [17] Indem sie das Genie moralisch herunterdrücken, fühlen sie sich vor seinem Intellekt nicht mehr geblendet, sondern recht nahe. NB. Es ist nöthig den Wahn deutlicher zu beschreiben: in seiner litterar-historischen Wirkung, in dem Streben alles Glänzende möglichst dunkel zu färben. 2 [18] Es ist das Zeugniß eines ethischen Genies, voll der äußersten Unverzagtheit vor der öffentlichen Meinung: es ist gar kein aesthetisches Urtheil, weil Homer und Hesiod nur Namen für Stoffe sind, nicht formale Differenzen. Nur in der Höhe wird Frieden: in der mittleren Region des Geistes stößt alles im heftigsten Kampf auf einander. 2 [19] Alles Halbe Schwächliche Hinkende wird schonungslos von diesen Gewaltherrschern zermalmt: kein Despotismus ist größer als der im Reiche des Geistes. Es giebt eine einzige Rettung vor ihnen, die Blindheit, der Wahn des Einzelnen. In diesem Wahne sieht der Verblendete die Kluft nicht. Eine glückliche Verblendung hält sein Auge. Es ist ein Aberglaube, daß die Herrschaft dieser Geister zu Recht bestehe durch die Souveränität der Masse: sie selbst haben sich berufen, wie sich jene sieben Weisen des Alterthums berufen haben, indem jeder Einzelne die Ehre der goldenen Schale und den Preis des weisesten Sterblichen einem Anderen zuerkannte, bis der Kreis sich schloß, nach dem allgültigen Grundsatz: weise muß man sein, um den Weisen zu erkennen. 2 [20] Große Genies sind den Alltagsfliegen unfaßbar und recht eigentlich unberechenbar. Wenn sich trotzdem eine richtige Werthschätzung derselben allmählich festsetzt, so sind ihre verwandten Geister diejenigen, die sie erkannt haben. Die ganze Summe von aesthetischen Urtheilen läßt sich auf die großen Genien zurückführen: es giebt wenig Urtypen. Deshalb ist die Stellung großer Geister zu einander so erstaunlich wichtig. Ihr Urtheil hat einen stärkeren Instinkt und eine tiefere bewußte Einsicht hinter sich. 32
Die Alten haben solche Urtheile sorgfältig bewahrt. 2 [21] Es wäre nicht wunderbar, wenn ein Grammatiker auch ein Zusammentreffen von Hesiod und Homer fingirt hätte. 2 [22] Die sichere und nie entschwundene Schätzung von Homer ist bei den Griechen der ältesten Zeit ein großes Räthsel: wenn sie überhaupt existirt hat. Aber die Alleinherrschaft von Ilias und Odyssee ist erst später, offenbar durch die Kykliker anerkannt worden. Dies zeigt am besten, wie hoch sie stehen. Die unbedingte Schätzung Homer's ist bei den Griechen (auch der besten Zeit) reiner Instinkt. Wie mögen sie nun diese homerische Welt empfunden haben? Wunderbar! gleich an der Schwelle der griechischen Litteratur steht das höchste Meisterwerk. 2 [23] Wer über die großen Meister der Kunst und des Gedankens eine im Ganzen treffende Werthschätzung derselben, das Eigenthum aller sogenannten Gebildeten, sieht, so viele richtige Urtheile verbreitet findet, und sich über deren Verbreitung und anstandslose Geltung zu verwundern vermag: der wird auch bei weiterem Nachdenken dazu kommen, nicht etwa von der Urtheilsfähigkeit des vulgus besser zu denken, sondern den Ursprung der richtigen Urtheile an der richtigen Quelle zu suchen lernen, nämlich bei jenen großen Genien selbst, um deren Beurtheilung es sich handelt. Daß die guten Einsichten, von ihnen entweder schriftlich oder im mündlichen Verkehr kundgegeben, nachher sich verbreiten, das geschieht unter Beihülfe der Eitelkeit, der Geistesaffektation, oft auch in einer später eintretenden sklavischen Verehrungswuth usw. Die vereinzelten Stimmen jener großen Künstler und Denker übertönen die Weltgeschichte, so laut und unruhig sie sich mit ihrem Kriegslärm und Staatsaktionen geberden mag. Sie dringen durch, trotzdem sich gegen jeden Genius ein wüster Lärm der herrschenden mediokren Köpfe erhebt, trotzdem daß seinem Urtheile gegenüber sich unzählige mit Geschrei vorgetragene Verkehrtheiten in Geltung und Ansehen setzen wollen: sie dringen durch wie ein Orgelpunkt unerschüttert und unabgelenkt unter dem rauschendsten Stimmengewirr bleibt und am Schluß siegreich und heldenmäßig hervorkommt. Die herrschende Aesthetik einer halbwegs gebildeten Zeit, insofern sie auf Urtheile und Werthabschätzungen der großen Meisterwerke gegründet ist, ist nichts als eine dogmatisch vorgetragene und systematisch zusammengestellte Spruchsammlung der wahrhaft urtheilsfähigen Köpfe d.i. der Schöpfer jener großen Meisterwerke selbst, als solche aber niemals fertig, sondern immer der Revision und Vervollständigung des nächsten Genies entgegensehend. 2 [24] Allem Schaffen haftet etwas Dunkles Elementares an. Das Selbstbewußtsein hat eine Binde vor den Augen. Homer ist blind. Dies gilt von den reflektirtesten Zeitaltern. Von der bewußten Aesthetik des homerischen Zeitalters kann man sich kaum einen hinreichend naiven Begriff machen. Hier war alles Trieb. Die Zuhörer waren noch unreflektirter: wie Kinder Mährchen hören, schätzten sie die Sänger ab, nach dem besten Stoffe. Aber der Sänger trat 33
ihnen überhaupt zurück: der Stoff ist das Begehrte. Eigenthum und Fremdthum sind bei den Dichtern solcher Zeiten noch nicht ausgebildet. Alle Anschauungen der homerischen Frage, die von dem Dichtergenius Homer ausgehen, verfehlen die Erklärung des Homer. Die Stofflichkeit in der alten Agonsage ausgedrückt: Welcker's Auffassung ein αναχρονηοζ, Hoffmanns "Dichter" unnöthig. 2 [25] Es ist Unsinn von einer Vereinigung von Drama Lyrik und Epos im alten Heldenliede zu sprechen. Denn als das Dramatische wird hier genommen das Tragische: während das unterschiedlich Dramatische nur das Mimische ist. Der erschütternde Ausgang, ϕοβοζ und ελεοζ haben gar nichts mit dem Drama zu thun: und sind der Tragödie zu eigen, nicht indem sie Drama ist. Jede Geschichte kann sie haben: die musikalische Lyrik aber am meisten. Wenn das langsame aber ruhige Entfalten von Bild um Bild Sache des Epos ist, so steht es als Kunstwerk überhaupt höher. Alle Kunst verlangt ein "außer sich sein", eine εκστασιζ; von hier aus geschieht der Schritt zum Drama, indem wir nicht in uns zurückkehren, sondern in fremdes Sein einkehren, in unserer εκστασιζ; indem wir uns als Verzauberte geberden. Daher das tiefe Erstaunen beim Anschauen des Dramas: der Boden wankt, der Glaube an die Unlöslichkeit des Individuums. Auch bei der Lyrik sind wir erstaunt, unser eigenstes Fühlen wieder zu empfinden, es zurückgeworfen zu bekommen aus anderen Individuen. 2 [26] Die Entstehung der dramatischen Grundgesetze soll erklärt werden. Die großen Aufzüge mit Darstellungen waren schon Drama. Das Epos will, daß wir Bilder vor Augen bekommen. Das Drama, das die Bilder gleich vorführt was will ich, wenn ich ein Bilderbuch ansehe? ich will es verstehn. Also umgekehrt: ich verstehe den epischen Erzähler und bekomme Begriff auf Begriff in die Hand: jetzt helfe ich mit der Phantasie nach, fasse alles zusammen und habe ein Bild. Damit ist das Ziel erreicht: das Bild verstehe ich, weil ich selbst es erzeugt habe. Beim Drama gehe ich vom Bilde aus: wenn ich jetzt ausrechne, das und das hat dies zu bedeuten, so entgeht mir der Genuß. Es soll "selbstverständlich" sein. 2 [27] 34
Es soll Leute geben, welche zuerst die Vorrede lesen, bevor sie das Buch lesen. doch ohne sich zu letzterem damit zu verpflichten. Noch andre sollen gar nur grundsätzlich das erstere thun. Sie wollen schwerlich etwas lernen, aber fremde Personen, besonders in solchen eiteln, offenbusigen und hochklopfenden Vorreden, machen sie neugierig: wie überhaupt die Gier nach dem Persönlichen auch unter ϕιλολογοιζ oftmals nur der Grund aller ihrer ϕιλολογια ist. Damit die erste Gattung wisse wie ich sie schätze, die letzte wie sehr ich sie verachte, soll von jetzt ab in der Vorrede gar nicht von mir die Rede sein: --2 [28] Die ältesten Dichter. Die alten Philosophen. Die - - 2 [29] Zur Dichter- und Philosophengeschichte Griechenlands. Die Orphiker. Homer und Hesiod. Demokritea. 2 [30] Über die διαδοχαι. Stellung der Philosophen im bürgerlichen Leben. Stellung der Dichter. Indogermanische Aesthetik: das Drama zu Lyrik und Epos. Laertius. Suidas und Hesychius. 2 [31] Einleitung . Geschichte der Entwicklung der aesthetischen Anschauung bei den Griechen. Damit verbunden die Entwicklung der Vorstellungen über die alten Epiker. Die Entwicklung des Apollinischen zum Lehrsatze. Hesiod zu Homer wie Socrates zur Tragoedie. [Dokument: Heft] [Winter 1869-70 - Frühjahr 1870] 35
3 [1] Wir sind leider gewöhnt die Künste in der Vereinzelung zu genießen, was sich in seiner Thorheit am grellsten an der Gemäldegallerie und am sogenannten Conzert offenbart. Bei dieser traurigen modernen Unart der absoluten Künste fehlt jede Organisation, die die Künste als Gesammtkunst pflegt und ausbildet. Die letzten Erscheinungen dieser Art sind vielleicht die großen italienischen trionfi gewesen, in der Gegenwart hat das antike Musikdrama nur ein verblasstes Analogon in der Vereinigung der Künste im Ritus der catholischen Kirche. So ein antikes Drama ist ein großes Musikwerk; man genoss aber die Musik nie absolut, sondern immer hineingestellt in die Verbindung mit Cultus, Architectonik, Plastik und Poesie. Es war kurz Gelegenheitsmusik, der verbindende Dialog ist nur der Gelegenheitsmacher, nämlich für die Musikstücke, deren jedes seinen scharfen Gelegenheitscharakter festhielt. Die Einheit des Ganzen ist nie ursprünglich auf der frühesten Kunststufe angestrebt. Wodurch unterscheiden sich Mysterien und Moralitäten von den griechischen Dithyramben? Jene sind von vornherein Handlung. Das Wort unterstützt erst und kommt immer mehr zum Recht. Diese sind ursprünglich Gruppen von costümirten Sängern. Die Veranschaulichung durch das Wort zur Phantasie geht voran, die durch die Action kommt erst hinzu. Der Genuss und die Kunst zu hören waren bei den Griechen durch die epischen Rhapsoden und durch die Meliker bereits stark ausgebildet. Andernseits war die nachschaffende Phantasie bei ihnen viel thätiger und lebendiger, sie hatte die Anschaulichkeit der Action viel weniger nöthig. Dagegen brauchte der Germane den Ausdruck der Verinnerlichung viel weniger ausser sich dargestellt aus einem inneren Ueberreichthum daran. Die Griechen sahen die alte Tragoedie um sich zu sammeln, der Germane wollte aus sich heraus zur Zerstreuung. Die Mysterien und Moralitäten waren trotz der Stoffe viel weltlicher, man kam und ging, von einem Anfang und Ende war keine Rede, niemand wollte, niemand gab ein Ganzes: umgekehrt bei den Griechen, man war religiös gestimmt, wenn man zuschaute, es war ein Hochamt, am Schluße die Verherrlichung des Gottes, die man abwarten musste. Man ist versucht und verführt die Reihe der Scenen sich als Gemälde nebeneinander zu stellen und dies Gesammtbild seiner Composition nach zu untersuchen. Dies ist eine wirkliche Verwirrung von Kunstprincipien, insofern man die Gesetze für das Nebeneinander auf das Aufeinander anwendet. Die Forderung der Einheit im Drama ist die des ungeduldigen Willens, der nicht ruhig anschauen, sondern auf der eingeschlagenen Bahn ungehemmt zu Ende stürmen will. 3 [2] Die Handlung kam in die Tragoedie, erst mit dem Dialog. Dies zeigt, wie es in dieser Kunstart von vornherein gar nicht auf das δραν abgesehen war, sondern auf das παϑ οζ. Es war zunächst nichts als objektive Lyrik, d. h. ein Lied aus dem Zustande bestimmter mythologischer Wesen heraus, daher auch im Costüm derselben; zuerst gaben die costümirten Sänger selbst den Grund ihrer lyrischen Stimmung an, später trat eine Person heraus und erzählte die Hauptaction; bei jedem wichtigen erzählten Ereigniss erfolgte der lyrische Ausbruch. Diese Person wurde ebenfalls costümirt und als Anführer des Chores gedacht, als Gott, der seine Thaten erzählt. Das griechische Drama ist also in seinen Anfängen ein Liedercyclus für Chor mit verbindender Erzählung. Das griechische Musikdrama ist eine Vorstufe der absoluten Musik. Die lyrisch-musikalischen Parthien sind - - 3 [3] 36
Die Kunst als das Jubelfest des Willens ist die stärkste Verführerin zum Leben. Die Wissenschaft steht auch unter der Herrschaft des Triebes zum Leben: die Welt ist werth erkannt zu werden: der Triumph der Erkenntniß hält am Leben fest. Die Geschichte, weil sie das Unausschöpfbare Zeitlos Unendliche ist, ist die Hauptstätte der wissenschaftlichen Orgien. 3 [4] Der Kampf zwischen Kunst und Wissenschaft in Griechenland ist darzustellen. Der Stand der ϑ εωρητικοι in seiner Entwicklung. Titel etwa Socrates und die Tragoedie. 3 [5] Der Selbstmord ist philosophisch nicht zu widerlegen. Er ist das einzige Mittel, von dieser augenblicklichen Configuration des Willens loszukommen. Warum sollte es nicht erlaubt sein, etwas wegzuwerfen, was das zufälligste Naturereigniß minutlich zertrümmern kann? Ein kalter Lufthauch kann tödtlich sein: ist eine Laune, die das Leben wegwirft, nicht immer noch rationeller als so ein Lufthauch? Es ist doch nicht das absolut Dumme, das es wegwirft. Die Hingabe an den Weltprozeß ist eben so dumm als die individuelle Willensverneinung, weil ersterer bloß ein Euphemismus für Prozeß der Menschheit ist und mit deren Absterben für den Willen gar nichts gewonnen ist. Eine Menschheit ist etwas eben so Kleines wie das Individuum. - Wenn der Selbstmord auch nur ein Experiment ist! Warum nicht! Zudem hat die Natur dafür gesorgt, daß nicht zu viele zu dieser That schreiten und die wenigsten aus reiner Erkenntniß des "Alles ist eitel". - Die Natur verstrickt uns nach allen Seiten: die Pflichten, die Dankbarkeiten, alles dies sind Schlingen des allmächtigen Willens, in denen er uns fängt. 3 [6] Der Sokratismus ist das ununterbrochene Opferfest der alten Tragödie. Die Vollendung auf allen ihren Stufen in der griechischen Poesie. Das wahre Zeichen der Gesundheit ist der schöne Tod, die Euthanasie: und das ist das Charakteristikum der griechischen Künste und Dichtarten, Und der Tod des Musikdramas ist schrecklich: es hat keine edle Nachkommenschaft. Dies weist auf eine Schwäche in seinem Wesen hin. Jene Nachkommenschaft versteht ihren Anschluß an Euripides. Die richtige Beurtheilung des Euripides muß uns die Schwäche zeigen. Die Trauer über den Verlust geht durch die Dichtungen der Komiker. Man zankt sich über den Werth der Dichter: man gesteht Liebhaberei zu, im Gegensatz zum besseren Wissen. Der Zuschauer war auf die Bühne gekommen. Die Poesie war verloren gegangen: man suchte sie. In die Unterwelt schickte man die verhungerten Epigonen, um dort sich Brosamen zu suchen. Der tragische Untergang besteht in der Entartung. 3 [7] 37
Gegen die Gedanken- und Gefühlslauheit der vergleichenden Philologie, aber auch der klassischen Philologie. Das zu Grunde liegende System von Anschauungen und Urtheilen in der klassischen Philologie (z. B. in der Homerfrage). 3 [8] Weltanschauung des Hegelschen Zeitalters. Weltanschauung der klassischen Periode. Der Gelehrtenstand und die Gesellschaft. Der Optimismus der Staats- und Wirthschaftstheorien. Das Leben für den Staat und das Leben des Nationalen. Der Kosmopolitismus ist ein Ideal, für die Meisten eine Illusion. 3 [9] Hefte anzulegen: 1 Zur Politik und Geschichte. 2. Ethisches. 3. Aesthetisches. 4. Biographisches. 5. Zur Religionsgeschichte. 6. Metrisches. 7. Homerische Frage. 8. Griechische Grammatik. 9. Lateinische Grammatik. 10. Platonische Frage. 11. Vor-Platonische Philosophen. 12. Erga. 13- Oedipus rex. 14. Griechische Historiker. 15. Lyriker. 38
16. Lucrez. 17- Horaz. 18. Zu Laertius Diogenes. 3 [10] Die vollkommene Erkenntniß tödtet das Handeln: ja wenn sie sich auf das Erkennen selbst bezieht, so tödtet sie sich selbst. Man kann kein Glied rühren, wenn man vollkommen erst erkennen will, was zur Rührung eines Gliedes gehört. Nun ist die vollkommene Erkenntniß unmöglich und deshalb ist auch das Handeln möglich. Die Erkenntniß ist eine Schraube ohne Ende: in jedem Moment, wo sie eingesetzt wird, beginnt eine Unendlichkeit: deshalb kann es nie zum Handeln kommen. - Dies gilt alles nur von der bewußten Erkenntniß. Ich sterbe, sobald ich die letzten Gründe eines Athemzuges nachweisen will, bevor ich ihn thue. Jede Wissenschaft, welche sich eine praktische Bedeutung beilegt, ist noch nicht Wissenschaft, z. B. die Nationalökonomie. 3 [11] Der Zweck der Wissenschaft ist Weltvernichtung. Dabei geschieht es allerdings, daß die nächste Wirkung die von kleinen Dosen Opium ist: Steigerung der Weltbejahung. So stehen wir jetzt in der Politik in diesem Stadium. Es ist nachzuweisen, daß in Griechenland der Prozeß im Kleinen schon vollzogen ist: obwohl diese griechische Wissenschaft nur wenig bedeutet. Die Kunst hat die Aufgabe, den Staat zu vernichten. Auch dies ist in Griechenland geschehen. Die Wissenschaft löst nachher auch die Kunst auf. (Eine Zeit scheint es demnach, daß Staat und Wissenschaft zusammengehen, Zeitalter der Sophisten - unsre Zeit.) Kriege dürfen nicht sein, damit endlich einmal das immer wieder neu angefachte Staatsgefühl einschlafe. 3 [12] Das Spiel mit dem Rausche: Apollo als Sühngott. Der dionysische Mensch sah sich verzaubert, er sah auch die Umgebung verzaubert. Künstlerische Nachhülfe durch die Maske (Kothurn) und die Dekoration, beide täuschen nicht als scheinende Künste. Aber - wenn wir nun ein wenig in den Rausch kommen, so glauben wir an die Wirklichkeit, an eine verzauberte Welt. Dasselbe gilt von der Mimik, der Tanzgeberde: sie ahmt jene instinktiv nur wenig nach: das Kunstwerk kommt dem Rausche entgegen: erfordert nicht seine höchsten Grade: es entladet ihn.
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Die Musik ist nicht die ganz orgiastische, aber sie ist rauschvoller als die apollinische. Der Chor ist nicht das Volk, aber ein Symbol der Masse. (jetzt kommt nur noch der Einzelne zum dionysischen Rausche.) Das Ganze ist eine Entladung dieser Triebe: daß sie vorhanden sind, ist Voraussetzung. 3 [13] Ausbildung der Symbolik des Tons: die Empfindung bei manchen Klängen wird durch Übung festgebannt. Der Text wirkt hier sehr mit, z. B. - - 3 [14] In der Harmonie ist der Wille in der Vielheit, die zur Einheit zusammengeschmolzen ist. Dabei ist der Charakter jedes Tones ein wenig diskrepant in den mitklingenden Obertönen: so ist der Charakter jedes Einzelwesens ein wenig dem Gesammtwesen diskrepant. 3 [15] Aus dem Schrei mit der begleitenden Geberde ist die Sprache entstanden: hier wird durch den Tonfall, die Stärke, den Rhythmus das Wesen des Dinges, durch die Mundgeberde die begleitende Vorstellung ausgedrückt, das Bild des Wesens, die Erscheinung. Unendlich mangelhafte Symbolik, nach festen Naturgesetzen gewachsen: in der Wahl des Symbols zeigt sich keine Freiheit, sondern der Instinkt. Ein gemerktes Symbol ist immer ein Begriff: man begreift, was man bezeichnen und unterscheiden kann. 3 [16] Schrei und Gegenschrei: die Kraft der Harmonie. Im gesungenen Lied paßt der Naturmensch seine Symbole wieder dem vollen Ton an, während er nur das Symbol der Erscheinungen festhält: der Wille, das Wesen wird wieder voller und sinnlicher dargestellt. In der Erhebung des Affekts offenbart sich das Wesen deutlicher, darum tritt auch das Symbol, der Ton mehr hervor. Der Sprechgesang ist gewissermaßen eine Rückkehr zur Natur, immer das Erzeugniß einer höheren Erregung. Nun aber ein neues Element: die Wortfolge soll Symbol eines Vorgangs sein: die Rhythmik, die Dynamik, die Harmonie werden wieder in der Potenz nöthig. Allmählich beherrscht der höhere Kreis immer den kleineren, d. h. es wird eine Wahl der Worte, eine Stellung der Worte nöthig. Die Poesie beginnt, ganz in der Herrschaft der Musik. Zwei Hauptgattungen: ob Bilder oder Gefühle durch sie zum Ausdruck kommen sollen? 40
Der Sprechgesang ist nicht etwa Reihenfolge der Wortklänge: denn ein Wort hat einen ganz relativen Klang und Ton: es kommt ganz auf den Inhalt an: wie der Klang zum Wort, so verhält sich die Melodie zur Wortfolge. D. h. durch Harmonie Dynamik und Rhythmik ist ein größeres Ganzes entstanden, dem das Wort eingeordnet wird. Lyrik und Epos: Weg zum Gefühl und zum Bild. 3 [17] Wenn jede Lust Befriedigung des Willens und Förderung desselben ist, was ist die Lust an der Farbe? was die Lust am Ton? Die Farbe und der Ton müssen den Willen gefördert haben. 3 [18] Hartmann: p. 200. "Nur soweit die Gefühle und Gedanken übersetzt werden können, nur so weit sind sie mittheilbar, wenn man von der immerhin höchst dürftigen instinktiven Geberdensprache absieht: denn nur so weit die Gefühle und Gedanken zu übersetzen sind, sind sie in Worten wieder zu geben." Wirklich? Geberde und Ton! Mitgetheilte Lust ist Kunst. Was bedeutet die Geberdensprache: es ist Sprache durch allgemein verständliche Symbole, Formen von Reflexbewegungen. Das Auge schließt sofort auf den Zustand, der die Geberde erzeugt. So steht es mit den instinktiven Tönen. Das Ohr schließt sofort. Diese Töne sind Symbole. 3 [19] Gefühle sind Strebungen und Vorstellungen unbewußter Art. Die Vorstellung symbolisirt sich in der Geste, die Strebung im Tone. Die Strebung aber äußert sich entweder in Lust oder Unlust, in ihren verschiedenen Formen. Diese Formen sind es, welche der Ton symbolisirt. Formen des Schmerzes (plötzlicher Schreck) klopfen ziehen zucken stechen schneiden beißen kitzeln. Lust und Unlust und sinnliche Wahrnehmung sind zu sondern. Die Lust immer eine, Intermittenzformen des Willens - Rhythmik 41
Quantität des Willens - Dynamik Essenz - Harmonie. 3 [20] Nachahmungsbewegungen: Abbilder. Miene und Geberde: Symbole prästabilirt, vor allem der Blick. Verstärkung der Miene und Geberde durch den Ton. Steigerung zum Genuß: Schönheitstrieb: Lust am Dasein in einer bestimmten Form. Was ist die Lust am Glänzenden, an der Farbe? Was die Lust am Ton? Wie ist Lust bei Mitleiden möglich? Mitleben Voraussetzung aller Lust: auch der aesthetischen Augenlust. Rhythmik schon symbolisch wirksam. Symbol die Übertragung eines Dinges in eine ganz verschiedene Sphaere. In der Musik fortwährender Übereinkommungsprozeß über die neue Symbolik: immerfort wird dieser wieder unbewußt. 3 [21] In der dionysischen Musik und Lyrik will sich der Mensch als Gattungswesen aussprechen. Daß er aufhört individueller Mensch zu sein, symbolisch dargestellt durch die Satyrnschwärme; er wird Naturmensch unter Naturmenschen. Er redet jetzt durch die Mimik (Symbolik) und ahmt das allgemein Menschliche nach. Die deutlichste Sprache des Genius der Gattung ist der Ton als Lock- und Weh-Stimme: dies ist das wichtigste Mittel, das Individuelle loszuwerden. 3 [22] Die Geburt der Tragoedie. Die Philosophen des tragischen Zeitalters. Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten. 3 [23] Die eine Seite der Welt ist rein mathematisch, die andre ist nur Wille, Lust und Unlust.
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Erkenntniß von absolutem Werthe rein in Zahl und Raum, die andre ist ein Anerkennen von Trieben und deren Abschätzen. Hier nur Ursache und Folge, absolute Logik, dort nur Zweckursachen. Gleichniß an der Musik: auf der einen Seite reine Zahl auf der andern reiner Wille. Strenge Scheidung beider Welten. 3 [24] Die großen Denker des tragischen Zeitalters denken über keine andern Phänomene nach als die, welche ebenfalls die Kunst erfaßt. 3 [25] In der Weltanschauung des Sophokles kam Apollo sowohl als Dionysus wieder zum Siege: sie versöhnten sich. Eine ungeheure Kluft war aufgethan zwischen der Welt der Schönheit (<des> Erhabenen) - die zur tiefsten Weisheit gesteigert war - und der Welt der Erhobenen, der Menschen. Die Wahrheit, deren erschreckliches Bild Dionysus in die Welt gebracht hatte, war, als göttliche Weisheit, wieder unerkennbar geworden: der Schein jener Götterwelt war nicht mehr der schöne Schein, sie erschien ungerecht, entsetzlich usw. Der Mensch glaubte an die Wahrheit der Götter; die Schönheit wurde wieder Sache des Menschen. 3 [26] Zu den Choephoren. 3 [27] Der alte Dithyramb rein dionysisch: wirklich verwandelt in Musik. Jetzt tritt die apollinische Kunst hinzu: sie erfindet den Schauspieler und den Choreuten, sie ahmt den Rausch nach, sie fügt Skene dazu, mit ihrem gesammten Kunstapparat sucht sie zur Herrschaft zu kommen: vor allem mit dem Wort, der Dialektik. Sie verwandelt die Musik in die Dienerin, in ein ηδυσµα: --3 [28] Der berauschte Mensch als Kunstwerk ohne Publikum. Was empfängt das Kunstwerk? Womit erfassen wir das Kunstwerk? Mit Erkenntniß und Wollen zusammen. 3 [29] Die Schopenhauersche Hypothese:
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die Welt des Willens ist mit jener Welt der Zahl identisch:. die Welt der Zahl ist die Erscheinungsform des Willens. Vorstellungswelt des Ureinen - ohne eigentliche Realität, alle jene Zahlenwelt ohne eigentliche Realität. Der Wille aber - - Unser Intellekt entspricht den Dingen d. h. er ist entstanden und immer den Dingen analoger geworden. Er ist aus gleichem Stoffe, wie die Dinge, Logik usw.; er ist ein Diener des Willens unbedingt. Er gehört mit ins Reich der Zahl. 3 [30] 3. Der tragische Gedanke. 4. Das tragische Kunstwerk. 5. Die Komödie. 6. Der Chor. 3 [31] Der Fluch und das Gelächter. Das Entsetzliche und das Lächerliche. Schauder Ekel Lachen. Pessimismus der Gegenwart gegenüber. Das Verkehrte in grotesken Formen. 3 [32] Die Tragödie ist die Naturheilkraft gegen das Dionysische. Es soll sich leben lassen: also ist der reine Dionysismus unmöglich. Denn Pessismismus ist praktisch und theoretisch unlogisch. Weil die Logik nur die µηχανη des Willens ist. 3 [33] Welches war die Absicht des Willens? der doch zuletzt einer ist. Der tragische Gedanke, Rettung vor der Wahrheit durch die Schönheit, unbedingte Unterwerfung unter die Olympischen aus entsetzlichster Erkenntniß, wurde jetzt in die Welt gebracht. Damit gewann der Wille wieder eine neue Möglichkeit zu sein: das bewußte Wollen des Lebens im Individuum, nach dem tragischen Gedanken natürlich nicht direkt, sondern durch die Kunst. Darum kommt jetzt eine neue Kunst, die Tragödie. Die Lyrik bis zu Dionysus und der Weg zur apollinischen Musik. 44
Verzauberung: das Leiden tönt, im Gegensatz zum Handeln des Epos: das "Bild" der apollinischen Kultur wird durch Verzauberung vom Menschen dargestellt. Es giebt keine Bilder mehr, sondern Verwandlungen. Alles Übermäßige soll sich austönen. Der Mensch soll vor der Wahrheit schaudern: eine Heilung des Menschen soll erzielt werden: Ruhigwerden durch Austobenlassen, Sehnsucht nach dem Scheine durch schreckliche Erschütterungen. Die olympische Götterwelt ändert sich zur ethischen Weltordnung. Der arme Mensch wirft sich vor ihr nieder. 3 [34] Unser Schulwesen unter dem Einflusse mittelalterlicher Anschauungen, überhaupt unser ganzes Bildungswesen. 3 [35] Dionysos und Apollo. Die tragische Idee und die Musik. 3 [36] Musik wird zum Wort. Apoll als Wahrsager. Wahrheit und Apollo nähern sich: Zeitalter der sieben Weisen. Geburt der Dialektik. Vernichtung der Tragödie durch die Dialektik: als ανϑ ρωποζ ϑ εωρητιηοζ lebt der Grieche fort. Die Dialektik als die Kunst des "Scheines" vernichtet die Tragödie. Der "Schein der Wahrheit", "die Kunst der Begriffe" als der "Bilder der Dinge". In Plato höchste Verherrlichung der Dinge als der Urbilder, d. h. die Welt ganz vom Standpunkt des Auges (Apollos) angesehn. 3 [37] Das Scheinende, das Leuchtende, das Licht, die Farbe. Wie sich die Einzeldinge zum Willen verhalten, so die schönen Dinge zum Einzeldinge. Der Ton stammt aus der Nacht: Die Welt des Scheins hält die Individuation fest. Die Welt des Tons knüpft aneinander: sie muß dem Willen verwandter sein. 45
Der Ton: ist die Sprache des Genius der Gattung. Der Ton als Lockstimme ins Dasein. Erkennungszeichen, Symbol des Wesens. Als Wehstimme bei Gefährdung des Daseins. Die Mimik und der Ton: beide Symbole für Willensbewegungen. 3 [38] I.
II. III. IV. V. VI. VII. VIII. IX. X. XI. XII. XIII. XIV.
Das antike Drama und das neuere. Leiden und Thun Grundgegensätze, Ursprung dort aus Lyrik, hier aus Epik. Dort Worte, hier Mienenspiel. Vielleicht von der aristotelischen Definition auszugehn. (Bernays.) Ursprung. (Epicharmus, Lorentz.) Musik im Drama. (Händel, Gervinus.) Drama, im Vergleich zu den anderen Dichtgattungen. (Komödie und Tragödie und das Satyrdrama. Pindar. Der Kyklus.) Sprache in der Tragödie. (Gerth.) Kurze Übersicht der Dialekte. Einwirkungen und Nachahmungen des antiken Dramas. Oper. Die französiche Tragödie. Goethe Schiller. Die drei Tragiker im Alterthum. (Aristophanes. Staatsexemplar. Alexandriner.) Sophocles Leben. Aeschylus und Sophocles. Die Tetralogie. Sophocles und Euripides. Der Socratismus. Die sieben Stücke des Sophocles. Die religiös-sittliche Anschauung bei Sophocles. Schicksal. Die Voraussetzungen des Oedipus rex analysirt. Metrische Vorbemerkungen.
3 [39] Socrates und die griechische Tragoedie. Von Friedrich Nietzsche. 3 [40] Die apollinische Musik - in rhythmischer Bedeutsamkeit den bildenden Künsten verwandt. Das Schwelgen des Gemüths war niemals Ziel der apollinischen Musik, vielmehr die pädagogische Wirkung. Dagegen die orgiastische Wirkung der Musik. In dem Charakter der versch
Tonleiter zeigt sich instinktiv die HARMONIE. 3 [41] Die Musik und der tragische Gedanke. 46
3 [42] Die Religion für das Leben: ganz immanent: Religion der Schönheit als der Blüthe, nicht des Mangels. Weder Pessimisten noch Optimisten. Das Schreckliche. (Flucht aus der Welt.) Der tragische Gedanke, gemessen am Epos, widerspricht der Religion: eine ganz neue Erkenntniß: rein bei Sophokles. Dessen Charakter Woher diese Neuheit? Die dionysisch-musikalische Lyrik: nichts als erstrebte, durch Begriffe genauer bezeichnete Musik. Musik aus einem tragischen Stoff herausgeschlagen - nicht mehr das Schöne, sondern die Welt wird erklärt: darum entspringt aus der Musik der tragische Gedanke, der der Schönheit widerspricht. 3 [43] Weinverehrung d. h. Verehrung des Narcotismus. Dieser ist ein idealistisches Princip, ein Weg zur Vernichtung des Individuums. Wunderbarer Idealismus der Griechen in der Verehrung des Narcotismus. 3 [44] Das Sklaventhum der Barbaren (d. h. von uns). Arbeitstheilung ist Princip des Barbarenthums, Herrschaft des Mechanismus. Im Organismus giebt es keine trennbaren Theile. Individualismus der Neuzeit und der Gegensatz im Alterthum. Der ganz vereinzelte Mensch zu schwach und fällt in Sklavenbande: z. B. einer Wissenschaft, eines Begriffs, eines Lasters. Nicht durch Steigerung der erkennenden Bildung wird ein Organismus stark, vielmehr schwach. Sondern in fortwährender Bethätigung ohne Erkenntniß. Naivetät der Alten in der Unterscheidung von Sklaven und Freien: wir sind prüde und eingebildet: Sklaventhum unser Charakter. Die Athener wurden fertig, weil sie allseitig beansprucht wurden, die Grenze der Bedürfnisse war nicht so eng. Aber alle diese Bedürfnisse waren allgemeine. 3 [45]
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Die griechische Welt eine Blüthe des Willens. Wo kamen die auflösenden Elemente her? Aus der Blüthe selbst. Der ungeheure Schönheitssinn, der die Idee der Wahrheit in sich aufsaugte, ließ sie allmählich frei. Die tragische Weltansicht ist der Grenzpunkt: Schönheit und Wahrheit halten sich die Waage. Zunächst ist die Traeödie ein Sieg der Schönheit über die Erkenntniß: die Schauer einer sich nahenden jenseitigen Welt werden künstlerisch erzeugt und damit ihr auflösendes Übermaß vermieden. Die Tragödie ist das Ventil der mystischpessimistischen Erkenntniß, dirigirt vom Willen. 3 [46] Das Wesen der Musik als Wesen der Welt - die pythagoreische Anschauung. Die Dichtkunst. 3 [47] Plato's Feindseligkeit gegen die Kunst ist etwas sehr Bedeutendes. Seine Lehrtendenz, der Weg zum Wahren durch das Wissen, hat keinen größeren Feind als den schönen Schein. 3 [48] Goethe sagt: bei einer Weltlitteratur hat der Deutsche am meisten zu verlieren. 3 [49] Der Mensch erst Mensch, wenn er spielt, sagt Schiller-. die olympische Götterwelt (und das Griechenthum) sind Repräsentanten. 3 [50] Entstehung der Lesepoesie , durch Plato fixiert (durch den ανϑ ρωποζ ϑ εωρητικιοζ). 3 [51] Der Pessimismus ist die Folge der Erkenntniß vom absolut Unlogischen der Weltordnung: stärkster Idealismus wirft sich in Kampf gegen das Unlogische mit der Fahne eines abstrakten Begriffs, z. B. Wahrheit, Sittlichkeit usw. Sein Triumph Leugnung des Unlogischen als eines Scheinbaren, nicht Wesentlichen. Das Wirkliche" ist nur eine ιδεα. - Das "Dämonische" Goethes! Es ist das "Wirkliche", "der Wille", αναγκη". Der absterbende Wille (der sterbende Gott) zerbröckelt in die Individualitäten. Sein Bestreben ist immer die verlorene Einheit, sein τελοζ immer weiteres Zerfallen. Jede errungene Einheit sein Triumph, vornehmlich die Kunst, die Religion. In jeder Erscheinung höchster Trieb sich zu bejahen, bis sie endlich dem τελοζ verfällt. 3 [52] Gründung eines höchsten Menschheitstribunals: der platonische Staat ist zur Wirklichkeit geworden. Aber aus ihm ist die Kunst verbannt. Diese will ihn jetzt bezwingen. 48
3 [53] §. Die Teleologie der Tragödie für das Hellenenthum. §. Ursprung und Verhältniß zur Lyrik und Musik. §. Verfall und Übergang zum romantischen Drama. §. Einheit. §. Chor. §. Gegen Aristoteles. §. Dionysuskult und Apollo (Idealismus der Griechen). §. Hellenische Weltanschauung. §. Der Künstler. §. Poetische Gerechtigkeit. §. Narcotismus. 3 [54] Die Schönheit ist ganz und gar im Gebiet der Musik unbetheiligt. Rhythmik und Harmonie sind die Haupttheile, die Melodie ist nur eine Abbreviatur der Harmonie. Die verklärende Macht der Musik, bei der alle Dinge verwandelt aussehen. 3 [55] Weltvernichtung durch Erkenntniß! Neuschaffung durch Stärkung des Unbewußten! Der "dumme Siegfried" und die wissenden Götter! - Pessimismus als absolute Sehnsucht zum Nichtsein unmöglich: nur zum Bessersein! Die Kunst ist ein sicheres Positivum gegenüber dem erstrebenswerthen Nirwana. Die Frage ist nur für die idealistischen Naturen gestellt: Bezwingung der Welt durch positives Thun: erstens durch Wissenschaft, als Zerstörerin der Illusion, zweitens durch Kunst, als übrigbleibende einzige Existenzform: weil durch das Logische unauflösbar. 3 [56] Sokrates und die griechische Tragödie. 3 [57] Die Erzählung - ein Weg zu der bildenden Kunst. Durch 49
Die Lyrik- ein Weg zur Musik. die Idee. Das Drama - ein Weg zur Musik - durch die bildende Kunst - ein Weg zur bildenden Kunst - durch die Musik. 3 [58] Der Traum - das Vorbild der Natur für die bildenden Künste. Die Verzückung (Rausch) - für die Musik. 3 [59] Hauptfrage: wie konnte die Tragödie bei den Hellenen bestehen? Warum bei den Athenern? Warum verfiel sie? 3 [60] Einzige Möglichkeit des Lebens: in der Kunst. Sonst Abwendung vom Leben. Völlige Vernichtung der Illusion ist der Trieb der Wissenschaften: es würde Quietismus folgen - wäre nicht die Kunst. Deutschland als eigentlicher Orakelsitz der Kunst. - Ziel: eine staatliche Kunstorganisation Kunst als Erziehungsmittel - Beseitigung der spezifisch wissenschaftlichen Ausbildungen. Die Auflösung der noch lebenden religiösen Empfindungen in's Bereich der Kunst - dies das praktische Ziel. Bewußte Vernichtung des Kriticismus der Kunst durch vermehrte Weihe der Kunst. Dies als Trieb des deutschen Idealismus nachzuweisen. Also: Befreiung von dem αϖϑ ρωποζ ϑ εωρητικοζ. 3 [61] Feste setzen Triebe voraus: später verstimmen sie durch die Convention und die Gewohnheit, beim Nachlassen der Kraft. Frühlingsfeste als Freiheits- und Gleichheitsfeste, Wiedervereinigung mit der Natur. 3 [62] Der Hellene ist weder Optimist noch Pessimist. Er ist wesentlich Mann, der das Schreckliche wirklich schaut und es sieh nicht verhehlt. Eine Theodicee war kein hellenisches Problem, weil das Erschaffen der Welt nicht die That der Götter war. Die große Weisheit des Hellenismus, die auch die Götter mit als der αναγκη unterwürfig verstand. Die griechische Götterwelt ist ein wehender Sehleier, der das Furchtbarste verhüllte. Es sind die Künstler des Lebens sie haben ihre Götter, um leben zu können, nicht um sich dem Leben zu entfremden. 50
Wichtig der Idealismus der Lebenden zum Leben. Ein Kreuz mit Rosen umhüllt, wie Goethe in den Geheimnissen. 3 [63] Wie die griechische Kunst das Weib idealisirt hat. 3 [64] Der mythologische Trieb schwindet nicht: er spricht sich in den Systemen der Philosophen, der Theologen usw. aus. 3 [65] Der mythologische Trieb in einer schwächeren Manifestation. Wo war die Tragödie vor ihrer Geburt? - Z. B. in der Oedipus-, Achilles- usw. -sage. 3 [66] Gegen Aristoteles, der die οψιζ , und das µελοζ nur unter die ηδυµατα der Tragödie rechnet: und ganz bereits das Lesedrama sanktionirt. 3 [67] Geschichte des Christenthums. Der Buddhismus. Italiänische Reise. Musikdrama in Bayreuth. Griechische Philosophie: die Vorplatoniker. Plato. Herodot. 3 [68] υποκριτηζ ist der "Erklärer" "Ausdeuter", der dithyrambische Chor wurde durch erklärende Erzählungen unterbrochen, um Vorgeschichte und Ursachen der orgiastischen Erregung kund zu thun. Daher δραµα υποκρινεσϑ αι vom Schauspieler. Aristoteles, Rhet. III 1, 3. Curtius faßt es als αγωνιστηζ und zwar nach dem Chore. Rh. MUS. 22, 515. 3 [69] Die griechische Aufklärung: durch Reisen. 51
Herodot: wie viel hat er gesehen! Reconstruktion des ihm zeitgenössischen Dramas und Lebens aus seinen Vergleichungen. 3 [70] Name: Musikdrama verwerflich (nach Richard Wagner). 3 [71] Einleitung: das "heitere materialistische Hellenenthum", von dem die Neueren träumen, zu geißeln! Die Tragödie und die tragische Weltanschauung: nur einmal national! Die großen µελαλχολικοι. Die Gorgo und die Meduse. 3 [72] Die Erkenntnißlehre auf ihrem Höhepunkt bei den Eleaten. 3 [73] SOCRATES UND DER INSTINCT. I Zur Ethik. Moral im Dienste des Willens. Unmöglichkeit des Pessimismus. Freundschaftsbegriff. Idealisirter Geschlechtstrieb. Die begriffliche Moralität. Asketische Richtungen unter eudämonistischen Begriffen: und das Umgekehrte (in der jüdisch-christlichen Welt). Der selbstgenugsame Idealismus (Heraclit, Plato). Der Stoicismus als Souveränität des Bewußtseins. Das Sprüchwort. II. Zur Aesthetik. Kunst im Dienste des Willens. Musik und Poesie. Einheitsbegriff und das Relief. Die homerische Frage. Sokratismus in der Tragödie. Der platonische Dialog. Der Cynismus in der Kunst. Der Alexandrinismus. 52
Die aristotelische Aesthetik. Der platonische Moralitätsstandpunkt. Ekstatische Künstlerschaft der Griechen. III. Religion und Mythologie. Monismus aus Armuth. Sieg der jüdischen Welt über den geschwächten Willen der griechischen Kultur. Das mythologische Weib. Schicksal und Pessimismus der Mythologie. Das Zeitalter des Häßlichen in der Mythologie. Dionysos und Apollon. Die Unsterblichkeit. Die Vergötterung, des Individuums (Alcibiades, Alexander). Die mythologischen Vorbilder der platonischen Idee (Geschlechtsfluch usw.). Das principium individuationis als Schwächezustand des Willens. IV. Staatslehre, Gesetze, Volksbildung. Der αυϑ ρωποζ ϑ εωρητικοζ und seine Teleologie. Musik als Staatsmittel. Der Lehrer. Der Priester. Die Tragiker und der Staat. Die Utopien. Die Sklaverei. Das Weib. Herodot über das Ausland. Das Wandern. Die hellenischen Wahnvorstellungen. Rache und Recht. Die Griechen als Eroberer und Überwinder barbarischer Zustände (Dionysoskult). Das erwachte Individuum. 3 [74] Der Künstler als Lehrer. Das Hellenenthum, die einzige Form, in der gelebt werden kann: das Schreckliche in der Maske des Schönen. Polemische Seite: gegen das Neu-Griechenthum (der Renaissance, Goethe, Hegel usw.). 3 [75] Der platonische Dialog als Vater der Lesepoesie : Leseepos, Lesedrama, - - 3 [76] Das "Hellenische" seit Winckelmann: stärkste Verflachung. Dann der christlich-germanische Dünkel, ganz darüber hinaus zu sein. Zeitalter Heraklits Empedokles usw. war unbekannt. Man hatte das Bild des römisch-universellen Hellenismus, den Alexandrinismus. Schönheit und Flachheit im Bunde, ja nothwendig! Skandaleuse Theorie! Judaea! 3 [77] Die griechische Religion höher und tiefer als alle spätern; ihr Band mit der Kunst. Ihr Höhepunkt Sophocles: ihr Ziel Daseinsseligkeit bei pessimistischen Denkern. Die tragische Weltansicht nur einmal , z. B. bei Sophocles (dem pessimistischen ευκολοζ). 3 [78] 53
Der Werth der Religionen von ihrem Ziel aus zu beurtheilen: ihr τελοζ im unbewußten Willen. 3 [79] Wesen des Deutschen: Dyscolie mit idealistischem Optimismus. 3 [80] Die griechische Schlauheit in ihren Verpuppungen. Die Bedeutung des Weibes für das ältere Hellenenthum. Wissenschaftliche Begeisterungen z. B. bei den Pythagoreern. 3[81] Der Wille in seinem ungeheuren Bestreben zum unendlichen Dasein bejaht auf das Stärkste alles, was die Dauer des Daseins verbürgt. Z. B. das Christenthum. Die Moral. Er strebt nach einer Utopie. Er ist höchst universalistisch gesinnt, der Einzelne ist ihm nicht mehr werth, als er das Dasein zu fördern vermag. Auf die reine Gier zum Dasein gründet sich die Ethik. Das Einzige ihm nicht unbedingt Unterlegene ist die Abstraktion, ursprünglich ein Mittel, allmählich emancipirt. 3 [82] Ζοννξοζ (= ∆ιονυσοζ im Lesbisch-aeolischen Dialekt. Ursprünglich wohl ∆ιονυσοζ). Dies führt auf einen Stamm νεκ also νεκυζ νεκροζ usw. neco. Dionysus ist Hades nach Heraclit. Kuretenkult des Zeus ursprünglich. Ζοννξοζ ist "der todte Zeus" oder der "tödtende Zeus" - Zeusjäger = Ζαγρευζ und ωµηστηζ. 3 [83] Die Wirkungen der Etymologie im Volke als Ansatz zur Sagenbildung: "Mythus mit etymologischem Keim" zu sammeln. Das ist aber nichts Vereinzeltes. Sondern in der Sprache scheint fortwährend die Bedeutung der Worte durch solche Etymologien sich zu verschieben. "Die Bedeutungsentwicklung unter Einfluß falscher und richtiger Etymologie." Besonders in der Syntax. Ich denke daß der Casus der Ursprung aller syntaktischen Verbindung ist: auch für das Verbum das eigentl Weiterzeugende. 3 [84] 54
Die vorplatonischen Philosophen. Der weise Mensch bei den Griechen. Anaximander. Melancholie und Pessimismus. Mit der Tragödie verwandt. Pythagoras. Religiöse Bewegung des 6ten Jahrhunderts. Xenophanes. Wettkampf mit Homer. Parmenides. Die Abstraktion. Heraclit. Künstlerische Weltbetrachtung. Anaxagoras. Naturgeschichte des Himmels. Teleologie. Athenischer Philosoph. Empedocles. Der ideal-vollkommene Grieche. Democrit. Der universale Erkennende. Pythagoreer. Das Maaß und die Zahl bei den Hellenen. Socrates. Erziehung, Liebe. Kampf gegen die Bildung. Plato. Universal aggressiv. 3 [85] Zur Bildung. Die platonische Vorstellung. Das Zeugen - der Ruhm - die Bildung. Fortpflanzung des Namens damit verknüpft. Der Drang nach Fortpflanzung, der umso heftiger wird, je reicher der Fortpflanzungsstoff sich entwickelt. Darum zeigt sich, wer Fortzeugungsdrang in sich fühlt, so beeifert um das Schöne, weil es ihn, wenn es in seinem Besitz gelangt ist, von großem Wahne befreit. 3 [86] Moral und Kunst im Dienste des Willens. Der Sokratismus in der Staatslehre. in der Ethik. in der Kunst. 55
Der αυϑ ρωποζ ϑ εωρητικοζ in der griechischen Welt und seine Teleologie. Die Musik und die griechische Poesie. Die Vernichtung der Mythologie durch das Bewußtsein. Die Auflösung der Volksinstinkte (in immer blassere Begriffe). Vernichtung der griechischen Kultur durch die jüdische Welt. Freundschaftsbegriff. Der idealisirte Geschlechtstrieb. Der Lehrer. Dionysos und Apollo. 3 [87] Ein Buch zur Aesthetik. Ein Buch zur Ethik. Ein Buch zur Mythologie usw. Ein Buch zur Staatslehre? Gesetze. Volksbildung. Der Einheitsbegriff und das Relief. Nothwendigkeit der Geschichtsconstruktion. 3 [88] Der Socratismus im alten Griechenland. Socrates und der Instinct. Ein Beitrag zur Philosophie der Geschichte. 3 [89] Die begriffliche Moralität: die Pflicht. Was für den Einzelnen sich als Begriff der Pflicht erzeugt, ist übrigens doch nur Sache des Willens. 3 [90] "Idealismus der Ethik", im Reinen gesagt ein Idealismus der Anschauung (Kant). 3 [91] 56
Man kann nicht über den Willen weg: wie steht es bei den Asketen? Selbstmord? (Nur durch Berauschung oder Vernichtung des Bewußtseins möglich?) Nur im Streben nach glücklicherem Sein ist Selbstmord möglich. Das Nichtsein ist nicht zu denken. Die Tugenden der Abstraktion z. B. unbedingte Wahrhaftigkeit. Die asketischen Richtungen sind aufs Höchste wider die Natur und meist nur die Folge der verkümmerten Natur. Diese mag eine verschlechterte Rasse nicht fortpflanzen. Das Christenthum konnte nur in einer verkommenen Welt zum Siege kommen. 3 [92] Die meisten "brennenden Fragen" der klassischen Philologie sind leidlich unbedeutend gegenüber den centralen, die freilich nur wenige sehen. Wie gleichgültig, in welcher Reihenfolge die platonischen Dialoge geschrieben sind! Wie resultatlos die Echtheitsfrage bei Aristoteles! Auch die metrische Feststellung eines carmen ist etwas Geringes. 3 [93] Der platonische Dialog (verhält sich zum platonischen Staat wie die griechische Poesie zum athenischen Staat). Feindschaft gegen die Kunst. Der idealistische Optimismus der Ethik. (Moral und Kunst.) Politische Leidenschaft. Stellung der Tragiker zum Staat. 3 [94] Nachweis: für den Idealisten ist das Dasein nicht zu ertragen ohne eine Utopie (in ReligionKunst- Staatsträumen). Die großen Idealisten: Pythagoras, Heraclit, Empedocles, Plato. Der ανηρ ϑ εωρητικοζ als Aufklärer und Auflöser der Natur und des Instinktes. Poesie der Begriffe. Aristoteles und Plato wollen aber Praktiker sein. 3 [95] Man kommt nicht über den Willen hinweg: die Moral, die Kunst stehen nur in seinem Dienste und arbeiten nur für ihn. Vielleicht ist die Illusion, daß es gegen ihn geschehe, nothwendig. Der Pessimismus ist unpraktisch und ohne die Möglichkeit der Konsequenz! Das Nichtsein kann nicht Ziel sein. Der Pessimismus ist nur im Reiche des Begriffs möglich. Es ist nur erträglich zu existieren mit dem Glauben an die Nothwendigkeit des Weltprozesses. Dies ist die große Illusion: der Wille hält uns am Dasein fest und wendet jede Überzeugung hin zu einer Ansicht, die das 57
Dasein ermöglicht. Dies ist der Grund, weshalb der Glaube an eine Vorsehung so unvertilgbar ist, weil er über das Übel hinweghilft. Ebendaher der Unsterblichkeitsglaube. [Dokument: Notizbuch] [August-September 1870] 4 [1] Erlangen Samstag den 20. August. Hier seit acht Tagen: Samstag mit einem Zuge, der verwundete Preussen Franzosen und Turcos enthielt, angekommen. Früh von Lindau aus: Mosengel, Schwester und ich. Im Wallfisch einlogirt, breit und bequem. Unsere Karten noch Abends an Heinecke geschickt: um über die Felddiakonie Auskunft zu bekommen. Damit bekannt geworden durch eine Nummer der Augsburger am selben Tage. Sonntag. Heinecke ist nicht hier. Besuch bei Ziemsen, dann bei Ebrard. Im Hospital mit Dr. Hess bekannt geworden, Ziemsen verspricht, mit uns im Lauf der Woche abzureisen. Abends bei der Visite, Mosengel als Interpret. Jeden Morgen ½9 - 10 Verbandlehre bei Hess. Früh um 7, Abends um 6 bei der Visite. Montag Abend. In der Harmonie, ein Chassepot vorgelegt. Dienstag Besuch von Plitt. Donnerstag Abreise meiner Schwester nach Oelsnitz. Alle zwei Tage Schlachtnachrichten. Heute (Samstag) Telegramm des Königs über den entscheidenden Sieg unter seiner Führung. Wir chloroformirten gerade einen Franzosen zu einem Gypsverband (die Hand ist zerschossen: er rief in der Narkose "mon dieu mon dieu je viens"), vorher ein Mädchen von elf Jahren, Sequester im Bein zu entfernen. Ein paar Tage vorher in einem Hause einen Jungen mit grosser Kopfwunde chloroformirt; viel Mühe. Gestern starb ein Preusse im Hospital, Schuss in die Lunge, heute ein zweiter. Gutes Befinden eines Preussen "Liebig": viel Appetit, guter Schlaf, doch wenig Hoffnungen, Armknochen zersplittert, kein Gypsverband möglich. Die Turcos gefallen uns, angenehme Kranke. Schreckliche Professorenexemplare als Tischvisàvis, Kraus (Botaniker, von uns genannt "Süssmaul") und Lommel (genannt Schnoller, gleichsam ein Bierbrauer, aber Physiker). Gestern Brief von Tribschen. Sofort mit einer Composition beantwortet. - Wunderbare Schicksale von Mosengel in Paris, Liebesgeschichte und undurchdringlicher Stoff eines ungarischen Grafen (vom Kaiser beim Orsinischen Attentat getragen?). Ausbruch der Diphtheritis im Spital. Der Prof. Reinsch und Familie: fürchterliche Angst erregt. Preussenbegräbniss mit Schwarzrothgold. Montag. Auftrag vom Verein, der uns Souverainität giebt. Abfahrt mit Ziemsen. In Nürnberg selbständig. Wir nach Stuttgart (50 Napol. Cigarrenkiste). (In Erlangen widerwärtige Tischgespräche, entsetzliche Baiernrohheit und Philisterei.) Die "stotzige" Periode endet mit der Abreise meiner Schwester. Eines Abends in einer Studentenkneipe mit Hess (die "Baireuther").
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Grosse Bummelei des Zuges: wir kommen Dienstag nur bis Nördlingen. Dort ein Baseler Arzt im Gasthof (Dr. Courvoisier). Mittwoch - früh fort 5 Uhr: während der Wirth uns belogen hat, sind wir mit schnellem Zuge bis Stuttgart, von da bis Carlsruhe (½ 4 Uhr), hier verpassen wir um eine halbe Minute den Zug nach Maxau und sind darüber froh, weil es keinen Anschluss von dort gab. Wir essen im Hotel d' Angleterre sehr gut zu Abend und logieren im Hotel Prinz Max: gut. Ungeheurer Schlaf. Um ½ 8 Donnerstag nach Maxau mit einem Dragonerhauptmann, dort kein Anschluss bis ½ 2. Wir sitzen zusammen in einem Hôtel. (In Carlsruhe kaufen wir Wurst und Burgunder für die Feldflasche.) Ehrensalven vom Bürgermeister. Königs Geburtstag. Jude als Wirth. Dann bis Winden. Hier mit Bremse weiter. Abends in Weissenburg, schönste Abendbeleuchtung, alterthümliche Stadt befestigt, wir logiren im Engel: gut. Ein Lübecker ist dort, der eine Sendung für 24000 Thaler begleitet hat. Dr. Edler Richter. Freitag Regen. Weg zum Gaisberg verunglückt. Zwei Züge verpasst. Um ½ 1 eingesetzt, um 3 fort nach Sulz, geschwätziger Rheinbayer. In Sulz im Hirsch, schöne Gaststube, dann mit Stabsarzt und baierischem Hauptmann zusammen. Gut gegessen. Sonnabend Morgen nach Gersdorf, schöne Lage, Maire Pfarrer. Keine Nachricht. Wörth Begräbniss Tornister und Gewehre aufgeladen. Sehr theuer, Zeitungen fehlen. Schlacht. 4 [2] Eierkuchen Johanniter. Zwei Drittel spricht kein Französisch. Die Kerle haben mich zum Dirigent eines französischen Hospitals gemacht. Student aus dem zweiten Semester. 4 [3] Feld Briefe Bücher. Montur. Starker Geruch Mitrailleuse. Starker Regen. Zerschossenes Haus, "einige reich" (nach Langensulzbach, dort von einem Bauer mitgenommen, zum Pfarrer (protestantisch-traurig-freundlich) Jäger. Von dort durch schönen Wald über Gersdorf nach Sulz, zusammen 12 Stunden. Schicksal der Cigarrenkiste. Sonntag früh auf den Zug, bis 2 warten, plötzlich übersteigen, nach Hagenau. Dort nicht Hotel de la Poste, sondern Sauvage. Abends treffen wir den Major wieder, dann zwei Docenten aus Heidelberg und einen Berliner Juden. Über Johanniter Strassburg. Unsinnige Gerüchte, Metz und Paris und Chalons uneinnehmbar, eine Schlacht von Mac Mahon bei Verdun usw. Montag bis Bischweiler. Cavallerie, dort lange Nacht. Feuer von Strassburg. 4 [4] Commandant von Strassburg lässt den Maire erschiessen. 4 [5] Ein Pferd aus dem Wagen. Kafefeuer der Soldaten. Eisenbahnbeamte, in Zabern zu Mittag feindselig: bis Luneville tief in der Nacht, die Eisenbahn besetzt, 13 Züge. Mittwoch erstes Hôtel, schöner Park. Cafe. Niedergeschlagene Leute: gestern eine Million, heute an 100000 verloren. Mittag Dom Cafe Park. Auf der Eisenbahn unnütz, Transport aus Schlesien. Park Abends Herzog von Würtemberg. Café de Paris. Donnerstag früh um 5 fort. 59
Nach Nancy, Hôtel Dombasle. Soldaten auf dem Markt (Place Stanislaus). Spion. Schmutz. Freitag Park Bahnhof Erlanger Hoffmann Bartosch. Nach Ars sur Moselle. Verwundetenzug. Johanniter Frauen. Dort Offizier, orientalische Cigaretten. Liebig. Verwundeter. Herr Stolbie aus Leipzig. Bild des [-]. Weg zur Stadt zerstört. Wachtfeuer. Nacht. Samstag. Cafe Weinkeller Verbunden Johanniter. 4 [6] Goethe, 4. Bd., p. 149. 4 [7] Wenn es Ictus in dem Sprechen giebt - verschieden vom Accent - dann muß der im Verse sich wiederfinden. Aber die Worte haben die verschiedenste Stellung im Verse, bald in der Arsis, bald Thesis, somit haben sie keinen Ictus. Giebt es einen Versictus (a), dann gewiß keinen Wortiktus (b). Wenn es aber keinen Wortiktus (b) giebt, dann gewiß keinen Versictus (a). Wenn a ist, dann ist b nicht. Wenn b nicht ist, ist a nicht. Also giebt es nicht a. Giebt es keinen Versictus, dann ist Wortiktus möglich. Wenn es Wortiktus giebt, dann ist Versictus möglich. 4 [8] ω καλλινικε. —¾êȾçÈ Sammlung von Volkszurufen bei Griechen und Römern. Τηελλα καλλινικε, —¾êȾçȾçÈ 4 [9] Die Bacchen des Euripides haben nach der Aussage meiner Schüler einen starken Eindruck gemacht und Lust erweckt. 4 [10] 60
Geographie! [Dokument: Heft] [September 1870 - Januar 1871] 5 [1] Gedanken zu "die Tragoedie und die Freigeister" "Und sollt' ich nicht, sehnsüchtigster Gewalt, In's Leben ziehn die einzigste Gestalt?" Faust.
5 [2] Wir dürfen keinen Abgrund der Betrachtung scheuen, um die Tragödie bei ihren Müttern aufzufinden: diese Mütter sind Wille, Wahn, Wehe.
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5 [3] "Um- und Weiterbildung des Germanenthums durch Musik." 5 [4] Goethe von Klopstock: und doch führet er selbst den überepischen Kreuzzug hin auf Golgatha's Hügel, ausländische Götter zu ehren. 5 [5] - facultas lacrimatoria 5 [6] Als Motto Livius' Satz: "In unsern Zeiten können wir weder unsre Fehler, noch die Mittel gegen dieselben ertragen." 5 [7] Das Fatum. Das Orakel. 5 [8] 1 Apollo und Dionysos. 3 Sokrates und die Tragödie. 2 Die Tragödie, Bau, Chor, Tetralogie d. h. Ursprung Wesen Auflösung. Die aristotelische Aesthetik. 5 [9] Einleitung. Bildung der Jugend nach neuen Principien, mit Beihülfe des Theaters. Schutz vor Verachtung der Religion. Die gelehrte Bildung erst möglich, nach Erfahrungen, Ereignissen, errungenen Weltanschauungen. "Einige Jahre Hellenenthum." Sittlichkeit ist eine Voraussetzung, besonders bei dem deutschen Wesen. Oder Schlußcapitel. Tragödie als Bildungsmittel. 5 [10] 4, 324.
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Gervinus: "wir haben es mehrfach beklagt, daß die neuere Zeit, in der die Verstandesbildung in den Vordergrund trat, jene lebhafte Phantasie verlor, die sich den Inhalt der ruhigen Erzählung des Rhapsoden und Epikers zu vergegenwärtigen wußte, und daß, um diesen Verlust zu ersetzen, der Dichter die dramatischen Mittel ergreift, mit denen er lebendiger auf die stumpferen Organe wirkt: Gegenwart der Darstellung und die lebhaftere Schilderung des Dialogs: stärkere Wirkung auf die äußeren Sinne und zugleich auf ein sympathetisches Interesse des Zuschauers, durch Erregung seiner Leidenschaften." Der rechte und schlechte Rationalismus der Kunst! 5 [11] Sophocles über den Eros in Plato's Staat 3. 5 [12] Socrates sagt von den dramatischen Dichtungen, Pol. X 4: "Entblößt von dem Farbenglanz des musikalischen Zaubers und rein nach dem bloßen Tacte vorgetragen - sehen sie dann aus, wie die Gesichter jugendlicher, aber nicht schöner Menschen, wenn sie die Jugendblüthe verlieren." 5 [13] Zum Oedipus auf Colonos. v. 7. Resignation gelehrt durch Mißgeschick, lange Lebensdauer und edlen Sinn. 5 [14] p. 120. Plato legg. 83 a: in der Zwischenzeit, in der ein Wesen noch nicht die ihm zukommende vernünftige Einsicht hat, tollt ein jedes und schreit regellos, und sobald es nur aufrecht gehen gelernt hat, springt es wiederum ebenso. Dies die Anfänge der musischen und gymnastischen Künste. lib. II p. 68. Lust und Unlust die eigentlich kindlichen Empfindungen, Tugend und Untugend treten in dieser Gestalt vor die Seele. Feste sind dazu da, damit die Menschen durch das Zusammensein mit den Göttern die Erziehung wieder in ihren früheren Zustand zurückführen lernten. Alles was noch jung ist kann seinem Körper und seiner Stimme keinen Augenblick Ruhe geben. Die Götter sind die Geber des Gefühls für Rhythmus und Harmonie. Unsere erste Erziehung stammt von Apollo und den Musen. 5 [15]
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Über die Bedeutung der Trunkenheit und der Trinkgelage stellt Plato im Hinblick auf die Volkserziehung wichtige Untersuchungen an. 1. und 2tes Buch legg. 5 [16] Der Chor in der Tragödie verglichen mit dem Orchester? Das Gleichniß wird verständlich gemacht durch das Generelle? Wie? 5 [17] Daraus daß die Einzelkünste sich im aeschyleischen Drama nicht auf der Höhe befinden, folgt nicht, daß dies nothwendig sei. Warum war die Schauspielkunst, die Malerei, die Musik auf ihren Höhen nicht mehr im Dienste des musikalischen Drama's? Die Musik im Drama, ist, ebenso wie die Malerei, etwas Andres geworden: sie will täuschen, sie ist nicht reine Kunst des Scheins mehr. Sie wirkt elementarischer, sie ist Mittel, sie ist bewußter, weil sie plastisch sein soll. Wie ist es aber im Gesange? In diesem einfachsten Verhältnisse? 5 [18] Schiller in der Max- und Thekla-Episode, ist am deutschesten: aber ihm fehlt hier das Organ, der Ton. Werther Iphigenie haben dieselbe unendliche Zartheit. Die Scene des Prinzen Homburg, seine Todesfurcht. 5 [19] Schiller und Kleist - der Mangel an Musik. Letzterer ist viel höher zu stellen. Er ist bereits aus der Aufklärungsperiode völlig heraus. Die Kunst hielt ihn fest: aber die politische Wahnvorstellung war noch stärker. 5 [20] Das Orchester entwickelt für unser gebildetes Gehör die orchestischen Bewegungen der Gefühle, es ist der Tanz der Empfindungen versinnlicht. 5 [21] Die Auflösung des aeschyleischen Drama's ist nicht nur Symptom, sondern auch Mittel gewesen für die Auflösung der athenischen Demokratie. Darin daß sich an die Tragödie keine Philosophie anschloß, zeigt sich eine Verkümmerung. Oder hat es keine Schule von orphischen Pythagoreern gegeben, die das Drama pflegten? Doch nicht die cynischen Pythagoriker? Oder Arcesilaus oder Polemon? Nein!
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Wie verhielten sich die Philosophen zur Kunst? zum Drama? Sie haben es nie erreicht, Dank ihrem sokratischen Ursprunge. 5 [22] "Die Tragödie und die Freigeister." Betrachtungen über die ethisch-politische Bedeutung des musikalischen Drama's. 5 [23] 5 [23] Überwindung der "Aufklärung" und ihrer Hauptdichter. Deutschland als das rückwärtsschreitende Griechenland: wir sind in der Periode der Perserkriege angelangt. 5 [24] Die Wahnvorstellungen. Die ernsthaftere Aufgabe der Kunst. Allein der musikalisch dramatischen Kunst. Beispiel am Hellenenthum. Apollo und Dionysos. Auflösung im Sokratismus. Das neue Erziehungswesen der Freigeister. Pflicht des Staates dem Drama gegenüber. 5 [25] Wie offenbart sich der Instinkt in der Form des bewußten Geistes? In Wahnvorstellungen. Selbst die Erkenntniß über ihr Wesen vernichtet nicht ihre Wirksamkeit. Wohl aber bringt die Erkenntniß einen qualvollen Zustand hervor: dagegen nur Heilung in dem Schein der Kunst. Das Spiel mit diesen Instinkten. 65
Die Schönheit ist die Form, in der ein Ding unter einer Wahnvorstellung erscheint z. B. die Geliebte etc. Die Kunst ist die Form, in der die Welt unter der Wahnvorstellung ihrer Nothwendigkeit erscheint. Sie ist eine verführerische Darstellung des Willens, die sich zwischen die Erkenntniß schiebt. Das "Ideal" eine solche Wahnvorstellung. 5 [26] Die Wahnvorstellungen: wer sie durchschaut, hat nur die Kunst zum Trost. Das Durchdringen ist jetzt für die Freigeister Nothwendigkeit: wie sich dazu die Menge verhält, ist nicht zu errathen. Genug, daß wir die Kunst brauchen: wir wollen sie durch alle Mittel, nöthigenfalls im Kampfe. Eine neue Bildungssekte, als die Richterin und Herrscherin über die verschliffene und ekelhafte Bildung des Tages. Anzuknüpfen an die wirklichen Bildungselemente, an die reine wissenschaftliche Begeisterung, an die strenge militärische Subordination, an das tiefe Gemüthsbedürfniß der Frauen usw., an das noch vorhandene Christenthum usw. Der Sokratismus als die eingebildete Weisheit (in allen Erscheinungen, im orthodoxen Christenthum, im Judenthum des Tags) ist der Kunst abgeneigt oder gleichgültig. Wie Oedipus, gelangen wir erst im Hain der Eumeniden zum Frieden. 5 [27] Wahn des Individuums. Vaterlandsliebe. Confession. Geschlecht. Wissenschaft. Willensfreiheit. Frömmigkeit. 5 [28] Der Realismus des jetzigen Lebens, die Naturwissenschaften haben eine unglaublich bildungsstürmerische Kraft; ihnen muß die Kunst entgegengebracht werden. Die klassische Bildung ist immer in Gefahr, in scheue Gelehrsamkeit auszuarten. Die Frömmigkeit der Kunst gegenüber fehlt: scheußliche Kronoserscheinung, die Zeit verschlingt ihre eignen Kinder. Es giebt aber Menschen mit ganz andern Bedürfnissen, diese müssen sich das Dasein erzwingen, in ihnen ruht die deutsche Zukunft.
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5 [29] "Socrates treibe Musik" als Schlußcapitel. 5 [30] Monotheismus als ein Minimum von poetischer Welterklärung. Bei den Juden ein Nationalgott, ein kämpfendes Volk mit einer Fahne: eine Sittlichkeitsrigorosität verkörpert, Strenge gegen sich selbst, imperativischer Gott (charakteristisch, daß er das Opfer des einzigen Sohns verlangt). Unsre Nationalgötter und unsre Gefühle dafür haben einen Wechselbalg dafür bekommen: wir widmen diesem alle jene Empfindungen. Das Ende der Religion ist da, nachdem man die Nationalgötter eskamotirt hat. Schreckliche Quälerei hat dies in der Kunst angerichtet. Ungeheure Arbeit des deutschen Wesens, jenes fremde unnationale Joch abzuschütteln; und es gelingt ihm. Der indische Hauch bleibt zurück: weil er uns verwandt ist. 5 [31] Gottheiten unter der Form des Königs, des Vaters, des Priesters Die griechische Mythologie hat alle Formen einer bedeutsamen Menschlichkeit vergöttlicht. Der Glaube an einen Geist ist eine Einbildung: sofort anthropomorphische, ja polytheistische Stellvertreter. Der Verehrungstrieb als Lustempfindung am Dasein schafft sich ein Objekt. Wo diese Empfindung fehlt - Buddhismus. Buddha übergab sich den dramatischen Vorstellungen, als er mit seiner Erkenntniß durchgedrungen war: ein Schlußsatz. Ein Volk ist höher oder tiefer moralisch begabt: die Griechen haben nicht die Höhe erreicht, vielleicht aber war es die nothwendige Grenze, um nicht in Weltverneinung umzuschlagen. Ihre Erkenntniß und ihr Leben blieben im Ganzen zusammen. Die Weltverneinung ist ein unglaublicher Standpunkt: wie ließ ihn der Wille zu? Erstens ist er verbunden mit dem höchsten Wohlwollen, er hindert nichts, er ist nicht aggressiv. Zweitens wird er sofort wieder eskamotirt durch eine andersartige Verherrlichung des Daseins, Unsterblichkeitsglauben, Sehnsucht zur Seligkeit. Drittens ist der Quietismus auch eine Daseinsform.
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5 [32] "Alles ist eitel." Dies ist nicht wahr - sagen Viele. Dies ist wahr: wir wollen nicht mehr leben und handeln - sagen Andere. Aber sie handeln doch fort - auch der Quietismus ist ein Minimum des Handelns; und es ist hier gleichgültig, ob viel oder wenig gelebt wird. Also wir handeln in völliger Selbstbejahung - sagen andre: wir dienen dem Weltprozeß. Die Erkenntniß, daß der Einzelne sich nicht entziehen kann, hält uns. Es ist aber gar nicht die Frage, was der Einzelne darüber denkt: jedenfalls muß er handeln und leben, trotz aller Erkenntniß von der Eitelkeit. Diese Erkenntniß ist sehr selten: wo sie da ist, vereinigt sie sich mit dem religiösen oder künstlerischen Bedürfniß. Eine Weltcorrektion - das ist Religion oder Kunst. Wie muß die Welt erscheinen, um lebenswerth zu sein? Jetzt kommen die anthropomorphischen Hülfsvorstellungen; die Religionen sind ebenfalls für die bewußte Erkenntniß da, ein Thier hat nichts davon. Das Bedürfniß nach ihnen ist um so stärker, je größer die Erkenntniß von der Eitelkeit ist. Bei den Griechen ist es gering, dagegen ist die Häßlichkeit des Daseins corrigirt durch ihre Götterwelt. 5 [33] Die meisten Menschen spüren gelegentlich, daß sie in einem Netz von Illusionen hinleben. Wenige aber erkennen, wie weit diese Illusionen reichen. Von Illusionen sich nicht beherrschen lassen, ist ein unendlich naiver Glaube, aber es ist der intellektuelle Imperativ, das Gebot der Wissenschaft. Im Aufdecken dieser Spinngewebe feiert der ανϑ ρωποζ ϑ εωρητικοζ und mit ihm der Wille zum Dasein ebenfalls seine Orgien: er weiß, daß die Neugier nicht zu Ende kommt und betrachtet den wissenschaftlichen Trieb als eine der mächtigsten µηχαναι zum Dasein. 5 [34] Der Jude hängt mit ungeheurer Zähigkeit am Leben. 5 [35] Es ist naiv zu glauben, daß wir je aus diesem Meer der Illusion herauskommen könnten. Die Erkenntniß ist völlig unpraktisch. 5 [36] Cap. I. Darlegung des Trugmechanismus in dem Willen.
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Ein Individuum soll dienstbar dem Gesammtzweck sein: ohne ihn zu erkennen. Dies thut jedes Thier, jede Pflanze. Beim Menschen kommt nun, im bewußten Denken, ein Scheinzweck hinzu, ein vorgeschobner Wahn: der Einzelne glaubt etwas für sich zu erreichen. Wir wehren uns gegen den Instinkt, als etwas Thierisches. Darin liegt selbst ein Instinkt. Der natürliche Mensch empfindet eine starke Kluft zwischen sich und dem Thier; im Begriff es sich deutlich zu machen, worin die Kluft bestehe, verfällt er auf dumme Unterscheidungen. Die Wissenschaft lehrt den Menschen, sich als Thier zu betrachten. Er wird nie darnach handeln. Die Inder haben die richtigste Einsicht, intuitiv, und handeln darnach. 5 [37] "Mensch" bedeutet "Denker": da steckt die Verrücktheit. 5 [38] Unsre musikalische Entwicklung ist das Hervorbrechen des dionysischen Triebes. Er zwingt allmählich die Welt: die Kunst zwingt er im musikalischen Drama, aber auch die Philosophie. Die Musik ganz gesund - bei der furchtbaren Verkommenheit der epischen Kultur. 5 [39] "Der Mensch begreift nie, wie anthropomorphisch er ist" sagt Goethe. 5 [40] Die bornirte Überzeugung M Müllers, daß Christenthum, auf einen Schafskopf gepflanzt, noch was Rechtes ist. Als ob die Menschen durch die Religion nivellirt würden! 5 [4]] Das musikalische Drama und die Freigeister. 5 [42] Die Tragödie und die Freigeister. Betrachtungen über die ethisch-politische Bedeutung des musikalischen Drama's. 5 [43] 1. Gesetz des Wahnmechanismus. 69
2. Die Erkenntniß davon. Wissenschaft. 3. Die Mittel dagegen: Religion. Die 4. Kunst. 5. Der Buddhist und der deutsche Freidenker. 6. Überwindung der "Aufklärung". 7. Überwindung der "Romantiker". 8. Das Drama in seiner Kulturbedeutung bei Schiller-Goethe. 9. Dionysos und Apollo. 10. Die dionysische Religion. 11. Musik und Drama. 12. Chor. Einheit. Tetralogie. 13. Euripides. 14. Socratismus. 15. Plato gegen die Kunst. Alexandrinismus. 16. Musische Erziehung. 17. Der Student: die zukünftige Cultur. 18. Gelehrte Bildung: reale Bildung. Frankreich. Judenthum. 19. Der Freigeist und das Volk. 20. Der Staat und das musikalische Drama. Die philosophische Fakultät. An die Lehrer. 5 [44] Dem Buddhisten fehlt die Kunst: daher der Quietismus. Dem deutschen Freidenker schweben immer Wahngebilde künstlerische Ideale vor: daher sein Zeugen im Schönen, sein Weltkampf. Alle Erkenntniß der Wahrheit ist unproduktiv: wir sind die Ritter, die im Walde die Vogelstimmen verstehen, wir folgen ihnen. 5 [45] Die Aufklärung verachtet den Instinkt: sie glaubt nur an Gründe. Die Romantiker ermangeln des Instinktes: die Kunstwahngebilde reizen sie nicht zur That, sie verharren im Reizungszustande. Man überwindet solche Zustände nicht eher theoretisch als bis sie praktisch überwunden sind. 5 [46] Unsre epische Kultur kommt in Goethe zum vollen Ausdruck. Schiller weist auf die tragische Kultur hin. Diese epische Kultur breitet sich in unserm Naturwissen, Realismus und Romanwesen aus. Der Philosoph derselben ist Hegel. 5 [47]
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Als Künstler müssen wir so frei über der Religion stehen und mit ihrem Mythus handhaben, wie es der athenische Tragiker in der Produktion that, ohne alle pathologische Theilnahme. 5 [48] Der Blüthemoment unsrer epischen Kultur ist Goethe in Italien. 5 [49] Bei Goethe ist gemäß seiner epischen Natur die Dichtung das Heilmittel, das ihn gegen die volle Erkenntniß schützt - bei den tragischen Naturen ist die Kunst das Heilmittel, das von der Erkenntniß befreit. Den einen beunruhigt das Leben: sofort weicht es wie ein Bild vor ihm zurück, und er findet das beunruhigte Leben darstellenswerth. 5 [50] "Die Fidschier opfern sich selbst: sie halten es für Recht, ihre besten Freunde umzubringen, um sie von dem Elend dieses Lebens zu befrein; sie betrachten es wirklich für ihre Pflicht, daß der Sohn seine Eltern erdrosseln müsse, wenn er darum gebeten wird." Der indische Philosoph, wenn er denkt, er habe Alles gelernt, was die Welt ihn lehren könne, und der sich darnach sehnt, in die Gottheit aufzugehen, schreitet ruhig in den Ganges. Die jüdische Religion hat einen unsäglichen Schauder vor dem Tod, das Hauptziel ihrer Gebete - um langes Leben. - Bei den Griechen ist auch hierin alles mäßig. Bei aller pessimistischen Erkenntniß kommt es nie zur That des Pessimismus. 5 [51] Religion und Philosophie haben in Indien alle praktischen Instinkte aufgesaugt. Die Erkenntniß als Intuition und Instinkt 5 [52] Wahnvorstellungen, z. B. das heilige Grab in den Händen der Ungläubigen. 5 [53] Rigveda, X Buch, Hymn. 129. "Und Liebe überkam zuerst das Eine, der geistigen Inbrunst erste Schöpfungssonne, Im Herzen sinnend spürten weise Seher das alte Band, das Sein an Nichtsein bindet." 5 [54] 71
Die Parsis haben eine unerklärliche Scheu vor Licht und Feuer, die einzigen Orientalen, die nicht rauchen, sie hüten sich ein Licht auszublasen. Die Religion des Zoroaster hätte, wenn Darius nicht überwunden wäre, Griechenland beherrscht. 5 [55] "Der Parsi glaubt an einen Gott, an den er seine Gebete richtet: Seine Moral - Reinheit der Gedanken, der Worte, der Handlungen. Er glaubt an die Strafe des Bösen, Belohnung des Guten, er erwartet seine Sündenvergebung von der Gnade Gottes." 5 [56] "Ein freidenkender Inka bemerkte, daß das beständige Wandern der Sonne ein Zeichen von Knechtschaft sei." 5 [57] "Alle Götter müssen sterben" die urdeutsche Vorstellung, die die Wissenschaft mit höchster Kraft bis jetzt durchführt. "Der Tod Sigurds, des Abkömmlings Odins, konnte den Tod Balders, des Sohns des Odin, nicht abwenden: auf Balders Tod folgte bald der Tod Odins und der andren Götter." 5 [58] Das siebente Gebot Buddha's an seine Jünger ist - sich öffentlicher Schauspiele zu enthalten. 5 [59] Was ist die Tugend? "Sie hilft zur andern Küste überzusetzen" d. h. zum Nichtsein. 5 [60] Buddha: "lebt ihr Heiligen, indem ihr eure guten Werke verheimlicht und eure Sünden sehen laßt." 5 [61] Die Ideen nicht die göttlichen Wesenheiten, sondern Illusionen. 5 [62] Singularität des griechischen Dramas. (Trag<ödie>). Woher? 5 [63] Ich erzähle ein Beispiel. Bespreche nachher die Weltanschauung. 72
Und ziehe die praktische Konsequenz. 5 [64] Wir haben es Buddha nachzumachen, der die Weisheit der Wenigen nahm und davon einen Theil zum Nutzen der Menge ausprägte. 5 [65] "Gunnar wurde von Atli gebunden und unter die Schlangen geworfen. Doch selbst die Schlangen bezaubert er, indem er mit den Zähnen auf der Harfe spielt, bis endlich eine der Vipern an ihm emporkriecht und ihn tödtet." 5 [66] Gervinus glaubt, es sei viel richtiger daß wir mit aller Macht streben, die leidigen Hindernisse unsrer nationalen Fortbildung zu brechen, als daß wir jene faustischen Probleme immer wiederholen, "die wie ein Geyer an dem Herzen unsrer Jugend nagen." Natürlich sind diese Probleme historischer Natur, sie verschwinden bei freierer politischer Bewegung!! Pack! Gesindel! Historisches Gesindelpack! 5 [67] Goethe brachte in allen Lagen "seinen Lebensrausch zu Papiere". Goethe's Hingebung an Natur und Kunst: eine Religion. 5 [68] Das höchste Zeichen des Willens: der Glaube an die Illusion und der theoretische Pessimismus beißt sich selbst in den Schwanz. 5 [69] Der wahre Schauspieler verhält sich so zu seiner Rolle, wie der dramatische Künstler zum Leben, das er darstellt. Aeschylus dichtete so, wie er als Schauspieler spielte. Die dramatische Musik ist demnach Plastik im höheren Sinne: das künstlerische Auge ruht sonnenhaft auf dem Ganzen. 5 [70] Es ist die Kraft der Phantasie, die hier den Willen (in der Musik) beherrscht. Damit verändert allerdings die Musik ihr Wesen. Es ist doch kein Widerspruch: dramatische Musik. Das Lied ist die einfachste Form. 5 [71]
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Max Müller ist an den Pranger zu stellen als ein das deutsche Wesen verleugnender, in englischem Aberglauben untergegangener Deutscher. Dabei begeht er die Unsauberkeit von Leuten zu reden, die sich herausnehmen, auf Kant (sic!) Hegel und Schelling mit Geringschätzung herabzusehn. Frech! Frech! Und ignorant! (Essays, I p. 203.) 5 [72] Ich werde mich nicht scheuen, Namen zu nennen: man macht seinen Standpunkt schneller klar, wenn man ad homines hier und da demonstrirt. Auf Deutlichkeit soll mir alles ankommen. 5 [73] Wirkung der Kunst gegen die Erkenntniß. In der Architektur: die Ewigkeit und Größe des Menschen. In der Malerei: die Welt des Auges. In der Poesie: der ganze Mensch. In der Musik: sein Gefühl bewundert, geliebt, begehrt. 5 [74] "Nur die Galeerensklaven kennen sich": darum - die Kunst. 5 [75] Theil I. Instinkt Wahn und Kunst. Theil II. Das musikalische Drama. Theil III. Sokrates und die Freigeister. 5 [76] Der Wille als Einer der bewußte Intellekt. 5 [77]
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Die Weit der Vorstellungen ist das Mittel, uns in der Welt der That festzuhalten und uns zu Handlungen im Dienste des. Instinkts zu zwingen. Die Vorstellung ist Motiv zur That: während sie das Wesen der Handlung gar nicht berührt. Der Instinkt der uns zur That nöthigt und die Vorstellung die uns als Motiv ins Bewußtsein tritt liegen auseinander. Die Willensfreiheit ist die Welt dieser dazwischen geschobenen Vorstellungen, der Glaube daß Motiv und Handlung nothwendig einander bedingen. 5 [78] Daß die Welt der Vorstellungen realer ist als die Wirklichkeit, ist ein Glaube, den Plato theoretisch aufgestellt hat, als Künstlernatur. Praktisch ist es der Glaube aller produktiven Genien: das ist die Ansicht des Willens, dieser Glaube. Diese Vorstellugen als Geburten des Instinkts sind jedenfalls ebenso real als die Dinge; daher ihre unerhörte Macht. 5 [79] Die Vorstellung ist von allen Mächten die geringste: sie ist als Agens nur trug, denn es handelt nur der Wille. Nun aber beruht die individuatio auf der Vorstellung: wenn diese nun Trug ist, wenn sie nur scheinbar ist, um dem Willen zum Thun zu verhelfen - der Wille handelt - in unerhörter Vielheit für die Einheit. Sein Erkenntnißorgan und das menschliche fallen keineswegs zusammen: dieser Glaube ist ein naiver Anthropomorphismus. Erkenntnißorgane bei Thieren Pflanzen und Menschen sind nur die Organe des bewußten Erkennens. Die ungeheure Weisheit seiner Bildung ist bereits die Thätigkeit eines Intellekts. Die individuatio ist nun jedenfalls nicht das Werk des bewußten Erkennens, sondern jenes Urintellekts. Dies haben die kantisch-schopenhauerischen Idealisten nicht erkannt. Unser Intellekt führt uns nie weiter als bis zum bewußten Erkennen: insofern wir aber noch intellektueller Instinkt sind, können wir noch etwas über den Urintellekt zu sagen wagen. Über diesen trägt kein Pfeil hinaus. In den großen Organismen wie Staat Kirche kommen die menschlichen Instinkte zur Geltung, noch mehr im Volk, in der Gesellschaft, in der Menschheit; viel größere Instinkte in der Geschichte eines Gestirns: in Staat Kirche usw. giebt es eine Unzahl Vorstellungen, vorgeschobenen Wahn, während hier schon der Gesammtinstinkt schafft. Vom Standpunkte des bewußten Denkens erscheint die Welt wie eine Unsumme ineinander geschachtelter Individuen: womit eigentlich der Begriff des Individuums aufgehoben ist. Die Welt ein ungeheurer sich selbst gebärender und erhaltender Organismus: die Vielheit liegt in den Dingen, weil der Intellekt in ihnen ist. Vielheit und Einheit dasselbe - ein undenkbarer Gedanke. Vor allem wichtig einzusehn, daß die Individuation nicht die Geburt des bewußten Geistes ist. Darum dürfen wir von Wahnvorstellungen reden, unter der Voraussetzung der Realität der Individuation. 5 [80] Die mitleidige Handlung ist eine Korrektur der Welt im Handeln; im Reiche des Denkens entspricht ihr die Religion.
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So steht das Schaffen im Schönen neben dem Schön-finden. Ist das Individualsystem im Guten durchbrochen? Das reine Nach-Existenz-haschen des Willens ist genügend, um daraus die Ethik abzuleiten. Die Pflicht: der Gehorsam gegen Vorstellungen: eine Täuschung! Die wahren Beweggründe des Willens werden von diesen Pflichtvorstellungen verdeckt. Man denke an die Pflichten gegen das Vaterland usw. Eine Pflichthandlung ist ethisch werthlos als Pflichthandlung; weil weder ein Gedicht noch eine Handlung durch Abstraktion gemacht wird. Sie ist aber werthvoll, weil sie eben nicht aus der Abstraktion, aus der Pflicht entstehen kann und doch geschehn ist. Güte und Liebe sind geniale Eigenschaften: die höchste Macht geht von ihnen aus, also spricht hier der Instinkt, der Wille. Es ist ein Einheitstrieb, die Offenbarung einer höheren Ordnung, die sich in Güte Liebe Barmherzigkeit Mitleid kundgiebt. Güte und Liebe praktische Weltcorrektionstriebe - neben der Religion, die als Wahnvorstellung dazwischentritt. Sie sind mit dem Intellekt nicht verwandt, er hat gar keine Mittel sich mit ihnen zu befassen. Sie sind reiner Instinkt, Gefühl mit einer Vorstellung gemischt. Die Vorstellung im Gefühl hat zu der eigentlichen Willensregung nur die Bedeutung des Symbols. Dies Symbol ist das Wahnbild, durch das ein allgemeiner Trieb eine subjektive individuelle Reizung ausübt. Das Gefühl - mit Willen und unbewußter Vorstellung die That - mit Willen und bewußter Vorstellung. Wo fängt die That an? Sollte "That" nicht auch eine Vorstellung, etwas Undefinirbares sein? Eine sichtbar werdende Willensregung? Aber sichtbar? Diese Sichtbarkeit ist etwas Zufälliges und Äußerliches. Die Bewegung des Mastdarms ist auch eine Willensregung, die sichtbar wäre, wenn wir dorthin Augen bringen könnten. Der bewußte Wille charakterisirt auch nicht die That; denn wir können auch eine Empfindung bewußt erstreben, die wir doch eben nicht That nennen würden. Was ist das Bewußtwerden einer Willensregung? Ein immer deutlicher werdendes Symbolisiren. Die Sprache, das Wort nichts als Symbol. Denken d. h. bewußtes Vorstellen ist nichts als die Vergegenwärtigung Verknüpfung von den Sprachsymbolen. Der Urintellekt ist darin etwas ganz Verschiednes: er ist wesentlich Zweckvorstellung, das Denken ist Symbolerinnerung. Wie die Spiele des Sehorgans bei geschlossenen Augen, die auch die erlebte Wirklichkeit im bunten Wechsel durcheinander reproduziren, so verhält sich das Denken zur erlebten Wirklichkeit: es ist ein stückweises Wiederkäuen. Die Trennung von Wille und Vorstellung ist ganz eigentlich eine Frucht der Nothwendigkeit im Denken: es ist eine Reproduktion, eine Analogie nach dem Erlebniß, daß wenn wir etwas wollen, uns das Ziel vor Augen schwebt. Dies Ziel aber ist nichts als eine reproduzirte
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Vergangenheit: in dieser Art macht sich die Willensregung verständlich. Aber das Ziel ist nicht das Motiv, das Agens der Handlung: obwohl dies der Fall zu sein scheint. Es ist Unsinn, die nothwendige Verbindung von Wille und Vorstellung zu behaupten: die Vorstellung erweist sich als ein Trugmechanismus, den wir nicht im Wesen der Dinge vorauszusetzen brauchen. Sobald der Wille Erscheinung werden soll, beginnt dieser Mechanismus. Im Willen giebt es Vielheit, Bewegung nur durch die Vorstellung: ein ewiges Sein wird erst durch die Vorstellung zum Werden, zum Willen, d. h. das Werden, der Wille selbst als Wirkender ist ein Schein. Es giebt nur ewige Ruhe, reines Sein. Aber woher die Vorstellung? Dies ist das Räthsel. Natürlich ebenfalls von Anbeginn, es kann ja niemals entstanden sein. Nicht zu verwechseln ist der Vorstellungsmechanismus im sensiblen Wesen. Wenn aber Vorstellung bloß Symbol ist, so ist die ewige Bewegung, alles Streben des Seins nur Schein. Dann giebt es ein Vorstellendes: dies kann nicht das Sein selbst sein. Dann steht neben dem ewigen Sein eine andre ganz passive Macht, die des Scheins - Mysterion! Wenn dagegen der Wille die Vielheit, das Werden in sich enthält, so giebt es ein Ziel? Der Intellekt, die Vorstellung muß unabhängig vom Werden und Wollen sein; das fortwährende Symbolisiren hat reine Willenszwecke. Der Wille selbst aber hat keine Vorstellungen nöthig, dann hat er auch keinen Zweck : der nichts als eine Reproduktion, ein Wiederkäuen des Erlebten im bewußten Denken ist. Die Erscheinung ist ein fortwährendes Symbolisiren des Willens. Weil wir bei den Wahnvorstellungen die Absicht des Willens erkennen, so ist die Vorstellung Geburt des Willens, so ist Vielheit bereits im Willen, so ist die Erscheinung eine µηχανη des Willens für sich. Man muß im Stande sein, die Grenzen zu umzeichnen und dann sagen: diese nothwendigen Denkconsequenzen sind die Absicht des Willens. 5 [81] Ich scheue mich, Raum Zeit und Kausalität aus dem erbärmlichen menschlichen Bewußtsein abzuleiten: sie sind dem Willen zu eigen. Es sind die Voraussetzungen für alle Symbolik der Erscheinungen: nun ist der Mensch selbst eine solche Symbolik, der Staat wiederum, die Erde auch. Nun ist diese Symbolik unbedingt nicht für den Einzelmenschen allein da 5 [82] Die Theologie unsrer Zeit scharf zu charakterisiren. Die Schulabsichten gleichfalls. Ziel: das Schillersche bedeutend erhoben: Erziehung durch die Kunst, aus dem germanischen Wesen abgeleitet. 5 [83] 77
Die Intelligenz bewährt sich in der Zweckmäßigkeit. Wenn nun der Zweck nichts als ein Wiederkäuen von Erfahrungen ist, das eigentliche agens sich verbirgt, so dürfen wir das Handeln nach Zweckvorstellungen durchaus nicht auf die Natur der Dinge übertragen, d. h. wir brauchen eine Vorstellung habende Intelligenz gar nicht. Von Intelligenz kann nur in einem Reiche die Rede sein, wo etwas verfehlt werden kann, wo der Irrthum stattfindet - im Reiche des Bewußtseins. Im Reiche der Natur, der Nothwendigkeit ist Zweckmäßigkeit eine unsinnige Voraussetzung. Was nothwendig ist, ist das einzig Mögliche. Aber was brauchen wir dann noch einen Intellekt in den Dingen vorauszusetzen? - Wille, wenn damit eine Vorstellung verbunden sein muß, ist auch kein Ausdruck für den Kern der Natur. 5 [84] Die hellenischen Wahnvorstellungen und die ihnen entgegenarbeitenden Auflösungskräfte. Welche ist die Absicht des Willens in diesen Auflösungen? - Die Geburt der Gelehrsamkeit und der Wissenschaft als neuer Daseinsformen. 5 [85) Bei den meisten Gelehrten giebt es einen luxuriösen Trieb zu lernen. Wer will noch weise werden? Wer will noch denken und forschen, um zu handeln? Trägheit der gelehrten Ponderabilien: sie sinken immer tiefer. Man muß 40 Wochen in die Wüste gehen: und mager werden. 5 [86] Die Einheit des dramatischen Kunstwerks 5 [87] Wenn das musikalische Element weicht und doch die musikalische Weltanschauung bleiben soll, wohin flüchtet sich's? 5 [88] Die Experimente des Bewußtseins, die Thatsache der Tragödie und ihrer Erschütterung sich begreiflich zu machen - in ihrer Rückwirkung auf die Kunstwerke. Dazu ist Betrachtung der Katastrophe nöthig. - Der Kampf mit dem Schicksal, die Perspektive auf eine neue Zeit, der Selbstmord usw. 5 [89] Alle Erweiterung unsrer Erkenntniß entsteht aus dem Bewußtmachen des Unbewußten. Nun fragt es sich, welche Zeichensprache wir dazu haben. Manche Erkenntnisse sind nur für Einige da und Anderes will in der günstigsten vorbereiteten Stimmung erkannt sein. 5 [90] Begriff des "Dramas" als "Handlung". 78
Dieser Begriff ist sehr naiv in seiner Wurzel: die Welt und die Gewohnheit des Auges entscheidet hier. Was ist aber schließlich - bei geistigerer Betrachtung - nicht Handlung? Das sich kundgebende Gefühl, das sich Klarwerden - keine Handlung? Muß immer gehenkert und gemordet werden? - Aber eins ist noth: das Werden gegenüber dem Sein und der plastischen Kunst. Versteinerungen des Moments dort - hier Wirklichkeit. Zweck solcher Wirklichkeit ist allerdings, als solche zu wirken. Wir sollen nicht zwischen Schein und Wahrheit schwanken. Das pathologische Interesse ist hier Gebot. Wir fühlen als ob wir es erlebten. Wer diesen Schein am stärksten erregt, ist der beste Dichter: nur ist es wesentlich, wen er zu täuschen hat. Das Ideal ist, daß er sich selbst zu täuschen weiß. Hier liegt allerdings der Maaßstab des Kunstwerks außerhalb. Es treibt zur Erkenntniß und zur That als "wirkendes wirkliches Kunstwerk". 5 [91] Wenn man die Wahnvorstellung sich als solche auflöst, so muß der Wille - wenn anders er unser Fortbestehen will - eine neue schaffen. Bildung ist ein fortwährendes Wechseln von Wahnvorstellungen zu den edleren hin, d. h. unsre "Motive" im Denken werden immer geistigere, einer größeren Allgemeinheit angehörige. Das Ziel der Menschheit" ist das Äußerste, was uns der Wille als Phantom bieten kann. Im Grunde ändert sich nichts. Der Wille thut seine Nothwendigkeit und die Vorstellung sucht das universell besorgte Wesen des Willens zu erreichen. In dem Denken an das Wohl größerer Organismen, als das Individuum ist, liegt die Bildung. 5 [92] Denken und Sein sind keinesfalls dasselbe. Das Denken muß unfähig sein, dem Sein zu nahen und es zu packen. 5 [93] Die ungeheure mimische Kraft der Musik - auf Grund einer ungeheuren absoluten Kunstentwicklung. Einfluß der Musik auf die Dichtung. 5 [94] Die Rhythmik in der Dichtung beweist, daß das musikalische Element noch in der Gefangenschaft lebte. Wirklich ist die hellenische Tragödie nur das Vorzeichen einer höheren Kultur: sie war das Letzte, was das Griechenthum erreichen konnte, auch das Höchste. Diese Stufe war das Schwerste, was zu erreichen war. Wir sind die Erben. Die höchste That des Hellenenthums: die Bändigung der orientalischen Dionysus-Musik und Zubereitung derselben zum bildlichen Ausdruck. Aeschylus wird angeklagt, die Mysterien profanirt zu haben: ein Symbol!
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Mit der orientalisch-christlichen Bewegung überschwemmte das alte Dionysosthum die Weit, und alle Arbeit des Hellenenthums schien vergebens. Eine tiefere Weltanschauung, eine unkünstlerische, brach sich Bahn. Man glaube nur nicht, daß Phidias und Plato ohne die Tragödie gewesen wären. Die alten Philosophen, die Eleaten Heraklit Empedokles als die tragischen Philosophen. Die tragische Religion bei den Orphikern. Empedocles ist der reine tragische Mensch. Sein Sprung in den Aetna aus - Wissenstrieb! Er sehnte sich nach Kunst und fand nur das Wissen. Das Wissen aber macht Fausten. Das Festspiel und die tragische Weltanschauung. Die tragische Frau. Die Geschlechtsliebe in der Tragödie. Aeschylus als Volksprediger. Das Opfer. Das Sektenwesen. Aegypten als Ursprung scenischer Darstellungen. Die tragischen Stoffe in der Heroengeschichte. Wanderung durch die Kunst. Das tragische Griechenland besiegte die Perser. Vernichtung des Weltschmerzes als eines Schwächezustandes. Der tragische Mensch ist die Natur in ihrer höchsten Kraft des Schaffens und des Erkennens und deshalb mit Schmerzen gebärend: Die Menschen sind meist nach einer Seite hin ausgeartet, selbst bei höchsten Talenten. 5 [95] Das tragische Kunstwerk. Der tragische Mensch. Der tragische Staat. 5 [96] Die Scham - das Gefühl unter dem Banne der Illusion zu stehen obwohl wir sie durchschauen.
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Mit dieser Empfindung müssen wir leben, müssen wir unsre irdischen Pläne fördern. Sie ist ein Tribut, den wir dem Individuationsprincip zollen. Unser Verkehren mit Menschen hat diese zarte Haut um sich - für den tragischen Menschen nämlich. 5 [97] Das Wohlergehen auf Erden ist die jüdische Religionstendenz. Die christliche liegt im Leiden. Der Kontrast ist ungeheuer. 5 [98] Die Zustände, in denen wir von Volkspoesie reden, sind so nebelhaft, daß wir das schaffende Genie nicht bei Namen nennen können. Aber die Sprachen- Religionen- und Mythenschöpfung, ebenso die der großen Volksdichtungen geht auf Einzelne zurück: es giebt immer wenig Produktive den Empfangenden gegenüber. Daß etwas vom ganzen Volke approbirt wird, hat nur für dasselbe den Werth, daß unter der Masse des Volkes sich auch die urtheilsfähigen Genien befinden. Im Volke finden wir überall die zurückgelassenen Spuren der durchgegangenen Löwen des Geistes: in Sitte Recht Glauben, überall hat sich die Menge dem Einfluß Einzelner gebeugt. Das "rein Menschliche" ist eine Phrase, noch mehr: eine Illusion der gemeinsten Art. 5 [99] Wenn nun zwischen dem Begriffe und Vorstellungen erzeugenden Intellekt und der anschaulichen Welt ein untrennbares Band ist! 5 [100] Die metaphysische Bedeutung der Welt als ein Läuterungsprozeß? - es ist doch der Wille, der sich selbst zerfleischt, der Schmerz liegt doch im Willen, der Intellekt wird durch Phantome getäuscht - warum wohl? Der Wille muß doch den Intellekt fürchten. Diese Phantome sind nicht zu verdrängen: weil wir handeln sollen. Das Bewußtsein ist schwach dagegen. Leiden und Wahn, der das Leid verhüllt - ein nicht durchdringendes Bewußtsein. Hier tritt die Kunst ein, hier bekommen wir instinktive Erkenntniß vom Wesen jenes Leidens und Wahns. 5 [101] Die aristophanische Komödie ist die Vernichtung der alten dramatischen Poesie. Mit ihr schließt die alte Kunst ab. 5 [102] Indem die Tragödie eine Welterlösung ahnen läßt, giebt sie die erhabenste Illusion: die Freiheit vom Dasein überhaupt. Hier ist Nothwendigkeit des Leidens - aber ein Trost. 81
Der Illusionshintergrund der Tragödie ist der der buddhistischen Religion. Hier zeigt sich Seligkeit im Erkennen des höchsten Wehes. Darin triumphirt der Wille. Er sieht seine schrecklichste Configuration als den Born einer Daseinsmöglichkeit an. 5 [103] Gegen die nichtswürdige jüdische Phrase vom Himmel auf Erden Jene Erhebung ist ganz religiös - das dramatische Kunstwerk ist deshalb im Stande, die Religion zu vertreten. 5 [104] Warum sollten wir nicht jenen Standpunkt der Kunstverklärung erreichen, den die Griechen hatten? Offenbar waren doch die dionysischen Festspiele das Ernsthafteste ihrer Religion mit Ausnahme der Mysterien - in denen aber wieder dramatische Aufführungen stattfanden. 5 [105] Der tragische Mensch - als der berufene Lehrer der Menschen. Die Bildung und Erziehung muß nicht die Durchschnittsbegabung an ηϑ οζ und Intellekt zur Norm nehmen, sondern eben jene tragischen Naturen Hier liegt die Lösung der socialen Frage. Der reiche oder begabte Egoist ist ein Kranker und dem Mitleiden preisgegeben. Ich sehe ungeheure Conglomerate an Stelle der vereinzelten Capitalisten treten. Ich sehe die Börse dem Fluche verfallen, dem jetzt die Spielbanken gefallen sind. 5 [106] Was ist Erziehung? Daß man sofort alles Erlebte unter bestimmten Wahnvorstellungen begreift. Der Werth dieser Vorstellungen bestimmt den Werth der Bildungen und Erziehungen. In diesem Sinne ist Erziehung Intellekt-Sache, somit bis zu einem Grade wirklich möglich. Diese Wahnvorstellungen werden nur durch die Wucht der Persönlichkeiten mitgetheilt. Insofern hängt die Erziehung von der moralischen Größe und dem Charakter der Lehrer ab. Zauberische Einwirkung von Person auf Person alle höhere Willenserscheinung (die schon aus dem Bann der Einzelleben-Bejahung herausgetreten ist und damit sich die noch niederen Willenserscheinungen unterwirft). Diese Einwirkung äußert sich in Übertragung der Wahnvorstellungen. 5 [107]
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Bildung: nach dem Charakter von Wahnvorstellungen. Wie ist Bildung übertragbar? Nicht durch reine Erkenntniß, sondern durch Macht des Persönlichen. Die Macht des Persönlichen liegt in seinem Werthe für den Willen (je weiter und größer die Welt ist, die er beherrscht). Jede Neuschaffung einer Kultur somit durch starke vorbildliche Naturen, in denen sich die Wahnvorstellungen neu erzeugen. 5 [108] Der tragische Mensch Schlußcapitel. Der Vorstellungsmechanismus. Die Möglichkeit der Erziehung. Der Gegensatz der "Wissenschaft" und ihr Ziel. Das neue "Griechenland". 5 [109] Stürzen wir uns immer von neuem in den Aetna, in immer neuen Geburten wird uns der Trieb des Wissens als eine Daseinsform erscheinen: und nur in dem rastlosen apollinischen Triebe nach Wahrheit wird die Natur gezwungen , auch immer höhere Ergänzungsweiten der Kunst und der Religion zu bauen. 5 [110] In der tragischen Weltanschauung hatte sich der Wahrheits- und Weisheitstrieb versöhnt. Die logische Entwicklung löste diese auf und zwang zur Schöpfung der mystischen Weltanschauung. Die großen Organismen gehen jetzt zu Grunde, die Staaten und Religionen usw. Das Verhältniß des Dionysischen und Apollinischen ist auch in jener Staatsform, überhaupt in allen Äußerlichkeiten des Volksgeistes wieder zu erkennen. Die absolute Musik und die absolute Mystik entwickeln sich zusammen. Bei der allgemeiner werdenden hellenischen Aufklärung bekommen die alten Götter einen spukhaften Charakter. 5[111] Wie entsteht der Sklave: dies führt zur Besprechung des griechischen Staats.
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5 [112] Fortsetzung der "Geburt". Ist das Ziel der hellenischen Kultur, die höhere Verherrlichung durch die Kunst, so muß von da aus das griechische Wesen begreiflich werden. Welches sind die Mittel, deren sich jener Kunstwille bedient? Arbeit und Sklaventhum. Das Weib. Der politische Trieb. Die Natur. Mangel des Gelehrten. 5 [113] Vernichtung der Kunst. Vereinzelung der Künste und gegenseitiger Übergriff. Die verständige Kunst. Der Sokratismus. Spukhafter Charakter der Götter. Der tragische Mensch. 5 [114] Der tragische Mensch. Einleitung. Die Mystagogen. 1. 2. 3. 4.
Die Geburt des tragischen Gedankens. Die Mittel des hellenischen Kunstwillens. Der Tod der Tragödie. Der tragische Mensch.
5 [115] Die Kunstgötter. Was ist über die Griechen zu lehren, wenn man von ihrer heiteren Welt ausgeht? und sich den Ernst verhüllt? Die Angriffe auf das klassische Alterthum sind so ganz berechtigt. Man muß zeigen, daß eine tiefere Weltoffenbarung in ihm liegt als in unsern zerrissenen Zuständen, mit einer künstlich eingeimpften Religion. Entweder sterben wir an dieser
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Religion oder die Religion an uns. Ich glaube an das urgermanische Wort: alle Götter müssen sterben. Es mag jeder von denen, die sich als Freunde des Alterthums geberden, zusehn, auf welchem Wege er sich dem Alterthum nähere: nur müssen wir verlangen, daß ein jeder dieser sehnsüchtigen Freunde sich wirklich und ernsthaft um jenes verzauberte Schloß bemühe, um irgendwo einen versteckten Eingang zu finden, durch den gerade er sich hineinschleichen könne. Wem dies nämlich nur an irgend einer Stelle gelungen ist, der wird befähigt sein zu urtheilen, ob wir im Folgenden von einer wahrhaft geschauten und erlebten Welt der Dinge reden. 5 [116] Act. I. E<mpedokles> stürzt den Pan, der ihm die Antwort verweigert. Er fühlt sich geächtet. Die Agrigentiner wollen ihn zum König wählen, unerhörte Ehren. Er erkennt den Wahn der Religion, nach langem Kampfe. Die Krone wird ihm von der schönsten Frau dargebracht. II. Furchtbare Pest, er bereitet große Schauspiele, dionysische Bacchanale, die Kunst offenbart sich als Prophetin des Menschenwehs. Das Weib als die Natur. III. Er beschließt bei einer Leichenfeier das Volk zu vernichten, um es von der Qual zu befrein. Die Überlebenden der Pest sind ihm noch bemitleidenswerther. Bei dem Pantempel. "Der große Pan ist todt". 5 [117] Das Weib in der Theatervorstellung, stürzt heraus und sieht den Geliebten niedersinken. Sie will zu ihm, Empedokles hält sie zurück und entdeckt seine Liebe zu ihr. Sie giebt nach, der Sterbende spricht, Empedokles entsetzt sich vor der ihm offenbarten Natur. 5 [118] Empedocles, der durch alle Stufen, Religion Kunst Wissenschaft getrieben wird und die letzte auflösend gegen sich selbst richtet. Aus der Religion durch die Erkenntniß daß sie Trug ist. Jetzt Lust am künstlerischen Scheine, daraus durch das erkannte Weltleiden getrieben. Das Weib als die Natur. Jetzt betrachtet er als Anatom das Weltleiden, wird Tyrann, der Religion und Kunst benutzt, und verhärtet sich immer mehr. Er beschließt Vernichtung des Volks, weil er dessen Unheilbarkeit erkannt hat. Das Volk, um den Krater versammelt: er wird wahnsinnig und verkündet vor seinem Verschwinden die Wahrheit der Wiedergeburt. Ein Freund stirbt mit ihm. 5 [119] 85
23. Warum aus Tragödie attische Komödie. Dialektik. Optimismus der Ethik. 24. Wissenschaft. 25. Erziehung. 26. Heiterkeit-Mechanismus. 5 [120] Die Tragödie und die griechische Heiterkeit. Vorrede. Einleitung. 1. Die Geburt des tragischen Gedankens. Vorbereitungen der Tragödie. 2. Die Mittel des hellenischen Willens, um zur Tragödie zu gelangen. 3. Das tragische Kunstwerk. 4. Der Tod der Tragödie. 5. Erziehung und Wissenschaft. 6. Homer. 7. Metaphysik der Kunst. 5 [121] Republ. VIII, von cap. 10 an, Schilderung der Demokratie und der Tyrannis. Lib. X Austreibung der Dichter. 5 [122] Abhandlungen. Zur Philosophie des Tragischen. Philologen als Metriker. Hesiod. Homerische Frage und Antwort. Sprache im Unterricht. 86
Das Gymnasium. Geschichte im Unterricht. 5 [123] Hauptpunkte. Die Mysterien und das Drama Geburten einer Zeit, auch ihrer Weltanschauung nach verwandt. Das sechste Jahrhundert als der Höhepunkt: das Ersterben des Epos in der faustischen Gegenwart. Ungeheures politisches Ringen. Simplicität des Griechischen: die Stimme der Natur den Frauen und den Sklaven gegenüber unverdorben. Der besiegte Feind. Humanität ist ein ganz ungriechischer Begriff. Religionen sind Weltausbesserungen durch das Bild und den Begriff. Die hesiodische Theogonie löst die Welt in Menschen auf: weil der Mensch noch das Bekannteste sich zu sein scheint. Das Schöne bei den Deutschen das "Glänzende", bei den Römern pul-cer das "Starke", bei den Griechen das "Reine". Schwer erklärbar: das Unendlich-Stabile des antiken Dramas. - Ganz diverse Dinge: das bürgerliche Schauspiel (neuere Komödie) und die alte Tragödie. Wie ist eine unnationale Religion möglich? Z. B. das Christenthum. Der bewußte Intellekt ein schwaches Ding, wirklich nur µηχανη des Willens. Aber der Intellekt selbst und der Wille sind eins. Herodot eine Hauptquelle der Erkenntniß. Für die Einleitung. Die Simplicität des Griechischen. Sodann die Wichtigkeit der naheliegenden Probleme, während das Entlegene nur selten Ausbeute giebt. Sammlung von glücklichen Belegstellen. 5 [124] Die Aesthetik des Aristoteles. Die Musik und die οψιζ als ηδυσµατα. Die Höhepunkte aller Künste liegen später als das Drama: dies nahm sie nicht auf, sondern blieb conservativ. 5 [125] Sokrates ließ sich nicht in die Mysterien einweihen. 87
[Dokument: Heft] [Ende 1870] 6 [1] §. 20. Euripides. 21. Euripides und Socrates. 22. Socrates und die voreuripideische Tragödie. 23. Die Wissenschaft. 24. Einzige Möglichkeit der Wissenschaft, der Kunst gegenüber. 25. Zweck der Erziehung. 26. Der Wahn. 27. Die Idealität der Welt. 28. Die Vielheit der Ideen. 29. Die Einheit des Willens. 30. Griechische Heiterkeit und die Heiligkeit. 6 [2] Andrer Gegensatz: andre Welt auf der Bühne verehrt, andre Welt im Leben. Andre Lehren dort und hier. 6 [3] Wie ist eine Erziehung möglich, wenn es keine Freiheit des Willens giebt, wenn es keine Freiheit des Gedankens giebt, sondern wir nur Erscheinung sind? Dagegen zu sagen, daß es eine Erziehung im gleichen Sinne giebt, wie eine Freiheit des Willens - nämlich als nothwendige Wahnvorstellung, als vorgeschobnen Erklärungsgrund für ein uns gänzlich entzogenes Phänomen. Wenn also keine Erziehung eintritt, so ist dies ein Beweis, daß jenes Phänomen nicht existirt. Eine Erziehung zur tragischen Erkenntniß setzt also Bestimmbarkeit des Charakters, freie Wahlentschließung usw. voraus - für die Praxis, leugnet aber theoretisch dieselbe und stellt dies Problem sofort an die Spitze der Erziehung. Wir werden uns immer so benehmen wie wir sind und nie wie wir sein sollen.
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Der Genius hat die Kraft, die Welt mit einem neuen Illusionsnetze zu umhängen: die Erziehung zum Genius heißt das Illusionsnetz nothwendig zu machen, durch eifrige Betrachtung des Widerspruchs. Die tragische Erkenntniß ist ja auch dem Ureinen-Wesen gegenüber nur eine Vorstellung, ein Bild, ein Wahn. Insofern aber der Widerspruch d. h. der unconciliatorische in diesem Bilde geschaut wird - erleben wir gleichsam wie die Scene vom besessenen Knaben die Transfiguration herausfordert. Erzogen werden - heißt nur - sich auseinander falten. Man halte nur die Wüste und die Qual des Heiligen für nothwendige Voraussetzung der Verzückung. Die Einwirkung des Genius ist gewöhnlich, daß ein neues Illusionsnetz über eine Masse geschlungen wird, unter dem sie leben kann. Dies ist die magische Einwirkung des Genius auf die untergeordneten Stufen. Zugleich aber giebt es eine aufsteigende Linie zum Genius: diese zerreißt immer die vorhandenen Netze, bis endlich im erreichten Genius ein höheres Kunstziel erreicht wird. 6 [4] Daß alle Erscheinung materiell ist, ist klar: deshalb habe die Naturwissenschaft ein völlig berechtigtes Ziel. Denn Materie sein heißt Erscheinung sein. Zugleich aber ergiebt sich, daß die Naturwissenschaft nur hinter dem Scheine her ist: den sie höchst ernsthaft als Realität behandelt. In diesem Sinne ist das Reich der Vorstellungen Wahnbilder usw. auch Natur: und eines gleichen Studiums werth. 6 [5] Die Vorstellung daß sich der Mensch erlösen müsse - als ob es nicht das Weltwesen wäre, das in uns erlöst würde! 6 [6] Socrates - Die Wissenschaft. Erziehung. Wahnvorstellungen. Das Ureine, der Widerspruch. Recapitulation. Zweck der Kunst und des Genius. 6 [7] Das Logische hat als Ziel die Erkenntniß des "unlogischen Centrums" der Welt: ebenso wie die Moral eine Art Logik ist. So wird durch diese Erkenntniß das Schöne nothwendig. Das Logische ist die reine Wissenschaft der Erscheinung und bezieht sich nur auf den Schein. Bereits das Kunstwerk liegt außer ihr. Das Schöne als Spiegelung des Logischen, d. h. die Gesetze der Logik sind das Objekt der Gesetze des Schönen. 6 [8] Die homerische Heiterkeit. 89
Metaphysik der Kunst. 6 [9] 24. Das wissenschaftliche Weltbild und das religiöse Weltbild im Kampf: ein neuer Contrast des Apollinischen und des Dionysischen. Nur in der Kunst zu bezwingen. Der Philosoph und der Mystiker (die Künste können sich in Anschluß an eins oder das Andre entwickeln). Eine einzige Kunst reicht darüber hinaus, die Musik; das Weltschauspiel und die Urkräfte. (Heiterkeit der Vorrede) Beschreibung des tragischen Menschen. 25. Die Erziehung zwischen jenen Weltbildern: Überzeugung von der Nothwendigkeit des Wahns ist ein Heilmittel. 26. Der Philologe, d. h. der Lehrer. 6 [10] Kunst und Wissenschaft. 6 [11] Wie kann Sokrates Musik treiben? 1. Obwohl an ihm alles zu Grunde geht. 2. Heiterkeit des Socrates im platonischen Symposion, seine Ironie. 3. Seine Entladung der Heiterkeit (wie in Kunstwerken). 4. Ursache der Heiterkeit - Weltcorrektur. 5. Die künstlerische und die wissenschaftliche Weltcorrektur. 6. Die wissenschaftliche Wahrheitstendenz. 7. Die Wahnvorstellung. 8. Der Mechanismus, wie die Wissenschaft in Kunst umschlägt. 9. Die wissenschaftliche Erziehung. "Befreiung vom Instinkte". 10. Der ideale Lehrer der Wissenschaft - apollinisch. 11. Der Mystiker und der Heilige. 12. Kampf der Mystik mit der Wissenschaft - Dionysos und Apollo. 13. Musik und Drama. 14. Der tragische Mensch. - Der musiktreibende Sokrates. 90
6 [12] Wer die Lust einer anschaulichen Erkenntniß an sich erfahren hat und merkt, wie diese in einem weiten Ringe die ganze Welt der Erscheinungen zu umfassen sucht, der wird von da an keinen Stachel, der zum Dasein treiben könnte, heftiger empfinden als die Begierde, jene Eroberung zu vollenden und das Netz undurchdringbar festzuspinnen. Einem so Gestimmten erscheint dann das Bild des platonischen Sokrates als der Lohn, als ganz neue Form der Daseinsseligkeit. Der theoretische Genius als Vernichter der hellenischen apollinischen Kunst: dagegen die Weltbilder der Philosophie und des Christenthums und Religion, überhaupt der instinktiven Mächte: aus den Ruinen der zerstörten Kunst blüht die Mystik. Gegen die Wahnvorstellungen: neue Weltbilder entgegengestellt, die dann wieder logisch zersetzt werden und zu neuen Schöpfungen auffordern. Immer solider die Grundlage, immer vorsichtiger der Bau, immer größere Denkkomplexe arbeiten zusammen, dies die Weltmission des Hellenischen und des Sokrates. Scheinbar wird ja der Mythus immer mehr ausgeschlossen. In Wahrheit wird der Mythus immer tiefsinniger und großartiger, weil die erkannte Gesetzmäßigkeit immer großartiger wird. Man wird zur mystischen Conception gedrängt. Sodann aber drängt überhaupt die Wucht des logischen Denkens die Gegenmacht hervor, die dann mitunter auf Jahrtausende die Logik in Bande schließt. Kampf dieser beiden Formen der Kunst: die philosophischen Weltbilder behaupten sich als erweisbare Wahrheit, die religiösen als nicht erweisbare, darum geoffenbarte W. Gegensatz des theoretischen Genies und des religiösen Genies. Es ist eine Vereinigung möglich: einmal schärfste Bestimmung der Grenze des Logischen, anderseits die Erkenntniß, daß zu unsrer Existenz der Schein nöthig ist. Dies der neue Gegensatz des Apollinischen und des Dionysischen, der in der tragischen Kunst und Musik eine Vereinigung finden kann, die hier das Ziel des Confliktes erreicht. Die volle Scheinbarkeit der Welt, auch die Kunst muß uns als entwickelt sich zeigen: aber sie muß sich wieder abwickeln. - Einfluß der Gestirne. 6 [13] 1. Der theoretische Mensch, unaktiv, Causalität, Genuß im logischen Erkennen. Neue Daseinsform. Grenzenloser Apollinismus, maßlose Erkenntnißsucht, Unerschrockenheit im Zweifel. 2. Die Auflösung der Wahnvorstellungen. 3. Erziehung. 4. Tragische Erkenntniß und die Kunst (Religion). 6 [14] 1. Sokrates Gegner der Mysterien, Todesfurcht durch Gründe zu beschwichtigen. Der Grund, seine Voraussetzung die Ergründlichkeit. Optimismus der Dialektik. Glaube daß der Begriff das Wesen des Dings trifft: platonische Idee. Daher Metaphysik der Logik: Identität von Denken und Sein. Voraussetzung der Ziele des Denkens und der Ziele des Guten und Schönen. Heiterkeit.
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2. Der Wahn. 3. Voraussetzung der Willensfreiheit. Es giebt nur Erkennen: alles Handeln nach Vorstellungen. 4. Alexandrinismus der Erkenntniß, Zug nach Indien. Wildes Hervorbrechen des Dionysischen. Johannes. 6 [15] 1. Mechanismus des Apollinischen und des Dionysischen. Heiterkeit. 2. Homer, nach der Besiegung der Titanen. 3. Homer als der Eine, Hesiod gegenüber im Wettkampf. 4. Elegie und Chorlyrik. 6 [16] Auch der theoretische Mensch hat ein unendliches Genügen am Vorhandenen wie der Künstler und ist wie jener vor der dionysischen Weisheit geschützt. Wenn nämlich dieser bei jeder Enthüllung der Wahrheit und der Natur immer nur mit verzücktem Blicke bei dem hängen bleibt, was auch jetzt, nach der Enthüllung, noch Hülle bleibt, genießt und befriedigt sich der theoretische Mensch an der abgeworfenen Hülle und hat seine höchste Lust in der Vorstellung daß er alle Hülle abgestreift. 6 [17] 1. Theognis. C. 45 2. De Laertii Diogenis fontibus. 70 3. Analecta Laertiana. 1866, 67, 68, 69, 70. 16 4. Zur Kritik und Quellenkunde des Laertius. 45 5. Der Danae Klage. 12 6. Certamen. Ausgabe. 22 7. Der Florentinische Tractat. 16 8. Homer und die klassische Philologie. 24 250 Seiten Griechische Heiterkeit. 6 [18]
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§ 1. Traum und Rausch. § 2. Dionysus und Apollo. Der tragische Gedanke als § 3. Die olympischen Götter. neue Daseinsform - Ziel § 4. Die apollinische Kunst. des dionysischen Willens. § 5. Die apollinische Ethik. § 6. Das Erhabene und das Lächerliche. § 7. Aeschylus und Sophokles. § 8. Der griechische Sklave und die Arbeit. § 9. Grausamkeit im Wesen der Individuation. § 10. Der griechische Staat. Die Mittel des § 11. Staat und Genius. hellenischen Willens, um sein § 12. Der platonische Staat. Ziel, den Genius zu erreichen. § 13. Das griechische Weib. § 14. Die Pythia. § 15. Die Mysterien. § 16. Oedipus. § 17. Prometheus. Chor. Einheit. Die tragischen § 18. Euripides und Dionysus. Masken. § 19. Die neuere Komödie. § 20. Tendenz des Euripides. Der Tod der § 21. Euripides und Sokrates. Tragödie. § 22. Plato. Euripides. - Roman. Schauspiel. § 23. § 24.. Wissenschaft und Kunst § 25. § 26. 93
§ 27. § 28. § 29. Metaphysik der Kunst. § 30. Griechische Heiterkeit. Vorrede. Einleitung. I. Die Geburt des tragischen Gedankens. II. Voraussetzungen des tragischen Kunstwerkes. III. Die Doppelnatur des tragischen Kunstwerkes. IV. Der Tod der Tragödie. Homer. V. Wissenschaft und Kunst. Die Sprache. VI. Metaphysik der Kunst. Metrik. [Dokument: Heft] [Ende 1870 - April 1871] 7 [1] Das Schöne in jeder Kunst beginnt erst, wo das rein Logische überwunden wird. Z. B. zeigt die Entwicklung der Harmonie eine solche Durchbrechung des physiologisch-Schönen zu einem höheren Schönen, eine immer entfleischtere Form des Schönen. In jeder Sprache entwickelt sich der Begriff des Schönen aus einer verschiedenen Urbedeutung, z. B. aus dem "Reinen" oder "dem Leuchtenden" (Gegensätze "das Schmutzige" und "das Dunkle"). 7 [2] Der geniale Sinn für Proportion, der in der griechischen Sprache und Musik und Plastik ausgebildet ist, offenbart sich in dem Sittengesetz des Maaßes. Der dionysische Kult bringt die αλογια hinzu. 7 [3] Die hellenische Welt des Apollo wird allmählich von den dionysischen Mächten innerlich überwältigt. Das Christenthum fand sich bereits vor. 94
7 [4] Die Stellung des Weibes bei den Hellenen war die richtige: aus ihr erzeugte sich die Ehrfurcht vor der Weisheit des Weibes: Diotima, Pythia, Sibylla, auch Antigone. Hier denken wir an das deutsche Weib, wie es Tacitus schildert. 7 [5] Die Griechen sind naiv wie die Natur, wenn sie von den Sklaven sprechen. Es giebt solche: überall wo es eine Kultur giebt. Die Kultur zu opfern einem Schema zu liebe scheint mir fürchterlich. Wo sind die Menschen gleich? Wo sind sie frei? Wir vernichten die Brüderlichkeit d. h. das tiefe Mitleid mit ihnen und mit uns, insofern wir uns auf Kosten Andrer zu leben berufen fühlen. Wir täuschen uns absichtlich über das Schreckliche, das in den Dingen liegt, hinweg. 7 [6] Der strenge Heimatbegriff der Hellenen ist für eine große Kulturwelt nöthig. Wehe dem absoluten Staat! 7 [7] An dem ανϑ ρωποζ ϑ εωρητικοζ geht die antike Welt zu Grunde. Das apollinische Element scheidet sich wieder von dem dionysischen und jetzt entarten beide. Das Bewußtsein und die dumpfe Begierde stehen jetzt als feindliche, im selben Organismus wüthende Mächte sich gegenüber. 7 [8] Motto: "der große Pan ist todt." 7 [9] Eine Parallele für die Entstehung der olympischen Götterwelt bei dem schrecklichen Hintergrund bietet die Entstehung des Decamerone zur Pestzeit. 7 [10] Der menschenfeindliche Charakter des ursprünglichen Zeus noch im Prometheusmythus erkennbar. 7 [11] Nach Catull (Westph 120) wird bei den Persern aus Incest ein Magier geboren. 7 [12] Die Wollust und der Reiz des Schauders ist die Wirkung der Naturheilkraft. 7 [13] 95
Das Johannesevangelium aus griechischer Atmosphaere, aus dem Boden des Dionysischen geboren: sein Einfluss auf das Christenthum, im Gegensatz zum Jüdischen. 7 [14] I Die Geburt des tragischen Gedankens. II Die Tragoedie selbst. III Untergang der Tragoedie. IV Johannes Dazu: Einleitung an meine Freunde. Zweck der Kunst. 7 [15] Zu II. Das Weib. Der Sklave. Der Staat. Krieg. (Fürsten als Opfer des Staats.) Der Unterricht. Zu IV. Verbergen der Tragödie (wie die Statuenwelt). Die trunkne "Wissenschaft" (an Stelle der "Weisheit"). Der große Pan ist todt. Untergang der Götter. Der tragische Mensch - Empedocles. 7 [16] Über die Arbeit denken die Hellenen wie wir über die Zeugung. Beides gilt als schmählich, doch wird keiner deshalb das Resultat für schmachvoll erklären. Die "Würde der Arbeit" ist eine moderne Wahnvorstellung der dümmsten Art. Sie ist ein Traum von Sklaven. Alles quält sich um elend weiter zu vegetieren. Und die verzehrende Lebensnoth, die Arbeit heißt, soll "würdevoll" sein? Dann müßte das Dasein selbst etwas Würdiges sein. Nur die Arbeit, die vom willefreien Subjekt gethan wird, ist würdevoll. Somit gehört zu wahrer Kulturarbeit ein begründetes sorgenbefreites Dasein. Umgekehrt: zum Wesen einer Kultur gehört das Sklaventhum.
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7 [17] Der Idealstaat Platos ist deshalb von besonderer Weisheit, weil gerade in dem, was uns so auffällig ist, die ungestüme Naturgewalt des hellenischen Willens sich offenbart. Wirklich ist es das Vorbild eines wahren Denkerstaats, mit völlig richtiger Stellung des Weibes und der Arbeit. Aber der Irrthum liegt nur im sokratischen Begriff eines Denkerstaates: das philosophische Denken kann nicht bauen, sondern nur zerstören. 7 [18] Die Verherrlichung des Willens durch die Kunst Ziel des hellenischen Willens. Somit mußte dafür gesorgt werden, daß Kunstschöpfungen möglich waren. Die Kunst ist die freie überschüssige Kraft eines Volkes, die nicht im Existenzkampf vergeudet wird. Hier ergiebt sich die grausame Wirklichkeit einer Kultur - insofern sie auf Knechtung und Vernichtung ihre Triumphthore baut. 7 [19] Das Furchtbarste, was der Jude des alten Testaments als Drohung kennt, ist nicht ewige Qual, sondern völlige Vernichtung. Psalm 1,6; 9,6. Eine bedingungslose Unsterblichkeit ist dem alten Testament unbekannt. Das Nichtsein ist der Übel größtes. 7 [20] Der Förderer der Kultur - Prometheus von den Geiern zernagt. Einfluß der Kunst, die uns eine Zeit im Leben festhält - Atli, dem die Schlangen zuhören. Wenn ihm das Saitenspiel entsinkt, so tödten ihn die Schlangen. 7 [21] Zugleich mit der höchsten Kunstblüthe entwickelt sich auch die grenzenlose fordernde Logik der Wissenschaft. An dieser stirbt das tragische Kunstwerk. Die heilige Bewahrerin der Instinkte, die Musik, entwich aus dem Drama. Das wissenschaftliche Dasein ist das Letzte des Willens: er erscheint nicht mehr verhüllt, aber als wahr reizt er in der Unendlichkeit seiner Vielheit. Alles soll erklärt werden: das Kleinste wird anziehend und der Blick gewaltsam von der Weisheit (des Künstlers) abgelenkt. Die Religion, die Kunst, die Wissenschaft - alles nur Waffen gegen die Weisheit. 7 [22] Der Vatermörder und der im Incest lebende Oedipus ist zugleich der Räthsellöser der Sphinx, der Natur. Der persische Magus wurde aus Incest geboren: das ist dieselbe Vorstellung. D. h. so lange man in der Regel der Natur lebt, beherrscht sie uns und verbirgt ihr Geheimniß. Der Pessimist stürzt sie in den Abgrund, indem er ihre Räthsel erräth. Oedipus Symbol der Wissenschaft. 7 [23]
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Die antike Tragödie als Volkslehrerin konnte nur im Dienste des Staates zu Stande kommen. Darum war das politische Leben und die Ergebenheit für den Staat so gesteigert, daß auch die Künstler an ihn vor allem dachten. Der Staat war ein Mittel der Kunstwirklichkeit: deshalb mußte die Gier zum Staate in den kunstbedürftigen Kreisen die allerhöchste sein. Dies war nur möglich durch Selbstregierung, diese aber ist nur denkbar bei geringer Zahl von regierungsbefähigten Bürgern. - Der ungeheure Aufwand des Staats- und Gesellschaftswesens wird schließlich doch nur für einige Wenige aufgeführt: dies sind die großen Künstler und Philosophen - die nur nicht beanspruchen sollen, mit hinein zu treten in das politische Wesen, wie es Plato's Staat fordert. Für sie braucht die Natur die höchsten Wahngebilde, während für die Masse nur die Abfälle des Genius ausreichen. Der Staat entsteht auf die grausamste Weise durch Unterwerfung, durch die Erzeugung eines Drohnengeschlechts. Seine höhere Bestimmung nun ist, aus diesen Drohnen eine Kultur erwachsen zu lassen. Der politische Trieb geht auf Erhaltung der Kultur, damit nicht fortwährend von vorn angefangen werden muß. Der Staat hat die Erzeugung und das Verständniß des Genius vorzubereiten. Die Erziehung des Griechen zielte hin auf den vollen Genuß der Tragödie. Es verhält sich mit der Sprache ähnlich: sie ist die Geburt der genialsten Wesen, zum Gebrauch für die genialsten Wesen, während das Volk sie zum geringsten Theile braucht und gleichsam nur die Abfälle benutzt. Das einzelne höchst selbstsüchtige Wesen würde nie dazu kommen, die Kultur zu fördern.. Darum giebt es den politischen Trieb, bei dem zunächst der Egoismus beruhigt ist. In Sorge für seine eigne Sicherheit wird er zum Frohndiener höherer Zwecke gemacht, von denen er nichts merkt. 7 [24] Bei der Pflanze bricht der Schönheitssinn durch, sobald sie dem wilden Existenzkampfe entrückt ist. Der Staat ist beim Menschen eines der Mittel, den Kampf ums Dasein zu beseitigen (indem der Kampf in höherer Potenz fortgeführt wird, als Staatenkrieg - wird der Einzelne frei). Die Natur pflanzt mittelst der Schönheit fort: diese ist ein Lockmittel im Dienste der Generation. - Die Natur pflanzt immer die höchsten Exemplare fort und hat auf sie das Auge. 7 [25] Der Sklave. Entstehung des Staats, barbarisches Kriegsrecht. Entwicklung des Einzelnen aus dem Daseinskampfe. Pflanzenschönheit. In der Stärke des politischen Triebes die continuirliche Cultur verbürgt. Sehnsucht der Natur zum Lächeln. Der Staat als Nothzustand und Raubstaat, bald als Kulturstaat. Der politische Trieb ist weit überladen, daher Kriege und verzehrendes Parteileben. So ist der Trieb oft selbst dem eignen Zwecke des Triebs schädlich. Der Tyrann (der Höhepunkt der politischen Gier) als Pfleger der Kultur - ist ein Exempel. Der platonische Staat eine contradictio: er schließt die Kunst aus, als Denkerstaat. Sonst ganz auf griechischer Basis.
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7 [26] Pflicht - Gehorsam gegen einen Trieb, der in Gestalt eines Gedankens erscheint. Gewöhnlich ist der Gedanke dem Triebe nicht adäquat, sondern enthält einen aesthetischen Reiz: er ist eine schöne Vorstellung. 7 [27] Was ist das Schöne? - eine Lustempfindung, die uns die eigentlichen Absichten, die der Wille in einer Erscheinung hat, verbirgt. Wodurch wird nun die Lustempfindung erregt? Objektiv: das Schöne ist ein Lächeln der Natur, ein Überschuß von Kraft und Lustgefühl des Daseins: man denke an die Pflanze. Es ist der Jungfrauenleib der Sphinx. Der Zweck des Schönen ist das zum Dasein Verführen. Was ist nun eigentlich jenes Lächeln, jenes Verführerische? Negativ: das Verbergen der Noth, das Wegstreichen aller Falten und der heitre Seelenblick des Dinges. "Sieht Helena in jedem Weibe" die Gier zum Dasein verbirgt das Unschöne. Negation der Noth, entweder wahrhafte oder scheinbare Negation der Noth ist das Schöne. Der Laut der Muttersprache im fremden Land ist schön. Das schlechteste Tonstück kann noch als schön empfunden werden im Vergleich zu widerlichem Geheul, während es anderen Tonstücken gegenüber als häßlich empfunden wird. So steht es auch mit der Schönheit der Pflanze usw. Es muß sich entgegenkommen das Bedürfniß der Negation der Noth und der Anschein einer solchen Negation. Worin besteht nun dieser Anschein? Das Ungestüme, die Gier, das Sichdrängen, das verzerrte Sich-ausrecken darf nicht bemerkbar sein. Die eigentliche Frage ist: wie ist dies möglich? Bei der schrecklichen Natur des Willens? Nur durch eine Vorstellung, subjektiv: durch ein vorgeschobenes Wahngebilde, das das Gelingen des gierigen Weltwillens vorspiegelt; das Schöne ist ein glücklicher Traum auf dem Gesichte eines Wesens, dessen Züge jetzt in Hoffnung lächeln. Mit diesem Traum, dieser Ahnung im Kopfe sieht Faust "Helena" in jedem Weibe. Wir erfahren also, daß der Individualwille auch träumen kann, ahnen kann, Vorstellungen und Phantasiebilder hat. Der Zweck der Natur in diesem schönen Lächeln seiner Erscheinungen ist die Verführung anderer Individuen zum Dasein. Die Pflanze ist die schöne Welt des Thieres, die gesammte Welt die des Menschen, das Genie die schöne Welt des Urwillens selbst. Die Schöpfungen der Kunst sind das höchste Lustziel des Willens. Jede griechische Statue kann belehren, daß das Schöne nur Negation ist. - Den höchsten Genuß hat der Wille bei der dionysischen Tragödie, weil hier selbst das Schreckensgesicht des Daseins durch ekstatische Erregungen zum Weiterleben reizt. 7 [28] Die platonische Idee ist das Ding mit der Negation des Triebes (oder dem Schein der Negation des Triebes). Der Wohlklang beweist, wie richtig der Satz von der Negativität ist. 7 [29] Die Tragödie ist schön, insofern der Trieb, der das Schreckliche im Leben schafft, hier als Kunsttrieb, mit seinem Lächeln, als spielendes Kind erscheint. Darin liegt das Rührende und 99
Ergreifende der Tragödie an sich, daß wir den entsetzlichen Trieb zum Kunst- und Spieltrieb vor uns sehn. Dasselbe gilt von der Musik: sie ist ein Bild des Willens in noch universellerem Sinne als die Tragödie. In den andern Künsten lächeln uns die Erscheinungen an, im Drama und der Musik der Wille selbst. Je tiefer wir von der Unseligkeit dieses Triebes überzeugt sind, um so ergreifender wirkt dies sein Spiel. 7 [30] Man muß nur etwas sein, damit einem die Welt als etwas erscheint, was nicht sein soll. 7 [31] Das Weib der Plat Polit<eia>. Es ist dies keine Versündigung am heroischen Weibe der Dichtung, ebensowenig das athenische Weib. Stimme der Natur redet aus ihnen, in die sein Sinne weise (Pythia Diotima). Tacitus. Daß die Stellung der Frau in Griechenland eine unnatürliche gewesen sei, wird schon durch die großen Männer widerlegt, die von ihnen geboren wurden. Das Weib schwer zu verderben: es bleibt sich gleich: Geringfügigkeit des Familienwesens. Der Knabe wurde im Staat erzogen. Die Erziehung der Familie ist ein Nothbehelf, wenn der Staat schlecht ist und seiner Kulturbestimmung entfremdet. Es ist das Weibische in unsrer Kultur, was die Weltanschauung verzärtelt: die griechischen Männer sind grausam wie die Natur. Die Wahnvorstellungen des Weibes sind andre als die der Männer: je nachdem die einen oder die andren in der Erziehung siegen, hat die Cultur etwas Weibisches oder Männliches. Die Bruderliebe der Antigone. - Für den Staat ist das Weib die Nacht: und genauer der Schlaf: der Mann das Wachen. Es thut scheinbar nichts, es ist immer gleich, ein Rückfall zur heilenden Natur. In ihm träumt die zukünftige Generation. Warum ist die Kultur nicht weibisch geworden? Trotz der Helena, trotz Dionysus. Richtige Stellung des Weibes: Zerreißung der Familie. Ist nicht der Mann schlimmer daran mit den schrecklichen Anforderungen, die der Staat an ihn macht? Das Weib hat zu gebären und ist deshalb zum besten Berufe des Menschen da, als Pflanze zu leben, λαϑ ε βιωσζ. Sie arbeiten nicht, die Drohnen nach Hesiod. 7 [32] 1) Wer möchte bezweifeln, daß die ganze Heroenwelt nur des Homers wegen da war? Und daß Demodokus und Phemios jene Einzelnen sind? 7 [33] Der blinde Sänger als Symbol jenes Einzelnen, der zugleich Seher und Priester ist. 7 [34] Das Weib. Das Orakel. 7 [35]
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Schön. Erziehung. Der tragische Mensch. Mysterien. Wissenschaft. 7 [36] Die Einzelnen sollen die Lehrer sein, als die geistigen Mütter einer neuen Generation, zur Erzeugung neuer Einzelner. 7 [37] Das Nationalitätenprincip ist eine barbarische Rohheit gegenüber dem Stadt-Staat. In dieser Beschränkung zeigt sich der Genius, der auf Masse nichts giebt, sondern am Kleinen mehr erfährt als Barbaren an Großem. Die kurze Dauer ist ebenfalls Zeichen des Genius. Am Schluß eine Vergleichung Griechenlands mit dem Genie. Rom als der typische Barbarenstaat, bei dem der Wille nicht zu einem höheren Ziele gelangt. Er hat eine derbere Organisation und eine plumpere Moralität. letztere ist eine Waffe und Schutzwehr, weil so derbe Fäuste mit perversen Neigungen verknüpft alles niederschlagen würden, und einen völligen Ruin herbeiführen würden. Wer hat Ehrfurcht vor dem Koloss? 7 [38] Damit das Weib den Staat ergänzt, muß sie das Ahnungsvermögen haben. Im höchsten Sinn Pythia; wo sonst bei Männern dies Vermögen auftritt, da ist es ein Zeichen des "Einzelnen". Der blinde Tiresias als Seher, Pythagoras Lykurg als Symbole: ursprünglich wohl apollinische Geburten. Ausdruck, daß man dies fühlt: man baut Heiligthümer für Sophocles (als HeilGenius). Die Einzelnen sollen die Mütter einer neuen Generation von Einzelnen sein. 7 [39] Das Weib als Quelle des Übels, des troischen Kriegs usw. 7 [40] Der Einzelne des Staatszieles - nun kommt aber noch der Einzelne des Weltzieles, eine zusammengeschmolzene Masse von Individuen, der Mensch als Kunstwerk, Drama, Musik. Dem Staate gegenüber stehen die Mysterien. Hier ist die höhere Daseinsmöglichkeit, auch bei Vernichtung des Staats. 7 [41] 101
Wie geht das Staatskunstwerk zu Grunde? An der Wissenschaft. Woher diese? Abwendung von der Weisheit, Mangel an Kunst. Das Schöne. Das Heilige (als Zielpunkt der Mysterien- und Tragödienlehre). Der Anachoret mit seinen Visionen. Drama. Der tragische Mensch - Empedocles. Der Philosoph. Einleitung. Erziehung. Neue Kulturperiode. Griechische Heiterkeit. 7 [42] Wissenschaft aus der Redekunst, Redekunst aus dem politischen Trieb. Der "Beweis". Der Sophist ist immer Typus des Gelehrten geblieben. Der nüchterne Mensch ist es, an den die Rede sich wendet: Interesse soll erregt werden. 7 [43] Das deutsche Weib vermochte den Staat zu ergänzen: siehe Tacitus. Während es jetzt die geputzte Sklavin des Staatsbegriffes ist. Vergleich mit der Hetäre des Alterthums. 7 [44] Der Staat, der sein letztes Ziel nicht erreichen kann, pflegt unnatürlich-groß anzuschwellen. Das Weltreich der Römer ist im Vergleich mit Athen nichts Erhabenes. Die Kraft, die eigentlich der Blüthe zukommen soll, bleibt jetzt an Blätter und Stamm vertheilt, die nun strotzen. 7 [45] Elendes Geschlecht der jetzigen Bildungsapostel; gehen wir schweigend über dasselbe hinweg: dabei wird es zermalmt. 7 [46] Wenn das Schöne auf einem Traum des Wesens beruht, so das Erhabene auf einem Rausche des Wesens. Der Sturm auf dem Meere, die Wüste, die Pyramide. Ist das Erhabene der Natur eigenthümlich? Wodurch entsteht ein schöner Akkord? Wodurch wird die Freiheit vom Willen erzeugt, vom Ausdruck des Willens? Das Übermaß des Willens bringt die erhabenen Eindrücke hervor, die überladenen Triebe? Die schaurige Empfindung der Unermeßlichkeit des Willens. Das Maaß des Willens bringt die Schönheit hervor. 102
Das Schöne und das Licht, das Erhabene und das Dunkel. 7 [47] Kant sagt einmal, ihm sei jene Natureinrichtung, alle Fortpflanzung an die Duplicität des Geschlechts zu knüpfen, jederzeit als erstaunlich und wie ein Abgrund des Denkens für die menschliche Vernunft aufgefallen. 7 [48] Die sentimentalischen Griechen können sich nicht aussprechen, und das Aussprechen verhindert der hellenische Wille. Daher das Naive des Ausdrucks. Das Sentimentalische ist oft das Resultat der gewußten Weisheit. Das Naive bei Sophokles ist oft nur die Altklugheit des Bewußtseins im primitiven Standpunkt. Aeschylus der sentimentalische. Das Naive ist überall ein Mangel. Es ist das Kindliche des Genies, mit der unschwankenden Sicherheit und harmlosen Hingabe an sich. 7 [49] Wie es Staaten giebt, die nicht zur Kunst kommen, so auch Pflanzen ohne Blüthe: die feisten Blätter und strammen Zweige entschädigen uns nicht! 7 [50] Zu erwähnen die St. Johann- St. Veittänzer! 7 [51] Beim Staat einzelnes auszuführen - das Weib als Schlaf! 7 [52] Wie die Natur die Zeugung an die Duplizität der Geschlechter gebunden hat, so hat sie die höchste Zeugung, des Kunstwerks, an die Individuation überhaupt gebunden. 7 [53] ουδειζ µυουµενοζ οδυρεται. Wodurch entrückt der hellenische Wille den Menschen aus der Leidensgewalt des Daseins? Bei der Stärke aller Triebe war das Leben der Hellenen leidensreicher. Welches war das Gegenmittel! 7 [54] 103
Woher die Ungebrochenheit, der feste Blick des Phidias? Des Homer? Eine unbeugsame Metaphysik, aber zu feierlichen Momenten aufbewahrt: in der das ganze Götterwesen verschwand. Ziel des Staats: Apollo. Ziel des Daseins: Dionysus. 7 [55] Zagreus als Individuation. Demeter freut sich wieder in Hoffnung auf eine neue Geburt des Dionysos. Diese Freude - als die Verkünderin der Geburt des Genius - ist die hellenische Heiterkeit. 7 [56] Orpheus, antimythologisch, buddhistisch. Pythagoras, wie Heraklit, verwirft die dionysischen Orgien. 7 [57] Die Sicherheit des hellenischen Künstlers - auf Grund einer unverrückbaren Metaphysik. Dies ist die Naivetät im Gegensatz zur Sentimentalität (hier ist der Untergrund morsch geworden). Auf Grundlage dieser Sicherheit entwickelt sich das Denken. 7 [58] Nothwendige Widersprüche im Denken, um leben zu können. Das logische Denken mit der Sehnsucht zur Wissenschaft schafft eine neue Daseinsform. Das reine Denken sucht sich alles zu erklären und wirkt nicht aktiv und umgestaltend. - Die Wissenschaft ist eine µηχανη des Willens, um eine Masse Experimente und Neuerungen fern zu halten: der ανϑ ρωποζ ϑ εωπρητικοζ, als Feind der Künste der Mysterien, ist der Bewahrer des Alterthums: sollte dies die Absicht des Willens gewesen sein? Fortexistenz der großen Kunstwerke? 7 [59] Magischer Einfluß des Menschen auf die Natur. 7 [60] Es ist in den ersten Aufsätzen auf spätere Modifikation zu verweisen. 7 [61] Die Individuation - dann die Hoffnung auf Wiedergeburt des einen Dionysus. Alles wird dann Dionysus sein. Die Individuation ist die Marter des Gottes - kein Eingeweihter trauert mehr. Das empirische Dasein ist etwas, was nicht sein sollte. Die Freude ist möglich in Hoffnung auf diese Wiederherstellung. - Die Kunst ist eine solche schöne Hoffnung. 104
∆ιονσοζ ωµηστηζ und αγριωνοζ = Ζαϕρευζ. Ihm opfert Themistokles vor der Schlacht bei Salamis drei Jünglinge. 7 [62] Die höchste apollinische Vorbereitung liegt in der Helligkeit Mäßigkeit seiner Ethik. Die Wissenschaft ist eine Konsequenz. Abschwächung - des Schrecklichen des Daseins. Strenge Maßhaltung des Menschen. Sein Ziel der priesterliche Künstler. Pythagoras typisch: der epische Dichter. - Also die "Einzelnen" des Apollo sind "priesterliche Dichter". Die Tragödie ist nicht aus Apollo zu erklären. Die Mysterien - neuer Mechanismus. Hier war die Verwunderung über das Dasein nicht abgeschwächt, es wurde tief beklagt als die Zerreißung des Gottes. Ein starke Metaphysik legte schließlich die Freude wieder ins Gesicht. 7 [63] Wir präludieren nur in den ersten Aufsätzen. 7 [64] Der apollinische Einzelne außerhalb des Staats - der ανϑ ρωποζ ϑ εωρητικοζ. Überladener apollinischer Trieb -geht über die Kunst weg. Der dionysische Einzelne außerhalb des Staats - der Anachoret. Überladener dionysischer Trieb - geht über die Kunst weg. Wesen des Schönen. Wesen des Tragischen. Vorstellung - Gegensatz der Selbstzerfleischung - Selbstgenuß - nur möglich durch Selbstzerspaltung. Ganz Genuß - Schönheit. Genuß in der Zerfleischung - Erhabenheit. Einleitung. Griechische Heiterkeit. 7 [65] Erziehung. Die einfachen Griechen. Die "Beschaulichen". Das Präludiren. Allmähliches Heraustreten des Hellenischen aus der Verschleierung. 7 [66] Zum Schluß: an Winckelmann anzuknüpfen: Erklärung der Einfalt und Würde des Hellenischen. 105
7 [67] Dies ist wohl der entfremdetste Blick, den gerade diese Kriegs- und Siegszeit gethan hat. Modernes Anachoretenthum , das Mitleben mit dem Staate unmöglich. 7 [68] Bedürfniß nach einem vollen Kunstwerk. 7 [69] Wer einmal so etwas W's Werken gegenüber empfunden hat, der ist gebannt. Doch sind es wenige: worüber wir uns nicht wundern wollen. 7 [70] Höhepunkt: die Vereinigung von Dionysus und Apollo. Jetzt aber wachsen die einzelnen Principien wieder von einander ab. Sokrates. Euripides. Plato. 7 [71] Die Natur kein Gegenstand sentimentalischen Interesses. 7 [72] Das Nebeneinander von Apollo und Dionysus, nur kurze Zeit - ist die Zeit der Kunstwerke. Dann steigern sich beide Triebe - je großartiger der Radikalismus des Denkens, um so großartiger wird die Entfaltung des Dionysischen. Der absolute Staat, die absolute Mystik, die absolute Wissenschaft (Rom, Christenthum, Aristoteles), Pflanze ohne Blüthen. Alexander der absolute Staat, Aristoteles die absolute Wissenschaft. (Der absolute Genius der Mystik.) Die Geburt des Genius bedarf einer ungeheuren Vorarbeit, anderseits sind die Nachwirkungen jener vorbereitenden Triebe unermeßlich. Irgendwann müssen die vorbereitenden Triebe nun absolut sich entfesseln. Sodann macht der Wille unzählige Ansätze, ehe er es zu einer Frucht bringt. Die Empedokleische Anschauung. Das Lächeln auf dem Gesicht der Demeter. 7 [73] Die Sophisten sind zu nennen. Am Schluß Zweck der Vorstellung. 7 [74] Reform der Alterthumsstudien. Winckelmann. Sprachstudium verstehe ich. Aber ein klassischer Philologe muß viel mehr sein als ein wissenschaftlicher Mensch: er muß der typische Lehrer sein. Oder er muß viel weniger sein:
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ein schlichter Sammler, der es sich dann gefallen lassen muß, wenn ihm ein kühnerer Geist das Gesammelte wegnimmt. Künstlerische Kritik - Blödsinn! Was kann überhaupt gelehrt werden! Wie kann man als "Lehrer" existieren! Die griechischen Philosophen sind uns Muster. Zuruf an meine Freunde. -Wenn Philologie nicht Krämerei oder Heuchelei sein soll, so ist bei ihr ein Fortleben im alten Kreise nicht möglich. "Lessing" auf die Dauer nicht möglich. 7 [75] Es ist consequent, daß die Sprachwissenschaft nichts mit der klassischen Philologie zu thun haben will. Nur die halben Naturen suchen einen Kompromiß. "Man soll einen Zug zu den Alten haben" wozu ich hinzu fügen muß: nur darf er nicht zu stark sein. Sonst wird man gewiß kein "klassischer Philologe". In diesem Sinn warne ich vor der Philologie. 7 [76] Auch die Päderastie der Alten ist zu erwähnen, als eine nothwendige Konsequenz jener Überladung des Triebes. 7 [77] Ursprung der Sprache. Homer und Hesiod. Klassische Philologie. Rhythmik. Plato. 7 [78] Von Homer bis Socrates. Eine aesthetische Abhandlung. Vorwort an R W
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7 [79] Wenn Friedrich August Wolf die Nothwendigkeit der Sklaven im Interesse einer Kultur behauptet hat, so ist dies eine der kräftigen Erkenntnisse meines großen Vorgängers, zu deren Erfassung die Anderen zu weichlich sind. 7 [80] Die absolute Mystik, obschon sie Namen und Anstoß aus dem Orient bekommt, zeigt doch in dem durchaus griechischen Erzeugniß des Johannesevangeliums sich als die Frucht desselben Geistes, aus dem die Mysterien geboren waren. 7 [81] Oedipus - der Magier und die Sphinx - der weise Mensch als Ziel der Mysterien (Verklärung nach der Zerreißung). Die Orakel (sein Greuelschicksal wissen die Götter). Oedipus traut dem politischen Triebe zu, daß er vernichtet werden soll. Das Weib. Oedipus leidet symbolisch für den Willen: und so ist jeder Held Symbol des Dionysos. Gellert "dem der nicht viel Verstand besitzt", usw. Dies ist das Typische der antiken Figuren, eine Gottheit ist hinter ihnen. Wie geht das Drama, das Miteinander von Apollo und Dionysus zu Grunde? Die Charaktere verlieren den Bezug zu dem Gotte. Bacchen - Dionysos als αγριωνιοζ ωµηστηζ und µειλιχιοζ. Protest gegen den Socratismus. (Vom Opfer des Themistocles.) Der Zweck des Daseins wird nie erkannt, sondern immer sind es wieder endliche Zwecke. Dies ist das Apollinische, immer neue Wahnbilder schieben sich vor. Andernseits ist es der Gott, der leidet, Dionysus. Die epischen Heroen als leidende. 7 [82] Schönheit tritt ein, wenn die einzelnen Triebe einmal parallel laufen, aber nicht gegen einander. Dies ist ein Genuß für den Willen. 7 [83] Prometheus - einer der Titanen, der den Dionysos zerrissen hat, darum ewig leidend, wie seine Geschöpfe, und gegen Zeus im Gefühl einer kommenden Weltreligion. Nur durch die Zerreißung durch das Titanenwerk ist die Kultur möglich, durch Raub wird die Titanenart fortgesetzt. Prometheus - der Zerreißer des Dionysos und zugleich der Vater der prometheischen Menschen.
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7 [84] In eine solche Welt tritt nun Sokrates - der apollinische Einzelne, der wieder wie Orpheus gegen Dionysos auftritt und selbst von den Mänaden zerrissen wird. Sein Tod ist durch Gründe nicht, aber durch Gefühle verursacht: Gründe mochten nur Elende finden. Er siegte aber doch. An ihn knüpft sich der Verfall der Tragödie. Die Einheit der Tragödie. 7 [85] Apollo Dionysos. Götterwelten. Tragischer Gedanke. Sklave. Staat. Weib Orakel. Mysterien. Oedipus Prometheus Bacchen. Euripides. Socrates. Wissenschaft. Schön. Heilig. Erziehung. 7 [86] Alle Wissenschaft auf den Schein gerichtet, insofern sie streng an der Individuation festhält und die Wesenseinheit nie anerkennt. In diesem Sinn ist sie apollinisch. 7 [87] "Wenn die Kinder greise Köpfe haben". 7 [88]
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1) Ich könnte mir einbilden, man habe deutscher Seite den Krieg geführt, um die Venus aus dem Louvre zu befreien, als eine zweite Helena. Dies wäre die pneumatische Auslegung dieses Krieges. Die schöne antike Starrheit des Daseins durch diesen Krieg inaugurirt - es beginnt die Zeit des Ernstes - wir glauben daß es auch die der Kunst sein wird. 7 [89] Die Griechen haben auf uns bis jetzt bloß mit der einen Seite ihres Wesens gewirkt. 7 [90] 1) Eine Harmonie ohne eine innerste Noth, ohne einen schrecklichen Untergrund - das suchen unsere "Griechen" in den Alten! 7 [91] Es giebt keine schöne Fläche ohne eine schreckliche Tiefe. 7 [92] 1) Die Durchsichtigkeit Klarheit Bestimmtheit und scheinbare Flachheit des griechischen Lebens ist wie bei ganz klarem Seewasser: man sieht den Grund viel höher, es sieht flacher aus als es ist. Gerade dies macht die große Klarheit. 7 [93] Die große Ruhe und Bestimmtheit ist eine Folge der unergründlichen Tiefe der Naturanlage. 7 [94] 2. Bei der sophokleischen Tragödie ist die Sprache den Personen gegenüber gleichsam das Apollinische. Die Figuren werden dadurch übersetzt. An sich sind sie Abgründe wie z. B. der Oedipus. In diesem Sinne ist eine sophokleische Tragödie gewissermaßen ein Abbild des griechischen Wesens. Alles was auf die Oberfläche kommt sieht einfach, durchsichtig, schön aus. Sie tanzen immer schön - wie im Tanze die größte Kraft nur potenziell ist, aber sich in der Geschmeidigkeit und Üppigkeit der Bewegung verräth - so ist das Griechische äußerlich ein schöner Tanz. In diesem Sinn sind sie ein Triumph der Natur, die hier zur Schönheit gekommen ist. Die Motivierung der Tragödie rein apollinisch. Der Dialog die Hauptstätte des Apollinischen. Der Geist der Musik weist immer mehr in's Innere. Schiller über den Chor als den Behälter der Reflexion. 7 [95] Das Schöne, das Drama als die Vision des Anachoreten. 7 [96] 2. Sokrates als Gegner der Mysterien: Beschwörer der Todesfurcht durch Gründe.
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7 [97] Die Festigkeit der Form ist eine apollinische Konsequenz: Maßhaltung der Motivation, der Gründe. 2. Der Mysterienvorgang ist in einen analogen Traum übersetzt und dieser wieder wird von wachen Menschen nacherzählt. Der Chor spricht in der Traumsprache. Wie von dem Anachoreten die Erscheinungen der Welt an sich beim Anschauen in ihm vertraute Personen übersetzt werden - so werden die dionysischen Gestalten in die apollinischen Gestalten übersetzt. Dies gilt von den Masken, Oedipus. Dies gilt auch vom Drama: der Chor, dionysisch verstanden, die Einheit mitleidender Individuen der Held, dionysisch als der "Einzelne", die Willenslust, Dionysus selbst die Einheit des Tänzers, Sängers und Dichters, dionysisch die höchste Geberdensprache der gesammten Natur die Einheit der Handlung die Einheit der Welt, Auflösung der Individuation. die wenigen Schauspieler weil die Individuation durchbrochen ist, giebt es nur einen Dionysus, höchstens zwei Erscheinungen. Es sind keine Individuen (Individuen sind lächerlich), die platonische Idee als Volksbewußtsein. 7 [98] Gegen die dürren abgrasenden Logiker und die lächelnden wohlbeleibten Skeptiker. 7 [99] Voltaire. "Le superflu, comme, est nécessaire!" 7 [100] 1. Bekämpfung der Ansicht daß der Zweck der Menschheit in der Zukunft liege, etwa eine völlige Verneinung en masse. Die Menschheit ist nicht ihretwegen da, in ihren Spitzen, den großen Heiligen und Künstlern liegt das Ziel, also weder vor noch hinter uns. Der Wille erstrebt Heilung, höchste schmerzlose Genüsse. Dazu braucht er die Wahnvorstellungen als die bis zur Heiligung und zum Kunstwerk sich steigernden Trugmechanismen. 7 [101] Die Masken. Die Euripideischen Masken. Sokrates, der Gegner des Dionysus. 111
Die dionysapollin Tragödie. Die Wissenschaft als apollinischer Trieb (als apollinisch im Gegensatz zur Kunst). Das Schöne (von der Mißachtung der Neueren auszugehen, eine schlechte Erkenntniß). Welche Form des Erkennens kann der Kunst allein gerecht werden? Die tragische Wissenschaft, die sich wie Empedokles in den Aetna stürzt. Das Wissen ohne Maß und Grenze. Dieser Trieb muß sogar die Kunst erzeugen, als die Heilerin. In diesem Sinne ist unsre Kulturaufgabe zu fassen. Vernichtung all jener schwächlichen libertinistischen Erscheinungen, Erziehung zum Ernst und zum Schrecken, wie Wüstenreisende. Vorsicht, daß der Apollinismus der Wissenschaft nicht durchbricht. Möglichkeit der Erziehung. Terrorismus der tragischen Erkenntniß. "Ach Freunde, nicht diese Töne!" usw. Das Philosophen-Idyll. 7 [102] An der olympischen Götterwelt konnten sich alle die skeptischen Meinungen entladen. Anders bei Sokrates, der den Mysterien gegenüber ablehnend ist, im Übrigen sich an Apollo hält (wie die Schwäne, die Diener des Apollo). 7 [103] "Lessing" auf die Dauer unmöglich: bis jetzt das Ideal. 7 [104] Sonderbare Schwärmer, die im Absterben der Menschheit das Heil und Ziel des Willens sehen! 7 [105] Griechische Volksbegabung für die platonische Idee, z. B. Geschlechtsfluch, Staat, dionysische Schwarmzüge. Ihre Mythologie. 7 [106] Zur Lehre vom Traum: Lucretius V und Phidias, Heracles, dann Sophocles. 7 [107] Sophocles als Diener des Asclepios verehrt. 7 [108] 112
Gleichniß mit der Pest. 7 [109] Griechische Heiterkeit. Mit einem Vorwort an Richard Wagner. Von Dr. Friedrich Nietzsche Professor o. p. in Basel. 7 [110] Ich habe den Verdacht, daß die Dinge und das Denken mit einander nicht adäquat sind. In der Logik nämlich herrscht der Satz des Widerspruches, der vielleicht nicht bei den Dingen gilt, die Verschiedenes, Entgegengesetztes sind. 7 [111] In den höchsten Formen des Bewußtseins wird die Einheit wiederhergestellt: in den niedern zerbröckelt sie immermehr. Aufhebung oder Schwächung des Bewußtseins ist somit = Individuation. - Das Bewußtsein ist aber andernseits nur ein Existenzmittel für die Fortexistenz von Individuen. Hier ist die Lösung diese: als Mittel den Intellekt anzusehen gebietet der Wahn. 7 [112] Der Vorstellungsmechanismus. Philosophie der Kunst. Das Religiöse. Die Ethik. 7 [113] 1) Ich würde aus meinem idealen Staate die sogenannten "Gebildeten" hinaustreiben, wie Plato die Dichter: dies ist mein Terrorismus. 7 [114] Die neuere deutsche Romanschriftstellerei als eine Frucht der Hegelei: das Erste ist der Gedanke, der nun künstlich exemplificirt wird. So der Stil bei Freytag: ein allgemeiner blasser Begriff, durch ein paar realistische Wörtchen aufgestutzt. Der Goethesche homunculus. Dies Gesindel, im Lobe der Romandichtung als der einzig zeitgemäßen, schafft eine Aesthetik aus 113
seinen Gebrechen. Gutzkow als mißrathener Philosoph ist der transformed disformed, im Ganzen eine Karrikatur des Schillerschen Verhältnisses von Philosophie und Poesie. Bei Shakespeare, wenn er Gedanken giebt, oft ein abgeschwächtes, ja absichtlich zerstörtes Bild. (Die anonyme Lyrik.) 7 [115] Griechische Heiterkeit. Das Germanische. 7 [116] Ein Naturschönes giebt es nicht. Wohl aber das Störende-Häßliche und ein indifferenter Punkt. Man denke an die Realität der Dissonanz gegenüber der Idealität der Konsonanz. Produktiv ist also der Schmerz, der als verwandte Gegenfarbe das Schöne erzeugt - aus jenem indifferenten Punkte. Excentrisches Beispiel an dem gemarterten Heiligen, der eine schmerzlose, ja wonnereiche Verzückung fühlt. Wie weit geht nun diese Idealität? Diese ist eine fortwährend lebende wachsende, eine Welt in der Welt. Ist nun aber die Realität vielleicht nur der Schmerz, und daher die Vorstellung geboren? Welcher Art ist aber dann der Genuß?. Der Genuß an etwas nicht Realem, nur Idealem? Und ist vielleicht alles Leben, soweit es Genuß ist, nichts als eine solche Realität? Und welches ist jener indifferente Punkt, den die Natur erreicht? Wie ist Schmerzlosigkeit möglich? Die Anschauung ist ein aesthetisches Produkt. Was ist dann real? Was ist das Anschauende? Vielheit des Schmerzes und Indifferenz desselben als Zustände eines Wesens möglich? Was ist das Wesen noch in jenen Indifferenzpunkten? Ist die Zeit vielleicht, ebensowie der Raum aus diesen Indifferenzpunkten zu erklären? Und ist die Vielheit des Schmerzes vielleicht wieder aus jenen Indifferenzpunkten abzuleiten? Hier ist wichtig die Vergleichung des Kunstwerks zu jenem indifferenten Punkt, aus dem es entsteht und Vergleichung der Welt aus einem schmerzleeren Punkte. An dieser Stelle erzeugt sich die Vorstellung. - Die Subjektivität der Welt ist nicht eine anthropomorphische Subjektivität, sondern eine mundane: wir sind die Figuren im Traum des Gottes, die errathen wie er träumt. 7 [117] Die künstlerische Lust muß auch ohne Menschen vorhanden sein. Die bunte Blüthe, der Pfauenschweif verhält sich zu seinem Ursprung, wie die Harmonie zu jenem indifferenten Punkt, d. h. wie das Kunstwerk zu seinem negativen Ursprung. Das was dort schafft, künstlerisch schafft, wirkt im Künstler. Was ist nun das Kunstwerk? Was ist die Harmonie? Jedenfalls eben so real wie die bunte Blume. Wenn aber die Blume, der Mensch, der Pfauenschweif negativen Ursprungs sind, so sind sie wirklich wie die "Harmonien" eines Gottes, d. h. ihre Realität ist eine Traumrealität. Wir brauchen dann ein die Welt als Kunstwerk, als Harmonie produzirendes Wesen, der Wille erzeugt dann gleichsam aus der Leere, der Πενια, die Kunst Ποροζ. Alles Vorhandene ist dann sein Abbild, auch in der künstlerischen Kraft. Der Krystall, die Zellen usw.
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Richtung der Kunst, die Dissonanz zu überwinden: so strebt die aus dem Indifferenzpunkte entstandene Welt des Schönen, die Dissonanz als das an sich Störende mit in das Kunstwerk hinüberzuziehn. Daher der allmähliche Genuß an der Molltonart und der Dissonanz. Das Mittel ist die Wahnvorstellung, überhaupt die Vorstellung, mit der Grundlage, daß ein schmerzfreies Anschauen der Dinge hervorgebracht wird. Der Wille als höchster Schmerz erzeugt aus sich eine Verzückung, die identisch ist mit dem reinen Anschauen und dem Produziren des Kunstwerks. Der physiologische Prozeß ist welcher? Eine Schmerzlosigkeit muß irgenwo erzeugt werden - aber wie? Es erzeugt sich hier die Vorstellung, als Mittel für jene höchste Verzückung. Die Welt ist nun beides zugleich, als Kern der eine schreckliche Wille, als Vorstellung die ausgegossene Welt der Vorstellung, der Verzückung. Die Musik beweist, wie jene ganze Welt in ihrer Vielheit nicht mehr als Dissonanz empfunden wird. Das Leidende, Kämpfende, sich Zerreißende ist immer nur der eine Wille: er ist der vollkommene Widerspruch als Urgrund des Daseins. Die Individuation ist also Resultat des Leidens, nicht Ursache. Das Kunstwerk und der Einzelne ist eine Wiederholung des Urprozesses, aus dem die Welt entstanden ist, gleichsam ein Wellenring in der Welle. 7 [118] Was ist das Gefühl für Harmonie? Einmal Wegnehmen der mitklingenden Obertöne, anderseits Nicht-Einzelnhören derselben. 7 [119] "Serpens nisi serpentem comederit, non fit draco." Ursprung und Ziel der Tragoedie. Eine aesthetische Abhandlung mit einem Vorwort an Richard Wagner. Von Dr. Friedrich Nietzsche Professor o. p. in Basel.
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Laß dich tadeln für's Gute und laß dich loben für's Schlechte: Fällt dir eines zu schwer, schlage die Leier entzwei. Hebbel. 7 [120] Tragoedie und dramatischer Dithyramb. Dionysisch Apollinisch. Der apollinische Genius und seine Vorbereitung. Der dionysische Genius und seine Geburt. Der Doppelgenius. Die Oper. Die Tragödie. Der Dithyramb. Das Drama: Euripides. Shakespeare. Richard Wagner. 7 [121] Die Pflanze, die es im rastlosen Kampfe um das Dasein nur zu verkümmerten Blüthen bringt, blickt uns, nachdem sie durch ein glückliches Verhängniß diesem Kampfe enthoben ist, plötzlich mit dem Auge der Schönheit an. Was die Natur mit diesem überall und sofort durchbrechenden Willen der Schönheit uns zu sagen hat, das ist erst an späterer Stelle zu besprechen: hier genüge uns auf diesen Trieb selbst aufmerksam gemacht zu haben, weil wir aus ihm etwas über den Zweck des Staates zu lernen haben. Die Natur strengt sich an zur Schönheit zu kommen: ist diese irgendwo erreicht, dann sorgt sie für die Fortpflanzung derselben: wozu sie einen höchst künstlichen Mechanismus zwischen Thier- und Pflanzenwelt braucht, wenn es gilt die schöne einzelne Blüthe zu perpetuiren. Einen ähnlichen, noch viel künstlicheren Mechanismus erkenne ich im Wesen des Staates, der mir auch, seinem letzten Zweck nach, eine Schutz- und Pflegeanstalt für Einzelne, für den Genius zu sein scheint, so wenig auch der grausame Ursprung und das barbarische Gebahren desselben auf solche Ziele hindeutet. Auch hier haben wir zwischen einem Wahnbilde zu unterscheiden, das wir mit Gier zu erreichen suchen, und einem wirklichen Zwecke, den der Wille durch uns, vielleicht selbst gegen unser Bewußtsein, zu erreichen weiß. Auch in dem ungeheuren Apparat, mit dem das Menschengeschlecht umgeben ist, in dem wilden Durcheinander-Treiben der egoistischen Ziele handelt es sich zuletzt um Einzelne: doch ist dafür gesorgt, daß diese Einzelnen ihrer abnormen Stellung nicht froh werden. Schließlich sind auch sie nichts als Werkzeuge des Willens und haben das Wesen des Willens an sich zu erleiden: aber etwas ist in ihnen, für das der Reigentanz der Gestirne und der Staaten als ein Schauspiel aufgeführt wird. Auch hierin ist die griechische Welt aufrichtiger und einfacher als die anderer Völker und Zeiten: wie 116
überhaupt die Griechen das mit den Genien gemein haben, daß sie wie die Kinder und als Kinder treu und wahrhaftig sind. Nur muß man mit ihnen sprechen können, um sie zu verstehn. Der griechische Künstler richtet sich mit seinem Kunstwerk nicht an den Einzelnen, sondern an den Staat: und wiederum war die Erziehung des Staates nichts als die Erziehung Aller zum Genuß des Kunstwerks. Alle großen Schöpfungen, der Plastik und Architektur sowohl als der musischen Künste, haben große, vom Staate gepflegte, Volksempfindungen im Auge. Insbesondre ist die Tragödie alljährlich ein feierlich von Staatswegen vorbereiteter und das ganze Volk vereinigender Akt. Der Staat war ein nothwendiges Mittel der Kunstwirklichkeit. Wenn wir aber jene einzelnen Wesen als das eigentliche Ziel der Staatstendenz zu bezeichnen haben, jene in künstlerischer und philosophischer Arbeit sich verewigenden Menschen: so darf uns auch die ungeheure Stärke des politischen, im engsten Sinne des heimatlichen Triebes als eine Bürgschaft erscheinen, daß jene Reihenfolge einzelner Genien eine continuirliche ist, daß der Boden, aus dem sie allein erwachsen können, nicht durch Erdbeben zerrissen und in seiner Fruchtbarkeit gehemmt wird. Damit der Künstler entstehen kann, brauchen wir jenen drohnenartigen, der Sklavenarbeit enthobenen Stand: damit das große Kunstwerk entstehen könne, brauchen wir den concentrirten Willen jenes Standes, den Staat. Denn nur dieser, als magische Kraft, kann die egoistischen Einzelnen zu den Opfern und Vorbereitungen zwingen, die eine Verwirklichung großer Kunstpläne voraussetzt: wozu fast zu allererst die Erziehung des Volkes gehört, deren Ziel die Einsicht in die Exemption jener Einzelnen ist, zusammen mit der Wahnvorstellung, als ob die Menge selbst durch ihre Theilnahme, ihr Urtheil, ihre Bildung die Entfaltung jener Genien zu fördern habe. Hier sehe ich überall nur die Wirkung eines Willens, der um sein Ziel, seine eigne Verherrlichung in Kunstwerken, zu erreichen, zahlreiche in einander verschlungene Wahngebilde über die Augen seiner Geschöpfe legt, die bei weitem mächtiger sind als selbst die verständige Einsicht, daß man getäuscht ist. Je stärker aber der politische Trieb ist, um so mehr ist die continuirliche Abfolge von Genien garantirt: vorausgesetzt, daß nicht der bei weitem überladene Trieb gegen sich selbst zu wüthen anfängt und seine Zähne in das eigne Fleisch schlägt: in welchem Falle Kriege und Parteikämpfe die leidigen Folgen sind. Doch scheint es fast, als ob der Wille von Zeit zu Zeit solche Selbstzerfleischungen als ein Ventil gebraucht, auch hierin seiner entsetzlichen Natur getreu. Wenigstens pflegt der durch solche Ereignisse regulirte politische Trieb mit neuer und überraschender Kraft an der Vorbereitung der Geburt des Genius zu arbeiten. Jedenfalls aber ist festzuhalten, daß in der Überladung des politischen Triebes bei den Griechen die Natur Zeugniß davon ablegt, was sie auf künstlerischem Gebiete diesem Volke zumuthet: in diesem Sinne ist das schreckliche Schauspiel der sich zerreißenden Parteien etwas Verehrungswürdiges: denn mitten aus diesem Sich-Drängen und -Stoßen erhebt sich der nie gehörte Gesang des Genius. 7 [122] [ ... ] Freilich giebt es eine Seite in der platonischen Auffassung des Weibes, die in schroffem Gegensatze zur hellenischen Sitte stand: Plato giebt dem Weibe völlige Theilnahme an den Rechten, Kenntnissen und Pflichten der Männer und betrachtet das Weib nur als das schwächere Geschlecht, das es in Allem nicht gerade weit bringen werde: ohne ihm doch deshalb das Anrecht auf jenes Alles streitig zu machen. Dieser fremdartigen Anschauung haben wir nicht mehr Werth beizulegen als der Vertreibung des Künstlers aus dem Idealstaate: es sind dies kühn verzeichnete Nebenlinien, gleichsam Abirrungen der sonst so sichren Hand und des so ruhig betrachtenden Auges, das sich mitunter einmal, im Hinblick auf den verstorbenen Meister, unmuthsvoll trübt: in dieser Stimmung übertreibt er die Paradoxien desselben und thut sich ein Genüge, seine Lehren recht excentrisch, bis zur 117
Tollkühnheit, im Übermaß seiner Liebe, zu steigern. Das Innerste aber, was Plato als Grieche über die Stellung des Weibes zum Staat sagen konnte, war die Forderung, daß im vollkommnen Staate die Familie aufhören müsse. Sehen wir jetzt davon ab wie er, um diese Forderung rein durchzuführen, selbst die Ehe aufhob und an deren Stelle feierliche von Staats wegen angeordnete Vermählungen zwischen den tapfersten Männern und den edelsten Frauen setzte, zur Erzielung eines schönen Nachwuchses. In jenem Hauptsatze aber hat er eine wichtige Vorbereitungsmaßregel des hellenischen Willens zur Erzeugung des Genius auf das deutlichste - ja zu deutlich, beleidigend deutlich - bezeichnet. Aber auch in der Sitte des hellenischen Volks war das Anrecht der Familie auf Mann und Kind auf das geringste Maaß beschränkt: der Mann lebte im Staate, das Kind wuchs für den Staat und an der Hand des Staates. Der griechische Wille sorgte dafür, daß nicht in der Abgeschiedenheit eines engen Kreises sich das Kulturbedürfniß zu befriedigen wußte. Vom Staate hatte der Einzelne alles zu empfangen, um ihm alles wiederzugeben. Das Weib bedeutet demnach für den Staat, was der Schlaf für den Menschen. In seinem Wesen liegt die heilende Kraft, die das Verbrauchte wieder ersetzt, die wohlthätige Ruhe, in der sich alles Maßlose begrenzt, das ewig Gleiche, an dem sich das Ausschreitende, Überschüssige reguliert. In ihm träumt die zukünftige Generation. Das Weib ist mit der Natur näher verwandt als der Mann und bleibt sich in allem Wesentlichen gleich. Die Kultur ist hier immer etwas Äußerliches, den der Natur ewig getreuen Kern nicht Berührendes, deshalb durfte die Kultur des Weibes dem Athener als etwas gleichgültiges, ja - wenn man sie nur sich vergegenwärtigen wollte, als etwas Lächerliches erscheinen. Wer daraus sofort die Stellung des Weibes bei den Griechen als unwürdig und allzu hart zu erschließen sich gedrungen fühlt, der soll nur ja nicht die "Gebildetheit" des modernen Weibes und deren Ansprüche zur Richtschnur nehmen, gegen welche es einmal genügt, auf die olympischen Frauen sammt Penelope Antigone Elektra hinzuweisen. Freilich sind dies Idealgestalten: aber wer möchte aus der jetzigen Welt solche Ideale erschaffen können? - Sodann ist doch zu erwägen, was für Söhne diese Weiber geboren haben und was für Weiber es gewesen sein müssen, um solche Söhne zu gebären! - Das hellenische Weib, als Mutter, mußte im Dunkel leben, weil der politische Trieb, sammt seinen höchsten Zwecken, es forderte. Es mußte wie eine Pflanze vegetieren, im engen Kreise, als Symbol der epikurischen Weltweisheit: λαϑ ε βιωσαζ. Wiederum mußte es, in der neueren Zeit, bei der völligen Zerrüttung der Staatstendenz, als Helferin eintreten: die Familie als Nothbehelf für den Staat, ist sein Werk: und in diesem Sinne mußte sich auch das Kunstziel des Staates zu dem einer häuslichen Kunst erniedrigen. Daher ist es gekommen, daß die Liebesleidenschaft, als das einzige dem Weibe völlig zugängliche Bereich, allmählich unsre Kunst bis ins Innerste bestimmt hat. Insgleichen, daß die Erziehung des Hauses sich gleichsam als die einzig natürliche geberdet und die des Staates nur als einen fragwürdigen Eingriff in ihre Rechte duldet: dies alles mit Recht, soweit eben vom modernen Staat dabei die Rede ist. - Das Wesen des Weibes bleibt sich dabei gleich, aber ihre Macht ist je nach der Stellung des Staates zu ihnen eine verschiedene. Sie haben auch wirklich die Kraft, die Lücken des Staates einigermaßen zu compensieren - immer ihrem Wesen getreu, das ich mit dem Schlaf verglichen habe. Im griechischen Alterthum nahmen sie die Stellung ein, die ihnen der höchste Staatswille zuwies: darum sind sie verherrlicht worden wie niemals wieder. Die Göttinnen der griechischen Mythologie sind ihre Spiegelbilder: die Pythia und die Sibylle, ebensowie die sokratische Diotima sind die Priesterinnen, aus denen göttliche Weisheit redet. Jetzt versteht man, weshalb die stolze Resignation der Spartanerin bei der Nachricht vom Schlachtentode des Sohns keine Fabel sein kann. Das Weib fühlte sich dem Staate gegenüber in der richtigen Stellung: darum hatte es mehr Würde, als je wieder das Weib gehabt hat. Plato, der durch Aufhebung der Familie und der Ehe jene Stellung des Weibes noch verschärft, empfindet jetzt so viel Ehrfurcht vor ihnen, daß er wunderbarer Weise verführt wird, durch nachträgliche Erklärung ihrer Gleichstellung mit den Männern
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ihre ihnen zukommende Rangordnung wieder aufzuheben: der höchste Triumph des antiken Weibes, auch den Weisesten verführt zu haben! So lange der Staat noch in einem embryonischen Zustande ist, überwiegt das Weib als Mutter und bestimmt den Grad und die Erscheinungen der Kultur: in gleicher Weise wie das Weib den zerrütteten Staat zu ergänzen bestimmt ist. Was Tacitus von den deutschen Frauen sagt inesse quin etiam sanctum aliquid et providum putant nec aut consilia earum aspernantur aut responsa neglegunt, das gilt überhaupt bei allen noch nicht zum wirklichen Staat gekommenen Völkern. Man fühlt in solchen Zuständen nur stärker, was immer wieder in jeder Zeit sich einmal bemerkbar macht, daß die Instinkte des Weibes als die Schutzwehr der zukünftigen Generation unbezwinglich sind und daß in diesen die Natur, in ihrer Sorge für die Erhaltung des Geschlechts, vornehmlich redet. Wie weit diese ahnende Kraft reicht, wird, wie es scheint, durch die größere oder geringere Consolidation des Staates bestimmt: in ungeordneten und mehr willkürlichen Zuständen, wo die Laune oder die Leidenschaft des einzelnen Mannes ganze Stämme mit sich fortreißt, tritt das Weib dann plötzlich als warnende Prophetin auf. Aber auch in Griechenland gab es eine nie schlummernde Sorge: daß nämlich der furchtbar überladene politische Trieb die kleinen Staatswesen in Staub und Atome zersplittere, bevor sie ihre Ziele irgendwie erreichten. Hier schuf sich der hellenische Wille immer neue Werkzeuge, aus denen er schlichtend, mäßigend warnend redete: vor allem aber ist es die Pythia, in der sich die Kraft des Weibes, den Staat zu compensieren, so laut wie nie wieder offenbarte. Daß ein so in kleine Stämme und Stadtgemeinden zerspaltenes Volk doch im tiefsten Grunde ganz war und in der Zerspaltung nur die Aufgabe seiner Natur löste, dafür bürgt jene wunderbare Erscheinung der Pythia und des delphischen Orakels: denn immer, so lange das griechische Wesen noch seine großen Kunstwerke schuf, sprach es aus einem Munde und als eine Pythia. Hierbei können wir die ahnende Erkenntniß nicht zurückhalten, daß die Individuation für den Willen eine große Noth ist und daß er um jene Einzelnen zu erreichen, die ungeheuerste Stufenleiter von Individuen braucht. Allerdings schwindelt uns bei der Erwägung, ob vielleicht der Wille, um zur Kunst zu kommen, sich in diese Welten, Sterne, Körper und Atome ausgegossen hat: mindestens müßte uns dann klar werden, daß die Kunst nicht für die Individuen, sondern für den Willen selbst nothwendig ist: eine erhabene Aussicht, auf die einen Blick zu werfen uns noch einmal von einer andern Stelle erlaubt sein wird. Inzwischen kehren wir zu den Griechen zurück, um uns zu sagen, wie lächerlich der moderne Nationalitätenbegriff sich der Pythia gegenüber ausnimmt, und ein wie ungeschicktes Wünschen es ist, eine Nation als eine sichtbare mechanische Einheit, mit gloriosem Regierungsapparat und militärischem Prunke ausgestattet sehen zu wollen. Die Natur äußert sich, wenn diese Einheit überhaupt vorhanden ist: doch in geheimnißvollerer Weise als in Volksabstimmungen Zeitungsjubel. Ich fürchte, darin daß wir den modernen Nationalitätenbegriff überhaupt gefaßt haben, hat uns die Natur gesagt, daß ihr nicht gerade viel an uns gelegen ist. Zu überladen ist jedenfalls unser politischer Wille nicht, das wird jeder von uns mit Lächeln eingestehn: und der Ausdruck dieser Verkümmerung und Schwäche ist der Nationalitätenbegriff. In solchen Zeiten muß der Genius Einsiedler werden: und wer sorgt uns dafür, daß ihn nicht in der Wüste ein Löwe zerreiße? Im Rückblick auf die letzten Auseinandersetzungen erkennen wir, daß die Pythia der deutlichste Ausdruck und das gemeinsame Centrum aller der Hülfsmechanismen ist, die der griechische Wille in Bewegung setzte, um zur Kunst zu kommen: in ihr, dem wahrsagenden Weibe, reguliert sich der politische Trieb, um sich nicht in Selbstzerfleischung zu erschöpfen und seiner Aufgabe nicht entfremdet zu werden: in ihr offenbart sich Apollo, noch nicht als Kunstgott, aber als heilender sühnender warnender Staatengott, der den Staat immer auf der 119
Bahn erhält, wo er sich mit dem Genius begegnen muß. Aber nicht nur als Pythia, als vorbereitende und wegebahnende Gottheit offenbart er sich. In andern Gestalten tritt er hier und da auf, als "Einzelner" selbst, als Homer, Lykurgus, Pythagoras: man wußte, weshalb diesen Heroen Tempel und göttliche Verehrung zukommmen. Durch die Vorstellung des griechischen Volkes wandelt Apollo dann wieder in der bekannten Gestalt des "Einzelnen": als "blinder Sänger" oder "blinder Seher": die Blindheit ist hier durchaus als Symbol jener Vereinzelung zu verstehen. Und so sorgte Apollo, durch solche ehrwürdige Spiegelungen des "Einzelnen" in der grauen Volksvergangenheit dafür, daß der Blick der Menge für die Erkenntniß des "Einzelnen" in der Gegenwart geschärft blieb, wie er andererseits rastlos bemüht war, durch neue Configurationen neue Einzelne zu erzeugen und durch wundersame Vorzeichen um sie herum einen schützenden Bann zu ziehen. Alle diese apollinischen Zurüstungen haben etwas vom Charakter der Mysterien an sich. Niemand weiß, für wen das ungeheure Schauspiel von kämpfenden Staaten, niedergetretenen Bevölkerungen, mühsam sich bildenden Volksmengen, eigentlich aufgeführt wird, ja es bleibt selbst im Dunkel, ob man Mitspielender oder Zuschauer ist. Und so werden die Einzelnen aus allen jenen ringenden vorwärtsdrängenden Schaaren von unsichtbarer Hand herausgeführt, in einer geheimnißvollen Absicht. Während aber der apollinische Einzelne vor nichts so sehr gehütet wird als vor der entsetzlichen Erkenntniß, daß jenes Wirrsal von leidenden und sich zerfleischenden Wesen in ihm sein Ziel und seinen Zweck habe, benutzt der dionysische Wille gerade diese Erkenntniß, um seine Einzelnen zu einer noch höheren Stufe zu bringen und sich in ihnen zu verherrlichen. Und so läuft neben jener durchaus verschleierten apollinischen Mysterienordnung eine dionysische nebenher, das Symbol einer nur für wenige Einzelne enthüllbaren Welt, von der aber doch vor Vielen durch eine Bildersprache gesprochen werden konnte. Jener Verzückungsrausch der dionysischen Orgien hat sich in den Mysterien gleichsam eingesponnen: es ist derselbe Trieb, der hier und dort waltet, dieselbe Weisheit, die hier und dort kund gethan wird. Wer möchte diesen Untergrund des hellenischen Wesens in seinen Kunstdenkmälern verkennen! Jene stille Einfalt und edle Würde, die Winckelmann begeisterte, bleibt etwas Unerklärliches, wenn man das in der Tiefe fortwirkende metaphysische Mysterienwesen außer Acht läßt. Hier hatte der Grieche eine unerschütterliche gläubige Sicherheit, während er mit seinen olympischen Göttern in freierer Weise, bald spielend bald zweifelnd, umgieng. Darum galt ihm auch die Entweihung der Mysterien als das eigentliche Kardinalverbrechen, das ihm selbst noch furchtbarer erschien als die Auflösung des Demos. 7 [123] Hier ist ohne Weiteres klar, daß nur eine ganz kleine Schaar von Auserwählten in die höchsten Grade eingeweiht werden kann und daß die große Masse ewig in den Vorhöfen stehen bleiben wird: ebenso, daß ohne jene Epopten der letzten Weisheit der Zweck der ehrwürdigen Institution völlig unerreicht bleibt, während jeder der anderen Eingeweihten, im Streben nach einem persönlichen Glück oder einer individuellen Aussicht auf ein schönes Weiterleben, somit im egoistischen Drange auf der Stufe der Erkenntnisse muthig vorwärts schreitet, bis er stehen bleiben muß, dort, wo sein Auge den schrecklichen Glanz der Wahrheit nicht mehr verträgt. An dieser Grenze scheiden sich nun die Einzelnen aus, die, um sich wenig besorgt, von einem schmerzlich vorwärtstreibenden Stachel in jene fressende Helle hineingeführt werden - um dann mit verklärten Blicken zurückzukehren, als ein Triumph des dionysischen Willens, der durch einen wundervollen Wahn auch noch die daseinverneinende letzte Spitze seiner Erkenntniß, den stärksten Speer, der gegen das Dasein selbst gerichtet ist, umbiegt und zerbricht. Für die große Menge gelten ganz andere Lockmittel oder Drohungen: dahin gehört der Glaube daß die Uneingeweihten nach dem Tode im Schlamm liegen werden, 120
während die Eingeweihten einer seligen Fortexistenz gewärtig sein dürfen. Tiefsinniger sind schon andre Bilder, in denen das Dasein in diesem Leben als ein Gefängniß, der Leib als ein Grabmal der Seele angeschaut wurde. Nun aber kommen die eigentlichen dionysischen Mythen von unvergänglichem Gehalt, die wir als den Unterboden des ganzen hellenischen Kunstlebens zu betrachten haben: wie der zukünftige Weltherrscher als Kind (D Z) von den Titanen zerstückelt wird und wie er jetzt in diesem Zustande als Zagreus zu verehren ist. Dabei wird ausgesprochen, daß diese Zerreißung, das eigentliche dionysische Leiden, gleich einer Umwandlung in Luft Wasser Erde und Gestein Pflanze und Thier sei; wonach also der Zustand der Individuation als der Quell und Urgrund alles Leidens, als etwas an sich Verwerfliches betrachtet worden ist. Aus dem Lächeln des Phanes sind die olympischen Götter, aus seinen Thränen die Menschen geschaffen. In jenem Zustand hat Dionysos die Doppelnatur eines grausamen, verwilderten Dämons und eines milden Herrschers (als αγ<ριωνιοζ> und (ωµ<ηαστηζ> und µειλ<ιχιοζ>). Diese Natur offenbart sich in so schrecklichen Anwandlungen, wie in jener Forderung des Wahrsagers Euphrantides vor der Schlacht bei Marathon, man müsse dem Dionysos α<γριωνιοζ> die drei Schwesternsöhne des Xerxes, drei schöne und glänzend geschmückte Jünglinge zum Opfer bringen: dies allein sei die Bürgschaft des Sieges. Die Hoffnung der Epopten gierig auf eine Wiedergeburt des Dionysos, die wir jetzt als ein Ende der Individuation zu verstehen haben: diesem kommenden dritten Dionysus erscholl der brausende Jubelgesang der Epopten. Und nur in dieser Hoffnung giebt es einen Strahl von Freude auf dem Antlitze der zerrissenen, in Individuen zerspaltenen Welt: wie es der Mythus durch die über die Zerreißung des Dionysus in ewige Trauer versenkte Demeter versinnbildlicht, welche zum ersten Male wieder sich freut als man ihr sagt, sie könne den Dionysos noch einmal gebären. In den angeführten Anschauungen haben wir bereits alle Bestandtheile der tiefsinnigsten Weltbetrachtung zusammen: die Grunderkenntniß von der Einheit alles Vorhandenen, die Betrachtung der Individuation als des Urgrundes alles Übels, das Schöne und die Kunst als die Hoffnung daß der Bann der Individuation zu zerreißen sei, als die Ahnung einer wiederhergestellten Einheit. Ein solcher Kreis von Vorstellungen darf freilich nicht in das Bereich des Alltäglichen, in die regelmäßige Kultordnung hinübergezogen werden, wenn er nicht auf das Schmählichste entstellt und verflacht werden soll. Die ganze Institution der Mysterien zielte darauf hin, nur dem diese Einsicht in Bildern zu geben, der vorbereitet sei, d. h. der auf sie durch eine heilige Noth bereits hingeführt sei . In diesen Bildern aber erkennen wir alle jene excentrischen Stimmungen und Erkenntnisse wieder, die der Orgiasmus der dionysischen Frühlingsfeste fast auf einmal und neben einander erregte: die Vernichtung der Individuation, das Entsetzen über die zerbrochene Einheit, die Hoffnung einer neuen Weltschöpfung, kurz die Empfindung eines wonnevollen Schauders, in dem die Knoten der Lust und des Schreckens zusammengebunden sind. Als sich jene ekstatischen Zustände in die Mysterienordnung eingesponnen hatten, war die größte Gefahr für die apollinische Welt beseitigt und jetzt konnte der Staatengott, ohne Besorgniß, daß der Staat dadurch zertrümmert werde, und Dionysos ihren sichbaren Bund schließen, zur Erzeugung des gemeinsamen Kunstwerks, der Tragödie, und zur Verherrlichung ihres Doppelwesens in dem tragischen Menschen. Diese Vereinigung drückt sich z. B. in der Empfindung des athenischen Bürgers aus, dem nur Zweierlei als höchster Frevel galt: die Entweihung der Mysterien und die Zerstörung der Verfassung seines Staatswesens. Daß die Natur die Entstehung der Tragödie an jene zwei Grundtriebe des Apollinischen und des Dionysischen geknüpft hat, darf uns ebenso sehr als ein Abgrund der Vernunft gelten als die Vorrichtung derselben Natur, die Propagation an die Duplicität der Geschlechter zu knüpfen: was dem großen Kant jederzeit erstaunlich erschienen ist. Das gemeinsame Geheimniß ist nämlich, wie aus zwei einander feindlichen Principien etwas Neues entstehen könne, in dem jene zwiespältigen Triebe als Einheit erscheinen: in welchem Sinne die Propagation ebenso sehr als das tragische Kunstwerk als
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eine Bürgschaft der Wiedergeburt des Dionysos gelten darf, als ein Hoffnungsglanz auf dem ewig trauernden Antlitz der Demeter. 7 [124] [ ... ] Jener Neuschaffung der Kunst, die der von Sokrates vorwärts gedrängte Euripides im Auge hatte, war ein ganz anderes Ziel gesteckt als die platonische: wenn Plato den sokratischen Begriff der Kunst aufzuheben suchte, so bemühte sich Euripides diesen Begriff in seinen Schöpfungen zu präzisiren. Der Eine verwarf die bisherige Kunst, weil er ihre Verwerflichkeit in der sokratischen Definition zu erkennen glaubte, der Andre verwarf sie, weil sie nach seiner Empfindung jenem Begriff nur unvollkommen entsprach. Plato fand also in der sokratischen Definition der Kunst - als des Abbildes des Scheinbildes - einen Maßstab; Euripides eine Art von Ideal: darum mußte der Erstere für seine neue Kunst eine neue Definition suchen, der Letztere zur alten Definition eine neue Kunst. Wie muß das sokratische Verwerfungsurtheil der Kunst überhaupt auf der Seele des Euripides gelastet haben! Und was für eine finstere Entschlossenheit gehört dazu, die Kunst mit bewußter Absicht gerade in jene Form zu gießen, auf die jenes Urtheil wirklich und vollständig zutrifft! Dieses Fortgepeitschtwerden auf der Rennbahn des dramatischen Schaffens und diese sichere Zügelführung, um das dramatische Kunstwerk geradewegs dem Abgrund entgegenzuführen welcher düstere Konflikt! Die Tragödie starb, wie ich sagte, durch Selbstmord. Jetzt verstehen wir die orgiastische Selbstzerfleischungslust in Euripides. Wer möchte ohne Mitleiden das Bild des melancholischen Euripides ansehn! Hier gewahren wir den Ausdruck eines mächtigen Scharfsinns, der in der sokratischen Definition der Kunst nicht nur die Kritik, sondern auch das noch nicht erreichte Ziel der Tragödie erkennt: und daneben eine gewaltige dichterische Kraft, die sich in dramatischen Dichtungen entladen muß, so ernsthaft auch die verwerfende Stimme des Sokrates klingt. Dieser herbe Gegensatz, in einer Natur ans Licht tretend, hat Euripides in die Einsamkeit getrieben, aus der heraus er es wagen durfte, sein Publikum zu verachten, sowohl wie es ihn verwarf als wie es ihn anbetete. Dabei war es ihm nicht einmal erlaubt, seine Vorstellung des tragischen Kunstwerkes nackt und ohne Akkomodation zu veranschaulichen, weil ohne diese dasselbe im damaligen Athen unmöglich gewesen wäre. Eine spätere Generation erkannte richtig, was dabei Kern, was Hülle war: sie warf letztere ab, und es entpuppte sich als Inbegriff der dramatischen Kunst, wie sie Sokrates verstand und Euripides völlig zu erreichen suchte, das schachspielartige Schauspiel, die neuere attische Kömödie. Von ihr gilt im verwegensten Sinn das Wort, daß sie das Abbild des Abbildes ist: in jeder Familie wurde sie gespielt, Jedermann war in ihr Akteur. Die Dichter jener Komödie wußten, warum sie Euripides als ihren Genius verehrten: ihn der den Zuschauer auf die Bühne gebracht hatte, ihn der den Geschmack am Wiederkäuen des alltäglich-Daseins dem Publikum eingepflügt hatte. Von dem pessimistisch-stechenden Blick, mit dem Euripides auf diese Kunst niedersah, merkte Niemand etwas. Für alle Zeiten aber blieb eine neue Gattung der sokratischen Kunst zurück, die, mit dem Roman im Bunde, der ganzen ungriechischen Nachwelt Bewunderung abgezwungen hat. Das Schauspiel als die Wiederspiegelung der empirischen Wirklichkeit, mit einem Regierungswechsel als Zielpunkt, der Roman als die Wiederspiegelung einer phantastisch-idealen Wirklichkeit, mit irgend einer metaphysischen Perspektive, dies sind die beiden Grundformen, in denen fast zwei Jahrtausende ihre Abhängigkeit von den Griechen, ja ihre natürliche Abstammung von ihnen bewiesen haben, Grundformen, die in Cervantes und Shakespeare ihre endliche Erfüllung und allerhöchste Sättigung gefunden haben. Nach diesem Ausblick in die fernste Ferne blicken wir noch einmal auf Sokrates zurück, der gewiß inzwischen sich ins Ungeheure verwandelt hat: "schon sieht er wie ein Nilpferd aus, mit feurigen Augen, schrecklichem Gebiß". 122
7 [125] Was ist das für ein Genius, zu dessen Erzeugung der Sokratismus immer und immer wieder anregt? Wir haben bereits erkannt, wie an dem theoretischen Genius die auf den Instinkten ruhende und über sich nicht zur Erkenntniß gekommene griechische Kunst und Ethik zu Grunde gierig: womit naturgemäß auch über den griechischen Staat, der auf der Grundlage jener Ethik und zum Zweck jener Kunst überhaupt nur existirt hatte, das Todesurtheil ausgesprochen war. Auf welches neue Kunstziel das zunächst kunstwidrig sich äußernde Wirken des theoretischen Genius hinweist und über welche ungeheure Zeiträume hin die Erzeugung dieser neuen Kunst sich ausbreitet, darüber ist mir eine Vermuthung gekommen, die auszusprechen ich, bei aller Ähnlichkeit derselben mit einer metaphysischen Grille, ja auf die Gefahr der gefährlichsten Verketzerung hin, mich nicht scheuen werde: wobei ich zum Voraus bemerken muß, daß mir die Zeit ebensowenig wie dem Geologen, meinem Zeitgenossen, imponirt und ich mir daher die Disposition über Jahrtausende, als über etwas durchaus Unreales, zur Entstehung eines großen Kunstwerks, unverzagt gestatte. In einer doppelten Weise drängt der theoretische Genius zur Entfesselung der künstlerischmystischen Triebe, einmal durch sein Dasein überhaupt, das, wie eine Farbe die andere, auch das Dasein des unsterblichen Zwillingsbruders fordert, gemäß einer Art von Alloeopathie der Natur: andrerseits durch das bereits erwähnte Umschlagen der Wissenschaft in Kunst, bei dem jedesmaligen Erreichen ihrer Grenzen. Den Beginn des letzteren Prozesses haben wir uns etwa so vorzustellen, daß der theoretische Mensch an irgend einem Punkt der anschaulichen Welt die Existenz einer Illusion wahrnimmt, die allgemeine Existenz einer naiven Täuschung der Sinnlichkeit und des Verstandes, von der er unter behutsamem Gebrauch der Kausalität und an der Hand des logischen Mechanismus sich selbst befreit: dabei entdeckt er zugleich, daß die gewöhnliche mythische Vorstellung jenes Hergangs im Vergleich mit seiner Erkenntniß einen Irrthum enthalte, daß somit das als glaubwürdig verehrte Weltbild des Volks mit nachweisbaren Irrthümern behaftet sei. So beginnt die griechische Wissenschaft: die sofort in ihren ersten Stadien, im Grunde nur als Embryo der Wissenschaft, schon in Kunst umschlägt und von dem fußbreiten soeben errungenen Standpunkte aus durch eine phantastische Analogie ein neues Weltbild ins Blaue zeichnet, die Welt als Wasser oder als Luft oder als Feuer. Hier ist ein einfaches chemisches Experiment durch eine Hohlspiegelvergrößerung zum Ursprung des Seins gemacht worden: als welchen Kosmogonien zu Liebe jetzt die Vielheit und Unendlichkeit des Vorhandenen nur durch eine Unzahl physikalischer Phantasmen, ja wenn diese nicht zureichen, selbst durch die alten Volksgötter, erklärt werden müssen. So entfernt sich das wissenschaftliche Weltbild zuerst nur langsam von den volksthümlichen Vorstellungen und kommt, nach einem kurzen Seitensprunge, immer wieder auf sie zurück, sobald die eigentliche engbegrenzte Erkenntniß zur Grunderkenntniß der Welt erweitert werden soll. Welche Kraft ist es, die zu jenen maßlosen Übertreibungen und Mißbrauche des analogischen Schlusses nöthigt, und andrerseits den theoretischen Menschen von dem sichren, eben errungenen Boden zum Kribskrabs der Imagination so verführerisch wegtreibt? Warum dieser Sprung ins Bodenlose? Wir haben uns hier zu erinnern, daß der Intellekt nur ein Organ des Willens ist und somit in allem seinem Wirken auf das Dasein, mit nothwendiger Gier, hindrängt und daß es sich bei seinem Ziele nur um verschiedene Formen des Daseins, nie aber um die Frage nach Sein oder Nichtsein handeln kann. Für den Intellekt giebt es kein Nichts als Ziel, somit auch keine absolute Erkenntniß, weil diese dem Sein gegenüber ein Nichtsein wäre. Das Leben unterstützen - zum Leben verführen, ist demnach die jeder Erkenntniß zu Grunde liegende Absicht, das unlogische Element, welches als der Vater jeder Erkenntniß auch die Grenzen 123
derselben bestimmt. So mag immerhin jenes mythische, mit Phantasmen geschmückte Weltbild nur als Übertreibung einer kleinen wissenschaftlichen Einzelerkenntniß erscheinen: in Wahrheit ist es der treibende Grund dieser Erkenntniß; wenn auch dieser Prozeß vom Bewußtsein nicht erfaßt werden kann, das immer nur empirisch, nach lauter Erfahrungssätzen zu urtheilen gezwungen ist und über Grund und Folge überhaupt nur das Verkehrte uns sagen kann. Das was also jedesmal über die Grenze der Wissenschaft hinausgeht und uns gleichsam --7 [126] [ ... ] Unter diesem hin- und herwogenden Kampfe ist die neuere Kunst geboren, und sie trägt als das Abzeichen dieser Kämpfe gewöhnlich den "sentimentalischen" Charakter und hat ihr höchstes Ziel erreicht, wenn sie im Stande ist die "Idylle" zu schaffen. Ich bin nicht im Stande, jene herrliche Schillersche Terminologie auf das ganze weiteste Bereich aller Kunst anzuwenden, sondern finde eine erhebliche Summe von Kunstzeitaltern und Kunstwerken, die ich unter jene Begriffe nicht zu bringen weiß: wenn anders ich "naiv" richtig zu interpretiren meine als "rein apollinisch", "als Schein des Scheins", dagegen "sentimentalisch" als "unter dem Kampf der tragischen Erkenntniß und der Mystik geboren". So gewiß in dem "Naiven" das ewige Merkmal einer allerhöchsten Kunstgattung erkannt ist, so gewiß reicht der Begriff "sentimentalisch" nicht hin, um die Merkmale aller nicht-naiven Kunst zusammenzufassen. Welche Verlegenheiten bereitet uns, falls wir das wollten, z. B. die griechische Tragoedie und Shakespeare! Und gar die Musik! Dagegen verstehe ich als den vollen Gegensatz des "Naiven" und des Apollinischen das "Dionysische" d. h. alle Kunst, die nicht "Schein des Scheins", sondern "Schein des Seins" ist, Wiederspiegelung des ewigen Ur-Einen, somit unsere ganze empirische Welt, welche, vom Standpunkte des Ureinen aus, ein dionysisches Kunstwerk ist; oder von unserem Standpunkt aus, die Musik. Dem "Sentimentalisch" muß ich sogar vom höchsten Richterstuhle aus die Geltung eines reinen Kunstwerks versagen, weil es nicht wie jene höchste und dauernde Versöhnung des Naiven und des Dionysischen entstanden ist, sondern unruhig zwischen beiden hin- und herschwankt, und ihre Vereinigung nur sprungweise, ohne bleibenden Besitz erreicht, vielmehr zwischen den verschiedenen Künsten, zwischen Poesie und Prosa, Philosophie und Kunst, Begriff und Anschauung, Wollen und Können eine unsichere Stellung hat ist das Kunstwerk jenes noch unentschiedenen Kampfes, den es zu entscheiden sich anschickt, ohne dies Ziel zu erreichen; wohl aber weist es uns, wie z. B. die Schillersche Dichtung, zu unsrer Rührung und Erhebung, auf neue Bahnen hin und ist somit "Johannes" der Vorläufer "all' Volk der Welt zu taufen". 7 [127] [ ... ] Nun denke man sich nach allen diesen Voraussetzungen, welch ein unnatürliches, ja unmögliches Unterfangen es sein muß, Musik zu einem Gedichte zu machen d. h. ein Gedicht durch Musik illustriren zu wollen, wohl gar mit der ausgesprochenen Absicht, die begrifflichen Vorstellungen des Gedichtes durch die Musik zu symbolisiren und damit der Musik zu einer Begriffssprache zu verhelfen: ein Unterfangen, welches mir ähnlich vorkommt wie wenn ein Sohn seinen Vater zeugen wollte. Die Musik kann Bilder aus sich heraus projiciren: die aber immer nur Abbilder, gleichsam Beispiele ihres eigentlichen Inhalts sind; das Bild, die Vorstellung wird nie aus sich Musik erzeugen können, geschweige denn daß dies der Begriff oder - wie man gesagt hat - die poetische Idee zu thun im Stande wäre. Dagegen ist es gar kein so lächerliches Phänomen, wie dies neueren Aesth<etikern> erschienen ist, wenn eine Beethovensche Symphonie immer und immer wieder den einzelnen Zuhörer zu einer Bilderrede nöthigt, sei es auch daß eine Zusammenstellung der verschiedenen durch ein Tonstück erzeugten Bilderwelten sich recht phantastisch bunt, ja widersprechend ausnimmt: 124
an solchen Zusammenstellungen ihren armen Witz zu üben und gar nicht das Phänomen als erklärenswerth zu erkennen, ist recht in der Art jener Herren. Ja selbst wenn der Tondichter in Bildern über eine Komposition geredet hat, etwa wenn er eine Sinfonia als pastorale und einen Satz als "Scene am Bach" oder als "als lustiges Zusammenleben der Landleute" bezeichnet, so sind das nichts als gleichnißartige, aus der Musik geborne Vorstellungen, die über den dionysischen Inhalt der Musik uns nach keiner Seite hin belehren können, ja die keinen ausschließlichen Werth neben anderen Bildern haben. Die Musik aber nun gar in den Dienst einer Reihe von Bildern und Begriffen zu stellen, sie als Mittel zum Zweck, zu ihrer Verstärkung und Verdeutlichung, zu verwenden - diese sonderbare Anmaßung, die im Begriff der "Oper" gefunden wird, erinnert mich an den lächerlichen Menschen, der sich mit seinen eigenen Armen in die Luft zu heben versucht: was dieser Narr, und was die Oper nach jenem Begriffe versuchen, sind reine Unmöglichkeiten. Jener Opernbegriff fordert nicht etwa von der Musik einen Mißbrauch, sondern - wie ich sagte - eine Unmöglichkeit! Die Musik kann nie Mittel werden, man mag sie stoßen, schrauben, foltern: als Ton, als Trommelwirbel, auf ihren rohesten und einfachsten Stufen überwindet sie noch die Dichtung und erniedrigt sie zu ihrem Wiederscheine. Die Oper als Kunstgattung nach jenem Begriff ist somit nicht sowohl Verwirrung der Musik, als eine irrthümliche Vorstellung der Aesthetik. Wenn ich übrigens hiermit das Wesen der Oper für die Aesthetik rechtfertige, so bin ich natürlich weit entfernt, damit schlechte Opernmusik oder schlechte Operndichtungen rechtfertigen zu wollen. Die schlechteste Musik kann immer noch der besten Dichtung gegenüber den dionysischen Weltuntergrund bedeuten: und die schlechteste Dichtung Spiegel, Abbild und Wiederschein dieses Untergrundes sein, bei der besten Musik: so gewiß nämlich der einzelne Ton, dem Bild gegenüber, bereits dionysisch und das einzelne Bild, sammt dem Begriff und Wort, der Musik gegenüber, bereits apollinisch ist. Ja selbst schlechte Musik sammt schlechter Poesie kann noch über das Wesen der Musik und der Poesie belehren. Das Recitativ deutlichster Ausdruck der Unnatur. Wenn also z. B. Schopenhauer die Norma Bellini's als Erfüllung der Tragödie, hinsichtlich ihrer Musik und Dichtung, empfand, so war er, in seiner dionysisch-apollinischen Erregung und Selbstvergessenheit, dazu völlig berechtigt, weil er Musik und Dichtung in ihrem allgemeinsten gleichsam philosophischen Werthe, als Musik und Dichtung überhaupt, empfand: während er mit jenem Urtheil einen nur wenig gebildeten d. h. historisch vergleichenden Geschmack bewies. Uns, die wir in dieser Untersuchung absichtlich jeder Frage nach dem historischen Werthe einer Kunsterscheinung aus dem Wege gehen und nur die Erscheinung selbst, in ihrer unveränderten, gleichsam ewigen Bedeutung, somit auch in ihrem höchsten Typus, ins Auge zu fassen uns bemühn - uns gilt die Kunstgattung der Oper als ebenso berechtigt wie das Volkslied, insofern wir in beiden jene Vereinigung des Dionysischen und Apollinischen vorfinden und für die Oper - nämlich für den höchsten Typus der Oper - eine analoge Entstehung voraussetzen dürfen wie für das Volkslied. Nur insofern die uns historisch bekannte Oper seit ihrem Anfang eine völlig verschiedene Entstehung hat als das Volkslied, verwerfen wir diese "Oper": als welche sich zu jenem eben von uns vertheidigten Gattungsbegriff der Oper verhält wie die Marionette zum lebenden Menschen. So gewiß auch die Musik nie Mittel, im Dienste des Textes, werden kann, sondern auf jeden Fall den Text überwindet: so wird sie doch sicherlich schlechte Musik, wenn der Componist jede in ihm aufsteigende dionysische Kraft durch einen ängstlichen Blick auf die Worte und Gesten seiner Marionetten bricht. Hat ihm der Operndichter überhaupt nicht mehr als die üblichen schematisirten Figuren mit ihrer ägyptischen Regelmäßigkeit geboten: so wird der Werth der Oper um so höher sein, je freier, unbedingter, dionysischer die Musik sich entfaltet und je mehr sie alle sogenannten dramatischen Anforderungen verachtet. Die Oper in diesem Sinn ist dann freilich im besten Falle gute Musik und nur Musik: während die dabei abgespielte Gaukelei gleichsam nur eine phantastische Verkleidung des Orchesters, vor allem seiner wichtigsten Instrumente, der Sänger, ist, von der der Einsichtige sich lachend abwendet. Wenn die große Masse sich gerade an ihr ergötzt und die Musik dabei nur gestattet: 125
so geht es ihr wie allen denen, die den goldenen Rahmen eines guten Gemäldes höher als dieses selbst schätzen: wer möchte solchen naiven Verirrungen noch eine ernsthafte oder gar pathetische Abfertigung gönnen? Was wird aber die Oper als "dramatische" Musik zu bedeuten haben, in ihrer möglichst weiten Entfernung von reiner, an sich wirkender, allein dionysischer Musik? Denken wir uns ein buntes leidenschaftliches und den Zuschauer fortreißendes Drama, das als Aktion bereits seines Erfolges sicher ist: was wird hier "dramatische" Musik noch hinzuthun können, wenn sie nichts davonnimmt? Sie wird aber erstens viel davonnehmen: denn in jedem Momente, wo einmal die dionysische Gewalt der Musik in den Zuhörer einschlägt, umflort sich das Auge, das die Aktion sieht, das sich in die vor ihm auftretenden Individuen versenkt hat: der Zuhörer vergißt jetzt das Drama und wacht erst wieder für dasselbe auf, wenn ihn der dionysische Zauber losgelassen hat. Insofern die Musik aber den Zuhörer das Drama vergessen macht, ist sie noch nicht "dramatische" Musik: was ist das aber für Musik, die keine dionysische Gewalt auf den Hörer äußern darf? Und wie ist sie möglich? Sie ist möglich als rein conventionelle Symbolik, in der die Konvention alle natürliche Kraft ausgesogen hat: als Musik, die sich zu Erinnerungszeichen abgeschwächt hat: und ihre Wirkung hat darin ihr Ziel, den Zuschauer an etwas zu mahnen, was ihm beim Anblick des Dramas, zu dessen Verständniß, nicht entgehen darf: wie ein Trompetensignal für das Pferd eine Aufforderung zum Trabe ist. Endlich wäre noch vor Beginn des Dramas und in Zwischenscenen oder in langweiligen, für die dramatische Wirkung zweifelhaften Stellen, ja selbst in seinen höchsten Momenten, eine andere, nicht mehr rein conventionelle Erinnerungsmusik erlaubt, nämlich Aufregungsmusik, als Stimulanzmittel für stumpfe oder abgespannte Nerven. Diese beiden Elemente vermag ich allein in der sogenannten dramatischen Musik zu unterscheiden: eine conventionelle Rhetorik als Erinnerungsmusik und eine vor allem physisch wirkende Aufregungsmusik: und so schwankt sie zwischen Trommellärm und Signalhorn einher, wie die Stimmung des Kriegers, der in die Schlacht zieht. Nun aber verlangt der durch Vergleichung gebildete und an reiner Musik sich erlabende Sinn für jene beiden mißbräuchlichen Tendenzen der Musik eine Maskerade : es soll "Erinnerung" und "Aufregung" geblasen werden, aber in guter Musik, die an sich genießbar, ja werthvoll sein muß: welche Verzweiflung für den dramatischen Musiker, der die große Trommel maskiren muß durch gute Musik, die aber doch nicht "rein musikalisch" sondern nur aufregend wirken darf! Und nun kommt das große mit tausend Köpfen wackelnde PhilisterPublikum und genießt diese sich immer vor sich selbst schämende "dramatische Musik" mit Haut und Haar, ohne etwas von ihrer Scham und Verlegenheit zu merken. Vielmehr fühlt es sein Fell angenehm gekitzelt: ihm wird ja gehuldigt in allen Formen und Weisen, ihm dem zerstreuungssüchtigen mattäugigen Genüßling, der Aufregung braucht, ihm dem eingebildeten Gebildeten, der an gutes Drama und gute Musik wie an gute Kost sich gewöhnt hat, ohne übrigens viel daraus zu machen, ihm dem vergeßlichen und zerstreuten Egoisten, der zum Kunstwerke mit Gewalt und mit Signalhörnern zurückgeführt werden muß, weil fortwährend ihm eigensüchtige Pläne, auf Gewinn oder Genuß gerichtet, durch den Kopf kreuzen. Wehselige dramatische Musiker! "Beseht die Gönner in der Nähe! Halb sind sie kalt, halb sind sie roh." "Was plagt ihr armen Thoren viel, zu solchem Zweck, die holden Musen?" Und daß diese von ihnen geplagt, ja gemartert und geschunden werden - sie leugnen es selbst nicht, die aufrichtig-Unglücklichen! Wir hatten ein leidenschaftliches den Zuhörer fortreißendes Drama vorausgesetzt, das auch ohne Musik seiner Wirkung gewiß sei: ich fürchte, das was an ihm "Dichtung" und nicht eigentliche "Handlung" ist, wird sich zu wahrer Dichtung ähnlich verhalten wie die dramatische Musik zur Musik überhaupt: es wird Erinnerungs- oder Aufregungsdichtung sein. Die Poesie wird als Mittel dienen, um conventionsmäßig an Gefühle und Leidenschaften zu erinnern, deren Ausdruck durch wirkliche Dichter gefunden und mit ihnen berühmt, ja normal geworden ist. Sodann wird ihr zugemuthet werden, der eigentlichen "Handlung", sei das nun 126
eine kriminalistische Schreckensgeschichte oder eine verwandlungstolle Zauberei, in den gefährlichen Momenten aufzuhelfen und um die Roheit der Aktion selbst einen verhüllenden Schleier zu breiten. Im Gefühl der Scham, daß die Dichtung nur Maskerade ist, die kein Tageslicht verträgt, verlangt nun eine solche "dramatische" Dichterei nach der "dramatischen" Musik: wie anderseits dem Dichterling solcher Dramen wieder der dramatische Musiker auf dreiviertel des Wegs entgegenläuft, mit seiner Begabung zur Trommel und zum Signalhorn und seiner Scheu vor echter, sich vertrauender und selbtgenugsamer Musik. Und nun sehen sie sich und umarmen sich, diese apollinischen und dionysischen Karrikaturen, dieses par nobile fratrum! Nach dieser Aussicht auf die uns historisch bekannte Oper mit ihrer in "dramatische" Musik auslaufenden Spitze wenden wir uns jenem Opernideale zu, das in analoger Weise entsteht wie das lyrische Volkslied und als griechische Tragödie die reinste und höchste Vereinigung des Dionysischen und Apollinischen darstellt; während dieselben Elemente, in der besagten dramatischen Musik peinlich verzerrt und unselbständig neben einander hergehen, gleich einem Krüppelpaar, das sich sicherer weiß, weil jeder einzelne Krüppel umfallen würde. Von jenem dionysisch-apollinischen Archilochus als dem uns erkennbaren ersten Musi geht eine neue Kunstbewegung aus, die allmähliche kunstmäßige Entfaltung des Volksliedes zur Tragödie. Gewiß aber läuft diesem sichtbar werdenden Prozeß, der sich in einer Reihe von Künstlern vollzieht, ein andrer Prozeß parallel, der sich ohne die Vermittlung des Künstlers, in der Allmacht der Natur und in viel kürzerer Zeit vollzieht. Wer möchte doch annehmen, nach der Analogie ähnlicher Erscheinungen, daß die dionysische Erregung der Massen, wie sie in jenen ekstatischen Frühlingfesten geboren wird, in Einzelnen ihren Ausdruck bekommt: von welchen Ursprüngen aus dann schneller und schneller in immer größere Kreise der orgiastische Taumel sich ausbreitet. Denken wir uns jetzt eine solche Masse, die mehr und mehr zu einem ungeheuren Individuum zusammenschmilzt, von einer gemeinsamen Traumerscheinung heimgesucht: Dionysus erscheint, alle sehen ihn, alle werfen sich vor ihm nieder. Auch dieses Phänomen, die Mehreren, ja ganzen Massen sichtbar werdende gleiche Vision, wird zu allererst von einem Einzelnen gesehen worden sein, von dem aus die Vision auch alle Anderen ergreift, je mehr, wie ich sagte, die Masse zu einem Individuum zusammenschmilzt. Dies ist der Prozeß, welcher jener langsamen durch ein Jahrhundert sich hinziehenden Entfaltung des Volksliedes zur Tragödie analog ist. Denn hier erkenne ich den Grundbegriff der griechischen Tragödie, daß einem dionysischen Chore, durch eine apollinische Einwirkung, der eigne Zustand sich in einer Vision offenbart: wie im lyrischen Volksliede der zugleich apollinisch und dionysisch erregte Einzelne eine gleiche Vision erleidet. Die gesteigerte, vom Einzelnen zu einem Chore fortschreitende Erregung und die damit erhöhte länger andauernde Sichtbarkeit und Wirksamkeit der Vision dünkt mir der Urprozeß der Tragödie zu sein, aus dem sich das "Drama" die Handlung so erklären läßt, daß jene eben bezeichnete fortschreitende Erregung vom Einzelnen zum ganzen Chore wieder als "Handlung" der Vision, als Lebensäußerung der Visionsgestalt, angeschaut wird. Darum ist, im Ursprung der Tragödie, nur der Chor, in der Orchestra, real, während die Welt der Bühne, die Personen und Vorgänge auf ihr, nur als lebende Bilder, als Scheingestalten der apollinischen Phantasie des Chores sichtbar wurden. Jener Prozeß der allmählichen, vom Einzelnen zum Chore sich ausbreitenden Offenbarung der Vision erscheint wieder als ein Kämpfen und Siegen des Dionysus und versinnlicht sich vor den Augen des Chors. Jetzt schauen wir in die tiefe Nothwendigkeit jener überlieferten Thatsache daß in der ältesten Zeit das Leiden und Siegen des Dionysus der alleinige Inhalt der Tragödie war, ja wir begreifen jetzt sofort, daß jeder andre Held der Tragödie nur als Stellvertreter des Dionysus, gleichsam als eine Maske des Dionysus, verstanden werden muß. 127
7 [128] [ ... ] Das, was wir "tragisch" nennen, ist gerade jene apollinische Verdeutlichung des Dionysischen: wenn wir jene in einander gewobenen Empfindungen, die der Rausch des Dionysischen zusammen erzeugt, in eine Reihe von Bildern auseinanderlegen, so drückt diese Reihe von Bildern, wie sofort zu, erklären ist, das "Tragische" aus. Die allgemeinste Form des tragischen Schicksals ist das siegreiche Unterliegen oder das im Unterliegen zum Siege Gelangen. Jedesmal unterliegt das Individuum: und trotzdem empfinden wir seine Vernichtung als einen Sieg. Für den tragischen Helden ist es nothwendig, an dem zu Grunde zu gehn, womit er siegen soll. In dieser bedenklichen Gegenüberstellung ahnen wir etwas von der schon einmal angedeuteten höchsten Werthschätzung der Individuation: welche das Ureine braucht, um sein letztes Lustziel zu erreichen: sodaß das Vergehen ebenso würdig und verehrenswerth erscheint als das Entstehen und das Entstandene im Vergehen die ihm als Individuum vorgesetzte Aufgabe zu lösen hat. 7 [129] Für Euripides eine zweite Seite: die dithyrambische Wirkung will er erreichen. Er will die Wirkung der Musik durch Poesie erzwingen. 7 [130] Apollinisch und dionysisch. Lyrisch. Die Tragödie. Tragisch. Der Dithyrambus. Der Tod der Tragoedie. Socrates. "Es galt den tragischen Gedanken zu finden.Shakespeare: "der Dichter der tragischen Erkenntniß". Wagner. 7 [131] Euripides auf der Bahn der Wissenschaft sucht den tragischen Gedanken, um durch das Wort den Effekt des Dithyramb<us> zu machen. Shakespeare der Dichter der Erfüllung, er vollendet Sophocles, er ist der musiktreibende Sokrates. 7 [132] Vergleichung des Dithyrambus und der Tragödie. (Der Gedanke ist erschwert, das Wort im genauen Anschluß an die Geste, eine Art Ursprache wird erzeugt.)
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Charakteristik des Recitativs. Tiefsinn der Handlung gegenüber der Gedankenarmut des Wortes. Der Dithyrambus wirkt symbolisch. Der Idealismus liegt im Weltbild, unausgesprochen. Das Wort ist nur Symbol des Begehrens. Die Welt der Sichtbarkeit ist für ihn depotenzirt, wie Wagner ganz richtig sagt. Im Drama entladet sich die dionysische Stimmung in Bildern. Im Dithyramb ist die Bilderwelt nur ein Nebenbei. 7 [133] Die neuere Komödie gänzlich ohne dionysischen Untergrund, episch. 7 [134] Shakespeare. Erfüllung des Sophocles. Das Dionysische ist rein in Bildern aufgegangen. Die Weglassung des Chors war ganz berechtigt: aber man ließ zugleich das dionysische Element schwinden. Dieses flüchtet sich in die Mysterien. Es bricht im Christenthum hervor und es gebiert eine neue Musik. Aufgabe unserer Zeit: die Kultur zu unserer Musik zu finden! 7 [135] Versuch des Euripides die neue Form zu finden. Er stand unter dem Eindruck des dramatischen Dithyrambus. Warum griff die alte Komödie die Dithyrambiker an? Wie Euripides? 7 [136] Der Mythus in der Wissenschaft. 7 [137] Die einfache Sprache. Der Idealismus. Man kennt das deutsche Wesen nicht mehr. Großartigkeit der Freigebigkeit. Radikalismus. Unfähigkeit, die Theorie zu verstehn. Gegen die Civilisation. Dichter und Musiker zusammen? Der Mythus wäre verloren? Das Wunder. 129
7 [138] Tragoedie und dramatischer Dithyrambus. So sei es denn ausgesprochen, daß der Krieg für den Staat eine eben solche Nothwendigkeit ist wie der Sklave für die Gesellschaft: und wer möchte sich dieser Erkenntniß entziehn können, wenn er sich ehrlich nach den Gründen der unerreichten griechischen Kunstvollendung fragt? 7 [139] Daß das griechische Wesen - - Kunstwerk wie die Religion nur ein Mittel für Perpetuirung der Genien. Begriff des Scheins. Das Kunstwerk ist nicht Ziel des Ur-Einen, sondern die geniale Verzückung des Einzelnen. Das Kunstwerk historisch. Es ist ein Mittel zur Perpetuirung des Genius. Erziehung darauf zu basieren. Die apollinische Vision Ursprung des Drama's und der Tragödie. Die apollinische Verzauberung als andres Wesen: Ursprung des Dithyrambus. Der Chor in doppelter Weise Mutterschooß. Einmal als eine Vision sehend. Andrerseits sie an sich erleidend. Das Leben der Vision ist rein apollinisch in der Tragödie. Oder ist der Dithyramb zu verstehn als der Chor, der die apollinische Vision sieht, bis zur Höhe des dionysisch-apollinischen Helden? Ja. Der Chor sieht den Helden als lyrischen Menschen, als Urbild des Menschen, nämlich als Erscheinung des Urschmerzes. 7 [140] Das Tragische. "Die beiden Dichter". Gegen Aristoteles. Untergang des Dionysus. Das epische Drama. "Mimik". Der Dithyrambus. R W. 7 [141] Sprachsymbolik: "ein Überrest der apollinischen Objektivation des Dionysischen". Der Mensch ist matte Copie des dionysisch-apollinischen Menschen. 7 [142] 130
Inhalt I. Die Geburt des tragischen Gedankens. II. Die Voraussetzungen des tragischen Kunstwerks. III. Die Doppelnatur des tragischen Kunstwerks. IV. Der Tod der Tragoedie. V. Wissenschaft und Kunst. VI. Die homerische Heiterkeit. VII. Metaphysik der Kunst. 7 [143] Das Tragische. Muße bei Aristoteles Politik und Ethik. Olympus bei Aristoteles Politik. "Mimik" gegen Aristoteles. Entstehung des Mythus. Homer, der Epiker als apollinischer Künstler. Die dionysische Musik (Aristoteles über den Orgiasmus). Der "nicht ganz gute und nicht ganz böse" Held als Spiegel von Urschmerz und Illusion. Weltbetrachtung des Epikers und des Tragikers. Schlußabhandlung: Erziehung zum Tragischen und zur Kunst. Der Dithyrambus. Über Richard Wagner und die bevorstehende B<eethoven>Auff<ührung>. 7 [144] Der ganze Prozeß der Weltgeschichte bewegt sich so, als ob Willensfreiheit und Verantwortlichkeit existiere. Es ist dies eine nothwendige moralische Voraussetzung, eine Kategorie unseres Handelns. Jene strenge Kausalität, die wir recht wohl begrifflich fassen können, ist nicht eine nothwendige Kategorie. Die Konsequenz der Logik steht hier der Konsequenz unsres das Handeln begleitenden Denkens nach. 7 [145]
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Die Spitzen der Menschheit sind genauer die Mittelpunkte eines Halbkreises. Nämlich es giebt eine auf- und eine absteigende Linie. Die Weltgeschichte ist kein einheitlicher Prozeß. Das Ziel derselben ist fortwährend erreicht. 7 [146] Wenn unser Handeln ein Schein ist, so muß natürlich auch die Verantwortlichkeit nur ein Schein sein. Gut und Böse. Mitleid. 7 [147] Der Stoß ist ein Problem, so lange man die beiden Hölzer für real hält. Der influxus physicus existiert gar nicht. 7 [148] Ist der Schmerz etwas Vorgestelltes? Es giebt nur ein Leben, ein Empfinden, einen Schmerz, eine Lust. Wir empfinden durch und unter Vermittlung von Vorstellungen. Wir kennen also den Schmerz, die Lust, das Leben nicht an sich. Der Wille ist etwas metaphysisches, das von uns vorgestellte Sichbewegen der Urvisionen. 7 [149] Der Glaube der Freiheit und der Verantwortlichkeit erzeugt nun den Wahn des "Guten" d. h. des rein Gewollten, ohne Egoismus Gewollten. Was ist jetzt Egoismus? Lustempfindung bei der Kraftäußerung des Individuums. Gegensatz: Lustempfindung bei der Entäußerung des Individuums. Das Leben in den Vielen, die Lust außer dem Individuum, unter den Individuen überhaupt. Das Sich-Eins-fühlen mit dem Erscheinen den überhaupt ist das Ziel. Dies ist die Liebe. Der Gott des Heiligen ist meist die idealste Spiegelung des Erscheinenden und in sofern ist der Heilige und sein Gott eins. Die Verschönerung der Erscheinung ist das Ziel von Künstler und Heiligem: d. h. die Erscheinung zu potenziren. 7 [150] Aufzeichnungen des Alibenkaba über das Leben und den Tod seines Meisters Enoch. 7 [151] "Mimik" Tendenz Euripideischen Kunst, während das ächte Drama nicht Nachahmung, sondern Original ist, das das Leben nur blaß und matt erreicht. Das höchste Leben! In Euripides reagirt das Mimische gegen das Pathos. Shakespeare ganz Mimus, ganz Natur. 7 [152] Wie entsteht die Kunst? Als Heilmittel der Erkenntniß. Das Leben nur möglich durch künstlerische Wahnbilder.
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Das empirische Dasein durch die Vorstellung bedingt. Für wen ist diese künstlerische Vorstellung nöthig? Wenn das Ureine den Schein braucht, so ist sein Wesen der Widerspruch. Der Schein, das Werden, die Lust. 7 [153] "Der Kern der Natur, das wahrhaft Seiende, das Sein an sich, das wahrhaft Anonyme, der Ball des ewigen Seins, das unnahbare Eine und Ewige, ein Abgrund des wahren Seins." 7 [154] Wie entsteht die Kunst? Die Lust der Erscheinung, der Schmerz der Erscheinung - das Apollinische und das Dionysische, die sich immer gegenseitig zur Existenz reizen. 7 [155] Die Hingabe an die Natur, das κατα ϕυσιν ζην der Stoiker und des Rousseau, die mens sana in corpore sano usw. 1. Wer kennt die Ziele der Natur und wer überhaupt vermöchte das Unnatürliche? 2. Die Natur ist nichts so Harmloses, dem man sieh ohne Schauder übergeben könnte. 3. Es fragt sich überhaupt, ob wir etwas können, gegen die Natur, und ob wir uns der Natur überhaupt hingeben können? 7 [156] Meine Philosophie umgedrehter Platonismus: je weiter ab vom wahrhaft Seienden, um so reiner schöner besser ist es. Das Leben im Schein als Ziel. 7 [157] Die Visionen des Ureinen können ja nur adäquate Spiegelungen des Seins sein. Insofern der Widerspruch das Wesen des Ureinen ist, kann es auch zugleich höchster Schmerz und höchste Lust sein: das Versenken in die Erscheinung ist höchste Lust: wenn der Wille ganz Außenseite wird. Dies erreicht er im Genius. In jedem Moment ist der Wille zugleich höchste Verzückung und höchster Schmerz: zu denken an die Idealität von Träumen im Hirn des Ertrinkenden - eine unendliche Zeit und in eine Sekunde zusammengedrängt. Die Erscheinung als werdende. Das Ureine schaut den Genius an, der die Erscheinung rein als Erscheinung sieht: dies ist die Verzückungsspitze der Welt. Insofern aber der Genius selbst nur Erscheinung ist, muß er werden: insofern er anschauen soll, muß die Vielheit der Erscheinungen vorhanden sein. Insofern er eine adäquate Spiegelung des Ureinen ist, ist er das Bild des Widerspruchs und das Bild des Schmerzes. Jede Erscheinung ist nun zugleich das Ureine selbst: alles Leiden Empfinden ist Urleiden, nur durch die Erscheinung gesehen, lokalisirt, im Netz der Zeit. Unser Schmerz ist ein vorgestellter: unsre Vorstellung bleibt immer bei der Vorstellung hängen. Unser Leben ist ein vorgestelltes Leben. Wir kommen 133
keinen Schritt weiter. Freiheit des Willens, jede Aktivität ist nur Vorstellung. Also ist auch das Schaffen des Genius Vorstellung. Diese Spiegelungen im Genius sind Spiegelungen der Erscheinung, nicht mehr des Ureinen: als Abbilder des Abbildes sind es die reinsten Ruhemomente des Seins. Das wahrhaft Nichtseiende - das Kunstwerk. Die anderen Spiegelungen sind nur die Außenseite des Ureinen. Das Sein befriedigt sich im vollkommenen Schein. 7 [158] Ein Abschnitt mit Schopenhauer anzufangen. Ein Abschnitt mit Richard Wagner anzufangen. 7 [159] Zu Schopenhauers Sprache und Stil. Jene markig-männliche Kraft, ja deren zur tiefen künstlerischen Anschauung, bis zur Sonnenhöhe der Mystik, ragende Sprache, mit der sich unser philosophischer "Gegenwärtiger" durch das schnöde Wort "Eleganz" abzufinden sucht. O über diese "Eleganten"! Denen so völlig jenes sittliche Pathos, jeder gleichmäßig erhobene Ton abgeht usw. 7 [160] Der Genius ist die sich selbst vernichtende Erscheinung. Serpens nisi serpentem comederit non fit draco. 7 [161] Das Individuum, der intellegible Charakter ist nur eine Vorstellung des Ur-Einen. Charakter ist keine Realität, sondern nur eine Vorstellung: sie ist ins Bereich des Werdens gezogen und hat deshalb eine Außenseite, den empirischen Menschen. 7 [162] In den großen Genien und Heiligen kommt der Wille zu seiner Erlösung. Griechenland ist das Bild eines Volks, das ganz jene höchsten Intentionen des Willens erreicht und immer die nächsten Wege dazu gewählt hat. Dies glückliche Verhältniß der griechischen Entwicklung zum Willen verleiht der griechischen Kunst jenes satte Lächeln, welches wir griechische Heiterkeit nennen. In ungünstigen Verhältnissen ist das sehnsüchtige Lächeln das Höchst-Erreichbare, z.B. bei Wolfram von Eschenbach und bei Wagner. Es giebt dagegen auch eine Heiterkeit niedriger Art, die des Sklaven und des Greises. Jenes satte Lächeln ist das Leuchten des Blicks am Sterbenden. Es ist etwas der Heiligung Paralleles. Es begehrt nichts mehr; darum wirkt es auf den Begehrlichen kühl, abweisend, flach. Es zeigt nicht mehr den fernen Horizont des unbefriedigten Wunsches. 134
Homer ist nicht heiter, Homer ist wahr. Die Tragödie erreicht mitunter (z. B. Oedipus Kol) die satte Heiterkeit. 7 [163] Die Unfähigkeit des Einen, sich selbst zu deuten. Das Eine erzeugt in griechischer Heiterkeit aus sich den Schein: wie kann der Schein existieren? Nur als künstlerischer Schein. Es kommt zum Einen, Seienden, nichts hinzu. 7 [164] Die Empfindung als Erscheinung, d. h. der Wille. 7 [165] Dissonanz und Konsonanz in der Musik - wir können davon sprechen, daß ein Akkord durch einen falschen Ton leidet. Im Werden muß auch das Geheimniß des Schmerzes ruhen. Wenn jede Welt des Moments eine neue ist, woher da die Empfindung und der Schmerz? Es giebt nichts in uns, was auf das Ureine zurückzuführen wäre. Der Wille ist die allgemeinste Erscheinungsform: d. h. der Wechsel von Schmerz und Lust: Voraussetzung der Welt, als der fortwährenden Heilung vom Schmerz durch die Lust des reinen Anschauens. Das Alleine leidet und projicirt zur Heilung den Willen, zur Erreichung der reinen Anschauung. Das Leid, die Sehnsucht, der Mangel als Urquell der Dinge. Das wahrhaft Seiende kann nicht leiden? Der Schmerz ist das wahrhafte Sein d. h. Selbstempfindung. Der Schmerz, der Widerspruch ist das wahrhafte Sein. Die Lust, die Harmonie ist der Schein. 7 [166] Euripides und Sokrates bedeuten einen neuen Ansatz der Kunstentwicklung: aus der tragischen Erkenntniß heraus. Dieses ist die Aufgabe der Zukunft: der bis jetzt nur Shakespeare und unsre Musik völlig entspricht. In diesem Sinne ist die griechische Tragödie nur Vorbereitung: sehnsüchtige Heiterkeit. - Das Johannesevangelium. 7 [167] Das Projicieren des Scheins ist der künstlerische Urprozeß. Alles was lebt, lebt am Scheine. Der Wille gehört zum Schein.
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Sind wir zugleich das eine Urwesen? Mindestens haben wir keinen Weg zu ihm. Aber wir müssen es sein: und ganz, da es untheilbar sein muß. Die Logik ist genau nur auf die Welt der Erscheinung angepaßt: in diesem Sinne muß sie sich mit dem Wesen der Kunst decken. Der Wille bereits Erscheinungsform: darum ist die Musik doch noch Kunst des Scheines. Der Schmerz als Erscheinung - schweres Problem! Das einzige Mittel der Theodicee. Der Frevel als das Werden. Der Genius ist die Spitze, der Genuß des einen Urseins: der Schein zwingt zum Werden des Genius d. h. zur Welt. Jede geborne Welt hat irgendwo ihre Spitze: in jeden Moment wird eine Welt geboren, eine Welt des Scheins mit ihrem Selbstgenuß im Genius. Die Aufeinanderfolge dieser Welten heißt Causalität. 7 [168] Die Empfindung ist nicht Resultat der Zelle, sondern die Zelle ist Resultat der Empfindung d. h. eine künstlerische Projektion, ein Bild. Das Substantielle ist die Empfindung, das Scheinbare der Leib, die Materie. Anschauung wurzelt auf Empfindung. Nothwendiges Verhältniß zwischen Schmerz und Anschauung: das Fühlen ist nicht ohne Objekt möglich, das Objekt-Sein ist Anschauung-Sein. Dies der Urprozeß: der eine Weltwille ist zugleich Selbstanschauung: und er schaut sich als Welt: als Erscheinung. Zeitlos: in jedem kleinsten Zeitpunkt Anschauung der Welt: wäre die Zeit wirklich, so gäbe es keine Folge. Wäre der Raum wirklich, so keine Folge. Unwirklichkeit des Raums und der Zeit. Kein Werden. Oder: das Werden ist Schein. Wie ist aber der Schein des Werdens möglich? d. h. wie ist der Schein möglich neben dem Sein? Wenn der Wille sich anschaut, muß er immer dasselbe sehen, d. h. der Schein muß ebenso sein, wie das Sein, unverändert ewig. Von einem Ziele könnte also nicht die Rede sein, noch weniger von einem Nichterreichen des Zieles. Somit giebt es also unendliche Willen: jeder projicirt sich in jedem Momente und bleibt sich ewig gleich. Somit giebt es für jeden Willen eine verschiedene Zeit. Es giebt keine Leere, die ganze Welt ist Erscheinung, durch und durch, Atom an Atom, ohne Zwischenraum. Voll als Erscheinung wahrnehmbar ist die Welt nur für den einen Willen. Er ist also nicht nur leidend, sondern gebärend : er gebiert den Schein in jedem kleinsten Moment: der als das Nichtreale auch der Nichteine, der Nichtseiende, sondern Werdende ist. 7 [169] Wenn der Widerspruch das wahrhafte Sein, die Lust der Schein ist, wenn das Werden zum Schein gehört - so heißt die Welt in ihrer Tiefe verstehen den Widerspruch verstehen. Dann sind wir das Sein - und müssen aus uns den Schein erzeugen. Die tragische Erkenntniß als Mutter der Kunst. 1. Alles besteht durch die Lust; deren Mittel ist die Illusion. Der Schein ermöglicht die empirische Existenz. Der Schein als Vater des empirischen Seins: das also nicht das wahre Sein ist. 2. Wahrhaft seiend ist nur der Schmerz und der Widerspruch. 3. Unser Schmerz und unser Widerspruch ist der Urschmerz und der Urwiderspruch, gebrochen durch die Vorstellung (welche Lust erzeugt). 136
4. Das ungeheure künstlerische Vermögen der Welt hat sein Analogon in dem ungeheuren Urschmerz. 7 [170] Im Menschen schaut das Ureine durch die Erscheinung auf sich selbst zurück: die Erscheinung offenbart das Wesen. D. h. das Ureine schaut den Menschen und zwar den die Erscheinung schauenden Menschen, den durch die Erscheinung hindurch schauenden Menschen. Es giebt keinen Weg zum Ureinen für den Menschen. Er ist ganz Erscheinung. 7 [171] a. Realität des Schmerzes gegenüber der Lust. b. Die Illusion als das Mittel der Lust. c. Die Vorstellung als das Mittel der Illusion. d. Das Werden, die Vielheit als Mittel der Vorstellung. e. Das Werden, die Vielheit als Schein - die Lust. f. Das wahre Sein - der Schmerz, der Widerspruch. g. Der Wille - bereits Erscheinung, allgemeinste Form. h. Unser Schmerz - der gebrochene Urschmerz. i. Unsre Lust - die ganze Urlust. 7 [172] Das Individuum, empirisch betrachtet, ein Schritt zum Genius. Es giebt nur ein Leben: wo dieses erscheint, erscheint es als Schmerz und Widerspruch. Die Lust allein in der Erscheinung und Anschauung möglich. Die reine Versenkung in den Schein - das höchste Daseinsziel: dorthin, wo der Schmerz und der Widerspruch nicht vorhanden erscheint. - Wir erkennen den Urwillen nur durch die Erscheinung durch, d. h. unsre Erkenntniß selbst ist eine vorgestellte, gleichsam ein Spiegel des Spiegels. Der Genius ist das als rein anschauend Vorgestellte: was schaut der Genius an? Die Wand der Erscheinungen, rein als Erscheinungen. Der Mensch, der Nicht-Genius, schaut die Erscheinung als Realität an oder wird so vorgestellt: die vorgestellte Realität - als das vorgestellte Seiende - übt eine ähnliche Kraft wie das absolute Sein: Schmerz und Widerspruch. 7 [173] Begriff des Naiven und Sentimentalischen ist zu steigern. Völlige Verschleierung durch Trugmechanismen ist "naiv", die Zerreißung derselben, die den Willen zu einem Nothgespinst nöthigt, ist "sentimentalisch". 7 [174]
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Inhalt der Abhandlung. Zwei Grundtriebe der hellenischen Kunst sind erkennbar, der apollinische und der dionysische. Sie vereinigen sich, um eine neue Kunstform, die des tragischen Gedankens, zu erzeugen. Diesem höchsten Kunstziel dient der hellenische Wille in seinen Erscheinungen als Gesellschaft Staat Weib Orakel. Jene Doppelnatur liegt auf dem Gesicht der tragischen Masken und überhaupt der Tragödie geprägt. Der welcher sie im Drama vernichtete, Euripides, folgt darin dem dämonischen Einflusse des Sokrates. Das Ziel der Wissenschaft, welche Socrates inaugurirte, ist die tragische Erkenntniß als Vorbereitung des Genius. Die neue Stufe der Kunst wurde nicht von den Griechen erreicht: es ist die germanische Mission. Die von jener tragischen Erkenntniß herausgeforderte Kunst ist die Musik. Shakespeare's Verhalten zu ihr. Zweck des Erkennens somit ein aesthetischer. Mittel des Erkennens die Wahngebilde. Die Welt des Scheins als die Welt der Kunst, des Werdens, der Vielheit - ein Gegensatz zur Welt des Ureinen: das gleich dem Schmerz und dem Widerspruch ist. Zweck der Welt ist das schmerzlose Anschauen, der reine aesthetische Genuß: diese Welt des Scheins steht im Gegensatz zur Welt des Schmerzes und des Widerspruchs. Je tiefer unsre Erkenntniß in das Ursein geht - das wir sind - um so mehr erzeugt sich auch das reine Anschauen des Ureinen in uns. Der apollinische Trieb und der dionysische in fortwährendem Fortschreiten, der eine nimmt immer die Stufe des Andern ein und nöthigt zu einer tieferen Geburt der reinen Anschauung. Dies ist die Entwicklung des Menschen und so als Erziehungsziel zu fassen. Die griechische Heiterkeit ist die Lust des Willens, wenn eine Stufe erreicht ist: sie erzeugt sich immer neu: Homer, Sophokles, das Johannesevangelium - drei Stufen derselben. Homer als Triumph der olympischen Götter über die titanischen Graunmächte. Sophokles als der Triumph des tragischen Gedankens und Besiegung des aeschyleischen Dionysusdienstes. Das Johannesevangelium als Triumph der Mysterienseligkeit, der Heiligung. Lösung des Schopenhauerischen Problems: die Sehnsucht in's Nichts. Nämlich - das Individuum ist nur Schein: wenn es Genius wird, so ist es Lustziel des Willens. D. h. das Ureine, ewig leidend, schaut ohne Schmerz an. Unsre Realität ist einmal die des Ureinen, Leidenden: andrerseits die Realität als Vorstellung jenes Ureinen. - Jene Selbstaufhebung des Willens, Wiedergeburt usw. ist deshalb möglich, weil der Wille nichts als Schein selbst ist und das Ureine nur in ihm eine Erscheinung hat. Moralität und Religion sind ins Bereich der aesthetischen Absichten zu ziehen. Freier Wille (Vorstellung der Aktivität, des Lebens überhaupt) - Mitleid. Die "Realität" ist die unreine Anschauung d. h. Schmerz und Widerspruch und Anschauung gemischt. 7 [175] Es ist die Natur jedes Menschen, soweit in der Anschauung zu steigen als er kann. Diese Entwicklung ist mit der Vorstellung der Freiheit verknüpft: als ob er auch anders könnte! Daß der Mensch aber steigen kann, dies ergiebt daß er in keinem Moment derselbe ist, wie auch sein Leib ein Werden ist. Es ist allein der eine Wille: der Mensch ist eine in jedem Moment geborne Vorstellung. Was ist Festigkeit des Charakters? Eine Thätigkeit des anschauenden Willens, ebenso sehr wie Bildungsfähigkeit eines Charakters. 138
Und so ist unser Denken nur ein Bild des Urintellekts, ein Denken durch die Anschauung des einen Willens entstanden, der sich seine Visionsgestalt denkend denkt. Wir schauen das Denken an wie den Leib - weil wir Wille sind. Die Dinge, die wir im Traum anrühren, sind auch fest und hart. So ist unser Leib, und die ganze empirische Welt, für den anschauenden Willen fest und hart. Somit sind wir dieser eine Wille und dieses eine Anschauende. Es scheint aber, daß unsre Anschauung nur die Abbildung der einen Anschauung ist, d. h. nichts als eine in jedem Moment erzeugte Vision der einen Vorstellung. Die Einheit zwischen dem Intellekt und der empirischen Welt ist die prästabilirte Harmonie, in jedem Moment geboren und sich völlig im kleinsten Atome deckend. Es giebt nichts Innerliches, dem kein Äußerliches entspräche. Somit entspricht jedem Atom seine Seeele. D. h. alles Vorhandene ist in doppelter Weise Vorstellung : einmal als Bild, dann als Bild des Bildes. Leben ist jenes unablässige Erzeugen dieser doppelten Vorstellungen: der Wille ist und lebt allein. Die empirische Welt erscheint nur, und wird. Künstlerisch ist dies vollkommene Sichdecken von Innerem und Äußerem in jedem Moment. Im Künstler waltet die Urkraft durch die Bilder hindurch, sie ist es, die da schafft. Auf diese Momente ist es bei der Weltschöpfung abgesehn: jetzt giebt es ein Bild des Bildes des Bildes? (?) Der Wille braucht den Künstler, in ihm wiederholt sich der Urprozeß. Im Künstler kommt der Wille zur Entzückung der Anschauung. Hier ist erst der Urschmerz völlig von der Lust des Anschauens überwogen. Ich glaube an die Unverständigkeit des Willens. Die Projektionen sind lebensfähig nach unendlicher Mühe und zahllosen mißlungenen Experimenten. Der Künstler wird nur hier und da erreicht. 7 [176] Auch philologisch will ich zu der Schrift einiges hinzuthun, z. B. einen Abschnitt zur Metrik, zu Homer. 7 [177] Verhältniß von Anschauung zur Dichtkunst - Metrik. Rhythmus. Homer verhält sich zum Drama wie Sprache zum Metron. 7 [178] "Die griechische Tragoedie in ihrem Verhältnisse zur Oper." "Der griechische Staat." ("Staat und Kunst.")
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"Zukunft der Philologie." "Die griechischen Mysterien." "Die homerische Frage." "Rhythmus." 7 [179] Hebbel: Gäbe es lauter Genie's, ich würde mich gar nicht verwundern, Aber ich staunte schon oft, daß es so wenige giebt. Dennoch ist es natürlich! Wie viel ist Muskel im Menschen Und wie wenig Gehirn! So auch am Menschengeschlecht. Machte der Künstler ein Bild und wüßte, es dauere ewig, Aber ein einziger Zug, tief wie kein andrer, versteckt, Werde von keinem erkannt der jetzigen und künftigen Menschen Bis an's Ende der Zeit, glaubt ihr, er ließe ihn weg? "Laß dich tadeln fürs Gute und laß dich loben fürs Schlechte: Fällt dir eines zu schwer, schlage die Leier entzwei." In die wirkliche Welt sind viele mögliche andre Eingesponnen, der Schlaf wickelt sie wieder heraus Sei es der dunkle der Nacht, der alle Menschen bewältigt, Sei es der helle des Tags, der nur den Dichter befällt, Und so treten auch sie, damit das All sich erschöpfe, Durch den menschlichen Geist in ein verflatterndes Sein. 7 [180] Entstehung und Tod der Tragödie. Die Mittel des hellenischen Willens um zur Tragödie zu kommen. 7 [181] 140
Welchen Zweck hatte die Tragödie? Welchen ihr Tod? Daraus Homer zu begreifen. Die Wissenschaft und das Johannesevangelium. Die künstlerische Heiterkeit als Ziel. 7 [ 182] Die Vergötterung des Volks zurückzuweisen: wir wandeln hier nur auf den Fußtapfen der großen Einzelnen. Kann eine solche Anhäufung von solchen Überresten, Cultur genannt, Ziel sein? 7 [183] Ist das was Vielen nützt, Ziel? Oder sind die Vielen nur Mittel? 7 [184] Die Harmonie der Kräfte und die daraus entspringende Heiterkeit als modernes Ziel häufig genug hingestellt. Das κατα ϕυσιν ζην. 7 [185] Historisches Erkennen ist nur Neuerleben. Aus dem Begriff führt kein Weg in das Wesen der Dinge. Es giebt keinen Weg, die griechische Tragödie zu begreifen, als Sophokles zu sein. 7 [186] Die griechische Heiterkeit der Masse ist nur Rückwirkung der griechischen Heiterkeit der Einzelnen. Jede Wirkung ist aber absoluter Schein. Somit wirken weder die Einzelnen auf die Masse, noch die Masse auf die Einzelnen. D. h. das Ureine schaut etwas als Prozeß, zeitlich, räumlich und causal. 7 [187] 1) Was Goethe von Kleist sagt, hätte er vor der Welt empfinden müssen - der volle Dramatiker ist die Welt selbst. Und wissen wir, beim Denken an Hamlet, Timon und die Sonette von Shakespeare etwas Anderes als von Kleist? 7 [188] Der Traum. Eine Umsetzung von Schmerzen in Anschauungen, in denen die Schmerzen gebrochen werden: feindliche Empfindung ihrer Nichtrealität. 7 [189] 1. Der Staat. 2. Die Religion. 141
3. Die Moral. 4. Der Arbeiter. 5. Erkenntnißtheorie. 6. Rhythmus. 7. Homer. 8.. Erziehung. 9. Geschichte. 10. Schopenhauer. 11. Wagner. 7 [190] 1. Psychologie. 2. Pädagogik. Kant's Philosophie. 3. Aesthetik. 4. Moral. Logik. 7 [191] 1) Das Alterthum ist in umgekehrter Zeitfolge entdeckt worden: Renaissance und Römerzeit, Goethe und der Alexandrinismus, es gilt das 6te Jahrhundert aus seinem Grabe zu erlösen. 7 [192] Der Übertritt der christlichen Kirche auf griechischen Boden - ungeheure Nachwirkungen! 7 [193] Beeinflussung unserer Anschauung vom Alterthum durch die Kirchenväter und die kirchliche Sage (Tannhäuser). 7 [194] Starre Unveränderlichkeit der Vorstellung des Ureinen, das aber als Schein einen Prozeß vollführen muß. Der intellegible Charakter völlig fest: nur die Vorstellungen sind frei und wandelbar? Wie wir handeln, wie wir denken - alles nur Prozeß und nothwendiger. 142
7 [195] Die Causalität des Traumes ist ein Analogon zur Kausalität des Wachens - noch dazu des intensiven secundenlangen Traumes. In der einen Hälfte des Daseins sind wir Künstler - als Träumende. Diese ganz aktive Welt ist uns nothwendig. 7 [196] Das Ineinander von Leid und Lust im Wesen der Welt ist es, von dem wir leben. Wir sind nur Hülsen um jenen unsterblichen Kern. Insofern durch Vorstellung der Urschmerz gebrochen wird, ist unser Dasein selbst ein fortwährender künstlerischer Akt. Das Schaffen des Künstlers ist somit Nachahmung der Natur im tiefsten Sinne. Also: Wissenschaft das Schöne Erkenntniß, transscend<entale> Aesthetik. 7 [197] Einleitung. Bedeutung der Kunst für die Erziehung. Die Griechen. Wissenschaft. Das Schöne. Wahnvorstellungen. Transscend<entale> Aesthetik. Umgekehrte Recapitulation. 7 [198] Über die Gesellschaft "der Räuber braucht die Faust nur hin und wieder", "der Mörder treibt sein Werk nicht ohne Grauen", "du hast das Amt zu rauben und zu tödten. " 7 [199] 1) Die Kunst kann nicht ihre Aufgabe in der Kultur und der Bildung haben, sondern der Zweck muß ein höherer über die Menschheit hinausgehender sein. Glaubt man wirklich, daß 143
eine Statue des Phidias vernichtet werden könne, wenn nicht einmal die Idee des Steins, aus der sie gefertigt war, zu Grunde geht? Daran soll sich der Künstler genügen lassen. Er ist der eigentliche Unnütze, im verwegensten Sinne. 7 [200] Vor Schmerz sich selbst zerfleischen - das ist das Böse, das immer der reinen Verzückung in der Anschauung entgegenkämpft. Der eine Wille schafft auch hierzu eine Wahnvorstellung und bricht hierdurch die Macht des Bösen, das, wie der Schmerz in der Erscheinungswelt ein unendlich kleiner ist, auch in der Erscheinungswelt nur unendlich klein erscheint. Scheinbar wendet sich Erscheinung gegen Erscheinung, in Wahrheit Wille gegen sich selbst. Aber das ungeheure Ziel des letzten Strebens wird nicht erreicht: der Wille ist wie in einer Tarnkappe durch die Erscheinung geschützt. 7 [201] Wir sind einerseits reine Anschauung (d. h. projicirte Bilder eines rein entzückten Wesens, das in diesem Anschaun höchste Ruhe hat), andernseits sind wir das eine Wesen selbst. Also ganz real sind wir nur das Leiden, das Wollen, der Schmerz: als Vorstellungen haben wir keine Realität, obwohl doch eine andre Art von Realität. Wenn wir uns als das eine Wesen fühlen, so werden wir sofort in die Sphäre der reinen Anschauung gehoben, die ganz schmerzlos ist: obwohl wir dann zugleich der reine Wille, das reine Leiden sind. Solange wir aber selbst nur "Vorgestelltes" sind, haben wir keinen Antheil an jener Schmerzlosigkeit: während das Vorstellende sie rein genießt. In der Kunst dagegen werden wir "Vorstellendes": daher die Verzückung. Als Vorgestelltes fühlen wir den Schmerz nicht (?). Der Mensch z. B. als eine Summe von unzähligen kleinen Schmerz- und Willensatomen, deren Leid nur der eine Wille leidet, deren Vielheit wiederum die Folge der Verzückung des einen Willens ist. Wir sind somit unfähig, das eigentliche Leid des Willens zu leiden, sondern leiden es nur unter der Vorstellung und der Vereinzelung in der Vorstellung. Also: die einzelne Projektion des Willens (in der Verzückung) ist ja real nichts als der eine Wille: kommt aber nur als Projektion zum Gefühl seiner Willensnatur d. h. in den Banden von Raum Zeit Causalität, und kann somit nicht das Leid und die Lust des einen Willens tragen. Die Projektion kommt zum Bewußtsein nur als Erscheinung, sie fühlt sich durch und durch nur als Erscheinung, ihr Leiden wird nur durch die Vorstellung vermittelt, und dadurch gebrochen. Der Wille und dessen Urgrund, das Leid, ist nicht direkt zu erfassen, sondern durch die Objektivation hindurch. Denken wir uns die Visionsgestalt des gefolterten Heiligen: diese sind wir: wie nun leidet wieder die Visionsgestalt und wie kommt sie zur Einsicht in ihr Wesen? Der Schmerz und das Leid muß mit in die Vision übergehn, aus der Vorstellung des Gemarterten: nun empfindet er ihre Visionsbilder, als Anschauender, nicht als Leid. Er sieht gequälte Gestalten und schreckliche Dämonen: diese sind nur Bilder, und das ist unsre Realität. Aber dabei bleibt immer das Fühlen und Leiden dieser Visionsgestalten ein Räthsel. Auch der Künstler nimmt Harmonien und Disharmonien in seine Vorstellung. 144
Wir sind der Wille, wir sind Visionsgestalten: worin aber liegt das Band? Und was ist Nervenleben, Gehirn, Denken, Empfinden? - Wir sind zugleich die Anschauenden - es giebt nichts als die Vision anzuschauen - wir sind die Angeschauten, nur ein Angeschautes - wir sind die, in denen der ganze Prozeß von neuem entsteht. Aber leidet der Wille noch, indem er anschaut? ja, denn hörte er auf, so hörte die Anschauung auf. Aber das Lustgefühl ist im Überschuß. Was ist Lust, wenn nur das Leiden positiv ist? 7 [202] Das Leben darzustellen als ein unerhörtes Leiden, das immer in jedem Momente eine starke Lustempfindung produzirt, wodurch wir als Empfindende ein gewisses Gleichmaß, ja oft einen Überschuss der Lust erreichen. Ist dies physiologisch gegründet? 7 [203] Im Werden zeigt sich die Vorstellungsnatur der Dinge: es giebt nichts, es ist nichts, alles wird, d. h. ist Vorstellung. 7 [204] 1. Nachweis, warum die Welt nur eine Vorstellung sein kann. 2. Diese Vorstellung ist eine verzückte Welt, die ein leidendes Wesen projicirt. AnalogieBeweis: wir sind zugleich Wille, aber ganz in die Erscheinungswelt verstrickt. Das Leben als ein fortwährender, Erscheinungen projicirender und dies mit Lust thuender Krampf. Das Atom als Punkt, inhaltslos, rein Erscheinung, in jedem kleinsten Momente werdend, nie seiend. So ist der ganze Wille Erscheinung geworden und schaut sich selbst an. Jene aus der Qual erzeugte Vorstellung wendet sich einzig der Vision zu. Sie hat natürlich kein Selbstbewußtsein. So sind auch wir nur der Vision, nicht des Wesens uns bewußt. Leiden wir denn nun als einer Wille? Wie könnten wir leiden, wenn wir rein Vorstellung wären? Wir leiden als einer Wille, aber unsre Erkenntniß richtet sich nicht gegen den Willen, wir sehen uns nur als Erscheinungen. Wir wissen gar nicht, was wir leiden, als einer Wille. Sondern wir leiden nur als vorgestellte Leidende. Nur daß wir es nicht sind, die uns als Leidende zuerst vorstellen. Wie kann aber eine leidend gedachte Visionsgestalt wirklich leiden? Es kann ja nichts vergehen, weil nichts wirklich da ist - was leidet denn eigentlich? Ist nicht das Leiden eben so unerklärbar wie die Lust? Wenn zwei Corti'sche Fasern sich gegeneinander schlagen, warum leiden sie? Der eigentliche Prozeß des Schlagens ist ja doch nur eine Vorstellung und die sich schlagenden Fasern ebenfalls? Somit können wir sagen, daß der Schmerz des kleinsten Atoms zugleich der Schmerz des einen Willens ist: und daß aller Schmerz ein und derselbe ist: die Vorstellung ist es, durch die wir ihn als zeitlich und räumlich wahrnehmen, bei 145
Nichtvorstellung nehmen wir ihn gar nicht wahr. Die Vorstellung ist die Verzückung des Schmerzes, durch die er gebrochen wird. In diesem Sinne ist der ärgste Schmerz doch noch ein gebrochener, vorgestellter Schmerz, gegenüber dem Urschmerz des einen Willens. Die Wahnvorstellungen als Verzückungen, um den Schmerz zu brechen. [Dokument: Heft] [Winter 1870 -71 - Herbst 1872] 8 [1] Das Weib dem Staate gegenüber - der Schlaf. Gleichbleiben der Natur. Lächerliche Kultur des Weibes. Abzusehen von den niederen Ständen. Die Anschauung der Dichter ist durchaus die allgemeine Sittenlehre. Ehrfurcht. Strenge Sitte. 8 [2] Woher der Genuß am Widerspruch, im Wesen des Tragischen? Der Widerspruch als das Wesen der Dinge spiegelt sich in der tragischen Handlung wieder. Er erzeugt aus sich eine metaphysische Illusion, auf die es bei der Tragödie abgesehen ist. Der Held siegt, indem er untergeht. Die Vernichtung des Individuums als Einblick in die Vernichtung der Individuation, höchste Lustspiegelung. Der Kampf der Individuen - Grund des Willens - Seufzer der Natur. Das enge Ziel des Individuums wird geahnt als Mittel eines Weltplans. Seine Vernichtung eine Bürgschaft, daß der Weltplan von ihm nach seinem Theil gefördert ist. Die metaphysische Illusion des Aeschylus. Die des Sophocles. Die Tragödie als auf Welt-Genius gerichtet - Mysterium. Die Mysterien - der Heilige. 8 [3]
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Kritik der Aristotelischen Auffassung. Zu erklären aus Euripides - der zwar widerrufen hat Tod der Tragödie - Sokrates. Das Drama - episch. 8 [4] Homer. Der apollinische Genius. Warum der kurzlebende Achilles doch noch epischer Held sein kann? Musik. Die orgiastische Musik bei Aristoteles. Ohne alle staatlichen Beziehungen ist der dionysische Genius. An "Beethoven" zu erinnern. 8 [5] Den allgemeinsten Typus des apollinischen Genius zeigt jene kleine Schaar, die sieben Weisen. Diese Genien bestätigen sich gegenseitig: sie sind Dichter, Philosophen, Staatsmänner, Ärzte. Es ist das sechste Jahrhundert, in dem sich, nach einem äußerlichen Friedensschlusse und unter der gegenseitigen Berührung, beide Principien selbstgenügsamer ausschließlicher und vollkommener als je entwickeln: in diesem Zeitraum bildet sich auch der Typus des Genius aus. Epimenides, der räthselhafte "Schläfer", einer der Weisen, heilt von der Pest und Bezauberung von Blutschuld, Dichter. Olympus der phrygische Aulet, orgiastische Weise - - 8 [6] Der apollinische Einzelne. Gesellschaft. Staat. Weib. Pythia. Der dionysische Einzelne. Mysterien. Der Doppelgenius. 8 [7] Das Subjektive zu erklären. Archilochus, "die Lyrik", "die musikalische Stimmung" (Schiller) als Geburtsstätte, die sich jetzt in Bildern ausspricht. Die dionysische Manie erscheint mit 147
einem analogen Gleichniß: Liebe zu den Töchtern, mit Schmähung und Verachtung gemischt. Das "Volkslied" dionysisch. Nicht rasende Leidenschaft macht hier den Lyriker, sondern ungeheuer starker dionysischer Wille, der in einem apollinischen Traum sich äußert. Es ist Dionysus, der, eingehend in die Individuation, seine Doppelstimmung ausläßt: der Lyriker spricht von sich, er meint aber nur den Dionysus. Die Subjektivität des Lyrikers ist eine Täuschung. Der schaffende Untergrund ist der dionysische Urschmerz, der sich in einem analogen Bilde äußert, so daß wir nicht zu dem Bilde, sondern zu diesem Untergrunde fortgerissen werden. Gegensatz des Plastikers, der keine Stimmung erregen will, sondern das reine Anschauen verlangt. Ebenso der Epiker, ausgehend vom Bilde, das er rein überliefern will, und dazu regt er Gefühle und Stimmungen an, d. h. der Träumende ist selbst am Traum nur so weit betheiligt, als er den anzuschauenden Dingen nahe stehen muß und sie verstehen muß. Der Dithyrambus - als der lyrische Chor, der die Leiden der Individuation im Bilde sieht: welches Bild endlich auch dargestellt wird. Der dramatische Vorgang ist nur als Vision gedacht. Die Musik, Tanz, Lyrik ist die dionysische Symbolik, aus der die Vision geboren wird. Erregung des Gefühlsgrundes zur Projektion der Bilder: zwischen denen jetzt eine natürliche Verwandtschaft sein wird. Wenn nun der erzeugende Untergrund fehlt, sondern rein die Bilder erschaffen werden sollen, das Drama - so ist nichts anderes möglich, als das Epos zu dramatisiren. Das dramatisirte Epos - Shakespeare - Musikuntergrund. Der dramatisirte Traum endet mit dem gestärkten Gefühle des Erwachens. Schauspiel. Rein apollinisch: Wirkung als Bild. Die eigentlich dramatische Erschütterung der jetzigen Stücke ist gar nicht künstlerischer Natur, ebensowenig wie Furcht und Mitleid, gänzlich unkünstlerisch. Das Interesse an der neueren Komödie. Versuch des Euripides, das Drama ganz apollinisch zu machen, als dramatisirtes Epos, mit der Ethik des Epos: zugleich aber unkünstlerische Wirkungen: Dialektik, Furcht und Mitleid, der pathologische Traum, auf dem Betrug beruhend: die neuere Komödie nicht Bild, sondern Wirklichkeit und zwar weder apollinisch noch dionysisch, sondern der wahre Mensch: Neugierde, Wollust, Witz, etc. 8 [8] Umarbeitung des Abschnittes Staat Weib Mysterien. Der apollinische . Der dionysische Künstler. Schluß der Tragödie. Das Drama, neuere Komödie. 8 [9] 148
Apollinisch: der Einzelne, die sieben Weisen: der apollinische Staat. Dionysisch: die Mysterien. Olympus. Punkt der Vereinigung: Archilochos: der dionysisch-apollinische Künstler. Erhaben und Lächerlich. Diese beiden höchsten Erscheinungsfomen - der griechische Staat (apollinische Einzelne) und die Mysterien. Das Drama zuerst als eine Vision des Chors. Nachtwandler. 8 [10] Einleitung. Aristoteles Aesthetik. Schiller's Naiv und Sentimentalisch. Goethes Homer. 8 [11] Die Tragödie. Das Epos. Die Philosophie. 8 [12] Die homerische Heiterkeit. 1. Bei Hesiod zwei Weltalter identisch - eiserne und heroische. Wie war die eine Vorstellung in die andre zu übertragen? Widerspiel von Titanen und olympischen Göttern, allmählich geschieden und die eine Partei überwunden. Homer als der olympisch-heroische Dichter mit vollster Heiterkeit. 2. Volle Lust der Vorstellung gegenüber dem Schwächegefühl des gegenwärtigen Menschen. Die Traumeslust, die auch das Schreckliche nicht scheut. Homer als Apollo, der Zürnende und Heitere. Schönstes Tageslicht zwischen den Individuen. 8 [13] Kunst und Wissenschaft. 1. Künstlerisch-mystischer defectus in Sokrates - dabei jene Forderung des Traums, dabei jene künstlerische Heiterkeit. Alle Kunst geht an ihm zu Grunde und doch ist er nicht wie Euripides ein Melancholiker. Worin liegt jener magische Heiterkeitszauber, den die Systeme der Philosophen, Stoiker und Epikureer durch Begriffe zu erreichen suchten? Platonisches Symposion, Ironie. Häßlichkeit. Kein Rausch der Abstinenz. 149
2. Seine künstlerische Heiterkeit entladet sich in der Maieutik bei edlen Jünglingen. Plato ist ein sokratisches Kunstwerk (wie der Künstler als ein Fremder seinem Werke gegenüber steht). 3. Der Glaube an die Weltcorrektur des Wissens: Wahnvorstellung der Wissenschaft. Gegensatz Lessing: die Wahrheitstendenz. 4. Die Logik als künstlerische Anlage, sie beißt sich in den Schwanz und läßt die Welt des Mythus offen. Mechanismus, wie Wissenschaft in Kunst umschlägt - 1. an den Grenzen der Erkenntniß, 2. aus der Logik heraus. 5. Wissenschaftliche Erziehung. "Befreiung vom Instinkte." Der apollinische Lehrer. 6. Nothwendigkeit der Wahnvorstellungen. Die Wiederhersteller: die Religionslehrer. 7. Der Heilige als "Befreiung von der Logik". 8. Alexandrinismus und Johannesevangelium. 9. Kampf der Mystik und der Wissenschaft - Dionysus und Apollo. Das "Sentimentalische". 10. Musik und Drama. 11. Der tragische Mensch als der musiktreibende Sokrates. 8 [14] Socrates und die Tragoedie. An die Spitze dieses Abschnittes stelle ich zwei zu einander gehörige Fragen: wie ist die künstlerische Heiterkeit des Sokrates möglich bei jenem erwähnten monströsen defectus der künstlerisch-mystischen Begabung? Und ist ein künstlerisch produktiver Sokrates überhaupt denkbar - was doch aus jener räthselhaften immer wiederkehrenden Weisung der Traumerscheinung "Sokrates treibe Musik" 8 [15] Im Hinblick auf jene geheimnißvolle und stets wiederkehrende Weisung der Traumerscheinung "Sokrates treibe Musik" können wir der Frage nicht ausweichen, ob wir uns überhaupt einen musiktreibenden d.h. künstlerisch produktiven Sokrates denken dürfen: wobei es wiederum zweifelhaft sein könnte, ob wir diesen uns nach dem Typus des Euripides oder des Plato vorzustellen hätten; wenn nicht gar damit ein durchaus eigenartiger Typus gemeint ist, der, in einer neuen Verschmelzung des Apollinischen und des Dionysischen, auch eine ganz, neue Kunstwelt inaugurirt. Das Letztere ist unsere Muthmaßung: um diese zu begründen, ist es nöthig, eine längere Combination von Gedanken darzustellen. Man darf doch von vorn herein dieser im Traume sich kundgebenden Weisheit so viel einräumen, daß ihr allein jene monströse Lücke, jener mystische defectus in der Anlage des Socrates deutlich geworden sei, daß ihr allein der Zugang zu der räthselvollsten Erscheinung des Alterthums erschlossen war, ja daß aus ihr heraus das hellenische Wesen als Richter sein Urtheil über Sokrates ausgesprochen habe. 8 [16] Heribert Marquis von Villemain hatte von seiner schönen und tugendhaften Gattin - aus dem Hause der Montmorenci - zwei Kinder, zuerst einen Knaben und dann nach Verlauf einiger Jahre ein Mädchen, dessen Geburt die zarte und häufig leidende Mutter nur schwer überstand. Als das letztgeborene Kind vier Jahre alt war, wurde der Marquis Wittwer. Man sah ihn längere Zeit nicht mehr in den benachbarten Schlössern, ja selbst in seinen Wäldern und Gehegen wurde er zum Staunen seiner Jäger vermißt, und man sagte sich daß die Jagdhunde, 150
wenn er jetzt einmal erschien, ihn wie einen Fremden anfuhren. Endlich, nach der längeren Anwesenheit eines berühmten Arztes, der freilich auch noch unheimliche Künste verstehen sollte, z. B. geliebte Todte auf kurze Augenblicke erscheinen zu lassen, gieng eines Morgens die Nachricht durch das Dorf, daß in der letzten Nacht der Marquis sammt seinem Töchterchen das Schloß verlassen habe und seiner Gesundheit wegen dem Süden zueile. Es war im zweiten Monat des Jahres, als er in Rom anlangte: und alsbald sehen wir ihn in den rauschenden Festlichkeiten, die den Carneval einleiten, in Verbindung mit der besten, doch auch leichtsinnigsten Gesellschaft, wie er heiteren Blicks und nicht ohne Übermuth ganz dem Augenblicke lebt und im athemlosen Schleifen sich nicht Zeit nimmt, der Vergangenheit zu gedenken. Als nun gar der Karneval alle lebensfreudigen Regungen zum Taumel und zur Trunkenheit steigerte, erschien unser Marquis wie ein toller unerfahrener Jüngling, so daß der berühmte Arzt, der um diese Zeit mit ihm in Rom zusammentreffen wollte, nach einer kurzen Begegnung ihm aus dem Wege gieng und ihn wieder in die würdige Einsamkeit seines Schlosses zurückwünschte. In der Nacht vor Aschermittwoch kehrte der Marquis mit mühsamem Schritte von einem Gelage heim, welches der damalige französische Gesandte veranstaltet hatte. Vor seinem ermüdeten Blicke tanzten noch die Bilder der glänzenden und üppigen römischen Schönheiten und der farbige Strudel von Lichtern, blitzenden Geschmeiden, glühenden Augen, so daß er plötzlich zusammenfuhr, als sein Diener, der hinter ihm hergegangen war, ihn festhielt, damit er nicht an seinem eigenen Hause vorübergehe. Traurig glitt sein Auge über das todte Mauerwerk hin; und indem er langsam suchte, warum heute Nacht das Haus so oede und verlassen wie nie ihm erschien, fiel ihm ein, daß in früheren Nächten ein Fenster immer noch erleuchtet war, zu welcher Stunde der Nacht er auch heimkehrte, das Fenster jenes Schlafzimmers, in dem die kleine Tochter sammt ihrer Wärterin lag. Auch dies Fenster war heute dunkel. Es fröstelte den Marquis, als der Diener mit den Schlüsseln an der Thür knarrte. Schweigend stieg er die Treppe hinauf, sein dumpfer Schritt verklang allmählich in seinem Zimmer, in das der Diener ihm folgte, um die Lichter anzuzünden. Dieser ehrliche bereits ergraute Mann war seinem Herrn ergeben genug, um nicht ohne Trauer sein jetziges Leben mit der friedfertigen Vergangenheit zu vergleichen: und so verließ er ihn heute, wie auch frühere Abende, mit einem ernsten Gesicht, auf dem ein frommer Wunsch und die alte Zärtlichkeit für seinen Gebieter sich aussprachen. Behutsam und leise hatte er die Thür geschlossen: aber fast in derselben Minute wurde sie schnell aufgerissen und der Kopf des Dieners erschien wieder; die Hand mit der er den Leuchter trug schwankte und bevor noch ein einziges Wort von seinen Lippen gekommen war, lag der Leuchter mit dem ersterbenden Licht auf der Erde. Der Marquis, der bis jetzt mit den Händen vor den Augen auf einem Stuhl gesessen hatte, sprang auf und leuchtete dem leichenfarbigen Diener entgegen, der mit beiden Händen und abgewandten Hauptes nach der Seite hin zu deuten schien. Der Lichtstrahl, der aus dem Zimmer heraus fiel, zeigte auf dem Vorsaal eine offenstehende Thür, schräg dem Zimmer des Marquis gegenüber. Hier war der Eingang zu dem Schlafzimmer der Tochter und ihrer Wärterin. "Sie ist verloren, sie ist geraubt!" schrie der Marquis; eine unwiderstehliche Ahnung drängte ihn so zu rufen, bevor er noch das oede, in seiner Ordnung gespenstische Schlafzimmer gesehen und über dem leeren Bettchen des Kindes niedergesunken war. 8 [17] Weiterbildung der Symphonie in Wagner. 8 [18] Die Musiker benutzen die Lyrik, um ihre erhabensten rein musikalischen Intentionen zum Verständniß zu bringen. 151
8 [19] So gewiß solch ein Wesen wie Sokrates den Athenern als etwas schlechthin Neues und Fremdartiges erscheinen mußte, so sicher ist andernseits die tiefste Verwandtschaft dieses Sokrates mit der platonischen Idee des Hellenischen. Sehen wir uns nur die mythischen Repräsentanten des Hellenischen an, so erinnern gerade die größten Gestalten an den Sokrates. Er ist zugleich Prometheus und Oedipus, aber Prometheus vor seinem Feuerraub und Oedipus vor der Räthsellösung der Sphinx. Durch ihn wird eine neue Spiegelung jener beiden Repräsentanten inaugurirt, die sich wie ein ins Unendliche vergrößerter Schatten in der Abendsonne weithin über die Nachwelt verbreitet. Wir haben von Sokrates aber immer noch das Wenigste gesagt. Es ist noch unausgesprochen, wie bis auf diesen Moment sein Einfluß, gleich einem in der Abendsonne immer größer werdenden Schatten, über die Nachwelt hin sich ausgebreitet hat, und wie derselbe zur Umschaffung der Kunst - und zwar der Kunst in dem tiefsten und weitesten, bereits metaphysischen Sinne - immer wieder nöthigt und, bei seiner eigenen Unendlichkeit, auch deren Unendlichkeit verbürgt. 8 [20] Der Mythus. Wirkung des Dionysischen, es ruft das Apollinische hervor, als Heilmittel. Grundbegriffe. Die griechische Tragödie. Untergang durch den Sokratismus, sokratisch-optimistische Kultur. Die Oper. Gegensatz. Das Kunstwerk. Der Zuhörer. Die Kulturhoffn. Entartung der Kunst durch die Oper. Umgekehrter Prozeß - deutsche Musik. Einfluß der Griechen. Ritter Tod. Aufruf. Griechenland Rom Indien. Tristan. Der künstlerische Zuhörer. 8 [21] Die Musik ist etwas Lebendiges. Man muß das neuerdings durch Briefe dokumentirte völlige Unvermögen des bekannten Theoretikers Hauptmann erwähnen. 8 [22]
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Tristan, als Symphonie, dann Mythus hinzu. 1. Die Wiedergeburt des Mythus. Das Bild im Vergleich zur Musik. Griechen. Sophokles. Asklepios. 2. Die "Lebendigen". Hoffnungen für die bildende Kunst. Phänomen des Lyrikers. Der "Dichter". Die neue Kultur. Tod des sokratischen Menschen. Bereich der Erkenntniß mit tragischer Spitze neu erschlossen. Bedeutung der "Täuschung". 3. Das Bayreuther Fest. 8 [23] Das Vorbildliche an Winckelmann. So ringt sich der deutsche Geist zum Griechischen durch, cf. Goethe, p. 12. Sonderbare Erschwerung durch Alles, was von römischer Seite ihm geschehen ist. Anderseits war das germanische Wesen bemüht, durch diese Vermittlung hindurch zu den Griechen zu kommen: in gewissem Sinn hat selbst das deutsche Wesen etwas Paralleles erlebt, wie jenen Übertritt W's zur katholischen Kirche, um sich zu seiner eigentlichen Bildungsheimat durchzudrängen. Und so gewiß auch unsere Perserkriege eben erst begonnen haben, so bestimmt empfinden wir, daß wir im Zeitalter der Tragödie leben. 8 [24] Seminar. 1.Encyclopädie. Quint Hesiod. 2. Griechische Lyrik. Laertius Hesiod. 3. Lateinische Grammatik. Lyrik. Homerische Frage. 4. Choephoren. Cic<ero> Lyrik. Academica. 5. Metrik Choephoren. 6. Geschichte des Dramas Choephoren. 7. Hesiod. 8 [25] Homer und Hesiod. Zur Rhythnik. Wintersemester
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Lyrik Geschichte des Dramas. Sommersemester Lateinische Grammatik. Wintersemester Metrik Choephoren. Sommersemester Hesiod. Semester I. Seminar: - - Metrik. Das Drama. Semester II. Seminar: - - Griechische Lyrik. Encyclopädie. Semester III. Seminar: - - Lateinische Grammatik. Choephoren. Semester IV. Seminar: - - Griechische Cultur. Hesiod, Erga. 8 [26] Späteres Colleg über Litteraturgeschichte über Cultur der Griechen. Spätere Collegien. 2. Griechische Lyrik. 3. Aeschylus, Choephoren. 154
1. Das Drama. 1. Metrik. 4. Hesiod, Erga. 2. Encyclopädie. 3. Lateinische Grammatik. 4. Griechische Cultur. 8 [27] Haben wir bis jetzt den Staat in seinem Ursprung betrachtet, wie er den Gesellschaftsprozeß erzeugt, der ohne ihn überhaupt nicht zu Stande kommen würde: so liegt jetzt die Frage nahe, wie der Staat sich zur Gesellschaft zu verhalten pflege, nachdem diese ihre chemische Scheidung vollzogen hat und jetzt, pyramidenförmig aufgebaut, ihre höchsten Absichten zu erreichen trachtet. Hier ist es seine Aufgabe - - 8 [28] Der Musiker enthält die ganze Stufenleiter der Welt bis zum genialen Genuß und für denselben in sich. Gluck: der Text sei die richtige und wohlangelegte Zeichnung, welche die Musik lediglich zu coloriren habe. 8 [29] Denken wir selbst an die natürlichste und abgeschwächteste Vereinigung von Musik und Bild, in der menschlichen Sprache, so liegt die Möglichkeit des gegenseitigen Verstehens durchaus in der instinktiv verständlichen Willensmagie des Tones und der Rhythmik der Tonfolge: das Bild wird erst begriffen, nachdem durch den Ton bereits Einverständniß erzeugt ist. Das Bild ist auch hier nur Gleichniß der dionysischen Natur des Tons. Das Recitativ, der erste Keim der Oper, ist in seinem Ursprunge verstanden worden als die Wiederherstellung der Ursprache der Menschheit: mit ihm flüchtete man sich, in idyllischer Regung, aus der Unnatur neuer Musik in ein erträumtes Paradies naiver Wesen, denen man wiederum nur die harmloseste Einfachheit musikalischer Wendungen und Kadenzen zuzutrauen wagte. Dabei konnte man aber einmal nicht consequent verfahren, indem diese selben Wesen in den modernen Sprachen, mit ihren unsäglichen Abirrungen und Verkümmerungen, reden mußten. Und andrerseits wußte man nicht, daß gerade der Ausdruck des Tons in der Sprache und besonders in den glücklichen Zeiten, in die man sich hinein träumte, von einer so unbegreiflichen Mannichfaltigkeit und Freiheit war, daß ihr gegenüber auch der complicirteste musikalische Bau in Rhythmik und Melodik doch nur Nachahmung ist: die Sprache bleibt unbestritten das höchste musikalische Wunderwerk der Natur. So erkennen wir denn schon in der Wurzel der modernen Oper eine unhistorische Flucht in eine phantastische Urgeschichte der Menschheit, einen sentimentalischen Trieb ins Idyllische. Auch im Gebrauch der Sprache haben wir einen bewußt erstrebten Rückschritt ins Einfache anzuerkennen: man meinte die naiven Ausdrucksweisen der Urmenschen wiedergefunden zu 155
haben. Daß man an diesen harmlosen Texten und der im Grunde unerträglichen Musik ein schwärmerisches Behagen empfand, mag man nun dreist mit der Bewunderung vergleichen, die unsere Altvordern für Ossian, oder für Geßner beseelte. Die Arie galt als die Lyrik der Urzeit und wurde als solche bewundert. So sehen wir im Grunde die Bewunderung für die Oper: Empfindungen, die gänzlich abseits liegen von der Wirkung der Musik und der Poesie selbst. Es waren "moralische" Empfindungen, die den Enthusiasmus für die Oper geschaffen haben, ähnlich wie die, welche die Renaissance hervorbrachten. Diese "moralischen" Empfindungen haben von vorn herein die Oper in das Gebiet der schlechten Musik und der schlechten Poesie gebracht: künstliche Naivetät: von Anfang an das Werk geistreicher Dilettanten. Als nun diese moralischen Empfindungen nachließen, konnte man nach zwei Seiten hin die Oper entwickeln, einmal zur guten Musik, andrerseits zum wirksamen Mimus. Aus letzterem ist die dramatische Musik entstanden. Bei der guten Musik ist das Verhältniß zur Poesie rein illusorisch. Bei dem Mimus ist die Musik zur Unmusik geworden. Mozart verlangt, daß die Poesie "der Musik gehorsame Tochter sei". 8 [30] Griechisches Erinnerungsfest. Zeichen des Verfalls. Ausbruch der Pest. Der Homerrhapsode. Empedokles erscheint als Gott, um zu heilen. Die Ansteckung durch Furcht und Mitleid. Gegenmittel die Tragödie. Als eine Nebenperson stirbt, will die Heldin zu ihm. Empedokles hält sie entflammt zurück, sie erglüht für ihn. Empedokles schaudert vor der Natur. Ausbreitung der Pest. Letzter Festtag - Opfer des Pan am Aetna. Empedokles prüft Pan und zertrümmert ihn. Das Volk flüchtet. Die Heldin bleibt. Empedokles im Übermaß des Mitleids will sterben. Er geht in den Schlund und ruft noch "Fliehe!" - Sie: Empedokles! und folgt ihm. Ein Thier rettet sich zu ihnen. Lava um sie herum. 8 [31] Aus einem apollinischen Gott wird ein todessüchtiger Mensch. Aus der Stärke seiner pessimistischen Erkenntniß wird er böse. Im hervorbrechenden Übermaß des Mitleides erträgt er das Dasein nicht mehr. Er kann die Stadt nicht heilen, weil sie von der griechischen Art abgefallen ist. Er will sie radikal heilen, nämlich vernichten, hier aber rettet sie ihre griechische Art. In seiner Göttlichkeit will er helfen. Als mitleidiger Mensch will er vernichten. Als Dämon vernichtet er sich selbst.
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Immer leidenschaftlicher wird Empedokles. 8 [32] 1. Akt: Einzugsscene. 2. Akt: Verehrung und Einrichtung der Feste. Königskrone abgeschlagen. 3. Akt: die Spiele. 4. Akt: Ausbreitung der Pest. Der Todesplan. Bakchisches Rasen der Bevölkerung. 5. Akt: Pan am Aetna. 8 [33] Er ist frei von Furcht und Mitleid, bis zur That der Heldin. Im 4. Akt steigert sich das Mitleid. Der Todesplan. im 5. ist er glücklich, als er das Volk gerettet weiß. Widerspruch: sein Plan ist mißlungen, der Tod erscheint als das größere Unheil als die Pest. Das Volk verehrt ihn immer höher, bis zum Pan. 8 [34] 1. Akt. Der Rhapsode. Empedokles. 2. Akt Proklamation der Pest. 8 [35] I. Morgengrauen. Straße. Haus. II. Rathsaal. Vormittag. III. Theater. Mittag. IV. Im Haus der Corinna. Abend. V. Am Aetna. Nacht. 8 [36]
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Empedokles. Corinna und Mutter. Pausanias. Wächter. Herold. Rathspersonen. Schauspieler. Chor. Volk. Landleute. Das Mädchen. Ein getreuer Schüler des Empedokles. Priester des Pan. 8 [37] I.
II.
III.
Morgengrauen. <1.> Pausanias trägt einen Kranz zu Corinna. Der Wächter erzählt seine Erscheinungen (Aetna). 2. Eine Gruppe Landleute kommen: das über Empedokles phantasierende Mädchen, plötzlich todt. 3. Corinna sieht den entsetzten Pausanias. Besänftigungsscene. Sie wiederholen ihre Rollen: bei dem Hauptsatze schweigt Pausanias finster und kann sich nicht erinnern. 4. Ein klagender Aufzug, lyrisch. 5. Volksscene, die Furcht vor der Pest. 6. Der Rhapsode. 7. Empedokles, mit Opferpfannen, Pausanias in Entsetzen vor seinen Füßen. Es wird ganz hell. Corinna gegen Empedocles. Im Rath. Empedokles verhüllt vor einem Altar. Die Rathsherrn kommen einzeln, heiter und jedesmal über den Verhüllten erschreckt. "Die Pest ist unter euch! Seid Griechen!" Furcht und Mitleid verboten. Lächerliche Rathsscene. Aufregung des Volks. Der Saal wird gestürmt. Die Königskrone angeboten. Empedokles ordnet die Tragödie an und vertröstet auf den Aetna, wird verehrt. Vorstellung der Tragödie: Corinna's Schauder. Der Chor. Pausanias und Corinna. Theseus und Ariadne. Empedokles und Corinna auf der Bühne. Todestaumel des Volks bei der Verkündigung der Wiedergeburt. Er wird als Gott Dionysus verehrt, während er wieder anfängt mitzuleiden. Der Schauspieler Dionysus lächerlich in Corinna verliebt. 158
Die zwei Mörder, die die Leiche fortschaffen. Böse Vernichtungslust des Empedocles räthselhaft kundgegeben. IV.
Proclamation des Empedocles über das Abendfest. Taumel des Volks, das sicher durch das Erscheinen des Gottes ist. Greise Mutter und Korinna. Höchste Beruhigung. Im Haus der Corinna. Empedokles kommt finster zurück.
V.
Empedokles unter den Schülern. Nachtfeier. Mystische Mitleidsrede. Vernichtung des Daseinstriebs, Tod des Pan. Flucht des Volks. Zwei Lavaströme, sie können nicht entrinnen! Empedokles und Corinna. Empedokles fühlt sich als Mörder, unendlicher Strafe werth, er hofft eine Wiedergeburt des Sühnetodes. Dies treibt ihn in den Aetna. Er will Korinna retten. Ein Thier kommt zu ihnen. Korinna stirbt mit ihm. "Flieht Dionysus vor Ariadne?"
8 [38] 1. Begriff des Philologen. Sokrates und die Künstler. Geschichte der Philologie. 2. Zukunft des Philologen. Lehrerberuf. Die Reform der Alterthumsstudien. 3. Das philologische Universitätsstudium. 4. Das klassische Alterthum, als Musterbegriff. 5. Die Sprachphilologie. 6. Die kritische Philologie (aesthetisch). 7. Alterthümer. 8. Litteraturgeschichte. 9. Religion. 10. Staat und Gesellschaft. 11. Stellung des Alterthums zur späteren Welt. 8 [39] Encyclopädie nebst Einleitung in das Studium derselben. Woche 1 und 2. Ursprung und Geschichte der Philologie. Bernhardy, Römer und Griechen. Jahn, Gräfenhan. Allmähliche Entdeckung.
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Woche 3 und 4. Der Lehrerberuf und die Reform des Gymnasiums. Woche 5 und 6. Das Universitätsstudium. Woche 7 und 8. Das klassische Alterthum (gegen Wolf, Winckelmann, Goethe). Woche 9 und 10. Sprachphilologie. Woche 11 und 12. Kritik und Hermeneutik. Woche 13 und 14. Staat und Gesellschaft. Woche 15 und 16. Litteraturgeschichte und Kunst. Woche 17 und 18. Religion und Alterthümer. 8 [40] Geschichte der griechischen Poesie. Wintercolleg. 1. Lyrik. 2. Choephoren. 3. Lateinische Grammatik. 4. Hesiod. 5. Geschichte des Dramas. 6. Metrik. 8 [41] Die Sprache, eine Summe von Begriffen. Der Begriff, im ersten Moment der Entstehung, ein künstlerisches Phänomen: das Symbolisiren einer ganzen Fülle von Erscheinungen, ursprünglich ein Bild, eine Hieroglyphe. Also ein Bild an Stelle eines Dings. Diese apollinischen Spiegelungen des dionysischen Grundes. So beginnt der Mensch mit diesen Bilderprojektionen und Symbolen. Alle künstlerischen Bilder sind nur Symbole, beim Gemälde die Fläche, beim Marmor die Starrheit, beim Epos - Die Traumbilder als Symbole? Die Handlungen sind symbolisch im Traum. Die Lust am Symbole? Unsere ganze Erscheinungswelt ist ein Symbol des Triebes. Also auch der Traum. 160
Wie verhält sich der Begriff zur Erscheinungswelt? Er ist der Typus vieler Erscheinungen. Das Erkennungszeichen des gleichen Triebes. Wenn der Intellekt rein Spiegel wäre? Aber die Begriffe sind mehr 8 [42] Die Stellung des Künstlers zum Staate, zum Kultus, zur Gesellschaft, zum Weibe, zum Mysterium, zur Erziehung. 8 [43] Der Lyriker. Die Tragödie. Der Dithyrambus. Untergang der Tragödie (an Sokrates und dem Dithyramb). Das Drama. 8 [44] Apollo und Dionysus. Geburt des Genius. Tragödie und Dithyramb. Aristoteles über das Drama. Der Tod der Tragödie und das Drama. Wiedergeburt des Dithyrambus. 8 [45] Roman - das desperate Studententhum. 8 [46] Die Tragödie - der Chor, der eine Vision sieht als Verzückter, die sich ganz apollinisch vor ihm ausbreitet. 161
Der Dithyramb - der Chor, der selbst verwandelt ist, der nicht das Drama sieht, sondern es darstellt: lauter Improvisatoren der Verzückung. Tragödie - der Chor erzählt von seinen Visionen, die als lebende Bilder dargestellt werden. Dithyramb - der Chor ist in seine Visionen verwandelt. Komischer und tragischer Dithyramb. Weltbestand 3 und 1 Weltbrand Apollo Dionysus. Apollo als Weltbestand - der ewige Gott, der im Weltbrande alles gleich macht. Dionysus als Weltverwandlung. Apollo der ewige Gott des Weltbestandes. Dionysus der der Veränderung und Verwandlung. Die "lyrische" Tragödie: der mimische Dithyramb. Übergang zur Übermacht der Musik: Zeugniß des Pratinas: der Gesang wird übertönt. Das Orchester. Die Dithyrambendichter als die höchsten Befreier der Musik, p. 207. Plato sagt, die Dichter seiner Zeit hätten Threnen, Hymnen und Päanen dem Dithyramb beigemischt: er beklagt sich über das Theaterpublikum. Ungeheures Geschrei über Mischung von Rhythmus und Harmonie, Kühnheit der Sprache. Entartung der Musik, p. 208. Bis Melanippides herrscht die Dichtung, jetzt die Musik. Merkwürdig: die bezeugte Einfachheit der Sprache bei heftigster Bewegung. Die Entstehung des dionysischen Mythus. 8 [47] Richard Wagner. Das Erwachen der deutschen Kunst. Das erwachte Volkslied - Goethe und die Beethovensche Musik. Dionysische Entwicklung. "Der dionysische Mensch." Der Mythus - durch die tiefere Philosophie vorbereitet. Abwerfung der unheimischen Formen: die Oper,
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das Epos, das Drama (kein Kunstwerk). Die französische Civilisation. Das Schillersche Pathos - Mangel an Musik: Goethes. Sprachverwirrung zu. vergleichen mit Aeschylus Dialog. Jetzt das Streben in's Universale, Kosmopolitismus der Romantiker. Rückkehr zum deutschen Mythus durch Wagner. Mit Mythus und Volkslied stürzt er alle uneinheimischen Gattungen. 8 [48] Sendschreiben. Was ich von Richard Wagner gelernt habe. Künstlerische Erfüllung der germanischen Begabung. Einheit von Dichter und Musiker. Man muß die Weltgeschichte erleben, um sie zu verstehen. Das Shakespeare'sche Drama als Consequenz der griechischen Tragödie. Der griechische Dithyrambus. Das Dionysische erstirbt in der Tragödie (Aristoteles). Die griechische Tragödie als apollinische ist kalt, wegen des schwächeren dionysischen Untergrundes. Shakespeare als höchste dionysische Potenz verbürgt die herrliche deutsche Musikentwicklung. Der Mythus der Germanen ist dionysisch. Appell an die Deutschen. 8 [49] Die großen Chorgesänge wurden nicht verstanden: illusorisch. Nur der Sänger versteht sie. Es wird an kein Publikum beim höchsten Kunstwerk gedacht. Nur der Orchestermusiker versteht. 8 [50] Coniecturen. Academica: I se salutantium. II iam iam quibusnam quicquam enuntiare verbis. 163
Epistola ad Varronem - os et ius. Tacitus, dialogus: Apro parce. 8 [51] Aufgabe: das Ideal einer philologisch-philosophischen Betrachtung eines Autors an Aeschylus zu geben. 8 [52] Neue Theorie der Rhythmik. Neue Aesthetik. Homer und die Tragoedie. Neue Culturabschätzung. Neue Sprachphilosophie. Neue Form zu finden. 8 [53] "Das heiligende Individuum." 8 [54] "Goethe und Wagner über das Theater." 8 [55] Über den Begriff der klassischen Bildung. 8 [56] Öffentliche Vorlesungen über das Drama vorzubereiten. 8 [57] Die allgemeine Bildung ist nur ein Vorstadium des Communismus: Die Bildung wird auf diesem Wege so abgeschwächt, daß sie gar kein Privilegium mehr verleihen kann. Am wenigsten ist sie ein Mittel gegen den Communismus. Die allgemeinste Bildung d. h. die Barbarei ist eben die Voraussetzung des Communismus. Die "zeitgemäße" Bildung geht hier in das Extrem der "augenblickgemäßen" Bildung über: d. h. das rohe Erfassen des momentanen Nutzens. Man sehe nur erst in der Bildung etwas, was Nutzen bringt: so wird man bald das was Nutzen bringt mit der Bildung verwechseln. Die allgemeine Bildung geht in Haß gegen die wahre Bildung über. Nicht die Kultur mehr ist die Aufgabe der Völker: aber der Luxus, die Mode. Keine Bedürfnisse haben ist für das Volk das größte Unglück, erklärte einmal Lassalle. Daher die Arbeiterbildungsvereine: als deren Tendenz mir mehrfach bezeichnet worden ist, Bedürfnisse zu erzeugen. Für den Nationalökonomen stelle sich Christi Parabel vom reichen Prasser und vom armen Lazarus gerade umgekehrt: der Prasser verdient 164
Abrahams Schooß. - Also der Trieb nach möglichster Verallgemeinerung der Bildung hat seine Quelle in einer völligen Verweltlichung, in einer Unterordnung der Bildung als eines Mittels unter den Erwerb, unter das roh verstandene Erdenglück. Erweiterung um möglichst viel intelligente Beamte zu haben. Hegelscher Einfluß. 8 [58] Zweite Quelle ist die Furcht vor religiöser Unterdrückung. Hier liegt die entgegengesetzte Furcht zu Grunde: eine völlige Entweltlichung durch Religion, als ob sie die einzige Befriedigung des metaphysischen Bedürfnisses sei. Hier liegt der tiefe Instinkt zu Grunde, daß das Christenthum in seiner Wurzel gegen jede Kultur feindlich ist und somit mit der Barbarei in einer nothwendigen Verbindung ist. 8 [59] Dritte Quelle der Glaube an die Masse, der Unglaube an den Genius. Goethe sagt, das Genie hänge gewöhnlich durch eine Schwäche mit seiner Zeit zusammen. Umgekehrt der allgemeine Glaube, daß das Genie alle seine Stärken der Zeit verdanke, und somit nur seine Schwächen für sich und von sich habe. Hier ist eine Verwechslung sehr gewöhnlich: ein Volk bekommt in seinen Genien das eigentliche Recht zur Existenz, seine Rechtfertigung; die Masse produzirt den Einzelnen nicht, im Gegentheil, sie widerstrebt ihm. Die Masse ist ein schwer zu behauender Steinblock: ungeheure Arbeit der Einzelnen nöthig, um etwas Menschenähnliches daraus zu machen. - Die allgemeine Bildung jetzt geradezu als Dogma. Jetzt müsse man in der Reihe stehen, ehedem sei es die Zeit großer Einzelner gewesen. Jetzt nur nöthig Diener der Masse, in specie Diener einer Partei zu sein. Bildungsziel: eine Partei zu begreifen und ihr sein Leben unterzuordnen. - Man hat so viel von Volkspoesie etc. gesprochen: immer sind es die großen Einzelnen: die oftmals vergessen werden. 8 [60] Der Titel, den ich meinen Vorträgen gegeben habe, bedarf jedenfalls bei Allen der Erklärung, bei manchen meiner geehrten Zuhörer der Entschuldigung. Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten zu sprechen 1) weder im speziell baslerischen Sinne 2) noch in weitester Allgemeinheit, sondern in Betreff der deutschen Bildungsanstalten, deren wir uns ja auch hier erfreuen Die Zukunft will ich nur voraussagen im Sinne der Haruspices, die aus den Eingeweiden wahrsagen und dann in der Voraussetzung, daß die ewige Natur irgendwann einmal wieder Recht behält. Wann diese Zukunft eintritt, weiß ich nicht: aber es genügt, in der Gegenwart einige von der Nothwendigkeit dieser Zukunft zu überzeugen; falls man nicht trostlos die Hände in den Schooß legen will. 8 [61] Alles wie Sophisten Plato. Und doch neue Universitäten!
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Akroamatisch. Also Wissen! Alle Freiheit in Betreff der Bildung. Dag<egen> Examina für das Fachwissen. Wie schnell ist ein Jurist, ein Mediziner verschlungen! Die bildende Wirkung der "Wissenschaft". Gelehrsamkeit. Ausbau der Staatsdiener. Gymnasialtendenz Journalist. Darum Unmöglichkeit der Philosophie. 8 [62] Das Signal. Flucht vor den Studenten. Die deutsche Wissenschaft und die deutsche Bildung. Die Unmöglichkeit der Philosophie auf <der> Universität. Darum auch wieder Unmöglichkeit einer wahren klassischen Bildung. Darum Trennung der Universität und der lebend Kunst. Wo eine Berührung eintritt, dann ist der Gelehrte meistens schon zum Journalist entartet. Selbständige Regungen müssen desh aus der Studentenschaft hervorgehn. Die "deutsche Burschenschaft" als Korrektur der Universität. Das Zugrundegehn derselben aus Unbildung und Mangel an Leitern. Die einzige Sphäre, in der alle großen deutschen Eigenschaften nachzufinden sind, die deutsche Musik. Das Orchester. Ankunft des Musikers. 8 [63] Maßstäbe keine klassische Bildung keine Philosophie keine Kunst. Überwiegen des Fachs: keine eigentlichen Bildungsprobleme.
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Versuch der Selbstzucht: Erwachen des deutschen Geistes. Der philiströse Schwind der keusch-deutsche Kunstgeist. 8 [64] Mein Freund entgegen gegangen. Früher nur auf Ruinen. Jetzt Einflüsse aus der metaphysischen Wirkung des Kriegs zu erhoffen. Rede auf Beethoven. Aufgabe: die zu ihm gehörige Kultur zu finden. Die Zukunftsrede. Aufruf an die wahren "Lehrer". Die momentane Erfüllung der Zukunft. Der Schwur um Mitternacht. Vehmgericht. 8 [65] Schilderung des Lehrers am Gymnasium. Der Cirkel. Es sind zu viele nöthig: darum ist die Ausbildung auf etwas sehr vielen Erreichbares zu legen. Woher kommt das Bedürfniß? Die Staatsstellen, die Universität, die militärischen Vergünstigungen. Was kann der Staat für eine Absicht haben? Durch Examina das ungeheure Anstürmen zu brechen. Sodann bricht er das ungeheure Utilitätsdrängen: er nützt sich. Dann will er ein Gleichmaß von Bildung bei seinen Beamten. Bildung und Unterwürfigkeit. Das ist etwas Neues. Der Staat als Führer der Bildung. Bei ihm wirken Elemente, die der wahren Bildung engegengesetzt sind: er rechnet auf die Breite, er richtet sich die vielen jungen Lehrer ab. Lächerliche Stellung der klassischen Bildung: der Staat hat ein Interesse an dem "fachmäßigen" Lakoniker: wie er in Betreff der Philosophie entweder nur die fachmäßig philologische oder die panegyrische Staatsphilosophie fördert. Es giebt verschiedene Mittel, die Herrschaft der Bildung zu zerbrechen: jenen Zustand geistiger Aristokratie zu brechen, den unsere große Dichterperiode anstrebte. Die "reinen" Philologen und die journalistischen Mittellehrer.
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Eine Menge Lehrer sind nöthig. Es sind Methoden ersonnen, wie sie mit dem Alterthum verkehren können. Die Lehrer dürften gar nicht mit dem Alterthum verkehren. Aeschylus! Die Sprachwissenschaft. 8 [66] Der Staat benutzt die Gymnasien, aber er muß auch dafür sie in den Grenzen halten. Alles was sich unabhängig machen will, fällt auch vom Gymnasium ab. Dort wird zum Beamtenthum, hier zum Erwerb erzogen. Dort Staatsabsichten, hier der Zeitgeist, soweit er Nutzen bringt. Andernseits bilden die Gymnasien wirklich nicht. Deshalb ist es ganz ehrlich, zur Realschule überzugehen. Die lächerlichen Vertheidigungen der Gymnasialstudien. Annäherung an einander: sie stehen auf einer Linie. Allmählich werden sie auch die gleichen Privilegien haben. Dann rüsten sie eben für den Kampf ums Dasein aus. Verzweiflung an der formalen Bildung: treibt zur Realschule. Diese Bildung hat ihre Grenze im Zeitgeist. Luxusbedeutung der Bildung. Der abstrakte Volkslehrer: entstanden aus Imitation des Gymnasiallehrers. 8 [67] Die Gemüthsbewegung offenbart sich in einer analogen körperlichen Bewegung. Diese wiederum wird in Rhythmus und Dynamik des Wortes ausgedrückt. Andernseits bleibt der Klang übrig als Analogon des Inhalts. 8 [68] Gegensatz zu dem Wettkampf der mythische Zug: d. h. er verhindert die Selbstsucht des Individuums. Der Mensch kommt in Betracht als Resultat einer Vergangenheit: in ihm wird die Vergangenheit geehrt. Welches Mittel wendet der hellenische Wille an, um die nackte Selbstsucht in diesem Kampfe zu verhüten und sie in den Dienst des Ganzen zu stellen? Das Mythische. Beispiel: Aeschylus' Oresteia und die politischen Ereignisse. 168
Dieser mythische Geist hat zuerst die Vergangenheit individuell sich ausgemalt, d. h. so daß sie auf sich selbst beruht. Dieser mythische Geist erklärt es nun auch, wie die Künstler wetteifern durften: ihre Selbstsucht war gereinigt, insofern sie sich als Medium fühlten: wie der Priester ohne Eitelkeit war, wenn er als sein Gott auftrat. Empedokles ein schauspielerischer Improvisator: die Macht des Instinktiven (wie Themistokles). Der Glaube an die verschiedenen Existenzen bei Empedocles echt hellenisch. Die Individuenbildung in der griechischen Mythologie sehr leicht. 8 [69] Vortrag 6. Die Nothwendigkeit der Gesellschaft und daher zunächst ein Zusammensein von Lehrern: Plato und die Sophisten. Umgekehrte Stellung zur Kultur. Vortrag 7. Der Künstler betont das Alltägliche und das Fortwährende der Bildung. Das Ziel kann nicht hoch genug, die Mittel nicht einfach genug sein: Sprechen Gehen Sehen. Anschluß an eine neue Kunst. Bedürfniß und Befriedigung. Was und wie wenig zu lesen. Restitution des Volks. Die Geschichte soll Exemplifikationen der philosophischen Wahrheiten geben, aber nicht Allegorien, sondern Mythen. 8 [70] Deutsch. Zu viel Lehrer und Schulen. Die Sorge für das Genie. Universität ohne Leitung. 8 [71] "Die poetischen Bilder sind Träume der Wachenden, wegen ihrer "εναπγεια." 8 [72] Entstehung der Sprache: wie kommt der Laut dazu, mit dem Begriff verbunden zu werden? Die künstlerischen Winke in der Genesis der Sprache: Bild und Klang: der Klang benutzt, um Bilder zu übertragen. Die Gesetzmäßigkeit in der Verwendung der Laute zeigt große logische Kraft, große Abstraktionskraft? Oder nicht? Sind auch die abstrakten Gesetze ursprünglich nur lebendig geschaute Dinge? Z. B. der Genetiv? 8 [73]
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ωιλια und παιδεια, Sappho Ausgangspunkt: die Erotik in Verbindung mit Erziehung. Die Urtheile der hellenischen Philosophen über das hellenische Leben z.B. über ϕιλια usw. 8 [74] Colleg: über den Unterricht am Gymnasium. 8 [75] Herstellung eines mehrjährigen griechischen Cursus. A. 1. Encyclopädie der griechischen Philologie. 2. Die griechische Sprache. 3. Die griechische Mythologie. 4. Rhythmik. 5. Rhetorik. Collegienheft: 6. Homer. zur Encyclopädie 7. Hesiod. Plato 8. Lyriker. Vorplatonische Philosophen. 9. Choephoren. 10. Theognis. 11. Vorplatonische Philosophen. 12. Plato. 13. Nachsocratische Schulen (mit Ausnahme des Platonismus!). 14. Geschichte der Redner. Winter: Rhetorik und Homer. d. h. Sommer 1873: Mythologie und Nachsokratische Schulen. Winter 1873-74: Griechische Sprache. 8 [76] Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten. 170
Der Genius und das Volk. Bildung und Lebensnoth. Die Vereinsamung. In "Reih und Glied". Führerlose Anstalt - Universität. Gymnasial-Unterricht. Die Lehrervereinigung. Die Gewohnheit als Lehrerin. 8 [77] Die Geburt der Tragoedie. Der Wettkampf. Die griechische Erziehung. Der Rhythmus - Zahl Maass. Der griechische Philosoph. Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten. 8 [78] Die Ethik auch als eine µηχανη des Willens zum Leben: nicht der Verneinung dieses Willens. 8 [79] Collegien: Mythologie. Erga. Homer. Rhythmik. Plato. Hesiod. Die socrati- Vorplatonische Choephoren. schen Schu- Schulen. Lyrik. len. Vorplatonische PhiGeschichte losophen. der antiken Rhetorik. 171
Redner. Plato. Nachsocratische Schulen. 8 [80] Die Griechen. Wettkampf. Weihende Persönlichkeit. Griechische Erziehung Eros. Rhythmus. Dionysus. Genesis der Sprache. Mythologie. Staat und Cultur. Exil und Colonisation. Übergang: Entstehung des litterarischen Zeitalters. Philosophie und Leben. 8 [81] Genesis der Sprache. Staat und Cultur. Exil und Colonisation. Abneigung gegen - - Die Bedeutung des Wortes und der Schrift. Entstehung des "Litterarischen". Die weihende Persönlichkeit.
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(Individualethik.) Besitz. Ehe. Staat. Aristokratie. Heiliger. 8 [82] I. Einleitung. Der Leser muß ruhig sein er darf nicht gleich sich selbst dazwischen bringen er darf nicht Tabellen erwarten. Denn unsere Bildung ist nur berechnet für die Ruhigen, die Selbstlosen und die welche ausdauernd warten können.. Schilderung der entgegengesetzten Bildung: die der Hast. Die Ziele und die Quellen dieser Bildung. II. Der "historische" Sinn der Gegenwart. III. Das in Reih und Glied Marschiren. IV. Die falsche Stellung des Genius (selbst in der Verehrung des Genius: es wird die Verpflichtung gegen den Genius nicht begriffen). V. Der Bildungswerth der Naturwissenschaft. VI. Die Philosophie in der Gegenwart. VII. Der Gelehrte. VIII. Der Gymnasiallehrer. IX. Die Religiösen (am meisten vorbereitet zur Schätzung des Genius, am wenigsten zur Schätzung der Bildung). X. Der Journalist. XI. Der deutsche Unterricht. XII. Die Universität. XIII. Die Kunst, der Laie. XIV. Rathschläge und Hoffnungen. 8 [83] Jetzt, da es nun einmal auf den Markt gebracht ist und jeder es, zum Ärger seines Verfassers, in die Hand nehmen, betrachten und abschätzen kann, nun muß ich wünschen, mit Aristoteles 173
von dieser Schrift sagen zu können: sie sei herausgegeben und auch wieder nicht herausgegeben: weshalb ich mit aller Ehrlichkeit als Zweck der einleitenden nächsten Abschnitte bezeichne, die vielen Leser abzuschrecken und davonzuscheuchen und die Wenigen anzuziehen. Also hört es, ihr Vielen! Odi profanum vulgus et arceo. Werft das Buch weg! es ist nicht für euch und ihr seid nicht für dies Buch. Lebt wohl! 8 [84] Ein ernsthafter Schriftsteller, der über Bildung und Bildungsschulen zu seinem Volke redet, hofft gemeinhin auf eine grenzenlose Wirkung in die Ferne und dieser Wirkung halber wiederum auf eine ebenso in's Grenzenlose sich verlierende Leserzahl. Bei diesem Buche aber verhält es sich anders, und von vornherein mag sich hierin der eigenthümliche Charakter seiner Darstellung des Bildungsproblems verrathen. Denn soll es jene nachhaltige und breite Wirkung nicht verfehlen, so braucht es gerade wenig Leser und zwar Leser von einer seltenen und sofort näher zu beschreibenden Art. Je mehr dagegen eine unausgelesene Öffentlichkeit sich dieses Buches bemächtigt, um so bedenklicher möchte der Autor sich berathen fühlen: er würde vielmehr ernstlich bedauern, nicht seiner ursprünglichen Vorsorge nachgegeben zu haben: als welche gerade darauf gerichtet war, überhaupt die Öffentlichkeit von diesem Buche fernzuhalten, und seine Wirkung allein von einer privaten Versendung an gute und würdige Leser jener noch zu beschreibenden Art abhängig zu machen gedachte. 8 [85] Gedanken über die Zukunft unserer Bildungsanstalten. Von Dr. Friedrich Nietzsche ord. Prof. an der Universität Basel. 8 [86] VI. und VII. Vortrag. Contrast des Künstlers (Litterat) und des Philosophen. Der Künstler ist entartet. Kampf. Die Studenten bleiben auf der Seite des Litteraten. 8 [87] I. Unterhaltend, am Schlusse spannend. µελετη δε τοι - γνωϑ ι σαυτον. II. Deutscher Unterricht als Fundament des klassischen Unterrichts.
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III. Zuviel Lehrer und Schüler. Genius. οι πλειστοι κακοι. Daher Abschwächung der Alterthumswirkung. Daher Bündniß des Staates mit der abgeschw<ächten> Kultur. Ernste Aberration. IV. Realschule. µηδεν αγαν. Angriff auf das Bisherige. V. Die Universität. µετρον αριστον. VI. Der entartete Bildungsmensch und seine Hoffnungen. καιρον γνωϑ ι. Hastig, historisch, momentan aktiv, nicht reif werden. Presse. VII. Die zukünftige Schule. εγγυη, παρα δ′ατα. 8 [88] Ästhetische Erziehung des Menschengeschlechtes. 8 [89] Der Philosoph hatte zuletzt stehend, am Pentagramm gesprochen, niederblickend. Jetzt heller Glanz unten am Walde. Wir führen ihn entgegen. Begrüßung. Inzwischen errichten die Studenten einen Holzstoß. Zuerst nur privates Zwiegespräch abseits. "Warum so spät?" Der eben gehabte Triumph - Erzählung. Der Philosoph traurig: er glaubt nicht an diesen Triumph und setzt einen Zwang voraus bei dem Anderen, dem er nachgeben mußte. Für uns giebt es doch wohl hier keine Täuschung? Er erinnert an ihre jugendliche Übereinstimmung. Der Andere verräth sich als bekehrt, als Realist. Immer größere Enttäuschung des Philosophen. Die Studenten holen den Anderen an den flammenden Holzstoß um zu reden. Er spricht über den jetzigen deutschen Geist. (Popularisirung, Presse, Selbständigkeit, in Reih und Glied, historisch, Arbeit für die Nachwelt (nicht reif werden), der deutsche Gelehrte als Blüthe. Naturwissenschaft.) "Du lügst" heftige Entgegnung des Philosophen. Unterschied von Deutsch und Afterdeutsch. Hast, Unreife, der Journalist, gebildete Vorträge, keine Gesellschaft, Hoffnung auf Naturwissenschaft. Die Bedeutung der Geschichte. Höhnisches Siegesbewußtsein - wir die Sieger, uns dient alle Erziehung, jede nationale Erregung dient uns (Universität Straßburg). Hohn auf Schiller-Goethe-Zeit. Protest gegen diese Ausnutzung großer nationaler Erregungen: keine neuen Universitäten. Je mehr aber jener Geist überhandnimmt und die einbrechende Barbarei, um so sicherer werden die kräftigsten Naturen bei Seite gedrängt, zur Vereinigung gezwungen. Schilderung der Zukunft dieser Vereinigung. Schwerer Seufzer: woher Ausgangspunkt? Umschreibung des Keimes der Hoffnung. Der Holzstoß bricht zusammen. Er ruft: Heil diesen Wünschen. Mitternachtsglocke. Gegenantwort: Fluch diesen Wünschen. Höhnisches Abziehen der Studenten, pereat diabolus atque irrisores. Schmerzlicher Verzicht auf den alten Freund. 8 [90] 175
Stellung der kommenden Kultur zu den socialen Problemen. Andre Betrachtung der Welt. Beschreibung des Schopenhauerischen Geistes. Neue Stellung der Kunst. Die neue Stellung der Wissenschaft. Der Lehrer und seine Aufgabe - der antike Sophist und Plato. - Fortsetzung der Aufgabe Schillers und Goethes - nichts für uns. - Wegwerfen der Krone. - (Schiller bezeichnet als Moral des Fiesco: wenn jeder von uns zum Besten des Vaterlandes diejenige Krone wegwerfen lernt, die er fähig ist zu erringen - des Vaterlandes, nicht nur des vaterländischen Staates!!) Zukunft von Kriegen, Wirkung zu Gunsten des Genius, die schlechte Kultur wird zerbrechen. - Die guten Menschen brauchen einen ernsteren Halt. 8 [91] Vorrede. Die charakteristischen Züge der gegenwärtigen Bildung. Anstalten der Lebensnoth. Das Gymnasium. Zuviel Lehrer. Universität. Neugründung in Strassburg. Das Zeitalter von Kriegen, so ist Pflicht auf bessere Entladungen patriotischer Regungen zu denken. 8 [92] A. Was ist Bildung? Zweck der Bildung. Verständniß und Förderung seiner edelsten Zeitgenossen. Vorbereitung der Werdenden und Kommenden. Die Bildung kann sich nur auf das beziehen, was zu bilden ist. Nicht auf den intelligibeln Charakter. Aufgabe der Bildung: zu leben und zu wirken in den edelsten Bestrebungen seines Volkes oder der Menschen. Nicht also nur recipiren und lernen, sondern leben. Seine Zeit und sein Volk befreien von den verzogenen Linien, sein Idealbild vor Augen zu haben. Zweck der Geschichte, dies Bild festzuhalten. 176
Philosophie und Kunst: ein Mittel ist die Geschichte. Die höchsten Geister zu perpetuiren: Bildung ist Unsterblichkeit der edelsten Geister. Ungeheures Ringen mit der Noth - die Bildung als verklärende Macht. Durchaus produktiv zu verstehen. Beurtheilung des Menschen hängt durchaus auch von der Bildung ab. Die Aufgabe des Gebildeten, wahrhaftig zu sein und sich wirklich in ein Verhältniß zu allem Großen zu setzen. Bildung ist das Leben im Sinne großer Geister mit dem Zwecke großer Ziele. Auszugehen: die Betrachtung Goethes vom Standpunkte des Gebildeten und von dem des ungebildeten Gelehrten. Oder Schopenhauer. Verständniß für das Große und Fruchtbringende. An jedem Menschen das Gute und Große anzuerkennen, und der Haß gegen alles Halbe und Schwache. Zu leben unter den Sternbildern: der umgekehrte Ruhm: der liegt darin, fortzuleben unter den edelsten Empfindungen der Nachwelt: die Bildung darin, fortzuleben unter den edelsten Empfindungen der Vorwelt. Die Unvergänglichkeit des Großen und Guten. Die Vergänglichkeit des Menschen und die Bildung. Die wichtigsten Forderungen des Menschen an sich sind abzuleiten aus seiner Beziehung zum ganzen Strome späterer Generationen. 8 [93] I. Charakter der gegenwärtigen Bildung. 1. Hast und Nicht-Reifwerden. 2. Das Historische, das Nichtlebenwollen, das Verschlucken der kaum geborenen Gegenwart. Das Kopiren. Literaturgeschichte. 3. Die papierne Welt. Unsinniges Schreiben und Lesen. 4. In Reih und Glied. Abneigung gegen den Genius. Der "sociale" Mensch. - Der Socialismus. 5. Der courante Mensch. 6. Der Fachgelehrte. Besser leben, nicht mehr erkennen. 7. Der Mangel an ernster Philosophie. 8. Die Verkümmerung der Kunst. "Reichstagsbildung." 9. Der neue Begriff des "Deutschen". 177
II. Die Schulen unter der Wirkung dieser Bildung. III Es fehlt die nächste, durch alltägliche Gewöhnung zu pflanzende Bildung. Exotischer Charakter aller Bildung (z. B. das Turnen). Es fehlt Leitung und Tribunal der Bildung. Es fehlt die künstlerische Überwältigung. Die ernste Weltbetrachtung als einzige Rettung vor dem Sozialismus. Neue Erziehung nöthig, nicht neue Universitäten. Straßburg. Herstellung des wahren deutschen Geistes. I.
Vorschlag zur Berufung einer mehrjährigen pädagogischen Brüderschaft, sei es aus eigenen Mitteln, sei es daß ein Staat einsichtig genug sein sollte. Diese sollen nicht etwa berichten, sondern zuerst selbst unter einander lernen und sich gegenseitig befestigen. Mit besseren Besoldungen ist zunächst nichts zu machen: überhaupt bleibt alles palliativisch.
Erziehung durch Musik. 8 [94] Schopenhauer. Wagner. Goethe. Schiller. Luther. Beethoven. 8 [95] Erlogener Enthusiasmus bei den Alten 1) auf Falsches gerichtet 2) nachgeredeter Enthusiasmus 3) moderne Empfindungen übertragen. 8 [96] 178
In's Lesebuch. Wagner: Beethoven. Goethe: Erwin von Steinbach. Wagner: Der deutsche Jüngling. Zu benutzen: Eckermann. 8 [97] Das Große nachleben, um es vorzuleben. Alles kommt darauf an, daß das Große richtig gelehrt wird. Darin beruht das Bilden. Das ist der Maßstab, an dem unsere Zeit zu messen ist. 8 [98] Seine eigne edle Empfindung in Raum und Zeit auseinandergezogen, die großen Erleuchtungen Allen mitzutheilen. Dies der Eudämonismus der Besten. Ist Veredlung möglich? Der intelligible Charakter unwandelbar: das ist aber praktisch ganz gleichgültig. Denn jene Ureigenschaften des Individuums können wir nie erfassen: erst eine Menge dazwischengeschobener Vorstellungen färben diese Eigenschaften als gut und böse. Die Vorstellungswelt ist aber sehr zu bestimmen. Gewöhnung am allerwichigsten. Veredlung durch wachsende Erhöhung des Ziels. 8 [99] Gröbliche Verirrung, das ewige Individuum als etwas ganz Abgesondertes zu nehmen. Seine Nachwirkungen gehen ins Ewige, wie es das Resultat zahlloser Geschlechter ist. Bildung ist es, daß jene edelsten Momente aller Geschlechter gleichsam ein Continuum bilden, in dem man weiter leben kann. Für jedes Individuum ist Bildung, daß es ein Continuum von Erkenntnissen und edelsten Gedanken hat und in ihm weiter lebt. Ein Grad von Bildung (Thaten der Liebe und der Aufopferung allen gemeinsam). Eine solche Empfindung der Liebe entzündet sich bei den höchsten Erkenntnissen, auch beim Künstler. Der Ruhm. 179
8 [100] Das sechste Jahrhundert. Die Homerische Frage. Die historischen Zeugnisse für Homer. Lyrik und Tragödie. Rhythmik. 8 [101] I Einleitung. Allgemeines. II Das Gymnasium, deutscher Unterricht, klassisch. III Die Zuviellernerei und Gründe. IV Rückwirkung auf die anderen Anstalten. V Universität: Wissenschaft und Bildung. VI Vorschläge und Schluß. 8 [102] Die Gymnasien in Realschulen überleiten. Die Universität in Fachschulen. Die Volksschulen als Sache der Gemeinden. Die philosophischen Fakultäten loszulösen. 8 [103] Vorletzte Scene: wie der Einzelne sich bilden müsse. Einsiedlerthum. Kampf. Eine Erzählung. Wie allein möglich? Zwei Meister. Die letzte Scene als Anticipation der Zukunftsanstalt. "Die Flamme reinigt sich vom Rauch." Pereat diabolus atque irrisores. 8 [104] Unmöglichkeit, dem Alterthum sich zu nähern. Deutsche Aufsätze. 180
Der Zusammenhang mit der deutschen Bildung. Die Verkehrungen der Tendenz. Naturwissenschaften. Realien. Maturitätsprüfungen. Der Lehrer. Entfremdung von der Kunst. Es läßt sich kein Beruf auf der Bildung des Gymnasiums pflanzen. Der Entwurf ist für eine viel größere Bildungsdauer. Es sind viel zu viel. "Werkstätten des Kampfes gegen die Gegenwart" und für die Wiedererneuerung des deutschen Wesens. Die älteren bilden Gelehrten, die neueren Journalisten (Leute die von ihrer Bildung leben wollen). 8 [105] Abirrungen des Gymnasiums. 1. Das wahre Ziel des Gymnasiums, die Realschulen. Consequenz des jetzigen Gymnasiums. 2. Die Volksschulen - der Lehrer. Verirrungen des jetzigen Gymnasiumszieles. 3. Die Universität - Unterwerfung unter den Staat und den Erwerb. 4. Hoffnungen. 8 [106] Unglaube, daß die Institutionen fest sind Überall Widerspruch der angeblichen Tendenz und der Wirklichkeit. Am Gymnasium nachzuweisen (höchst bestimmend für die anderen). Betrachtung der Resultate des Gymnasiums (das Alterthum, die Bildung, deutsche Arbeiten. Entfremdung von der Kunst. Der Lehrer und seine Vorbereitung). Gelehrtenhafte Methode - Schulen Bänke etc. Entfremdung von der Kunst. Klassische Bildung. Der Lehrer. Knechtschaft des Staates. Weil alle Tendenzen nur vorgespiegelt sind, ist das Gymnasium in die Knechtschaft des Staates gerathen. Die Prüfungen. - Gelehrte oder Journalisten. Das wahre Ziel - das Zeughaus für den Kampf mit der Gegenwart.
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8 [107] I Übermacht der "Gymnasien", Verwilderung der Bildungsaufgaben, das "Volk" als Richter des Intellektuellen, Aufgabe der Realschule - für den Lebenskampf vorzubereiten. II Die Verwilderung der Lehrer. Nachwirkung in der Volksschule, die abstrakte Erziehung. III Die Ausnützung der allgemeinen Bildung durch den Staat. IV Hoffnungen. 8 [108] Wir waren bereits bei dem letzten Theile jener Rede, durch die der greise Philosoph uns über das Universitätswesen belehrte, unruhig geworden und hatten jeden Augenblick eine plötzliche Unterbrechung seiner Rede - - 8 [109] Ihr seid davon unterrichtet worden, daß im Mai dieses Jahres unter besonderen Feierlichkeiten der Grundstein zu dem Festtheater in Bayreuth gelegt worden ist. Dieses Ereigniß wünschen wir euch zu interpretiren. Es liegt uns daran, daß ihr dasselbe nicht mit irgend einer Gründung eines neuen Theaters verwechselt: ebenfalls, daß ihr nicht etwa glaubt, es sei ein Ereigniß, was nur eine Anzahl Menschen, eben eine Partei oder Menschen mit einem spezifischen Musikgeschmack anginge: endlich, daß ihr nicht etwa die Glorifikation einer rein nationalen Idee darin seht. Wir wollen euch das Kunstereigniß interpretiren, namentlich vom Standpunkte der dramatischen Kunst aus, deren Veredelung und Reinerhaltung euch Allen am Herzen liegt. Vertraut einmal den Unterzeichnern, in denen ihr das ernst ausgesprochene Gefühl achten mögt, daß sie von der Kunst hoch und würdig denken; wir sind nicht der Ausdruck eines Parteistandpunkts, wir schreiben nicht das Wort Wagner auf unser Programm, aber wir haben begriffen, was für ein Gedanke in den Werken Wagners mächtig ist. Wir begreifen die Tendenz der Wagnerianer, aber wir wollen etwas Weiteres. 8 [110] Berlin Leipzig Dresden c. 11 Wochen, jede zu 2 Vorträgen. München Nürnberg Bayreuth Karlsruhe Mannheim
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Wien Pest Weimar. 8 [111] Der Grundstein. Die Anhänger sind unter sich thätig. Nichts verwerflicher als der Glaube als ob es sich hier um eine Partei oder um speziellen Musikgeschmack handle. Zu etwas ganz Neuem. Für jeden Freund des Drama's neu und unerhört. Es fällt auf: der Ernst die künstlerische Vollendung die Hoffnungen für eine Reinigung der Oper. Das Volk ist für das Edelste, dagegen sind die, welche etwas zu verlieren haben. Betheiligung von allen Kunstfreunden wünschenswerth. Jeden zu erinnern an die reinen und ernsten Momente, die er der Musik Beethovens und Wagners verdankt. Die Wirkungen weit über Deutschland hinaus. 8 [112] Aufruf an alle Freunde der dramatischen Kunst. Im Sommer des Jahres 1874. Im Mai dieses Jahres ist der Grundstein zu dem Festtheater in Bayreuth gelegt worden. 8 [113] Bildungsanstalten und ihre Früchte. Es fehlt an einer imperativischen Behörde der Kultur. Selbst Goethe stand ewig allein. So konnte sich ein Kreis von der Universität emancipiren, ein anderer vom Gymnasium. Verehrung des Wirklichen, als Gegensatz zu der Zucht des Klassischen: doch ist das Wirkliche allmählich transmutirt in die Spießbürgerei und die Plattdeutschelei (die größte Gemeinheit ist natürlich ein gemeiner Dialekt). Gutzkow als entarteter Gymnasiast. Das junge Deutschland als entlaufene Studenten. 183
Julian Schmidt, Freytag, Auerbach. Opposition gegen die imperativische Welt des Schönen und Erhabenen.- Protest der Photographie gegen das Gemälde. Der "Roman". Dabei in ihnen Nachwirkungen der romantischen Verehrung des Deutschen: aber falsch und unidealistisch. Mommsen (Cicero). Anknüpfung des Gelehrtenthums an die politische Tagesschablone. Jahn und Grenzboten Diesterweg und der abstrakte Lehrer. (Meinen Dialog künstlerisch umzubilden.) 8 [114] Die Zukunft der deutschen Bildungsanstalten. Rhythmus. (Griechisch und Deutsch in der Kunst.) Hesiod und Homer (der Dichter). Plato (der Philosoph). Die Bayreuther Bühnenfestspiele. Zwei Reden. 8 [115] Besitz, Ehe, Aristokratie, Staat, das sich aufgebende Individuum.(Heilige, jetzt von Neuem Heiligende.) - Individual-Ethik! Die währende Persönlichkeit. Apollo. Griechen-Staat. Römer. Das Christenthum hat gegen die Sklaverei keine andere Abneigung als gegen Ehe und Staat. Etwas ganz Verschiedenes ist Emancipation. 8 [116] Über die Zukunft Unserer Bildungs-Anstalten Sechs öffentliche Reden im Auftrage der akademischen Gesellschaft in Basel gehalten von Dr. Friedrich Nietzsche. 8 [117] Fünf unbrauchbare Vorreden zu fünf nicht geschriebenen Büchern. 184
Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten. Über den Ruhm. Über den Wettkampf. Über das Verhältniss Schopenhauerischer Philosophie zu einer deutschen Cultur. Über den griechischen Staat. 8 [118] Auch die Einleitung, Ve<ehrte> Zuhörer, wird abgedruckt, damit das Ganze gar nichts Buchmäßiges hat. Nur Erinnerung. Alles soll an das Persönliche erinnern. 8 [119] Bell bei Darwin citirt über den Ausdruck der Gemüthsbewegungen (zur Genesis der Sprache!). 8 [120] Frau Cos(ima> Wagner geborene L(iszt) sei dies Buch gewidmet. 8 [121] I Über Bildung. II Die neumodische Afterbildung. III Die bisherigen Afterschulen. IV Die Erfordernisse der Bildung. V Vorschläge. [Dokument: Heft] [1871] 9 [1] Die Oper und die griechische Tragoedie. 9 [2] Die Geburt der Tragoedie
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aus der Musik. Mit einem Vorwort an Richard Wagner. Von F. N. 9 [3] Die Geburt der Tragoedie aus dem Geiste der Musik. Von Dr. Friedrich Nietzsche ord. Prof. der klass. Phil. an der Universität Basel. 9 [4] Vor dem Hauptthore von Katania liegt ein Landhaus, im Besitz von zwei Frauen, der greisen und edelen Corinna und ihrer Tochter Lesbia. Es graut soeben der Morgen eines Frühlingstages: da hört man das Thor des Landhauses sich öffnen und eine gedämpfte Stimme den Namen "Leonidas" rufen. Sofort kommt um die Mauer herum ein greiser Sklave, während das Thor völlig aufgemacht wird und aus ihm Charmides tritt. Ch<armides>. Wo weilst du? Ich komme dich in der Nachtwache abzulösen. Deine Stunde ist schon vorüber. L<eonidas>. Wenn du noch müde bist, so schlaf weiter. Ich kann nicht mehr schlafen. Eine seltsame Nacht. Ich war eben auf dem kleinen Hügel am Hause und sah nach dem Aetna hin. Dort gab es schreckliche Feuerzeichen, und zugleich zog eine qualmige fette Frühlingsluft durch die Nacht, der Wind schlich als ob er sich fürchte und unter seiner Last zittere. Hier am Hause war's als ob der Wind die Bürde abwürfe und mit Stöhnen entflöhe. Ch<armides>. Nun Leonidas, ich bin jünger als du und kein Geisterseher. Mich läßt's auch nicht schlafen, und im Grunde, glaub' ich, schläft niemand im ganzen Hause. Aber uns andere - Gott verzeih mir dies "uns" - quält schon der Tag und die Sehnsucht nach seinen Freuden, die schöner sind als der bunteste Traum: und du weißt, was auch wir Sklaven heute von unsern milden Gebieterinnen zu erwarten haben. Ich zweifle nicht, daß sie uns heute freilassen werden; und wir dürfen wie jeder Freigeborne die Tragödie anschauen und das Nachtfest mitfeiern. L<eonidas>. Ach, dieser Freudentag ist für uns Greise nur ein Krampf, mit dem wir unsern Schmerz bezwingen. Ich bin als Knabe mit aus dem göttlichen Corinth übergesiedelt: und mitunter träume ich noch, ich sei jener Knabe und sähe uns zu Schiffe steigen und unter heißesten Thränen die Stadt segnen und unser Loos verwünschen. Du kannst nicht vergleichen: ich sage dir, obwohl ein Sklave, weiß ich doch, daß hier alles barbarisirt - wenn ich unsre Gebieterinnen, ausnehme, die für mich Inbegriff alles Hellenischen sind. Die Anderen tappen umher und 186
lästern ihre Abstammung; ja wir selbst gehen in der Irre, und nur an diesem Tage pflegt unser Sehnen nach dem Verlornen stark genug zu sein, um in ihm wieder einmal Griechen sein zu können. Ch<armides>. Halt! Halt! Was schleicht dort! Es sind ihrer zwei. Und wie ist der Eine vermummt! Hinein in's Haus. Pausanias, neben ihm sein Sklave, mit Blumen und Kränzen überdeckt. He da! Sind die beiden Maulwürfe schon wieder ins Loch. Blindes Volk! Mich nicht zu erkennen! Dies ist doch mein Schritt, dies meine Figur. Der Blumenberg hat sie erschreckt. He da! (Pocht leise an's Thor.) 9 [5] [... ] Nun aber beginnt die Oper, nach den deutlichsten Dokumenten, mit den Forderungen des Zuhörers, das Wort zu verstehen. Als in dem letzten Drittel des 16ten Jahrhunderts jene Bewegung in Italien begann, aus der die Oper entstanden ist, war man in der guten Gesellschaft in Florenz, besonders im Hause des Grafen Bardi da Vernio, am Schlusse regelmäßiger und lebendiger Erörterung über eine mögliche Wiedergeburt der Tonkunst darüber einig geworden, daß "die neuere Musik im Ausdruck der Worte sehr mangelhaft sei und daß um diesem Mangel abzuhelfen irgend eine Art von Kantilene oder Gesangsweise versucht werden müsse, bei welcher die Textworte nicht unverständlich gemacht noch der Vers zerstört werde." Der Graf Bardi sagt z. B. in einem Brief an Caccini, um wie viel die Seele edler sei als der Körper, um so viel seien auch die Worte edler als der Contrapunkt. "Würde es nicht lächerlich erscheinen, wenn Ihr auf öffentlichem Platze den Diener in Begleitung seines Herrn und diesem Befehle geben sähet, oder ein Kind, welches seinen Vater oder Lehrer ermahnen wollte?" (Doni, Tom. II, p. 233 f.) In der gleichen laienhaft unmusikalischen Voraussetzung wurde das Problem einer Verbindung von Musik und Dichtung im Hause des Jacopo Corsi behandelt, in dem es nun auch, durch hier patronisirte Dichter und Sänger, zu Experimenten im Sinne jener Voraussetzung kommt. In der selbstgefälligen Litteratur dieser Anfänge der Oper wird fortwährend wiederholt, daß durch den Gesang die Rede nachgeahmt werden solle: denn dies ist die nächste Consequenz jener Forderung, daß man den Sänger genau verstehen müsse. Man höre das Lob eines dieser ersten Experimentatoren, des Sängers Jacopo Peri (in dem Vorworte eines Berichtes über die Aufführung der Dafne Rinuccinis zu Mantua 1608): "Ich werde nicht müde werden, jene kunstvolle Art singend zu recitiren, zu preisen." (Zur Tonkunst, E. O. Lindner, p. 24.) Um auch eine Vorstellung von den Dekorationskünsten dieser ersten Opern zu geben, wähle ich noch eine Stelle des Nic. Erythraeus (p. 21 ebendort): " - - Ist es glaublich, daß diese gänzlich veräußerlichte, der Andacht unfähige Musik der Oper von einer Zeit mit schwärmerischer Gunst gleichsam als die Wiedergeburt aller wahren Musik empfangen und gehegt werden konnte, aus der sich soeben die unaussprechbar heilige und im Grunde einzig klassische Musik Josquins und Palestrinas erhoben hatte? Und wer möchte andernseits nur die zerstreuungssüchtige Üppigkeit jener Florentin<er> Kreise und die Eitelkeit der dramatischen Sänger für die ungestüm sich verbreitende Lust an der Oper verantwortlich machen? Daß in derselben Zeit, ja in demselben Wollen neben dem Gewölbebau palestrinischer Harmonien, an dem das gesammte christliche Mittelalter gebaut hatte, jene Leidenschaft für eine halb musikalische Sprechart erwachte, vermag ich mir nur an dem sofort darzulegenden Wesen des Recitativs zu erklären. 9 [6]
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Wunderliche Thatsache, das Sichgleichbleiben des weiblichen Geschlechts, das nicht berührt wird vom Kulturfortschritte. Mangel der Redefreiheit schon bei Homer. Die patriarchalische Würde concentrirt sich um das Weib, zu jeder Zeit, nicht um den Mann. Im Hause gehorcht der Mann dem Weibe. 9 [7] Der Zuschauer der aeschyleischen Tragödie unbewußt anschauend, als ganzer Mensch, nicht als aesthetischer Mensch. Wie soll nun der Held sprechen? Der doch Vision ist? Bei Aeschylus schweigt er: dann redet er colossale Worte. Der tragische Improvisator im Gegensatz zum epischen. Er muß dem Chor gegenüber noch der Held sein und doch entbehrt er des Idealismus der Musik: daher gebraucht er das gedankenschwerste Wort: nur mit dem Idealismus des Gedankens (d. h. als erhabener Mensch) übertrifft er den Chor. Der kühne Gedanke zwingt sich die Sprache. (Nicht umgekehrt.) Gegenstrebungen: das Charakteristische 9 [8] Nachträge. Die alten Lyriker Pindar und Simonides ohne persönliche Anregung, ohne Pathologie Lyriker. Hanslick: findet den Inhalt nicht und meint es gebe nur Form. O. Jahn: um den Geist des aesthetischen Aufklärichts zu interpretiren und zugleich jene halbe Auffassung der griechischen Welt. Er, der zwischen dem Mendelssohnschen Elias und dem Lohengrin sich vergreifen konnte! 9 [9] Nur vom Standpunkt des Chors aus erklärt sich die Skene und deren Aktion. Nur insofern der Chor nur die Repräsentation der schwärmenden dionysischen Masse ist, nur insofern jeder Zuschauer mit dem Chore sich identificirt, giebt es eine Zuschauerwelt in dem griechischen Theater. Das Schlegel'sche Wort vom "idealischen Zuschauer" muß sich uns hier in einem tiefern Sinne erschließen. Der Chor ist der idealisirte Zuschauer, in sofern er der alleinige Schauer ist, der Schauer der Visionswelt der Skene. Er ist der eigentliche Erzeuger jener Welt: nichts ist irrthümlicher als unsren Maßstab vom aesthetisirend-kritischen Publikum an das griechische Theater anzulegen. Die dionysische Volksmasse als der ewige Geburtsschooß der dionysischen Erscheinung, - und hier das ewig Unfruchtbare; das ist der Gegensatz. Schiller hat völlig Recht, wenn er den Chor als den wichtigsten poetischen Faktor der Tragödie behandelt: und Aristoteles mit seiner euripideisch-flachen Verwendung des Chors darf uns nicht irre machen. In einem entgegengesetzten Sinne ist der moderne Zuschauer der Erzeuger der Oper: der kunstohnmächtige Mensch erzwingt sich eine Art von Kunst, gerade dadurch daß er der 188
unkünstlerische Mensch ist. Weil er dies fühlt, zaubert er vor sich hin seine Vorstellung vom künstlerischen Menschen, weil er keine Vision zu schauen vermag, zwingt er den Maschinisten und Dekorationskünstler in seinen Dienst, weil er die dionysische Tiefe der Musik nicht begreift, erniedrigt er sich den Musikgenuß zur Wollust der Gesangskünste und zur verstandesmäßigen Rhetorik der Leidenschaft. Das Recitativ und die Arie ist seine Schöpfung. Man suche diese Consequenzen nicht abzuschwächen: auch in der höchsten Leistung der Oper bleibt der moderne Mensch auf diesem Standpunkt des Fordernden und Producirenden. Unsre höchsten Künstler vermögen nichts als diese Urthatsache der modernen Kunst in eine neue Form zu zwingen: und bei Wagner wird eine Art von Metaphysik aus dieser unendlichen Erhöhung jener Thatsache. Die Oper ist in diesem Sinne die einzige volle Form des modernen Menschen: was Wunder, daß er alle seine Schwächen und Tugenden auf sie entladen hat! Sie ist die einzige, ihn wahrhaft ergreifende Form. Alles, was er sich von künstlerischer Bildung aneignet, überträgt er wieder auf die Oper und macht sie zu einem aufsaugenden Organ seiner künstlerischen Erfahrungen. Bei Wagner wird die Oper geradezu eine Versinnlichung der künstlerischen Welt, gegenüber der realen, unkünstlerischen. 9 [10] Völlige Verkehrung des Verhältnisses zwischen Dionysisch und Apollinisch. Das Apollinische ist das uns schwer verständliche. Wir müssen das Bild uns interpretiren, zum Mythus. Ursprünglich, d. h. in den Anfängen der Oper, kennt man ebensowenig das Dionysische. Zuerst sind beide Elemente gar nicht vorhanden. Die germanische Begabung, die zuerst in Luther, dann wieder in der deutschen Musik ans Licht kam, hat uns wieder mit dem Dionysischen vertraut gemacht: es ist das bei weitem Übermächtige, auch die Weisheit des Dionysischen ist uns die vertrautere Form. Wir sind ganz unfähig, zum Naiven zu kommen und mit Hülfe des Apollinischen. Wohl aber können wir die Welt uns rein dionysisch auslegen und die Erscheinungswelt uns durch Musik deuten. Wir bekommen so wenigstens wieder die künstlerische Weltbetrachtung, den Mythus. Dabei bemerken wir, wie die Oper, als die Form des romanischen unkünstlerischen Menschen, durch die germanische Tendenz unendlich vertieft und zur Kunst emporgehoben wird. Schiller's Lied an die Freude bekommt insofern erst seinen tiefen, wahrhaft künstlerischen Hintergrund. Wir sehen, wie der Dichter sich seine germanisch tiefe dionysische Regung in Bildern zu deuten versucht: wie er aber, als moderner Mensch, nur schwerfällig zu stammeln weiß. Wenn jetzt Beethoven uns den eigentlich Schillerschen Untergrund darstellt, so haben wir das unendlich-Höhere und Vollkommene. Ähnlich ist das Verhältniß zwischen Wagners Text und Musik. - Daß der Text noch bestimmend wirkt auf die Musik, ist nur eine Nachwirkung der Operntendenz: das eigentlich Germanische ist der Parallelismus von Musik und Drama, ja ich wage zu behaupten, daß Musik und Mimus uns noch einmal wahrhaft befriedigen werden. Der Sänger der Bühne bringt eine schwierige Complikation hervor. In der Theorie scheint Wagner völlig darauf hinauszukommen. Er legt allen Werth auf das An-sich-verständliche der Handlung, des Mimus. Der unverständliche Text ist eine große Schwierigkeit: die Forderung eines dramatischen Sängers an sich eine Unnatur: ich verlege den Sänger in's Orchester und reinige damit die Skene.
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Wagner hat unglaubliche Mühe mit dem Sänger gehabt: um ihm eine natürliche Position zu geben, ist er auf die Sprachmelodie und auf den Urvers zurückgegangen. Hier hat er die Operntendenz mit titanischer Kraft zu verrücken gesucht, ja fast die Musik umgeworfen: von diesem entsetzlichen Punkte aus. Das Drama, das das Wort braucht: das Orchester als Nachahmung der menschlichen Stimme. Ich denke, wir müssen den Sänger überhaupt streichen. Denn der dramatische Sänger ist ein Unding. Oder wir müssen ihn in's Orchester nehmen. Aber er darf die Musik nicht mehr alteriren, sondern muß als Chor wirken d. h. als voller Menschenstimmenklang mit dem Orchester zusammen. Die Restitution des Chors: daneben die Bildwelt, der Mimus. Die Alten haben das rechte Verhältniß: nur durch eine übermäßige Bevorzugung des Apollinischen ist die Tragödie zu Grunde gegangen: wir müssen auf die voraeschyleische Stufe zurückgehen. Aber die mangelhafte Befähigung zum Mimus! Der Mimus ist fast nur erträglich bis jetzt dadurch, daß der Sänger Mimus ist d. h. dadurch, daß wir auf ihn hören und ihn verstehn wollen. Die Unnatürlichkeit, daß der Sänger im Orchester singt, und der Mimus auf der Bühne vor sich geht, ist der Kunst durchaus nicht zuwider. Der widerwärtige Anblick des Sängers! Aber auch so entgehn wir nicht der dramatischen Musik! Der Sänger muß weg! Das beste Mittel ist doch der Chor! 9 [11] Wagner's Consequenzen und die Beseitigung des Chors! Eine solche Auffassung wie die meine, ist fast aus Wagner's Tristan zu entnehmen. Wir müssen erst wieder den Mimus haben, um zum Drama zu kommen. Der Sänger ist nicht zu entbehren, weil er den seelenvollsten Ton hat. Das Orchester reicht nicht aus. Wir brauchen also den Chor: den Chor, der eine Vision hat und begeistert beschreibt was er schaut! Die Schillersche Vorstellung unendlich vertieft! 9 [12] Auch die griechische Tragödie als Wortdrama ist eine Entlastung von den dionysischen Gewalten des Mythus: der Mimus an sich als Weltbild wirkt mythisch. Nicht mehr das Wortdrama. Das Bild rettet vor dem Verschlungensein in orgiastischen Stimmungen, vgl. den Tristan. Der Gedanke (und das Wort) als Heilmittel gegen den Mythus. Gegen die beruhigende Gewalt des Gedankens (vgl. die Dialektik im Oedipus rex) stellt Euripides die aufregende Gewalt des Gedankens: er appellirt an die Dialektik der Leidenschaft, der Aufklärung: er will die Gewalt des Dithyrambus durch das Wort erreichen. 9 [13] Die Symbolik der Sprache ein Überrest der apollinischen Objektivation des Dionysischen.
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9 [14] Der Mensch gemeinhin ist nur eine matte Copie des dionysisch-apollinischen Menschen im Chore. "Mimik" und "Charakteristik", Tendenz des Euripideischen Drama's, während das ächte Drama nicht Nachahmung, sondern Original ist, das das Leben nur matt und blaß erreicht. 9 [15] Das satte und das sehnsüchtige Lächeln. 9 [16] Entwurf. I. Der dionysische Chor ohne Zuhörer. Der Zuhörer der Oper. Der Chor der idealisirte Zuhörer, d. h. der Zuhörer die Copie des Choreuten. Schiller über den Chor. Der tragische Chor als modernes Kunstgebilde. II. Verschiedene Entwicklung der Tragödie und des Dithyrambus. Der Mimus als Abbild des Mythus. Die Bedeutung des Wortdramas. Der Schauspieler, zugleich Rhapsode. Das Charakteristische. Sophokles' Entwicklung. Seine neue Chorstellung aus seinem Charakteristischen abzuleiten. Die Tetralogie des Aeschylus zu erklären. Die drei Schauspieler. Dionysus und seine Freunde. III. Der Dichter als Schauspieler, Musiker, Tänzer usw. Das Unpathologische ihres Schaffens. Ibykus. Pindar. 191
Ihre Stoffe: idealisirte Geschichte. Die Einheit, gegenüber dem Epos. Ihre Sprache. Die Dialektverwendung. Ihre Philosophie. 9 [17] Voraussetzung. Schilderung der Schwierigkeiten der Betrachtung. Die Aufeinanderfolge von Musik und Dialog. Der Chor der Satyrn. Die Entstehung des Tragischen aus dem Satyrchor. (Die Weihe des Natürlichen, Geschlechtlichen: der Satyr als Urmensch.) Die drei Schauspieler. Die geringe Handlung. Die Tetralogie. Das Satyrdrama. 9 [18] Die Verwendung des Chors: Hauptperson in den Hiketiden. Der anstürmende Chor auf die schweigenden Helden. 9 [19] Der Satyr und der idyllische Schäfer: charakteristisch für die Zeiten! 9 [20] Die Statue des Gottes ist als Ziel der Prozession, als lebendige Erscheinung gedacht. 9 [21] Die mimische Kraft, beim Darstellen eines Gottes, ist zuerst wenig entwickelt. Zuerst handelt es sich nur um ein lebendes Bild: das Bild des geschmückten Rhapsoden. 9 [22]
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Einleitung: Wagner und Schopenhauer. Schlußcapitel. Gegen die Philologen als Lehrer. 9 [23] Wagner vollendet, was Schiller und Goethe begonnen haben. Auf dem eigentlich deutschen Gebiet. 9 [24] Ein Bild der griechischen Zustände, aus denen sich die dionysischen Dinge erheben. Die Musik und die Tragödie, wie die Philosophie des Empedokles, Zeichen derselben Kraft. Schopenhauer und die deutsche Musik. Schilderung des Zukunftsmenschen, excentrisch, energisch, warm, unermüdlich, künstlerisch, Bücherfeind. 9 [25] Das Dionysische hat bei den Griechen alle epischen Stoffe mit neuer Symbolik umgeben, Die tragische Weltanschauung rektifizirte den alten Mythus. 9 [26] Zur Vorrede. Die Musik ist uns zu eigen, unsre Dichtung hat einen gelehrten Anstrich. Darin experimentiren wir. Der Charakter unsrer Musik und unsrer Philosophie stimmen zu einander: beide leugnen die Welt der Annehmlichkeit, die ursprüngliche Güte. Die französische Revolution ist aus dem Glauben an die Güte der Natur entstanden: sie ist die Consequenz der Renaissance. Wir müssen uns belehren lassen. Eine mißleitete und optimistische Weltbetrachtung entfesselt endlich alle Greuel. Der einzige Trost sind die Griechen für die Betrachtung, weil hier die Natur auch in ihren herben Zügen naiv ist. 9 [27] Die Geburt der Tragoedie. 1. Eintritt der tragischen Periode der Gegenwart. 2. Die gleiche Periode der Griechen. 3. Dionysisch und apollinisch. 4. Die Tragödie. 5. Tod der Tragödie. 6. Der Lehrer und der jetzige Philologe.
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9 [28] Der Gedanke des tragischen Helden muß vollständig mit einbegriffen sein in die tragische Illusion: er darf nicht etwa uns das Tragische erklären wollen. Der Hamlet ist Muster: er spricht immer das Falsche aus, sucht immer falsche Gründe - die tragische Erkenntniß tritt ihm nicht in die Reflexion. Er hat die tragische Welt geschaut, - aber er spricht nicht davon, sondern nur von seinen Schwächen, an denen er den Eindruck jenes Blicks entladet. Das Denken und Reflektiren des Helden ist nicht apollinische Einsicht in sein wahres Wesen, sondern ein illusionäres Stammeln: der Held irrt. Die Dialektik irrt. Die Sprache des dramatischen Helden ist ein fortwährendes Irren, ein Sichtäuschen. 9 [29] Zur Einleitung. Der Eindruck, den Musik auf Bild und Wort macht. Schilderung Schopenhauers. Beschreibung Wagner's. Zwei Welten. Übergang des Geistes der Musik in die Dichtung d. h. Tragödie, tragisch. Der Prozeß der Entwicklung der Tragödie zeigt ein allmähliches Entschwinden dieses Geistes - das Aufeinander: welcher Effekt? Umgekehrt in der Oper. Griechische Tragödie: Aufeinander der Musik, diese Musikerregung empfängt nachher die Scene: dies die Stelle der späteren Tragödie und des Chors. Bestimmt vielleicht der Chor den nachfolgenden Episodiencharakter? 9 [30] Den dionysischen Umschwung Wagner's zu beschreiben: 1. 2. 3. 4. 5.
die Auflösung der Kultur der Mythus die Metaphysik die Stellung zu unsern Kulturperioden: wir streben zur Gesundheit zurück die griechische Tragödie griff zum vorhandenen Urbild des künstlerischen Menschen, zum Rhapsoden: wir müssen ungeheuer zurückgreifen zum deutschen Menschen.
9 [31] Es wird recapitulirt. Zwei Kunstwelten: was entsteht, wenn beide neben einander vor uns hintreten? 194
Schilderung Schopenhauers. Wagner: weiter zu gehen! aus der dionysischen Welt strebt das Bild an's Licht. Verwandlung in den Mythus. Die tragische Tendenz als Wirkung vom Geist der Musik. Beispiel der Entwicklung der Lyrik zur Tragödie: ein Ringen des Geistes der Musik nach typischer Offenbarung. Allmähliches Entschwinden des Dionysischen und Consequenzen. Umgekehrt in der modernen Welt: Rückkehr des germanischen Geistes zu sich selbst. Überhandnehmen des dionysischen Geistes, der nach einer Offenbarung sucht. Gleichzeitig die ernsthafteste Philosophie: Kant und das deutsche Heer. Wirkungen Wagner's. Geburt der Tragödie aus Musik. 9 [32] Allmählich entschwindet die tragische Metaphysik aus der Tragödie. Die Reflexion der Dichter ist überhaupt oberflächlicher als das Wesen der Tragödie selbst. Gerechtigkeitsbegriff des Aeschylus, die Sophrosyne (unvollkommen erreichter Buddhismus) des Sophokles. Euripides eine unmusikalische Natur: höchste Lust an der leidenschaftlichen Deklamation, an der Sophistik des Verbrechers, an dem Untergange ohne metaphysische Weihe. 9 [33] Die Grenzen der antiken Tragödie liegen in den Grenzen der antiken Musik: nur hierin hat die moderne Welt einen unendlichen Fortschritt auf dem Gebiet des Künstlerischen aufzuweisen: und auch dies nur durch ein allmähliches Erstarren der apollinischen Begabung. 9 [34] Für die Einleitung. Die aesthetische Bildung mehr begleitet als geleitet bei Schiller und Goethe: - allgemein umgekehrt! Die aesthetische Bildung leitet unsre Produktion: wir sind gelehrte Künstler. Tasten nach Mustern. Es giebt keinen lehrreicheren Moment als Wagner's Erscheinen. Die künstlerischen Phänomene sind in unserer Zeit ganz verhüllt und gelehrt erkannt. Für mich der Werth Wagner's. Die Griechen helfen uns mehr als unsre Aesthetiker in ihrer Hauptunterscheidung des Dionysischen und Apollinischen. Ganz ohne Kunstprincipien das Verhältniß der beiden Kunstprincipien. Dieser Erkenntnißmangel macht die Besprechung Wagner's jetzt so schwierig: wozu kommt, daß die gesammte liberale Welt sich gegen den Geist der Musik wehrt und seine philosophische Verdeutlichung. Die Musik hebt die Civilisation auf, wie das Sonnenlicht das Lampenlicht.
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Ebendeshalb ist auch die griechische Welt noch eine völlig unerkannte. Mein Weg, einen Zugang vom Geist der Musik und einer ernsthaften Philosophie aus zu finden. Ich erkenne die einzige Lebensform in der griechischen: und betrachte Wagner als den erhabensten Schritt zu deren Wiedergeburt im deutschen Wesen. 9 [35] Der Einfluß der Gelehrten (Byzantiner, Mönche, Akademie) auf das Drama. Calderon (oder Lope) Vollender der romanischen Urform, der Atellane. Man vergleiche Mozart. Die Charaktermasken der Atellane. 9 [36] Inhaltsangabe von "Musik und Tragoedie". Einleitung. An Wagner ist unsre Aesthetik zu Schanden geworden. Es fehlt ihr der Einblick in die Urphänomene. Sie verräth, daß ihr künstliche nachgemachte Vorbilder vorliegen. Für mich erläutert das leibhaft geschaute Phänomen Wagner's zuerst negativ, daß wir die griechische Welt bis jetzt nicht verstanden haben, und umgekehrt finden wir dort die einzigen Analogien zu unserm Wagnerphänomen. Hauptunterscheidung der dionysischen und der apollinischen Kunst: jede mit verschiedener Metaphysik. Hauptfrage: welches ist das Verhältniß beider Kunsttriebe zu einander? Dies erklärt die Geburt der Tragödie; hier nimmt die apollinische Welt die dionysische Metaphysik in sich auf. Ungeheure Zeitperiode: wir erkennen in dieser Kunstform die Möglichkeit, trotz der Erkenntniß zu leben. Die Form des tragischen Menschen. Für die Deutschen ist es eine Art "Wiederbringung aller Dinge". Mächtiger Kampf der Civilisation gegen den Geist der Musik. Die griechische Welt als die einzige und tiefste Lebensmöglichkeit. Wir erleben das Phänomen wieder, das uns entweder nach Indien oder nach Griechenland treibt. Dies das Verhältniß von Schopenhauer und Wagner. Um diese Erkenntniß von der Musik zu bekommen, mußte sie durch Bach Beethoven Wagner sich gleichsam wiederfinden und aus dem Dienste der Civilisation erlösen. Sei die griechische Musik welche sie wolle, die Katharsisschilderung des Aristoteles erlaubt uns den Analogieschluß, daß sie für die Griechen dieselbe Wirkung hatte wie für uns, d. h. daß sie also nicht herabgesunken war zur gefälligen Kunst.
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Nur wird die Musik eine unendliche Steigerung sein müssen, weil sie eine viel ausgebreitetere Welt der Erkenntniß zu überwinden hat. Das Wissen und die Musik läßt uns eine deutsche Wiedergeburt der hellenischen Welt ahnen: - der wir uns widmen wollen. 9 [37] Mittel wie die Schrift zu lesen: solche welche durch die Musik mit brünstiger Phantasie in das innere Verständniß hineingeleitet worden sind. Für Philologen: der allergrößte Theil ist im strengsten Sinn beweisbar: freilich nur für solche, welche die Grundsätze Schopenhauer's billigen. Für Künstler: - - Für Philologen: der alte triviale Standpunkt ist unmöglich. 9 [38] I. Das Dionysische und das Apollinische. Der Traum und das Apollinische. Die Lust an der Täuschung des Traumes. Das principium individuationis und Apollo. Der Rausch und Apollo. Die träumenden Griechen und die dionysischen Griechen. Die apollinische Kultur - überwand die Erkenntniß. Das "Naive". Wiedergeburt der Erkenntniß durch das Dionysische? Vereinigung in der Tragödie. Der Lyriker: das Problem. Subjektiv? Das gleichnißartige Traumbild. Schopenhauer über Lyrik. Das Volkslied - strophisch. Die Nachahmung der Musik durch die Sprache. Die Musik erscheint in der Lyrik als Wille, ohne es zu sein. Der Chor als Ursprung der Tragödie.
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Die geläufigen Erklärungen. Schiller über den Chor. Hamlet und der dionysische Mensch. Erhaben und Komisch. Der Satyr und der Schäfer. Der Zuschauer. Der Chor als Seher der Vision. Der tragische Held - Dionysus. Der Mythus. Die eigenthümliche Unendlichkeit des tragischen Mythus - als Beispiel einer in Musik deutlichen Weltregel. Die Mysterien als Fortbildung der Tragödie. Tod der Tragödie, zugleich mit Weiterleben als Mysterium. Der Genius der Wissenschaft tödtet sie. Aber selbst Sokrates ist im Zweifel. Euripides ein Sokratistes. Unter welchen Bedingungen denken wir uns die Wiedergeburt der Tragödie? 9 [39] Das muß eine andere Auffassung des Hellenenthums sein. Anruf: "Sokrates, treibe Musik" als Motto. 9 [40] Wagner: Verhältniß vom Text zur Musik. Große Symphonie. Die Tristan-Empfindung. Unerträglich - wenn ohne Kunst. Die mythische Empfindung. Ganz andre weihevolle Empfindung zu constatiren. Die Rückkehr zur Sage - im Gegensatz zur idyllischen Schäferei. "Die kraftvolle dramatische Skizze." Die Wagnerischen Helden aus Musik geboren. Die "tragische Idylle".
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Die Bayreuther Aufführung? Zur Belehrung für Philologen: Einheit von Dichter und Musiker. Die Erziehung durch Musik bei den Griechen. 9 [41] Zum Schlusse. Das Verschwinden des Dionysischen in der Tragödie: Ende des Mythus, Verwendung der Musik als Aufregungsmittel, die Leidenschaft, die veränderte Metaphysik, deus ex machina an Stelle des metaphysischen Trostes. Umgekehrter Prozeß in der Entwicklung der Oper. Die heroische Oper in ihrem Übergange in die Tragödie. Kurze Kritik der Oper in ihrem Ursprung, 2) in ihrem Wesen, nach dem Standpunkt des Apollinischen und Dionysischen. Wagner's aesthetische Lösung des Opernproblems. Wiederherstellung des Mythus. Die tragische Weltanschauung. Eine deutsche Wiedergeburt. Zum Schluß an "die Nibelungen" zu erinnern. 9 [42] Wem nun die ganze, bisher in dieser Abhandlung dargelegte Kunstlehre in Fleisch und Blut übergegangen ist: wozu vor allem gehört, daß ihre Grundlage, die Thatsache des Dionysischen und Apollinischen, bereits in ihm, in der Form unbewußter Anschauungen, vorhanden war - wer über die ewige Gültigkeit jener beiden Kunsttriebe und ihre nothwendigen Verhältnisse mit uns instinktiv d. h. durch die weiseste Lehrerin Natur belehrt und überzeugt worden ist, der darf sich jetzt freien Blicks den analogen Erscheinungen der Gegenwart gegenüberstellen, als ein Beschaulicher, der nichts für sich, aber für die ganze Welt die Wahrheit will. Er hat seinen Blick bereits an einer Reihe historischer Vergangenheiten erprobt und gekräftigt und muß nun verlangen, auch angesichts der Wirklichkeit zu Worte kommen zu dürfen. Die Geschichte nämlich belehrt nie direkt, sie beweist nur durch Beispiele: und auch die um uns vorhandene Wirklichkeit kann uns zu keiner tieferen Erkenntniß verhelfen, sondern letztere nur bestätigen und exemplificiren. Gerade unserer Zeit, mit ihrer sich "objektiv", ja voraussetzungslos gebärdenden Geschichtsschreibung, möchte ich zurufen, daß diese "Objektivität" nur erträumt ist, daß vielmehr auch jene Geschichtsschreibung - soweit sie nicht trockene Urkundensammlung ist nichts als eine Beispielsammlung für allgemeine philosophische Sätze zu bedeuten hat, von deren, Werth es abhängt, ob die Beispielsammlung dauernde oder höchst zeitweilige Geltung verdient. Sollte das Letztere sich ergeben, so lag es gewiß an der modischen Flachheit und gewähnten "Selbstverständlichkeit" der philosophischen Anschauungen, mit denen so ein "objektiver" Historiker Menschen und Geschicke sich zu illustriren genöthigt ist. Nur der ernste und selbstgenugsame, allen eiteln Begehrungen enthobene Denker sieht etwas in der Geschichte, was der Rede werth ist: nur für die begierdelosen Augen des Philosophen spiegelt 199
die Geschichte ewige Gesetze wieder, während der mitten im Strome des egoistischen Willens stehende Mensch, wenn er Gründe hat die Maske der Objektivität vorzunehmen, sich bescheiden muß, die Nomenklatur der Ereignisse, und gleichsam ihre äußerste Rinde mit beleidigender Gründlichkeit zu benagen: wohingegen er sofort mit jedem erweiterten Urtheile, das er macht, seinen philosophisch rohen, tieferer Selbstbetrachtung unzugänglichen und deshalb gleichgültigen Allerweltsverstand bloßstellt. Von dieser historischen "Methode" und ihren Verfechtern gänzlich absehend, stellen wir uns mit unsern aesthetischen Erkenntnissen mitten in die aesthetische Gegenwart, um uns diese an jenen zu erklären: wozu es alsbald nöthig ist, einige Erscheinungen dieser Gegenwart herauszuheben und als erklärenswerth zu erweisen. Denken wir einmal an das Schicksal der bekanntesten Shakespeareschen Dramen in unsern Theatern. Ich habe immer bei den besser Gebildeten unter den Zuschauern, diesen Dramen gegenüber, eine eigne Perplexität wahrgenommen. Diese alle waren sich bewußt, aus ihrem vertraulichen tiefen Umgange mit dem Dichter ein innerlich erwärmendes Einverständniß mit jedem Wort und jedem Bilde dieser Dramen sich erworben zu haben, so daß ihnen das immer erneute Lesen derselben wie ein Wandeln unter den Geistergestalten geliebter Todten, als ein fortgesetzter Austausch sicherster und tiefster Erinnerungen gelten durfte. Und doch fühlten sie, daß dieser Verkehr, mit dem "Buch" in der Hand, nur ein künstlich, ja unnatürlich vermittelter Verkehr mit Schatten sei, der vor der dramatischen Wirklichkeit der Bühne beschämt erbleichen müsse. Dies Gefühl - wunderbarer Weise - betrog sich mit dieser Hoffnung: vielmehr entstand, Angesichts der Bühne mit Shakespeareschen Gestalten, jene Perplexität, über die ein aufregender Schauspieler vielleicht auf Momente zu täuschen vermochte, die aber in der Erinnerung als Widerwille gegen die bühnengemäße Verwirklichung Shakespeare's haften blieb. Man fühlt etwas wie eine Entweihung und bemüht sich, diesen Eindruck aus den Mängeln der Darstellung, dem Nichtverständniß Shakespeare's von Seiten der Schauspieler usw. abzuleiten. Es gelingt nicht: denn noch im Munde des innerlich überzeugendsten Schauspielers klingt uns ein tiefsinniger Gedanke, ein Gleichniß, ja im Grunde jedes Wort wie abgeschwächt, verkümmert, entheiligt; wir glauben nicht an diese Sprache, wir glauben nicht an diese Menschen und was uns sonst als tiefste Weltoffenbarung berührte, ist uns jetzt ein widerwilliges Maskenspiel. Und so kehren wir wieder zum Buche zurück und gestehen uns, daß uns die unnatürliche Vermittelung des gedruckten Wortes natürlicher dünkt als die Vermittelung des gesprochenen Wortes in der sinnlich erscheinenden Handlung. Versuchen wir aber nun selbst einmal, das was wir in schweigsamer Ergriffenheit gelesen haben, uns laut mit mimischer Differenzirung der Stimme vorzulesen, so werden wir wiederum darüber perplex, daß uns die eigne Vortragsweise im Gegensatz zu jener Ergriffenheit gänzlich unadäquat, ja unwürdig erscheint, so daß wir uns jetzt in ein allgemeines pathetisch monotones Recitiren flüchten, wodurch wir wenigstens unserer Erhebung genug gethan zu haben fühlen. Dieser pathetisch monotone Klang der Stimme ist es nun, aus dem die gesammte Redeweise der Schillerschen Gestalten, ja eine große Anzahl dieser Gestalten selbst geboren ist: womit uns die Bürgschaft gegeben ist, daß unsre einmal nicht zu unterdrückende aesthetische Empfindung von allen Vortragsweisen das monotone Pathos am höchsten schätzt und als den normalen Ausdruck der recitirten Poesie betrachtet. Was ist nun dieses in der Natur gar nicht vorgebildete und recht eigentlich unnatürliche Pathos? Es ist der Ausdruck eines moralischen Zustandes: der Gegensatz der aesthetischen Welt zu unsrer eignen Wirklichkeit kommt uns zu allernächst und am stärksten als moralische Empfindung zu Gemüthe, als Empfindung der aesthetischen Unnatur unsrer Welt im Vergleich mit der Natur der künstlerischen Welt, ja als Empfindung unseres unaesthetischen durchaus moralischen Wesens. Das aesthetische Genießen äußert sich in uns zuerst als moralische Erhebung: womit gesagt ist, daß wir nur erst von unserer moralischen Erhebung aus die Kunst verstehen, so daß die moralische Forderung bei uns über die Form 200
des Kunstgenusses entscheidet und z. B. uns vom Besuch der Shakespeareschen Aufführungen abhält, weil wir für uns selbst jenen moralischen Urgenuß uns viel reiner und stärker erzeugen können. Damit ist für unsere gegenwärtige Kunst der merkwürdige Satz ausgesprochen, daß das Kunstpublikum vor allem ein moralisches Wesen ist und daß die Künstler bereit sein müssen, vor ein Forum sich ziehen zu lassen, das im Grunde nichts mit der Kunst zu thun hat. Dieses Publikum kann dabei ein recht unmoralisches Wesen sein, gerade weil es gar nicht im Stande ist, etwas Künstlerisches anders als mit ihren Willens-, Strebens- und Pflichtregungen zu erfassen. Ja man kann schon a priori behaupten, daß die wirklich gefeierten Künstler ihre Verehrung von jenen Fundamenten aus sich erwerben und selbst gerade als moralische Wesen und ihre Kunstwerke als moralische Weltspiegelungen genossen werden. Der deutlichste Ausdruck für diese Thatsache ist die Stellung der Gegenwart zu Richard Wagner. Die Begeisterung, die seine musikalischen Dramen finden, erklärt sich aus denselben moralischen Erregungen: und sie begeistern gerade aus den Gründen, aus denen der dargestellte Shakespeare mißfällt. Jene Aufführungen erregen nämlich das moralische Pathos unendlich stärker als die bloß vorgestellten aus Klavierauszügen imaginirten Dramen. So erweisen sie sich als die vollkommenste Übereinstimmung des Publikums mit dem Kunstwerk in der Gegenwart: welchen Gründen nun nachzuspüren ist. - Die Gegner dieser Wirkungen, soweit sie nicht lügen, stehen eben außerhalb jener Instinkte, um deren Erklärung es sich handelt. 9 [43] Philologische Abhandlungen von Friedrich Nietzsche. - Erster Band. Einleitung. Klassische Bildung und der Philolog der Zukunft. 1. Zur homerischen Frage. 2. Der Wettkampf. 3. Zu den Erga Hesiod's. 4. Ursprünge der Lyrik. 5. Conjecturen zu den Lyrikern. 6. Theognis. 7. Choephoren des Aeschylus. 8. Democrit. 9. Sokrates und die griechische Tragödie. 10. Zur Rhythmik. 9 [44]
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Die Griechen hatten wohl kein Volkslied 9 [45] Welches ist das Verhältniß zwischen der Malerei der Renaissance und der Wiedererweckung des Alterthums? Die Wiedererweckung verhält sich zur Malerei der Zeit, wie die Oper zu Palestrina. Die Wiedererweckung und die Oper sind die auflösender Mächte, Zeichen, daß eine idyllische Neigung eintritt, ein sentimentalischer Zug. Die Form des Mittelalters hat ihre Wurzel bei den Römern. 9 [46] Wie urtheilt das glücklichste und künstlerischste aller Völker über das Leben? 9 [47] Themata für die Zeitschrift. Vorplatonische Philosophen. Rhythmus. Wettkampf. Plato. Rhetorik. Aristotelische Poetik. 9 [48] 1 S. Die Einwirkung der Oper auf Musik und die wahre Musik. 2 Umgekehrter Prozeß: der dionysische Geist der Musik. 3 S. In Wagner die Lehren Kants und der Geist der deutschen Musik: es giebt bei ihm einen furchtbaren intellektuellen Kampf, die Operntendenz zu vollenden: Überwindung. Richtiges Verhältniß zwischen dionysischer und apollinischer Welt hergestellt. Die Metaphysik. 9 [49] Der Ursprung.
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Der Bau der Tragödie. Die drei Dichter. Die Tetralogie. Der Tragiker. Der Schauspieler. Der Chor. Die Sprache. Der Tod der Tragödie. Der Mythus. Die Rhythmik. Dionysisch und Apollinisch. Der Eintritt der tragischen Periode. 9 [50] Die Prosa und die Poesie - welche Unterscheidung machen die Alten? Das Metrum ist z. B. im Jambus nur eine strenge schöne Zeitfolge. 9 [51] "Tragoedie und Musik." "Homer und Hesiod im Wettkampf." "Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten." 9 [52] Der "Dichter" uralte Verbildlichung eines Gottes. Der Rhapsode ist Apollo, später Homer. Der Lyriker: was bedeutet jetzt das Auftreten des Schauspielers? Es ist nicht wahr, daß die Griechen den Schauspieler sahen, damit er handele und nur so viel spreche, als zum Verständniß der Handlung unentbehrlich ist. Im Mimus bleibt das Gefühl unausgedacht in der Tiefe und treibt nur zu Handlungen. Im griechischen Drama wird das Gefühl ausgesprochen. 203
9 [ 53] Derselbe Trieb, der die Natur hinstellt an Stelle des traumhaft geschauten Gottes, stellt den Schauspieler hin an Stelle der Vision des handelnden Dionysus. 9 [54] Die Sprache der Tragödie. Pathos der Diktion. Die drei Tragiker. Die Tetralogie. Der Bau der Tragoedie. Der tragische Dichter. Die Mythen. Der Chor. Der Schauspieler. 9 [55] Das Drama neben der Musik: welchen Sinn kann dieses Nebeneinander nur haben? Uns wahrhaft vom Gedanken, von der Tendenz zu befreien. 9 [56] Die Bacchen. "Improvisiren." Aeschylus und Sophokles. Der tragische Chor. Mit Schiller sich auseinanderzusetzen. Tetralogie. Die Einheit. Der Schauspieler, der die ihm vorschwebende Figur gleichsam außer sich sieht. Die Lyrik auf der Bühne? Ob ursprünglich? Bedeutung des Jambus für den Dialog. Ursprünglich Chor, der das lebende Bild sieht und ansingt.
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Der Mythus. Das Epos wird verwendet: Der Traum. 9 [57] Die dramatische Einheit: woher? Die plastischen Gruppen beginnen sich zu bewegen. Allmählich siegt wieder das Drama über die dionysischen Voraussetzungen. Woher die Form des Theaters? Es ist das Waldthal auf einsamer Höhe: rings ist das dionysische Volk gelagert oder zieht umher. Der große Dithyrambus ist die antike Symphonie. Zu erklären, wie die Tragödie neben dem dramatischen Dithyramb sich entwickelte. Die Bedeutung des Wortes für den Dialog. Seltsam! Es sind doch keine Lesedramen. Der Mimus ist nicht die Voraussetzung des Dialogs: sondern das Epos. Die Handlung ist doch keine dargestellte. Der deus ex machina als Rhapsode - das ist die Urvorstellung vom Protagonisten. υποκριτηζ der "Antwortende": d. h. der, der auf die Anrede des Chors antwortet. Der Gott erscheint als der dichtende sprechende Rhapsode: in der apollinischen Würde. Der unendlich gesteigerte Rhapsode: das ist die alte Form des Musengottes. Hierin setzt das Epos das Drama voraus. 9 [58] Tendenz und Mythus. Der Sokratismus bezwingt den Mythus. Doppelter Gebrauch des Mythus. Beispiel: - - Die bildende Kunst geht an dem Gedanken zu Grunde. Feindschaft des Christenthums gegen die Kunst: es hält sie in den Schranken des Symbols. Endlich siegt die Kunst: die historischen Thatsachen werden in freies Mythenwesen aufgelöst, mit ewigem Weiterleben derselben Kräfte. Damit ist aber das Christenthum überwunden und giebt keinen Halt mehr. Also umgekehrt wie bei den Griechen, erst 2, dann 1. Erlösung vom symbolischen Gedanken durch die reine Kunst.
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Consequenter Rückschritt zum Alterthum, um einen neuen Anhalt zu haben. Eine gelehrte Tendenz kommt jetzt an die Kunst. Die eigentliche mittelalterliche Tendenz herrscht aber weiter und zwingt jetzt zu einem wiederum unvolksthümlichen und gelehrten Sich-Anschließen an das Alterthum. 9 [59] Die Musik als unnationale Kunst: darum können sich hierhin die Nationen retten. Die Gesetze - - Die Musik hat jetzt die Bedeutung, das Bild wieder zum Mythus zu steigern und von dem sokratischen Gedanken zu befreien. 9 [60] Vorrede. Die Aufgabe der klassischen Philologie. 9 [61] Die religiösen Vorstellungen Mutterschooß der politischen. Die religiösen entspringen aus den künstlerischen. Das Wachsen der künstlerischen Vorstellungen als Quelle aller religiösen und staatlichen Veränderungen - mein Thema. Das Dionysische als Mutter der Mysterien, der Tragödie, des Pessimismus. Der Umschwung, den das Dionysische ausübt. Vielleicht auszugehen von der ethisch-politischen Welt der Tragödie. Der tragische Dichter als Lehrer des Volks: wohin zielt aber die Lehre der Tragödie? Allgemeine Charakteristik des griechischen Mythus. Der Staat und der Mythus. Die Kunst und die Religion. 9 [62] Grundbetrachtungen: Warum die Scheidung des Volks- und des Gelehrtenunterrichts? Wann findet sie statt? - Zur unrechten Zeit, wo man die Naturen nicht kennt.
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Der Anspruch auf Bildung des Gymnasiums wegen ist eine Lüge. Die Masse der Gezwungenen hat es völlig heruntergebracht. Ursprünglich sind es doch nur Gelehrtenschulen; aber keine Bildungsschulen. Gelehrsamkeit und Bildung hängen nicht mit einander zusammen. Die "allgemeine" Bildung degradirt die an sich exceptionelle "Bildung". Der Journalist ist eine nothwendige Reaktion: eine Geburt der sogenannten allgemeinen Bildung -: "der gemeine Mensch mit allgemeiner Bildung". 9 [63] Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten. 1 Bildung als exceptio. Über den Begriff einer Bildungsanstalt. 2. Das Gymnasium: im Grunde Fachschule: im Dienste eines Berufs. 3. Die Volksschule: der Journalist und der Volksschullehrer. 4. Die Realschule: im Grunde Fachschule: im Dienste eines Berufs. 5. Der Lehrer. 6. Vorschläge (gegen den Socialismus). 9 [64] Gegen das Streben nach "allgemeiner Bildung": vielmehr zu suchen nach wahrer tiefer und seltener Bildung, also nach Verengerung und Concentration der Bildung: als Gegengewicht gegen den Journalisten. Auf Verengerung der Bildung führt jetzt die Arbeitstheilung der Wissenschaft und die Fachschule hin. Bis jetzt ist allerdings die Bildung nur schlechter geworden. Der fertig gewordene Mensch ganz abnorm. Die Fabrik herrscht. Der Mensch wird Schraube. - Das Hauptmotiv für Verallgemeinerung der Bildung ist die Furcht vor dem religiösen Drucke. 9 [65] Otto Jahn: infame Manier, der Versuch, mit der ganzen öden Herzlosigkeit seiner grenzbotengemäßen "Aufklärung", tiefsinnige und tieflebendige Weltbilder an seine Holzstifte zu nieten. 9 [66] Die Wissenschaft kann nie popularisirt werden: denn es giebt keine popularisirten Beweise. Also nur Berichte über wissenschaftliche Ergebnisse und deren Consequenzen für das allgemeine Beste. 9 [67]
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Die Hauptwirkung der Mineralbäder kommt, wie die Badeärzte uns glauben machen, hinterdrein. 9 [68] Möglichste Stärkung und Verengerung der Bildung 9 [69] Der Socialismus ist eine Folge allgemeiner Unbildung, abstrakter Erziehung, Gemüthsroheit. Bei einer gewißen Höhe des Reichthums der "Ostrakismus". Die "Bildung" muß als Entgelt und Buße die Schutzbehörde sein aller Unterdrückten. 9 [70] Über die Zukunft unsrer Bildungsanstalten. Gleichheit des Unterrichts für Alle bis zum 15ten Jahre. Denn die Prädestination zum Gymnasium durch Eltern usw. ist ein Unrecht. Volks- und Gymnasiallehrer ist eine unsinnige Scheidung. Sodann Fachschulen. Endlich Bildungsschulen (20.-30. Jahr) zur Bildung von Lehrern. Die regulären Irrthümer der jetzigen Methode. 1. Falscher Begriff der klassischen Bildung. 2. Die Unfähigkeit der Gymnasiallehrer. 3. Die Unmöglichkeit einer so allgemeinen Bildungsanstalt wie es die jetzigen Gymnasien zu sein scheinen. 4. Der Militärdienst darf keine Scheidung machen. Vor allem ist das gierige Bedürfniß der Industriellen zu brechen. 5. Der schreckliche Begriff des Volkslehrers und Elementarlehrers. Der eigentliche Lehrerberuf, der Lehrerstand ist zu brechen. Unterrichtgeben ist eine Pflicht der älteren Männer. Das Resultat: eine ungeheure Masse von Bildung wird entdeckt. Das Bedürfniß der Fächer wird allgemeiner und zufriedenstellender erledigt, so daß die Einzelnen nicht im Übermaß der Lasten verkümmern. Eine wahre geistige Aristokratie wird herangezogen. Der Anfang zu machen mit Lehrerbildungsanstalten. Die Universitäten sind als gelehrte Anstalten in Fachinstitute umzuwandeln.
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Eine geistige Aristokratie wird geschaffen. Der klassische Unterricht ist überhaupt nur für eine kleinere Zahl fruchtbar. Die "Realschule" hat einen ganz tüchtigen Kern. Zur Bildung soll man Niemand zwingen. ihr sich zu entscheiden muß man älter sein. Man muß sich zur Bildung entscheiden von der Fachschule aus. Die Lehrer der Fachschulen sind die wissenschaftlichen Meister, die (nachdem sie die Bildungszeit durchgemacht haben) zum Fach zurückgekehrt sind. Der Unterricht durch die älteren Männer soll die Tradition erhalten. 9 [71] Die Romantik ist nicht der Gegensatz zu Schiller und Goethe, sondern zu Nikolai und der ganzen Aufklärung. Schiller und Goethe sind weit über den ganzen Gegensatz hinaus. 9 [72] Die poetische Handlung bei Wagner sehr groß. Das Wort, nicht durch die Breite wirkend, wirkt durch die Intensität. Die Sprache ist in einen Urzustand hineingedacht, durch die Musik. Deshalb die Kürze und Enge des Ausdrucks. Dieser Natur- und Urzustand ist eine rein poetische Fiktion, und wirkt als mythische Symbolik. 9 [73] Die Personen und die Versformen entsprechen sich. 9 [74] Schiller, II 388: "Ich gebe Ihnen vollkommen Recht, daß ich mich bei meinen Stücken auf das Dramatischwirkende mehr concentriren sollte. - Ich glaube selbst, daß unsre Dramen nur kraftvolle und treffend gezeichnete Skizzen sein sollten, aber dazu gehörte dann freilich eine ganz andere Fülle der Erfindung, um die sinnlichen Kräfte ununterbrochen zu reizen und zu beschäftigen. Mir möchte dieses Problem schwerer zu lösen sein als einem anderen, denn ohne eine gewisse Innigkeit vermag ich nichts, und diese hält mich gewöhnlich bei meinem Gegenstand fester, als billig ist." - Musik Innigkeit. 9 [75] Was Schiller vom Chore erwartet, leistet im höheren Maße die Musik. 9 [76] Der Schillersche Spaziergang zu benutzen, um das Idyllische darzulegen, mit seiner Umarmung der Natur nach dem höchsten Schrecken.
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Der Kultus der Natur - Wesen der neueren Kunst - die Aufhebung der Naturwirklichkeit kommt aus derselben Wurzel. Die Flucht zur Natur ist unsre Kunstmuse aber zu der germanisch-begriffenen Natur. Es ist eben die Göttin Natur, zu der wir flüchten, nicht die gemeine empirische. 9 [77] Schiller über Shakespeare, historische Dramen, p. 407. "Zu bewundern ist's, wie der Dichter dem unbehülflichen Stoffe immer die poetische Ausbeute abzugewinnen wußte, und wie geschickt er das repräsentirt, was sich nicht repräsentiren läßt, ich meine die Kunst, Symbole zu gebrauchen, wo die Natur nicht kann dargestellt werden. Kein Shakespearisches Stück hat mich so sehr an die griechische Tragoedie erinnert." Goethe, p. 405: Alle dramatischen Arbeiten (und vielleicht Lustspiel und Farce zuerst) sollten rhythmisch sein und man würde als denn eher sehen, wer was machen kann. Schiller, p. 403: der Rhythmus - "bildet auf diese Weise die Atmosphaere für die poetische Schöpfung, das Gröbere bleibt zurück, nur das Geistige kann von diesem dünnen Elemente getragen werden." (Dies leistet die Musik noch in viel höherem Maße.) 9 [78] Das Urfundament der Musik, der Wille ist auch der moralische Untergrund: nicht nur, mechanisches Regen der Urkräfte, sondern auch moralisches: ja sogar Urgrund des Intellektes. 9 [79] Die Musik in der Wagnerschen Oper bringt die Poesie in eine neue Stellung. Es kommt vielmehr auf das Bild an, das sich immer verändernde belebte Bild, dem das Wort dient. Dem Worte nach sind die Scenen nur skizzirt. Die Musik drängt die bildliche Seite der Poesie heraus. Der Mimus. Andernseits zieht sich der Gedanke zurück: wodurch es kommt, daß wir mythisch empfinden, d. h. wir sehen eine Illustration der Welt. 9 [80] Wodurch unterscheiden sich das griechische Drama und der Dithyrambus? 9 [81] Schiller, p. 426: "ich wüßte nicht, was einen bei einer dramatischen Ausarbeitung so streng in den Grenzen der Dichtart hielte, und, wenn man daraus getreten, so sicher darein zurückführte, als eine möglichst lebhafte Vorstellung der wirklichen Repräsentation, der Bretter, eines angefüllten und buntgemischten Hauses, wodurch die affektvolle unruhige 210
Erwartung, mithin das Gesetz des intensiven und rastlosen Fortschreitens und Bewegens einem so nahe gebracht wird." 9 [82] Schiller über den Wallenstein, p. 409. Es kommt mir vor, als ob mich ein gewisser epischer Geist angewandelt habe, der aus der Macht Ihrer unmittelbaren Einwirkungen zu erklären sein mag, doch glaube ich nicht, daß er dem dramatischen schadet, weil er vielleicht das einzige Mittel war, diesem prosaischen Stoff eine poetische Natur zu geben. 9 [83] Schiller (Briefe, I p. 430). "Wenn das Drama wirklich durch einen so schlechten Hang" usw. Verdrängung der gemeinen Naturnachahmung: durch Einführung symbolischer Behelfe. Dadurch Reinigung der Poesie. Vertrauen zur Oper: hier erläßt man jene servile Naturnachahmung, das Ideale könnte sich auf das Theater stehlen. - Das Gemüth durch Musik zu schönerer Empfängniß gestimmt: im Pathos freies Spiel, das gestattete Wunderbare macht gleichgültiger gegen den Stoff. Goethe: p. 429: "weil man ohne pathologisches Interesse wohl schwerlich sich den Beifall der Zeit gewinnen wird." 9 [84] Schiller: die Dichtkunst - nöthigt den Dramatiker, die individuell auf uns eindringende Wirklichkeit von uns entfernt zu halten und dem Gemüth eine poetische Freiheit gegen den Stoff zu verschaffen. Die Tragödie in ihrem höchsten Begriffe wird also immer zu dem epischen Charakter hinauf streben. 9 [85] Das Volkslied - einzig wahrhaft volksthümliche Kunst? Ist das Volkslied nicht vielleicht das Überbleibsel der ehemaligen Kunstmusik? Haben die Griechen ein Volkslied? - Nein. Goethe und das Volkslied: einzige ächte Form der Kunst? Es wirkt auf uns durch das Medium des Idyllisch-Elegischen. Das Volkslied zeigt, was wir von der Kunst wollen. Das Volkslied wirkliches Regulativ und anerkannte Macht - wirkt elegisch - zeigt, που και ποϑ εν ηµιν εστιν η τεχνη. Auch Shakespeare genießen wir so, als Natur. Der Kultus der Natur: das ist unsere wahrhafte Kunstempfindung. 211
Je mächtiger und zauberischer die Natur dargestellt wird, um so mehr glauben wir an sie. Goethe über die Natur - als Jüngling. Bd. 40, 389. Die Kunst ist für uns Beseitigung der Unnatur, Flucht vor der Kultur und Bildung. Wir erfreuen uns der Leidenschaft - als einer natürlichen Kraft. Darum sind unsre Dichter pathologisch. Die germanische Ansicht von der Natur - nicht die aufklärerische des Romanismus, mit seinem Emile. Der germanische Pessimismus - dabei starre Moralisten, Schopenhauer und kategorischer Imperativ! Wir thun unsre Pflicht und verwünschen die ungeheure Last der Gegenwart - wir brauchen eine besondere Art der Kunst. Sie hält für uns Pflicht und Dasein zusammen. Dürer's Bild vom Ritter Tod und Teufel als Symbol unsres Daseins. 9 [86] Die Zukunft des Gymnasiums. 9 [87] Auszugehen von dem Gedanken, der jetzt die Kunst bestimmt. 9 [88] Das Symbol - in der ursprünglichen Periode als die Sprache für das Allgemeine, in der späteren als Erinnerungsmittel an den Begriff. Die Musik recht eigentlich Sprache des Allgemeinen. In der Oper wurde sie zur Symbolik des Begriffes gebraucht. Dies setzt voraus einen großen Reichthum von gebräuchlichen, sofort verständlichen d. h. begrifflich verständlichen Formen. Hier ist die Gefahr da, daß alles auf den Begriffsinhalt ankommt und die Musikform selbst zu Grunde geht. In sofern ist der Begriff der Tod der Kunst, als er sie zum Symbol herabzieht. 9 [89] Mit Sokrates zu beginnen. 9 [90] Der idyllische Urbegriff der Oper: hier wird die Unmöglichkeit der Kunst in der neueren, vom Mittelalter erlösten Welt klar. Man benutzt die Symbole der Musik zur Darstellung einer geträumten Urzeit, d. h. einer künstlerischen Zeit. (Die katholische Welt konnte noch eine Kunst erzeugen.) Die Renaissance gebar die Oper.
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Das Publikum zwang jetzt den Künstler: es war die Sehnsucht der Gebildeten, nach einem künstlerischen Leben. Die Oper hat jetzt in dem idealen Stil geherrscht. Die klassische Tragödie der Franzosen ist eine Nachahmung der heroischen Oper. Goethe giebt zu, daß er pathologisch dichte: ob nicht die großen Griechen auch der Tragoedie gegenüber unpathologisch dichteten? Gewiß. Sie waren ohne jede Leidenschaft dabei. Wir gebrauchen die Musik als eine noch nicht in Begriffe aufgelöste Kunst. Der Fortschritt zur Symphonie, bei Wagner. Ein Nebeneinander beider Welten ohne Beeinträchtigung. Der Mimus der Alten (bei Lucian) zu vergleichen. Die antike Tragödie: der Chor, der einen apollinischen Traum träumte. Die Oper-Tragödie: - - Der Operntext: von der Marionette her. Der Gedanke ist ausgeschlossen: nur zur Verständlichung des Mimus. Die Sprache ist nur des Mimus wegen da: Substrat des Gesanges. Die Vollendung der idyllischen Operntendenz durch Wagner. Die neue Stellung der Kunst als eine rührende Erinnerung an eine künstlerische Zeit. Das Volkslied wird nur unter dieser Empfindung genossen. Die Musik als allgemein-unnational-unzeitliche Kunst ist die einzige blühende. Sie vertritt für uns die ganze Kunst und die künstlerische Welt. Darum erlöst sie. 9 [91] Homerische Frage. Homer, Ilias. Hesiod, Erga. Geschichte der Lyriker. Geschichte des Dramas. Choephoren. Oedipus rex. Plato. Redner. Historiker. Alexandriner. Mythologie. Lateinische Epigraphik. Lateinische Grammatik. Altitalische Dialecte. Ciceros Academica. Tacitus, dialogus de oratoribus. Cicero, Catilinaria. Encyclopädie, Metrik. 9 [92]
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Die Alten ihren Dramen gegenüber nicht pathologisch: als potenzirte Schauspieler. Bei uns Dichter und Zuschauer pathologisch. Wodurch heben wir das Drama auf eine ideale Höhe: durch den Chor? Im rein Unmöglichen ist vielleicht wieder eine aesthetische Stimmung möglich. Durch die Stilistik und Convention der französischen Tragoedie? Beides versuchen unsere Dichter. Hoffnung Schiller's auf die Oper. Stellung zur Musik wie der Schauspieler zu seinen Rollen: d. h. dramatische Musik. Der Mangel des Symbols in unserer modernen Welt. Verständniß der Welt in "Symbolen" ist die Voraussetzung einer großen Kunst. Für uns ist die Musik zum Mythus, zu einer Welt von Symbolen geworden: wir verhalten uns zur Musik, wie der Grieche zu seinen symbolischen Mythen. Eine Menschheit, die die Welt nur abstrakt, nicht in Symbolen sieht, ist kunstunfähig. Wir haben die Idee an Stelle des Symbols, daher die Tendenz als künstlerischen Leitstern. Nun giebt es Menschen, die die Welt als Musik, also symbolisch verstehen. Das musikalische Anschauen der Dinge ist eine neue Kunstmöglichkeit. Also ein Ereigniß nicht auf seine darinliegenden Ideen, sondern auf seine Musiksymbolik hin ansehen: d. h. die dionysische Symbolik wird fortwährend bei irgendeinem Dinge empfunden. Die antike Fabel symbolisirte. das Dionysische (in Bildern). Jetzt symbolisirt das Dionysische das Bild. Das Dionysische wurde durch das Bild erklärt. Jetzt wird das Bild durch das Dionysische erklärt. Also völlig umgekehrtes Verhältniß. Wie ist das möglich? - Wenn das Bild doch ein Gleichniß des Dionysischen sein kann? - Die Alten suchten das Dionysische durch das Gleichniß des Bildes zu fassen. Wir setzen das dionysische Verständniß voraus und suchen das Bildgleichniß zu fassen. Wir und sie vergleichen: ihnen lag an dem Gleichnißartigen des Bildes: uns am Allgemein-Dionysischen. Ihnen war die Bilderwelt das an sich Klare, uns ist es das Dionysische. 9 [93] Aesthetische Betrachtungen. 1. Homer und die klassische Philologie. 2. Ursprünge der Lyrik. 3. Socrates und die Tragoedie. 9 [94]
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Hat die Kunst eine metaphysische Bedeutung, so kommt das Publikum des Kunstwerks nur soweit in Betracht, als das Kunstwerk zur Geburt des Genius reizt. Die Kunstperiode ist eine Fortsetzung der mythen- und religionbildenden Periode. Es ist ein Quell, aus dem Kunst und Religion fließt. Jetzt ist es gerathen, die Reste des religiösen Lebens zu beseitigen, weil sie matt und unfruchtbar sind und die Hingebung an ein eigentliches Ziel abschwächen. Tod dem Schwachen! Gerade weil wir den höchsten energischen Idealismus wollen, können wir die matten Religionsvelleitäten nicht brauchen. Sie hindern jetzt, daß ein Mensch ganz und fertig wird und daß sein Bildungs- oder Kunstziel rein herauskommt. So lange noch die höchste Weltbetrachtung von der religiösen Sphäre usurpirt ist, bleiben die größten Bemühungen und Ziele des Einzelnen unter ihrem Werth, mit Erdgeschmack behaftet. Er rettet sich seine Metaphysik: aber er wird ferne davon sein, diese als ein Massenevangelium aufzufassen und zu predigen. Wer die Menschen ernst machen will, der hat mit den abgeblaßten Religionen nichts mehr zu thun. Er bewahre einmal die Strenge, die sittliche Grobheit der Pflicht: andrerseits seine Neigung, die Erscheinungen des Lebens ernst zu nehmen. Er resignire auf alles, nur nicht auf die Verwirklichung seiner Ideale. 9 [95] Socrates und die Tragoedie. 2B c. 50 Th. Die griechische Tragoedie und die Oper. 8 Rh. Mus. c. 3 B. = 15 Th. 9 [96] Die romanischen Formen d. h. ihr Schematismus beseitigt: deshalb muß der lateinische Reim mit seinen gleichen Zellen fallen. Werth des Stabreims der rhythmischen Freiheit wegen. Rhythmische Befreiung durch Wagner. 9 [97] Das Pathos der Musik - πικρον και κατατεχνον. 9 [98] Die Musik "die subjektivste" Kunst: worin eigentlich nicht Kunst? In dem "Subjektiven" d. h. sie ist rein pathologisch, soweit sie nicht reine unpathologische Form ist. Als Form ist sie der Arabeske am nächsten verwandt. Dies der Standpunkt Hanslicks. Die Kompositionen, bei denen die "unpathologisch wirkende Form" überwiegt, besonders Mendelssohn's, erhalten dadurch einen classischen Werth.
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9 [99] Der Zuhörer ist nicht der aesthetische Mensch: das Publikum wird gereinigt und geweiht durch die Kunst, zum religiös-sittlichen Menschen. Der "Kritiker" der "eingebildete aesthetische Mensch". Nur der Genius ist Kritiker d. h. er entscheidet über das Große und die Kleinen sprechen dann nach. 9 [100] Sophokles über seine Entwicklung: Pathos. Herbe (Lust an der Dissonanz). Künstlich. Verneinung des Alltäglichen. Das Charakteristische. 9 [101] "Vokal-Consonant": Geberden theils durch das Gesicht theils durch das Gehör als Geberden empfunden: unter begleitenden Innervationen. 9 [102] Kunst und Religion im griechischen Sinne identisch. Nur darf man nicht an die "Religion der Schönheit" denken. Die griechische Religion ist ebenso wie die Kunst in vielen Theilen ohne Beziehung zum Schönen. 9 [103] Der "Kritiker" eine Geburt der Renaissance, in der der Zuhörer das Kunstwerk bestimmt. 9 [104] Zwei verschiedene Ausgangspunkte der griechischen Tragödie: der Chor, der eine Vision sieht, und der verzauberte dionysische Improvisator. Der Chor erklärt nur das lebende Bild: der Improvisator das Drama. Darüber belehrt die Komödie am meisten. Der verzückte Schauende, der Chor, hebt den geschauten Improvisator sofort in eine ideale Höhe. Die Verschmelzung der Vision mit der verzauberten Improvisation - Ursprung des Drama's. Hier belehrt das harrende Schweigen der aeschyleischen Figuren, das Euripides karrikirt. Zuerst ist die Bühnenfigur nur Vision: jetzt beginnt sie zu improvisiren, aus der idealen Höhe der Chorempfindung heraus. 216
Der Kothurn des Pathos Wir haben also in der griechischen Tragödie ein Nacheinander der Musik und der Vision während das neuere Ziel das Nebeneinander ist. Der Chor ist es, der die ideale Sprache der Tragödie festsetzt: wie dies Schiller empfunden hat. Die Improvisationen des Aeschylus - Aeschylus als Schauspieler. Das Nichtverstehen des lyrischen Textes und die Unverständlichkeit des aeschyleischen Pathos 9 [105] Was ist dies für eine Fähigkeit, die zu improvisiren aus einem fremden Charakter heraus? Von einem Nachmachen ist doch nicht die Rede: denn nicht die Überlegung ist der Ursprung solcher Improvisationen. Wirklich ist zu fragen: wie ist eine Einkehr in fremde Individualität möglich? Dies ist zunächst Befreiung von der eignen Individualität, also sich-Versenken in eine Vorstellung. Hier sehen wir, wie die Vorstellung im Stande ist, die Willensäußerungen zu differenziren: wie aller Charakter eine innerliche Vorstellung ist. Diese innerliche Vorstellung ist offenbar nicht identisch mit unserm bewußten Denken über uns. Diese Einkehr in fremde Individualität ist nun Kunstgenuß ebenfalls d. h. die Willensäußerungen werden durch eine immer sich vertiefende Vorstellung endlich andere, d. h. differenzierte, und schließlich zum Schweigen gebracht. Die Verstellung, im Dienste des Egoismus, zeigt ja auch die Macht der Vorstellung, die Willensäußerungen zu differenziren. Der Charakter scheint also eine über unser Triebleben ausgegossene Vorstellung zu sein, unter der alle Äußerungen jenes Trieblebens an's Licht treten. Diese Vorstellung ist der Schein und jenes die Wahrheit: jenes das Ewige, der Schein das Vergängliche. Der Wille das Allgemeine, die Vorstellung das Differenzirende. Der Charakter ist eine typische Vorstellung des Ureinen, die wir dagegen nur als Vielheit von Äußerungen kennen lernen. Jene Urvorstellung, die den Charakter ausmacht, ist nun auch die Mutter aller moralischen Phänomene. Und jede zeitweilige Aufhebung des Charakters (im Kunstgenuß, in der Improvisation) ist eine Veränderung des moralischen Charakters. Es ist die mit der Vorstellung, dem Scheine verknüpfte Welt des Besten, aus der das moralische Phänomen entsteht. Die Scheinwelt der Vorstellung geht ja auf Welterlösung und Weltvollendung hinaus. Diese Weltvollendung würde liegen in der Vernichtung des Urschmerzes und Urwiderspruchs d. h. der Vernichtung des Wesens der Dinge und in dem alleinigen Scheine also im Nichtsein. Alles Gute entsteht aus zeitweiligem Versenktsein in die Vorstellung d. h. aus dem Einswerden mit dem Scheine. 9 [106] 217
Wenn Richard Wagner der Musik den Charakter des "Erhabenen" zuschreibt, im Gegensatze zum Gefällig-Schönen, so zeigt sich hierin die moralische Seite der neueren Kunst. Jener Wille, der unter allen Gefühlen und Erkenntnissen sich bewegt und den die Musik darstellt, er ist der empirischen Welt gegenüber ein paradiesisch-ahnungsreicher Urzustand, der sieh zur Welt verhält wie die Idylle zur Gegenwart. Wir genießen diesen Urzustand mit der moralischen Empfindung des Erhabenen, des Nichtwieder-zu-erreichens, es sind die "Mütter" des Daseins: dorther haben wir die wahre Helena, die Musik, zu holen. 9 [107] Die neue Bildung der Renaissance, mit ihrem Anschluß an's Alterthum, suchte auch eine entsprechende neue Kunst: während in Malerei Plastik und Palestrina das Mittelalter zu seinem höchsten Abschluß kam. Der Boden der neuen Kunst ist nicht mehr das Volk, wohl aber versteht man das Volk idyllisch und strebt nach ihm hin. Die Arie und der moderne Staat, beide mit der Sehnsucht nach dem Volke, doch in ewiger Entfernung zugleich. Dadurch hat der Volksbegriff etwas Magisches bekommen: in seiner Verehrung spricht sich die Entfremdung von ihm aus. Das Individuum herrscht d. h. es enthält jetzt in sich die Kräfte, die früher in großen Massen latent lagen. Das Individuum als Extrakt des Volkes: Absterben zu Gunsten einer Blüthe. Es ist unmöglich, die jetzigen Bildungsziele wieder als Massenziele (z. B. die Kreuzzüge) hinzustellen. Wie verhält sich dazu die Kunst? Sie feiert das Individuum d. h. den Menschen. 9 [108] Vorwort an Richard Wagner. Ursprünge der Lyrik. Sokrates und die Tragödie. Die Oper. 9 [109] Bei Shakespeare ist der Gedanke der Musik adäquat geworden. Die Kunst der Neuzeit: die Renaissance zeigt in der Oper den Bruch, während Palestrina der höchste Abschluß des Mittelalters ist. Die Oper ganz verstehen heißt den modernen Geist verstehen. Der kunstbedürftige Laie stellt seine Forderungen und vereinigt alle Künste um sich, um damit sich über jenen Bruch hinweg zu träumen. "Der gute Mensch" "der gute Urmensch" wird jetzt dem christlichen Menschen entgegengestellt: die Kunst offenbart eine moralische Weltbetrachtung. Der moderne Mensch braucht die Kunst als Berauschungstrank, an Stelle jenes mittelalterlichen Glaubens. Die "heroische" Oper ist so zu verstehn: als das Oppositionsdogma vom "guten Menschen". 218
Wie Virgil den Dante durch die Hölle führt, so lehnte sich die Oper an die griechische Tragödie an. 9 [110] Wie die Griechen naiv fühlten, so fühlten sie auch den aeschyleischen κοµποζ naiv. Unterschied zwischen dem pindarisch-aeschyleischen und dem schillerschen Pathos. Der Chor d. h. die Musik nöthigte zu diesem Pathos: als man es, zu Gunsten des IndividuellCharakteristischen, aufgeben wollte, mußte man die Bedeutung der Chormusik verringern. Worin besteht jenes Pathos? Woher diese Abirrung von der Wirklichkeit? Woher jene Lust an der Unnatur? Die Verschiedenheit der homerischen Sprache? Es ist doch keine Lyrik; denn Absichten werden explicirt. Deutlich muß alles sein: wie gefährlich ist dieses Pathos! Darum sind die einfachsten, an sich bekannten Conflikte genommen, um sich doch jene Höhe des Ausdrucks gestatten zu dürfen. Das lange Schweigen der aeschyleischen Figuren erinnert an die Vision des Chors, cf. die Frösche. Dann mußten solche lang schweigenden Personen furchtbar pathetische Worte sagen: sie waren zu hoch in die ideale Sphaere hinaufgerückt: es seien ganz fremde, unheimliche, unverständliche Worte gewesen. 9 [111] Wenn die Erfinder der Oper glaubten, im Recitativ den Usus der Griechen nachzuahmen, so war dies eine idyllische Täuschung. Die griechische Musik darin die idealste, daß sie auf Wortbetonung, überhaupt auf das sorgfältige Übereinstimmen der kleinen Willensregungsspitzen im Worte mit den Arsen gar keine Rücksicht nimmt. Sie kennt überhaupt das musikalische Accentuiren nicht: die Wirkung beruht im Zeitrhythmus und der Melodie, nicht im Rhythmus der Stärken. Der Rhythmus wurde nur empfunden, er kam nicht durch die Betonung zum Ausdruck. Vielmehr betonten sie nach dem Gedankengehalte. Höhe und Tiefe der Note, These oder Arse des Taktes hatten mit ihm nichts zu thun. Dagegen war das Gefühl für die Tonleitern und die Zeitrhythmen auf das Feinste entwickelt. Man sieht an der Tanzbegabung dieses Volkes seine ungeheure rhythmische ποικιλια: während unsre rhythmischen Verhältnisse einen engen Schematismus haben. 9 [112] Lyriker. Theognis. Choephoren. Philosophen. Laertius. Alcidamas Homer.
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9 [113] Wenn die Musik sich an der Hand der Lyrik entwickelt, so heißt das soviel: der Musiker zwingt und gewöhnt den Laien zur Musik und zum allmählichen Verständniß durch die annähernde Interpretation der Lyrik. Man vergleiche die schwere Annäherung an die letzten Beethovenschen Quartette oder an die Missa solemnis. 9 [114] Befreiung der Symphonie von ihrem romanischen Schematismus. Entfesselung des Rhythmus. Die tragische Idylle Francesca di Rimini in Dante. 9 [115] Im Tristan ist Wort Gedanke und Bild Gegengewicht gegen den völlig verzehrenden Idealismus der Musik. 9 [116] Die Bedeutung des Taktes als Schranke der Musik, gegen ihre größte Wirkung. Bei Wagner empfindet man mitunter, wie Musik ohne ihn wirkt: auch hierin ist er idyllisch. Der Takt gänzlich vorbildlos in der Natur: was wäre das für eine Gewalt, die die Regungen des Willens mit gleichen Zeittheilen durchschnitte? - d. h. ursprünglich ist er Abbild des Wellenschlags. Er ist schon eine Gleichnißrede vom Willen: etwas Äußerliches, zu vergleichen mit den zwei Schauspielern der Tragödie; was festgehalten wird. Mit dem Takte wird die Harmonie und Melodie gleichsam gebändigt. Der Takt ist die Rückwirkung der Mimik auf die Musik: wie die Melodie Abbild des sprachlichen Gedankens, des Satzes ist. Der gehende und sprechende Mensch, insofern er Sänger ist, bestimmt die Grundformen der Musik. Die Musik hat sich in ihrer Entwicklung an die anthropomorphischen Hauptäußerungen angeschlossen: Gang und Sprache. Richtiger wohl können wir den Gang eine Nachahmung der Musik und den sprachlichen Satz eine Nachahmung der Melodie nennen. In diesem Sinne ist der ganze Mensch Erscheinung der Musik. Dann wäre der Takt als etwas Fundamentales zu verstehen: d. h. die ursprünglichste Zeitempfindung, die Form der Zeit selbst. 9 [117] Richard Wagner und die griechische Tragoedie. Vorwort. Es giebt die Vorstellung, als ob hier die nächste Verwandtschaft wäre, so daß die Italiäner, in der Nachahmung der Tragödie, auf dem richtigen Wege gewesen seien. 9 [118] 220
Erga. Certamen. Choephoren. 9 [119] Einwirkung der alten Musik auf die Affekte außerordentlich bestimmt. Die antike Musik wird als Willenssprache verstanden, daher ihr ungelöster Bund mit der Lyrik. Der Tragiker betrachtet sich als Lehrer zum Besser werden des Volkes. Moralischer Gesichtspunkt. Unsre Kunstempfindung ist auch eine moralische, aber die tragische Erkenntniß des Bessergewesenseins: sentimentalisch. 9 [120] Daß die griechische Welt durch Plastik, die moderne durch Musik charakterisirt werde, ist ganz irrthümlich. Die griechische hat vielmehr die volle Vereinigung des Dionysischen und des Apollinischen. 9 [121] Voltaire hat auch seine Dichtungen so pathetisch monoton recitirt. Goethe, Bd. 29, 338: "psalmodirender Bombast". 9 [122] Noch zu schreiben. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Der apollinische Genius. Der dionysische Genius. Die Oper. Die Tragödie. Der Dithyramb. Tod der Tragödie. Shakespeare Schiller. Richard Wagner.
9 [123] Die heroische Oper (v. Klein, B. 6) d. h. vor allem die historische. Der pastorale Charakter wird abgestreift. Die ausgezeichnet edeln Menschen: idyllische Tugendschwärmerei. - Die französische Tragödie und Schiller sind mit einem solchen moralischen Gefühl als Analoga der heroischen Oper zu messen. - Also Flucht aus dem Paradies der Menschen in die großartigen Tugendmomente der Geschichte: in's Paradies der Menschengüte. Die Räuber (Karl Moor, Plutarch, die großen Menschen). 221
9 [124] Cap. I. Dionysus und Apollo. Cap. II. Der apollinische Künstler. Cap. III. Der Lyriker. Cap. IV. Die Oper. Cap. V. Die Tragödie. Cap. VI. Richard Wagner. Die Ethik. Verwandtschaft mit Schopenhauer. Der Schriftsteller. Der Dichter. Der Musiker. 9 [125] Woher entsteht die Theorie von der Nachahmung? Und vom charakteristischen Stil? - Die Musik hatte noch nicht die zarteste Form ausgebildet: der charakteristische Stil und die Musik vertrugen sich nicht. Der Gedanke war noch nicht durchwärmt genug. Die Geburt des Gedankens aus Musik zeigt sich bei Sophocles eben erst schattenhaft in der Weltbetrachtung. Bei Shakespeare Vollendung: eigentlich germanisch: Gedanken aus Musik zu gebären. Daß Musik Gedanken erzeugen kann? Zunächst Bilder, Charaktere, dann Gedanken. Der antike Mythus ist meist aus Musik geboren. Eine Bilderreihe. Es sind die tragischen Mythen. Worin liegt die Verwandtschaft der Musik und des Tragischen? Das Tragische spricht die allgemeinste Form des Seins aus? Und wodurch unterscheidet sich das Lyrische vom Tragischen? Das Tragische kann ja nur eine Steigerung des Lyrischen sein: im Gegensatz zum Epischen. Die Auflösung der Musik in einen Mythus ist das Tragische. Der tragische Mythus verhält sich zur Lyrik, wie das Epos zum Gemälde. Was ist hier der Mythus? Eine Geschichte, eine Kette von Ereignissen ohne "fabula docet", aber als Ganzes Interpretation der Musik.
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Die Lyrik eine Reihe von Affekten als Interpretation der Musik. Der tragische Mythus Darstellung eines Leidens als Interpretation der Musik. Das Epos - Geschichte als Reihe von Bildern. Relief. Die Tragödie - Geschichte als Reihe von Affekten. - Das speziell Dramatische gehört nicht zum Wesen des Tragischen. Es giebt auch ein dramatisches Epos. Der tragische Chor sieht den Mythus wie der Rhapsode das Epos. Aber der Rhapsode erzählt ihn. Und zuerst erzählte der Chor auch die Tragödie. Wie sich Stesichorus zu Homer verhält so jener tragische Chor zu dem Rhapsoden. (Ist die Komödie vielleicht die dramatische Darstellung des Epos? Es ist nöthig-)? 9 [126] Warum ist die Wirkung des Sänger-Schauspielers, des musikalischen Dramatikers so ungeheuer? Der Ton wird sofort als Affektsprache verstanden. Die rein musikalische Wirkung ist sogleich depotenzirt zu einer Affektwirkung. Darin liegt - gegenüber dem absoluten Sänger, der nur Instrument ist - jenes Idyllische. Die Kunst erscheint als Affektwirkung. Das Drama, die Sprach-Tragödie hat bei uns keinen Klang. Merkwürdige Thatsache, daß wir vom Lesen eines Shakespeareschen Stückes eine viel höhere Wirkung haben als bei der Aufführung. Der Schauspieler ist ja moderner Mensch: er ist im Widerspruch mit der Tragödie. - Richtiges Gefühl Schillers über den Chor und Tiecks Äußerung: das gänzlich Unnatürliche (gegenüber unsrer Natur) ist das Ergreifendste. 9 [127] Die Oper kann ihrer Natur nicht völlig entfremdet werden: der wird aus ihr das Beste machen, der ihr Wesen am schärfsten zum Ausdruck bringt. 9 [128] Wagner ist vor allem als Musiker zu beachten: seine Texte sind "Musikdunst". 9 [129] Ich glaube daß wir, wenn wir nicht Künstler sind, die Kunst nur an idyllischen Stimmungen und idyllisch verstehn. Das ist unser modernes Loos: wir genießen also als moralische Wesen. Die griechische Welt ist vorbei. 9 [130] Der apollinische Genius - Entwicklung des militärischen Genius zum politischen, zum Weisen (Zeitalter der Sieben), zum Dichter, zum Bildhauer Maler. (Fortbestehen der älteren Spezies.)
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Der dionysische Genius - hat nichts mit dem Staat zu thun. Begriff der Menschheit - keine Sklaven - Mitleid. Angriff auf die "apollinischen Professoren". Der lyrische Genius. 9 [131] Die Oper. Das Idyllische. Das Laienthum. Das Reizende und Üppig-Leidenschaftliche. Die Tragödie. Das Tragische. Aristoteles. Der Dithyramb. διϑ υραµβικοζ ν∏µοζ. Stimme als Instrument. Höhe der absoluten Musik. Aristoteles über das ηϑ οζ der Musik. Tod der Tragödie - das Schauspiel - Romanismus. 9 [132] Shakespeare Vollendung des Sophocles. Ganz dionysisch. Er zeigt die Grenze der griechischen Tragödie: gleiches Verhältniß wie zwischen alter griechischer und germanischer Musik. Richard Wagner und unsre Dichter - als vorbildliche Menschen. 9 [133] Bei Aeschylus ist die Musik in Sprache und Charakter. Bei Sophokles in der Weltanschauung. Sie flüchtet aus - dem Wahrnehmbaren in's Unsinnliche, sie ist auf der Flucht. Das Charakteristische - das neue Zauberwort für Sophokles, d. h. die Nachahmung der wirklichen Charaktere. Falscher Begriff der Mimesis. Die Kunstgestalten sind realer als die Wirklichkeit, die Wirklichkeit ist die Nachahmung der Kunstgestalten: ist die wachende Welt eine Nachahmung der Traumwelt? - Gewiß muß die Welt als Vorstellung vorhanden sein: während wir erst das Vorgestellte sind. Nachahmung der Charaktere - damit ist die Musik nicht mehr produktiv, gestaltenschöpferisch. Die Musik muß aus sich in gleicher Weise die Tragödie erzeugen, wie das Ur-Eine die Individuen. Der Traum als reiner Musikzustand? 9 [134] Die unerhörte Musikerweiterung bei den Dithyrambikern gilt zunächst als ein Übermaß der Musik: Bei Pratinas ist es nicht wahr, daß er die Herrschaft des Textes über die Musik verlangt, sondern das Überwiegen des Gesanges über die Instrumente. Jene übermächtige Musik der Dithyrambiker suchte nach einer größeren Gattung, in der die verschiedensten Charaktere der Musik nach einander Platz hatten. Sie thaten dies, indem sie, 224
nach Plato, den Threnos den Hymnus usw. in den Dithyramb zogen. Es war jetzt eine mehrtheilige große Musikcomposition, die als Ganzes durch eine Handlung versinnlicht wurde. Die antike Symphonie. 9 [135] Wagner und Beethoven: Wagner strebt unbewußt eine Kunstform an, in der das Urübel der Oper überwunden ist: nämlich die allergrößte Symphonie: deren Hauptinstrumente einen Gesang singen, der durch eine Handlung versinnlicht werden kann. Nicht als Sprache, sondern als Musik ist seine Musik ein ungeheurer Fortschritt. Denn wir dürfen nicht vergessen, daß die alte Opernmusik einerseits und anderseits die gelehrte Musik ihre deutlichsten Spuren auch in Bach und Beethoven hinterlassen hat. Ihm schwebt eine deutsche Musik vor, die vom romanischen Joche befreit ist: diese, wie die verwandte deutsche Kunst, findet er zunächst nur als radikaler Idylliker, als Vollender des romanischen Gedankens. Es ist ungeheuer, was uns der Text und die Handlung dem reinen Musikgenusse entgegenführt: man denke an den dritten Akt des "Tristan". Hier ist das inferno aufgeschlossen, das wir nur an der Hand Virgils zu schauen aushalten. Das Bild und der Gedanke ist hier noch mehr: er bricht den völlig verzehrenden Einfluß der Musik, er mildert ihn. - Urschmerz. Insofern ist Wort und Bild Heilmittel gegen die Musik: zuerst nähert Wort und Bild uns der Musik, dann schützt es uns gegen sie. 9 [136] Dieser idyllische Zug der Neuzeit ist ihr so eigenthümlich, daß sie ihn, als idyllisch, gar nicht sofort begreift. - Man versteht ihn aber, wenn man das naive Volkslied zur Vergleichung hinzunimmt. Die römische Poesie ist an sich unmusikalisch. Bei Gluck: Rückkehr von der Unnatur der Sänger zum Idyllischen der Wortmusik: und zu antiken Stoffen. Die Ausartung der Idylle nach dem Prächtigen, Üppigen, Reizenden: bei Mozart Rückkehr zu einfacher Musik, idealisirte Serenaden, Arien, Buffopartien, kurz germanisch angehauchte Rückkehr zur italienischen Volkskomödie. 9 [137] Die Wortmusik soll zunächst auf die Affekte des Zuhörers wirken, als deklamirtes Wort: die Musik ist auf den Nichtmusiker berechnet, der ihr nur mit Affekten beikommt. Dieser affektuose Nichtmusiker ist der geträumte Urzuhörer, der die Gesetze diktirt: er will einfache und starke Empfindungen erregt haben und dem Gedanken entfliehn (der ihm die moderne Zeit repräsentirt). An Stelle der Empfindung verlangt er auch oft nur das Reizende oder Aufregende. Hier liegt immer der Weg offen für die üppige Pracht und Sinnlichkeit der Oper: aus Gedankenflucht. Der Grundirrthum ist: daß der naive Urmensch gedacht wird wie er in der Leidenschaft zum Musiker und Dichter wird: als ob Leidenschaften Kunstwerke erzeugen könnten. Dies ist der 225
Glaube einer durch den Gedanken beunruhigten Zeit, die ihre Leidenschaften schon zu sehr mit Vorstellungen zersetzt findet: sie träumt sich in ein Reich hinein, wo die Leidenschaften nicht Gedanken, sondern Gesang und Dichtungen erzeugen. Also ein falscher Glaube über den künstlerischen Prozeß ist die Voraussetzung: und zwar der idyllische Glaube, daß eigentlich jeder einfach empfindende Mensch Künstler sei: insofern ist es der Ausdruck des Laienthums in der Kunst. Man nimmt einen ungeheuren Bruch wahr, gegenüber dem Alterthum: Künstler und Publikum als zwei aesthetische Mächte, die sich nicht mehr verstehen. (Man denke an Palestrina.) Die Oper ist der Versuch eine Eintracht herzustellen: durch das Zurückgehn auf eine Urmenschheit, wo der Laie und der Künstler zusammenfallen. 9 [138] Bei Euripides ist auch der Zuhörer der bestimmende geworden. Die im Zuhörer zu erregende Leidenschaft dichtet hier die Dramen. Aber es ist ein Zuhörer, der nichts Idyllisches empfindet: und so trägt Euripides die Mythen in die Gegenwart und deren Leidenschaften. 9 [139] Sokrates und Euripides - zur Erklärung des romanischen Schauspiels: dessen Grundirrthum: es soll ein sokratisches Problem gelöst werden, ein Vernunftsatz, der jetzt die Poesie erzeugen soll. Hier wird der lyrische Dichter mit dem leidenschaftlichen Menschen verwechselt: an Stelle des musikalischen Untergrundes tritt der Affekt. Ein Vernunftsatz wird durch Affekte erklärt. Oder: der Affekt, durch einen Vernunftsatz niedergehalten, wird in Aufregung dargestellt. An die Stelle des musikalischen Untergrundes ist der Affekt getreten. An die Stelle der Bilderausführung der Vernunftsatz, der jetzt ein Beispiel des Affektes sucht. Insofern ist der unmusikalische Zuhörer zum Dichter geworden. Oder der Zuhörer hat das Drama der Romanen bestimmt. 9 [140] Lyriker. Oper. Tragödie. Dithyrambus. Roman. Drama. Shakespeare. Richard Wagner. Schiller und Goethe
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Romanisch und Germanisch. 9 [141] Wir verstehen Shakespeare und Beethoven auf Grund unserer romanischen Verwöhnung. 9 [142] Entweder, sagt Schiller, ist die Natur und das Ideal ein Gegenstand der Trauer, wenn jene als verloren, dieses als unerreicht dargestellt wird. Oder beide sind ein Gegenstand der Freude, indem sie als wirklich vorgestellt werden. Das erste giebt die Elegie in engerer, das andere die Idylle in weitester Bedeutung. Der "Siegfried" z. B. gehört zur Idylle, Natur und Ideal ist wirklich, darüber freut man sich. Dabei ist nun der Wagnersche Begriff der Natur ein tragischer, der Schillersche heiterer. Wir freuen uns an Tristan, selbst an seinem Tode, weil diese Natur und dieses Ideal wirklich ist. 9 [143] Von Rom hängen wir ab, wie Jacob Burckhardt, p. 200, ein theilweises Wiedererwachen des antiken italischen Genius in den italienischen Dichtern selbst findet, ein wundersames Weiterklingen eines uralten Saitenspiels. Die Römer als Künstler sind für alle Nachwelt bis jetzt bestimmend gewesen. Nur der urgermanische Geist in Shakespeare Bach usw. hat sich von ihnen emancipirt. Ihr Humanismus ist das Gegengewicht gegen ihre Kunst. Zur mythologisch-bukolischen Litteratur, p. 201. Die bukolische Tendenz des dramatischen Dithyrambus, Cyclops. Bereits idyllisch. 9 [144] Homerische Frage. Dialogus de oratoribus. 9 [145] Motto für Wagner's Tendenz: Und wie nach hoffnungslosem Sehnen, Nach langer Trennung bitterm Schmerz, Ein Kind mit heißen Reuethränen Sich stürzt an seiner Mutter Herz: So führt zu seiner Jugend Hütten,
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Zu seiner Unschuld reinem Glück, Vom fernen Ausland fremder Sitten Den Flüchtling der Gesang zurück, In der Natur getreuen Armen Von kalten Regeln zu erwarmen. Dann der "Spaziergang" zu vergleichen. 9 [146] Goethe, als musikalischer Lyriker, hat auch die einzigen völlig dramatischen Scenen geschrieben (z. B. Schluß des Faust I, Egmont, Berlichingen). Über die dramatischen Scenen sind wir nicht hinaus. - Schiller hat vielleicht den noch stärkeren musikalischen Antrieb, aber seine Sprach- und Bilderwelt ist nicht adäquat: wie es bei Shakespeare der Fall ist. Kleist war auf dem schönsten Wege. Doch hat er die Lyrik noch nicht überwunden. Die idyllische Tendenz trieb Goethe vom Drama fort, z. B. Iphigenie, Tasso. - Schiller kommt nicht einmal völlig zur Lyrik, geschweige denn darüber hinaus: zum Drama. - Es giebt keinen Vergleich mit Shakespeare: wohl aber mit der französischen Tragödie. Soweit wir nicht beim Volkslied angelangt sind, stehen wir unter französischem Einfluß. Das Volkslied aber muß, wie bei Goethe, ein frisch entstehendes sein. 9 [147] Schiller und Goethe als Dichter der Aufklärung, doch mit deutschem Geiste. So verhält sich Wagner zur großen Oper, wie Schiller zur französischen Tragödie. Der Fundamentalirrthum bleibt, aber innerhalb desselben wird alles mit deutschem idealem Radikalismus erfüllt. Der Fundamentalirrthum ist aber ein Urtheil der modernen Geschichte, nichts Zufälliges, sondern die Nothwendigkeit (beginnt deshalb mit der Renaissance), d. h. es wird der von Sokrates begonnene Weg fortgesetzt. Nur unsre großen deutschen Musiker und Shakespeare stehen außerhalb dieses Prozesses, als bereits erreichte Höhepunkte. Und man muß die Höhepunkte nicht historisch am Ende erwarten wollen. Es gab Jugendmomente in Goethe (Conception des Faust), wo er ebenfalls über jenen Prozeß hinausschaute: wohin? Das Problem: zu Shakespeare und Beethoven die Cultur zu finden. Und hier mögen unsre Schiller und Wagner, als Menschen, die Vorläufer sein. Befreiung vom Romanismus: bis jetzt nur Umbildung des Romanismus, wie die Reformation nur eine Umbildung war. 9 [148] Bildung und Kunst. Das Ziel der Erziehung. 9 [149]
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Richard Wagner das Idyll der Gegenwart: die unvolksthümliche Sage, der unvolksthümliche Vers, und doch deutsch Beides. Wir erreichen nur noch das Idyll. Wagner hat die Urtendenz der Oper, die idyllische, bis zu ihren Consequenzen geführt: die Musik als idyllische (mit Zerbrechung der Formen), das Recitativ, der Vers, der Mythus. Dabei haben wir die höchste sentimentalische Lust: nie ist er naiv. - Ich denke an den Schillerschen Gedanken über eine neue Idylle. Wagner als Dichter. Ob z. B. Tristan als "Symphonie" zu verstehen ist? Nein. Wagner versucht den Atlas der modernen Cultur einfach abzuwerfen: seine Musik imitirt die Urmusik. Die "moralische" Wirkung ist die ergreifendste. Das Gesammtkunstwerk gleichsam ein Werk des Urmenschen, wie Wagner auch die Urbegabung voraussetzt. Der ungetrennte Mensch. Der singende Urmensch. Das Orchester ist der moderne Mensch, der Idylle gegenüber. - Er sucht als Musiker zur Lyrik den Untergrund, zum Beispiel die Regel. Er schöpft seine lyrischen Personen nur aus seinen musikalischen Stimmungen, deshalb decken sie sich als Ganzes. Die eigentliche Dramatik der Musik unmöglich. In der großen Tannhäuserscene wirkt der dramatische pathologische Zustand, die Musik ist hier nur ein Idealismus, der das Wort verdrängt hat. (Schiller über die Bacchusfeste bei Nohl.) Wagner wählt aus der in ihm lebenden Musik: die Charakteristik ist entnommen der scharfen Beobachtung der exekutirenden Sänger und Musiker. Hier liegt alle Nachahmung: die Tempobezeichnung "schnell" ist keine absolute, sondern nur für den ausübenden Musiker. Das Orchester wird so entsprechend "mimisch" gedacht: es wird zur Mimik von dramatischen Sängern das Analogon in der exekutirt gedachten Musik gesucht. Die Deklamation gehört vor allem zu dieser Mimik: der nun jetzt eine entsprechende Mimik des Orchesters entspricht. Das Orchester ist somit nur eine Verstärkung des mimischen Pathos. Die Musik selbst, die in das geschaute Schema eingezwängt wird, muß jetzt ledig aller der strengen Formen sein d. h. vor allem der streng symmetrischen Rhythmik. Denn die dramatische Mimik ist etwas viel zu Bewegliches, Irrationales für alle Formen der absoluten Musik, sie kann nicht einmal den, Takt einhalten, und deshalb hat die Wagnersche Musik die allergrößten Tempoverschiebungen. Diese Musik wird nun wieder als hergestellte Urmusik begriffen, weil sie schrankenlos ist: sie entspricht dem Stabreim. - Die Chromatik wird gefordert, um die plastische Kraft der Harmonie zu entfesseln d. h. wiederum als Differenzirung des mimischen Pathos. "Dramatische Musik" falscher Begriff. - Voraussetzung Wagner's: der Affekte empfindende Zuhörer, nicht der rein musikalische, der sentimentalische, der sofort dem Mythus gegenüber innerste Rührung empfindet, im Gefühl des Gegensatzes. - Die tragische Idylle: das Wesen der Dinge ist nicht gut und muß untergehen, aber die Menschen sind so gut und groß, daß uns ihre Vergehen am tiefsten ergreifen, weil sie fühlen für solche Vergehen unfähig zu sein. Siegfried der "Mensch", wir dagegen der Unmensch ohne Rast und Ziel. Idyllische Tendenz der Kunst gegenüber: er sieht überall die Verirrung der Künste und glaubt die eine Kunst herzustellen. Der Individualismus der Künste erscheint ihm als Verirrung. Der in Stücke gerissene Künstler wird verurtheilt, der Allkünstler d. h. der künstlerische Mensch restituirt. 9 [150] Der französische Liberalismus und die heroische Oper - gleiches Fundament. 9 [151] Plan: das Vorbild einer philologisch-philosophischen Betrachtung an Aeschylus zu geben. Neue Kulturbetrachtung. Neue Aesthetik (mit reichstem allseitigem Material). 229
Neue Rhythmik. Neue Sprachphilosophie. Neue Behandlung der Mythen. Begriff des "Klassischen" zum ersten Male praktisch. Vollendung der "sentimentalischen" Bewegung. Unterschied der Darstellung. Philologische Behandlung aller Dramen, mit gebührender Mißachtung der bisherigen, auf ungenügender Bildung beruhenden. [Dokument: Mappe mit losen Blättern] [Anfang 1871] Fragment einer erweiterten Form der "Geburt der Tragoedie", geschrieben in den ersten Wochen des Jahres 1871. 11 Seiten. 10 [1] Wem nun, durch die bisher gegebene Charakteristik, der Sinn für die beiden entgegengesetzten und doch zusammengehörigen Welten des Apollinischen und des Dionysischen erschlossen ist, der wird jetzt eine Stufe weiter gehen und, vom Standpunkte jener Erkenntniß aus, das hellenische Leben in seinen wichtigsten Erscheinungen als Vorbereitung für die höchsten Äußerungen jener Triebe, für die Geburt des Genius, erfassen. Während wir uns, nämlich jene Triebe als Naturgewalten außer allen Zusammenhang mit gesellschaftlichen staatlichen religiösen Ordnungen und Sitten denken müssen giebt es noch eine viel künstlicher und überlegter vorbereitete, gleichsam indirekte Offenbarung jener Triebe, durch den einzelnen Genius , über dessen Natur und höchste Bedeutung ich mir jetzt eine halb mystische Bilderrede gestatten muß. Der Mensch und der Genius stehen sich in sofern gegenüber, als der erste durchaus Kunstwerk ist, ohne sich dessen bewußt zu werden, weil die Befriedigung an ihm als an einem Kunstwerke gänzlich einer anderen Erkenntniß- und Betrachtungssphaere angehört: in diesem Sinne gehört er zur Natur, die nichts als eine visionsartige Spiegelung des Ur-Einen ist. Im Genius dagegen ist - außer der ihm als Menschen zukommenden Bedeutung - zugleich noch jene der anderen Sphaere eigenthümliche Kraft, die Verzückung der Vision selbst zu fühlen, vorhanden. Wenn die Befriedigung am träumenden Menschen sich ihm selbst nur dämmernd erschließt, ist der Genius zugleich der höchsten Befriedigung an diesem Zustande fähig; wie er selbst andernseits über diesen Zustand Gewalt hat und ihn aus sich allein erzeugen kann. Nach dem, was wir über die vorwiegende Bedeutung des Traumes für das UrEine bemerkt haben, dürfen wir das gesammte wache Leben des einzelnen Menschen als eine Vorbereitung für seinen Traum ansehen; jetzt müssen wir hinzufügen, daß das gesammte Traumleben vieler Menschen wiederum die Vorbereitung des Genius ist. In dieser Welt des 230
Nicht-Seienden, des Scheines muß alles werden: und so wird auch der Genius, indem in einem Menschheitscomplexe, in einem größeren Individuum jene dämmernde Lustempfindung des Traumes sich immer mehr steigert, bis zu jenem dem Genius eigenthümlichen Genusse: welches Phänomen wir uns an dem allmählichen, durch Morgenröthe und vorausgesandte Strahlen angekündigten Aufgehen der Sonne sichtbar machen können. Die Menschheit, mit aller Natur als ihrem vorauszusetzenden Mutterschooße, darf in diesem weitesten Sinne als die fortgesetzte Geburt des Genius bezeichnet werden: von jenem ungeheuren allgegenwärtigen Gesichtspunkte des Ur-Einen aus ist in jedem Moment der Genius erreicht, die ganze Pyramide des Scheins bis zu ihrer Spitze vollkommen. Wir, in der Enge unseres Blicks und innerhalb des Vorstellungsmechanismus von Zeit, Raum und Kausalität, haben uns zu bescheiden, wenn wir den Genius als Einen unter vielen und nach vielen Menschen erkennen; ja wir dürfen glücklich sein, wenn wir ihn überhaupt erkannt haben, was im Grunde immer nur zufällig geschehn kann und in vielen Fällen gewiß nie geschehn ist. Der Genius als der "nicht wachende und nur träumende" Mensch, der, wie ich sagte, vorbereitet wird und entsteht in dem zugleich wachenden und träumenden Menschen, ist durch und durch apollinischer Natur: eine Wahrheit, die nach der vorausgeschickten Charakteristik des Apollinischen, von selbst einleuehtet. Damit werden wir zur Definition des dionysischen Genius gedrängt, als des in völliger Selbstvergessenheit mit dem Urgrunde der Welt eins gewordenen Menschen, der jetzt aus dem Urschmerze heraus den Wiederschein desselben zu seiner Erlösung schafft: wie wir diesen Prozeß in dem Heiligen und dem großen Musiker zu verehren haben, die beide nur Wiederholungen der Welt und zweite Abgüsse derselben sind. Wenn dieser künstlerische Wiederschein des Urschmerzes aus sich heraus noch eine zweite Spiegelung, als Nebensonne, erzeugt: so haben wir das gemeinsame dionysisch-apollinische Kunstwerk, dessen Mysterium wir uns in dieser Bildersprache zu nähern suchen. Für jenes eine Weltenauge, vor dem sieh die empirisch-reale Welt sammt ihrem Wiederscheine im Traume ausgießt, ist somit jene dionysisch-apollinische Vereinigung eine ewige und unabänderliche, ja einzige Form des Genusses: es giebt keinen dionysischen Schein ohne einen apollinischen Wiederschein. Für unser kurzsichtiges, fast erblindetes Auge legt sich jenes Phänomen in lauter einzelne, theils apollinische, theils dionysische Genüsse auseinander, und nur in dem Kunstwerk der Tragödie hören wir jene höchste Doppelkunst zu uns reden, die, in ihrer Vereinigung des Apollinischen und des Dionysischen das Abbild jenes Urgenusses des Weltauges ist. Wie für dieses der Genius die Spitze der Pyramide des Scheins ist, so darf uns wiederum das tragische Kunstwerk als Spitze der unserem Auge erreichbaren Kunstpyramide gelten. Wir, die wir genöthigt sind, Alles unter der Form des Werdens d. h. als Willen zu verstehn, verfolgen jetzt die Geburt der drei verschiedenartigen Genien in der uns allein bekannten Erscheinungswelt: wir untersuchen, welche wichtigsten Vorbereitungen der "Wille" braucht, um zu ihnen zu gelangen. Dabei haben wir alle Gründe, diesen Nachweis an der griechischen Welt zu geben, die über jenen Prozeß einfach und ausdrucksvoll, wie dies ihre Art ist, zu uns redet. Falls wirklich der Genius Zielpunkt und letzte Absicht der Natur ist, so muß nun jetzt auch nachweisbar sein, daß in den anderen Erscheinungsformen des hellenischen Wesens nur nothwendige Hülfsmechanismen und Vorbereitungen jenes letzten Zieles zu erkennen sind. Dieser Gesichtspunkt zwingt uns, vielberufene Zustände des Alterthums, über die noch kein 231
neuerer Mensch mit Symphathie gesprochen hat, auf ihre Wurzeln hin zu untersuchen: wobei sich ergeben wird, daß diese Wurzeln es gerade sind, aus denen der wunderbare Lebensbaum der griechischen Kunst einzig erwachsen konnte. Es mag sein, daß uns diese Erkenntniß mit Schauder erfüllt: gehört doch dieser Schauder fast zu den nothwendigen Wirkungen jeder tieferen Erkenntniß. Denn die Natur ist auch, wo sie das Schönste zu erschaffen angestrengt ist, etwas Entsetzliches. Diesem ihren Wesen ist es gemäß, daß die Triumphzüge der Kultur nur einer unglaublich geringen Minderheit von bevorzugten Sterblichen zu Gute kommen, daß dagegen der Sklavendienst der großen Masse eine Nothwendigkeit ist, wenn es wirklich zu einer rechten Werdelust der Kunst kommen soll. Wir Neueren haben vor den Griechen zwei pfauenartig sich spreizende Begriffe voraus, die gleichsam als Trostmittel einer durchaus sklavisch sich gebahrenden und dabei das Wort "Sklave" ängstlich scheuenden Welt gegeben sind: wir reden von der "Würde des Menschen" und von der "würde der Arbeit." Alles quält sich, um ein elendes Leben elend weiter zu perpetuiren; diese furchtbare Noth zwingt zur verzehrenden Arbeit, die nun der vom "Willen" verführte Mensch gelegentlich als etwas Würdevolles anstaunt. Damit aber die Arbeit Ehren und rühmliche Namen verdiene, wäre es vor allem nöthig, daß das Dasein selbst, zu dem sie doch nur ein qualvolles Mittel ist, etwas mehr Würde habe als dies ernstgemeinten Philosophieen und Religionen zu erscheinen pflegt. Was dürfen wir Anderes in der Arbeitsnoth aller der Millionen finden als den Trieb, um jeden Preis weiter zu vegetieren: und wer sähe nicht an verkümmerten Pflanzen, die in erdloses Gestein ihre Wurzeln strecken, denselben allmächtigen Trieb? Aus diesem entsetzlichen Existenzkampfe können nur die Einzelnen auftauchen, die nun sofort wieder durch die Wahnbilder der künstlerischen Kultur beschäftigt werden, damit sie nur nicht zum praktischen Pessimismus kommen: als welchen Zustand die Natur auf das Höchste verabscheut. In der neueren Welt, die der griechischen gegenüber zu allermeist Abnormitäten und Centauren schafft, in der der einzelne Mensch, gleich jenem fabelhaften Wesen im Beginne der horazischen Poetik, aus Stücken bunt zusammengesetzt ist, zeigt sich oft an dem selben Menschen zugleich die Gier des Existenzkampfes und des Kunstbedürfnisses: aus welcher unnatürlichen Verschmelzung die Noth entstanden ist, jene erstere Gier vor dem Kunstbedürfnisse zu entschuldigen und gewissermaßen zu weihen, was durch jene trefflichen Vorstellungen von der Würde des Menschen und der Arbeit geschehen ist. Die Griechen brauchen keine solche klägliche Nothbehelfe, bei ihnen spricht sich rein aus, daß die Arbeit eine Schmach sei - nicht etwa weil das Dasein eine Schmach ist, sondern im Gefühl der Unmöglichkeit, daß der um das nackte Fortleben kämpfende Mensch Künstler sein könne. Der kunstbedürftige Mensch regiert im Alterthum mit seinen Begriffen, während in der neueren Zeit der Sklave die Vorstellungen bestimmt: er der seiner Natur nach alle seine Verhältnisse mit trügerischen glänzenden Namen bezeichnen muß, um leben zu können. Solche Phantome, wie die Würde des Menschen, die Würde der Arbeit sind die dürftigen Erzeugnisse des sich vor sich selbst verbergenden Sklaventhums. Unselige Zeit, in der der Sklave zum Nachdenken über sich und über sich hinaus gereizt worden ist! Unselige Verführer, die den Unschuldsstand des Sklaven durch die Frucht vom Baum der Erkenntniß vernichtet haben! Jetzt müssen diese, um nur leben zu können, sich mit solchen durchsichtigen Lügen hinhalten, wie sie in der angeblichen "Gleichberechtigung Aller", in den "Grundrechten des Menschen", des Gattungswesens Mensch, in der Würde der Arbeit für jeden tiefer Blickenden erkennbar sind. Sie dürfen ja nicht begreifen, an welchem Punkte, auf welcher Stufe erst ungefähr von "Würde" gesprochen werden kann - und die Griechen erlauben es selbst da nicht einmal - dort nämlich wo das Individuum völlig über sich hinaus geht und nicht mehr im Dienste seines individuellen Weiterlebens zeugen und arbeiten muß. Auch noch auf dieser Höhe der "Arbeit" haben die Griechen dieselbe truglose Naivetät. Selbst noch jener abgeblaßte Epigone Plutarch hat so viel griechischen Instinkt in sich, daß er uns sagen kann, kein edelgeborner Jüngling würde, wenn er den Zeus in Pisa schaue, das 232
Verlangen haben, selbst ein Phidias, oder wenn er Hera in Argos sieht, selbst ein Polyklet zu werden: und ebensowenig würde er den Wunsch hegen Anakreon Philetas oder Archilochus zu sein, so sehr er sich auch an ihren Dichtungen ergötze. Das künstlerische Schaffen fällt für den Griechen eben so sehr unter den unehrwürdigen Begriff der Arbeit, wie jedes banausische Handwerk. Wenn aber die zwingende Kraft des künstlerischen Triebes in ihm wirkt, dann muß er schaffen und sich jener Noth der Arbeit unterziehn. Und wie ein Vater die Schönheit und Begabung seines Kindes bewundert, an den Akt der Entstehung aber mit schamhaftem Widerwillen denkt, so ergieng es dem Griechen. Das lustvolle Staunen über das Schöne hat ihn nicht über den Werdeprozeß verblendet, der ihm wie alles Schaffen in der Natur erschien, als eine gewaltige Noth, als ein gieriges Sich-Drängen zum Dasein. Dasselbe Gefühl, mit dem der Zeugungsprozeß als etwas schamhaft zu Verbergendes betrachtet wird, obwohl in ihm der Mensch einem höheren Ziele dient als seiner individuellen Erhaltung: dasselbe Gefühl umschleierte auch die Entstehung der großen Kunstwerke, trotzdem durch sie eine höhere Daseinsform inaugurirt wird, wie durch jenen Akt eine neue Generation. Die Scham scheint somit recht eigentlich dort einzutreten, wo der Mensch nur noch Werkzeug unendlich größerer Willenserscheinung ist, als er sich selbst in der Einzelgestalt des Individuums gelten darf. Jetzt haben wir den allgemeinen Begriff, unter den die Empfindungen zu ordnen sind, welche die Griechen in Betreff der Sklaverei und der Arbeit hegten. Beide galten ihnen als eine nothwendige Schmach, vor der man Scham empfindet: in diesem Gefühle birgt sich die unbewußte Erkenntniß, daß das eigentliche Ziel jene Voraussetzungen braucht, daß hier aber das Entsetzliche und Raubthierartige der Sphinx Natur liegt, die in der gewollten Verherrlichung des künstlerisch freien Kulturlebens so schön den Jungfrauenleib vorstreckt. Die Bildung, die ich vornehmlich als wahrhaftes Kunstbedürfniß verstehe, hat einen erschrecklichen Untergrund: dieser aber giebt sich in der dämmernden Empfindung der Scham zu erkennen. Damit der Boden für eine größere Kunstentwicklung vorhanden ist, muß die ungeheure Mehrzahl im Dienste einer Minderzahl über das Maaß ihrer individuellen Nothwendigkeit hinaus der Lebensnoth sklavisch unterworfen sein. Auf ihre Unkosten, durch ihre Mehrarbeit soll jene bevorzugte Klasse dem Existenzkampfe entrückt werden, um nun eine neue Welt des Bedürfnisses zu erzeugen. Demgemäß müssen wir uns dazu verstehen als grausame Grundbedingung jeder Bildung hinzustellen, daß zum Wesen einer Kultur das Sklaventhum gehöre: eine Erkenntniß, die vor dem Dasein bereits einen gehörigen Schauder erzeugen kann. Dies sind die Geier, die dem prometheischen Förderer der Kultur an der Leber nagen. Das Elend der mühsam lebenden Masse muß noch gesteigert werden, um einer Anzahl olympischer Menschen die Produktion der Kunstwelt zu ermöglichen. Hier liegt der Quell jenes schlecht verhehlten Ingrimms, den die Kommunisten und Socialisten, und auch ihre blässeren Abkömmlinge, die weiße Raçe der Liberalen jeder Zeit gegen die Künste, aber auch gegen das klassische Alterthum genährt haben. Wenn wirklich die Kultur im Belieben eines Volkes stünde, wenn hier nicht unentrinnbare Mächte walteten, die dem Einzelnen Gesetz und Schranke sind, so wäre die Verachtung der Kultur, die Verherrlichung der Armuth des Geistes, die bilderstürmerische Vernichtung der Kunstansprüche mehr als eine Auflehnung der unterdrückten Masse gegen drohnenartige Einzelne: es wäre der Schrei des Mitleides, der die Mauern der Kultur umrisse, der Trieb nach Gerechtigkeit, nach Gleichmaß des Leidens würde alle anderen Vorstellungen überfluthen. Wirklich hat die überschwängliche Empfindung des Mitleides auf kurze Zeiten hier und da einmal alle Dämme des Kulturlebens zerbrochen: ein Regenbogen der mitleidigen Liebe und des Friedens erschien mit dem ersten Hervortreten des Christenthums, und unter ihm wurde seine schönste Frucht, das Johannesevangelium, geboren. Es giebt auch Beispiele, daß mächtige Religionen auf lange Perioden hinaus einen bestimmten Kulturgrad gewissermaßen versteinern; man denke an die mumienhafte jahrtausendalte Kultur Aegyptens. Aber eins ist nicht zu vergessen: dieselbe 233
Grausamkeit, die wir im Wesen jeder Kultur fanden, liegt auch im Wesen jeder mächtigen Religion; so daß wir ebensogut es verstehen werden, wenn eine Kultur mit dem Schrei nach Gerechtigkeit ein allzu hoch gethürmtes Bollwerk von religiösen Forderungen zerbricht. Was in dieser entsetzlichen Konstellation der Dinge leben will d. h. leben muß, ist im Grunde seines Wesens Abbild des Urschmerzes und Urwiderspruchs, muß also in unsrer Augen "welt- und erdgemäß Organ" als Wille, als unersättliche Gier zum Dasein fallen. Deshalb dürfen wir auch die herrliche Kultur mit einem bluttriefenden Sieger vergleichen, der bei seinem Triumphzuge die an seinen Wagen gefesselten Besiegten als Sklaven mitschleppt: als welchen eine wohlthätige Macht die Augen verblendet hat, so daß sie, von den Rädern des Wagens fast zermalmt, doch noch rufen "würde der Arbeit! Würde des Menschen!" Der moderne Mensch ist freilich an eine ganz andere verzärtelte Betrachtung der Dinge gewöhnt. Darum ist er ewig unbefriedigt, weil er niemals wagt, sich dem furchtbaren, eistreibenden Strome des Daseins vollkommen anzuvertrauen, sondern am Ufer ängstlich auf und ab läuft. Die neuere Zeit mit ihrem "Bruche" ist zu begreifen als die vor allen Konsequenzen zurückfliehende: sie will nichts ganz haben, ganz auch mit all der natürlichen Grausamkeit der Dinge. Der Tanz ihres Denkens und Treibens ist wahrhaft lächerlich, weil es sich sehnsüchtig immer auf neue Gestalten stürzt, um sie zu umarmen und dann sie plötzlich, wie Mephistopheles die verführerischen Lamien, schaudernd fahren lassen muß. Aus der Verzärtelung der neueren Menschen sind die ungeheuren socialen Nothstände der Gegenwart geboren, als deren im Wesen der Natur liegendes Gegenmittel ich die Sklaverei, sei es auch unter mildernden Namen, zu empfehlen wage; die Sklaverei, die weder dem ursprünglichen Christenthum, noch dem Germanenthum irgendwie anstößig, geschweige denn verwerflich, zu sein dünkte. Um von den griechischen Sklaven zu schweigen: wie erhebend wirkt auf uns die Betrachtung des mittelalterlichen Hörigen, mit dem innerlich kräftigen und zarten Rechtsund Sittenverhältnisse zu dem höher Geordneten, mit der tiefsinnigen und poetischen Umfriedung seines engen Daseins. Wie erhebend - und wie vorwurfsvoll! Wer nun über die Konfiguration der Gesellschaft nicht ohne Schwermuth nachdenken kann, wer sie als die fortwährende schmerzhafte Geburt jener eximirten Kulturmenschen zu begreifen gelernt hat, in deren Dienst sich alles Andere verzehren muß, der wird auch von jenem erlogenen Glanze nicht mehr getäuscht werden, den die Neueren über Ursprung und Bedeutung des Staates gebreitet haben. Was nämlich kann uns der Staat bedeuten, wenn nicht das Mittel, mit dem jener eben geschilderte Gesellschaftsprozeß in Fluß zu bringen und in seiner ungehemmten Fortdauer zu verbürgen ist? Mag der Trieb zur Geselligkeit in den einzelnen Menschen auch noch so stark sein, erst die eiserne Klammer des Staates zwängt die größeren Massen so aneinander, daß jetzt jene chemische Scheidung der Gesellschaft, mit ihrem neuen pyramidalen Aufbau, vor sich gehen muß. Woher aber entspringt diese plötzliche Macht des Staates, dessen Ziel weit über die Einsicht, ja über den Egoismus des Einzelnen hinausliegt? Wie entstand der Sklave, der blinde Maulwurf der Kultur? Die Griechen haben es uns in ihrem völkerrechtlichen Instinkte verrathen, der, auch in der reifsten Fülle ihrer Gesittung und Menschlichkeit, nicht aufhörte, mit eherner Stimme solche Worte auszurufen: "Dem Sieger gehört der Besiegte, mit Weib und Kind, Gut und Blut. Die Gewalt giebt das erste Recht; und es giebt kein Recht, das nicht zu seinem Grunde die Gewalt hat." So sehen wir wiederum, mit welcher mitleidlosen Starrheit die Natur, um zur Gesellschaft zu kommen, sich die grausamen Werkzeuge des Staates schmiedet: nämlich jene Eroberer mit den eisernen Händen, die nichts als Objektivationen der bezeichneten Instinkte sind. An ihrer undefinirbaren Größe und Macht spürt der Betrachter, daß sie nur Mittel einer in ihnen sich offenbarenden und doch vor ihnen sich verbergenden Absicht sind. Gleich als ob ein magischer Wille von ihnen ausströmte, so räthselhaft schnell schließen sich die schwächeren 234
Kräfte an sie an, so wunderbar verwandeln sie sich, bei dem plötzlichen Anschwellen jener Gewaltlawine, unter dem Zauber jenes schöpferischen Kernes, zu einer bisher nicht vorhandenen Affinität. Wenn wir nun sehen, wie wenig sich alsbald die Unterworfenen um den erschreckenden Ursprung des Staates bekümmern, so daß im Grunde über keine Art von Ereignissen die Weltgeschichte uns schlechter unterrichtet als über das Zustandekommen jener gewaltsamen, blutigen und fast immer unerklärlichen Usurpationen: wenn vielmehr jener Magie des Staates die Herzen unwillkürlich entgegenschwellen, mit der Ahnung einer unsichtbar tiefen Absicht, dort wo der rechnende Verstand nur eine Addition von Kräften zu sehen befähigt ist: wenn jetzt der Staat sogar mit Inbrunst als Ziel und Gipfel der Aufopferungen und Pflichten des Einzelnen betrachtet wird: so spricht aus alledem die ungeheure Nothwendigkeit des Staates, ohne den es der Natur nicht gelingen möchte, durch die Gesellschaft zu ihrer Erlösung im Scheine, im Spiegel des Genius, zu kommen. Was für Erkenntnisse überwindet nicht die instinktive Lust am Staate! Man sollte doch denken, daß ein Wesen, welches in die Entstehung des Staates hineinschaut, fürderhin nur in schauervoller Entfernung von ihm sein Heil suchen werde: und wo kann man nicht die Denkmäler jener Entstehung sehen, verwüstete Länder, zerstörte Städte, verwilderte Menschen, verzehrenden Völkerhaß! Der Staat, von schmählicher Geburt, für die meisten Wesen eine fortwährend fließende Quelle der Mühsal, in häufig wiederkommenden Perioden die fressende Fackel des Menschengeschlechts - und dennoch ein Klang, bei dem wir uns vergessen, ein Schlachtruf, der zu zahllosen wahrhaft heroischen Thaten begeistert hat, vielleicht der höchste ehrwürdigste Gegenstand für die blinde und egoistische Masse, die auch nur in den ungeheuren Momenten des Staatslebens den befremdlichen Ausdruck von Größe auf ihrem Gesichte hat! Die Griechen aber haben wir uns, im Hinblick auf die einzige Sonnenhöhe ihrer Kunst, schon a priori als "die politischen Menschen an sich" zu construiren: und wirklich kennt die Geschichte kein zweites Beispiel einer so furchtbaren Entfesselung des politischen Triebes, einer so unbedingten Hinopferung aller anderen Interessen im Dienste dieses Staateninstinktes; höchstens daß man vergleichungsweise und aus ähnlichen Gründen die Menschen der Renaissance in Italien mit einem gleichen Titel auszeichen könnte. So überladen ist bei den Griechen jener Trieb, daß er immer von neuem wieder gegen sich selbst zu wüthen anfängt und die Zähne in das eigne Fleisch schlägt. Diese blutige Eifersucht von Stadt auf Stadt, von Partei auf Partei, diese mörderische Gier jener kleinen Kriege, der tigerartige Triumph auf dem Leichnam des erlegten Feindes, kurz jene unablässige Erneuerung jener trojanischen Kampf- und Greuelscenen, in deren Anschauung lustvoll versunken Homer der typische Hellene vor uns steht - wohin deutet diese naive Barbarei des griechischen Staates, woher nimmt er seine Entschuldigung vor dem Richterstuhle der ewigen Gerechtigkeit? Stolz und ruhig tritt der Staat vor ihn hin: und an der Hand führt er das herrlich blühende Weib, die griechische Gesellschaft. Für diese Helena und ihre Kinder führte er jene Kriege: welcher Richter dürfte hier verurtheilen? Bei diesem geheimnißvollen Zusammenhang, den wir hier zwischen Staat und Kunst, politischer Gier und künstlerischer Zeugung, Schlachtfeld und Kunstwerk ahnen, verstehn wir, wie gesagt, unter Staat nur die eiserne Klammer, die den Gesellschaftsprozeß erzwingt: während ohne Staat, im natürlichen bellum omnium contra omnes, die Gesellschaft überhaupt nicht in größerem Maaße und über das Bereich der Familie hinaus Wurzel schlagen kann. Jetzt, nach der allgemein eingetretenen Staatenbildung, concentrirt sich nun zwar jener Trieb des bellum omnium contra omnes zum schrecklichen Kriegsungewitter der Völker und entladet sich gleichsam in seltneren, aber um so stärkeren Schlägen. In den Zwischenpausen aber ist der Gesellschaft doch Zeit gelassen, unter der nach Innen gewendeten 235
zusammengedrängten Wirkung jenes bellum, allerorts zu keimen und zu grünen, um sobald es einige wärmere Tage giebt, die leuchtenden Blüthen des Genius hervorsprießen zu lassen. Angesichts der politischen Welt der Hellenen will ich nicht verbergen, in welchen Erscheinungen der Gegenwart ich gefährliche, für Kunst und Gesellschaft gleich bedenkliche Verkümmerungen der politischen Sphaere zu erkennen glaube. Wenn es Menschen geben sollte, die durch Geburt gleichsam außerhalb der Volks- und Staateninstinkte gestellt sind, die somit den Staat nur so weit gelten zu lassen haben als sie ihn in ihrem eignen Interesse begreifen: so werden derartige Menschen nothwendig als letztes staaliches Ziel sich das möglichst ungestörte Nebeneinanderleben großer politischer Gemeinsamkeiten vorstellen, in denen den: eignen Absichten nachzugehn ihnen vor allen ohne Beschränkung erlaubt sein dürfte. Mit dieser Vorstellung im Kopfe werden sie die Politik fördern, die diesen Absichten die größte Sicherheit bietet, während es undenkbar ist, daß sie gegen ihre Absichten, etwa durch einen unbewußten Instinkt geleitet, der Staatstendenz sich zum Opfer bringen, undenkbar, weil sie eben jenes Instinktes ermangeln. Alle anderen Bürger des Staates sind über das, was die Natur mit ihrem Staatsinstinkte bei ihnen beabsichtigt, im Dunkeln und folgen blindlings; nur jene außerhalb dieser Instinkte Stehenden wissen, was sie vom Staate wollen und was ihnen der Staat gewähren soll. Deshalb ist es geradezu unvermeidlich, daß solche Menschen einen großen Einfluß auf den Staat gewinnen, weil sie ihn als Mittel betrachten dürfen, während alle Anderen unter der Macht jener unbewußten Absichten des Staates selbst nur Mittel des Staatszwecks sind. Um nun durch das Mittel des Staats höchste Förderung ihrer eigennützigen Ziele zu erreichen, ist vor allem nöthig, daß der Staat von jenen schrecklich unberechenbaren Kriegszuckungen gänzlich befreit werde, damit er rational benutzt werden könne; und damit streben sie, so bewußt als möglich, einen Zustand an, in dem der Krieg eine Unmöglichkeit ist. Hierzu gilt es nun zuerst die politischen Sondertriebe möglichst zu beschneiden und abzuschwächen und durch Herstellung großer gleichwiegender Staatenkörper und gegenseitige Sicherstellung derselben den günstigen Erfolg eines Angriffskriegs und damit den Krieg überhaupt zur höchsten Unwahrscheinlichkeit zu machen; wie sie andernseits die Frage über Krieg und Frieden der Entscheidung einzelner Machthaber zu entreißen suchen, um vielmehr an den Egoismus der Masse oder deren Vertreter appellieren zu können: wozu sie wiederum nöthig haben, die monarchischen Instinkte der Völker langsam aufzulösen. Diesem Zwecke entsprechen sie durch die allgemeinste Verbreitung der liberal-optimistischen Weltanschauung, welche ihre Wurzel in den Lehren der französischen Aufklärung und Revolution d. h. in einer gänzlich ungermanischen, ächt romanisch flachen Philosophie hat. Ich kann nicht umhin, in der gegenwärtig herrschenden Nationalitätenbewegung und der gleichzeitigen Verbreitung des allgemeinen Stimmrechts vor allem die Wirkungen der Kriegsfurcht zu sehen, ja im Hintergrunde dieser Bewegungen, als die eigentlich Fürchtenden, jene wahrhaft internationalen heimatlosen Geldeinsiedler zu erblicken, die, bei ihrem natürlichen Mangel des staatlichen Instinktes, es gelernt haben, die Politik zum Mittel der Börse und Staat wie Gesellschaft als Bereicherungsapparate ihrer selbst zu mißbrauchen. Gegen die von dieser Seite zu befürchtende Ablenkung der Staatstendenz zur Geldtendenz ist das einzige Gegenmittel der Krieg und wiederum der Krieg: in dessen Erregungen wenigstens doch so viel klar wird, daß der Staat nicht auf der Furcht vor dem Kriegsdämon, als Schutzanstalt egoistischer Einzelner, gegründet ist, sondern in Vaterlandsund Fürstenliebe einen ethischen Schwung aus sich erzeugt, der auf eine viel höhere Bestimmung hinweist. Wenn ich also als gefährliches Charakteristikum der politischen Gegenwart die Verwendung der Revolutionsgedanken im Dienste einer eigensüchtigen staatlosen Geldaristokratie bezeichne, wenn ich die ungeheure Verbreitung des liberalen Optimismus zugleich als Resultat der in sonderbare Hände gerathenen modernen Geldwirthschaft begreife und alle Übel der socialen Zustände, sammt dem nothwendigen Verfall der Künste, entweder aus jener Wurzel entkeimt oder mit ihr verwachsen sehe: so 236
wird man mir einen gelegentlich anzustimmenden Päan auf den Krieg zu Gute halten müssen. Fürchterlich erklingt sein silberner Bogen: und kommt er gleich daher wie die Nacht, so ist er doch Apollo der rechte Weihe- und Reinigungsgott des Staates. Zuerst aber, wie es im Beginn der Ilias heißt, schnellt er den Pfeil auf die Maulthiere und Hunde. Sodann trifft er die Menschen selbst, und überall lodern die Holzstöße mit Leichnamen. So sei es denn ausgesprochen, daß der Krieg für den Staat eine ebensolche Nothwendigkeit ist wie der Sklave für die Gesellschaft: und wer möchte sich diesen Erkenntnissen entziehen können, wenn er sich ehrlich nach den Gründen der unerreichten griechischen Kunstvollendung fragt? Wer den Krieg und seine uniformirte Möglichkeit, den Soldatenstand in Bezug auf das bisher geschilderte Wesen des Staates betrachtet, muß zu der Einsicht kommen, daß durch den Krieg und im Soldatenstande uns ein Abbild, ja vielleicht das Urbild des Staates vor Augen gestellt wird. Hier sehen wir, als allgemeinste Wirkung der Kriegstendenz, eine sofortige Scheidung und Zertheilung der chaotischen Masse in militärische Kasten, aus denen sich pyramidenförmig, mit einer allerbreitesten sklavenartigen Basis, der Bau der "kriegerischen Gesellschaft" erhebt. Der unbewußte Zweck der ganzen Bewegung zwingt jeden Einzelnen unter sein Joch und erzeugt auch bei heterogenen Naturen eine gleichsam chemische Verwandlung ihrer Eigenschaften, bis sie mit diesem Zwecke in Affinität gebracht sind. In den höheren Kasten spürt man schon etwas mehr, um was es sich, bei diesem innerlichen Prozesse, im Grunde handelt, nämlich um die Erzeugung des militärischen Genius - den wir als den ursprünglichen Staatengründer kennen gelernt haben. An manchen Staaten zB. an der Lykurgischen Verfassung Sparta's kann man deutlich den Abdruck jener Grundidee des Staates, der Erzeugung des militärischen Genius, wahrnehmen. Denken wir uns jetzt den militärischen Urstaat in lebhaftester Regsamkeit, in seiner eigentlichen "Arbeit" und führen wir uns die ganze Technik des Kriegs vor Augen, so können wir nicht umhin, unsere überallher eingesognen Begriffe von der "Würde der Arbeit", und der "Würde des Menschen" durch die Frage zu corrigieren, ob denn auch zu der Arbeit, die die Vernichtung von "würdevollen" Menschen zum Zweck hat, ob auch zu dem Menschen, der mit jener "würdevollen Arbeit" betraut ist, der Begriff von "Würde" stimmt oder ob nicht, in dieser kriegerischen Aufgabe des Staates, jener Begriff als ein in sich widerspruchsvoller sich selbst aufhebt. Ich dächte, der kriegerische Mensch wäre ein Mittel des militärischen Genius und seine Arbeit wiederum nur ein Mittel desselben Genius, und nicht ihm, als absoluten Menschen und Nichtgenius, sondern ihm als Mittel des Genius - der auch seine Vernichtung als Mittel des kriegerischen Kunstwerks belieben kann - komme ein Grad von Würde zu, jene Würde nämlich, zum Mittel des Genius gewürdigt zu sein. Was hier an einem einzelnen Beispiel gezeigt ist, gilt aber im allgemeinsten Sinne: jeder Mensch, mit seiner gesammten Thätigkeit, hat nur so viel Würde als er, bewußt oder unbewußtes Werkzeug des Genius ist; woraus sofort die ethische Consequenz zu erschließen ist, daß der "Mensch an sich", der absolute Mensch, weder Würde, noch Rechte, noch Pflichten besitzt; nur als völlig determinirtes, unbewußten Zwecken dienendes Wesen kann der Mensch seine Existenz entschuldigen. Der vollkommene Staat Plato's ist nach diesen Betrachtungen gewiß noch etwas Größeres als selbst. die Ernstgesinnten unter seinen Verehrern glauben, gar nicht zu reden von der lächelnden Geringschätzung, mit der unsre "historisch" Gebildeten eine solche Frucht des Alterthums abzulehnen wissen. Das eigentliche Ziel des Staates, die olympische Existenz und immer erneute Zeugung des Genius, dem gegenüber alle Andern nur vorbereitende Mittel sind, ist hier durch eine dichterische Intuition gefunden: Plato sah durch die schrecklich verwüstete Herme des damaligen Staatslebens hindurch und gewahrte auch jetzt noch etwas Göttliches in ihrem Inneren. Er glaubte daran, daß man dies Göttliche herausnehmen könnte und daß die grimmige und barbarisch verzerrte Außenseite nicht zum Wesen des Staates 237
gehöre; die ganze Inbrunst seiner politischen Leidenschaft streckte sich nach jenem Wunsche aus. - Daß er in seinem vollkommnen Staat nicht den Genius in seinem allgemeinsten Begriff an die Spitze stellte, sondern nur den Genius der Weisheit in die oberste Rangordnung aufnahm, die genialen Künstler aber überhaupt aus seinem Staate ausschloß, das war eine starre Consequenz des bald näher zu betrachtenden sokratischen Urtheils über die Kunst, das Plato im Kampfe wider sich selbst zu dem seinigen gemacht hatte. Diese mehr äußerliche und beinahe zufällige Lücke darf durchaus nicht unter die Hauptmerkmale des platonischen Staates gerechnet werden. Wie Plato den innersten Zweck des Staates aus allen seinen Verhüllungen und Trübungen an's Licht zog, so begriff er auch den tiefsten Grund der Stellung des hellenischen Weibes zum Staate: in beiden Fällen erblickte er in dem um ihn Vorhandenen das Abbild der ihm offenbar gewordenen Ideen, vor denen freilich das Wirkliche nur Nebelbild und Schattenspiel war. Wer, nach allgemeiner Gewöhnung, die Stellung des hellenischen Weibes überhaupt für unwürdig und der Humanität widerstrebend hält, muß sich mit diesem Vorwurf auch gegen die platonische Auffassung dieser Stellung kehren: denn in ihr ist das Vorhandene gleichsam nur logisch präcisirt. Hier wiederholt sich also unsre Frage: sollte nicht das Wesen und die Stellung des hellenischen Weibes einen nothwendigen Bezug zu den Zielpunkten des hellenischen Willen's haben? Das Innerste, was Plato als Grieche über die Stellung des Weibes zum Staate sagen konnte, war die so anstößige Forderung, daß im vollkommnen Staate die Familie aufhören müsse. Sehen wir jetzt davon ab, wie er, um diese Forderung rein durchzuführen, selbst die Ehe aufhob und an deren Stelle feierliche, von Staatswegen - - -. [Dokument: Mappe mit losen Blättern] [ Februar 1871] 11 [1] Vorwort an Richard Wagner. Von Ihnen weiß ich es, mein verehrter Freund, von Ihnen allein, daß Sie mit mir einen wahren und einen falschen Begriff der "griechischen Heiterkeit" unterscheiden und den letzteren - den falschen - im Zustande ungefährdeten Behagens auf allen Wegen und Stegen antreffen; von Ihnen weiß ich gleichfalls, daß Sie es für unmöglich halten, von jenem falschen Heiterkeitsbegriffe aus zur Einsicht in das Wesen der Tragoedie zu kommen. Deshalb gebührt Ihnen die nachfolgende Erörterung über Ursprung und Ziel des tragischen Kunstwerks, in der der schwierige Versuch gemacht worden ist, unsere in diesen ernsten Probleme so wunderbar consonierende Empfindung in Begriffe zu übertragen. Daß wir aber mit einem ernsthaften Problem zu thun haben, muß dem wohl- und übelgesinnten Leser zu seinem Erstaunen deutlich werden, wenn er sieht, wie Himmel und Hölle zu seiner Erklärung in Bewegung gesetzt werden müssen, und wie wir zum Schlusse genöthigt sind jenes Problem recht eigentlich in die Mitte der Welt, als einen "Wirbel des Seins" hinzustellen. Ein aesthetisches Problem so ernst zu nehmen ist freilich nach allen Seiten hin anstößig, sowohl für unsere Aesthetisch-Empfindsamen und ihre Ekel erregende Weichlichkeit als auch für jenes robuste oder beleibte Gesindel, das in der Kunst nicht mehr als ein lustiges Nebenbei, als ein auch wohl zu missendes Schellengeklingel zum "Ernst des Daseins" zu erkennen im Stande sind: als ob Niemand wüßte, was es in dieser Gegenüberstellung mit einem solchen "Ernst des Daseins" auf sich habe. Wenn nun gar aus so verschiedenen Kreisen das Wort "griechische 238
Heiterkeit" in die Welt hineinklingt, so dürfen wir immer schon zufrieden sein, wenn es nicht geradewegs als "bequemer Sensualismus" zu interpretieren ist: in welchem Sinne Heinrich Heine das Wort häufig und immer mit sehnsüchtiger Regung gebraucht hat. Diejenigen aber, deren Lob bei der Durchsichtigkeit, Klarheit, Bestimmtheit und Harmonie der griechischen Kunst stehen bleibt, im Glauben, unter dem Schutze des griechischen Vorbildes sich mit allem Entsetzlichen des Daseins abfinden zu können - eine Gattung Menschen, die von Ihnen bereits, mein verehrter Freund, in Ihrer denkwürdigen Schrift "über das Dirigiren" mit unvergleichlich scharfen Zügen an's Licht gestellt worden ist - diese sind zu überzeugen, daß es zum Theil an ihnen liegt, wenn der Unterboden der griechischen Kunst ihnen flach erscheint, zum Theil auch am innersten Wesen der besagten griechischen Heiterkeit: in welchem Bezuge ich den Besten unter ihnen andeuten möchte, es gienge ihnen wie solchen, die in das hellste, von der Sonne durchschienene Seewasser sehen und den Grund des See's ganz in ihrer Nähe wähnen, als ob er mit der Hand zu erreichen wäre. Uns hat die griechische Kunst gelehrt, daß es keine wahrhaft schöne Fläche ohne eine schreckliche Tiefe giebt; wer indeß nach jener Kunst der reinen Fläche sucht, der sei ein- für allemal auf die Gegenwart verwiesen als auf das wahre Paradies für solche Schatzgräberei, während es ihm im fremdartigen Lichte des griechischen Alterthums begegnen konnte, Diamanten als Wassertropfen zu mißachten oder - was die größere Gefahr ist, herrliche Kunstwerke aus Versehen und Ungeschick zu zertrümmern. Ich werde nämlich, bei der gesteigerten Umwühlung des griechischen Bodens ängstlich und möchte jeden begabten oder unbegabten Menschen, der eine gewisse berufsmäßige Tendenz nach dem Alterthume hin ahnen läßt, an die Hand nehmen und vor ihm in folgender Weise perorieren: "Weißt du auch, was für Gefahren dir drohen, junger, mit einem mäßigen Schulwissen auf die Reise geschickter Mensch? Hast du gehört, daß es nach Aristoteles ein untragischer Tod ist, von einer Bildsäule erschlagen zu werden? Und gerade dieser untragische Tod droht dir. Ach, ein schöner Tod, wirst du sagen, wenn es nur eine griechische Bildsäule ist! Oder verstehst du dies nicht einmal? So wisse denn, daß unsere Philologen seit Jahrhunderten versuchen, die in die Erde gesunkene umgefallene Statue des griechischen Alterthums wieder aufzurichten, bis jetzt immer mit unzureichenden Kräften. Immer wieder, kaum vom Boden gehoben, fällt sie wieder zurück und zertrümmert die Menschen unter ihr. Das möchte noch angehn; denn jedes Wesen muß an etwas zu Grunde gehn. Aber wer steht uns dafür, daß dabei die Statue selbst nicht in Stücke zerbricht? Die Philologen gehen an den Griechen zu Grunde: das wäre etwa zu verschmerzen. Aber das Alterthum bricht unter den Händen der Philologen in Stücke! Dies überlege dir, junger leichtsinniger Mensch, gehe zurück, falls du kein Bilderstürmer bist!" Nun wünschte ich nichts mehr, als daß mir einmal Jemand begegne, vor dem ich diese Rede nicht halten könnte, ein Wesen von zürnender Hoheit, stolzestem Blick, kühnstem Wollen, ein Kämpfer, ein Dichter, ein Philosoph zugleich, mit einem Schritte, als ob es gälte über Schlangen und Ungethüme hinweg zu schreiten. Dieser zukünftige Held der tragischen Erkenntniß wird es sein, auf dessen Stirne der Abglanz jener griechischen Heiterkeit liegt, jener Heiligenschein, mit dem eine noch bevorstehende Wiedergeburt des Alterthums inaugurirt wird, die deutsche Wiedergeburt der hellenischen Welt. Ach, mein verehrter Freund, kaum darf ich sagen, in welcher Weise ich meine Hoffnungen für diese Wiedergeburt mit der gegenwärtigen blutigen Glorie des deutschen Namens verbinde. Auch ich habe meine Hoffnungen. Diese haben es mir möglich gemacht, während die Erde unter den Schritten des Ares zitterte, unausgesetzt und selbst mitten im Bereich der entsetzlichen nächsten Wirkungen des Krieges der Betrachtung meines Thema's obzuliegen, ja ich erinnere mich, in einsamer Nacht mit Verwundeten zusammen im Güterwagen liegend und zu deren Pflege bedienstet, mit meinen Gedanken in den drei Abgründen der Tragoedie gewesen zu sein: deren Namen lauten "Wahn, Wille, Wehe". Und woher schöpfte ich da die 239
tröstliche Sicherheit, daß jener zukünftige Held der tragischen Erkenntniß und der griechischen Heiterkeit nicht unter ganz anders gearteten Erkenntnissen und Heiterkeiten bereits in der Geburt erstickt werde? Sie wissen, wie ich mit Abscheu jenen Irrwahn zurückweise, daß das Volk oder gar daß der Staat "Selbstzweck" sein solle: aber ebenso sehr widerstrebt es mir, den Zweck der Menschheit in der Zukunft der Menschheit zu suchen. Weder der Staat, noch das Volk, noch die Menschheit sind ihrer selbst wegen da, sondern in ihren Spitzen, in den großen "Einzelnen", den Heiligen und den Künstlern liegt das Ziel, also weder vor noch hinter uns, sondern außerhalb der Zeit. Dieses Ziel aber weist durchaus über die Menschheit hinaus. Nicht um eine allgemeine Bildung oder eine asketische Selbstvernichtung oder gar um einen Universalstaat vorzubereiten, erheben wider alles Vermuthen hier und da die großen Genien ihre Häupter. Wohin aber die Existenz des Genius deutet, auf welches erhabenste Daseinsziel, wird hier nur mit Schauer nachgefühlt werden können. Wer möchte sich erkühnen dürfen, vom Heiligen in der Wüste zu sagen, daß er die höchste Absicht des Weltwillens verfehlt habe? Glaubt wirklich Jemand, daß eine Statue des Phidias wahrhaft vernichtet werden könne, wenn nicht einmal die Idee des Steins, aus der sie gefertigt war, zu Grunde geht? Und wer möchte bezweifeln, daß die griechische Heroenwelt nur des einen Homer wegen dagewesen ist? Und um mit einer tiefsinnigen Frage Friedrich Hebbel's zu schließen: Machte der Künstler ein Bild und wüßte, es dauere ewig, Aber ein einziger Zug, tief wie kein and'rer, versteckt, Werde von keinem erkannt der jetz'gen und künftigen Menschen, Bis an's Ende der Zeit, glaubt ihr, er ließe ihn weg? Aus alledem wird klar, daß der Genius nicht der Menschheit wegen da ist: während er allerdings derselben Spitze und letztes Ziel ist. Es giebt keine höhere Kulturtendenz als die Vorbereitung und Erzeugung des Genius. Auch der Staat ist trotz seines barbarischen Ursprungs und seiner herrschsüchtigen Geberden nur ein Mittel zu diesem Zweck. Und nun meine Hoffnungen! Die einzige produktive politische Macht in Deutschland, die wir Niemanden näher zu bezeichnen brauchen, ist jetzt in der ungeheuersten Weise zum Siege gekommen und sie wird von jetzt ab das deutsche Wesen bis in seine Atome hinein beherrschen. Diese Thatsache ist vom äußersten Werthe, weil an jener Macht etwas zu Grunde gehen wird, das wir als den eigentlichen Gegner jeder tieferen Philosophie und Kunstbetrachtung hassen, ein Krankheitszustand, an dem das deutsche Wesen vornehmlich seit der großen Französischen Revolution zu leiden hat und der in immer wiederkehrenden gichtischen Zuckungen auch die bestgearteten deutschen Naturen heimsucht, ganz zu schweigen von der großen Masse, bei der man jenes Leiden, mit schnöder Entweihung eines wohlgemeinten Wortes, "Liberalismus" nennt. Jener ganze auf eine erträumte Würde des Menschen, des Gattungsbegriffs Mensch gebaute Liberalismus wird sammt seinen derberen Brüdern an jener starren, vorhin angedeuteten Macht verbluten; und wir wollen die kleinen Reize und Gutartigkeiten, die ihm anhaften, gerne drangeben, wenn nur diese eigentlich kulturwidrige Doktrin aus der Bahn des Genius weggeräumt wird. - Und wozu sollte jene starre Macht, mit ihrer durch Jahrhunderte fortdauernden Geburt aus Gewalt, Eroberung und Blutbad dienen, als dem Genius die Bahn zu bereiten? 240
Aber welche Bahn! Vielleicht ist unser zukünftiger Held der tragischen Erkenntniß und der griechischen Heiterkeit ein Anachoret - vielleicht bestimmt er die tieferen deutschen Naturen in die Wüste zu gehen - glückselige Zeit, in der die durch furchtbares Leid verinnerlichte Welt den Gesang jenes apollinischen Schwans hören wird! Mein edler Freund, ob ich wohl bis hierher mich auch in Ihrem Sinne geäußert habe? Fast möchte ich's vermuthen: und jeder Blick, den ich in Ihren "Beethoven" werfe, führt mir auch die Worte zu: "der Deutsche ist tapfer: sei er es denn auch im Frieden. Verschmähe er es, etwas zu scheinen, was er nicht ist. Die Natur hat ihm das Gefällige versagt; dafür ist er innig und erhaben." Diese Tapferkeit, sammt den letztgenannten Eigenschaften, ist das andere Unterpfand meiner Hoffnungen. Wenn es wahr ist, was mein Glaubensbekenntniß genannt sein mag, daß jede tiefere Erkenntniß schrecklich ist, wer anders als der Deutsche wird jenen tragischen Standpunkt der Erkenntniß einnehmen können, den ich, als Vorbereitung des Genius, als das neue Bildungsziel einer edel strebenden Jugend fordere? Wer anders als der deutsche Jüngling wird die Unerschrockenheit des Blicks und den heroischen Zug in's Ungeheure haben, um allen jenen schwächlichen Bequemlichkeitsdoktrinen des liberalen Optimismus in jeder Form den Rücken zu kehren und im Ganzen und Vollen "resolut zu leben"? Wobei nicht ausbleiben wird, daß er, der tragische Mensch, bei seiner Selbsterziehung zum Ernst und zum Schrecken, auch die von uns gemeinte griechische Heiterkeit als Helena begehren und mit Faust ausrufen muß: Und sollt' ich nicht, sehnsüchtigster Gewalt, In's Leben ziehn die einzig'ste Gestalt? Friedrich Nietzsche. Lugano am 22 Februar 1871, am Geburtstage Schopenhauers. [Dokument: Mappe mit losen Blättern] [Frühjahr 1871] 12 [1] Was wir hier über das Verhältniß der Sprache zur Musik aufgestellt haben, muß aus gleichen Gründen auch vom Verhältniß des Mimus zur Musik gelten. Auch der Mimus, als die gesteigerte Geberdensymbolik des Menschen ist, an der ewigen Bedeutsamkeit der Musik gemessen, nur ein Gleichniß, das deren innerstes Geheimniß gar nicht, sondern nur ihre rhythmische Außenseite und auch diese nur sehr äußerlich, nämlich am Substrat des leidenschaftlich-bewegten Menschenleibes, darstellen kann. Fassen wir aber auch die Sprache mit unter die Kategorie der leiblichen Symbolik, halten wir selbst das Drama, gemäß unserem aufgestellten Kanon, an die Musik heran: so dürfte jetzt ein Satz Schopenhauers in die hellste Beleuchtung treten (Parerga, Band 2 S. 465): "Es möchte hingehn, obgleich ein rein musikalischer Geist es nicht verlangt, daß man der reinen Sprache der Töne, obwohl sie, 241
selbstgenugsam, keiner Beihülfe bedarf, Worte, sogar auch eine anschaulich vorgeführte Handlung, zugesellt und unterlegt, damit unser anschauender und reflektirender Intellekt, der nicht ganz müßig sein mag, doch auch eine leichte und analoge Beschäftigung dabei erhalte, wodurch sogar die Aufmerksamkeit der Musik fester anhängt und folgt, auch zugleich Dem, was die Töne in ihrer allgemeinen, bilderlosen Sprache des Herzens besagen, ein anschauliches Bild, gleichsam ein Schema, oder wie ein Exempel zu einem allgemeinen Begriff, untergelegt wird: ja dergleichen wird den Eindruck der Musik erhöhen." Wenn wir von der rationalistisch äußerlichen Motivierung absehn, wonach unser anschauender und reflektirender Intellekt beim Anhören der Musik nicht ganz müßig sein mag, und die Aufmerksamkeit, an der Hand einer anschaulichen Aktion, besser folgt - so ist von Schopenhauer mit höchstem Rechte das Drama im Verhältniß zur Musik als ein Schema, als ein Exempel zu einem allgemeinen Begriff charakterisirt worden: und wenn er hinzufügt "ja, dergleichen wird den Eindruck der Musik erhöhen", so bürgt die ungeheure Allgemeinheit und Ursprünglichkeit der Vokalmusik, der Verbindung von Ton mit Bild und Begriff, für die Richtigkeit dieses Ausspruchs. Die Musik jedes Volkes beginnt durchaus im Bunde mit der Lyrik, und lange bevor an eine absolute Musik gedacht werden kann, durchläuft sie in jener Vereinigung die wichtigsten Entwicklungsstufen. Verstehen wir diese Urlyrik eines Volkes, wie wir es ja müssen, als eine Nachahmung der künstlerisch vorbildenden Natur, so muß uns als ursprüngliches Vorbild jener Vereinigung von Musik und Lyrik die von der Natur vorgebildete Doppelheit im Wesen der Sprache gelten: in welches wir jetzt, nach den Erörterungen über die Stellung von Musik zum Bild, tiefer eindringen werden. In der Vielheit der Sprachen giebt sich sofort die Thatsache kund, daß Wort und Ding sich nicht vollständig und nothwendig decken, sondern daß das Wort ein Symbol ist. Was symbolisirt aber das Wort? Doch gewiß nur Vorstellungen, seien dies nun bewußte oder, der Mehrzahl nach unbewußte: denn wie sollte ein Wort-Symbol jenem innersten Wesen, dessen Abbilder wir selbst, sammt der Welt, sind, entsprechen? Nur als Vorstellungen kennen wir jenen Kern, nur in seinen bildlichen Äußerungen haben wir eine Vertrautheit mit ihm: außerdem giebt es nirgends eine direkte Brücke, die uns zu ihm selbst führte. Auch das gesammte Triebleben, das Spiel der Gefühle Empfindungen Affekte Willensakte ist uns - wie ich hier gegen Schopenhauer einschalten muß - bei genauester Selbstprüfung nur als Vorstellung, nicht seinem Wesen nach, bekannt: und wir dürfen wohl sagen, daß selbst der "Wille" Schopenhauers nichts als die allgemeinste Erscheinungsform eines uns übrigens gänzlich Unentzifferbaren ist. Müssen wir uns also schon in die starre Nothwendigkeit fügen, nirgends über die Vorstellungen hinaus zu kommen, so können wir doch wieder im Bereich der Vorstellungen zwei Hauptgattungen unterscheiden. Die einen offenbaren sich uns als Lust- und Unlustempfindungen und begleiten als nie fehlender Grundbaß alle übrigen Vorstellungen. Diese allgemeinste Erscheinungsform, aus der und unter der wir alles Werden und alles Wollen einzig verstehen und für die wir den Namen "Wille" festhalten wollen, hat nun auch in der Sprache ihre eigne symbolische Sphaere: und zwar ist diese für die Sprache eben so fundamental, wie jene Erscheinungsform für alle übrigen Vorstellungen. Alle Lustund Unlustgrade - Äußerungen eines uns nicht durchschaubaren Urgrundes - symbolisiren sich im Tone des Sprechenden : während sämmtliche übrigen Vorstellungen durch die Geberdensymbolik des Sprechenden bezeichnet werden. Insofern jener Urgrund in allen Menschen derselbe ist, ist auch der Tonuntergrund der allgemeine und über die Verschiedenheit der Sprachen hinaus verständliche. An ihm entwickelt sich nun die willkürlichere und ihrem Fundament nicht völlig adäquate Geberdensymbolik: mit der die Mannichfaltigkeit der Sprachen beginnt, deren Vielheit wir gleichnißweise als einen strophischen Text auf jene Urmelodie der Lust- und Unlustsprache ansehen dürfen. Das ganze Bereich des Consonantischen und Vokalischen glauben wir nur unter die Geberdensymbolik rechnen zu dürfen - Consonanten und Vokale sind ohne den vor allem nöthigen 242
fundamentalen Ton nichts als Stellungen der Sprachorgane, kurz Geberden -; sobald wir uns das Wort aus dem Munde des Menschen hervorquellen denken, so erzeugt sich zu allererst die Wurzel des Wortes und das Fundament jener Geberdensymbolik, der Tonuntergrund, der Wiederklang der Lust- und Unlustempfindungen. Wie sich unsre ganze Leiblichkeit zu jener ursprünglichsten Erscheinungsform, dem Willen verhält, so verhält sich das consonantischvokalische Wort zu seinem Tonfundamente. Diese ursprünglichste Erscheinungsform, der "Wille", mit seiner Scala der Lust- und Unlustempfindungen, kommt aber in der Entwicklung der Musik zu einem immer adäquateren symbolischen Ausdruck: als welchem historischen Prozeß das fortwährende Streben der Lyrik nebenher läuft, die Musik in Bildern zu umschreiben: wie dieses Doppelphänomen, nach der soeben gemachten Ausführung, in der Sprache uranfänglich vorgebildet liegt. Wer uns in diese schwierigen Betrachtungen bereitwillig, aufmerksam und mit einiger Phantasie gefolgt ist - auch mit Wohlwollen ergänzend, wo der Ausdruck zu knapp oder zu unbedingt ausgefallen ist - der wird nun mit uns den Vortheil haben, einige aufregende Streitfragen der heutigen Aesthetik und noch mehr der gegenwärtigen Künstler sich ernsthafter vorlegen und tiefer beantworten zu können, als dies gemeinhin zu geschehen pflegt. Denken wir uns, nach allen Voraussetzungen, welch ein Unterfangen es sein muß, Musik zu einem Gedichte zu machen d. h. ein Gedicht durch Musik illustriren zu wollen, um damit der Musik zu einer Begriffssprache zu verhelfen: welche verkehrte Welt! Ein Unterfangen, das mir vorkommt als ob ein Sohn seinen Vater zeugen wollte! Die Musik kann Bilder aus sich erzeugen, die dann immer nur Schemata, gleichsam Beispiele ihres eigentlichen allgemeinen Inhaltes sein werden. Wie aber sollte das Bild, die Vorstellung aus sich heraus Musik erzeugen können! Geschweige denn, daß dies der Begriff oder, wie man gesagt hat, "die poetische Idee" zu thun im Stande wäre. So gewiß aus der mysteriösen Burg des Musikers eine Brücke in's freie Land der Bilder führt - und der Lyriker schreitet über sie hin - so unmöglich ist es, den umgekehrten Weg zu gehen, obschon es Einige geben soll, welche wähnen, ihn gegangen zu sein. Man bevölkere die Luft mit der Phantasie eines Rafael, man schaue, wie er, die heilige Caecilia entzückt den Harmonien der Engelchöre lauschen - es dringt kein Ton aus dieser in Musik scheinbar verlorenen Welt, ja stellten wir uns nur vor, daß jene Harmonie wirklich, durch ein Wunder, uns zu erklingen begänne, wohin wären uns plötzlich Caecilia, Paulus und Magdalena, wohin selbst der singende Engelchor verschwunden! Wir würden sofort aufhören, Rafael zu sein! Und wie auf jenem Bilde die weltlichen Instrumente zertrümmert auf der Erde liegen, so würde unsre Malervision, von dem Höheren besiegt, schattengleich verblassen und verlöschen. - Wie aber sollte das Wunder geschehn! Wie sollte die ganz in's Anschauen versunkene apollinische Welt des Auges den Ton aus sich erzeugen können, der doch eine Sphaere symbolisirt, die eben durch das apollinische Verlorensein im Scheine ausgeschlossen und überwunden ist! Die Lust am Scheine kann nicht aus sich die Lust am Nicht-Scheine erregen: die Wonne des Schauens ist Wonne nur dadurch, daß nichts uns an eine Sphaere erinnert, in der die Individuation zerbrochen und aufgehoben ist. Haben wir das Apollinische im Gegensatz zum Dionysischen irgendwie richtig charakterisirt, so muß uns jetzt der Gedanke nur abenteuerlich falsch dünken, welcher dem Bilde, dem Begriffe, dem Scheine irgendwie die Kraft beimäße, den Ton aus sich zu erzeugen. Man mag uns nicht, zu unserer Widerlegung, auf den Musiker verweisen, der vorhandene lyrische Gedichte componiert: denn wir werden, nach allem Gesagten, behaupten müssen, daß das Verhältniß des lyrischen Gedichtes zu seiner Komposition jedenfalls ein anderes sein muß als das des Vaters zu seinem Kinde. Und zwar welches?
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Hier nun wird man uns, auf Grund einer beliebten aesthetischen Anschauung, mit dem Satze entgegenkommen "nicht das Gedicht, sondern das durch das Gedicht erzeugte Gefühl ist es, welche die Komposition aus sich gebiert." Ich stimme nicht damit überein: das Gefühl, die leisere oder stärkere Erregung jenes Lust- und Unlustuntergrundes ist überhaupt im Bereich der produktiven Kunst das an sich Unkünstlerische, ja erst seine gänzliche Ausschließung ermöglicht das volle sich Versenken und interesselose Anschauen des Künstlers. Hier möchte man mir etwa erwiedern, daß ich ja selbst so eben vom "Willen" ausgesagt habe, er komme in der Musik zu einem immer adäquateren symbolischen Ausdruck. Meine Antwort, in einen aesthetischen Grundsatz zusammengefaßt, ist diese: der "Wille " ist Gegenstand der Musik, aber nicht Ursprung derselben, nämlich der Wille in seiner allergrößten Allgemeinheit, als die ursprünglichste Erscheinungsform, unter der alles Werden zu verstehn ist. Das, was wir Gefühle nennen, ist, hinsichtlich dieses Willens, bereits schon mit bewußten und unbewußten Vorstellungen durchdrungen und gesättigt und deshalb nicht mehr direkt Gegenstand der Musik: geschweige denn, daß es diese aus sich erzeugen könnte. Man nehme beispielsweise die Gefühle von Liebe, Furcht und Hoffnung: die Musik kann mit ihnen auf direktem Wege gar nichts mehr anfangen, so erfüllt ist ein jedes dieser Gefühle schon mit Vorstellungen. Dagegen können diese Gefühle dazu dienen, die Musik zu symbolisiren: wie dies der Lyriker thut, der jenes begrifflich und bildlich unnahbare Bereich des "Willens", den eigentlichen Inhalt und Gegenstand der Musik, sich in die Gleichnißwelt der Gefühle übersetzt. Dem Lyriker ähnlich sind alle diejenigen Musikhörer, welche eine Wirkung der Musik auf ihre Affekte spüren: die entfernte und entrückte Macht der Musik appelliert bei ihnen an ein Zwischenreich, das ihnen gleichsam einen Vorgeschmack, einen symbolischen Vorbegriff der eigentlichen Musik giebt, an das Zwischenreich der Affekte. Von ihnen dürfte man, im Hinblick auf den "Willen", den einzigen Gegenstand der Musik, sagen, sie verhielten sich zu diesem Willen, wie der analogische Morgentraum, nach der Schopenhauerischen Theorie zum eigentlichen Traume. Allen jenen aber, die der Musik nur mit ihren Affekten beizukommen vermögen, ist zu sagen, daß sie immer in den Vorhallen bleiben und keinen Zutritt zu dem Heiligthum der Musik haben werden: als welches der Affekt, wie ich sagte, nicht zu zeigen, sondern nur zu symbolisiren vermag. Was dagegen den Ursprung der Musik betrifft, so habe ich schon erklärt, daß dieser nie und nimmer im "Willen" liegen kann, vielmehr im Schooße jener Kraft ruht, die unter der Form des "Willens" eine Visionswelt aus sich erzeugt: der Ursprung der Musik liegt jenseits aller Individuation, ein Satz, der sich nach unsrer Erörterung über das Dionysische aus sich selbst beweist. An dieser Stelle möchte ich mir gestatten, die entscheidenden Behauptungen, zu denen uns der behandelte Gegensatz des Dionysischen und des Apollinischen genöthigt hat, noch einmal übersichtlich neben einander zu stellen. Der "Wille", als ursprünglichste Erscheinungsform, ist Gegenstand der Musik: in welchem Sinne sie Nachahmung der Natur, aber der allgemeinsten Form der Natur genannt werden kann. Der "Wille" selbst und die Gefühle - als die schon mit Vorstellungen durchdrungenen Willensmanifestationen - sind völlig unvermögend Musik aus sich zu erzeugen: wie es andernseits der Musik völlig versagt ist, Gefühle darzustellen, Gefühle zum Gegenstand zu haben, während der Wille ihr einziger Gegenstand ist. Wer Gefühle als Wirkungen der Musik davonträgt, hat an ihnen gleichsam ein symbolisches Zwischenreich, das ihm einen Vorgeschmack von der Musik geben kann, doch ihn zugleich aus ihren innersten Heiligthümern ausschließt. -
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Der Lyriker deutet sich die Musik durch die symbolische Welt der Affekte, während er selbst, in der Ruhe der apollinischen Anschauung, jenen Affekten enthoben ist. Wenn also der Musiker ein lyrisches Lied componiert, so wird er als Musiker weder durch die Bilder, noch durch die Gefühlssprache dieses Textes erregt: sondern eine aus ganz andern Sphaeren kommende Musikerregung wählt sich jenen Liedertext als einen gleichnißartigen Ausdruck ihrer selbst. Von einem nothwendigen Verhältniß zwischen Lied und Musik kann also nicht die Rede sein; denn die beiden hier in Bezug gebrachten Welten des Tons und des Bildes stehn sich zu fern, um mehr als eine äußerliche Verbindung eingehen zu können; das Lied ist eben nur Symbol und verhält sich zur Musik wie die ägyptische Hieroglyphe der Tapferkeit zum tapferen Krieger selbst. Bei den höchsten Offenbarungen der Musik empfinden wir sogar unwillkürlich die Roheit jeder Bildlichkeit und jedes zur Analogie herbeigezogenen Affektes: wie z. B. die letzten Beethoven'schen Quartette jede Anschaulichkeit, überhaupt das gesammte Reich der empirischen Realität völlig beschämen. Das Symbol hat Angesichts des höchsten, wirklich sich offenbarenden Gottes keine Bedeutung mehr: ja es erscheint jetzt als eine beleidigende Äußerlichkeit. Man verarge uns hier nicht, wenn wir auch von diesem Standpunkte aus den unerhörten und in seinen Zaubern nicht auflösbaren letzten Satz der neunten Symphonie Beethovens in unsre Betrachtung ziehn, um über ihn ganz unverhohlen zu reden. Daß dem dithyrambischen Welterlösungsjubel dieser Musik das Schillersche Gedicht "an die Freude" gänzlich incongruent ist, ja wie blasses Mondlicht von jenem Flammenmeere überfluthet wird, wer möchte mir dieses allersicherste Gefühl rauben? Ja wer möchte mir überhaupt streitig machen können, daß jenes Gefühl beim Anhören dieser Musik nur deshalb nicht zum schreienden Ausdruck kommt, weil wir, durch die Musik für Bild und Wort völlig depotenzirt, bereits gar nichts von dem Gedichte Schiller's hören? Aller jener edle Schwung, ja die Erhabenheit der Schillerschen Verse wirkt schon neben der wahrhaft naiv-unschuldigen Volksmelodie der Freude störend, beunruhigend, selbst roh und beleidigend: nur daß man sie nicht hört, bei der immer volleren Entfaltung des Chorgesanges und der Orehestermassen, hält jene Empfindung der Incongruenz von uns fern. Was sollen wir also von jenem ungeheuerlichen aesthetischen Aberglauben halten, daß Beethoven, mit jenem vierten Satz der Neunten selbst ein feierliches Bekenntniß über die Grenzen der absoluten Musik abgegeben, ja mit ihm die Pforten einer neuen Kunst gewissermaßen entriegelt habe, in der die Musik sogar das Bild und den Begriff darzustellen befähigt und damit dem "bewußten Geiste" erschlossen worden sei? Und was sagt uns Beethoven selbst, indem er diesen Chorgesang durch ein Recitativ einführen läßt: "Ach Freunde, nicht diese Töne, sondern laßt uns angenehmere anstimmen und freudenvollere!" Angenehmere und freudenvollere! Dazu brauchte er den überzeugenden Ton der Menschenstimme, dazu brauchte er die Unschuldsweise des Volksgesanges. Nicht nach dem Wort, aber nach dem "angenehmeren" Laut, nicht nach dem Begriff, aber nach dem innig-freudenreichsten Tone griff der erhabene Meister in der Sehnsucht nach dem seelenvollsten Gesammtklange seines Orchesters. Und wie konnte man ihn mißverstehn! Vielmehr gilt von diesem Satze genau dasselbe, was Richard Wagner in Betreff der großen Missa solemnis sagt, die er "ein rein symphonisches Werk des ächtesten Beethovenschen Geistes" nennt. "Beethoven" S. 47: "Die Gesangstimmen sind hier ganz im Sinne wie menschliche Instrumente behandelt, welchen Schopenhauer diesen sehr richtig auch nur zugesprochen wissen wollte: der ihnen untergelegte Text wird von uns, gerade in diesen großen Kirchencompositionen, nicht seiner begrifflichen Bedeutung nach aufgefaßt, sondern er dient, im Sinne des musikalischen Kunstwerkes, lediglich als Material für den Stimmgesang und verhält sich nur deswegen nicht störend zu unsrer musikalisch bestimmten Empfindung, weil er uns keineswegs Vernunftvorstellungen anregt, sondern, wie dieß auch sein kirchlicher Charakter bedingt, uns nur mit dem Eindrucke wohlbekannter symbolischer 245
Glaubensformeln berührt." Übrigens zweifle ich nicht, daß Beethoven, falls er die projektirte zehnte Symphonie geschrieben hätte - zu der noch Skizzen vorliegen - eben die zehnte Symphonie geschrieben haben würde. Nahen wir uns jetzt, nach diesen Vorbereitungen, der Besprechung der Oper, um von ihr nachher zu ihrem Gegenbild in der griechischen Tragödie fortgehen zu können. Was wir im letzten Satze der Neunten, also auf den höchsten Gipfeln der modernen Musikentwicklung, zu beobachten hatten, daß der Wortinhalt ungehört in dem allgemeinen Klangmeere untergeht, ist nichts Vereinzeltes und Absonderliches, sondern die allgemeine und ewig gültige Norm in der Vokalmusik aller Zeiten, die dem Ursprunge des lyrischen Liedes einzig gemäß ist. Der dionysisch erregte Mensch hat ebensowenig wie die orgiastische Volksmasse einen Zuhörer, dem sie etwas mitzutheilen hätte: wie ihn allerdings der epische Erzähler und überhaupt der apollinische Künstler voraussetzt. Es liegt vielmehr im Wesen der Dionysischen Kunst, daß sie die Rücksicht auf den Zuhörer nicht kennt: der begeisterte Dionysusdiener wird, wie ich an einer früheren Stelle sagte, nur von seinesgleichen verstanden. Denken wir uns aber einen Zuhörer bei jenen endemischen Ausbrüchen der dionysischen Erregung, so müßten wir ihm ein Schicksal weissagen, wie es Pentheus, der entdeckte Lauscher, erlitt: nämlich von den Mänaden zerrissen zu werden. Der Lyriker singt "wie der Vogel singt", allein, aus innerster Nöthigung und muß verstummen, wenn ihm der Zuhörer fordernd entgegentritt. Deshalb würde es durch unnatürlich sein, vom Lyriker zu verlangen, daß man auch die Textworte seines Liedes verstünde, unnatürlich, weil hier der Zuhörer fordert, der überhaupt bei dem lyrischen Erguß kein Recht beanspruchen darf. Nun frage man sich einmal aufrichtig, mit den Dichtungen der großen antiken Lyriker in der Hand, ob sie auch nur daran gedacht haben können, der umherstehenden lauschenden Voksmenge mit ihrer Bilder- und Gedankenwelt deutlich zu werden: man beantworte sich diese ernsthafte Frage, mit dem Blick auf Pindar und die äschyleischen Chorgesänge. Diese kühnsten und dunkelsten Verschlingungen des Gedankens, dieser ungestüm sich neu gebärende Bilderstrudel, dieser Orakelton des Ganzen, den wir, ohne die Ablenkung durch Musik und Orchestik, bei angespanntester Aufmerksamkeit so oft nicht durchdringen können - diese ganze Welt von Mirakeln sollte der griechischen Menge durchsichtig wie Glas, ja eine bildlich-begriffliche Interpretation der Musik gewesen sein? Und mit solchen Gedankenmysterien, wie sie Pindar enthält, hätte der wunderbare Dichter die an sich eindringlich deutliche Musik noch verdeutlichen wollen? Sollte man hier nicht zur Einsicht in das kommen müssen, was der Lyriker ist, nämlich der künstlerische Mensch, der die Musik sich durch die Symbolik der Bilder und Affekte deuten muß, der aber dem Zuhörer nichts mitzutheilen hat: der sogar, in völliger Entrücktheit, vergißt, wer gierig lauschend in seiner Nähe steht. Und wie der Lyriker seinen Hymnus, so singt das Volk das Volkslied, für sich, aus innerem Drange, unbekümmert ob das Wort einem Nichtmitsingenden verständlich ist. Denken wir an unsre eignen Erfahrungen im Gebiete der höheren Kunstmusik: was verstanden wir vom Texte einer Messe Palestrina's, einer Kantate Bach's, eines Oratoriums Händels, wenn wir nicht etwa selbst mitsangen? Nur für den Mitsingenden giebt es eine Lyrik, giebt es Vokalmusik: der Zuhörer steht ihr gegenüber als einer absoluten Musik. Nun aber beginnt die Oper, nach den deutlichsten Zeugnissen, mit der Forderung des Zuhörers, das Wort zu verstehn. Wie? Der Zuhörer fordert? Das Wort soll verstanden werden? [Dokument: Mappe mit losen Blättern] [ Frühjahr - Herbst 1871] 246
13 [1] Zum Schluß der Einleitung: Den du nicht verlässest, Genius, Wirst ihn heben übern Schlammpfad Mit den Feuerflügeln; Wandeln wird er Wie mit Blumenfüßen Über Deukalions Fluthschlamm, Python tödtend, leicht, groß, Pythius Apollo. 13 [2] Und was sollen wir vor allem von den Griechen lernen? Durch unsere Philosophie nicht zum thatlosen Ausruhen, durch unsere Musik nicht zu orgiastischen Wesen zu werden? Vor dem Buddhaismus soll uns die Tragödie, vor dem Musikorgiasmus ebenfalls der Mythus in der Tragödie retten. Das Volk der Perserkriege braucht die Tragödie. Beispiel zu geben am Tristan, dritter Akt: welke Müdigkeit, zitternde Hand des Sterbenden, Verhauchen in Seufzern. Die Sehnsucht nach der Urheimat: der Kuhreigen der Metaphysik. "Sehnen - sterben", krampfartiges Ausspannen der Seele, um zu flüchten, Hervorbrechen der Flügel. Der Mythus stellt jetzt, zu unserer Beschwichtigung, das Bild dazwischen und das Wort. - Die Helden des Mythus sind Atlas ähnlich, sie tragen die Welt auf ihrem Rücken. Sie entlasten uns. - Wir begreifen hier, weshalb die Musik nach Bildern verlangt. sie will den heilenden Apollo. Das ist das Verhältniß des Dramas zur Musik. Wir haben diesen Prozeß in größter Reinheit erlebt: jetzt erst verstehen wir die Tragödie in ihrer Bedeutung für die musikschwangere griechische Luft. Aus ihr geboren, um sie zu heilen. Jetzt verstehen wir, warum die in fortwährender Musik erzogenen Griechen um sich herum die herrlichsten Bildwerke hatten. Wir, in der höchsten Begabung der Musik, sehen darin die einzige allgemeine Kunsthoffnung. Die Musik hat uns wieder den Mythus geboren: damit ist der Geist der Wissenschaft unterlegen. In allen Künsten sind wir die Kritiker: hier in der Musik sind wir noch volle lebendige Menschen. Hier liegen alle Hoffnungen. An den Griechen können wir lernen, was wir selbst erfahren. Sie deuten uns unsre Erlebnisse. Sophokles wird von Asklepios besucht. So haben wir die Wagnersche Wiedergeburt der 247
Tragödie zu verstehen. Aus sokratischen Menschen sollen wir wieder tragische Menschen werden - und für uns Deutsche ist das eine Wiederbringung aller Dinge, Unsere Perserkriege haben kaum begonnen. Allein in der Musik sind wir noch nicht wissenschaftliche historische Menschen - wir leben noch bei Palestrina: ein Beweis, daß wir hier wirklich lebendig sind. Deshalb steht das größte deutsche Kunstfest in Bayreuth einzig da: hier feiern die tragischen Menschen ihr Weihefest, zum Zeichen daß eine neue Kultur beginnt. Ein Zurückstreben zur Gesundheit. Die Stellung des tragischen Menschen zum Wissen: er strebt nach der tiefsten Tiefe und läßt sich durch keine Erkenntniß - Illusion zurückschrecken, auch nicht in der Breite aufhalten denn er hat sein wahres Mittel, das Dasein zu ertragen. Rücksichtslose Wahrheit. 13 [3] Sonderbare Erzählung über Buddha, der in der Feier des Frühlingsanfanges, da mit dem zugleich der siegreiche Kampf des Stifters der Lehre gegen die falschen Lehren überhaupt festlich begangen wird ---. Hier giebt er sich dramatischen Vorstellungen hin. Priester in orgiastischer Trunkenheit und Ausgelassenheit: Buddha selbst über seine Erlösung unzähliger Menschen, acht Tage lang weltl Ergötzungen. "Rad Was<s>erblase, hohle Bogenlinie." 13 [4] 4. Dürer, Ritter Tod. 1. "Nach Rom oder nach Indien." 3. Wiederherstellung des Mythus. 2. Tristan. 5. Die Lebendigen in der Musik. 6. Bayreuth. 13 [5] Was bedeutet die Tragödie für uns? Von den Griechen sollen wir das Wagnersche Kunstwerk verstehn. Die Geburt der Tragödie. Die Bedeutung der Tragödie. Die gegenwärtige Verwirrung.
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13 [6] . 1. Nach Rom oder nach Indien. 2. Tristan. 3. Wiederherstellung des Mythus. 1. Die Lebendigen. 2. Dürer, Ritter Tod. 3. Bayreuth. 13 [7] Palestrina und die Maler der Ren. Die Verwirrung über Wagner. Eine neue Kultur beginnt: zuerst müssen die Mittel da sein, um in ihr leben zu können. [Dokument: Heft] [Frühjahr 1871 - Anfang 1872] 14 [1] Gang. Einfluß der Musikwirkung auf die Bilderwelt. Kraft, Mythen zu schaffen. Der Chor hebt die ganze Tragödie auf den Kothurn. Der sprechende Schauspieler ist zu erklären: völlig andere Wirkung als unser Melodrama. Er tritt auf als apollinischer Rhapsode. Die zwei Kunststile treten sich gegenüber. Es ist eine religiöse Manifestation des Gottes. Er ist nicht mit seinen verzückten Dienern zu verwechseln. 14 [2] Der deus ex machina übersetzt die metaphysische Lösung ins Irdische. Damit ist die Tragödie zu Ende. Die Haupttriebe, die aus dem Ursprung des Drama's abzuleiten sind: 249
1. Der Bau des Dramas: εισοδοζ des Chores, επεισοδιον des Gottes. 2. Die Einheit, die Tetralogie. 3. Der Held, als Rhapsode. 4. Der Chor als Orchester. 14[3] Aus der Fülle dieser Erkenntnisse, auf die, zur Bekräftigung ihrer ewigen Wahrheit, Richard Wagner im "Beethoven" seinen Stempel gedrückt hat, hebe ich eine Stelle hervor, die für die Erklärung des Ursprungs der Tragödie von höchstem Werte ist. Die Musik, sagt Schopenhauer, läßt jedes Gemälde, ja jede Szene des wirklichen Lebens und der Welt, sogleich in erhöhter Bedeutsamkeit hervortreten: freilich um so mehr, je analoger ihre Melodie dem inneren Geiste der gegebenen Erscheinung ist. Denken wir uns jetzt die erhabenste Steigerung der Musik, so wäre damit ein Mittel gewonnen, jedes Bild der Welt, um kurz zu reden, in einen Mythus zu verwandeln und zum Ausdruck einer ewig-gültigen allgemeinen Wahrheit zu bringen. Dieses ungeheure Vermögen der Musik sehen wir zweimal bisher in der Weltgeschichte zur Mythenschöpfung kommen: und das eine Mal sind wir beglückt genug, diesen erstaunlichen Prozeß selbst zu erleben, um von hier aus auch jenes erste Mal uns analogisch zu verdeutlichen. Wer wird, falls er nur einmal etwas von dieser wahrhaft religiösen Wirkung der mythenschaffenden Musik erfahren hat, - - 14 [4] 20 Seiten Über das Dionysische und Apollinische. 12 Seiten Schilderung der Tragödie. 6 Tod der Tragödie. 2 Seiten Übergang. 28 Wagner. 14 [5] 24 Über das Dionysische und Apollinische. 7 Nahen wir uns jetzt - dem Labyrinth. 12 2 Seiten Übergang zum Tode. 27 Seiten Tod der Tragödie. 72 14 [6] 8 250
Einleitung: 21 Haupttheil: 21 Haupttheil: 27 Schluß: Wagner 20 97 14 [7] I. S. 1-21 Das Dionysische und Apollinische. Das Naive. Der Lyriker. 22-43 Der Chor, der Held und der Mythus. 44-70 Euripides und Sokrates. 14 [8] Zwei Triebe: der wissenschaftliche die Zeitalter der tragische der Tragödie. Jetzt steht es anders: der wissenschaftliche ist seinen Grenzen nahe der tragische ist erreicht. Eine Vereinigung ist möglich. Der "Mythus" ist geboren worden. 14 [9] Mit dem Ende der Tragödie verfällt die Musik. Sie geräth in Nachahmung der sichtbaren Dinge. In der Tragödie war die Musik zu ihrer Höhe gekommen. Bei Euripides tritt an Stelle der dionysischen Erregung die Aufregung an sich. An Stelle der apollinischen Ruhe die Kühle des Denkens. Das ganze Bereich der Musik nimmt er in Beschlag und entlehnt alles Wirksame, d. h. er bringt eine Stilmischung hervor. Er giebt den unendlichen Mythus auf und stellt die Novelle an die Stelle. Verfall der Musik, des Mythus und der Tragödie. Der Ernst der Weltbetrachtung mußte in die Unterwelt flüchten. Wir nehmen eine erstaunliche Entwicklung der Wissenschaft wahr: der Mythus ist ganz verschwunden. Die Dichtung trägt den gelehrten Charakter. Erneuerung der ernsten Weltbetrachtung: bis jetzt stehen wir unter der Nachwirkung der Renaissance. Unsere Musik, unsere Philosophie zeigen ein neues Reich. Wir entdecken, daß 251
der deutsche Genius auch von der optimistischen Welt der Renaissance eine Befreiung braucht. Die Entdeckung des griechischen Alterthums in umgekehrter Reihenfolge. 14 [10] Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten. Notizen. Herbst 71. 14 [11] Bildung. Verengerung nöthig, im Gegensatz zu dem Streben nach Erweiterung. Diesem Streben nach Erweiterung liegt zu Grunde 1) der Optimismus der Nationalökon - möglichst viel Erkenntniß - möglichst viel Produktion - möglichst viel Glück 2) die Furcht vor religiöser Unterdrückung 3) der Glaube an die Masse, der Unglaube an den Genius. Diesem Streben arbeitet entgegen, für Verringerung 1) die Arbeitstheilung, auch für Wissenschaft 2) die verschiedenen Kirchen 3) die Furcht vor dem Socialismus, als einer Frucht jenes Optimismus. Unser Standpunkt ist der der Verengerung und Concentration, also Stärkung (gegen 2.) und Verengerung (gegen 1.) Hier spricht die Natur ihr Wort. Jenes sind Strebungen, dies sind Wahrheiten. Alle unsere Bildungsanstalten (die aus jenen Strebungen entstanden sind) sind an dieser Urwahrheit zu messen. Aber die Geltung der Wahrheit ist zu Zeiten eine sehr verschiedene: jene den Strebungen zu Grunde liegenden Principien beanspruchen auch Wahrheit und verdecken also die Wahrheit. Beide Strebungen, als Erziehungsmaximen könnten allerdings den Erfolg haben, das Niveau der geistigen Aristokratie herunterzudrücken und ihren Einfluß zu mindern. 252
Denn auch die Geburtsaristokratie des Geistes muß eine ihr gemäße Erziehung und Geltung haben. Das richtige Erziehungsprincip kann nur sein, die größere Masse in das rechte Verhältniß zu der geistigen Aristokratie zu bringen: das ist die eigentliche Bildungsaufgabe (nach den drei Hesiodischen Möglichkeiten); die Organisation des Geniestaates - das ist die wahre platonische Republik. 14 [12] Ich meine ethische und intellektuelle Bildung. Die Äußerungen der ethischen Bildung sind sehr verschieden, nach dem intellektuellen Hintergrunde. Bildung im Dienste des Staates. Bildung im Dienste der Gesellschaft. Bildung im Dienste des Erwerbs. Bildung im Dienste der Wissenschaft. Bildung im Dienste der Kirche. Aus diesen unnatürlichen Unterordnungen resultiren zwei Richtungen: Erweiterung und Verringerung. Gemeinsam ist der Unglaube an den Genius: wodurch sich ihre Unnatürlichkeit verräth: ebenso ein großer Optimismus. 14 [13] 1. Den Genius zu vollenden durch Bildung, Ebnen der Pfade 2. sein Wirken möglich zu machen durch die rechte Ehrfurcht 3. ihn ausfindig zu machen. Vom Standpunkte des Nichtgenius aus: 1. Gehorsam zu lernen und Bescheidenheit. (Hesiod.) 2. Richtige Erkenntniß über die Enge jedes Berufes. 3. Dem Genius Material sammeln. 14 [14] "Organisation der intellektuellen Kasten" die ewige Aufgabe der Bildung, unabhängig von der augenblicklichen Kirche und Staat. 14 [15] 253
Die klassische Bildung. Die höchste Bildung etwas völlig Unnützes: Privilegium des Genius. Aus seiner Bildung kann man keinen Lebensberuf machen, von dem zu leben ist. Dies die Vorstellung des Sokrates vom Weisen, der kein Geld nimmt. Der Gelehrte an Stelle des Gebildeten Kennzeichen Der Lehrer von Beruf an Stelle des vor- des bildlichen Weisen. Mittelalters. Unsere Schulen sind nach diesem mittelalterlichen Princip eingerichtet. Die Bildung eines eigenen Lehrstandes ist die Folge gewesen. Gelehrter kann ziemlich Jeder werden, ein Gebildeter Wenige. Verallgemeinerung der Gelehrsamkeit - das alte Bildungsziel. Möglichst viele zu Gelehrten abrichten - die höchste alte Erziehungsaufgabe. Das Leben unter der Knechtschaft der Wissenschaft. Daraus entstand die lateinische Schule, die unnationale Bildungsschule des Gelehrten. Der Anspruch auf klassische Bildung ist etwas ganz Modernes und eine Verkehrung der Gymnasialtendenz. Inzwischen ist ersichtlich, daß man nicht vom Latein zur Wissenschaft zu kommen braucht, ebenso daß der Gelehrte und der Gebildete nicht identisch sind. Jetzt kühner Griff: das alte Gymnasium wird zur Formalschule umgestempelt. Große öffentliche Lüge. Die Alten sind wahrhaftig in einem noch höheren Grade unsre wahren Meister und Lehrer: aber nicht für Knaben. Unsere Gymnasiallehrer (unsre besten ) sind gar nicht auf diese Ansprüche eingerichtet. Sie erziehen nach wie vor Gelehrte, aber eigentlich nur noch Philologen. Wenn man ehrlich sein will, muß man irgendwann das Gymnasium in eine philologischhistorische Fachanstalt verwandeln, im Dienste der Wissenschaft. 14 [16] Je höher der Mensch gebildet wird, um so einsamer ist er: d. h. er verkehrt mit den Großen aller Zeiten und diese erlauchte Gesellschaft macht ihn etwas vorsichtig. Er ist nicht "courant". 14 [17] Das naive Verhalten zur Natur nicht zu früh zu stören. Die Künste früh zu erlernen. 14 [18] 254
Die Examina mit ihren massenhaften intellektuellen Ansprüchen sind eine Bürgschaft für das ethische Bewältigen einer Unmasse im Dienste einer zukünftigen Staatsstellung. Wer sich hier unterwürfig zeigt, ist bereits gezeichnet. 14 [19] Bischen Kopf - Vorbereitung der Gymnasien. 14 [20] Die Realschule. Der Name ist ein Protest gegen die angebliche Formalschule des modernen Gymnasiums. Dem Wesen nach ist sie inzwischen noch ein Allerlei, das die ungeheure Lücke, die das Gymnasium läßt, auszufüllen sucht. Bei der ungeheuren Größe des Gebiets, das sie umspannen will, ist sie genöthigt, etwas allgemein zu bleiben, und wird so praktisch wieder formal. Nicht die Realschule, aber eine Unzahl von Fachschulen müssen in die Lücke hineintreten: und zwar sowohl Berufsschulen als Gelehrtenschulen. Ihre Erscheinung ist deshalb eine große Nothwendigkeit und ein Zeichen, daß das alte Gymnasium erkannt ist. Die Verschwommenheit der Form zeigt inzwischen noch, wie jung der Gedanke ist. Es sind meistens matte Spiegelbilder des Gymnasiums. Dies zeigt sich besonders bei den gleichen Ansprüchen, als Militärschule und Vorbereitungsanstalt für die Universität. Die Universität und das Gymnasium haben einen gemeinsamen Boden: die Universität und die Realschule nicht. Deshalb muß diese, wenn sie consequent denkt, die Alleinherrschaft der Universität negieren. Das Polytechnikum ist etwas, das sich zur Universität ähnlich verhält, wie die Realschule zum Gymnasium. Jung, noch unreif. Unzählige Formen von Polytechniken d. h. wissenschaftlichen Fachschulen sind nöthig. Jetzt wird überall noch die formale Bildung zu sehr betont: aus einer zu großen Allgemeinheit. Gegen die formale Bildung der Gymnasien berechtigte Einwendungen: die Realschule bestreitet die Alleinherrschaft des Gymnasiums für Bildungswege. Ob das Realwiss<en> so gute Lehrer haben wird? Die Realschule will nicht Fachschule sein: aber doch die direkten Berufsarten näher im Auge haben. Alles kann einmal nützlich werden: wichtiger Gedanke! 14 [21] Die Volksschule. 255
Der abstrakte Lehrer. Die Trennung der Gesellschaft. Die Benutzung der Kirche. 14 [22] Reorganisation der Presse. Nur der erhabenste Standpunkt macht es erträglich und befreit von dem Druck des Augenblicks. Sub specie aeterni, - - 14 [23] Der Lehrer. Der absolute Lehrer. - Der Lehrerstand. Der Einfluß des Staates. Das Examen - von Staats wegen. Ergebenheitsanzeichen. Emancipation der Lehrer vom Staate. Das gebildete Volksheer - ein trauriger Begriff. Die Privilegien der Examinirten bei dem Militär. Durch Examina und Anciennität hält man die Ehrgeizigen im Staate im Zaume. 14 [24] Die Universität. Als Staatsanstalt entartet. Die Akademie. Nahrungs- und Versorgungsinstitut. Als höchste Gegenmacht gegen den Staat ist sie gänzlich verbraucht und vernichtet. 14 [25] Resultate. Unsere Schulen weisen hin auf eine noch viel größere Arbeitstheilung. Die volle Bildung wird demnach immer seltener erstrebt: es giebt keine Schule, die deren Aufgabe sich stellte. Ja, man weiß sich nicht Rath, wenn man nach Lehrstoff für diese volle Bildung sucht.
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Demnach dürfte die Macht des verbindenden allgemeinen Menschen, des Journalisten eine Zeitlang noch immer größer werden: sie vereinigen die verschiedensten Sphären: worin ihr Wesen und ihre Aufgabe liegt. Um so stärker wird sich einmal der volle Mensch wieder erheben müssen, nicht als Mittler für alle Kreise, sondern als Führer der Bewegung. Für diese Führer giebt es jetzt keine Organisation. Es wäre denkbar eine Schule der edelsten Männer, rein unnütz, ohne Ansprüche, ein Areopag für die Justiz des Geistes, - aber diese Bildungsmenschen dürften nicht jung sein. Sie müßten als Vorbilder leben: als die eigentlichen Erziehungsbehörden. Diese höchste Bildung erkenne ich bis jetzt nur als Wiedererweckung des Hellenenthums. Kampf gegen die Civilisation. Von diesem Forum muß entschieden werden, welche Grenze überhaupt die Förderung der Wissenschaft hat: das dem Wissen eigenthümliche Leiden wird allerdings durch die Arbeitstheilung sehr abgeschwächt. Nach den beiden Enden zu sind wesentlich neue Organisationen nöthig: für die Kindererziehung Beseitigung des abstrakten Lehrerthums, für die höchste Erziehung die Möglichkeit eines Zusammenlebens. In der Mitte wird die Entwicklung ihren Weg gehen. Ein Volkslehrerstand ist gänzlich vom Übel. Das Lehren der Kinder ist Eltern- und Gemeindepflicht: Erhaltung der Tradition ist Hauptaufgabe. In der Höhe großartiger Freiblick. Beides verträgt sich wohl. Diese geistige Aristokratie muß sich auch Freiheit von dem Staate verschaffen: der jetzt die Wissenschaft im Zaune hält. 14 [26] Die Grundlagen der neuen Bildung. Nicht historisch, sondern hineinleben. Die "göttlichen Einseitigkeiten". 14 [27] § 2. Vorbereitung des philosophischen Menschen. Plato meint, der Weisheitslehrer habe sich zuerst gescheut und sich unter anderen Namen versteckt. Der Dichter als Philosoph. Uralte Spruchweisheit. Hesiod Theognis Phocylides. Der Priester als Philosoph: die Genealogie, die verschiedenen Weltweisen, Delphi als Regulativ. Die Mysterienweisheit. Immer willkürlich zu sagen, der und der ist der erste Philosoph. Thales ist genommen, weil er ein Princip aufstellt. Das ist aber ein viel späterer Standpunkt, erst den Systematiker gelten zu 257
lassen (Bestimmung aus der platonisch-aristotelischen Sphäre). Voraus geht eine Menge einzelner Weltblicke: das Problem des Werdens hat schon eine lange Geschichte unter mythischen Hüllen ausgedrückt, auch die Kraft des Systematisirens ist schon da. Wir finden als Vorstadium den priesterlichen Dichter. Eig<entlich> philosophirt ganz Griechenland: zahllose Sprüche. Dann der Kampf der verschiedenen religiösen Kulte: olympische Welt und Mysterienwelt. Die tragischen Mythen. Warum Thales? Kraft, ein Princip aufzustellen und zu systematisiren, früher. Weil er unmythisch ist. Es ist der Dichter zu überwinden. Contemplation in Begriffen. Er ist nicht nur spruchmäßig. Er ist nicht nur einer der sieben Weisen. Das Bild des Philosophen entwickelt sich langsam aus Musaeus, Orpheus, Hesiod, Solon, sieben Weisen. 1) Die mythische Form der Philosophie, 2) Die spruchmäßige Form der Philosophie, das sporadische Philos durch das Systematisiren. So verschiedene Männer sind σοϕοι. 14 [28] Vorplatonische Philosophen. Wie kommen die Griechen zur Philosophie? Zu welcher Philosophie? Gleichzeitig ihrer klassischen Periode (6. und 5. Jahrhundert) sind gerade die vorplatonischen. Es ist charakteristisch, wie eine Zeit ihre großen Männer aufnimmt. Die Originalanschauungen dieser Philosophen sind die höchsten und reinsten, die je erreicht wurden. Die Männer selbst sind förmliche Incarnationen der Philosophie und ihrer verschiedenen Formen. Frage: wie nimmt sich der Philosoph unter den klassischen Hellenen aus? Von Plato an ist die Frage weniger entscheidend zu beantworten. Da gab es einen Gelehrtenstand, mit dem der philosophische zusammenfallen konnte. Die Vorstufe: der Priester und der Sänger. Die weisen Männer, die das delphische Orakel ernannte, als leibhafte Katechismen. Sie offenbaren uns das Hellenische, nicht direkt: denn sie reden nicht von Sitten usw., aber sie zeigen die Philosophie entstanden als Trieb der Erkenntniß, nicht durch Sündhaftigkeit und Lebensnoth angestachelt. Sie erfassen die ewigen Probleme und auch die ewigen Lösungen. Zahllose Individuen. 258
Als bewußte Denker offenbaren sie weniger als als unbewußte Menschen, in ihren Handlungen 14 [29] Erste Periode. Das Werden erregt das ϑ αυµαζειν. Jonische Philosophen. Zweite Periode. Das Problem des Werdens wird erkannt. Metaphysik. Dritte Periode. Die Teleologie, der Zweck des Werdens. Vierte Periode. Die Dialektik als das Sicherste. Ohne Erkenntniß keine Tüchtigkeit. Die Philosophie wird reformatorisch und imperativisch und aggressiv. Plato versucht die erste Weltreform. Ein skeptischer Kreislauf - viermaliges Ansetzen. 14 [30] Goethesche Lieder für meinen Freund Erwin Rohde zum Singen eingerichtet von F. N. 1. Erster Verlust. G oder besser Fis dur. 2. Wonne der Wehmuth. A dur. Wanderers Nachtlied. B moll. Herbstgefühl. G moll. [Dokument: Heft] [Juli 18711 15 [1] An die Melancholie. Verarge mir es nicht, Melancholie, Daß ich die Feder, dich zu preisen, spitze, Und daß ich nicht, den Kopf gebeugt zum Knie, Einsiedlerisch auf einem Baumstumpf sitze. So sahst du oft mich, gestern noch zumal, In heißer Sonne morgendlichem Strahle: 259
Begehrlich schrie der Geyer in das Thal, Er träumt vom todten Aas auf todtem Pfahle. Du irrtest, wüster Vogel, ob ich gleich So mumienhaft auf meinem Klotze ruhte! Du sahst das Auge nicht, das wonnenreich Noch hin und her rollt, stolz und hochgemuthe. Und wenn es nicht zu deinen Höhen schlich, Erstorben für die fernsten Wolkenwellen, So sank es um so tiefer, um in sich Des Daseins Abgrund blitzend aufzuhellen. So saß ich oft, in tiefer Wüstenei Unschön gekrümmt, gleich opfernden Barbaren, Und Deiner eingedenk, Melancholei, Ein Büßer, ob in jugendlichen Jahren! So sitzend freut' ich mich des Geyer-Flugs, Des Donnerlaufs der rollenden Lawinen, Du sprachst zu mir, unfähig Menschentrugs, Wahrhaftig, doch mit schrecklich strengen Mienen. Du herbe Göttin wilder Felsnatur, Du Freundin liebst es nah mir zu erscheinen; Du zeigst mir drohend dann des Geyers Spur Und der Lawine Lust, mich zu verneinen. Rings athmet zähnefletschend Mordgelüst: Qualvolle Gier, sich Leben zu erzwingen! Verführerisch auf starrem Felsgerüst Sehnt sich die Blume dort nach Schmetterlingen. 260
Dies Alles bin ich - schaudernd fühl' ich's nach Verführter Schmetterling, einsame Blume, Der Geyer und der jähe Eisesbach, Des Sturmes Stöhnen - alles dir zum Ruhme, Du grimme Göttin, der ich tief gebückt, Den Kopf am Knie, ein schaurig Loblied ächze, Nur dir zum Ruhme, daß ich unverrückt Nach Leben, Leben, Leben lechze! Verarge mir es, böse Gottheit, nicht, Daß ich mit Reimen zierlich dich umflechte. Der zittert, dem du nahst, ein Schreckgesicht, Der zuckt, dem du sie reichst, die böse Rechte. Und zitternd stammle ich hier Lied auf Lied, Und zucke auf in rhythmischem Gestalten: Die Tinte fleußt, die spitze Feder sprüht Nun Göttin, Göttin laß mich - laß mich schalten! Gimmelwald. (Sommer 1871). 15 [2] Nach einem nächtlichen Gewitter. Heute hängst du dich als Nebelhülle, Trübe Göttin, um mein Fenster hin. Schaurig weht der bleichen Flocken Fülle, Schaurig tönt der volle Bach darin. Ach! Du hast bei jähem Blitzeleuchten, Bei des Donners ungezähmtem Laut,
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Bei des Thales Dampf den giftefeuchten Todestrank, du Zauberin, gebraut! Schaudernd hörte ich um Mitternächten Deiner Stimme Lust- und Wehgeheul, Sah der Augen Blinken, sah der Rechten Schneidig hingezückten Donnerkeil. Und so tratst du an mein oedes Bette Vollgerüstet, waffengleißend hin, Schlugst an's Fenster mir mit erz'ner Kette, Sprachst zu mir: "Nun höre, was ich bin! "Bin die große ewge Amazone, "Nimmer weiblich, taubenhaft und weich "Kämpferin mit Manneshaß und -Hohne "Siegerin und Tigerin zugleich! "Rings zu Leichen tret' ich, was ich trete, "Fackeln schleudert meiner Augen Grimm "Gifte denkt mein Hirn - nun kniee! Bete! "Oder modre Wurm! Irrlicht, verglimm!" [Dokument: Heft] [Sommer 1871 - Frühjahr 1872] 16 [1] "Die Geburt der Tragoedie aus dem Geiste der Musik." "Der Wettkampf Homer's." "Rhythmus." "Die Zukunft unserer Bildungsanstalten." 16 [2] 262
Die Zukunft des Philologen. Das Gymnasium. Deutscher Stil. Griechischer Rhythmus. Homer. Hesiod. Wagner. Schopenhauer. Poesie und Gelehrsamkeit. 6 [3] 7. Leiden des agonalen Individuums. 7. Der Philoktet des Sophocles - als Lied vom Exil zu verstehen. Der Grieche verstand es. Die Trachinierinnen, keine Eifersuchtstragödie. Der Liebeszauber wird zum Unglück. Die Liebe verblendet das Weib zu einer dummen That. Die Vernichtung aus Liebe. Die Elektra - das heroische Weib, von Sophokles geschaffen. Ajax - das große Individuum - was ließen sich die Griechen von diesem gefallen! Nach 50 Versen würde ein Ajax jetzt unmöglich sein. Die Fragmente des Sophokles enthalten sehr Gutes, z. B. über die Liebe, was zusammen zu halten ist mit der Äußerung des Sophokles in der Republik Platos, I. 16 [4] Hesiod und - - Die Jesuiten - ihre antike Erziehung - der Ehrgeiz und der Wettkampf in der Erziehung. Das Problem des Wettkampfes. 7. Künstler im Wettkampfe. (Bei uns aus Mangel an Größen selten: Schiller und Goethe.) Homer und Hesiod. 7. Das delphische Orakel über Kunst urtheilend. 7. Das stoffliche Urtheil - laienmäßig moralisch. 7. Kritik und Kunst. Aeschylus und Sophokles bei Aristophanes. 263
Unbewußtheit der Alten in Aesthetik. 16 [5] 4. Die Alten über Homer. 4. Die Homermythen und die Hesiodmythen. Der Homerkultus. Der Dichter als Lehrer des Wahren. Symbolische Deutung, weil er durchaus recht behalten soll. 7. Das Urtheil im Wettkampfe ist nicht ästhetisch, sondern universal. 7. Der Dichter wird beurtheilt als "höchster Mensch", sein Lied als wahr, gut, schön. 7. Gerecht ist das Urtheil nur, solange der Dichter und sein Publikum alles gemein haben. 7. Die Dramatiker entnehmen nun wieder dem Epos ihre Stoffe und concentriren von Neuem. 4. Die Homer-Lieder das Resultat von Wettgesängen. Auch die des Hesiod. Ein Sänger der der Ilias, wie der der Odyssee. Die Namen Homer und Hesiod sind Siegespreise. 4. Die bewußtere aber schlechtere Kunst des Componierens bei Hesiod (Erga) nachzuweisen. 16 [6] 7. Der Künstler und der Nichtkünstler. Was ist Kunsturtheil? Dies das allgemeine Problem. Der Dichter nur möglich unter einem Publikum von Dichtern. (Wirkung der Nibelungen Wagners.) Ein phantasiereiches Publikum. Dies ist gleichsam sein Stoff, den er formt. Das Dichten selbst nur eine Reizung und Leitung der Phantasie. Der eigentliche Genuß das Produziren von Bildern, an der Hand des Dichters. Also Dichter und Kritiker ein unsinniger Gegensatz - sondern Bildhauer und Marmor, Dichter und Stoff. Die Entscheidung im αγων ist nur das Geständniß: der und der macht uns mehr zum Dichter: dem folgen wir, da schaffen wir die Bilder schneller. Also ein künstlerisches Urtheil, aus einer Erregung der künstlerischen Fähigkeit gewonnen. Nicht aus Begriffen. So lebt der Mythus fort, indem der Dichter seinen Traum überträgt. Alle Kunstgesetze beziehn sich auf das Übertragen. Aesthetik hat nur Sinn als Naturwissenschaft: wie das Apollinische und das Dionysische. 16 [7] Homer und Hesiod im Wettkampf. Vorrede an C W. Verehrungswürdigste Frau. 264
Der Laie und der Künstler. 16 [8] 6. Der Rhapsode als δηµιουργοζ der Kunst - als eigentliches Genie kommt er nicht in Betracht, sondern dann verschmilzt er mit dem Urheros aller Poesie, Homer. Sonderbar. Sie wehren dem dichterischen Individuum die Existenz. Der Wettkampf zeichnet die Handwerker aus. Nur wo es ein Handwerk giebt, giebt es Wettkampf. Wahrhaft individuell lebendig sind nur die Heroen. In ihnen erkennt sich die Gegenwart wieder und lebt in ihnen fort. Seit wann entsteht das Individuum bei den Griechen? 16 [9] Der Wettkampf! Und diese Verleugnung des Individuums! Es sind keine historische, sondern mythische Menschen. Auch das Persönliche hat nur Ruhm (wie bei Pindar), wenn es in ferne Mythen gehüllt wird. Der Wettkampf! Und das Aristokratische, Geburtsmäßige, Edle bei den Griechen! Es kämpfen keine Individuen, sondern Ideen mit einander. 16 [10] Das Christenthum ist nicht schöpferisch in Mythen. 16 [11] Das Apollinische und das Dionysische. Der Wettkampf - als Rhythmus - Ehre, Individuum. Der Rhythmus. 16 [12] Die Aegypter als eigentliches Bauvolk. 16 [13] Die unbewußte formenbildende Kraft zeigt sich bei der Zeugung: hier doch ein Kunsttrieb thätig. 5. Es scheint der gleiche Kunsttrieb zu sein, der den Künstler zum Idealisiren der Natur zwingt und der jeden Menschen zum bildlichen Anschauen seiner selbst und der Natur zwingt. Zuletzt muß er die Construktion des Auges veranlaßt haben. Der Intellekt erweist sich als eine Folge eines zunächst künstlerischen Apparates. 265
Das Erwachen des Kunsttriebs differenzirt die animalischen Geschöpfe. Daß wir die Natur so sehen, so künstlerisch sehen, theilen wir mit keinem Thier. Aber es giebt auch eine künstlerische Gradation der Thiere. Die Formen zu sehen - ist das Mittel, über das fortwährende Leiden des Triebes hinauszukommen. Es schafft sich Organe. Dagegen der Ton! Er gehört nicht der Erscheinungswelt an, sondern redet von dem Nieerscheinenden, ewig verständlich. Er verbindet, während das Auge trennt. 16 [14] 2. Die antiken Mittel der Erziehung: der Wettkampf und die Liebe. Die gute Eris - wie zu verstehn? 7. Sophokles der Dichter der Leiden des agonalen Individuums. 16 [15] Die homerische Frage. Künstler und Publikum. Das Individuum: der differenzirende apollinische Trieb, Formen und damit - scheinbar Individuen schaffend. 4. Der apollinische Homer ist nur der Fortsetzer jenes allgemein menschlichen Kunstprozesses, dem wir die Individuation verdanken. Der Dichter geht voran, er erfindet die Sprache, differenzirt, 5. Der Dichter überwindet den Kampf um's Dasein, indem er ihn zu einem freien Wettkampfe idealisirt. Hier ist das Dasein, um das noch gekämpft wird, das Dasein im Lobe, im Nachruhm. Der Dichter erzieht: die tigerartigen Zerfleischungstriebe der Griechen weiß er zu übertragen in die gute Eris. 5. Das Volk Apollo's ist auch das Volk der Individuen. Ausdruck der Wettkampf. 5. Die Gymnastik der idealisirte Krieg. 5. Das Staatenprincip vornehmlich die Eris kleiner göttlicher Kultussphären. 16 [16] Die Mittel gegen die maßlose Selbstsucht des Individuums. Der Heimatsinstinkt die Öffentlichkeit 266
der Wettkampf die Liebe ϕιλια. In allen Punkten verräth sich Alexander als barbarische Karikatur: im Wettkampf mit Göttern aus der Vorzeit. 16 [17] Die vorplatonischen Philosophen. Philosophie innerhalb der Sprache. Parallelzeitalter der Tragödie. Der Weise als Greis König Priester Magus. Identität von Leben und Philosophie. Aber immer innerhalb der Grenzen des Hellenischen. Bis Plato, der das Hellenische bekämpft. Philosophie in der Mythologie. 1. Thales. Kampf mit dem Mythus. Der Staatsmann. 2. Anaximander. Schule. Pessimismus. 3. Pythagoras. Die Griechen und das Ausland. Religiöse Mystik. Erklärung der Askese aus dem Willen. Unsterblichkeitsglaube. Die Seelenwanderung und die Stoffwanderung.. 4. Heraclit. Verklärung des Wettkampfs. Die Welt ein Spiel. Der Philosoph und die Weiber. 5. Xenophanes. Der Rhapsode als Bildner. Er und Plato im Kampf mit Homer. 6. Parmenides. Verwüstung der Abstraktion. Dialektik. 7. Anaxagoras. Naturgeschichte des Himmels. Athenische Freisinnigkeit. Teleologie. 8. Empedocles. Agonale Natur. Der Rhetor. 9. Democrit. Universale Erkenntniß. Die Philos als Bücherschreiber. 10. Pythagoreer. Rhythmus und Maaß. Bewältigung des Ictus. 11. Socrates. Liebe und Bildung. Der souveräne Begriff. Der erste negative Philosoph und aggressiv. Bruch mit dem Griechischen. Zum Schluß Plato. 16 [18] Wie die griechische Natur alle furchtbaren Eigenschaften zu benutzen weiß: die tigerartige Vernichtungswuth (der Stämme usw.) im Wettkampf die unnatürlichen Triebe (in der Erziehung des Jünglings durch den Mann) das asiatische Orgienwesen (im Dionysischen) die feindselige Abgeschlossenheit des Individuums (Erga) im Apollinischen. Die Verwendung des Schädlichen zum Nützlichen ist idealisirt in der Weltbetrachtung Heraclits. 7. Schluß: Dithyrambus auf die Kunst und den Künstler: weil sie den Menschen erst herausschaffen und alle seine Triebe in die Kultur übertragen. 16 [19]
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7. Am Meister lernen, am Gegner sich erkennen! Die künstlerischen Schulen und dabei der Wettkampf! 7. Die διαδοχη der Schulen. Ihre mächtige Wirkung besonders in der plastischen Kunst, wohin der sokratische Trieb am allerletzten zu dringen vermochte. 7. Die Schulen, und der Wettkampf als Voraussetzung der Künste. Die panhellenische Berühmtheit. (Homer Hymne. Theognis.) 2. Der Wettkampf vor Gericht. 7. Der Dialog der Tragödie aus dem Wettkampf entstanden. Der Ostrakismos unter dem Gesichtspunkte des Wettkampfes. (Er ist unmöglich gemacht durch das Hervortreten des Einzelnen, Ephesier Hermodor.) Die Entwicklung der Eris. 3. Die Götter-Wettkämpfe. Die hesiodische Eris wird gewöhnlich falsch verstanden: was die Leute zum Krieg und Streit treibt, die böse: was sie zur ehrgeizigen That treibt, die gute. 16 [20] Die christliche Auffassung vom Ehrgeiz, vom Wettkampf usw. Die trübe Atmosphäre der böotischen Bauern zu benutzen zur Charakteristik des Vorhomerischen. 16 [21] Cap. I. Heraclit. Begriff des Wettkampfs aus Heraclit zu entwickeln. Cap. II. Der Wettkampf bei den Griechen. Dann der Wettkampf in dem Staat im Kultus in der Erziehung in der Kultur (Plato und Sophisten). Cap. III. Kampf des Heroisch-Mythischen mit dem Individuum. Bevor das Individuum erwacht, erwacht die Heroenwelt als Welt von Individuen. Kampf des Heroisch-Repräsentativen und des agonalen Individuums: bei Pindar und Homer selbst. Hesiod's Eris. Cap. IV. Die Agonsage. Das Individuum hat Mühe zu erwachen: die mythische Form hindert. Überreste des Mythischen. Pythagoras Epimenides Empedokles Pisistratus Plato. Sage aus der Zeit der mythischen Auffassung Homers - die Agonsage. Cap. V. Delphi als Culturstätte. Die zu Grunde liegende delphische Lösung. Der Rhapsode. 268
Cap. VI. Der Rhapsode und die Composition. Die Composition der Ilias. Entstehung der Erga. Der Rhapsode als Homer auftretend. Der Cyclus und der sich immer mehr reinigende Begriff Homer's. Die Individuen tauchen auf, als das Geringere. (Die Namen der Rhapsoden.) Cap. VII. Das aesthetische Urtheil. Was ist das aesthetische Urtheil? Das Richterthum in der Tragödie. Der Wettkampf unter Künstlern setzt das rechte Publikum voraus. Fehlt dies Publikum, dann ist er im Exil (Philoktet). Alle Kunstgesetze beziehn sich nur auf das Übertragen (nicht auf die originalen Träume und Räusche). 16 [22] 2. Wunderbarer Prozeß, wie der allgemeine Kampf aller Griechen allmählich auf allen Gebieten eine δικη anerkennt: wo kommt diese her? Der Wettkampf entfesselt das Individuum: und zugleich bändigt er dasselbe nach ewigen Gesetzen. Die Götter in Fehde. Die Titanenkämpfe wissen noch nichts vom Wettkampf. Das älteste Griechenland zeigt die roheste Entfesselung der Eris. 2. Die panhellenischen Feste: Einheit der Griechen in den Normen des Wettkampfes. 2. Kampf vor einem Tribunal. 16 [23] αγων vielleicht das "Wägen". Der Wagen und die Wage ist doch wohl von gleichem Stamme? Der Neid ist viel stärker bei den Griechen ausgeprägt: Plato, Pindar. Der Begriff der Gerechtigkeit viel wichtiger als bei uns: das Christenthum kennt ja keine Gerechtigkeit. Der Neid in der Ilias, oder im Ajax. 16 [24] Schilderung der vorhomerischen Welt dann der homerischen: dann der kommende Wettkampf. Liebeslust ϕιλοτηζ, Illusion απατη. Alter und Eris - alles Kinder der Nacht. Vorhomerische Vorstellung: vier Göttinnen walten über die Sterblichen verderblich: die Täuschung, die Liebesbegierde, das Alter, die Zwietracht. Die grauenhaften theogonischen Sagen sind ein Beispiel der althellenischen, an das Gräßliche gewöhnten Phantasie. Welche irdische Existenz spiegeln sie wieder! Eine Strömung geht von dorther aus, die zur Askese, zur Reinigung treibt (Orpheus, Pythagoras). Eine grausame und tigerartige Phantasie! Dabei wollüstig und finster! 269
Die Mordsühne ist der älteste Theil des Rechts. 16 [25] 2. Die wandernden Hellenen. Sie sind Eroberer von Natur. 16 [26] 1. Problem: wie wird der Wille, der furchtbare, gereinigt und geläutert, d.h. umgesetzt und in edlere Triebe verwandelt? Durch eine Veränderung der Vorstellungswelt, durch die große Ferne seines Zieles, so daß er sich im übermäßigen Ausspannen veredeln muß. Einfluß der Kunst auf die Reinigung des Willens. Der Wettkampf entsteht aus dem Kriege? Als ein künstlerisches Spiel und Nachahmung? Die Voraussetzung des Wettkampfes. Das "Genie"! Ob es in solchen Zeiten existirt? Die unendlich höhere Bedeutung der Ehre im Alterthum. Orientalische Völker haben Kasten. Die Institute wie Schulen, διαδοχαι, dienen nicht dem Stande, sondern dem Individuum. 16 [27] Dreifacher Angriff auf Homer, aus ϕιλονεικια, um ihn zu verdrängen. Plato. Wäre uns aus dem Alterthum nur Plato überliefert, wir würden über Homer urtheilen wie über die Sophisten. Xenophanes hat die Absicht, sich an Stelle des Homer und des Hesiod zu setzen. Darin verstehen wir seine Lebenstendenz. Aristoteles bezeichnet deutlich (im Dialog über die Dichter) diese Gesinnung. Hesiod. Einleitung der Theogonie. Die Agonsage. Letztere - bereits die ισοχρονια beweisend für Herodot, ja für die Stemmata, also uralt. Die Welt der Erga ist ursprünglich doch identisch mit der Heroenzeit: vor ihr liegt die Titanenzeit, die eherne: das eiserne Zeitalter ist die Gegenwart. 16 [28] Die alte grausame vorhomerische Welt zieht noch ihre Wellenfurche in Orpheus Musaeus und deren asketisches Sühnpriesterwesen. 270
An alles Vorhandene von dieser Richtung knüpft dann wieder der dionysische Strom an. Für das Vorhomerische muß man das Etruskische studiren: das ist verwandt. (Das graekoitalische Volk ist wahrscheinlich auch nicht zur Heiterkeit in der Welt gewesen.) Die asiatische Kultur hat viel beigetragen, jene grausame vorhomerische Welt zu mildern. Die hesiodische Welt ist (in den Erga) noch ein blasser Nachklang jener unhomerischen Zustände. Die homerische Welt wird auch meistens, nach der moralischen Seite hin, verzeichnet; sie ist nicht schön und harmonisch und gut. Wohl aber ist sie, künstlerisch betrachtet, von unglaublicher Fülle, Heiterkeit, Reinheit und Festigkeit der Linien. 16 [29] 7. Unendliche Freiheit des persönlichen Angriffs in der Komödie. Der Neid der Götter. Zeichen daß die Griechen anders empfunden haben über Haß und Neid. 16 [30] Die Stelle von odium figulinum. Der Neid der Götter. Der Ostrakismos. Plato und die Sophisten. 16 [31] 3. Die ältesten Wettkampfsagen: Apoll mit Marsyas, Thamyris mit den Musen, Niobe. Hier die υπερβασια der Eris, die selbst das Göttliche vergleicht. 16 [32] 2. Weil der Haß und Neid viel größer ist, ist die Gerechtigkeit eine so unendlich viel größere Tugend. Es ist die Klippe, an der Haß und Neid zerschellt. 16 [33] Ein Hauptmittel Homers, den tiefen Groll darzustellen, überhaupt eine lange Zeit darzustellen, dadurch daß er inzwischen etwas ganz Anderes vor sich gehen läßt; z. B. erstes Buch: Achill sitzt zürnend am Gestade, während dem dann wird der Zug zu Chryses unternommen. 16 [34] 271
Die Feinde der Kunst zeigen auf die Griechen hin und sagen: seht, das ist ihre Sittlichkeit! Soweit bringt es der Mensch, mit aller Kunst und Kultur! 16 [35] Die ganz instinktive politische Genialität des Themistocles, wie sie Thucydides schildert. Der Wettkampf des Themistocles und des Aristides. Perikles ist unendlich viel künstlicher und vorbereiteter. Themistocles' Wettkampf: die Lorbeeren des Miltiades lassen ihn nicht schlafen. Grenzenloser Ehrgeiz. Die tiefste Entehrung am Schlusse seines Lebens, aus jener Wettkampfempfindung nur zu verstehen. 16 [36] Das Gerichtsverfahren ist ein αγων, vielleicht mit Gebräuchen, die von den Wettkämpfen hergenommen sind. Das Nichtgeneigtsein, auf den speziellen Fall einzugehn (sondern die ganze Vergangenheit und die Person zu beurtheilen) einer der wesentlichen Züge der versammelten athenischen Dikasten. 16 [37] Viel Ruhm hat bei einem Griechen etwas Gemüthsverwirrendes. Durch Glück wird der Grieche berauscht und entsittlicht. Die außerordentliche Stärke des gegenwärtigen Gefühls in den griechischen Volksversammlungen. 16 [38] Ostrakismus, angewendet, wenn die Gefahr da ist, daß einer der Wettkämpfenden durch die Hitze des Kampfs zu gefährlichen Mitteln sich hinreißen läßt. 16 [39] Die korkyräische Revolution als Vernichtungskampf zweier Parteien. In Athen dagegen eine Art Wettkampf. Grote, 3, P - 536. Dann die gründliche Metzelei, wegen der persönlichen Eifersucht der Feldherrn. 16 [40] Vorträge: der Wettkampf bei den Griechen. 272
Kampf des mythischen Individuums mit dem agonalen. Die Sage vom Wettkampf Homer's. Delphi als Kulturstätte. Der Rhapsode und die Composition des Epos. Das ästhetische Urtheil. Die Ethik unter Einwirkung der Kunst. Heraklit's Verklärung des Wettkampfs. 16 [41] Die Griechen als Stilisten. Die Griechen als religiöse Menschen. 16 [42] Alle Neigung, Freundschaft, Liebe zugleich etwas Physiologisches. Wir wissen alle nicht, wie tief und hoch die Physis reicht. 16 [43] Alexander ist nur die Karikatur der homerischen Welt. Krieg und Wettkampf. Eros und Bildung der Freunde. Der Rhythmus uralt in der Sprache thätig: Sprechen Sichbewegen handeln. 16 [44] Die Wiedergeburt Griechenlands aus der Erneuerung des deutschen Geistes. Geburt der Tragödie. Rhythmus. Wettkampf Homers. Religion und Kunst. Philosophie und das hellenische Leben. Die höheren Bildungsanstalten. Die Freundschaft und die Bildung. 273
16 [45] Plato und Dionysius. 16 [46] Neid der Götter. Der ehrgeizige Wetteifer, naiv in der ganzen Geschichte, offiziell im Ostrakismus anerkannt (Ephesus). Die ganze Erziehung, aber auch die Erzieher (Plato Sophisten). Der Wettkampf der Städte, häufig zurückfallend in den Kampf. Gefährlichkeit des Nichtwettkämpfens für den Griechen: Miltiades, Athen, Sparta. [Dokument: Notizbuch] [September - Oktober 1871] 17 [1] Nit raiz Rupal, Sunst kailt Knupal. 17 [2] Behäbig brüllt der breite Bach Der Rupal rast den Rossen nach. 17 [3] Auf dem Schänzli sitzt der Hund, Eine Wurst in seinem Mund. Auf dem Dache sitzt die Kuh Frisst die Wurst und raucht dazu. 17[4] Üppig schwelgt der brave Mann, Weil er es bezahlen kann. 17 [5] Das Saumross jauchzt im tiefsten Schacht,
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Wild glüht der grünen Augen Pracht. 17 [6] Herzlicher Scherz entfleusst dem scherzlichen Herz. 17 [7] Des linken Stiefels Götterpracht Sie sei jetzt deinem Fuß verschafft. Ich danke Dir, du edler Mann, Weil ich nun wieder gehen kann. 17 [8] Denn wäre nicht der brave Jesus, Wie jach wär' unser Untergang. 17 [9] ϕωρα - Göttling, Accentuation. Stephanus Lexicon. Lobeck. Hesychius. δηµα - Hesychius. Leutsch, Philol. über Theognis. Aeschylus Scholien. αγων. Keil, Inscript. Boeoticae. Sauppe, Oratores Attici. ϑωραν Hes. την ερευναν, hier unterschieden durch den Accent (Pollux, 8, 69).
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Επ′ αυτη τη ϕωρα, jedenfalls ϕωρα herzustellen. Laert. I, 96; Ach. Tat. 7, 11. Oenomai Cynici, Buch ϕωρα γοητων. Euseb. Praeparatio evangelica 5, P. 213. Theodoret. App. Gr. p. 86,21. 17 [10]* Ein Zwillingspaar aus einem Haus gierig muthig in die Welt hinaus, Welt-Drachen zu zerreissen. Zwei-Väter-Werk! Ein Wunder war's! Die Mutter doch des Zwillingspaars Freundschaft ist sie geheissen. *Später 1873, entstanden. [Dokument: Mappe mit losen Blättern] [Ende 1871 - Frühjahr 1872] 18 [1] Gerade immer das Falsche wird ernst genommen: in der Religion - das Historische in der Kunst - die Unterhaltungslektüre in der Wissenschaft - das Mikrologische, das Curiöse, das eigne Produziren, in der Philosophie - der dumme Materialismus. 18 [2] I. Einleitung. Der Titel. Nicht speziell Basler Verhältnisse. Keine Verantwortung für Nutzanwendungen. Der Ort, an dem man so viel thut und wohl auch entsprechend denkt. Erinnern, nicht belehren. Ebensowenig vom Horizont aller Kulturvölker aus. Vielmehr die deutschen Institutionen, Volksschule Gymnasium Universität. 276
Sie verknüpfen uns mit unserer Vergangenheit. Bedenkliche Neuerungen des modernen, zeitgemäßen Geistes. In Betreff ihrer Zukunft liegt alle Hoffnung in einer Erneuerung des deutschen Geistes. Für unser Thema wichtig, den ursprünglichen Sinn wieder ohne seine modernen Entartungen zu verstehen. Also weder für die "Selbstverständlichen" noch für die Verzweifelten sondern die Kämpfenden, deren Bild etwa Schiller ist. Haupttheil. Keine Definition von Bildung. Es kommt auf das letzte Ziel an, in dessen Dienst die Bildung gestellt wird. Wir sehen von der Phraseologie der Bildung als "Selbstzweck" . Wollen wir die Bildungsziele unserer Zeit rubriziren, so finden wir Bildung im Dienste des Erwerbs der Geselligkeit des Staates der Kirche der Wissenschaft. Zwei Richtungen gehen durch: 1. möglichste Erweiterung Optimismus der Nationalökonomen Furcht vor religiöser Unterdrückung der übertriebene Staatsbegriff Hegels. Auch Gesellschaft. 2. Verringerung, Schwächung, bald absichtlich, bald unabsichtlich Arbeitstheilung verschiedene Kirchen Furcht vor dem Socialismus. Beide Richtungen haben etwas Unnatürliches den Unglauben die intellektuelle Pyramide, an den Genius, d.h. Widerwillen gegen Stärkung und Verengerung. 18 [3] Absicht der Natur zur Vollkommenheit zu kommen. Der Genius ist insofern zeitlos. Das Ziel ist immer erreicht. Das Ziel der Bildung ist die Unterstützung der Natur für diese zeitlose Vollkommenheit: etwa wie die Medezin Unterstützung des Gesundheitstrebens der Natur ist. Das Kennzeichen dieser höchsten Bildung ist Nutzlosigkeit vom Standpunkte des Egoismus, der Zeitlichkeit. 277
Dagegen erwirbt sich durch seine Genien ein Volk das Recht zur Existenz: höchster Nutzen. Aufgabe der Bildung: den Genius zu vollenden, seine Bahnen zu ebnen, sein Wirken möglich zu machen durch Ehrfurcht, ihn ausfindig zu machen. Damit ist vom Nichtgenius als Bildungsziel verlangt 1. Gehorsam und Bescheidenheit 2. Richtige Erkenntniß über die Enge jedes Berufes 3. Dienstbarkeit für den Genius, Material sammeln. Das Ganze "Organisation der intellektuellen Kasten". Damit Hebammendienste für die Geburt des Genius. Höchste und schwierige Arbeit! Die drei hesiodischen Möglichkeiten. Speziell: Wiederaufnahme der Wiedererweckung des Alterthums, also der Reformationsbewegung. 18 [4] Der ist fürwahr der rechte Mann Der selber sich berathen kann. Auch der soll unser Lob empfahn, Der zwar sich nicht berathen kann, Doch gerne guten Rat nimmt an. Doch wer sich nicht berathen kann, Auch fremden Rath nicht gern nimmt an, O weh! Das ist ein schlechter Mann! Verloren ist er und verthan! 18 [5] 1. Scenerie. Einleitung. Pistolen. (Duell.) 2. Gymnasium. 3. Realschule.
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4. Volksschule. 5. Universität. 6. Die "Häutung". Sternschnuppe. Pistolen. Gelächter. Kampf in der Höhle. Zukunftstraum. 18 [6] Zwei Freunde. Bei Rolandseck kennen gelernt. Versprechen, alle Jahre einmal dort zu sein. Gerade diesen Tag mit Verbindung. Viel Mühe, losgemacht. 18 [7] Der Egoismus des Gelehrten. Die verfeinerte Neubegier Unterhaltungssucht des wissenschaftlichen Menschen. Prüfung des Scharfsinns Man hat sie zeitig gewöhnt, an gewisse Dinge zu denken, das thun sie dann ihr Leben lang, besonders wenn damit auch ein Broderwerb verbunden ist. 18 [8] Man denke daran, wie selten der ehrliche Mensch ist: wie selten wird die reine Wahrheitsliebe in höheren Dingen sein! 18 [9] Der Philosoph ist ein Wunder. Sein Ziel kann jedenfalls nicht die Kultur sein. Aber ebenso steht es mit dem Kunstwerk. Beide haben doch ein Verhältniß zur Kultur. Sie - - 18 [10] Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten. Sechs öffentliche Vorträge von
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F. N. Anfang des Jahres 1872. 18 [11] Erster Vortrag 16. Januar. Zweiter Vortrag 6. Februar. Dritter Vortrag 27. Februar Vierter Vortrag 5. März Fünfter Vortrag 23. März Sechster Vortrag Erste Rede gehalten am sechszehnten Januar. Zweite Rede gehalten am sechsten Februar. 18 [12] Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten. Sechs öffentliche Reden, gehalten im Auftrage der akademischen Gesellschaft in Basel von Fr. N. 18 [13] An die allgemeine deutsche Philologen- und Lehrerversammlung in Leipzig. Am zweiundzwanzigsten Mai 1872. [Dokument: Heft] [Sommer 1872 - Anfang 18731 19 [1] 280
In einer rechten Höhe kommt alles zusammen und über eins - die Gedanken des Philosophen, die Werke des Künstlers und die guten Thaten. Es ist zu zeigen, wie das ganze Leben eines Volkes unrein und verworren das Bild widerspiegelt, das seine höchsten Genien bieten: diese sind nicht das Produkt der Masse, aber die Masse zeigt ihre Reperkussion. Oder welches ist das Verhältniß? Es giebt eine unsichtbare Brücke von Genius zu Genius - das ist die wahrhaft reale "Geschichte" eines Volkes, alles andere ist schattenhafte unzählige Variation in schlechterem Stoffe, Kopien ungeübter Hände. Auch die ethischen Kräfte einer Nation zeigen sich in ihren Genien. 19 [2] Charakteristik der nachsokratischen Moralen - alle eudämonisch und individual. 19 [3] Die Welt zu umschreiben, in der der Philosoph und der Künstler zu Hause sind. 19 [4] Vorrede an Schopenhauer - Eingang zur Unterwelt - ich habe dir manches schwarze Schaf geopfert - worüber sich die andren Schafe beschweren. 19 [5] In der herrlichen Kunstwelt - wie philosophirten sie! Wenn eine Vollendung des Lebens erreicht wird, hört dann das Philosophiren auf? Nein: jetzt beginnt erst das wahre Philosophiren. Ihr Urtheil über das Dasein besagt mehr, weil es die relative Vollendung und alle Kunstschleier und Illusionen vor sich hat. 19 [6] Die Alten waren sehr viel tugendhafter als wir, weil sie so viel weniger Mode hatten. Die tugendhafte Energie ihrer Künstler! 19 [7] Gegensatz zur Presse - die öffentlich meinende - wir die öffentlich belehrenden. Wir haben die unsterblichen Sorgen des Volks - wir müssen frei sein von den momentanen, zeitlichen. Bild der Aufgabe der neueren philosophischen Generation. Die Forderung, sich selbst zu überwinden, d. h. das saeculare, den Zeitgeist. 281
19 [8] Charakteristik Schopenhauers: das Einsame, in der höchsten Gesellschaft. 19 [9] Jene griechischen Philosophen überwanden den Zeitgeist, um den Geist des Hellenischen nachempfinden zu können: sie drücken das Bedürfniß nach der Lösung ewiger Fragen aus. 19 [10] In der Welt der Kunst und der Philosophie baut der Mensch an einer "Unsterblichkeit des Intellekts". Der Wille allein ist unsterblich - damit zu vergleichen, wie elend es mit jener Unsterblichkeit des Intellekts, durch die Bildung, aussieht, die Menschenhirne voraussetzt: man sieht, in welcher Linie dies für die Natur kommt. - Wie kann aber das Genie zugleich das höchste Ziel der Natur sein! Das Weiterleben durch Historie und das Weiterleben durch Zeugung. Hier Plato's Erzeugen im Schönen - also zur Geburt des Genius ist Überwindung der Historie nöthig, sie ist in die Schönheit zu tauchen und zu aeternisiren. Gegen die ikonische Geschichtsschreibung! Sie hat ein barbarisirendes Element in sich. Sie hat nur von dem Großen und Einzigen zu reden, von dem Vorbild. Damit ist die Aufgabe der neuen philosophischen Generation erfaßt. Alle die großen Griechen aus der Zeit der Tragödie haben nichts vom Historiker an sich: - - 19 [11] Der Erkenntnißtrieb ohne Auswahl steht gleich dem wahllosen Geschlechtstrieb - Zeichen der Gemeinheit 19 [12] Die Aufgabe des Philosophen, alle die verzeitlichenden Elemente mit Bewußtsein zu bekämpfen - und darum die unbewußte Aufgabe der Kunst zu unterstützen. In beiden erreicht ein Volk die Einheit aller seiner Eigenschaften und ihre höchste Schönheit. Die jetzige Aufgabe den Wissenschaften gegenüber. 19 [13] Der Philosoph des tragischen Zeitalters. 282
Der Philosoph steht nicht so ganz abseits, wie eine Ausnahme, vom Volk: der Wille will auch mit ihm etwas. Die Absicht ist die gleiche, wie bei der Kunst - seine eigne Verklärung und Erlösung. Der Wille strebt nach Reinheit und Veredelung: von einer Stufe zur Andern. Die Daseinsform als Bildung und Kultur - der Wille auf den Köpfen der Menschen. 19 [14] Der beschränkte Erkenntnißtrieb. Die sieben Weisen - die episch-apollinische Stufe der Philosophie. 19 [15] Die Triebe, welche die Griechen von andern Völkern unterscheiden, kommen in ihrer Philosophie zum Ausdruck. Das aber sind gerade ihre klassischen Triebe. Wichtig ihre Art mit der Historie umzugehen. Die allmähliche Entartung des Historikerbegriffs im Alterthum - die Auflösung in die neugierige Allwisserei. 19 [16] Aufgabe: Die Teleologie des philosophischen Genius zu erkennen. Ist er wirklich nur ein zufällig erscheinender Wanderer? Jedenfalls hat er, wenn es ein rechter ist, nichts mit der zufälligen politischen Lage eines Volks zu thun, sondern seinem Volk gegenüber ist er zeitlos. Aber deshalb nicht mit diesem Volke zufällig verbunden - das Spezifische des Volkes kommt hier als Individuum zu Tage und zwar der Volkstrieb als Welttrieb erklärt, zur Welträthsellösung benutzt. Der Natur gelingt es einmal, ihre Triebe durch Separation rein anzuschauen. Der Philosoph ist ein Mittel, im rastlosen Strome zur Ruhe zu kommen, mit Verachtung der unendlichen Vielheit sich der bleibenden Typen bewußt zu werden. 19 [17] Der Philosoph ist ein Sich-offenbaren der Werkstätte der Natur - Philosoph und Künstler reden von den Handwerksgeheimnissen der Natur. Über dem Getümmel der Zeitgeschichte lebt die Sphäre des Philosophen und des Künstlers, abseits der Noth. Der Philosoph als Hemmschuh im Rade der Zeit. Es sind die Zeiten großer Gefahr, in denen die Philosophen erscheinen - dann wenn das Rad immer schneller rollt - sie und die Kunst treten an Stelle des verschwindenden Mythus. Sie werden aber weit vorausgeworfen, weil die Aufmerksamkeit der Zeitgenossen erst langsam ihnen sich zuwendet. Ein Volk, das sich seiner Gefahren bewußt wird, erzeugt den Genius. 283
19 [18] Freiheit vom Mythus. Thales. Ein Element als Proteus! Das Tragische des Daseins. Anaximander. Das künstlerische Spiel des Kosmos. Heraclit. Die ewige Logik. Parmenides. Der Wortkampf. Das Erbarmen mit allem Lebenden. Empedocles. Der Sklave. Maaß und Zahl. Pythagoras. Democrit. (Der Wettkampf. Heraclit.) (Liebe und Bildung. Socrates.) Der νουζ kleinste Annahme. Anaxagoras. 19 [19] Wir dulden nicht jeden, daß er uns etwas vorphilosophirt, z. B. nicht David Strauss, dem nicht zu helfen ist, wenn er aus seiner spezifisch historisch-kritischen Luft heraustritt. 19 [20] Nach Sokrates ist das allgemeine Wohl nicht mehr zu retten, darum die individualisirende Ethik, die die Einzelnen retten will. 19 [21] Der maaßlose unwählerische Erkenntnißtrieb, mit historischem Hintergrunde, ist ein Zeichen, daß das Leben alt geworden ist: die Gefahr ist groß, daß die Individuen schlecht werden, deshalb werden ihre Interessen gewaltsam an Erkenntnißobjekte gefesselt, gleichviel welche. Die allgemeinen Triebe sind so matt geworden und halten das Individuum nicht mehr im Zaume. Der Germane hat alle seine Beschränktheiten durch die Wissenschaften verklärt, indem er sie übertrug: Treue Bescheidenheit Selbstbeschränkung Fleiß Reinlichkeit Ordnungsliebe, es sind Familientugenden: aber auch die Formlosigkeit, die ganze Unlebendigkeit des Lebens, die Kleinlichkeit - sein unbeschränkter Erkenntnißtrieb ist die Folge eines dürftigen Lebens: er würde, ohne ihn, kleinlich und boshaft und ist es oft, trotz ihrer. Jetzt ist uns eine höhere Form des Lebens gegeben, ein Hintergrund der Kunst - jetzt ist auch die nächste Folge ein wählerischer Erkenntnißtrieb d. h. Philosophie. Schreckliche Gefahr: daß das amerikanische-politische Getreibe und die haltlose Gelehrtenkultur sich verschmelzen. 19 [22] 284
Die Schönheit tritt bei dem wählerischen Erkenntnißtrieb wieder als Macht hervor. Höchst merkwürdig, daß Schopenhauer schön schreibt! Sein Leben hat auch mehr Stil als das der Universitätslehrer - aber verkümmerte Umgebungen! Jetzt weiß kein Mensch, wie ein gutes Buch aussieht, man muß es vormachen: sie verstehen die Composition nicht. Die Presse ruinirt dazu immer mehr das Gefühl. Das Erhabene festhalten zu können! 19 [23] Gegen die ikonische Geschichtsschreibung und gegen die Naturwissenschaften sind ungeheure künstlerische Kräfte nöthig. Was soll der Philosoph? Inmitten der ameisenhaften Wimmelei das Problem des Daseins, überhaupt die ewigen Probleme zu betonen. Der Philosoph soll erkennen, was noth thut, und der Künstler soll es schaffen. Der Philosoph soll am stärksten das allgemeine Leid nachempfinden: wie die alten griechischen Philosophen jeder eine Noth ausdrückt: dort, in die Lücke hinein stellt er sein System. Er baut seine Welt in diese Lücke hinein. Es sind alle Mittel zu sammeln, durch die es möglich ist den Menschen zur Ruhe zu retten: bei absterbenden Religionen! Den Unterschied in der Wirkung der Philosophie und der Wissenschaft klar zu machen: und ebenso den Unterschied in der Entstehung. 19 [24] Es handelt sich nicht um eine Vernichtung der Wissenschaft, sondern um eine Beherrschung. Sie hängt nämlich in allen ihren Zielen und Methoden durch und durch ab von philosophischen Ansichten, vergißt dies aber leicht. Die beherrschende Philosophie hat aber auch das Problem zu bedenken, bis zu welchem Grade die Wissenschaft wachsen darf: sie hat den Werth zu bestimmen! 19 [25] Nachweis der barbarisirenden Wirkungen der Wissenschaften. Sie verlieren sich leicht in den Dienst der "praktischen Interessen". 19 [26] Werth Schopenhauers, weil er naive allgemeine Wahrheiten in's Gedächtniß ruft: er wagt es, sogenannte "Trivialitäten" schön auszusprechen. Wir haben keine edle Popularphilosophie, weil wir keinen edlen Begriff von peuple publicum haben. Unsere Popularphilosophie ist für den peuple, nicht für das Publikum. 19 [27] 285
Wenn wir noch je eine Kultur erringen sollen, so sind unerhörte Kunstkräfte nöthig, um den unbeschränkten Erkenntnißtrieb zu brechen, um eine Einheit wieder zu erzeugen. Höchste Würde des Philosophen zeigt sich hier, wo er den unbeschränkten Erkenntnißtrieb concentrirt, zur Einheit bändigt. So sind die älteren griechischen Philosophen zu verstehen, sie bändigen den Erkenntnißtrieb. Wie kam es, daß nach Sokrates er allmählich aus der Hand fiel? Zunächst sehen wir selbst bei Sokrates und Schule dieselbe Tendenz: er soll eingeschränkt werden durch die individuelle Rücksicht auf Glücklich-Leben. Es ist eine letzte niedere Phase. Ehemals handelte es sich nicht um Individuen, sondern um die Hellenen. 19 [28] Die großen alten Philosophen gehören in das Allgemeinben des Hellenischen: nach Sokrates bilden sich Sekten. Allmählich verliert die Philosophie die Zügel der Wissenschaft aus den Händen. Im Mittelalter übernimmt die Theologie die Zügel der Wissenschaft: jetzt gefährliche Emancipationszeit. Die allgemeine Wohlfahrt will wieder eine Bändigung und dadurch zugleich Erhebung und Concentration. Das laisser aller unserer Wissenschaft, wie bei gewissen nationalökonomischen Dogmen: man glaubt an einen unbedingt heilsamen Erfolg. Kant hat in gewissem Sinne mit schädlich eingewirkt: denn der Glaube an die Metaphysik ist verloren gegangen. Auf sein "Ding an sich" wird niemand rechnen können, als ob es ein bändigendes Princip sei. Jetzt begreifen wir die merkwürdige Erscheinung Schopenhauer's: er sammelt alle Elemente, die zur Beherrschung der Wissenschaft noch taugen. Er kommt auf die tiefsten Urprobleme der Ethik und der Kunst, er wirft die Frage vom Werthe des Daseins auf. Wunderbare Einheit Wagner's und Schopenhauer's! Sie entstammen dem gleichen Triebe. Die tiefsten Eigenschaften des germanischen Geistes rüsten sich hier zum Kampfe: wie bei den Griechen. Wiederkehr der Besonnenheit. 19 [29] Schilderung der ungeheuren Gefahr der Verweltlichung im 6ten und 5ten Jahrhundert: die Üppigkeit der Kolonien, der Reichthum, die Sinnlichkeit. 19 [30] Das Problem: die Kultur zu unserer Musik zu finden 19 [31] Es ist die Methode zu bezeichnen, wie der philosophische Mensch zu leben hat.
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19 [32] Zur Charakteristik der Oberflächlichkeit unserer Kultur: David Strauß, unsere Theater, unsere Dichter, unsere Kritik, unsere Schulen. 19 [33] Meine Aufgabe: den inneren Zusammenhang und die Nothwendigkeit jeder wahren Kultur zu begreifen. Die Schutz- und Heilmittel einer Kultur, das Verhältniß derselben zum Volksgenius. Die Consequenz jeder großen Kunstwelt ist eine Kultur: aber oft kommt es, durch feindselige Gegenströmungen, nicht zu diesem Ausklingen eines Kunstwerks. Die Philosophie soll den geistigen Höhenzug durch die Jahrhunderte festhalten: damit die ewige Fruchtbarkeit alles Großen. Für die Wissenschaft giebt es kein Groß und Klein - aber für die Philosophie! An jenem Satze mißt sich der Werth der Wissenschaft. Das Festhalten des Erhabenen! Welcher außerordentliche Mangel an Büchern in unserer Zeit, die eine heroische Kraft athmen! - Selbst Plutarch wird nicht mehr gelesen! 19 [34] Kant sagt (2. Vorrede zur Kritik): "ich mußte das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen, und der Dogmatismus der Metaphysik, das ist das Vorurtheil, in ihr ohne Kritik der reinen Vernunft fortzukommen, ist die wahre Quelle alles der Moralität widerstrebenden Unglaubens, der jederzeit gar sehr dogmatisch ist". Sehr wichtig! Eine Kulturnoth hat ihn getrieben! Sonderbarer Gegensatz "Wissen und Glauben"! Was hätten die Griechen davon gedacht! Kant kannte keinen andern Gegensatz! Aber wir! Eine Kulturnoth treibt Kant: er will ein Gebiet vor dem Wissen retten: dorthin legt die Wurzeln alles Höchsten und Tiefsten, Kunst und Ethik - Schopenhauer. Andrerseits sammelt er alles Wissenswürdige für alle Zeit - die ethische Volks- und Menschenweisheit (Standpunkt der 7 Weisen, der griechischen popularphilosophen). Er zersetzt die Elemente jenes Glaubens und zeigt, wie wenig gerade der christliche Glaube dem tiefsten Bedürfniß genügt: Frage nach dem Werthe des Daseins! Der Kampf des Wissens mit dem Wissen! Schopenhauer macht selbst auf das uns unbewußte Denken und Wissen aufmerksam. Die Bändigung des Erkenntnißtriebes - ob zu Gunsten einer Religion? Oder einer künstlerischen Kultur, soll sich nun zeigen; ich stehe auf der zweiten Seite.
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Ich setze hinzu die Frage nach dem Werthe des historischen ikonischen Erkennens, auch der Natur. Bei den Griechen ist es die Bändigung zu Gunsten einer künstlerischen Kultur (und Religion?), die Bändigung, welche ein volles Entfesseltsein verhüten will: wir wollen den ganz entfesselten wieder zurückbändigen. 19 [35] Der Philosoph der tragischen Erkenntniß. Er bändigt den entfesselten Wissenstrieb, nicht durch eine neue Metaphysik. Er stellt keinen neuen Glauben auf. Er empfindet den weggezogenen Boden der Metaphysik tragisch und kann sich doch an dem bunten Wirbelspiele der Wissenschaften nie befriedigen. Er baut an einem neuen Leben : der Kunst giebt er ihre Rechte wieder zurück. Der Philosoph der desperaten Erkenntniß wird in blinder Wissenschaft aufgehen: Wissen um jeden Preis. Für den tragischen Philosophen vollendet es das Bild des Daseins, daß das Metaphysische nur anthropomorphisch erscheint. Er ist nicht Skeptiker. Hier ist ein Begriff zu schaffen: denn Skepsis ist nicht das Ziel. Der Erkenntnißtrieb, an seine Grenzen gelangt, wendet sich gegen sich selbst, um nun zur Kritik des Wissens zu schreiten. Die Erkenntniß im Dienste des besten Lebens. Man muß selbst die Illusion wollen - darin liegt das Tragische. 19 [36] Der letzte Philosoph - es können ganze Generationen sein. Er hat nur zum Leben zu helfen. "Der letzte", natürlich relativ. Für unsere Welt. Er beweist die Nothwendigkeit der Illusion, der Kunst und der das Leben beherrschenden Kunst. Es ist für uns nicht möglich, wieder eine solche Reihe von Philosophen zu erzeugen, wie Griechenland zur Zeit der Tragödie. Ihre Aufgabe erfüllt jetzt ganz allein die Kunst. Nur als Kunst ist noch so ein System möglich. Vom jetzigen Standpunkt aus fällt auch jene ganze Periode der griechischen Philosophie mit ins Bereich ihrer Kunst. Die Bändigung der Wissenschaft geschieht jetzt nur noch durch die Kunst. Es handelt sich um Werthurtheile über das Wissen und Vielwissen. Ungeheure Aufgabe und Würde der Kunst in dieser Aufgabe! Sie muß alles neu schaffen und ganz allein das Leben neu gebären! Was sie kann, zeigen uns die Griechen: hätten wir diese nicht, so wäre unser Glaube chimärisch. Ob eine Religion hier hinein, in das Vacuum hinein, sich bauen kann, hängt von ihrer Kraft ab. Wir sind der Kultur zugekehrt: das "Deutsche" als erlösende Kraft! Jedenfalls müßte die Religion, welche es könnte, eine ungeheure Liebeskraft haben: an der zerbricht auch das Wissen, wie es an der Sprache der Kunst zerbricht.
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Aber vielleicht vermag die Kunst sogar sich eine Religion zu schaffen, den Mythus zu gebären? So bei den Griechen. 19 [37] Die jetzt vernichteten Philosophien und Theologien wirken aber noch immer fort in den Wissenschaften: auch wenn die Wurzeln abgestorben sind, ist hier in den Zweigen noch eine Zeitlang Leben. Das Historische ist besonders als Gegenkraft gegen den theologischen Mythus, aber auch gegen die Philosophie, so breit entwickelt: das absolute Erkennen feiert hier und in den mathematischen Naturwissenschaften seine Saturnalien, das Geringste, was hier wirklich ausgemacht werden kann, gilt höher als alle metaphysischen Ideen. Der Grad der Sicherheit bestimmt hier den Werth, nicht der Grad der Unentbehrlichkeit für Menschen. Es ist der alte Kampf von Glauben und Wissen. Es sind dies barbarische Einseitigkeiten. Jetzt kann die Philosophie nur noch das Relative aller Erkenntniß betonen und das Anthropomorphische, so wie die überall herrschende Kraft der Illusion. Sie kann damit den entfesselten Erkenntnißtrieb nicht mehr hemmen: der immer mehr nach dem Grade der Sicherheit urtheilt und immer kleinere Objekte sucht. Während jeder Mensch zufrieden ist, wenn ein Tag vorbei ist, wühlt gräbt und combinirt später der Historiker nach diesem Tag, um ihn der Vergessenheit zu entreißen: das Kleine soll auch ewig sein, weil es erkennbar ist. Für uns gilt nur der aesthetische Maaßstab: das Große hat ein Recht auf Historie, aber auf keine ikonische, sondern eine produktive erregende Geschichtsmalerei. Wir lassen die Gräber ruhn: aber bemächtigen uns des ewig Lebendigen. Lieblingsthema der Zeit: die großen Wirkungen des Kleinsten. Das historische Wühlen hat z. B. als Ganzes etwas Großartiges: es ist wie die dürftige Vegetation, die allmählich die Alpen zerreibt. Wir sehen einen großen Trieb, der kleine Werkzeuge, aber großartig viele hat. Man könnte dagegen stellen: die kleinen Wirkungen des Großen! wenn es nämlich durch Individuen vertreten wird. Es ist schwer zu fassen, oft stirbt die Tradition weg, der Haß dagegen ist allgemein, sein Werth beruht auf der Qualität, die hat immer wenig Schätzer. Das Große wirkt nur auf das Große: wie die Fackelpost im Agamemnon nur von Höhe zu Höhe springt. Es ist die Aufgabe einer Kultur, daß das Große in einem Volke nicht als Einsiedler erscheint, noch als Verbannter. Deshalb wollen wir reden, was wir empfinden: es ist nicht unsere Sache zu warten, bis der matte Abglanz dessen, was mir hell erscheint, auch bis in die Thäler dringt. Zuletzt nämlich sind die großen Wirkungen des Kleinsten eben die Nachwirkungen der Großen; sie haben eine Lawine in's Rollen gebracht. Nun haben wir Mühe, sie aufzuhalten. 19 [38] Das Historische und die Naturwissenschaften waren nöthig gegen das Mittelalter: das Wissen gegen den Glauben. Wir richten jetzt gegen das Wissen die Kunst : Rückkehr zum Leben! Bändigung des Erkenntnißtriebes! Stärkung der moralischen und ästhetischen Instinkte! Dies erscheint uns als Rettung des deutschen Geistes, damit er wieder Retter sei! 289
Das Wesen dieses Geistes ist uns in der Musik aufgegangen. Wir verstehen jetzt, wie die Griechen ihre Kultur von der Musik abhängig machten. 19 [39] Die Schöpfung einer Religion würde darin liegen, daß einer für sein in das Vacuum hineingestelltes mythisches Gebäude Glauben erweckt, d. h. daß er einem außerordentlichen Bedürfnisse entspricht. Es ist unwahrscheinlich, daß das je wieder geschieht, seit der Kritik der reinen Vernunft. Dagegen kann ich mir eine ganz neue Art des Philosophen-Künstlers imaginiren, der ein Kunstwerk hinein in die Lücke stellt, mit ästhetischem Werthe. Das Gutsein und das Mitleiden ist glücklicherweise unabhängig vom Verderben und Gedeihen einer Religion: dagegen ist das Guthandeln sehr bestimmt durch religiöse Imperative. Die weitaus größte Masse der guten pflichtmäßigen Handlungen hat keinen ethischen Werth, sondern ist erzwungen. Die praktische Moralität wird bei allem Zusammenbrechen einer Religion sehr leiden. Die strafende und belohnende Metaphysik scheint unentbehrlich. Wenn man die Sitte, die mächtige Sitte schaffen kann! Damit hat man auch die Sittlichkeit. Die Sitte aber durch Vorangehn einzelner mächtiger Persönlichkeiten gebildet. Auf erwachende Güte in der Masse der Besitzenden rechne ich nicht, wohl aber könnte man sie zu einer Sitte bringen, zu einer Pflicht gegen das Herkommen. Wenn die Menschheit, was sie bis jetzt auf den Bau von Kirchen, auf Erziehung und Schulen verwendet, wenn sie den Intellekt, den sie auf Theologie, jetzt auf Erziehung richtet. 19 [40] Die freidichtende Art, wie die Griechen mit ihren Göttern umgiengen! Wir sind an den Gegensatz von historischer Wahrheit und Unwahrheit zu sehr gewöhnt. Es ist komisch, daß die christlichen Mythen durchaus historisch sein sollen! 19 [41] Das Problem einer Kultur selten richtig gefaßt. Ihr Ziel ist nicht das größtmögliche Glück eines Volkes, auch nicht die ungehinderte Entwicklung aller seiner Begabungen: sondern in der richtigen Proportion dieser Entwicklungen zeigt sie sich. Ihr Ziel zeigt über das Erdenglück hinaus: die Erzeugung großer Werke ist ihr Ziel. In allen griechischen Trieben zeigt sich eine bändigende Einheit: nennen wir sie den hellenischen Willen. Jeder dieser Triebe versucht allein in's Unendliche zu existiren. Die alten Philosophen versuchen aus ihnen die Welt zu construiren.
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Die Kultur eines Volkes offenbart sich in der einheitlichen Bändigung der Triebe dieses Volkes: die Philosophie bändigt den Erkenntnißtrieb, die Kunst den Formentrieb und die Ekstasis, die αγαπη den ερωζ usw. Die Erkenntniß isolirt: die älteren Philosophen stellen isolirt dar, was die griechische Kunst zusammen erscheinen läßt. Der Inhalt der Kunst und der alten Philosophie fällt zusammen, aber als Philosophie sehen wir die isolirten Bestandtheile der Kunst verwendet, um den Erkenntnißtrieb zu bändigen. Das muß sich auch bei den Italiänern zeigen lassen: der Individualismus im Leben und der Kunst. 19 [42] Die Griechen als Entdecker und Reisende und Kolonisatoren. Sie verstehen zu lernen: ungeheure Aneignungskraft. Unsre Zeit soll nicht glauben, in ihrem Wissenstrieb so viel höher zu stehen: nur wurde bei den Griechen alles Leben! Bei uns bleibt es Erkenntniß! 19 [43] Wenn es auf den Werth der Erkenntniß ankommt, anderseits ein schöner Wahn, wenn nur an ihn geglaubt wird, ganz den gleichen Werth wie eine Erkenntniß hat, so sieht man, daß das Leben Illusionen braucht, d. h. für Wahrheiten gehaltene Unwahrheiten. Es braucht den Glauben an die Wahrheit, aber es genügt dann die Illusion, d. h. die "Wahrheiten" beweisen sich durch ihre Wirkungen, nicht durch logische Beweise, Beweise der Kraft. Das Wahre und das Wirkende gilt für identisch, man beugt sich der Gewalt auch hier. Wie kommt es dann, daß ein logisches Wahrheitsbeweisen überhaupt stattfand? Im Kampf von "Wahrheit" und "Wahrheit" suchen sie die Alliance der Reflexion. Alles wirkliche Wahrheitsstreben ist in die Welt gekommen durch den Kampf um eine heilige Überzeugung, durch das παϑ οζ des Kämpfens: sonst hat der Mensch kein Interesse für den logischen Ursprung. 19 [44] Zweck, die Teleologie des Philosophen inmitten der Kultur zu bestimmen. Wir fragen die Griechen, in der Zeit, in der eine Einheit in ihrer Kultur war. Wichtig: es giebt auch für die reichste Kultur die Philosophie. Wozu? Wir fragen die großen Philosophen. Ach, sie sind zu Grunde gegangen! Wie leichtfertig verfährt die Natur! 19 [45] Wie verhält sich der philosophische Genius zur Kunst? Aus dem direkten Verhalten ist wenig zu lernen. Wir müssen fragen: was ist an seiner Philosophie Kunst? Kunstwerk? Was bleibt, wenn sein System als Wissenschaft vernichtet ist? Gerade dieses Bleibende aber muß es sein, was den Wissenstrieb bändigt, also das Künstlerische daran. Warum ist eine solche Bändigung nöthig? Denn wissenschaftlich betrachtet, ist es eine Illusion, eine Unwahrheit, die den Trieb nach Erkenntniß täuscht und nur vorläufig befriedigt. Der Werth der Philosophie in dieser Bändigung liegt nicht in der Erkenntnißsphäre, sondern in der Lebenssphäre: der Wille zum Dasein benutzt die Philosophie zum Zwecke einer höheren Daseinsform. 291
Es ist nicht möglich, daß Kunst und Philosophie sich gegen den Willen richten könnten: aber ebenfalls die Moral ist in seinem Dienste. Allherrschaft des Willens. Eine der zartesten Daseinsformen das relative Nirvana. 19 [46] Es ist alles so bestimmt wie möglich zu sagen und jeder terminus, auch "Wille", bei Seite zu lassen. 19 [47] Die Schönheit und die Großartigkeit einer Weltconstruktion (alias Philosophie) entscheidet jetzt über ihren Werth - d. h. sie wird als Kunst beurtheilt. Ihre Form wird sich wahrscheinlich verändern! Die starre mathematische Formel (wie bei Spinoza) - die auf Göthe einen so beruhigenden Eindruck machte, hat eben nur noch als ästhetisches Ausdrucksmittel ein Recht. 19 [48] Der Satz ist festzustellen - wir leben nur durch Illusionen - unser Bewußtsein streift die Oberfläche. Vieles ist vor unsern Blicken verborgen. Es ist auch nie zu fürchten, daß der Mensch sich ganz erkennt, daß er in jedem Augenblicke alle die Gesetze der Hebelkräfte, der Mechanik, alle die Formeln der Baukunst, der Chemie, die zu seinem Leben nöthig sind, durchschaue. Wohl aber ist möglich, daß durch Schema alles erkannt werde. Das ändert für unser Leben fast nichts. Zudem sind es alles nur Formeln für absolut unerkennbare Kräfte. 19 [49] Wir leben allerdings durch die Oberflächlichkeit unseres Intellekts in einer fortwährenden Illusion: d. h. wir brauchen, um zu leben, in jedem Augenblicke die Kunst. Unser Auge hält uns an den Formen fest. Wenn wir es aber selbst sind, die allmählich uns dies Auge anerzogen haben, so sehen wir in uns selbst eine Kunstkraft walten. Wir sehen also in der Natur selbst Mechanismen gegen das absolute Wissen: der Philosoph erkennt die Sprache der Natur und sagt: "wir brauchen die Kunst" und "Wir bedürfen nur eines Theils des Wissens". 19 [50] Jede Art von Kultur beginnt damit, daß eine Menge von Dingen verschleiert werden. Der Fortschritt des Menschen hängt an diesem Verschleiern - das Leben in einer reinen und edlen Sphäre und das Abschließen der gemeineren Reizungen. Der Kampf gegen die "Sinnlichkeit" durch die Tugend ist wesentlich ästhetischer Art. Wenn wir die großen Individuen als unsere Leitsterne gebrauchen, so verschleiern wir viel an ihnen, ja wir verhüllen alle die Umstände und Zufälle, die ihr Entstehen möglich machen, wir isoliren sie uns, um sie zu verehren. Jede Religion enthält so ein Element: die Menschen unter göttlicher Obhut, als etwas unendlich Wichtiges. Ja, alle Ethik beginnt damit, daß wir das einzelne Individuum unendlich wichtig nehmen - anders als die Natur, die grausam und spielend verfährt. Wenn wir besser und edler sind, so haben es die isolirenden Illusionen gemacht! Dem stellt nun die Naturwissenschaft die absolute Naturwahrheit entgegen: die höhere Physiologie wird freilich die künstlerischen Kräfte schon in unserem Werden begreifen, ja nicht nur in dem des Menschen, sondern des Thieres: sie wird sagen, daß mit dem Organischen auch das Künstlerische beginnt. 292
19 [51] Die Konsequenzen der Kantischen Lehre. Ende der Metaphysik als Wissenschaft. Die barbarisirende Einwirkung des Wissens. Die Bändigung des Wissens als Trieb der Kunst. Wir leben nur durch diese Illusionen der Kunst. Jede höhere Kultur ist es durch diese Bändigung. Die philosophischen Systeme der älteren Griechen. Es offenbart sich dieselbe Welt, die die Tragödie schuf. Hier begreifen wir die Einheit der Philosophie und der Kunst zum Zweck der Kultur. Der ästhetische Begriff des Großen und Erhabenen: dazu zu erziehn die Aufgabe. Die Kultur abhängig von der Art, wie man "das Große" definirt. 19 [52] Das absolute Wissen führt zum Pessimismus: die Kunst ist das Heilmittel dagegen. Die Philosophie ist zur Bildung unentbehrlich, weil sie das Wissen in eine künstlerische Weltconception hineinzieht und dadurch veredelt. 19 [53] Die Sorge, daß das ewige Werk der Menschheit nicht vorenthalten werde und nicht zu Grunde gehe, bestimmte Schopenhauer durchaus: er kannte das Schicksal Heraklits, und seine erste Auflage wurde eingestampft! Er hatte die Vorsorge eines Vaters: alle die unangenehmen Züge seines Wesens, sein Umgang mit Litteraten wie Frauenstädt ist hierher zu erklären. Die Ruhmsucht ist hier ein vorsorglicher Instinkt zu Gunsten der Menschheit: er kannte den Lauf der Welt. Man kann sich gewiß noch eine größere Erhabenheit über die Menschheit denken: dann hätte er aber nicht geschrieben! Er sehnte sich nach dem Weiterzeugen im Schönen! 19 [54] Die chemischen Verwandlungen in der unorganischen Natur sind vielleicht auch künstlerische Prozesse, mimische Rollen zu nennen, die eine Kraft spielt: es giebt aber mehrere! die sie spielen kann. 19 [55] Denen, welche nur eine gelehrte Befriedigung dabei empfinden wollen, habe ich es nicht leicht gemacht, weil ich auf sie zuletzt gar nicht rechnete. Die Citate fehlen.
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19 [56] Mit dem Eigenthum weiser Sprüche nahm es das Zeitalter der sieben Weisen nicht genau, aber sehr wichtig, wenn erst Jemand einen Spruch annektirte. 19 [57] Die Chronologie der griechischen Philosophen. Rhythmus. Choephoren. 19 [58] Die Philologen dieser Zeit haben sich als unwürdig erwiesen, mich und mein Buch zu sich rechnen zu dürfen: es bedarf kaum der Versicherung, daß auch in diesem Falle ich es ihnen anheim gebe, ob sie etwas lernen wollen oder nicht, fühle mich aber nicht geneigt, ihnen irgendwie entgegenzukommen. Das was sich jetzt "Philologie" nennt und was ich mit Absicht nur neutral bezeichne, möge auch diesmal mein Buch übersehen: denn es ist männlicher Natur und taugt nicht für Castraten. Denen geziemt vielmehr am Conjekturenwebstuhl zu sitzen. 19 [59] Über die ∆ταδοχαι und ihren Ursprung (in der Geschichte der älteren Philosophen). Apollodor bekämpft sie: wer hat sie aufgestellt? 19 [60] Die Entstehung philosophischer Secten im griechischen Alterthum. Aus der tiefsten Umwandlung des hellenischen Geistes. Anfang mit den Pythagoreern, von denen lernt es Plato. Die Akademie giebt den Typus an. Es sind Oppositionsanstalten gegen das hellenische Leben. Die früheren Philosophen sind Isolirungen einzelner Triebe des hellenischen Wesens. Wir erleben den Übergang des philosophischen Sektengeistes in das Kulturbewußtsein, Übergang der Philosophie in die Kultur. Dort Scheidung der Philosophie und der Kultur. Die Oberflächlichkeit aller nachsokratischen Ethik! Die tiefe hellenische ältere Ethik hat sich nicht In Worten und Begriffen darstellen lassen. 19 [61]
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Heraklit in seinem Hasse gegen das Dionysische Element, auch gegen Pythagoras, auch gegen das viele Wissen. Er ist ein apollinisches Produkt und redet Orakel, deren Wesen man sich und ihm deuten muß. Er empfindet das Leiden nicht, aber die Dummheit. 19 [62] Große Verlegenheit, ob de Philosophie eine Kunst oder eine Wissenschaft ist. Es ist eine Kunst in ihren Zwecken und in ihrer Produktion. Aber das Mittel, die Darstellung in Begriffen, hat sie mit der Wissenschaft gemein. Es ist eine Form der Dichtkunst. - Sie ist nicht unterzubringen: deshalb müssen wir eine Species erfinden und charakterisiren. Die Naturbeschreibung des Philosophen. Er erkennt, indem er dichtet, und dichtet, indem er erkennt. Er wächst nicht, ich meine, die Philosophie nimmt nicht den Verlauf, wie die andern Wissenschaften: wenn auch irgend welche Gebiete des Philosophen allmählich in die Hände der Wissenschaft übergehen. Heraklit kann nie veralten. Es ist die Dichtung außer den Grenzen der Erfahrung, Fortsetzung des mythischen Triebes - auch wesentlich in Bildern. Die mathematische Darstellung gehört nicht zum Wesen des Philosophen. Überwindung des Wissens durch mythenbildende Kräfte. Kant merkwürdig - Wissen und Glauben! Innerste Verwandtschaft der Philosophen und der Religionsstifter! 19 [63] Sonderbares Problem: das sich Verzehren der philosophischen Systeme! Unerhört für die Wissenschaft wie für die Kunst! Ähnlich steht es mit den Religionen: das ist merkwürdig und bezeichnend. 19 [64] Die Illusion nöthig für das empfindende Wesen, um zu leben. Die Illusion nöthig, um in der Kultur fortzuschreiten. Was will der unersättliche Erkenntnißtrieb? - Jedenfalls ist er kulturfeindlich. Die Philosophie sucht ihn zu bändigen; ist ein Mittel der Kultur. Die älteren Philosophen. 19 [65] Durchaus unpersönlich und kalt zu schreiben. Kein "ich" und "wir". 19 [66]
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Unser Verstand ist eine Flächenkraft, ist oberflächlich. Das nennt man auch "subjektiv". Er erkennt durch Begriffe: das heißt unser Denken ist ein Rubriziren, ein Benamsen. Also etwas, was auf eine Willkür des Menschen hinausläuft und nicht das Ding selbst trifft. Nur rechnen und nur in den Formen des Raumes hat der Mensch absolute Erkenntniß d. h. die letzte Grenze alles Erkennbaren sind Quantitäten, er versteht keine Qualität, sondern nur eine Quantität. Was kann der Zweck einer solchen Flächenkraft sein? Dem Begriff entspricht zuerst das Bild, Bilder sind Urdenken d. h. die Oberflächen der Dinge im Spiegel des Auges zusammengefaßt. Das Bild ist das eine, das Rechenexempel das andre. Bilder in menschlichen Augen! Das beherrscht alles menschliche Wesen: vom Auge aus! Subjekt! das Ohr hört den Klang! Eine ganz andere wunderbare Conception derselben Welt. Auf der Ungenauigkeit des Sehens beruht die Kunst. Auch beim Ohr Ungenauigkeit in Rhythmus, Temperatur usw. darauf beruht wiederum die Kunst. 19 [67] Es ist eine Kraft in uns, die die großen Züge des Spiegelbildes intensiver wahrnehmen läßt, und wieder eine Kraft, die den gleichen Rhythmus auch über die wirkliche Ungenauigkeit hinweg betont. Dies muß eine Kunst kraft sein. Denn sie schafft. Ihr Hauptmittel ist weglassen und übersehen und überhören. Also antiwissenschaftlich: denn sie hat nicht für alles Wahrgenommene ein gleiches Interesse. Das Wort enthält nur ein Bild, daraus der Begriff. Das Denken rechnet also mit künstlerischen Größen. Alles Rubriziren ist ein Versuch zum Bilde zu kommen. Zu jedem wahren Sein verhalten wir uns oberflächlich, wir reden die Sprache des Symbols, des Bildes: sodann thun wir etwas hinzu, mit künstlerischer Kraft, indem wir die Hauptzüge verstärken, die Nebenzüge vergessen. 19 [68] Apologie der Kunst. Thales längst vorbei - aber ein Bildner, am Wasserfall stehend, wird ihm doch noch Recht geben. 19 [69] Unser öffentliches staatliches und sociales Leben läuft auf ein Gleichgewicht der Egoismen hinaus: Lösung der Frage, wie man ein leidliches Dasein, ohne jede Liebeskraft, rein aus der Klugheit der betheiligten Egoismen erziele.
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Diese Zeit hat einen Haß auf die Kunst, wie auf die Religion. Sie will weder eine Abfindung durch einen Hinweis auf das Jenseits, noch durch einen Hinweis auf die Verklärung der Kunstwelt. Sie hält das für unnütze "Poesie", Spaß usw. Unsre "Dichter" entsprechen. Aber die Kunst als furchtbarer Ernst! Die neue Metaphysik als furchtbarer Ernst! Wir wollen euch die Welt noch so umstellen mit Bildern, daß euch schaudert. Das aber steht in unserer Hand! Verstopft euch die Ohren, eure Augen werden unseren Mythus sehen. Unsere Flüche werden euch treffen! Die Wissenschaft muß ihre Utilität jetzt zeigen! Sie ist zur Ernährerin geworden, im Dienste des Egoismus: der Staat und die Gesellschaft haben sie in ihren Frohndienst genommen, um sie auszubeuten zu ihren Zwecken. Der normale Zustand ist der Krieg: wir schließen Frieden nur auf bestimmte Zeiten. 19 [70] Es ist mir nöthig zu wissen, wie die Griechen zur Zeit ihrer Kunst philosophirt haben. Die sokratischen Schulen saßen inmitten eines Meeres der Schönheit - was merkt man davon bei ihnen? Ungeheurer Aufwand wird für die Kunst gemacht. Die Sokratiker haben entweder ein feindseliges oder theoretisches Verhalten dazu. Dagegen waltet in den älteren Philosophen zum Theil ein ähnlicher Trieb, wie der, welcher die Tragödie schuf. 19 [71] Der Begriff des Philosophen und die Typen. - Was ist allen gemeinsam? Er ist entweder seiner Kultur entsprungen oder ihr feindlich. Er ist beschaulich wie der bildende Künstler, mitempfindend wie der Religiöse, causal wie der Mann der Wissenschaft: er sucht alle Töne der Welt in sich nachklingen zu lassen und diesen Gesammtklang aus sich heraus zu stellen in Begriffen. Das Aufschwellen zum Makrokosmos und dabei besonnenes Betrachten - wie der Schauspieler oder der dramatische Dichter, der sich verwandelt und dabei die Besonnenheit behält, nach außen sich zu projiciren. Das dialektische Denken als Sturzbad darüber gegossen. Merkwürdig Plato: Enthusiast der Dialektik d. h. jener Besonnenheit. 19 [72] Die Philosophen. Naturbeschreibung des Philosophen. Der Philosoph neben dem wissenschaftlichen Menschen und dem Künstler. Bändigung des Erkenntnißtriebes durch die Kunst, des religiösen Einheitstriebes durch den Begriff. Sonderbar das Nebeneinander von Conception und Abstraktion. Bedeutung für die Kultur.
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Die Metaphysik als Vacuum. 19 [73] Der Philosoph der Zukunft? er muß das Obertribunal einer künstlerischen Kultur werden, gleichsam die Sicherheitsbehörde gegen alle Ausschreitungen. 19 [74] Wir werden doch nicht alles Rubriziren, alle Allgemeinbegriffe als "philosophisch" bezeichnen. Ebensowenig alles Unbewußte und Intuitive: auch selbst bei der philologischen Conjektur giebt es ein Erzeugen, das nicht ganz in bewußtes Denken aufzulösen ist. 19 [75] Das philosophische Denken ist mitten in allem wissenschaftlichen Denken zu spüren: selbst bei der Conjektur. Es springt voraus auf leichten Stützen: schwerfällig keucht der Verstand hinter drein und sucht bessere Stützen, nachdem ihm das lockende Zauberbild erschienen ist. Ein unendlich rasches Durchfliegen großer Räume! Ist es nur die größere Schnelligkeit? Nein. Es ist Flügelschlag der Phantasie, d. h. ein Weiterspringen von Möglichkeit zu Möglichkeit, die einstweilen als Sicherheiten genommen werden. Hier und da von Möglichkeit zu einer Sicherheit und wieder zu einer Möglichkeit. Was ist aber eine solche "Möglichkeit"? Ein Einfall z. B. "es könnte vielleicht". Aber wie kommt der Einfall? Mitunter zufällig äußerlich: ein Vergleichen, das Entdecken irgend einer Analogie findet statt. Nun tritt eine Erweiterung ein. Die Phantasie besteht im schnellen Ähnlichkeiten - schauen. Die Reflexion mißt nachher Begriff an Begriff und prüft. Die Ähnlichkeit soll ersetzt werden durch Causalität. Ist denn nun "wissenschaftliches" Denken und "philosophisches" nur durch die Dosis verschieden? Oder vielleicht durch die Gebiete? 19 [76] Es giebt keine aparte Philosophie, getrennt von der Wissenschaft: dort wie hier wird gleich gedacht. Daß ein unbeweisbares Philosophiren noch einen Werth hat, mehr als meistens ein wissenschaftlicher Satz, hat seinen Grund in dem aesthetischen Werthe eines solchen Philosophirens, d. h. durch Schönheit und Erhabenheit. Es ist als Kunstwerk noch vorhanden, wenn es sich als wissenschaftlicher Bau nicht erweisen kann. Ist das aber bei wissenschaftlichen Dingen nicht ebenso? Mit anderen Worten: es entscheidet nicht der reine Erkenntnißtrieb, sondern der aesthetische : die wenig erwiesene Philosophie des Heraklit hat einen größeren Kunstwerth als alle Sätze des Aristoteles. Der Erkenntnißtrieb wird also gebändigt durch die Phantasie in der Kultur eines Volkes. Dabei ist der Philosoph vom höchsten Wahrheitspathos erfüllt: der Werth seiner Erkenntniß verbürgt ihm ihre Wahrheit. Alle Fruchtbarkeit, und alle treibende Kraft liegt in diesen vorausgeworfnen Blicken. 19 [77] 298
Die Phantasieerzeugung kann man im Auge beobachten. Ähnlichkeit führt zur kecksten Fortbildung: aber auch ganz andre Verhältnisse, Contrast den Contrast, und unaufhörlich. Hier sieht man die außerordentliche Produktivität des Intellekts. Es ist ein Bilderleben. 19 [78] Man muß beim Denken schon haben, was man sucht, durch Phantasie - dann erst kann die Reflexion es beurtheilen. Dies thut sie, indem sie es an gewöhnlichen und häufig erprobten Ketten mißt. Was ist eigentlich "logisch" beim Bilderdenken? Der nüchterne Mensch braucht die Phantasie wenig und hat sie wenig. Es ist jedenfalls etwas Künstlerisches, dieses Erzeugen von Formen, bei denen dann der Erinnerung etwas einfällt: diese Form hebt sie heraus und verstärkt sie dadurch. Denken ist ein Herausheben. Es ist viel mehr von Bilderreihen im Gehirn, als zum Denken verbraucht wird: der Intellekt wählt schnell ähnliche Bilder: das Gewählte erzeugt wieder eine ganze Fülle von Bildern: schnell aber wählt er wieder eines davon usw. Das bewußte Denken ist nur ein Herauswählen von Vorstellungen. Es ist ein langer Weg bis zur Abstraktion. 1) Die Kraft, die die Bilderfülle erzeugt 2) die Kraft, welche das Ähnliche auswählt und betont. Fieberkranke an Wänden und Tapeten verfahren so, nur projiciren die Gesunden die Tapete mit. 19 [79] Es ist zwiefach eine künstlerische Kraft da, die bildererzeugende und die auswählende. Die Traumeswelt beweist die Richtigkeit: der Mensch geht hier nicht bis zur Abstraktion weiter, oder: er wird nicht von den Bildern, die durch's Auge einströmen, geleitet und modificirt. Sieht man jene Kraft näher an, so ist hier auch kein künstlerisches ganz freies Erfinden: das wäre etwas Willkürliches, also Unmögliches. Sondern die feinsten Ausstrahlungen von Nerventhätigkeit auf einer Fläche gesehn: sie verhalten sich wie die Chladni'schen Klangfiguren zu dem Klang selbst: so diese Bilder zu der darunter sich bewegenden Nerventhätigkeit. Das allerzarteste sich Schwingen und Zittern! Der künstlerische Prozeß ist physiologisch absolut bestimmt und nothwendig. Alles Denken erscheint uns auf der Oberfläche als willkürlich, als in unserem Belieben: wir bemerken die unendliche Thätigkeit nicht. Einen künstlerischen Vorgang ohne Gehirn zu denken ist eine starke Anthropopathie: aber ebenso steht es mit dem Willen, der Moral usw.
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Das Begehren ist doch nur eine physiologische Ubertät, die sich entladen möchte, und einen Druck bis zum Gehirn ausübt. 19 [80] Resultat: es kommt nur auf die Grade und Quantitäten an: alle Menschen sind künstlerisch philosophisch wissenschaftlich usw. Unsre Werthschätzung bezieht sich auf Quantitäten, nicht auf Qualitäten. Wir verehren das Große. Das ist freilich auch das Unnormale. Denn die Verehrung der großartigen Wirkungen des Kleinen ist nur ein Staunen vor dem Resultat und dem Mißverhältniß der kleinsten Ursache. Nur indem wir sehr viele Wirkungen zusammenaddiren und als Einheit anschauen, haben wir den Eindruck der Größe: d. h. wir erzeugen, durch diese Einheit, die Größe. Die Menschheit wächst aber nur durch die Verehrung des Seltnen Großen. Selbst das als Selten Groß Gewähnte, z. B. das Wunder, übt diese Wirkung. Das Erschrecken ist der Menschheit bestes Theil. 19 [81] Das Träumen als die auswählende Fortsetzung der Augenbilder. Im Reiche des Intellekts ist alles Qualitative nur ein Quantitatives. Zu den Qualitäten führt uns der Begriff, das Wort. 19 [82] Vielleicht kann der Mensch nichts vergessen. Die Operation des Sehens und des Erkennens ist viel zu complicirt, als daß es möglich wäre, sie völlig wieder zu verwischen, d. h. alle Formen, die einmal vom Gehirn und Nervensystem erzeugt sind, wiederholt es von jetzt ab so oft. Eine gleiche Nerventhätigkeit erzeugt das gleiche Bild wieder. 19 [83] Das philosophische Denken ist spezifisch gleichartig mit dem wissenschaftlichen, aber bezieht sich auf große Dinge und Angelegenheiten. Der Begriff der Größe ist aber ein wandelbarer, theils ästhetisch, theils moralisch. Es ist eine Bändigung des Erkenntnißtriebes. Darin liegt die Kulturbedeutung. Wenn aber die Metaphysik beseitigt ist, dann wird allmählich der Menschheit manches Andere wieder groß erscheinen. Ich meine, die Philosophen werden andere Gebiete bevorzugen: und hoffentlich die, wo sie auf die neue Kultur heilsam einwirken. Es ist eine Gesetzgebung der Größe, ein "Namengeben" mit der Philosophie verbunden: "das ist groß" sagt er und dadurch erhebt er den Menschen. Es beginnt mit der Gesetzgebung der Moral: "das ist groß", Standpunkt der sieben Weisen, den die Römer in guter Zeit nie verlassen haben. 19 [84] 300
Das eigentliche Material alles Erkennens sind die allerzartesten Lust- und Unlustempfindungen: auf jener Fläche, in die die Nerventhätigkeit in Lust und Schmerz Formen hinzeichnet, ist das eigentliche Geheimniß: das, was Empfindung ist, projicirt zugleich Formen, die dann wieder neue Empfindungen erzeugen. Es ist das Wesen der Lust- und Unlustempfindung, sich in adäquaten Bewegungen auszudrücken: dadurch daß diese adäquaten Bewegungen wieder andere Nerven zur Empfindung veranlassen, entsteht die Empfindung des Bildes. 19 [85] Weisheit und Wissenschaft. Über die Philosophen. Arthur Schopenhauer dem Unsterblichen geweiht. 19 [86] σοφια und επιστηµη. σοφια enthält das Wählende in sich, das Geschmackhabende: während sich die Wissenschaft ohne solchen Feingeschmack auf alles Wissenswürdige stürzt. 19 [87] Auch bei dem Bilderdenken hat der Darwinismus Recht: das kräftigere Bild verzehrt die geringeren. 19 [88] "Im lieben niederträchtigen Deutschland!" 19 [89] Was ist der Philosoph? Zu beantworten an den alten Griechen? Thales. Mytholog und Philosoph. Anaximander. Tragische Weltbetrachtung. Tragödie. Heraclit. Illusion. Künstlerisches im Philosophen. Kunst. Pythagoras. Mystik und Philosophie. Religion. Anaxagoras. Zwecke. Geist und Materie. Parmenides. Zeno. Das Logische. Logik. Empedocles. Liebe Haß. Recht und Liebesmoral. Moral. Democrit. Zahl und Maß, Aussicht aller Physik. Naturphilosophie. 301
Pythagoreer. Das Sektenwesen. Socrates. Der Philosoph und die Kultur. Cultur. Entstehung der Philosophen und - das Philosophentribunal für die Kultur der Zukunft. 19 [90] Ob das Denken mit Lust oder Unlust vor sich geht, ist ganz wesentlich: wem es rechte Beschwerde macht, der ist eben weniger dazu angelegt und wird wohl auch weniger weit kommen: er zwingt sich und in diesem Bereich ist es nichts nütze. 19 [91] Alle Naturwissenschaft ist nur ein Versuch, den Menschen, das Anthropologische zu verstehen: noch richtiger, auf den ungeheuersten Umwegen immer zum Menschen zurückzukommen. Das Aufschwellen des Menschen zum Makrokosmos, um am Ende zu sagen "du bist am Ende, was du bist". 19 [92] Mitunter erweist sich das durch Sprünge erreichte Resultat sofort als wahr und fruchtbar, von seinen Consequenzen aus. Wird ein genialer Forscher von einer richtigen Ahnung geleitet? Ja, er sieht eben Möglichkeiten, ohne zureichende Stützen: daß er aber so etwas für möglich hält, zeigt seine Genialität. Er überschlägt sehr schnell das ungefähr für ihn Beweisbare. Der Mißbrauch der Erkenntniß im ewigen Wiederholen von Experimenten und von Materialsammeln, während der Schluß sich schon aus wenigen ergiebt. Auch in der Philologie ist es so: die Vollständigkeit des Materials ist in vielen Fällen etwas Unnützes. 19 [93] Auch das Moralische hat keine andere Quelle als den Intellekt, aber die verbindende Bilderkette wirkt hier anders als bei dem Künstler und Denker: sie reizt zur That. Ganz gewiß ist das Empfinden des Ähnlichen, das Identificiren nothwendige Voraussetzung. Sodann Erinnerung an eignen Schmerz. Gut sein hieße also: sehr leicht identificiren und sehr schnell. Es ist also eine Verwandlung, ähnlich wie bei dem Schauspieler. Alle Rechtschaffenheit und alles Recht dagegen kommt aus einem Gleichgewicht der Egoismen: gegenseitige Anerkennung sich nicht zu schädigen. Also aus Klugheit. In der Form von festen Grundsätzen sieht es dann wieder anders aus: als Charakterfestigkeit. Liebe und Recht Gegensätze: Kulminationspunkt Aufopfern für die Welt. Das Vorausnehmen von möglichen Unlustempfindungen bestimmt die Handlung des rechtlichen Menschen: er kennt empirisch die Folgen der Verletzung des Nächsten: aber auch der Verletzung seiner selbst.
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Dagegen ist die christliche Ethik der Gegensatz: sie beruht auf dem Identificiren seiner selbst mit dem Nächsten, anderen wohlthun ist hier ein Sich-selbst-wohlthun, mit anderen leiden ist hier gleich dem eignen Leid. Liebe ist mit einer Begierde zur Einheit verbunden. 19 [94] Es genügte ein ehrliches Wort des edlen Zöllner, um in unserer gelehrten Pöbel-Republik fast einstimmig verfehmt zu werden. 19 [95] Ich nehme in diesem Buche auf die gegenwärtigen Gelehrten keine Rücksicht und errege dadurch den Schein, als ob ich sie den gleichgültigen Dingen zurechne. Will man aber ruhig über ernste Dinge nachdenken, so muß man nicht durch ekelhaften Anblick gestört werden. Jetzt wende ich meine Augen mit Widerstreben auf sie, um ihnen zu sagen, daß sie mir nicht gleichgültig sind, daß ich aber wünschen möchte, sie wären's mir. 19 [96] Es war ein großer Mathematiker, mit dem die Philosophie in Griechenland anhebt. Dorther stammt sein Gefühl für das Abstrakte, Unmythische. Bei einer antimythischen Gesinnung gilt er doch als der "Weise" in Delphi: - Orphiker zeigen den abstrakten Gedanken in Allegorie. Die Griechen übernehmen die Wissenschaft von den Orientalen. Die Mathematik und Astronomie ist älter als die Philosophie. 19 [97] Die Wahrheit fordert der Mensch und leistet sie im moralischen Verkehr mit Menschen, darauf beruht alles Zusammenleben. Man anticipirt die schlimmen Folgen gegenseitiger Lügen. Von hier aus entsteht die Pflicht der Wahrheit. Dem epischen Erzähler gestattet man die Lüge, weil hier keine schädliche Wirkung zu ersehen ist. - Also wo die Lüge als angenehm gilt, ist sie erlaubt: die Schönheit und Anmuth der Lüge, vorausgesetzt daß sie nicht schadet. So erfindet der Priester Mythen seiner Götter: sie rechtfertigt ihre Erhabenheit. Außerordentlich schwer, das mythische Gefühl der freien Lüge wieder sich lebendig zu machen. Die großen griechischen Philosophen leben noch ganz in dieser Berechtigung zur Lüge. Wo man nichts Wahres wissen kann, ist die Lüge erlaubt. Jeder Mensch läßt sich Nachts im Traume fortwährend belügen. Das Wahrheitsstreben ist ein unendlich langsamer Erwerb der Menschheit. Unser historisches Gefühl etwas ganz Neues in der Welt. Es wäre möglich, daß es die Kunst ganz unterdrückte. Das Aussprechen der Wahrheit um jeden Preis ist sokratisch. 19 [98] Der Philosoph.
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Betrachtungen über den Kampf von Kunst und Erkenntniss 19 [99] Die "Gelehrten-Ochlokratie" statt Gelehrten-Republik. 19 [100] Sehr lehrreich, wenn Heraclit seine Sprache mit Apollo und Sibylle vergleicht. 19 [101] Die Sinne machen uns etwas vor. 19 [102] Wahrheit und Lüge physiologisch. Wahrheit als Moralgesetz - zwei Quellen der Moral. Das Wesen der Wahrheit nach den Wirkungen beurtheilt. Die Wirkungen verführen zur Annahme von unbewiesenen "Wahrheiten". Im Kampf solcher durch die Kraft lebenden "Wahrheiten" zeigt sich das Bedürfniß, einen andern Weg zu ihnen zu finden. Entweder von dort alles erklärend, oder von den Exempeln, Erscheinungen zu ihr hinaufsteigend. Wunderbare Erfindung der Logik. Allmähliches Überwiegen der logischen Kräfte und Beschränkung des Wissens möglichen. Fortwährende Reaktion der künstlerischen Kräfte und Beschränkung auf das Wissens würdige (nach der Wirkung beurtheilt). 19 [103] Kampf im Philosophen. Sein universaler Trieb zwingt ihn zum schlechten Denken das ungeheure Pathos der Wahrheit, am Weitblick seines Standpunktes erzeugt, zwingt ihn zur Mittheilung und diese wieder zur Logik. Auf der einen Seite erzeugt sich eine optimistische Metaphysik der Logik - allmählich alles vergiftend und belügend. Die Logik, als Alleinherrscherin, führt zur Lüge: denn sie ist nicht die Alleinherrscherin. Das andre Wahrheitsgefühl stammt aus der Liebe, Beweis der Kraft. Das Aussprechen der beseligenden Wahrheit aus Liebe: bezieht sich auf Erkenntnisse des Einzelnen, die er nicht mittheilen muß, aber deren überquellende Beseligung ihn zwingt. 19 [104]
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Ganz wahrhaftig zu sein - herrliche heroische Lust des Menschen, in einer lügenhaften Natur! Aber nur sehr relativ möglich ! Das ist tragisch. Das ist das tragische Problem Kants! Jetzt bekommt die Kunst eine ganz neue Würde. Die Wissenschaften dagegen sind einen Grad degradirt. 19 [105] Wahrhaftigkeit der Kunst : sie ist allein jetzt ehrlich. So kommen, wir, auf ungeheurem Umweg, wieder auf das natürliche Verhalten (bei den Griechen) zurück. Es hat sich unmöglich erwiesen, eine Kultur auf das Wissen zu bauen. 19 [106] Kämpfen für eine Wahrheit und Kämpfen um die Wahrheit ist etwas ganz Verschiedenes. 19 [107] Die unbewußten Schlüsse erregen mein Bedenken: es wird wohl jenes Übergehn von Bild zu Bild sein: das letzterreichte Bild wirkt dann als Reiz und Motiv. Das unbewußte Denken muß sich ohne Begriffe vollziehn: also in Anschauungen. Dies ist aber das Schlußverfahren des beschaulichen Philosophen und des Künstlers. Er thut dasselbe, was Jeder in physiologischen persönlichen Antrieben thut, übertragen auf eine unpersönliche Welt. Dieses Bilderdenken ist nicht von vorn herein streng logischer Natur, aber doch mehr oder weniger logisch. Der Philosoph bemüht sich dann, an Stelle des Bilderdenkens ein Begriffsdenken zu setzen. Die Instinkte scheinen auch ein solches Bilderdenken zu sein, das zuletzt zum Reiz und Motiv wird. 19 [108] Wie stark die ethische Kraft der Stoiker war, zeigt sich darin, daß sie ihr Princip zu Gunsten der Willensfreiheit durchbrechen. 19 [109] Zur Theorie der Moral: in der Politik anticipirt oft der Staatsmann das Thun seines Gegners und thut die That vorher: "wenn ich sie nicht thue, thut er sie". Eine Art Nothwehr als politischer Grundsatz. Standpunkt des Kriegs. 19 [110] Die alten Griechen ohne normative Theologie: jeder hat das Recht daran zu dichten und er kann glauben was er will. Die ungeheure Masse philosophischen Denkens bei den Griechen (mit der Fortsetzung als Theologie durch alle Jahrhunderte).
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Die großen logischen Kräfte erweisen sich z. B. im Ordnen der Kultsphären der einzelnen Städte. 19 [111] Die Orphiker unplastisch in ihren Phantasmen, grenzen an die Allegorie. Logische - - 19 [112] Die Götter der Stoiker bekümmern sich nur um das Große, vernachlässigen das Kleine und Einzelne. 19 [113] Schopenhauer leugnet die Wirksamkeit der moralischen Philosophie auf die Moralitäten: wie der Künstler nicht nach Begriffen schaffe. Merkwürdig! Es ist wahr, jeder Mensch ist schon ein intelligibles Wesen (durch zahllose Generationen bedingt?). Aber das stärkere Erregen bestimmter Reizempfindungen durch Begriffe wirkt doch stärkend für diese moralischen Kräfte. Es bildet sich nichts Neues, aber es concentrirt sich nach einer Seite hin die schaffende Energie. Z. B. der kategorische Imperativ hat die uneigennützige Tugendempfindung sehr bestärkt. Wir sehen auch hier, daß der einzelne hervorragende moralische Mensch einen Zauber der Nachahmung ausübt. Diesen Zauber soll der Philosoph verbreiten. Was für die höchsten Exemplare Gesetz ist, muß allmählich überhaupt als Gesetz gelten: wenn auch nur als Schranke der Anderen. 19 [114] Die Stoiker haben Heraklit in's Flache umgedeutet und mißverstanden. Auch die Epikureer haben in die strengen Principien des Democrit Weichliches eingeschwärzt (Möglichkeiten). Die höchste Gesetzmäßigkeit der Welt, aber doch kein Optimismus bei Heraclit. 19 [115] Der Prozeß aller Religion und Philosophie und Wissenschaft gegenüber der Welt: er beginnt mit den gröbsten Anthropomorphismen und hört nie auf sich zu verfeinern. Der einzelne Mensch betrachtet sogar das Sternensystem als ihm dienend oder mit ihm im Zusammenhang. Die Griechen haben in ihrer Mythologie die ganze Natur in Griechen aufgelöst. Sie sahen gleichsam die Natur nur als Maskerade und Verkleidung von Menschen-Göttern an. Sie waren darin das Gegenstück aller Realisten. Der Gegensatz von Wahrheit und Erscheinung war tief in ihnen. Die Metamorphosen sind das Spezifische. Dies drückte Thales in seinem Satz aus: daß alles Wasser sei.
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19 [116] Bezieht sich die Intuition auf die Gattungsbegriffe oder auf die vollendeten Typen? Aber der Gattungsbegriff bleibt immer weit hinter einem guten Exemplar zurück, der Vollkommenheitstypus geht über die Wirklichkeit hinaus. Ethische Anthropomorphismen: Anaximander: Gericht. Heraklit: Gesetz. Empedokles: Liebe und Haß. Logische Anthropomorphismen: Parmenides: nur Sein. Anaxagoras: νουϕ. Pythagoras: alles Zahl. 19 [117] Die Weltgeschichte ist am Kürzesten, wenn man sie nach den bedeutenden philosophischen Erkenntnissen bemißt und die ihnen feindlichen Zeiträume bei Seite läßt. Wir sehen da eine Regsamkeit und schöpferische Kraft, wie nirgends, bei den Griechen: sie füllen den größten Zeitraum aus, sie haben wirklich alle Typen erzeugt. Es sind die Entdecker der Logik. Hat nicht die Sprache schon die Befähigung des Menschen zur Erzeugung der Logik verrathen? Gewiß, es ist die bewunderungswürdigste logische Operation und Distinktion. Aber sie ist nicht auf einmal geworden, sondern endlos langer Zeiträume logisches Ergebniß. Hier ist an die Entstehung der Instinkte zu denken: ganz allmählich erwachsen. Die geistige Thätigkeit von Jahrtausenden in der Sprache niedergelegt. 19 [118] Der Mensch kommt erst ganz langsam dahinter, wie unendlich complicirt die Welt ist. Zuerst denkt er sie sich ganz einfach, d. h. so oberflächlich als er selbst ist. Er geht von sich aus, von dem allerspätesten Resultat der Natur, und denkt sich die Kräfte, die Urkräfte so, wie das ist, was in sein Bewußtsein kommt. Er nimmt die Wirkungen der complicirtesten Mechanismen, des Gehirns, an, als seien die Wirkungen seit Uranfang gleicher Art. Weil dieser complicirte Mechanismus etwas Verständiges in kurzer Zeit hervorbringt, nimmt er das Dasein der Welt für sehr jung: es kann dem Schöpfer nicht so viel Zeit gekostet haben, meint er.
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So glaubt er mit dem Wort "Instinkt" irgendetwas erklärt und er überträgt wohl gar die unbewußten Zweckhandlungen auf das Urwerden der Dinge. Zeit Raum und Kausalitätsempfindung scheint mit der ersten Empfindung gegeben zu sein. Der Mensch kennt die Welt in dem Grade, als er sich kennt: d. h. ihre Tiefe entschleiert sich ihm in dem Grade, als er über sich und seine Komplicirtheit erstaunt. 19 [119] Es muß durchaus zu zeigen sein, daß alles Vorhandene und Seiende irgendwann nicht war und deshalb auch irgendwann nicht sein wird. Das Werden Heraclits. 19 [120] Die moralischen künstlerischen religiösen Bedürfnisse des Menschen der Welt zu Grunde zu legen ist ebenso rationell als die mechanischen: d. h. wir kennen weder den Stoß, noch die Schwere.(?) 19 [121] Wir kennen nicht das wahre Wesen einer einzigen Kausalität. Absolute Skepsis: Nothwendigkeit der Kunst und Illusion. 19 [122] Die Schwere vielleicht aus dem bewegten Aether zu erklären, der um ein ungeheures Gestirn, mit dem gesammten Sonnensystem rotirt. 19 [123] Zu erweisen ist weder die metaphysische, noch die ethische, noch die aesthetische Bedeutung des Daseins. 19 [124] Die Ordnung in der Welt, das mühsamste und langsamste Resultat entsetzlicher Evolutionen als Wesen der Welt begriffen - Heraklit! 19 [125] Es ist zu beweisen, daß alle Weltconstruktionen Anthropomorphismen sind: ja alle Wissenschaften, wenn Kant Recht hat. Freilich giebt es hier einen Cirkelschluß - haben die Wissenschaften Recht, so stehen wir nicht auf Kant's Grundlage: hat Kant Recht, so haben die Wissenschaften Unrecht. Gegen Kant ist dann immer noch einzuwenden, daß, alle seine Sätze zugegeben, doch noch die volle Möglichkeit bestehen bleibt, daß die Welt so ist, wie sie uns erscheint. Persönlich ist übrigens diese ganze Position unbrauchbar. In dieser Skepsis kann niemand leben.
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Wir müssen über diese Skepsis hinaus, wir müssen sie vergessen! Wie viel müssen wir nicht vergessen in dieser Welt! Kunst, die Idealgestalt, die Temperatur. Nicht im Erkennen, im Schaffen liegt unser Hell! Im höchsten Scheine, in der edelsten Wallung liegt unsre Größe. Geht uns das Weltall nichts an, so wollen wir das Recht haben es zu verachten. 19 [126] Furchtbare Einsamkeit des letzten Philosophen! Ihn umstarrt die Natur, Geier schweben über ihm. Und so ruft er in die Natur: Gieb Vergessen! Vergessen! - Nein, er erträgt das Leiden als Titan - bis die Versöhnung ihm geboten wird in der höchsten tragischen Kunst. 19 [127] Den "Geist", das Gehirnerzeugniß als übernatürlich zu betrachten! gar zu vergöttern, welche Tollheit! 19 [128] Unter Millionen verderbender Welten ein Mal eine mögliche! Auch sie verdirbt! Sie war die erste nicht! 19 [129] Vorplatonische Philosophen. Poetik. Plato. Rhythmik. Sokratische Schulen. Rhetorik. 19 [130] Choephoren. Lateinische Grammatik. Erga. Griechische Grammatik. Lyriker. Theognis. 19 [131] Oedipus. Reden des letzten Philosophen mit sich selbst.
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Ein Fragment aus der Geschichte der Nachwelt. Den letzten Philosophen nenne ich mich, denn ich bin der letzte Mensch. Niemand redet mit mir als ich selbst, und meine Stimme kommt wie die eines Sterbenden zu mir. Mit dir, geliebte Stimme, mit dir, dem letzten Erinnerungshauch alles Menschenglücks, laß mich nur eine Stunde noch verkehren, durch dich täusche ich mir die Einsamkeit hinweg und lüge mich in die Vielheit und die Liebe hinein, denn mein Herz sträubt sich zu glauben, daß die Liebe todt sei, es erträgt den Schauder der einsamsten Einsamkeit nicht und zwingt mich zu reden, als ob ich Zwei wäre. Höre ich dich noch, meine Stimme? Du flüsterst, indem du fluchst? Und doch sollte dein Fluch die Eingeweide dieser Welt zerbersten machen! Aber sie lebt noch und schaut mich nur noch glänzender und kälter mit ihren mitleidslosen Sternen an, sie lebt, so dumm und blind wie je vorher, und nur Eines stirbt - der Mensch. - Und doch! Ich höre dich noch, geliebte Stimme! Es stirbt noch Einer außer mir, dem letzten Menschen, in diesem Weltall: der letzte Seufzer, dein Seufzer, stirbt mit mir, das hingezogene Wehe! Wehe! geseufzt um mich, der Wehemenschen letzten, Oedipus. 19 [132] Die entsetzliche Consequenz des Darwinismus, den ich übrigens für wahr halte. Alle unsre Verehrung bezieht sich auf Qualitäten, die wir für ewig halten: moralisch, künstlerisch, religiös usw. Mit den Instinkten kommt man keinen Schritt weiter, um die Zweckmäßigkeit zu erklären. Denn eben diese Instinkte sind bereits das Erzeugniß endlos lang fortgesetzter Prozesse. Der Wille objektivirt sich nicht adäquat, wie Schopenhauer sagt: so scheint es, wenn man von den vollendetsten Formen ausgeht. Auch dieser Wille ist ein höchst complicirtes Letztes in der Natur. Nerven vorausgesetzt. Und selbst die Schwerkraft: ist doch kein einfaches Phänomen, sondern wieder Wirkung von einer Sonnensystembewegung, von Aether usw. Und der mechanische Stoß ist auch etwas Complicirtes. Der Weltaether als Urstoff. 19 [133] Alles Erkennen ist ein Wiederspiegeln in ganz bestimmten Formen, die von vornherein nicht existiren. Die Natur kennt keine Gestalt, keine Größe, sondern nur für ein Erkennendes treten die Dinge so groß und so klein auf. Das Unendliche in der Natur: sie hat keine Grenze, nirgends. Nur für uns giebt es Endliches. Die Zeit in's Unendliche theilbar. 19 [134]
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Von Thales bis Sokrates - lauter Übertragungen des Menschen auf die Natur - ungeheure Schattenspiele des Menschen auf der Natur, wie auf Gebirgen! Sokrates und Plato. Erkennen und Gut universal. Das Schöne in dem Anfang. Ideen des Künstlers. Pythagoreer die Zahl. Demokrit der Stoff. Pythagoras der Mensch nicht Produkt der Vergangenheit, sondern Wiederkehr. Einheit alles Lebendigen. Empedokles Thier und Pflanzenwelt moralisch verstanden, der universale Geschlechtstrieb und Haß. "Wille" universal Anaxagoras Geist als uranfänglich. Eleaten Heraclit die bildende Kraft des Künstlers uranfänglich. Anaximander Gericht und Strafe universal. Thales. Vorher die Götter und die Natur. Die Religionen sind nur unverhülltere Ausdrücke. Astrologie. Der Mensch als Zweck. Weltgeschichte." Kant's Ding an sich als Kategorie. Der Philosoph ist die Fortsetzung des Triebes, mit dem wir fortwährend, durch anthropomorphische Illusionen, mit der Natur verkehren. Das Auge. Zeit. 19 [135] Der Philosoph in den Netzen der Sprache eingefangen. 19 [136] Ich will die ungeheure Entwicklung des einen Philosophen, der die Erkenntniß will, des Menschheits-Philosophen, schildern und nachempfinden. Die meisten stehen so unter der Leitung des Triebes, daß sie gar nicht merken, was geschieht. Ich will es sagen und merken lassen, was geschieht. Der eine Philosoph ist hier identisch mit allem Wissenschaftsstreben. Denn alle Wissenschaften ruhen nur auf dem allgemeinen Fundamente des Philosophen. Die ungeheure Einheit in allen Erkenntnißtrieben nachzuweisen: der zerbrochene Gelehrte.
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19 [137] Aufgaben: Die sogenannten Abstraktionen. Formen als Oberflächen. 19 [138] Apologie der Kunst. Einleitung. Nothlüge und die veracite du dieu des Descartes. Plato gegen die Kunst. 1. Sprache und Begriff. 2. Formen als Oberflächen. 3. Pathos der Wahrheit. 4. --19 [139] Die Unendlichkeit ist die uranfängliche Thatsache: es wäre nur zu erklären, woher das Endliche stamme. Aber der Gesichtspunkt des Endlichen ist rein sinnlich d. h. eine Täuschung. Wie kann man von einer Bestimmung der Erde zu reden wagen! In der unendlichen Zeit und dem unendlichen Raume giebt es keine Ziele: was da ist, ist ewig da in irgend welchen Formen. Was für eine methaphysische Welt es geben soll, ist gar nicht abzusehn. Ohne jede derartige Anlehnung muß die Menschheit stehen können - ungeheure Aufgabe der Künstler! 19 [140] Zeit an sich ist Unsinn: nur für ein empfindendes Wesen giebt es Zeit. Ebenso Raum. Alle Gestalt ist dem Subjekt zugehörig. Es ist das Erfassen der Oberflächen durch Spiegel. Alle Qualitäten müssen wir abziehn. Wir können uns die Dinge nicht denken, wie sie sind, weil wir sie eben nicht denken dürften.
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Es bleibt alles so, wie es ist: d. h. alle Qualitäten verrathen einen undefinirbaren absoluten Sachverhalt.- Das Verhältniß etwa wie die Chladnischen Klangfiguren zu den Schwingungen. 19 [141] Alles Wissen entsteht durch Separation, Abgrenzung, Beschränkung; kein absolutes Wissen eines Ganzen! 19 [142] Lust und Unlust als universale Empfindungen? Ich glaube nicht. Aber wo treten die künstlerischen Kräfte auf? Gewiß im Krystall. Die Bildung der Gestalt: doch ist da nicht ein anschauendes Wesen vorauszusetzen? 19 [143] Die Musik als Supplement der Sprache: viele Reize, und ganze Reizzustände, die die Sprache nicht darstellen kann, giebt die Musik wieder. 19 [144] Es giebt keine Form in der Natur, denn es giebt kein Inneres und kein Äußeres. Alle Kunst beruht auf dem Spiegel des Auges. 19 [145] Die menschliche Sinnenerkenntniß ist sicherlich auf Schönheit aus, sie verklärt die Welt. Was haschen wir nach einer anderen? Was wollen wir über unsere Sinne hinaus? Die rastlose Erkenntniß geht in's Oede und Häßliche. - Zufriedensein mit der künstlerisch angeschauten Welt! 19 [146] Sobald man das Ding an sich erkennen will, so ist es eben diese Welt - erkennen ist nur möglich, als ein Wiederspiegeln und Sichmessen an einem Maße (Empfindung). Wir wissen, was die Welt ist: absolute und unbedingte Erkenntniß ist Erkennenwollen ohne Erkenntniß. 19 [147] "Die sogenannten unbewußten Schlüsse sind zurückzuführen auf das alles aufbewahrende Gedächtniß, das Erfahrungen paralleler Art darbietet und somit die Folgen einer Handlung schon kennt. Es ist nicht Anticipation der Wirkung, sondern das Gefühl: gleiche Ursachen gleiche Wirkungen, hervorgebracht durch ein Gedächtnißbild. 19 [148]
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Gar zu leicht verwechseln wir Kants Ding an sich und das wahre Wesen der Dinge der Buddhisten: d. h. die Wirklichkeit zeigt ganz Schein oder eine der Wahrheit ganz adäquate Erscheinung. Schein als Nichtsein und Erscheinung des Seienden werden mit einander verwechselt. In das Vacuum setzen sich alle möglichen Superstitionen. 19 [149] Der Gang der Philosophie: es werden zuerst Menschen als Urheber aller Dinge gedacht allmählich erklärt man sich die Dinge nach Analogie einzelner menschlicher Eigenschaften zuletzt langt man bei der Empfindung an. Große Frage: ist die Empfindung eine Urthatsache aller Materie? Anziehung und Abstoßung? 19 [150] Der historische Erkenntnißtrieb - sein Ziel den Menschen im Werden zu begreifen, auch hier das Wunder zu beseitigen. Dieser Trieb entzieht dem Kulturtriebe die größte Kraft: das Erkennen ist rein luxuriirend, dadurch wird die gegenwärtige Kultur um nichts höher. 19 [151] Die Philosophie anzuschauen wie die Astrologie: nämlich das Schicksal der Welt mit dem des Menschen zu verknüpfen: d. h. die höchste Evolution des Menschen als die höchste Evolution der Welt zu betrachten. Von diesem philosophischen Triebe aus empfangen alle Wissenschaften ihre Nahrung. Die Menschheit vernichtet erst die Religionen, dann die Wissenschaft. 19 [152] Der Schönheitssinn zusammenhängend mit der Zeugung. 19 [153] Auch die Kantische Erkenntnißtheorie hat der Mensch sofort zu einer Glorifikation des Menschen benutzt: die Welt hat nur in ihm Realität. Sie wird wie ein Ball in seinen Köpfen hin und hergeworfen. In Wahrheit heißt es doch nur: man denke daß ein Kunstwerk besteht und ein dummer Mensch, es zu betrachten. Freilich existirt es als Gehirnphänomen für jenen Dummen, nur soweit er selbst noch Künstler ist und die Formen mitbringt. Er könnte kühn behaupten: außer meinem Gehirn hat es gar keine Realität. Die Formen des Intellekts sind aus der Materie entstanden, sehr allmählich. Es ist an sich wahrscheinlich, daß sie streng der Wahrheit adäquat sind. Woher sollte so ein Apparat, der etwas Neues erfindet, gekommen sein!
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Die Hauptfähigkeit scheint mir die Gestalt zu percipiren, d. h. beruhend auf dem Spiegel. Raum und Zeit sind nur gemessene, an einem Rhythmus gemessene Dinge. 19 [154] Ihr sollt nicht in eine Metaphysik flüchten, sondern sollt euch der werdenden Kultur thätig opfern! Deshalb bin ich streng gegen den Traumidealismus. 19 [155] Alles, Erkennen ist ein Messen an einem Maßstabe. Ohne einen Maßstab, d. h. ohne jede Beschränkung, giebt es kein Erkennen. So steht es im Bereiche der intellektuellen Formen eben so, wie wenn ich nach dem Werthe des Erkennens überhaupt frage: ich muß irgend eine Position nehmen, die höher steht oder die wenigstens fest ist, um als Maßstab zu dienen. 19 [156] Führen wir die ganze intellektuelle Welt zurück bis zum Reiz und zur Empfindung, so erklärt diese dürftigste Perception am wenigsten. Der Satz: es giebt keine Erkenntniß ohne ein Erkennendes oder kein Subjekt ohne Objekt und kein Objekt ohne Subjekt, ist ganz wahr, aber die äußerste Trivialität. Wir können vom Ding an sich nichts aussagen, weil wir den Standpunkt des Erkennenden d. h. des Messenden uns unter den Füßen weggezogen haben. Eine Qualität existirt für uns d. h. gemessen an uns. Ziehen wir das Maaß weg, was ist dann noch Qualität! Was die Dinge sind, ist aber nur zu beweisen durch ein daneben gestelltes messendes Subjekt. Ihre Eigenschaften an sich gehen uns nichts an, aber insofern sie auf uns wirken. Nun ist zu fragen: wie entstand ein solches messendes Wesen? Die Pflanze ist auch ein messendes Wesen. 19 [157] Der ungeheure Consensus der Menschen über die Dinge beweist die volle Gleichartigkeit ihres Perceptionsapparates. 19 [158] Für die Pflanze ist die Welt so und so - für uns so und so. Vergleichen wir die beiden Perceptionskräfte, so gilt uns unsre Auffassung der Welt als richtiger d. h. der Wahrheit entsprechender. Nun hat sich der Mensch langsam entwickelt und die Erkenntniß entwickelt sich noch: also das Weltbild wird immer wahrer und vollständiger. Natürlich ist es nur eine Wiederspiegelung, eine immer deutlichere. Der Spiegel selbst ist aber nichts ganz Fremdes und dem Wesen der Dinge Ungehöriges, sondern selbst langsam entstanden als Wesen der Dinge gleichfalls. Wir sehen ein Streben, den Spiegel immer adäquater zu machen: den natürlichen Prozeß setzt die Wissenschaft fort. - So spiegeln sich die Dinge immer reiner: allmähliche Befreiung vom allzu Anthropomorphischen. Für die Pflanze ist die ganze Welt Pflanze, für uns Mensch. 315
19 [159] Der Stoß, das Einwirken des einen Atoms auf das andre, setzt ebenso Empfindung voraus. Etwas an sich Fremdes kann nicht auf einander wirken. Nicht das Erwachen der Empfindung, sondern das des Bewußtseins in der Welt, ist das Schwere. Aber doch noch erklärbar, wenn alles Empfindung hat. Wenn alles Empfindung hat, so haben wir ein Durcheinander von kleinsten größeren und größten Empfindungscentren. Diese Empfindungscomplexe, größer oder kleiner, wären "Wille" zu benennen. Wir machen uns schwer von den Qualitäten los. 19 [160] Von einem unbewußten Ziele der Menschheit zu reden halte ich für falsch. Sie ist kein Ganzes wie ein Ameisenhaufen. Vielleicht kann man von dem unbewußten Ziele einer Stadt, eines Volkes reden: aber was heißt es, von dem unbewußten Ziele aller Ameisenhaufen der Erde zu reden! 19 [161] Empfindung, Reflexbewegungen, sehr häufige und blitzschnell erfolgende, allmählich ganz eingelebte, erzeugen die Schlußoperation d. h. das Gefühl der Kausalität. Von der Kausalitätsempfindung hängen Raum und Zeit ab. Das Gedächtniß bewahrt die gemachten Reflexbewegungen. Das Bewußtsein hebt an mit der Kausalitätsempfindung d. h. das Gedächtniß ist älter als das Bewußtsein. Z. B. bei der Mimosa haben wir Gedächtniß, aber kein Bewußtsein. Gedächtniß natürlich ohne Bild, bei der Pflanze. Aber Gedächtniß muß dann zum Wesen der Empfindung gehören, also eine Ureigenschaft der Dinge <sein>. Dann aber auch die Reflexbewegung. Die Unverbrüchlichkeit der Naturgesetze heißt doch: Empfindung und Gedächtniß ist im Wesen der Dinge. Daß sich ein Stoff, bei der Berührung mit einem anderen, gerade so entscheidet, ist Gedächtniß und Empfindungssache. Irgendwann hat er es gelernt, d. h. die Thätigkeiten der Stoffe sind gewordene Gesetze. Dann aber muß die Entscheidung gegeben sein durch Lust und Unlust. Wenn aber Lust Unlust Empfindung Gedächtniß Reflexbewegung zum Wesen der Materie gehört, dann reicht die Erkenntniß des Menschen viel tiefer in's Wesen der Dinge. Die ganze Logik in der Natur löst sich dann auf in ein Lust- und Unlustsystem. Jedes greift nach der Lust und flieht die Unlust, das sind die ewigen Naturgesetze. 19 [162]
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Gedächtniß hat nichts mit Nerven, mit Gehirn zu thun. Es ist eine Ureigenschaft. Denn der Mensch trägt das Gedächtniß aller vorigen Generationen mit sich herum. Das Gedächtnißbild etwas sehr Künstliches und Seltenes. 19 [163] Von einem nicht irrenden Gedächtniß kann ebenso wenig als von einem absolut zweckmäßigen Handeln der Naturgesetze die Rede sein. 19 [164] Ist es ein unbewußter Schluß? Schließt die Materie? Sie empfindet und kämpft für ihr individuelles Sein. Der "Wille" zeigt sich erstens in der Veränderung, d. h. es giebt eine Art freien Willen, welcher die Essenz eines Dinges modificirt, aus Lust und der Flucht vor Unlust. - Die Materie hat eine Anzahl Qualitäten, die proteusartig sind, die sie je nach dem Angriff betont, verstärkt, für das Ganze einsetzt. Die Qualitäten scheinen nur bestimmte modificirte Thätigkeiten einer Materie zu sein. Je nach den Maaß- und Zahlproportionen auftretend. 19 [165] Wir kennen nur eine Realität - die der Gedanken. Wie wenn das das Wesen der Dinge wäre! Wenn Gedächtniß und Empfindung das Material der Dinge wären! 19 [166] Der Gedanke giebt uns den Begriff einer ganz neuen Form der Realität: er ist aus Empfindung und Gedächtniß zusammengesetzt. 19 [167] Der Mensch in der Welt könnte sich wirklich begreifen als Einer aus einem Traume, der selbst mitgeträumt wird. 19 [168] Der Philosoph bei den Griechen setzt, in heller Beleuchtung und Sichtbarkeit, die Thätigkeit fort, durch welche die Griechen zu ihrer Kultur gekommen sind. 19 [169] 1. Keine διαδοχαι. 2. Die verschiedenen Typen. 19 [170] 317
Die Philosophen sind die vornehmste Klasse der Großen des Geistes. Sie haben kein Publikum, sie brauchen den Ruhm. Ihre höchsten Freuden mitzutheilen, brauchen sie den Beweis: darin sind sie unglücklicher als die Künstler. 19 [171] Wir sehen an dem gegenwärtigen Deutschland, daß die Blüthe der Wissenschaften in einer barbarisirten Kultur möglich ist; ebenfalls hat die Utilität nichts mit den Wissenschaften zu thun (obwohl es so scheint, in der Bevorzugung der chemischen und naturwissenschaftlichen Anstalten, und reine Chemiker gar als "Capacitäten" berühmt werden können). Sie hat einen eignen Lebensaether für sich. Eine sinkende Kultur (wie die alexandrinische) und eine Unkultur (wie die unsrige) machen sie nicht unmöglich. Das Erkennen ist wohl gar ein Ersatz der Kultur. 19 [172] Es ist wohl nur die Vereinzelung des Erkennens durch Trennung der Wissenschaften, daß das Erkennen und die Kultur einander fremd bleiben können. Im Philosophen berührt sich das Erkennen wieder mit der Kultur. Er umfaßt das Wissen und regt die Frage nach dem Werthe der Erkenntniß auf. Das ist ein Kulturproblem: Erkenntniß und Leben. 19 [173] Sind die Verdunkelungen z. B. im Mittelalter wirklich Gesundheitsperioden, etwa Schlafenszeiten für den intellektuellen Genius der Menschen? Oder: sind auch die Verdunkelungen Resultate höherer Zwecke? Wenn Bücher ihre fata haben, dann ist wohl auch das Untergehen eines Buchs ein fatum, mit irgend einem Zweck. Die Zwecke bringen uns in Verwirrung. 19 [174] Im Philosophen setzen sich Thätigkeiten fort, durch Metapher. Das Streben nach einheitlichem Beherrschen. Jedes Ding strebt ins Unermeßliche, der Individualcharakter in der Natur ist selten fest, sondern immer weiter greifend. Ob langsam oder schnell, ist eine höchst menschliche Frage. Wenn man nach der Seite des unendlich Kleinen hinsieht, ist jede Entwicklung immer eine unendlich schnelle. 19 [175] Was thut den Menschen die Wahrheit! Es ist das höchste und reinste Leben möglich, im Glauben die Wahrheit zu haben. Der Glaube an die Wahrheit ist dem Menschen nöthig. 318
Die Wahrheit erscheint als sociales Bedürfniß: durch eine Metastase wird sie nachher auf alles angewandt, wo sie nicht nöthig ist. Alle Tugenden entstehn aus Nothdurften. Mit der Societät beginnt das Bedürfniß nach Wahrhaftigkeit. Sonst lebt der Mensch in ewigen Verschleierungen. Die Staatengründung erregt die Wahrhaftigkeit. Der Trieb zur Erkenntniß hat eine moralische Quelle. 19 [176] Wie viel die Welt werth ist, muß auch ihr kleinster Bruchtheil offenbaren - seht den Menschen, dann wißt ihr, was ihr von der Welt zu halten habt. 19 [177] Die Noth erzeugt, unter Fällen, die Wahrhaftigkeit, als Existenzmittel einer Societät. Durch häufige Übung erstarkt der Trieb und wird jetzt durch Metastase, unberechtigt, übertragen. Er wird zum Hang an sich. Aus einer Übung für bestimmte Fälle wird eine Qualität. - Nun haben wir den Trieb nach Erkenntniß. Diese Verallgemeinerung geschieht durch den dazwischentretenden Begriff. Mit einem falschen Urtheil beginnt diese Qualität - wahr sein heißt immer wahr sein. Daraus entsteht der Hang nicht in der Lüge zu leben: Beseitigung aller Illusionen. Aber er wird aus einem Netz in's andere gejagt. Der gute Mensch will nun auch wahr sein und glaubt an die Wahrheit aller Dinge. Nicht nur der Societät, sondern der Welt. Somit auch an die Ergründbarkeit. Denn weshalb sollte die Welt ihn täuschen? Also er überträgt seinen Hang auf die Welt und glaubt, daß auch die Welt wahr gegen ihn sein muß. 19 [178] Ich frage nicht nach dem Zwecke des Erkennens: es ist zufällig, d. h. nicht mit einer vernünftigen Zweckabsicht entstanden. Als eine Erweiterung oder als ein Hart- und Festwerden einer in gewissen Fällen nöthigen Denk- und Handelnsweise. Von Natur ist der Mensch nicht zum Erkennen da. Zwei zu verschiedenen Zwecken nöthige Eigenschaften - die Wahrhaftigkeit - und die Metapher - haben den Hang zur Wahrheit erzeugt. Also ein moralisches Phänomen, aesthetisch verallgemeinert, erzeugt den intellektuellen Trieb. Instinkt ist hier eben Gewohnheit, oft so zu schließen und daraus κατα αναλογον eine Pflicht überhaupt immer so schließen zu müssen. 319
19 [179] Die Natur hat den Menschen in lauter Illusionen gebettet. - Das ist sein eigentliches Element. Formen sieht er, Reize empfindet er statt der Wahrheiten. Er träumt, er imaginirt sich Göttermenschen als Natur. Der Mensch ist zufällig ein erkennendes Wesen geworden, durch die unabsichtliche Paarung zweier Qualitäten. Irgendwann wird er aufhören und es. wird nichts geschehen sein. Sie waren es lange nicht und wenn sie selbst aufgehört haben zu existiren, wird sich nichts begeben haben. Sie sind ohne weitere Mission und ohne Zweck. Der Mensch ist ein höchst pathetisches Thier und nimmt alle seine Eigenschaften so wichtig als ob die Angeln der Welt sich in ihnen drehten. Das Ähnliche erinnert an das Ähnliche und vergleicht sich damit: das ist das Erkennen, das schnelle Subsumiren des Gleichartigen. Nur das Ähnliche percipirt das Ähnliche: ein physiologischer Prozeß. Dasselbe, was Gedächtniß ist, ist auch Perception des Neuen. Nicht Gedanke auf Gedanke - - 19 [180] Über die Lüge. Heraklit. Glaube an die Ewigkeit der Wahrheit. Untergang seines Werks - einmal Untergang aller Erkenntniß. Und was ist an Heraklit Wahrheit! Darstellung seiner Lehre als Anthropomorphismus. Ebenso Anaximander. Anaxagoras. Beziehung Heraklits zu dem griechischen Volkscharakter. Es ist der hellenische Kosmos. Entstehung des Pathos der Wahrheit. Zufälliges Entstehen des Erkennens. Die Verlogenheit und Illusion, in der der Mensch lebt. Die Lüge und die Wahrheitsrede Mythus Poesie. Die Fundamente alles Großen und Lebendigen ruhen auf der Illusion. Das Wahrheitspathos führt zum Untergang. (Da liegt das "Große".) Vor allem zum Untergang der Kultur. Empedokles und die Opfer. Eleaten. Plato braucht zum Staat die Lüge. Trennung von der Kultur duch Sektenwesen bei den Griechen. Wir umgekehrt kehren sektenartig zur Kultur zurück, wir suchen das unermeßliche Erkennen wieder in dem Philosophen zurückzudrängen und diesen wieder von dem Anthropomorphischen aller Erkenntniß zu überzeugen. 19 [181]
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Objektiver Werth der Erkenntniß - sie macht nicht besser. Letzte Weltziele hat sie nicht. Ihr Entstehen zufällig. Werth der Wahrhaftigkeit. - Doch sie macht besser! Ihr Ziel ist der Untergang. Sie opfert auf. Unsere Kunst ist Abbild der desperaten Erkenntniß. 19 [182] Die Menschheit hat an der Erkenntniß ein schönes Mittel zum Untergang. 19 [183] Daß der Mensch so und nicht anders geworden ist, ist doch gewiß sein Werk: daß er so eingetaucht ist in die Illusion (Traum) und auf die Oberfläche (Auge) angewiesen ist, ist sein Wesen. Ist es wunderbar, wenn auch die Wahrheitstriebe zuletzt doch wieder auf sein Grundwesen hinauslaufen? 19 [184] Wir fühlen uns groß, wenn wir von einem Mann hören, dessen Leben an einer Lüge hieng und der doch nicht log - noch mehr wenn ein Staatsmann, aus Wahrhaftigkeit, ein Reich zerstört. 19 [185] Unsre Gewohnheiten werden zu Tugenden durch eine freie Übertragung ins Reich der Pflicht, d. h. dadurch daß wir die Unverbrüchlichkeit mit in den Begriff hineinnehmen; d. h. unsere Gewohnheiten werden dadurch zu Tugenden, daß wir das eigne Wohl für geringer halten als ihre Unverbrüchlichkeit - somit durch eine Aufopferung des Individuums oder wenigstens durch die vorschwebende Möglichkeit einer solchen Aufopferung. - Dort wo das Individuum sich gering zu achten anfängt, beginnt das Reich der Tugenden und der Künste - unsere metaphysische Welt. Besonders rein wäre die Pflicht, wenn im Wesen der Dinge dem Moralischen nichts entspräche. 19 [186] Es wirkt nicht etwa Gedanke auf Gedächtniß, sondern der Gedanke durchläuft zahllose feine Metamorphosen, d. h. dem Gedanken entspricht ein Ding an sich, das nun das analoge Ding an sich im Gedächtniß erfaßt. 19 [187] Die Individuen sind die Brücken, auf denen das Werden beruht. Alle Qualitäten sind ursprünglich nur einmalige Aktionen, dann, in gleichen Fällen öfter wiederholte, endlich Gewohnheiten. An jeder Aktion hat das ganze Wesen des Individuums Theil und einer Gewohnheit entspricht eine spezifische Umbildung des Individuums. In einem Individuum ist bis in die kleinste Zelle hinein alles individuell, d. h. hat Theil an allen Erfahrungen und Vergangenheiten. Daher die Möglichkeit der Zeugung. 19 [188] Geschichte der griechischen Philosophie bis Plato nach den Hauptsachen erzählt 321
von F. N. 19 [189] Einleitung. 1. Thales Anaximander Heraklit Parmenides Anax Empedokles Demokrit Pyth. 6. Empedokles. 7. Demokrit. 8. Pythag. 9. Sokrates. Nachtrag. 19 [191] Einleitung über Wahrheit und Lüge. 1. Das Pathos der Wahrheit. 2. Die Genesis der Wahrheit. 3. - - -
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19 [192] Der politische Sinn der älteren griechischen Philosophen, ebenso nachzuweisen als ihre Kraft zur Metapher. 19 [193] Wie nur in den niedersten Formen unsre theatralische Anlage sich noch bewährt, so in der Bierbank unsre Geselligkeit. 19 [194] Am Unmöglichen pflanzt sich die Menschheit fort, das sind ihre Tugenden - der kategorische Imperativ, wie die Forderung "Kindlein liebet euch" sind solche Unmöglichkeitsforderungen. So ist die reine Logik das Unmögliche, an dem sich die Wissenschaft erhält. 19 [195] Der Philosoph ist das Seltenste unter dem Großen, weil das Erkennen nur nebenbei, nicht als Originalbegabung zum Menschen kam. Deshalb aber auch der höchste Typus des Großen. 19 [196] Wir sollen so lernen, wie die Griechen von ihren Vergangenheiten und Nachbarn lernten zum Leben, also mit größter Auswahl und alles Erlernte sofort als Stütze benutzend, auf der man sich hoch - und höher als alle Nachbarn schwingt. Also nicht gelehrtenhaft! Was nicht zum Leben taugt, ist keine wahre Historie. Freilich kommt es darauf an, wie hoch und wie gemein ihr dieses Leben nehmt. Wer die römische Geschichte durch ekelhafte Beziehung auf klägliche moderne Parteistandpunkte und deren ephemere Bildung lebendig macht, der versündigt sich noch mehr an der Vergangenheit als der bloße Gelehrte, der alles todt und mumienhaft läßt. (So ein in dieser Zeit oft genannter Historiker, Mommsen.) 19 [197] Das Benehmen des Sokrates bei dem Prozeß der Feldherrn ist sehr merkwürdig, weil es, in politischen Dingen, seine Wahrhaftigkeit zeigt. 19 [198] Unsre Naturwissenschaft geht auf den Untergang, im Ziele der Erkenntniß, hin. Unsre historische Bildung auf den Tod jeder Kultur. Sie kämpft gegen die Religionen nebenbei vernichtet sie die Kulturen. Es ist eine unnatürliche Reaktion gegen furchtbaren religiösen Druck - jetzt ins Extreme flüchtend. Ohne jedes Maß. 19 [199]
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Die Deutschen sind wahrer Kunstschöpfungen gar nicht würdig: denn irgend eine politische Gans, so eine Art Gervinus, setzt sich gleich mit anmaßlicher Brütegeschäftigkeit darauf, als ob diese Eier nur für sie gerade hingelegt wären. Der Vogel Phönix sollte sich hüten, seine goldenen Eier in Deutschland zu legen. 19 [200] Die abscheuliche deutsche Kultur, die jetzt gar noch die Trompetenstöße des Kriegsruhms um sich her erschallen läßt. So schlechte Lehrer, als sie eben aus unseren berühmten Philologenschulen erwachsen können. 19 [201] Selbst ein ehrenfester Bibelkritiker, wie David Strauß, fängt an, wie eine Köchin aus der chemischen Garküche zu reden, wenn der Hegelsche, Dunst allmählich von ihm abgeflogen ist. Die bekanntlich so "gebildeten" Deutschen verstehen sich darauf, mit Naturwissenschaften sich nur als entlaufene Kandidaten der Theologie zu befassen, und hören nur dahin, wo ihnen das "Wunder" recht kräftig in Verruf gethan erscheint. Jetzt lernt man nun gar, seiner engen Philisterhaftigkeit recht herzlich froh zu sein - der Philister hat seine Unschuld verloren (Riehl). Der Philister und der windige "Gebildete" unserer Zeitungsatmosphäre reichen sich brüderlich die Hand und unter dem gleichen Jauchzen vernichtet der Bonner Afterphilosoph Jürgen Bona-Meyer den Pessimismus und Riehl Jahn oder Strauß die neunte Symphonie. Wie sich so ein buchhändlerisches Gemächte, eben ein Freitagscher Roman ausnimmt, das empfinden jetzt gar zu wenige: unsere abgeblaßten Herrn von dem Litteraturgewerbe werden da reckenhaft grotesk und reden wie die drei Gewaltigen zusammen - oder sie ergetzen sich an weichlichen Nixen in der Manier des Malers Schwind. Wenn ihr nicht groß seid, so hütet euch vor dem Großen. 19 [202] Von irgend einer Vorsehung für gute Bücher vermag ich nichts zu spüren: die schlechten haben fast mehr Aussichten sich zu erhalten. Es sieht wie ein Wunder aus, daß Aeschylus Sophokles und Pindar immer wieder abgeschrieben worden sind und offenbar ist es das zufälligste Ereigniß, daß wir überhaupt eine antike Litteratur besitzen. 19 [203] Wenn Schopenhauer es, in unserem Saeculum, erleben konnte, daß die erste Auflage seines Werkes als Maculatur eingestampft wurde und es im Grunde der Geschäftigkeit unbedeutender, ja bedenklicher Litteraten zu danken ist, daß sein Name aus tiefer Verschollenheit allmählich auftauchte - - 19 [204]
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Die Abstraktionen sind Metonymien d.h. Vertauschungen von Ursache und Wirkung. Nun aber ist jeder Begriff eine Metonymie und in Begriffen geht das Erkennen vor sich. "Wahrheit" wird zu einer Macht, wenn wir sie erst als Abstraktion losgelöst haben. 19 [205] Eine verneinende Moral höchst großartig, weil wundervoll unmöglich. Was heißt es, wenn der Mensch, im offnen Bewußtsein, Nein! sagt, während alle seine Sinne und Nerven Ja! sagen und jede Faser, jede Zelle opponirt. 19 [206] Wenn ich von der furchtbaren Möglichkeit rede, daß die Erkenntniß zum Untergange treibt, so bin ich am wenigsten gewillt, der jetzt lebenden Generation ein Compliment zu machen: von solchen Tendenzen hat sie nichts an sich. Aber wenn man den Gang der Wissenschaft seit dem 15ten Jahrhundert sieht, so offenbart sich allerdings eine solche Macht und Möglichkeit. 19 [207] Der Mensch, der nicht an die Wahrhaftigkeit der Natur glaubt, sondern überall Metamorphosen Verkleidungen Maskeraden sieht, in Stieren Götter, in Rossen weisheitsvolle Naturergründer, in Bäumen Nymphen erblickt - jetzt, wenn er sich selbst das Gesetz der Wahrhaftigkeit stellt, glaubt auch an die Wahrhaftigkeit der Natur gegen ihn. 19 [208] Alle "uns" und "wir" und "ich" wegzulassen. Auch die Sätze mit daß" zu beschränken. Jedes Kunstwort, soweit möglich, zu meiden. 19 [209] Der Mensch hat immer mehr gelernt, sich die Dinge zu adaptiren und sie zu erkennen. Durch die vollendetere Erkenntniß ist er doch nicht den Dingen ferner gerückt, der Mensch steht doch der Wahrheit hierin näher als die Pflanze. Ein empfundener Reiz und ein Blick auf eine Bewegung, verbunden, ergeben die Kausalität zunächst als Erfahrungssatz: zwei Dinge, nämlich eine bestimmte Empfindung und ein bestimmtes Gesichtsbild erscheinen immer zusammen: daß das Eine die Ursache des Andern ist, ist eine Metapher, entlehnt aus Wille und That: ein Analogieschluß. Die einzige Kausalität, die uns bewußt ist, ist zwischen Wollen und Thun - diese übertragen wir auf alle Dinge und deuten uns das Verhältniß von zwei immer beisammen befindlichen Veränderungen. Die Absicht oder das Wollen ergiebt die Nomina, das Thun die Verba. Das Thier als wollendes - das ist sein Wesen. Aus Qualität und That: eine Eigenschaft von uns führt zum Handeln: während im Grunde es so ist, daß aus Handlungen wir auf Eigenschaften schließen: wir nehmen Eigenschaften an, weil wir Handlungen bestimmter Art sehn. Also: das Erste ist die Handlung, diese verknüpfen wir mit einer Eigenschaft.
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Zuerst entsteht das Wort für die Handlung, von da das Wort für die Qualität. Dies Verhältniß übertragen auf alle Dinge ist Causalität. Zuerst "sehen", dann "Gesicht". Das "Sehende" gilt als Ursache des "Sehens". Zwischen dem Sinn und seiner Funktion empfinden wir ein regelmäßiges Verhältniß: Causalität ist die Übertragung dieses Verhältnisses (von Sinn auf Sinnesfunktion) auf alle Dinge. Ein Urphänomen ist: den im Auge empfundenen Reiz auf das Auge zu beziehn, das heißt eine Sinneserregung auf den Sinn zu beziehn. An sich gegeben ist ja nur ein Reiz: diesen als Aktion des Auges zu empfinden und ihn sehen zu nennen ist ein Kausalitätsschluß. Einen Reiz als eine Thätigkeit zu empfinden, etwas Passives aktiv zu empfinden ist die erste Kausalitätsempfindung, d. h. die erste Empfindung bringt bereits diese Kausalitätsempfindung hervor. Der innere Zusammenhang von Reiz und Thätigkeit übertragen auf alle Dinge. So ein Wort "sehen" ist ein Wort für jenes Ineinander von Reiz und Thätigkeit. Das Auge ist thätig auf einen Reiz: d. h. sieht. An unseren Sinnesfunktionen deuten wir uns die Welt: d. h. wir setzen überall eine Kausalität voraus, weil wir selbst solche Veränderungen fortwährend erleben. 19 [210] Zeit Raum und Kausalität Sind nur Erkenntniß metaphern, mit denen wir die Dinge uns deuten. Reiz und Thätigkeit verbunden: wie das ist, wissen wir nicht, wir verstehn keine einzige Kausalität, aber wir haben unmittelbare Erfahrung von ihnen. Jedes Leiden ruft ein Thun hervor, jedes Thun ein Leiden - dies das allgemeinste Gefühl bereits schon Metapher. Die wahrgenommene Vielheit setzt dann schon Zeit und Raum voraus, hintereinander und nebeneinander. Das Nebeneinander in der Zeit erzeugt die Raumempfindung. Zeitempfindung gegeben mit dem Gefühl von Ursache und Wirkung, als Antwort auf die Frage nach dem Schnelligkeitsgrade bei verschiedenen Kausalitäten. Raumempfindung erst durch Metapher aus der Zeitempfindung abzuleiten - oder umgekehrt? Zwei Causalitäten nebeneinander lokalisirt19 [211] Ich mache einen Versuch, denen zu nützen, welche es werth sind, zeitig und ernstlich in das Studium der Philosophie eingeführt zu werden. Dieser Versuch mag nun gelungen sein oder nicht, so weiß ich doch zu gut, daß er zu übertreffen ist und wünsche nichts mehr als, zum Besten jener Philosophie, nachgeahmt und übertroffen zu werden. Solchen ist aus guten Gründen anzurathen, nicht sich der Führung beliebiger akademischer Berufs-Philosophen anzuvertrauen, Sondern Plato zu lesen. Sie sollen vor allem allerlei Flausen verlernen und einfach und natürlich werden. Gefahr in falsche Hände zu gerathen. 19 [212]
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Einleitung. Typen von Köpfen und Lehren zur Einleitung nöthig. Einfach müssen sie sein und leichter zu über schauen. Das, was Philosophie ist, muß deutlich werden, speziell die Aufgabe der Philosophie innerhalb einer Kultur. Daß es die Griechen sind, im Zeitalter der Tragödie, die philosophiren. Der Sinn der Geschichte: eine Metamorphose der Pflanzen. Beispiel. (Ideal<e> und "ikonische" Geschichte - letztere unmöglich Über die Filtration durch den gewöhnlichen Kopf. Schopenhauer, I, XXVI. Widerwille gegen Compilationen. Vorbildlich Schopenhauers Fragen zur Philosophie und Kritik Kants. Schopenhauer, I 290. 19 [213] Nach Art der alten Historiker. 2. Griechen rechtfertigen. 3. Thales. 19 [214] Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen. Kurzgefasster Bericht über die alten philosophischen Meister der Griechen. 19 [215] Die einzige Art, die Vielheit zu bezwingen, ist, daß wir Gattungen machen, z. B. kühn eine ganze Menge von Handlungsweisen nennen. Wir erklären sie uns, wenn wir sie unter die Rubrik "kühn" bringen. Alles Erklären und Erkennen ist eigentlich nur ein Rubriziren. - Nun mit kühnem Schwung: die Vielheit der Dinge wird unter einen Hut gebracht, wenn wir sie gleichsam als unzählige Handlungen einer Qualität betrachten z. B. als Handlungen des Wassers, wie bei Thales. Hier haben wir eine Übertragung: eine Abstraktion faßt zahllose Handlungen zusammen und gilt als Ursache. Welches ist die Abstraktion (Eigenschaft), welche die Vielheit aller Dinge zusammenfaßt? Die Qualität "wässerig", "feucht". Die ganze
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Welt ist feucht, also ist Feuchtsein die ganze Welt. Metonymia! Ein falscher Schluß. Ein Prädikat ist verwechselt mit einer Summe von Prädikaten (Definition). Das logische Denken wenig geübt bei den Ioniern, entwickelt sich ganz langsam. Die falschen Schlüsse werden wir aber richtiger als Metonymien d. h. rhetorisch poetisch fassen. Alle rhetorischen Figuren (d.h. das Wesen der Sprache)sind logische Fehlschlüsse. Damit fängt die Vernunft an! 19 [216] Wir sehen, wie zuerst weiter philosophirt wird, so wie die Sprache entstanden ist, d.h. unlogisch. Nun kommt das Pathos der Wahrheit und Wahrhaftigkeit hinzu. Dies hat zunächst mit dem Logischen nichts zu thun. Es besagt nur, daß keine bewußte Täuschung begangen wird. Jene Täuschungen aber in der Sprache und in der Philosophie sind zuerst unbewußte und sehr schwer zum Bewußtsein zu bringen. Aber durch das Nebeneinander verschiedener mit gleichem Pathos aufgestellter Philosophien (oder religiöser Systeme) entstand ein sonderbarer Kampf. Bei dem Nebeneinander feindlicher Religionen half sich jede dadurch, daß sie die andere für unwahr erklärte: so auch bei den Systemen. Dies brachte Einige zur Skepsis: die Wahrheit liegt im Brunnen! seufzten sie. Bei Sokrates kommt die Wahrhaftigkeit in den Besitz der Logik: sie merkt die unendliche Schwierigkeit des richtigen Rubrizirens. 19 [217] Tropen sind's, nicht unbewußte Schlüsse, auf denen unsre Sinneswahrnehmungen beruhn. Ähnliches mit Ähnlichem identificiren - irgend welche Ähnlichkeit an einem und einem andern Ding ausfindig machen ist der Urprozeß. Das Gedächtniß lebt von dieser Thätigkeit und übt sich fortwährend. Die Verwechslung ist das Urphänomen. - Dies setzt voraus das Gestaltensehen. Das Bild im Auge ist für unser Erkennen maßgebend, dann der Rhythmus unseres Gehörs. Vom Auge aus würden wir nie zur Zeitvorstellung kommen, vom Ohre aus nie zur Raumvorstellung. Dem Tastgefühl entspricht die Kausalitätsempfindung. Von vorn herein sehen wir ja die Bilder im Auge nur in uns, wir hören den Ton nur in uns von da zur Annahme einer Außenwelt ist ein weiter Schritt. Die Pflanze z. B. empfindet keine Außenwelt. Das Tastgefühl, und zugleich das Gesichtsbild geben zwei Empfindungen nebeneinander empirisch, diese, weil sie immer mit einander erscheinen, erwecken die Vorstellung eines Zusammenhangs (durch Metapher - denn nicht alles MiteinanderErscheinende hängt zusammen). Die Abstraktion ist ein höchst wichtiges Erzeugniß. Es ist ein dauernder im Gedächtniß festgehaltener und hartgewordener Eindruck, der auf sehr viele Erscheinungen paßt und deshalb, jedem Einzelnen gegenüber, sehr grob und unzureichend ist. 19 [218] Wahrheitspathos in einer Lügenwelt. 328
Lügenwelt wieder in den höchsten Spitzen der Philosophie. Zweck dieser höchsten Lügen Bändigung des unumschränkten Erkenntnißtriebes. Entstehung des Erkenntnißtriebes aus der Moral. 19 [219] Woher das Wahrheitspathos in der Lügenwelt? Aus der Moral, Das Wahrheitspathos und die Logik. Die Kultur und die Wahrheit. 19 [220] Jede kleine Erkenntniß hat eine große Befriedigung in sich: doch nicht als Wahrheit, sondern als Glaube, die Wahrheit entdeckt zu haben. Welcher Art ist diese Befriedigung? 19 [221] Die Kultur eine Einheit. Nur scheint der Philosoph außerhalb zu stehn. Er wendet sich an die fernste Nachwelt - Ruhm. Merkwürdig, daß die Griechen philosophirt haben. Die schöne Lüge. Aber noch merkwürdiger, daß der Mensch überhaupt zum Wahrheitspathos gekommen. Die Bilder in ihm sind ja viel mächtiger als die Natur um ihn: wie bei den deutschen Malern des 15ten Jhs., die, trotz der sie umgebenden Natur, so spinnenartige Glieder schaffen - von der alten frommen Tradition bestimmt. Plato will einen neuen Staat, in dem die Dialektik herrscht, er verneint die Kultur der schönen Lüge. 19 [222] In Deutschland wird jetzt nicht philosophirt und deshalb ist die Frage: was eigentlich der Philosoph sei, unter den Deutschen unverständlich. Daher auch die anhaltende, zuletzt in Böswilligkeit übergehende Verwunderung, daß jemand, ohne sich um sie zu kümmern, und doch an sie appellirend, als Philosoph unter ihnen leben konnte. Die Deutschen vertragen es jetzt nicht, ebensowenig wie Gespenster, angerufen zu werden. Die verzweifelte Ungelegenheit, als Philosoph unter den Deutschen geboren zu werden! 19 [223] Die Moralitätsinstinkte: die Mutterliebe - allmählich zur Liebe überhaupt. Ebenso die Geschlechtsliebe. Überall erkenne ich Übertragungen. 19 [224] 329
Vieles in der Natur ist feucht: alles in der Natur ist feucht. Feuchtigkeit gehört zum Wesen der Natur: Feuchtigkeit ist das Wesen der Natur. So Thales. 19 [225] Unwahrheit des Menschen gegen sich selbst und gegen andere: Voraussetzung die Unkenntniß - nöthig, um zu existiren (selbst - und in Gesellschaft). In das vacuum stellt sich die Täuschung der Vorstellungen. Der Traum. Die überkommenen Begriffe (die den altdeutschen Maler, trotz der Natur, beherrschen) in allen Zeiten verschieden. Metonymien. Reize, nicht volle Erkenntnisse. Das Auge giebt Gestalten. Wir hängen an der Oberfläche. Die Neigung zum Schönen. Mangel an Logik, aber Metaphern. Religionen. Philosophien. Nachahmen. 19 [226] Das Nachahmen ist das Mittel aller Kultur, dadurch wird allmählich der Instinkt erzeugt. Alles Vergleichen (Urdenken) ist ein Nachahmen. So bilden sich Arten, daß die ersten nur ähnliche Exemplare stark nachahmen, d. h. dem größten und kräftigsten Exemplare es nachmachen. Die Anerziehung einer zweiten Natur durch Nachahmung. In der Zeugung ist das unbewußte Nachbilden am merkwürdigsten, dabei das Erziehen einer zweiten Natur. Unsre Sinne ahmen die Natur nach, indem sie immer mehr dieselbe abkonterfeien. Das Nachahmen setzt voraus ein Aufnehmen und dann ein fortgesetztes Übertragen des aufgenommenen Bildes in tausend Metaphern, alle wirkend. Das Analoge 19 [227] Welche Macht zwingt zur Nachahmung? Die Aneignung eines fremden Eindrucks durch Metaphern. Reiz - Erinnerungsbild durch Metapher (Analogieschluß) verbunden. Resultat: es werden Ähnlichkeiten entdeckt und neu belebt. An einem Erinnerungsbilde spielt sieh der wiederholte Reiz noch einmal ab. Reiz percipirt - jetzt wiederholt, in vielen Metaphern, wobei verwandte Bilder, aus den verschiedenen Rubriken, herbeiströmen. Jede Perception erzielt eine vielfache Nachahmung des Reizes, doch mit Übertragung auf verschiedene Gebiete. Reiz empfunden übertragen auf verwandte Nerven dort, in Übertragung, wiederholt usw. Es findet ein Übersetzen des einen Sinneseindrucks in den andern statt: manche sehen etwas oder schmecken etwas bei bestimmten Tönen. Dies ein ganz allgemeines Phänomen. 19 [228]
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Das Nachahmen ist darin der Gegensatz des Erkennens, daß das Erkennen eben keine Übertragung gelten lassen will, sondern ohne Metapher den Eindruck festhalten will und ohne Consequenzen. Zu diesem Behufe wird er petrificirt: der Eindruck durch Begriffe eingefangen und abgegränzt, dann getödtet, gehäutet und als Begriff mumisirt und aufbewahrt. Nun aber giebt es keine "eigentlichen" Ausdrücke und kein eigentliches Erkennen ohne Metapher. Aber die Täuschung darüber besteht, d. h. der Glaube an eine Wahrheit des Sinneneindrucks. Die gewöhnlichsten Metaphern, die usuellen, gelten jetzt als Wahrheiten und als Maaß für die seltneren. An sich herrscht hier nur der Unterschied zwischen Gewöhnung und Neuheit, Häufigkeit und Seltenheit. Das Erkennen ist nur ein Arbeiten in den beliebtesten Metaphern, also ein nicht mehr als Nachahmung empfundenes Nachahmen. Es kann also natürlich nicht ins Reich der Wahrheit dringen. Das Pathos des Wahrheitstriebes setzt die Beobachtung voraus, daß die verschiedenen Metapherwelten mit einander uneins sind und kämpfen z. B. der Traum, die Lüge usw. und die gewöhnliche usuelle Auffassung: davon die eine die seltnere, die andere die häufigere ist. Also der Usus kämpft gegen die Ausnahme an, das Regelmäßige gegen das Ungewöhnliche. Daher die Achtung der Tageswirklichkeit vor der Traumwelt. Nun aber ist das Seltene und Ungewöhnliche das Reizvollere - die Lüge wird als Reiz empfunden. Poesie. 19 [229] In der politischen Gesellschaft ist eine feste Übereinkunft nöthig, sie ist auf den usuellen Gebrauch von Metaphern gegründet. Jeder ungewöhnliche regt sie auf, ja vernichtet sie. Also jedes Wort so brauchen, wie es die Masse braucht, ist politische Convenienz und Moral. Wahr sein heißt nur nicht abweichen vom usuellen Sinn der Dinge. Das Wahre ist das Seiende, im Gegensatz zum Nichtwirklichen. Die erste Convention ist die über das, was als "seiend" gelten soll. Aber der Trieb wahr zu sein, übertragen auf die Natur, erzeugt den Glauben daß auch die Natur gegen uns wahr sein muß. Erkenntnißtrieb beruht auf dieser Übertragung. Unter "wahr" wird zuerst nur verstanden das, was usuell die gewohnte Metapher ist - also nur eine Illusion, die durch häufigen Gebrauch gewohnt worden ist und nicht mehr als Illusion empfunden wird: vergessene Metapher, d. h. eine Metapher, bei der vergessen ist, daß es eine ist. 19 [230] Der Trieb zur Wahrheit beginnt mit der starken Beobachtung, wie entgegengesetzt die wirkliche Welt und die der Lüge ist und wie alles Menschenleben unsicher ist, wenn die Conventions-Wahrheit nicht unbedingt gilt: es ist eine moralische Überzeugung von der Nothwendigkeit einer festen Convention, wenn eine menschliche Gesellschaft existiren soll. Wenn irgendwo der Kriegszustand aufhören soll, so muß er beginnen mit der Fixirung der Wahrheit d. h. einer gültigen und verbindlichen Bezeichnung der Dinge. 331
Der Lügner gebraucht die Worte, um das Unwirkliche als Wirklich erscheinen zu machen, d. h. er mißbraucht das feste Fundament. Andernseits ist der Trieb zu immer neuen Metaphern da, er entladet sich im Dichter, im Schauspieler usw., in der Religion vor allem. Der Philosoph sucht nun in dem Bereich, in dem die Religionen walteten, auch das "Wirkliche", das Bleibende, im Gefühl des ewigen mythischen Lügenspiels. Er will Wahrheit, die bleibt. Er breitet also das Bedürfniß nach festen Wahrheitsconventionen auf neue Gebiete aus. 19 [231] Der älteste Monotheismus meint eben das eine glänzende Himmelsgewölbe und nennt es dewas. Sehr beschränkt und unplastisch. Welcher Fortschritt sind die polytheistischen Religionen. 19 [232] Die redenden Künste! Da liegt's, weshalb die Deutschen keine Schriftsteller werden können! 19 [233] Goethe konnte Märchen erzählen, Herder war Prediger. Der Faust ist die einzige nationale Redeentfaltung im Knittelvers. 19 [234] Ich möchte die Frage nach dem Werthe der Erkenntniß behandeln wie ein kalter Engel, der die ganze Lumperei durchschaut. Ohne böse zu sein, aber ohne Gemüth. 19 [235] Alle Naturgesetze sind nur Relationen eines x zu y und z. Wir definiren Naturgesetze als die Relationen zu einem xyz, davon jedes wiederum uns nur als Relationen zu andern xyz bekannt ist. 19 [236] Das Erkennen, ganz streng genommen, hat nur die Form der Tautologie und ist leer. Jede uns fördernde Erkenntniß ist ein Identificiren des Nichtgleichen, des Ähnlichen, d. h. ist wesentlich unlogisch. Wir gewinnen einen Begriff nur auf diesem Wege und thun nachher, als ob der Begriff "Mensch" etwas Thatsächliches wäre, während er doch nur durch Fallenlassen aller individuellen Züge von uns gebildet ist. Wir setzen voraus, daß die Natur nach einem solchen Begriff verfahre: hier ist aber einmal die Natur und sodann der Begriff anthropomorphisch. Das Übersehn des Individuellen giebt uns den Begriff und damit beginnt unsre Erkenntniß: im Rubriziren, in Aufstellungen von Gattungen. Dem entspricht aber das Wesen der Dinge nicht: es ist ein Erkenntnißprozeß, der das Wesen der Dinge nicht trifft. Viele einzelne Züge 332
bestimmen uns ein Ding, nicht alle: die Gleichheit dieser Züge veranlaßt uns viele Dinge unter einen Begriff zusammenzunehmen. Wir produziren als Träger der Eigenschaften Wesen und Abstraktionen als Ursachen dieser Eigenschaften. Daß eine Einheit, ein Baum z. B., uns als Vielheit von Eigenschaften, von Relationen erscheint, ist in doppelter Weise anthropomorphisch: erstens existirt diese abgegrenzte Einheit "Baum" nicht, es ist willkürlich ein Ding so herauszuschneiden (nach dem Auge, nach der Form), es ist jede Relation nicht die wahre absolute Relation, sondern wieder anthropomorphisch gefärbt. 19 [237] Der Philosoph sucht nicht die Wahrheit, sondern die Metamorphose der Welt in den Menschen: er ringt nach einem Verstehen der Welt mit Selbstbewußtsein. Er ringt nach einer Assimilation: er ist befriedigt, wenn er irgend etwas anthropomorphisch zurechtgelegt hat. Wie der Astrolog die Welt im Dienste der einzelnen Individuen ansieht, so der Philosoph die Welt als Mensch. Der Mensch als Maaß der Dinge ist ebenfalls der Gedanke der Wissenschaft. Jedes Naturgesetz ist zuletzt eine Summe von anthropomorphischen Relationen. Besonders die Zahl: die Auflösung aller Gesetze in Vielheiten, ihr Ausdruck in Zahlenformeln ist eine µεταϕορα, wie jemand, der nicht hören kann, die Musik und den Ton nach den Chladnischen Klangfiguren beurtheilt. 19 [238] Am schwersten entwickelt sich das Gefühl für die Gewißheit. Zunächst sucht man Erklärung: wenn eine Hypothese viel erklärt, so wird der Schluß gemacht, daß sie alles erkläre. 19 [239] Anaximander entdeckt den widerspruchsvollen Charakter unserer Welt: an ihren Qualitäten geht sie zu Grunde. 19 [240] Die Welt ist Erscheinung - aber nicht wir allein sind Ursache, daß sie erscheint. Noch von einer anderen Seite her ist sie unreal. 19 [241] Unsre Erlebnisse bestimmen unser Individuum, und zwar so, daß, nach jedem Gefühlseindruck, unser Individuum bis in die letzte Zelle hinein bestimmt ist. 19 [242] Das Wesen der Definition: der Bleistift ist ein länglicher usw. Körper. A ist B. Das was länglich ist, ist hier zugleich bunt. Die Eigenschaften enthalten nur Relationen.
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Ein bestimmter Körper ist gleich so und so viel Relationen. Relationen können nie das Wesen sein, sondern nur Folgen des Wesens. Das synthetische Urtheil beschreibt ein Ding nach seinen Folgen, d.h. Wesen und Folgen werden identificirt, d.h. eine Metonymie. Also im Wesen des synthetischen Urtheils liegt eine Metonymie, d. h. es ist eine falsche Gleichung. D.h. die synthetischen Schlüsse sind unlogisch. Wenn wir sie anwenden, setzen wir die populäre Metaphysik voraus, d. h. die, welche Wirkungen als Ursachen betrachtet. Der Begriff "Bleistift" wird verwechselt mit dem "Ding" Bleistift. Das "ist" im synthetischen Urtheil ist falsch, es enthält eine Übertragung, zwei verschiedene Sphären werden neben einander gestellt, zwischen denen nie eine Gleichung stattfinden kann. Wir leben und denken unter lauter Wirkungen des Unlogischen, in Nichtwissen und Falschwissen. 19 [243] Die Welt der Unwahrheit: Der Traum und das Wachen. Kurzes Selbstbewußtsein. Schmale Erinnerung. Synthetische Urtheile. Die Sprache. Die Illusionen und Ziele. Der verlogene Standpunkt der Gesellschaft. Zeit und Raum. 19 [244] Woher in aller Welt das Wahrheitspathos? Es will nicht die Wahrheit, sondern den Glauben, das Zutrauen zu etwas. 19 [245] Frage nach der Teleologie des Philosophen - der die Dinge nicht historisch und nicht gemüthlich ansieht. Die Frage erweitert sich ihm zur Frage vom Werthe der Erkenntniß.
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Umschreibung des Philosophen - er braucht den Ruhm, er denkt nicht an den Nutzen, der von der Erkenntniß ausgeht, sondern den Nutzen, der in der Erkenntniß selbst liegt. Wenn er ein Wort fände, das ausgesprochen die Welt vernichten würde, glaubt ihr, er spräche es nicht aus? Was heißt es, daß er glaubt die Menschheit brauche die Wahrheit? 19 [246] Welches ist der Werth der Erkenntniß überhaupt? Die Welt der Lüge - die Wahrheit kommt allmählich zum Rechte - alle Tugenden entstehen aus Lastern. 19 [247] 1. Flucht vor dem Gebildeten und dem Gemüthlichen. 2. Ruhm und der Philosoph. 3. Die Wahrheit und ihr Werth als reines Metaphysikum. 19 [248] Haupttheil: die Systeme als Anthropomorphismen. Leben in der Lüge. Pathos der Wahrheit, vermittelt durch Liebe und Selbsterhaltung. Nachahmen und Erkennen. Bändigung des unumschränkten Erkenntnißtriebes durch die Täuschung. Gegen die ikonische Geschichtsschreibung. Die Religionen. Die Kunst. Die Unmöglichkeit und der Fortschritt. Betrachtung eines bösen Dämons über den Werth der Erkenntniß, Hohn. Astrologie. Das Tragische, ja Resignirte der Erkenntniß nach Kant. Kultur und Wissenschaft. Wissenschaft und Philosophie.
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Gesetzgebung der Größe. Das Weiterzeugen im Schönen. Der Logiker. Resultat: Zwecklos entstanden, zufällig, Unmögliches erstrebend, moralisch und historisch, das Leben verachtend. Das als Wahrheit verehrte Phantom hat die gleichen Wirkungen, gilt ebenfalls als Metaphysikum. 19 [249] Metapher heißt etwas als gleich behandeln, was man in einem Punkte als ähnlich erkannt hat. 19 [250] Der Ruhm täuscht sich darin: nie wird einer wieder das Schöpfergefühl so fühlen, wie es der Schöpfer selbst gefühlt hat. Also auch nie die völlige Schätzung möglich. 19 [251] Das Vertrauen zu einer gefundenen Wahrheit zeigt sich darin, daß man sie mittheilen will. Man kann sie nun doppelt mittheilen: in ihren Wirkungen, so daß die Anderen durch sie rückwärts von dem Werthe des Fundamentes überzeugt sind. Oder durch Beweisen der Entstehung und logischen Verflechtung von lauter sichern und bereits erkannten Wahrheiten. Die Verflechtung besteht im richtigen Unterordnen spezieller Fälle unter allgemeine Sätze ist ein reines Rubriziren. 19 [252] Das Kunstwerk verhält sich ähnlich zur Natur, wie sich der mathematische Kreis zum natürlichen Kreis verhält. 19 [253] Warum wollen wir nicht getäuscht werden? - Wir wollen es in der Kunst. Wir begehren wenigstens für vieles die Unwissenheit d. h. auch die Täuschung. Er will, soweit es zum Leben nöthig ist, nicht getäuscht werden d. h. er muß sich erhalten können, in diesem Bereich des Bedürfnisses will er Zutrauen haben dürfen. Nur die Täuschung, die feindlich ist, verschmäht er, nicht die erfreuliche. Er flieht das Betrogenwerden, die schlimme Täuschung. Also im Grunde nicht die Täuschung, sondern die Folge der Täuschung und zwar die schlimme Folge. Also wo in seinem Zutrauen mit bösen Folgen getäuscht zu werden möglich ist, da verwirft er die Täuschung. Da will er die Wahrheit d. h. wieder er will die angenehmen Folgen. Die Wahrheit kommt nur in Betracht als Mittel gegen feindselige Täuschungen. Die Forderung der Wahrheit heißt: thue den Menschen durch Betrug nichts Böses. Gegen die reine, folgenlose Erkenntniß der Wahrheit ist der Mensch gleichgültig. 336
Dafür hat ihn die Natur auch nicht eingerichtet. Der Glaube an die Wahrheit ist der Glaube an gewisse beglückende Wirkungen. - Woher kommt nun alle Moralität des Wahrheitsverlangens? Bis jetzt ist alles egoistisch. Oder: wo wird das Wahrheitsverlangen heroisch und für das Individuum verderblich? 19 [254] Sucht der Philosoph die Wahrheit? Nein, dann läge ihm mehr an der Gewißheit. Die Wahrheit ist kalt, der Glaube an die Wahrheit ist mächtig. 19 [255] Herrschaft der Kunst über das Leben - natürliche Seite. Cultur und Religion. Cultur und Wissenschaft. Cultur und Philosophie. Kosmopolitischer Weg zur Cultur. Romanischer und griechischer Begriff der Kunst. Schiller's und Goethe's Ringen. Schilderung des "Gebildeten". Falscher Begriff des Deutschen. Die Musik als lebendiger Keim. 19 [256] Auf der natürlichen Vorstufe ist ein Volk nur soweit eine Einheit, als es eine gemeinsame primitive Kunst hat. 19 [257] Durch Isolation können einige Begriffsfolgen so vehement werden, daß sie die Kraft anderer Triebe an sich ziehn. So z. B. der Erkenntnißtrieb. Eine so präparirte Natur, bis in die Zelle bestimmt, pflanzt sich nun wieder fort und vererbt sich: sieh steigernd, bis endlich die Absorption nach dieser Seite hin die allgemeine Kräftigkeit zerstört. 19 [258] Die Wahrheit ist dem Menschen gleichgültig: dies zeigt die Tautologie, als die einzig zugängliche Form der Wahrheit. 337
Dann heißt die Wahrheit suchen auch richtig rubriziren, d. h. einem vorhandenen Begriff richtig die einzelnen Fälle unterordnen. Hier ist aber der Begriff unsere That, wie auch die vergangenen Zeiten. Die ganze Welt unter die richtigen Begriffe subsumiren heißt doch nichts als unter die ursprünglich menschlichen allgemeinsten Formen der Relation die einzelnen Dinge einreihen: also die Begriffe nur bewähren, das was wir unter sie steckten, wieder auch unter ihnen zu suchen also im Grunde auch Tautologie. 19 [259] Anzugreifen Philologenversammlung. Straßburger Universität. Auerbach in der Augsburgerin, nationale Denkmäler. Freitag Ingo Gelehrte Technik Gottschall. Junges Deutschland. Universität Leipzig, Zöllner. Theaterverschwendung. Kunstdotation im Reichstage. Grimm, Lübke, Julian Schmidt. Jürgen -Meyer, Kuno Fischer, Lotze. Riehl, Schwind. Berliner Professorenwirthschaft. Jahn und Hauptmann. Gervinus. Hanslick. Centralblatt. Abseits-Musikmachen. Leipzig, die Geburtsstadt Wagner's. Strauß.
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19 [260] Die "Drastiker" können die unendliche Melodie nicht finden; sie sind immer zu Ende und bei ihren drastischen Accenten. 19 [261] Elemente der deutschen Kultur gelehrte religiös-befreiende Nachahmungstrieb des Auslandes. 19 [262] Das laisser aller in den Wissenschaften: jeder Gelehrte für sich. Der Geist der gesammten Gelehrten-Republik empört sich negativ, aber begeistert sich nicht. 19 [263] Die Milderung der Sitten (Religion), die Gelehrsamkeit und Wissenschaft vertragen sich mit Barbarei. - Der Kulturweg der Deutschen wagt jetzt sich eine Organisation, ein Tribunal zu schaffen. 19 [264] Ein Glück, daß die Musik nicht spricht - obschon jetzt die Musiker viel schwätzen. Deshalb eignet sie sich zu einem Keim der Rettung. 19 [265] In Deutschland reden nur drei Sorten von Berufswegen viel: der Magister, der Pastor, die Amme. 19 [266] Bildung - nicht Lebensnoth, sondern Überfluß. Die Kunst entweder Convention oder Physis. Versuch unserer großen Dichter zu einer Convention zu kommen. Goethe und das Schauspielwesen. Die Naturwahrheit - das Pathologische war zu mächtig. Sie haben es zu keiner Form gebracht. 19 [267]
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1. Schilderung der einsamen Bayreuther Pfingsthoffnungen. Persönliche Interpretation der Neunten auf Wagner und symbolische Hoffnung aus seinem Leben für unsre Kultur. Unsre höchste Furcht, daß wir nicht reif sind für die Wunder, daß ihre Wirkung nicht tief genug ist. 2. Ringsum Stille, keiner merkt etwas. Die Regierungen glauben an die Güte ihrer Bildung, die Gelehrten auch. Benutzung der Wirkung des Krieges. Wodurch hat man ihn geheiligt? Dumpfe Abneigung gegen Wagner. 3. Den einzigen Lärm erheben die zunächst bedrohten Vertreter der schlechten jetzigen Kunstinstitute, Journale, diese fürchten sich. Lärmende Abneigung. Kann nur bestehen durch Anlehnung an jene dumpfe ahnende Abneigung. Ahnung des Untergangs des jetzigen Gebildeten. 19 [268] Plan zu 6 Vorträgen. Die Kunst und unsere Pfingsttage. Der Gebildete in seinen Formen. Genesis des Gebildeten. Romanischer und hellenischer Begriff der Kunst und unsre Klassiker. Musik, Drama und Leben. Morgenroth-Perspektiven. Das Tribunal für die höhere Erziehung. Die naiven Phänomene treten der Reihe nach vor, der wahre Künstler, der Sinn der Kunst, der tiefe Ernst einer neuen Weltbetrachtung. 19 [269] Unsere Verwunderung zu Pfingsten. Es war kein Musikfest. Es sah wie ein Traum aus. Jedesmal wenn Wagner beleidigt, berührt er ein tiefes Problem. Philologenversammlung. Straßburg. - Lehrer und Universitäten und deren Leiter ahnten nichts. 19 [270] 1.2.3. Charakteristik des Gebildeten. 1.2.3. Genesis des Gebildeten. Es giebt für sie kein δοζ µοι που στω. Ungeheures Ringen Schiller's und Goethe's.
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Sie suchen nach dem Talisman des Deutschen. Lernen vom Auslande bei den Griechen. Romanischer und hellenischer Begriff der Kunst. 1.2.3. Wagner erkennt die Musik als solches δοζ µοι που στω. Antiker Satz von der Musik und dem Staate. Der nächste Schritt: Musik schafft sich das Drama. Jetzt kommt zu Tage, was das Wortdrama ist: gelehrt, unoriginal, erlogen oder Drastik. Wagner. Goethes Volkslied, Marionettentheater, Volksvers. Mythus. Er schafft erst das Deutsche. Consequenzen der antiken Tragödie für alle Künste und das Leben. Die "Gebildeten" sind in Verlegenheit. 19 [271] Woher sollen wir eine Litteratur haben? Wir haben ja keine Redner. Goethe der Mährchenerzähler, - - Der Herr Pastor und die Frau Base, idealisirt, ergeben die Grundtypen unserer Schriftsteller. Amme, Magister, Pastor, Junker. 19 [272] Unglücksfälle der deutschwerdenden Kultur: Hegel Heine das politische Fieber, das das Nationale betonte. Kriegsruhm. Stützen der deutschwerdenden Kultur: Schopenhauer - vertieft die Weltbetrachtung der Goethe-Schiller-Kultur. 19 [273] Masken des bürgerlichen Lustspiels Kotzebue's. Die "alten Jungfern", die sentimentalischen: Riehl, Gervinus, Schwind, Jahn, Freitag reden viel von der Unschuld und der Schönheit. Die jungen "Greise" (Blasirten), die historischen: Ranke, die Zeitungsschreiber, Mommsen, Bernays. sind über alles hinaus. Die ewigen Gymnasiasten: Gottschall, Lindau, Gutzkow, Laube. Die Unfrommen vom Lande: Strauß. Die Philisterei ist die eigentliche Unfrömmigkeit. 19 [274] Bayreuther Horizont-Betrachtungen.
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1. Bayreuther Pfingsttage. Ungeheures Nicht-Verstehen rings herum. Philologenversammlung in Leipzig. Der Krieg und die Universität Straßburg. 2. Die Weichlichen. 3. Die Historischen. Charakteristik der 4. Die Gelehrten. "Gebildeten". 5. Die Zeitungsschreiber. 6. Die Naturwissenschaftlichen. 7.8. Schulen. Universitäten. Genesis des 9. Ihr Verfahren mit der Kunst "Gebildeten". 10. Der Phönizier in den Hauptstädten: als Nachahmer jener Bildung. 11.12. Hauptsatz: Es giebt keine deutsche Bildung, weil es noch keinen deutschen Kunststil giebt. Ungeheure Arbeit Schillers Goethes zu einem deutschen Stile zu kommen. Kosmopolitische Tendenz nothwendig. Fortsetzung der Reformationsarbeit. Wagner's δοζ µοι που στω; die deutsche Musik. An ihr kann man lernen, wie die deutsche Kultur sich verhalten wird zu anderen Kulturen. Plato über Musik: Kultur. Sie ist nicht "historisch", an ihr kann man das Lebendige fühlen. Sie hat das Gelehrtenhafte tiefsinnig überwunden und in instinktive Technik verwandelt. Sie belebt den Mythus wieder (Meistersinger). 19 [275] Einleitung. Charakteristik des "Gebildeten". Genesis des "Gebildeten". Es giebt noch keine Bildung. Schilderung des bisherigen Kampfes. Das Drama (die Drastiker, ihre drastischen Accente sind wie die dramatischen Accente und Fermaten der Oper). Selbst das Trinklied der Deutschen ist gelehrt. 19 [276] Die "Bildung" versuchte sich auf der Schiller-Goetheschen Basis, wie auf einem Ruhebette, niederzulassen. 19 [277]
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1 . Das Rohdesche Fragment. 2. Heldenklage. 3. Gern und gerner. 4. Unendlich! 5. Verwelkt. 6. Es winkt und neigt sich. 7. Ständchen. 8. Nachspiel. 9. Der Könige Tod. 10. So lach doch mal. 11. Etes titok. 12. Sturmmarsch. 13. Aus der ersten Sylvesternacht. 14. Miserere. 15. Mariae Verkündigung. 19 [278] Der feste Punkt, um den sich das griechische Volk krystallisirt, ist seine Sprache. Der feste Punkt, an dem seine Kultur sich krystallisirt, ist Homer. Also beidemal sind es Kunstwerke. 19 [279] A. Dove nimmt sich Puschmanns, P. Lindau des Mohrs an Das Aufheben, das die Deutschen von dem in allen Kunstfragen wahrhaft albernen Gervinus gemacht haben. 19 [280] Heinrich Kleist redet als Dramatiker und Erzähler zu uns, als ob er zugleich einen hohen Berg besteige. Goethe über Kleist: fürchtet sich. 343
Die dramatische Kunst ist unserm Publikum gegenüber eitel Blendwerk: es hat kein ästhetisches Gefühl, sondern ist pathologisch. 19 [281] Wir können. uns den Gelehrten ohne Kultur, den Frommen ohne Kultur, den Philosophen ohne Kultur denken: im Gelehrtsein liegt ein Widerspruch mit der Einheit der Bildung, im christlichen Frommsein ein Widerspruch - - 19 [282] Scheidung der intellectuellen Faktoren von den intelligibeln im Wesen des Philosophen. 19 [283] Die Faktoren der jetzigen Cultur. 1 . Das Historische, das Werden. 2. Das Philistrose, das Sein. 3. Das Gelehrtenhafte. 4. Cultur ohne Volk. 5. Sitte wesentlich fremdländisch. 6. Das Unaesthetische (Pathologische). 7. Philosophie ohne Praxis. 8. Kastenwesen nicht nach Bildung. 9. Schreiben, nicht Sprechen. 19 [284] Bisher war es die Sprache, an die das Deutsche sich anschloss. Jetzt dazu die Musik. Die kosmopolitische Tendenz Schillers und Goethes entsprechend der orientalischen Tendenz. Das Deutsche muss sich erst bilden: Bildung nicht auf nationaler Grundlage, sondern Bildung des Deutschen, nicht Bildung nach dem Deutschen. Das Deutsche muss gebildet werden: das noch nicht existirt. Weder auf Tugenden noch auf Laster zu gründen. 19 [285] 344
Faktoren deutscher Vergangenheit. Volkskunst der Reformation - Faust, Meistersinger. Askese und reine Liebe, Rom - Tannhäuser. Treue und Ritter, Orient - Lohengrin. Ältester Mythus, der Mensch - Ring des Nibelungen. Metaphysik der Liebe - Tristan. Das ist unsre Mythenwelt, sie reicht bis zur Reformation. Der Glaube an sie ist dem der Griechen an ihre Mythen sehr ähnlich. Nicht deutsche Bildung, sondern Bildung des Deutschen ist unser erstes Ziel. An Stelle des Historischen - die mythenbildende Kraft. An Stelle des Philistros-Weichlichen das metaphysische Mit-Leiden. An Stelle des Gelehrtenhaften - die tragische Weisheit. An Stelle des Unaesthetisch-Pathologischen - das freie Spiel. An Stelle des Kastenwesens - das Tribunal der Bildung. An Stelle des Schreibens - Denken und Sprechen. An Stelle der Dogmatik - die Philosophie. Überwindung der Religionsmischung, des Asiatischen (in Hast und Luxus - Phönizisch). Heilighaltung von Sprache und Musik. 19 [286] Aesthetik in Deutschland. Lessing Winckelmann Hamann Herder. Schiller Goethe. Grillparzer. Schopenhauer. Wagner. Fuchs. 19 [287]
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Kurzgefasster Bericht über die älteren griechischen Philosophen. 19 [288] Die Seelenwanderungs-Metamorphosen. 19 [289] Fortsetzung der Reformation. Gelehrsamkeit und gelehrtes Wissen, daß Kunst war. Entdeckung des Volksliedes, Shakespeare, Hamann, Faust instinktiv, regellos - ungelehrt. Einfache Schönheit der Plastik. Strenge Nothwendigkeit im Drama -: vorbildliche Wirkungen der Alten, Beseitigung der französischen Regeln. 19 [290] Experimentiren, das Drama zu finden, eine Litteratur zu schaffen -: kosmopolitische Nachahmung. Vollendete Einsicht in die Zusammenhänge des Lebens mit der Kunst - Überwindung des Begriffs Litteratur" -: Wagner. Beseitigung des Abseits-Musikmachens. Gegen das Mönchische der Musik. Übergang aus der Gelehrsamkeit zum Bedürfniss der Kunst. Überwindung des romanischen Begriffs der Kunst: Kunst als Convention, als Thesis. Rückkehr zum hellenischen Begriff: Kunst als Physis. 19 [291] Auch die hellenische Kunst wurde lange Zeit romanisch verstanden, ich meine so, wie sie die Römer verstanden haben: zum Schmucke, beliebig hineinzusetzen, Gewächshaus im Vergleich zum Walde. Vornehme Convention. 19 [292] Das schlechte Buch von Lotze, in dem der Raum mit Besprechung eines ganz unaesthetischen Menschen: Ritter (eines fast schon verschollenen Historikers der Philosophie) oder des verdrehten Leipziger Philosophen Weisse verbraucht wird. 19 [293] Plautus römische Kunst, neuere attische Komödie. Die feste Masken-Komödie. 19 [294]
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Romantiker - theils natürliche Reaktion gegen den gebildeten Cosmopolitismus, theils Reaktion der Musik gegen eine kalte Plastik, theils Erweiterung des kosmopolitischen Nachmachens und Nachsingens. Zu wenig Kraft bei viel Witterung. Das junge Deutschland ist, wie Kotzebue gegen Schiller-Goethe, Vertreter einer französirenden Aufklärung in plumper Nachmacherei. 19 [295] Nicht Bildung auf nationaler Grundlage, sondern Bildung des deutschen Stils im Leben Erkennen Schaffen Reden Gehen usw. 19 [296] Über deutsche Bildung. Eine Festschrift den Bayreuther Kunstgenossen geweiht. 19 [297] Unterscheidung der Völker durch ihre Schwächen, ihre Tugenden, bei einiger Civilisation, gemeinsam. 19 [298] Über die Bildung eines deutschen Kunststils. Bevor dieser da ist, ist, um zu einiger Bildung zu kommen, nur der kosmopolitische Weg da. Bildung ist das Leben eines Volkes unter dem Regiment der Kunst. Philosophie ist nicht für das Volk, Religion verträgt sich mit Barbarei, ebenso die Wissenschaft. Auszugehen von den Forderungen der Kultur nach dem Kriege. 1872. Straßburg, Unfähigkeit auch nur einzusehen, wie lächerlich eine Behauptung des National-Deutschen wäre. Die Kunst hat bei uns die romanische Geltung und nicht einmal. Wissenschaft verträgt sich mit Barbarei. 19 [299] Begabung ist nur die Voraussetzung für die Cultur, die Hauptsache ist die Zucht nach Mustern. Die Bildung ist nicht nothwendig eine begriffliche, sondern vor allem eine anschauende und richtig wählende: wie der Musiker richtig im Finstern greift. Die Erziehung eines Volkes zur Bildung ist wesentlich Gewöhnung an gute Vorbilder und Bildung edler Bedürfnisse. 19 [300] Die Hoffenden in der deutschen Gegenwart. Die Möglichkeit einer deutschen Cultur. 347
Hoffnungen auf eine deutsche Cultur. Festschrift. 19 [301] Die Hoffenden. Betrachtungen über die angebliche deutsche Cultur der Gegenwart. 19 [302] Reden der Hoffenden. Reden eines Hoffenden. 19 [303] Bayreuths Horizont. Der Horizont Bayreuths. Bayreuther Horizont-Betrachtungen. 19 [304] Der Deutsche spricht wenig. Deshalb sind alle Dramatiker in Verlegenheit. Das Wahre ist Wagner's Verfahren. Kurz, tief und mit Wortsymbolik, wie mit Runen. Die ältesten Orakel wohl drei allitterirende Runen. 19 [305] Wenigen Männern wird es verziehen werden, wenn sie ihr Volk als Barbaren bezeichnen. Aber Goethe hat es gethan, man muß es sich erklären. 19 [306] Keine Kultur ist in drei Tagen gebaut worden, noch weniger ist jemals eine aus dem Himmel gefallen: sondern nur aus einer früheren Barbarei entsteht eine Kultur und es giebt Zeiten langen Schwankens und Kämpfens, in denen es zweifelhaft ist. 19 [307] Gebildet nennen wir den, der ein Gebilde geworden , eine Form bekommen hat: Gegensatz der Form ist hier das Ungestaltete Gestaltlose, ohne Einheit. 19 [308] Woran hängt die Einheit eines Volkes? Äußerlich Regierung, innerlich Sprache und Sitten. Die Sitten aber erst ganz allmählich einheitlich, viel aus Zusammenleben, Einwandern.
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19 [309] Goethe: "wir haben zwar viel 'kultivirt'." 19 [310] Kultur - Herrschaft der Kunst über das Leben. Die Grade ihrer Güte hängen einmal ab vom Grade dieser Herrschaft und zweitens von dem Werthe der Kunst selbst. 19 [311] Milderungen der Sitten durch Religionen Gesetze usw. Steigerung der Erkenntniß und dadurch weniger Aberglaube, Finsterniß, Fanatismus, mehr Beschaulichkeit und Ruhe. Erfindungen, Steigerungen des Wohlstandes, Verkehr mit andern Völkern. Dabei ist Religion und Barbarei. Erfindungsgabe Intellekt mit Barbarei verträglich. Selbst Kunst ist möglich und doch kann man das Volk noch ein barbarisches nennen. Herrschaft der Kunst über das Leben. 19 [312] Als unter dem ersten Tumult des ausbrechenden letzten großen Krieges ein erbitterter französischer Gelehrter die Deutschen Barbaren nannte und den Mangel einer Kultur ihnen vorwarf, hörte man doch in Deutschland scharf genug, um dies gründlich übel zu nehmen und vielen Zeitungsschreibern gab es Gelegenheit, den nicht unbefleckten Harnisch ihrer Kultur einmal recht hell zu putzen und siegesgewiß mit ihm zu prunken. Man erschöpfte sich in Versicherungen, daß das deutsche Volk das gelehrigste gelehrteste sanftmüthig<st>e tugendhafteste und reinlichste von der Welt sei: selbst gegen den Vorwurf der Menschenfresserei und des Seeraubs fühlte man sich hinlänglich sicher. Als nun bald darauf eine Stimme jenseits des Kanals laut wurde und der ehrwürdige Carlyle eben jene Eigenschaften an den Deutschen öffentlich belobte und ihnen ihretwegen den Sieg mit segnenden Händen anwünschte, da war man über die deutsche Kultur im Reinen und nach dem Erfolg war es gewiß unschuldig vom Sieg der deutschen Kultur zu reden. Jetzt, wo die Deutschen Zeit haben manches damals uns zugeschleuderte Wort hinterdrein sich noch einmal anzusehn, dürfte es wohl Einige geben, welche erkennen, daß der Franzose recht hatte: die Deutschen sind Barbaren, trotz aller jener humanen Eigenschaften. Wenn man ihnen, den Barbaren, den Sieg wünschen mußte, so geschah dies natürlich nicht weil sie Barbaren sind, sondern weil die Hoffnung auf eine werdende Kultur die Deutschen heiligt: während es keine Rücksicht auf eine entartete und verbrauchte Kultur giebt: nicht das Weib das sein Kind entarten läßt, sondern das gebären wird ist den Gesetzen heilig. Daß sie im Übrigen noch Barbaren sind, war die Meinung Goethe's, der alt genug wurde, um sogar diese Wahrheit den Deutschen sagen zu dürfen und an dessen Worte meine Betrachtungen anzuknüpfen ich mir erlauben muß, weil es mir niemand sonst erlauben möchte. Wir haben, sagte er eines Abends zu Eckermann - - -
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Die letzte Wendung ist fein, denn sie läßt den Verehrern der Gegenwart die Möglichkeit, in einigen Jahrhunderten werde man sagen, es ist sehr lange her, daß die Deutschen nicht mehr Barbaren sind, nämlich seit der zweiten Hälfte des 19ten Jahrhunderts. Daß dies nicht eine beliebige Annahme ist, sondern daß wirklich jetzt große Massen an die erreichte deutsche Kultur glauben, aber mit Unrecht, dies will ich eben durch ein Beispiel beweisen. Zuerst ist aber der Begriff der Kultur festzustellen. Goethe setzt hinzu - vom Liede. Ganze Haufen Kriegslieder und Sonette, auch nicht eins aus einem neuen Tone - - 19 [313] Das Wort Barbar und Barbarei ist ein böses verwegenes Wort und nicht so ohne Vorrede wage ich es, es zu gebrauchen: und wenn es wahr ist daß die Griechen von dem Sprachtone fremdländischer Völker wie von einem Gequake sprachen und daher mit einem gleichen Namen die Frösche benannten, so sind Barbaren also Quäker - sinnloses und unschönes Geplapper. Mangel an aesthetischer Erziehung. 19 [314] Der Franzose dachte natürlich an seine in der ganzen Erde siegreiche Civilisation und den Grad von verkümmerter Nachahmung, den er von ihr in der deutschen Gesellschaft wiederfand: er sagte keine Kultur, weil sie keine erzeugt und nicht einmal eine vorhandene geschickt nachahmen können, wie z. B. den Russen zuzugestehen ist. Und deshalb war jede Kriegsgefahr so furchtbar, weil sie die heimlich wachsende Frucht zerstören konnte. Der Kriegsruhm fast noch eine größere Gefahr. 19 [315] Einleitung. Weisheit Wissenschaft. Mythische Vorstufe. Sporadisch-Spruchmäßige. Vorstufen des σοϕοζ ανηρ. Thales. Anaximander. Anaximenes. Pythagoras. Heraclit. Xenophanes. 350
Parmenides. Anaxagoras. Empedocles. Democrit. Pythagoriker. Socrates. Sehr einfach. 19 [316] Die Rechtfertigung der Philosophie durch die Griechen. Eine Festschrift. Von Friedrich Nietzsche. 19 [317] Betrachtungen eines Hoffenden. 19 [318] Der letzte Philosoph. 1. Die Übertragungen des Menschen auf die Natur. 2. Das Griechische als Weltprincip. 3. Heraklit gegen das Dionysische. Empedokles gegen das Thieropfer. Pythagoreer Ordenswesen. Demokrit der wissensch Reisende. 19 [319] Der ursprüngliche Zweck der Philosophie ist vereitelt. Gegen die ikonische Geschichtsschreibung. 351
Philosophie, ohne Cultur, und Wissenschaft. veränderte Stellung der Philosophie seit Kant. Metaphysik unmöglich. Selbstcastration. Die tragische Resignation, das Ende der Philosophie. Nur die Kunst vermag uns zu retten. 19 [320] 1. Die übrigen Philosophen. 2. Wahrheit und Illusion. 3. Illusion und Kultur. 4. Der letzte Philosoph. 19 [321] Die Methode der Philosophen zum Letzten zu kommen rubrizirt. Der unlogische Trieb. Wahrhaftigkeit und Metapher. Aufgabe des griechischen Philosophen: Bändigung. Barbarisirende Wirkung der Erkenntniß. Das Leben in der Illusion. Philosophie seit Kant todt. Schopenhauer Vereinfacher, räumt die Scholastik auf. Wissenschaft und Cultur. Gegensätze. Aufgabe der Kunst. Der Weg ist Erziehung. Die Philosophie hat die tragische Bedürftigkeit zu erzeugen. 19 [322] Die Philosophie der Neuzeit, unnaiv, scholastisch, mit Formeln überhäuft. Schopenhauer der Vereinfacher. 352
Wir erlauben die Begriffsdichtung nicht mehr. Nur im Kunstwerk. Gegenmittel gegen die Wissenschaft? Wo? Die Kultur als Gegenmittel. Um für sie empfänglich zu sein, muß man das Ungenügende der Wissenschaft erkannt haben. Tragische Resignation. Gott weiß, was das für eine Kultur wird! Sie fängt von hinten an! 19 [323] Januar 13 Wochen: 3. Geschichte der Rhythmik. Februar 4. Horatianische Metra März nach Augustin usw. Die Sprache metrisch betrachtet. 5. Hexameter. 6. Trimeter. 7. Logaoedische Verse. 8. Dorische Strophen. 9. Composition usw. 19 [324] Die klassische Philologie. Hesiod und Homer. Rhythmik. 19 [325] Alte philosophische Meister in Griechenland. Für einen jungen Freund der Philosophie niedergeschrieben
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von - - 19 [326] Entwürfe. 1. Hesiodos. 2. Die zeitmessende Rhythmik der Griechen. 3. Die griechische Tragoedie. 19 [327] Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen und nicht zu schreibenden Büchern. 1. Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten. 2. Das Verhältniss der Schopenhauerischen Philosophie zu der deutschen Cultur. 3. Über das Pathos der Wahrheit. 4. Der griechische Staat. 5. Der Wettkampf Homer's und Hesiod's. 19 [328] Erkennen der Wahrheit unmöglich. Alles Die Kunst und der Philosoph. Erkennen Das Wahrheitspathos. im Dienste Wie verhält sich die Philosophie zur Kultur: der Kunst. Schopenhauer. Die Einheit einer Kultur. Schilderung der jetzigen Zerfahrenheit. Das Drama als Keimpunkt. 19 [329] Erste Stufe der Kultur: der Glaube an die Sprache, als durchgehende Metapherbezeichnung. Zweite Stufe der Kultur: Einheit und Zusammenhang der Metapherwelt durch Anlehnung an Homer.
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19 [330]* 1) Die Bildungsphilister. 2) Die historische Krankheit. 3) Viel Lesen und Schreiben. 4) Litterarische Musiker (wie die Anhänger des Genius die Wirkungen desselben todt machen). 5) Deutsch und Afterdeutsch. 6) Soldaten-Cultur. 7) Allgemeine Bildung - Socialismus usw. 8) Bildungs-Theologie. 9) Gymnasien und Universitäten. 10) Philosophie und Cultur. 11) Naturwissenschaft. 12) Dichter usw. 13) Classische Philologie. Entwurf der "Unzeitgemässen Betrachtungen". B a s e l , 2 . S e p t e m b e r
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1 8 7 3 . *Spätere Eintragung [Dokument: Mappe mit losen Blättern] [Sommer 1872] 20 [1] Erster, vorläufiger Entwurf Von "Homer's Wettkampf". Angefangen den 21. Juli 1872. 20 [2] Zum Epilog. Langsamer Verstand, plötzliche und ungestüme Empfindung. Ritschl's Vergleich mit Odysseus. Immer das Zerstreute zusammen zu organisiren. Gott im Gewitter. Jesus im Tempel. Tüchtiger Bürger prophezeit. Ich konnte mich nicht verstellen, nur verbergen. Ich schweige, andre spötteln etc. [Dokument: Heft] [Sommer 1872 - Anfang 1873] 21 [1] Herbst: Zu den Choephoren des Aeschylus. Über die Chronologie der vorsocratischen Philosophen. Winter: Zukunft unserer Bildungsanstalten.
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21 [2] Die Choephoren. Betrachtungen über den künstlerischen Stil des Aischylos. Falsche Begeisterungen und die Schwierigkeit des wirklichen Eindrucks. 1. Das Plastische. Aus der Entfernung der Zuschauer abzuleiten: die geringe Bewegung. Das Perspektivische. Masken. Strenge hieratische Symmetrie. Scenerie. Die Stichometrie. Stil des Phidias vorgeahnt. Woher die Langlebigkeit der Plastik? 2. Das Musikalische. Die Sprachmusik. Alles ist Musik, es giebt nicht gesprochene, und gesprochene Partien, alles gesungen. Auch die Orchestik hört nie auf. 3. Das Mythische. Vergleich mit Sophokles. Zertheilung des Mythus. Symmetrie, mit Contrasten. Das Unheimliche, mit Benutzung der Nachmittagsschatten. Strenge des Mythus im Einklang mit Plastik und Musik. 4. Die Sprachkunst. Die Dialekte. Der "hohe" Stil. Die Syntax entsprechend dem ηϑ οζ der Scene. 954. Ich - - 21 [3] Das Plastische. Aeschylus hat nicht, wie Shakespeare, ungeheure bewegte Affektbilder vor Augen, sondern plastisch-ruhende Gruppen. Die Bewegung geschieht streng symmetrisch. Die Zahl der Verse. 21 [4] Quod felix faustum fortunatumque vertat! 21 [5] Einleitung. Die Erziehung durch Musik bei den Griechen. Die Weisheit des tragischen Zeitalters. Der Wettkampf. Empedokles. Die Liebe und die Erziehung. Sokrates. Die Erziehung durch Musik. Pythagoras. Die Kunst und das Leben. Heraklit. Kühnheiten. Eleaten. 21 [6] Die Philosophie des tragischen Zeitalters. 357
Die Griechen haben damals philosophirt! Wunderbar! Wie können wir uns in jenes Zeitalter hineinleben? in die erstaunlichsten Fernblicke? Daß wir sie wirklich lebendig nachempfinden, ist Bildung. Die "Systeme" fressen sich auf: eins aber bleibt. Jeder dieser Philosophen sah einmal die Welt entstehen! Ich will Historienmalerei, nicht Antiquitäten. 21 [7] Geburt der Tragödie. Bayreuther Horizont-Betrachtungen. Der antike Rhythmus. Vorplatonische Philosophen. Bildungsanstalten. 21 [8] Conjekturen und Erklärungen. Das Mythische. Das Plastische. Das Musikalische. Das Rhythmische. 21 [9] Alles wird aus einem. Das Vergehen ist eine Strafe. Vergehen und Entstehen ist gesetzmäßig. Vergehen und Entstehen ist Täuschung: das Eine ist. Alle Qualitäten sind ewig. Es giebt kein Werden. Alle Qualitäten sind Quantitäten. Alle Wirkungen magische.
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Alle Wirkungen mechanische. Die Begriffe sind fest, sonst nichts. 21 [10] Das Erkennen selbst ist ohne Freude, wie das Sehen ohne Freude ist. Wie kommt es in die Welt? 21 [11] An Sokrates alles falsch - die Begriffe sind nicht fest, auch nicht wichtig, das Wissen ist nicht der Quell des Rechten, und überhaupt nicht fruchtbar, die Kultur verneinend. 21 [12] Etwas zu finden, was jemand verloren, ist vor allem nur ein Vergnügen für den, der verloren hat, aber etwas zu finden, was niemand verloren hat, aber auch niemand besaß, also zu entdecken, ist für den Entdecker von seltener Annehmlichkeit. 21 [13] Der Glaube beruht auf einer Menge von Analogieschlüssen: nicht getäuscht zu werden! Wo der Mensch zu erkennen aufhört, fängt er zu glauben an. Er wirft sein moralisches Zutrauen auf diesen Punkt und hofft nun mit gleichem Maße bezahlt zu werden: der Hund blickt uns mit zutraulichen Augen an und will daß wir ihm trauen. Das Erkennen hat für das Wohl des Menschen nicht so viel Bedeutung wie das Glauben. Selbst bei dem Finder einer Wahrheit z. B. einer mathematischen ist die Freude das Produkt seines unbedingten Vertrauens, er kann darauf bauen. Wenn man den Glauben hat, so kann man die Wahrheit entbehren. 21 [14] Was ist es, was die mächtigen Triebe in die Bahn der Wohlfahrt bringt? Im Allgemeinen die Liebe. Die Liebe zur Heimatstadt umschließt und bändigt den agonalen Trieb. Die Liebe zum Nächsten überwindet ihn zum Zweck der Erziehung. Im Dienste der Liebe steht die Schönheit: die sich steigernde Verklärung, wie sie Plato schildert. Das Weiterzeugen im Schönen echt hellenisch. Das Wachsen des Eros zu schildern - Ehe Familie Staat. 21 [15] 359
Empedocles. Liebe und Haß in Griechenland. Heraclit. Cosmodicee der Kunst. Democrit und Pythagoreer. Naturwissenschaft und Metaphysik. Socrates und Plato. Wissen und Instinkt. Anaxagoras. Die Aufklärung und die Begeisterung. Eleaten: Logik als Maaß der Dinge - Entwicklung des Seienden logisch streng gegeben über die Atomistik hinaus. Pythagoras. Der Wille in seinen asketischen Absichten. Der Wille tödtend (in der Natur im Wettkampfe des Schwächeren und des Stärkeren). 21 [16] Die Philosophen des tragischen Zeitalters enthüllen, wie die Tragödie, die Welt. Einheit des Willens. Der Intellekt nur ein Mittel zu höheren Befriedigungen. Die Verneinung des Willens oft nur Wiederherstellung von mächtigen Volkseinheiten. Kunst im Dienste des Willens: Heraclit. Liebe und Haß in Griechenland: Empedocles. Grenzen der Logik: sie im Dienste des Willens: Eleaten. Das Asketische und Tödtende im Dienste des Willens: Pythagoras Reich der Erkenntniß: Zahl: Atomistik und Pythagoreer. Aufklärung, Kampf gegen Instinkt: Anaxagoras Socrates Plato. Der Wille zu charakterisiren: seine Methode zum Vernünftigen zu kommen. Wesen der Materie absolute Logik. Zeit Raum und Causalität als Wirkungsvoraussetzung. Es bleiben Kräfte übrig: in jedem kleinsten Augenblick andre Kräfte: im unendlich-kleinsten Zeitraum immer eine neue Kraft d. h. die Kräfte sind gar nicht wirklich. Es giebt keine eigentliche Wirkung von Kraft auf Kraft: sondern in Wahrheit existirt nur ein Schein, ein Bild. Die ganze Materie ist nur die Außenseite: in Wahrheit lebt und wirkt etwas ganz Anderes. Unsre Sinne aber sind das Produkt der Materie und der Dinge, ebenso unser Geist. Ich meine: man muß von den Naturwissenschaften aus zu einem Ding an sich kommen. Der übrigbleibende Wille - wenn man den erkennenden Intellekt wegrechnet. 21 [17] 360
Es ist möglich, die Empfindung materiell zusammenzusetzen: wenn man nur den organischen Stoff erst materiell erklärt hat. Es ist eine grenzenlos zusammengesetzte Geschichte, die einfachste Empfindung: kein Urphänomen. Da ist Gehirnthätigkeit Gedächtniß usw. nöthig, nebst Reflexbewegungen aller Art. Wenn man im Stande wäre ein empfindendes Wesen aus Materie aufzubauen - wäre dann nicht die eine Hälfte der Natur enthüllt? Der Erkenntnißapparat unendlich complicirt ist Voraussetzung der Empfindung: die Erkenntniß ist zur Annahme jeder Materie nöthig. Aber der Glaube an die sichtbare Materie ist eine reine Sinnentäuschung. 21 [18] Daß die Natur in allen Reichen gleich verfährt: ein Gesetz, das für den Menschen gilt, gilt für alle Natur. Der Mensch wirklich ein Mikrokosmos. Das Gehirn die höchste Leistung der Natur. 21 [19] Einleitung. Unsterblichkeit der großen Momente. Die Griechen der tragischen Zeit als Philosophen! Wie haben sie das Dasein empfunden? Hier steckt ihr ewiger Gehalt. Im Übrigen fressen sich alle Systeme auf. Historienmalerei. Wir finden in einer Metastase die epischen lyrischen Elemente wieder, alle Requisiten der Tragödie. Wie lebt man ohne Religion, mit Philosophie? Aber freilich in einem tragisch-künstlerischen Zeitalter. Thales. Gegensatz der Vorsokratiker gegen die Sokratiker. Ihre Stellung zum Leben ist naiv. Die sieben Weisen als Repräsentanten der ethischen Haupttugenden. Freiheit vom Mythus. Der Grieche des tragischen Zeitalters denkt eben sich selbst und legt Zeugniß ab. Wie wichtig! Denn bei der Beurtheilung griechischer Tragödien müssen wir immer den Griechen suppliren. 21 [20] Der künstlerische Trieb in der Verpuppung als Philosophie. 21 [21]
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Der Allkünstler und der Allmensch. Die Menschen des tragischen Zeitalters. Aeschylus als Gesammtkünstler: sein Zuhörer in seiner Werkstatt geschildert. Wir wollen den Griechen kennenlernen, den Aeschylus als seinen Zuhörer kannte. Diesmal benutzen wir seinen Philosophen, der in jener Zeit dachte. 21 [22] An Thales die Freiheit vom Mythus zu entwickeln. An Anaximander das Tragische der Wiedervergeltung. An Heraklit Wettkampf. Spiel. An Parmenides die Kühnheit der Nothwendigkeit und Logik. An Anaxagoras - Nicht Geist - Materie. An Empedokles Liebe und Kuß der ganzen Welt. An Demokrit das Zuhören der Griechen zum Ausland (und das Wiederholen des Guten). An Pythagoras Seelenwanderung Rhythmus. 21 [23] Sokrates abstrakt menschlich stellt das Wohl des Individuums voran, die Erkenntniß zum Zwecke des Lebens. Vernichtung der Instinkte. 21 [24] Zuerst Aeschylus geschildert als Pentathlos, dann der Zuhörer, an den Philosophentypen. 21 [25] Betrachtungen über das bayreuther Weihefest im Mai 1872. Stimmung: heiter und heroisch. Wir sind die Glücklichen und haben ein Fundament, wir verstehen die gute Musik und unsre großen Dichter besser. Alpenthäler mit Kröpfen - es sind Kranke. Hoffnung auf Plastik. Das Heroische bei W. Die Reichsboten. Bildung.
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Der falsche "deutsche Geist". Überall tiefe Probleme, wo Befremden zuerst. Das Mythische. Die Dichtung sprachlich scenisch. Die Sprach-Musik. Gesund und "ungesund". [Dokument: Heft] [September 1872] 22 [1] Erster Tag, 28. September. Samstag. Mit einem Baseler Ehepaar, das ich nicht kannte, aber zu kennen scheinen mußte. Von Baden aus an Lisbeth telegraphirt: Gefälligkeit des Hr. Haller aus Bern, der mir seine Karte giebt. In Zürich fast angelangt, entdecke ich als Wagengenossen den guten Götz, der mir von seiner durch Kirchners Weggang vermehrten musikalischen Thätigkeit in Zürich, sowie von seiner in Hannover aufzuführenden Oper berichtet. Von Zürich an fahre ich dritter Klasse bis Rapperschwyl, in guter bescheidener Gesellschaft, aber frostig, so daß ich den Muth verliere, bis Chur durchzufahren. In R. nehme ich wieder zweite Klasse, bis Weesen. Hier finde ich den Wagen des Hotel Schwert und fahre mit ihm. Hübsch behagliches, doch recht leeres Hôtel, in dessen Speisesaal ich allein esse. Am ganzen Nachmittag klare goldne Herbstverklärung: die fernsten Schneeberge sind sichtbar. Abends vor Zürich erschien die ganze Kette in herrlichstem Stahlgrau. Etwas Kopfschmerzen augenblicklich. Zweifelhafte Nacht, mit gewaltsamen Träumen. Sonntag. Ich erwache mit Kopfschmerz. Mein Fenster führt auf den Wallensee: die Sonne geht auf seinen theils beschneiten Gipfeln auf. Ich frühstücke und gehe noch etwas an den See. Dann auf den Bahnhof, sehe mir aber noch die höher gelegene und neuer erscheinende Pension Speer an. Reiner Morgen. Ich fahre nach Chur, II Classe, aber mit fortwährend 363
wachsendem Unbehagen, trotz der besonders reichen Aussicht - See, Ragaz usw. In Chur merke ich, daß ich unmöglich weiter fahren kann, refüsire die Anfrage des Postbeamten und ziehe mich schnell in das Hôtel Lukmanier zurück. Dort giebt man mir ein Zimmer mit guter Aussicht, aber schnell lege ich mich zu Bett. Drei Stunden habe ich geschlafen - fühle mich besser und esse. Ein besonders gefälliger und kluger Kellner macht mich auf Bad Passug aufmerksam: ich erinnere mich. In Stadt Chur ist Sonntagsruhe und Nachmittagsstimmung. Ich steige ganz bequem die Landstraße empor; herrlicher Rückblick, fortwährend sich erweiternde und wechselnde Umsicht. Nach einer Viertelstunde kleiner abführender Pfad, Tannenwald schöner Schatten - denn es war bis dahin ziemlich warm. Die Schlucht, durch die die Rabiusa braust, kann ich nicht genug preisen. Brücken führen bald an das rechte bald linke Ufer. Der Weg über Wasserfälle in die Höhe führend. An Ort und Stelle erwartete ich irrthümlich ein Pensionshaus, fand aber nur eine ländliche Wirthschaft, doch mit Sonntagsgästen, schmausenden und Kaffee trinkenden Familien. Zuerst trinke ich an den Sodaquellen drei Gläser: oben auf einem Balkon eine Flasche weißen Asti und ebenfalls jenes Wasser: dazu esse ich, bereits mit verändertem Kopf und leidlichem Appetit, Ziegenkäse. Ein Mann mit chinesischen Augen, der an meinem Tisch sitzt, bekommt auch ein Glas Asti: er dankt und trinkt mit sehr geschmeichelten Empfindungen. Dann händigt mir die Wirthin eine Anzahl Analysen und Schriftchen ein: zum Schlusse führt mich der Wirth Sprecher herum und läßt mich von allen Quellen trinken; zeigt den Reichthum an noch nicht gefaßten Hauptquellen und bietet mir, mein Interesse gewahrend, eine Genossenschaft zur Gründung eines Hôtels usw. an. Das Thal ist äußerst anziehend, für einen Geologen von unergründlicher Mannichfalitgkeit, ja Wunderlichkeit. Es finden sich Graffite, dann Ocker mit Quarzen, vielleicht Goldlager usw. man sieht die Steingänge auf das seltsamste gebogen, abgelenkt, zerstückt, wie etwa beim Axenstein am Vierwaldstättersee, nur viel kleiner und wilder. - Spät, gegen Sonnenuntergang, gehe ich zurück: die fernsten Spitzen glühen. Endlich tritt Glück und einige Zufriedenheit ein. Ein kleines Kind mit blassen Haaren sucht sich Nüsse und ist drollig. Endlich holt mich ein altes Paar ein, mich anredend und somit auch von mir Gegenrede empfangend. Er ein alter Graukopf, der Tischlermeister ist oder war und vor 52 Jahren auch in Naumburg, auf seiner Wanderschaft, an einem heißen Tage war. Sein Sohn ist Missionar in Indien, seit 1858, und wird für nächstes Jahr in Chur erwartet, um seinen Vater noch einmal zu sehen. Die Tochter ist mehreremal in Aegypten gewesen und war in Basel mit Pastor Riggenbach befreundet. Im Hotel angelangt schreibe ich etwas und esse. Ein Italiäner, der mir gegenüber sitzt, redet mich an: mangelhafte Verständigung, da er nicht deutsch spricht. Er war in Baden und wollte sich erholen. Ein Jude reist morgen leider um dieselbe Stunde (5 früh) mit mir ab: ich tröste mich, in Thusis auszusteigen. 22 [2] Dritter Tag. Um vier geweckt: um fünf soll die Post gehen. Widerwärtiges Wartezimmer. Der Mann um diese Stunde etwas Scheußliches, rülpsend und gähnend. [Dokument: Mappe mit losen Blättern] [Aufzeichnungen zu "Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen"] [Aufzeichnungen zu "Ueber Wahrheit und Lüge"] [Winter 1872-73] 23 [1]
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Nun wurde die ganze Gruppe unverständlich. Später nahm man von den EhrwürdigUnverständlichen weg, was man brauchen konnte, man plünderte sie aus, und dann kommt ein Arm des Parmenides, ein Schulterstück des Heraklit, ein Fuß des Empedokles bald hier, bald dort vor, in Platon's Akademie sowohl wie in der Stoa und in den Gärten Epikurs. Um sie als Ganzheiten zu verstehen, muß man in jedem von ihnen den Versuch und Ansatz zum griechischen Reformator erkennen; diesen sollten sie vorbereiten, vor dem sollten sie hergehen wie eine Morgenröthe vor der Sonne. Aber die Sonne kam nicht, der Reformator mißlang: so blieb die Morgenröthe fast nur eine gespenstische Erscheinung. Daß aber etwas Neues in der Luft war, beweist die gleichzeitige Entstehung der Tragödie; nur ist der Philosoph und Gesetzgeber nie erschienen, welcher die Tragödie begriffen hätte, und so starb auch wieder diese Kunst und die griechische Reformation wurde für immer unmöglich. An Empedokles kann man nie ohne tiefe Trauer denken; er war dem Bilde jenes Reformators am ähnlichsten; daß es auch ihm mißlang und er zeitig verschwand, wer weiß nach was für schrecklichen Erfahrungen und in welcher Hoffnungslosigkeit - das war ein panhellenisches Verhängniß. Seine Seele hatte mehr Mitleiden als irgend eine griechische Seele; und vielleicht doch nicht genug, denn im Ganzen sind die Griechen hierin arm, und gerade den großen Philosophen ist das tyrannische Element in ihrem Blute zum Hinderniß geworden, einen solchen Tief- und Vollblick, wie ihn Schopenhauer besaß, zu erlangen. 23 [2] Höchste Form des Menschen, der die Wahrheit erkannt hat, bekleidet mit dem Stolz. Einsamkeit, alles Andere vulgus. ιστοριη. Homer, Hesiod, Archilochus. Ärzte. Götter. Götterbilder. Mysterien. Opfer. Vergl<eich> mit Apollo. 23 [3] Kapitel I. Die Griechen als Philosophen. Das sechste Jahrhundert. Die Wundermänner. Der Wettkampf. Das Dionysische. Capitel II. Thales und Anaximander. 365
III. Heraklit. IV. Parmenides. V. Anaxagoras. VI. Empedokles. VII. Demokrit. Was heißt Erkenntniß des Stoßes? VIII. Pythagoreer. Zahlen als Grenzen der Erkenntniß. IX. Sokrates. Abstrakte Wahrheiten. X. Epilog. Anthropomorphismus: der veränderliche Mensch und das Wasser. Der Tod als Strafe. Das künstlerische Spiel. Der Intellekt. 23 [4] Lust: Reiz mit Proportion. Unlust: Reiz mit Mangel an Proportion. Begriffe 23 [5] Das Hellenische in der Philosophie. Wettkampf. Orphiker. Nicht Seele und Leib. Das Religiöse. Zahl. Stolz des Philosophen. 23 [6] Fastnacht Anaxagoras. Empedocles.
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Bis Ostern Pythagoreer. Socrates. Ostern Capitel über den Philosophen. das Hellenische. 23 [7] Was ist der Philosoph? 1. Jenseits der Wissenschaften: entmateriali<si>ren. 2. Diesseits der Religionen: entgöttern - entzaubern. 3. Typen: der Kultus des Intellektes. 4. Anthropomorphische Übertragungen. Was soll jetzt die Philosophie? 1. Unmöglichkeit der Metaphysik. 2. Möglichkeit des Dinges an sich. Jenseits der Wissenschaften. 3. Die Wissenschaft als Rettung vor dem Wunder. 4. Die Philosophie gegen den Dogmatismus der Wissenschaften. Aber nur im Dienste einer Kultur. 6. Das Simplificiren Schopenhauers. 7. Seine populäre und künstlerisch mögliche Metaphysik. Die zu erwartenden Resultate der Philosophie sind umgekehrte. 8. Gegen die allgemeine Bildung. 23 [8] Die Philosophie hat nichts Gemeinsames, sie ist bald Wissenschaft, bald Kunst. Empedokles und Anaxagoras: der erste will Magie, der zweite Aufklärung, der erste gegen die Verweltlichung, der zweite für. Pythagoreer und Demokrit: die strenge Naturwissenschaft. Sokrates und der jetzt nöthige Skepticismus. Heraklit: apollinisches Ideal, alles Schein und Spiel.
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Parmenides: Weg zur Dialektik und wissenschaftliches Organon. Der einzig ruhende ist Heraclit. Thales will zur Wissenschaft, Anaxim wieder von ihr weg. Ebenso Anaxagoras Democrit Empedocles Parmenides Organon Pythagoras. Socrates. 23 [9] 1. Die wesentliche Unvollkommenheit der Dinge: der Consequenzen einer Religion und zwar optimistischen oder pessimistischen <der> Consequenzen der Kultur <der Consequenzen> der Wissenschaften. 2. Die Existenz von Präservativen, die eine Zeit lang kämpfen. Dahin gehört die Philosophie, an sich ganz und gar nicht vorhanden. Gefärbt und gefüllt nach der Zeit. 3. Die griechische ältere Philosophie gegen den Mythus und für die Wissenschaft, theils gegen die Verweltlichung. Im tragischen Zeitalter: übereinstimmend Pythagoras, Empedokles, Anaximander, apollinisch feindselig: Heraklit auflösend gegen alle Kunst Parmenides. 23 [10] Die reine Wahrheit unerkennbar: Anschauungen Begriffe Reize, nach Lust und Unlust getrennt ob nach Zahlen, ob rein intellektuelle Phänomene? Reiz die Voraussetzung aller Anschauungen.
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Werth der Philosophie: Reinigen von verworrenen und abergläub Vorstellungen gegen den Dogmatismus der Wissenschaften soweit Wissenschaft, ist sie reinigend und erhellend soweit anti-wissenschaftlich: ist sie religiös-verdunkelnd. Beseitigung der Seelenlehre und der rationalen Theologie. Beweis des absolut Anthropomorphischen. Gegen die starre Geltung der ethischen Begriffe. Gegen den Haß des Leibes. Schaden der Philosophie: Auflösung der Instinkte der Kulturen der Sittlichkeiten. Spezieller Betrieb der Philosophie für jetzt. Mangel der populären Ethik. Mangel vom Gefühl der Wichtigkeit des Erkennens und der Auswahl. Oberflächlichkeit der Betrachtung von Kirche und Staat und Gesellschaft. Die Wuth auf Geschichte. Das Reden von Kunst und Mangel einer Kultur. 23 [11] Der Begriff entsteht aus einem Gleichsetzen des Nichtgleichen: d. h. durch die Täuschung, es gäbe ein Gleiches, durch die Voraussetzung von Identitäten: also durch falsche Anschauungen. Man sieht einen Menschen gehen: nennt es "gehen". Jetzt einen Affen, Hund: sagt auch "gehen". 23 [12] Dreierlei nicht mit Parm<enides> Seinslehre zu verwechseln: 1) die Frage: können wir einen Inhalt im Denken finden, der im Sein ist? 2) die primären Eigenschaften, im Gegensatz zu den sekundären 3) Constitution der Materie. Schopenhauer. 4) Keine buddhaische Traumphilosophie. Er sucht nach Gewißheit. Es ist wahr, das Nichtsein ist nicht zu denken. 369
Wenn er die Sinne für ungültig erklärt, dann kann er das Sein nicht aus Lust- und Unlustempfindungen beweisen: diese sind dann auch Schein. Denken und Sein muß dasselbe sein: denn sonst würde es das Sein nicht erkennen. Im Denken giebt es also keine Bewegung: eine starre Seinsanschauung. Soweit das Denken sich bewegt und von anderen Dingen erfüllt ist, ist es schon nicht mehr Sein, sondern Schein. Aber die Dialektik des Denkens? ist doch Bewegung? 23 [13] Die Begriffe können nur aus der Anschauung stammen. "Sein" ist die Übertragung des Athems und Lebens auf alle Dinge: Beilegung des menschlichen Lebensgefühls. Die einzige Frage ist: ob der Ursprung aller Anschauungen uns auf ein Sein führt: nein. Die Form des Denkens, ebenso wie die Anschauung setzt voraus daß wir an das Sein glauben: wir glauben an das Sein, weil wir an uns glauben. Ist das Letzte eine Kategorie, so das Andere gewiß. 23 [14] Philosophie und Volk. Keiner der großen griechischen Philosophen zieht das Volk hinter sich drein: am meisten versucht von Empedokles (nach Pythagoras), doch auch nicht mit der reinen Philosophie, sondern mit einem mythischen Vehikel derselben. Andre lehnen das Volk von vornherein ab (Heraklit). Andre haben einen ganz vornehmen Kreis von Gebildeten als Publikum (Anaxagoras). Am meisten hat demokratisch-demagogische Tendenz Sokrates: der Erfolg sind Sektenstiftungen, also ein Gegenbeweis. Was solchen Philosophen nicht gelungen ist, wie sollte das den geringeren gelingen? Es ist nicht möglich, eine Volkskultur auf Philosophie zu gründen. Also kann die Philosophie im Verhältniß zu einer Kultur nie fundamentale und immer nur eine Nebenbedeutung haben. Welches ist diese? Bändigung des Mythischen. - Stärkung des Wahrheitssinnes gegenüber der freien Dichtung. vis veritatis oder Stärkung des reinen Erkennens (Thales Demokrit Parmenides). Bändigung des Wissenstriebes - oder Stärkung des Mythisch-Mystischen, des Künstlerischen, (Heraklit Empedokles Anaximander.) Gesetzgebung der Größe. Zertrümmerung des starr Dogmatischen : a) in Religion b) Sitte c) Wissenschaft. Skeptischer Zug. Jede Kraft (Religion, Mythus, Wissenstrieb) hat, in einem Übermaße, barbarisirende, unsittliche und verdummende Wirkungen, als starre Herrschaft. (Sokrates.) Zertrümmerung der blinden Verweltlichung (Ersatz der Religion). (Anaxagoras Perikles.) Mystischer Zug. Resultat: sie kann keine Kultur schaffen
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aber sie vorbereiten oder sie erhalten oder sie mäßigen. Für uns: der Philosoph ist deshalb das Obertribunal der Schule: Vorbereitung des Genius: denn wir haben keine Kultur. Aus der Symptomenlehre der Zeit ergiebt sich als Aufgabe der Schule: 1) Zertrümmerung der Verweltlichung (Mangel der Popularphilosophie) 2) Bändigung der barbarisirenden Wirkungen des Wissenstriebes (dabei Enthaltung von der spintisirenden Philosophie selbst). Gegen die "ikonische" Geschichte gegen die "arbeitenden" Gelehrten. Die Kultur kann immer nur von der centralisirenden Bedeutung einer Kunst oder eines Kunstwerks ausgehen. Unwillkürlich wird die Philosophie dessen Weltbetrachtung vorarbeiten. 23 [15] Der Philosoph als Arzt der Cultur. 23 [16] Für die Einleitung des Ganzen: Schilderung des 7ten Jahrhunderts: Vorbereitung der Kultur, Gegeneinander der Triebe. Das Orientalische. Centralisation der Bildung von Homer aus. Ich spreche von den vorplatonischen, weil mit Plato die offenbare Feindseligkeit gegen die Kultur beginnt, die Negation. Ich will aber wissen, wie sich zu einer vorhandenen oder werdenden Kultur die Philosophie benimmt, die keine Feindin ist: hier ist der Philosoph der Giftmischer der Kultur. 23 [17] Es ist erstaunlich, wie schnell die Griechen frei werden, verglichen mit der dumpfen Befangenheit des Mittelalters. Kultur der Renaissance zu vergleichen. Thales, der die Sonnenfinsterniß voraussagt, gilt nicht als Zauberer oder als von bösen Dämonen unterstützt, sondern wird bewundert. Unsicher nur Zeitrechnung datirt. Demokrit der freieste Mensch. 23 [18] Naturwissenschaftlicher Rückblick. Theorie der Aggregatzustände.
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Theorie der Materie. Also Vermischung physikalischer und metaphysischer Probleme. Das Werden und das Sein - es ergiebt sich die volle Differenz. 23 [19] Wenn sie anormal sind, dann haben sie wohl nichts mit dem Volke zu thun? So steht es nicht: das Volk braucht die Abnormitäten, wenn diese auch gleich nicht seinetwegen da sind. Beweis giebt das Kunstwerk: es versteht der Schöpfer selbst, trotzdem ist es mit der einen Seite dem Publikum zugekehrt. Diese Seite des Philosophen wollen wir erkennen, wo er dem Volke sich zukehrt - und seine Wundernatur, also das eigentliche Ziel, die Frage warum? unerörtert lassen. Diese Seite ist jetzt, aus unserer Zeit , schwer zu erkennen, weil wir keine solche Volkseinheit der Kultur besitzen. Deshalb die Griechen. 23 [20] Fertig 3 Einleitung 18 Thales bis Parmenides 25 2:1 46 Consequenzen C. 20 Seiten richtige Proportion. 23 [21] Der Philosoph unter Griechen. Das Hellenische an ihnen. Darin ewige Typen. Der Nichtkünstler in einer künstlerischen Welt. Sie zusammen zeigen den Hintergrund des Griechischen, sowie das Resultat der Kunst. Zeitgenossen der Tragödie. Die in den Philosophen zerstreuten Requisiten zur Entstehung der Tragödie. 23 [22]
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Freiheit dem Mythus gegenüber. Thales und Anaximander. Pessimismus und Handeln. Das Tragische als Spiel. Genie. Heraclit. Wettkampf. Spiel. Exceß der Logik und der Nothwendigkeit. Parmenides. Abstraktion und Sprache. Dichter und Philosoph. Begriff der Prosa. Anaxagoras. Freigeist. Nicht "Geist - Materie". Liebe und Kuß der ganzen Welt! Wille. Empedocles. Die Liebe. Rethor. Staat. Panhellenisch. Agonal. Der Zuhörer. Atom - Zahl Naturwissenschaft.. Democrit. Griechen und Ausland. Freiheit von Convention. Seelenwanderung - dramatisch. Pythagoreer. Der Rhythmus und Metron. Seelenwanderung. Metastase des tragisch-künstlerischen Socrates und Plato. Die Bildung. Triebes auf die Wissenschaft. Jetzt erst "Schule". Feindschaft gegen die Nat urw isse nsc haft lich e Erkl ärun g. 23 [23] Denkt euch, der Philosoph wanderte und käme zu den Griechen - so steht es mit jenen Vorplatonikern: sie sind gleichsam Fremde, verwunderte Fremde. Jeder Philosoph ist es in der Fremde: und muß erst das Nächste als fremd fühlen. 373
Herodot unter Fremden - Heraklit unter Griechen. Der Historiker und Geograph unter Fremden, der Philosoph im Heimischen. Kein Prophet gilt im Vaterlande. Im Heimischen versteht man das Außerordentliche unter sich nicht. 23 [24] Die Geburt der Tragödie betrachtet von einer andern Seite aus. Die Bestätigung aus der Philosophie ihrer Zeitgenossen. 23 [25] Die Philosophen des tragischen Zeitalters. Dem Andenken Schopenhauers. 23 [26] 415 wäre er παντελωζ υπεργεγηρακωζ, nun ist er jedenfalls nach 500 geboren. (Nach Aristoteles c. 80 Jahre, wenn er 495 geboren wäre, d. h. 5 Jahre nach Anaxagoras.) Ol. 84 14 Ol. 70 4 56 Wäre er Olymp. 71 geboren, so ist 415 77 492 492 444 60 48 <4>32 Hat er theilgenommen am Kriege, so war er nach Neanthes 77 Jahre alt, d. h. nach Neanthes ist er 492 geboren. War er 492 geboren, so ist er in ακµη nach Apollodor 442, d. h. im Alter von 50 Jahren, und gestorben 432 im Alter von 60 Jahren. Hier kämpft er gegen Neanthes an: der gab ihm ausdrücklich 77 Jahre: wozu? Um ihn an jenem Kampfe theilnehmen zu lassen. Dennoch mußte er von den Agrigentinern verbannt gewesen sein. 492 sehr passende Zahl der Geburt. 442 c. Ol. 84 ist er 50jährig. 432 ist er gestorben. 374
Er geht offenbar nach Thurii, weil er verbannt ist, 50 Jahre alt. Er nimmt Abschied von Agrigent, als er seine καϑ αρµοι dichtete für Olympia. Wahrscheinlich ist er in jener Olymp. 84 in Olympia verzeichnet gewesen. 23 [27] Anaxagoras hat von Heraclit die Vorstellung genommen, daß in jedem Werden und Sein das Entgegengesetzte zusammen ist. Er empfand wohl den Widerspruch, daß ein Körper viele Eigenschaften hat, und pulverisirte ihn, in dem Glauben jetzt ihn in seine wahren Qualitäten aufgelöst zu haben. Plato: erst Herakliteer consequent Skeptiker, alles, auch das Denken, Fluß. Durch Sokrates zum Beharren des Guten, Schönen gebracht. Diese als seiend angenommen. An der Idee des Guten, Schönen nehmen alle Gattungsideale theil und sind deshalb auch seiend (wie die Seele an der Idee des Lebens). Die Idee gestaltlos. Durch Pythag Seelenwanderung ist die Frage beantwortet, wie wir etwas von den Ideen wissen können. Ende Platos: Scepticismus im Parmenides. Widerlegung der Ideenlehre. 23 [28] 5. Kunst. Begriff der Kultur. Kampf der Wissenschaft. 6. Philosophie, wundersame Doppelnatur. 7. Thales. 8. Anaximander. 9. 10. 11. Heraclit. 12. 13. Parmenides. 14. 15. Anaxagoras. 16. 17.18. Emped. 19. 20. Democrit. 375
21. 22. Pythago<eer>. 23. 24. Socrates. 25. Schluss. 23 [29] Kapitel I. 3 Kapitel II. 5 Kapitel III. Der Philosoph. Kapitel IV. Thales Anaximander. Capitel V. Heraclit. Capitel VI. Parmenides. 23 [30] Daß diese gesammte Auffassung der Anaxagorischen Lehre richtig sein muß, beweist am deutlichsten die Art, wie die Nachfolger des Anaxagoras, der Agrigentiner Empedokles und der Atomenlehrer Demokrit in ihren Gegensystemen thatsächlich dieselbe kritisirten und verbesserten. Die Methode dieser Kritik ist vor allem die fortgesetzte Entsagung in jenem erwähnten naturwissenschaftlichen Geiste, das Gesetz der Sparsamkeit, auf die Naturerklärung angewendet. Die Hypothese, die mit dem kleinsten Aufwande von Voraussetzungen und Mitteln die vorhandene Welt erklärt, soll den Vorzug haben: denn in ihr ist das wenigste Belieben, und das freie Spiel mit Möglichkeiten untersagt. Sollte es zwei Hypothesen geben, die beide die Welt erklären, so ist streng zu prüfen, welche von beiden jener Forderung der Sparsamkeit am meisten genügt. Wer mit den einfacheren und bekannteren Kräften, vor allem den mechanischen, bei jener Erklärung auskommen kann, wer aus möglichst wenigen Kräften den vorhandenen Bau der Welt ableitet, wird immer demjenigen vorgezogen werden, der die complicirteren und weniger bekannten Kräfte, und dazu diese noch in größerer Zahl, ein weltbildendes Spiel treiben läßt. So sehen wir denn Empedokles bemüht, den Überfluß an Hypothesen aus der Lehre des Anaxagoras zu beseitigen. Als erste nicht nothwendige Hypothese fällt die vom Anaxagorischen Νουζ, denn seine Annahme ist viel zu voll, um etwas so Einfaches wie die Bewegung zu erklären. Es ist doch nur nöthig, die beiden Arten der Bewegung, das Sichhinbewegen eines Gegenstandes zu einem anderen und das Sich-Wegbewegen eines Gegenstandes von einem anderen zu erklären. 23 [31] Wenn unser jetziges Werden ein Ausscheiden ist, wenn auch kein völliges, so fragt <er>: was hindert die völlige Ausscheidung? Also eine entgegenstrebende Kraft, das heißt eine latente Bewegung der Anziehung.
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Sodann: um jenes Chaos zu erklären, muß auch schon bereits eine Macht thätig gewesen sein, es ist zu dieser innigsten Verschlingung eine Bewegung nöthig. Also periodisches Überwiegen der einen und der anderen Macht sicher. Diese sind entgegengesetzt. Die Macht der Attraktion. wirkt auch jetzt noch, denn sonst gäbe es gar keine Dinge, es wäre alles geschieden. Das ist das Thatsächliche: zwei Bewegungsarten. Diese erklärt der νουζ nicht. Dagegen Liebe und Haß: daß diese bewegen, sehen wir doch gewiß, so gut als daß der νουζ sich bewegt. Jetzt verändert sich die Auffassung des Urzustandes: es ist der seligste. Bei Anaxagoras war es das Chaos, vor dem architektonischen Werk, gleichsam der Steinhaufen des Bauplatzes. 23 [32] Empedokles hatte den Gedanken einer der Schwere entgegenwirkenden, durch den Umschwung entstehenden Tangentialkraft gefaßt (de coelo, I p. 284). Schopenhauer, Welt als Wille, II 390. Er hielt die Fortsetzung der Kreisbewegung für unmöglich bei Anaxagoras. Es gäbe einen Wirbel, d. h. den Gegensatz der geordneten Bewegung. Wären die Theilchen unendlich durch einander vermischt, so könnte man die Körper ohne Kraftanstrengung auseinanderbrechen, sie würden nicht zusammenhalten, sie wären wie Staub. Die Kräfte, die die Atome an einander drücken und der Masse die Festigkeit geben, nennt Empedokles "Liebe". Es ist eine Molekularkraft, eine constitutive Kraft der Körper. 23 [33] Empedocles. Gegen Anaxagoras. 1) Das Chaos setzt schon Bewegung voraus. 2) Nichts hinderte die volle Ausscheidung. 3) Unsre Körper wären Staubgebilde. Wie Bewegung, wenn nicht in allen Körpern Gegenbewegungen sind? 4) Eine geordnet fortgesetzte Kreisbewegung unmöglich, nur ein Wirbel. Den Wirbel nimmt er selbst, als Wirkung des νεικοζ an. Wie wirkt Entferntes auf einander, Sonne auf Erde? Wäre alles noch im Wirbel, wäre das unmöglich. απορροαι. Also zwei bewegende Kräfte mindestens: die den Dingen inhäriren müssen. 377
5) Warum unendliche οντα? Überschreiten der Erfahrung. Anaxagoras meinte die chemischen Atome. Empedokles versuchte die Annahme von vier chemischen Atomenarten. Er hielt die Aggregatzustände für essentiell und die Wärme coordinirt. Also die Aggregatzustände durch Abstoßung und Attraktion; Materie in vier Formen. 6) Das Periodische ist nöthig. 7) Bei den lebenden Wesen will Empedokles auch noch nach dem gleichen Princip verfahren. Er leugnet auch hier die Zweckmäßigkeit. Seine größte That. Bei Anaxagoras ein Dualismus. 23 [34] Die Symbolik der Geschlechtsliebe. Hier wie in der platonischen Fabel zeigt sich die Sehnsucht nach dem Einssein, zeigt sich, daß einmal größere Einheit schon existirte: wäre diese größere Einheit hergestellt, dann würde diese wieder nach einer noch größeren streben. Die Überzeugung von der Einheit alles Lebendigen verbürgt, daß es einmal ein ungeheures Lebendiges gab, von dem wir Stücke sind: das ist wohl der Sphairos selbst. Er ist die seligste Gottheit. Alles war nur durch Liebe verbunden, also höchst zweckmäßig. Diese ist zerrissen und zerspalten worden durch den Haß, in seine Elemente zerstückt und dadurch getödtet, des Lebens beraubt. Im Wirbel entstehen keine lebenden Einzelwesen. Endlich ist alles getrennt und nun beginnt unsre Periode (der Anaxagorischen Urmischung setzt er eine Urentzweiung entgegen). Die Liebe, blind wie sie ist, wirft mit wüthender Hast wieder die Elemente an einander, versuchend ob sie sie wieder zum Leben bringt. Hier und da gelingt es. Es setzt sich fort. Ein Ahnungsgefühl in den belebten Wesen entsteht, daß sie noch höhere Vereinigungen erstreben müssen, als Heimat und Urzustand. Eros. Es ist ein furchtbares Verbrechen Leben zu tödten, denn damit strebt man zur Urentzweiung zurück. Einstmals soll alles wieder ein einziges Leben sein, der seligste Zustand. Die pythagoreisch-orphische Lehre in naturwissenschaftlicher Umdeutung: Empedokles beherrscht beide Ausdrucksmittel mit Bewußtsein, darum ist er der erste Rhetor. Politische Ziele. Die Doppelnatur - das Agonale und das Liebende, Mitleidige. Versuch der hellenischen Gesammtreform. Alle unorganische Materie ist aus organischer entstanden, es ist todte organische Materie. Leichnam und Mensch. 23 [35] Schluß: das Denken der Griechen im tragischen Zeitalter ist pessimistisch oder künstlerisch optimistisch. Ihr Urtheil über das Leben besagt mehr. Das Eine, Flucht vor dem Werden. Aut Einheit aut künstlerisches Spiel.
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Tiefes Mißtrauen gegen die Realität niemand nimmt einen guten Gott, der alles optime gemacht, an. Pythagoreer, religiöse Sekte. Anaximander. Empedokles. Eleaten. Anaxagoras. Heraklit. Demokrit. Die Welt ohne moralische und aesthetische Bedeutung, Pessimismus des Zufalls. Wenn man sie alle vor eine Tragödie stellte, so würden die drei ersten <sie als> Spiegel der Unseligkeit des Daseins erkennen, Parmenides als vergänglichen Schein, Heraklit und Anaxagoras als künstlerischen Bau und Abbild der Weltgesetze, Demokrit als Resultat von Maschinen. Mit Sokrates beginnt der Optimismus, der nicht mehr künstlerische, mit Teleologie und dem Glauben an den guten Gott; der Glaube an den wissenden guten Menschen. Auflösung der Instinkte. Sokrates bricht mit der bisherigen Wissenschaft und Kultur, er will zurück zur alten Bürgertugend und zum Staate. Plato löst sich von dem Staate, als er merkt, daß er mit der neueren Kultur identisch geworden ist. Der sokratische Skepticismus ist Waffe gegen die bisherige Kultur und Wissenschaft. 23 [36] Welches sind die Ursachen, welche eine gedeihliche Experimentalphysik im Alterthum nach Democrit unterbrochen haben? 23 [37]
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M. Antonius. Betrachte den Lauf der Sonne und des Mondes als einer, der mit ihnen forteilet, und denke stets daran, wie die Elemente in einander verwandelt werden. Denn das sind Vorstellungen, die den Schlamm des irdischen Lebens wegfegen. 23 [38] Antisthenes sagt: es ist königlich bei guten Handlungen böse Urtheile dulden. 23 [39] Democrit. Möglichste Vereinfachung der Hypothesen. 1. Es giebt Bewegung, also leeren Raum, also Nichtseiendes. Das Denken eine Bewegung. 2. Wenn es ein Seiendes giebt, muß es untheilbar sein, d. h. absolut erfüllt. Das Zertheilen ist nur erklärbar bei leeren Räumen, bei Poren. Ein absolut poröses Ding ist nur das Nichtseiende. 3. Die secundären Eigenschaften der materie νοµω, nicht an sich. 4. Feststellung der primären Eigenschaften der ατοµα. Worin gleichartig, worin verschieden? 5. Die Aggregatzustände des Empedokles (vier Elemente) setzen nur die gleichartigen Atome voraus, können also nicht selbst οντα sein. 6. Die Bewegung ist mit den Atomen unlösbar verbunden, Wirkung der Schwerkraft. Epikur. Kritik: was heißt Schwere in einem unendlichen leeren Raume? 7. Denken ist Bewegung der Feueratome. Seele, Leben. Sinneswahrnehmungen. 23 [40] Werth des Materialismus und Verlegenheit desselben. Plato und Demokrit. Der weltflüchtige heimatlose edle Forscher. Demokrit und die Pythagoreer finden zusammen das Fundament der Naturwissenschaft. Pythagoreer. 13 [41] (10) Plan. Was ist ein Philosoph? Welche Beziehung hat ein Philosoph zur Kultur? Speziell zur tragischen Kultur? (20) Vorbereitung. Wann verschwinden die Werke? Die Quellen: a) für das Leben b) für die Dogmata. Die Chronologie. Bestätigt durch die Systeme. (100) Haupttheil. Die Philosophen mit Stellen und Excursen. (20) Schluss. Die Stellung der Philos zur Kultur. 380
23 [42] Der Künstler schaut nicht "Ideen", er empfindet an Zahlenverhältnissen Lust. Alle Lust auf Proportion, Unlust auf Disproportion. Die Begriffe aufgebaut nach Zahlen. Die Anschauungen, die gute Zahlen darstellen, sind schön. Der Mann der Wissenschaft rechnet die Zahlen der Naturgesetze der Künstler schaut sie: - dort Gesetzmäßigkeit, hier Schönheit. Das vom Künstler Geschaute ist ganz Oberflächlich, keine "Idee"! Die leichteste Hülle um schöne Zahlen. 23 [43] Unsre Anschauung bereits durch Begriffe modificirt. Begriffe sind Relationen, nicht Abstraktionen. 23 [44] 1. Metaphern beziehen sich auf Thätigkeiten. 2. Bilden unter sich ein System: festes Grundgerippe - bilden Zahlen. 3. Der Kern der Dinge, das Essentielle drückt sich in der Sprache der Zahl aus. 4. Worin ruht das Beliebige bei den Metaphern? 23 [45] Philosophie nicht für das Volk also nicht Basis einer Kultur, also nur Werkzeug einer Kultur. a. Gegen den Dogmatismus der Wissenschaften b. gegen die Bilderverwirrung mythischer Religionen in der Natur c) gegen die ethische Verwirrung durch Religionen. Diesem ihrem Zweck gemäß ist ihr Wesen a) 1. Überzeugt von dem Anthropomorphischen, ist skeptisch
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2. hat Auswahl und Größe 3. Einheitsvorstellung überfliegend b) ist gesundes Ausdeuten und Einfachnehmen der Natur, ist Beweis. c) zerstört den Glauben an die Unverbrüchlichkeit solcher Gesetze. Ihre Hülflosigkeit ohne Kultur, an der Gegenwart geschildert. [Dokument: Heft] [Winter 1872-73] 24 [1] Gesundes Hineinblicken in sich selbst, ohne sich zu untergraben; nicht mit Wahn und Fabelei, sondern mit reinem Schauen in die unerforschte Tiefe sich wagen, ist eine seltne Gabe. Goethe. 24 [2] Zwei Behandlungsarten sind zu Hinderniß und Verspätung der Wissenschaft die traurigsten Werkzeuge; entweder man nähert und verknüpft himmelweit entfernte Dinge, in düsterer Phantasie und witziger Mystik; oder man vereinzelt das Zusammengehörige, durch zersplitternden Unverstand, bemüht sich nahverwandte Erscheinungen zu sondern, jeder ein eigen Gesetz unterzulegen, woraus sie zu erklären sein soll. Da im Wissen sowohl als in der Reflexion kein Ganzes zusammengebracht werden kann usw. Erfordernisse zu einem wissenschaftlichen Kunstwerke: man müßte keine der menschlichen Kräfte bei wissenschaftlicher Thätigkeit ausschließen. Die Abgründe der Ahnung, ein sicheres Anschauen der Gegenwart, mathematische Tiefe, physische Genauigkeit, Höhe der Vernunft, Schärfe des Verstandes, bewegliche sehnsuchtsvolle Phantasie, liebevolle Freude am Sinnlichen, nichts kann entbehrt werden zum lebhaften fruchtbaren Ergreifen des Augenblicks, wodurch ganz allein ein Kunstwerk, von welchem Gehalt es auch sey, entstehen kann. - Sie können jeden Augenblick hervortreten, wenn sie nicht durch Vorurtheile, durch Eigensinn einzelner Besitzender und wie sonst alle die vorkommenden zurückschreckenden und tödtenden Verneinungen heißen mögen Denn ob wir gleich, was Wissenschaft und Kunst betrifft, in der seltsamsten Anarchie leben, die uns von jedem erwünschten Zweck immer mehr zu entfernen scheint - - 24 [3] Von der Natur. Sie spielt ein Schauspiel: ob sie es selbst sieht, wissen wir nicht und doch spielt sie's für uns, die wir in der Ecke stehen. - Ihr Schauspiel ist immer neu, weil sie immer neue Zuschauer schafft. Leben ist ihre schönste Erfindung, und der Tod ist ihr Kunstgriff, viel Leben zu haben. Goethe. 24 [4] 382
Von der Gelehrten-Republik ist oft die Rede, aber nicht von der Genialen-Republik. In dieser geht es so zu: - ein Riese ruft dem andern zu, durch den öden Zwischenraum der Jahrhunderte, ohne daß die Zwergenwelt, welche darunter wegkriecht, etwas mehr vernähme als Getön, und mehr verstände als daß überhaupt etwas vorgeht. Und wiederum, dies Gezwerge treibt da unten unaufhörliche Possen und macht großen Lärm, schleppt sich mit dem, was jene haben fallen lassen, proklamirt Heroen, die selbst Zwerge sind, wovon jene Riesengeister sich nicht stören lassen, sondern ihr hohes Geistergespräch fortsetzen. Schopenhauer. 24 [5] Meine Zeitgenossen haben durch die gänzliche Vernachlässigung meiner Leistungen und derweiliges Celebriren des Mediokren und Schlechten alles Mögliche mich an mir selbst irre zu machen. Schopenhauer. 24 [6] Das Genie der Kreuzträger der Menschheit, um sie aus Rohheit und Barbarei zu erlösen. Schopenhauer. 24 [7] Es zwingt sich mir Alles auf, ich sinne nicht mehr drüber, es kommt mir alles entgegen, und das ungeheure Reich simplificirt sich mir in der Seele, daß ich bald die schwerste Aufgabe gleich weglegen kann. Wenn ich nur jemandem den Blick und die Freude mittheilen könnte, es ist aber nicht möglich. Und es ist kein Traum, keine Phantasie; es ist ein Gewahrwerden der wesentlichen Form, mit der die Natur nur gleichsam immer spielt und spielend das mannigfaltige Leben hervorbringt. Hätt' ich Zeit in dem kurzen Lebensraum, so getraute ich mich es auf alle Reiche der Natur - auf ihr ganzes Reich auszudehnen. G. 24 [8] Ich habe es oft gesagt und werde es noch oft wiederholen, die causa finalis der Welt- und Menschenhändel ist die dramatische Dichtkunst. Denn das Zeug ist sonst absolut zu nichts zu brauchen. G. 24 [9] Bei der anatomischen Entdeckung. Ich habe eine solche Freude, daß sich mir alle Eingeweide bewegen. 24 [10] Grillparzer in knöchernen Versen: Kunstliebe ohne Kunstsinn Bringt bei Fürsten wenig Gewinn, Sie öffnet Kunstschwätzern ihr Ohr,
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Und die Kunst bleibt einsam wie zuvor. 24 [11] Es giebt zwei Arten der Kultur, die hellenische und die römische: die erstere ein natürliches Gewächs, das in allen seinen Gestalten und Gliedern die wesentliche Form immer wieder spielend umschreibt, so daß die ungeheure Vielheit sich dem betrachtenden Auge simplificirt: die andre eine vornehme Convention und Dekoration, mit entlehnten, auch vielleicht nicht verstandenen, aber in's Prachtvolle und Üppige oder Zierliche umgedeuteten Formen. 24 [12] Ist das Leben eines Volkes unter die griechisch oder römisch geartete Herrschaft der Kunst gerathen, so reden wir von der Kultur dieses Volkes: welche Stellung wird aber die Philosophie zu der fest und normativ gewordenen Herrschaft der Kunst über das Leben einnehmen, wenn diese Kunst in einem Falle Natur, im anderen Convention ist? Beantworten wir diese Frage zuerst aus einer Analogie. 24 [13] Es ist meine Absicht, Jünglinge, die der lateinischen und der griechischen Sprache fähig sind, durch eine einfache Erzählung von den großen griechischen Meistern der Philosophie zu unterhalten. 24 [14] Vorträge über die griechische Philosophie. Erster Theil. [Dokument: Heft] [Winter 1872-73] 25 [1] Ich will mit dem Bekenntniß anheben, daß es mir sehr schwer geworden ist, in Betreff der griechischen Tragödie zu einer reinen und ursprünglichen Empfindung zu gelangen, die wirklich die Tragödie als Kunstwerk berührt, zu einer Empfindung, die ich vor allem "ehrlich" nennen möchte. Von vorn herein ist nämlich jetzt alles dazu angethan, daß der junge Mensch, begierig, nun endlich in eine so grenzenlos berühmte Wunderwelt hineinzublicken, in das Netz einer als unehrlich zu bezeichnenden Bewunderung verfalle. Er verbirgt sich ängstlich den kühlen befremdlichen und fast peinlichen ersten Eindruck: denn er möchte um jeden Preis das lieben, dessen Triumphgesang aus dem Alterthum her bis zu diesem Moment um ihn her erschallt. In diesem Bedürfniß zur Liebe verwandelt er sich, unbewußt, das so befremdlich auf ihn einwirkende Objekt mit der Kraft einer zarten Illusion; vielleicht hält er sein Auge starr auf die Scenen gebannt, in denen er eine Verwandtschaft mit Shakespeare empfindet und mißt etwa nach dem Eindruck der äschyleischen Kassandrascene die ganze alte Tragödie; oder er verweilt bei dem Aufbau des sophokleischen Drama's, erfreut darin Gesetze wiederzuerkennen, nach denen auch jetzt noch der Dramatiker baut und gestaltet. Ein Andrer wiederum mag sogar den Gegensatz jener kühleren und herberen mythischen Welt mit einem 384
"sentimentalischen" Reize empfinden: während die geringeren Naturen sich hier wie überall mit dem Stofflichen zufriedengeben, also theils an der dargestellten Geschichte sich ergetzen oder an einzelnen Worten und Gedanken oder an Metren oder gar an verderbten Stellen hängen bleiben. Dagegen beginnt jene ehrliche Empfindung mit dem Eingeständnisse eines ungeheuren Defektes und einer deshalb nur bedingten Bewunderung. Der Defekt ist selbst größer, als wenn wir uns etwa vor einem Trümmerhaufen eines Tempels finden und aus wenigen Säulenresten den Eindruck ganzer Colonnaden zu errathen suchen. Denn wir haben zuletzt gedrucktes Papier vor Augen, an Stelle der Wirklichkeit jener Tragödie. Wir müssen uns den Griechen dazu suppliren, den Griechen in der vollendeten Äußerung seines Lebens, als tragischen Schauspieler Sänger Tänzer, den Griechen als einzig anspruchsvollen künstlerischen Zuschauer. Wenn wir aber das vermögen, den Griechen selbst hinzuzudenken, so haben wir aber auch beinahe die antike Tragödie aus uns neu erzeugt. Das aber ist die grenzenlose Schwierigkeit: wo soll der moderne Mensch anfangen griechisch zu denken, wann soll er enden? In Wahrheit ist der Weg, nachdem man sich jenen Defekt deutlich gemacht hat, sehr schwer zu finden. Nur analoge, fast griechisch zu nennende Erscheinungen unserer Welt können uns jetzt weiter helfen: wie das Gleiche immer nur vom Gleichen und am Gleichen erkannt wird. So pflegt der bessere Theil unserer gegenwärtigen Gelehrten Goethe zu benutzen, um von ihm sich zu den Griechen geleiten zu lassen: andre nehmen Rafael zu Hülfe. Ich halte mich an die Erfahrungen, welche ich Richard Wagner verdanke. Die sogenannte historisch-kritische Wissenschaft hat gar kein Mittel, so fremden Dingen näher zu kommen: wir brauchen Brücken, Erfahrungen, Erlebnisse: dann wiederum brauchen wir Menschen, die sie uns deuten, die sie aussprechen. So glaube ich im Recht zu sein, von dem Eindrucke auszugehen, den eine Tristanaufführung im Sommer 1872 auf mich hervorbrachte. Ich gewahrte einmal, nach der plastischen Seite der Darstellung hin, eine durchgreifende Differenz gegen die plastische Darstellung unserer Schauspieler in Schillerschen und Shakespeare'schen Rollen, ebenso wie der Sänger in Opern. Ganz abgesehen von dem Talente der Darstellenden, war ein unwillkürliches Streben bemerkbar, auch in den leidenschaftlichsten Momenten eine ruhige Größe zu bewahren: im Wesentlichen sah man edle, mäßig bewegte, zumeist fast ruhende plastische Gruppen. Mir gefiel, daß die moderne Rastlosigkeit hier einem Streben nach Plastik gewichen war. Ich sagte mir, daß die Musik und das Singen wohl der Grund sein mußten, weshalb sich nichts so schnell bewegte wie im gemeinen Leben und wie in der gesprochenen Tragödie. Der gesungene Affekt ist unendlich verzögert gegenüber dem gesprochenen. Die begleitende Bewegung muß die rasche, die packende naturalistische Bewegung in eine pathetische Größe umdeuten. Und so ahnte ich eine allerfruchtbarste Zukunft unserer plastischen Aufgaben, einer so erhabenen Musik die entsprechende Erhabenheit der Stellungen und Gruppirungen zu erfinden. Und auch hier wieder erschien mir die Musik als der Erlöser unserer Gegenwart. Dagegen war die Oper ganz ungeeignet, eine Reinigung des plastischen Sinnes zu erzeugen: denn ihre Sänger waren verkleidete Instrumente, ihre Bewegungen im Grunde gleichgültig und deshalb von vorn herein durch Konvention bestimmbar. Eher könnte man sagen, daß der moderne Mensch, durch die Verführung seiner Lieblingskunst, der Oper, sich an den Konventionsausdruck in Tracht, Geberde usw. gewöhnt habe: daß die Höfe Nachahmungen der Opernwelt und allmählich die ganze civilisirte Welt die abgeblaßte Nachahmung der früheren Hofkultur sei. Dasselbe aber, was hier zu einer ruhigeren Plastik nöthigt, die längere Dauer des gesungenen Tones, hat offenbar auch in dem aeschyleischen Drama dazu genöthigt: außerdem aber, zu einer Steigerung dieser plastischen Ruhe, noch ein anderer Umstand. Die Tragödie ist ein religiöser Akt des ganzen Volks, d. h. einer ganzen Bürgergemeinde, sie rechnet also auf eine große Zuschauermasse: dies aber macht die Entfernungen des Dargestellten vom Zuschauer 385
viel größer als bei uns. Dieser anderen perspektivischen Verhältnisse wegen mußte der Schauspieler selbst, mächtig ausgestopft und auf dem Kothurn stehend, vorgeführt werden: aus demselben Grunde trat die Maske an Stelle des bewegten Gesichts. Aber ebendeshalb muß auch die Plastik nur in großen und ruhigen Formen sich ausbreiten. Hier bildeten sich ganz von selbst die Gesetze des hohen Stils aus, die starre Symmetrie wurde in Kontrasten aufgehoben. Wahrscheinlich hat die Beschränkung auf zwei, drei Schauspieler auch den plastischen Grund, daß man die größere Gruppe, bewegte Gruppe darzustellen sich fürchtete. Denn hier sind der Gefahren des Unschönen zu viele. Jene einfache äschyleische Plastik muß aber die Vorstufe des Phidias gewesen sein: denn die bildende Kunst kommt mit langsamem Schritte hinter einer schönen Wirklichkeit drein. Es ist ein wichtiges Problem, warum die bildende Kunst nicht zugleich mit den anderen Künsten, nach Sokrates, verfiel: aber erstens kommt sie später, sodann rettet sie die handwerksmäßige, aber nicht sophistische Bildung ihrer Meister, und drittens wird das einmal schön Erfundene immer wiederholt, so daß auch die späteren Zeiten für uns noch in der Schönheit viel früherer Zeiten prangen. Der Tragödiendichter muß jedenfalls auch für die plastischen Gruppen und Bewegungen seiner Schauspieler Vorschriften gegeben haben: und daß er dies that, erkennen wir aus der Symmetrie der Verszahlen, die sich nur an plastischen Bewegungen verdeutlichen lassen. Im Allgemeinen steht der Schauspieler, während er spricht: durch einzelne Schritte scheidet er gleiche Gruppen von Versen ab. Jedenfalls gehört sein ganzes Gebahren mit unter den Begriff der Orchestik, und der Chorodidaskalos, d. h. ursprünglich der Dichter, hatte auch für ihn alles auszudenken und vorzuschreiben. Für die aeschyleische Zeit, die an einen streng hieratischen Stil gewöhnt war, werden wir auch in der Tragödie einen noch hieratisch bedingten Stil häufig vorauszusetzen haben. Es wäre also die Aufgabe gestellt, Aeschylus als plastischen Komponisten zu verstehen, sowohl in der plastischen Bewegung einer einzelnen Scene, als in der Gesammtfolge der plastischen Compositionen im ganzen Kunstwerk. Dabei wäre das Hauptproblem, die plastische Benutzung des Chors zu verstehen, sein Verhältniß zu den Bühnenpersonen: sodann die Beziehung der plastischen Gruppe zur umgebenden Architektur. Hier öffnet sich uns ein Abgrund künstlerischer Kräfte - und der Dramatiker erscheint mehr denn je wieder als der Gesammtkünstler. Vgl. Goethe an Schiller, Bd. I, p. 278. [Dokument: Heft] [Frühjahr 1873] 26 [1] Thales. Paracelsus. Stelle in den Allegorien Homers. Wasser in der neuen Chemie. Lavoisier. Wolken Eis. Anaximenes Luft (Paracelsus). Anaximander. Das Werden als Zeichen der Vergänglichkeit. Nicht das infinitum, sondern das Indefinitum. Das απειρον Ursache der Welt des Werdens? (Emanationstheorie, Spir.) Heraclit. Werden als Schaffen, p.347 und früher Kopp.
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Voraussetzung von zwei Elementen für jedes Werden. Anaxagoras. Kreisbewegung. Dynamische Theorie, Durchdringung der Materie, p. 324. Viele Substanzen. Werden als Herausziehen nicht mehr Schaffen. Durchdringung zu Punkten. Empedocles. Attraktion, Repulsion. Affinität. Actio in distans. Vier Elemente. Zwei Electricitäten, p. 340 Kopp. Liebe und Haß Empfindung als Bewegungsursache. Boerhave, p. 310 Kopp. Democrit. Atome gleichartig. Buffon gegen Newton, p. 311. Vielgestaltig, Gassendi. Pythagoreer. 367 Kopp. Der schlafende Reisende im Schiff. Überweg, III 53. Fortsetzung der Atomistik, alle Bewegungsmechanik ist zuletzt Beschreibung der Vorstellungen. Berührung. Actio in distans. Parmenides. Bernardinus Telesius. Beiträge zur Geschichte der Physiologie von Rixner und Siber III. Definition der Substanz bei Cartesius, siehe Überweg, 111 52. Gegenseitige Einwirkung bei völliger Verschiedenheit des Cörpers. III 53. Grundlehre Satz vom Widerspruch, Überweg, III 81. Quidquid est, est: quidquid non est, non est. 26 [2] Nachahmung der Natur. "Der weiseste Mensch ist Gott gegenüber ein Affe." Heraclit. Oedipus der "Weh-mensch" löst das Menschenräthsel. 26 [3] Die Eleaten sahen den Himmel gleichsam schwarz, wie die Mondbewohner. 387
26 [4] Cardanus theilt die Menschen in 1) bloß Betrogene 2) betrogene Betrüger 3) nicht betrogene Nichtbetrüger. 26 [5] Sennerti physica Viteb<ergae> 1618 Democrit Magneni Democritus reviviscens Ticini 1646 Empedocles - Maignani cursus philosoph 1652 und 1673. 26 [6] Der finstere Ozean der Metaphysik. 26 [7] Thomas Campanella sagt, der Raum ist beseelt, denn er scheut das Leere und begehrt nach Erfüllung. 26 [8] Es ist wie in einer Gemäldegalerie, eine Reihe von Philosophen hinter einander anzusehen: sie sind in dem Hause, in das wir sie zur Vergleichung einmiethen, nicht zu Hause; sie sehen daher oft so beliebig und wie ein Luxus aus, wie Erzeugnisse charakterloser Allerweltskünstler. Die Aufgabe dagegen soll sein, nur davon zu erzählen, wie sie selbst von ihren Vorgängern erzählen und mit ihnen sich berühren, also der Kampf untereinander. 26 [9] Ich will eine Reihe von großen Philosophen beschreiben und hoffe dadurch das Wesen des Philosophen selbst deutlicher zu machen: ob ich es schon auf eine etwas unphilosophische Weise thun werde, da ich mich an den Wirkungen des Philosophen halte. Aber ich vermag nicht direkter von ihrem Wesen zu reden, denn der reine Trieb zur Wahrheit ist so fremd und unerklärlich in dieser Welt, daß ich hoffen darf, wenn ich zeige, wozu er nütze ist, wenigstens etwas gezeigt zu haben. Sollte er dieses Nutzens wegen nicht da sein, so ist es doch gut einzusehen, daß er, wenn er einmal da ist, auch nützlich sein kann: während er seinem Wesen nach so fremd und unmenschlich ist, daß man glauben möchte, er sei nicht nur unnütz, sondern auch schädlich. Denn jener Trieb steht im Widerspruch mit dem, was die Menschen zumeist beglückt. 26 [10] 388
Es giebt nur Philosophen, d. h. Freunde der Wahrheit oder Feinde der Wahrheit oder Skeptiker. 26 [11] Ich habe nichts als Empfindung und Vorstellung. Also kann ich diese nicht aus den Vorstellungs-Inhalten entstanden denken. Alle jene Kosmogonien usw. sind erschlossen aus den Empfindungsdaten. Wir können uns nichts denken, das nicht Empfindung und Vorstellung wäre. Somit auch nicht rein Zeit, Raum Welt existirend, aber ohne das Empfindende und Vorstellende. Ich kann mir das Nichtsein nicht vorstellen. Das Seiende ist Empfindung und Vorstellung. Das Nichtseiende wäre etwas, was nicht Empfindung und Vorstellung wäre. Das Vorstellende kann sich nicht "nicht vorstellen", wegvorstellen. Das Vorstellende kann sich nicht als geworden denken, noch als vergehend. Unmöglich auch die Entwicklung der Materie, bis zum Vorstellenden. Denn es giebt gar nicht diesen Gegensatz von Materie und Vorstellung. Die Materie selbst ist nur als Empfindung gegeben. Jeder Schluß hinter sie ist unerlaubt. Die Empfindung und die Vorstellung ist die Ursache, daß wir an Gründe Stöße Körper glauben. Wir können sie auf Bewegung und Zahlen zurückführen. 26 [12] Bewegung in der Zeit AB .. Raumpunkt A wirkt auf Raumpunkt B und umgekehrt. Dazu bedarf es einer Zeit, denn jede Wirkung hat einen Weg zurückzulegen. 389
Aufeinanderfolgende Zeitpunkte würden in einander fallen. A trifft mit seiner Wirkung nicht mehr auf das B des ersten Momentes. Was heißt es nun: B existirt noch und ebenso A existirt noch, wenn sie sich treffen? Das hieße vor , A ist unverändert dasselbe in dem und jenem Zeitpunkte. Dann aber ist A keine wirkende Kraft, denn die kann nicht mehr dieselbe sein; denn das hieße, sie hätte nicht gewirkt. Nehmen wir das Wirkende in der Zeit, so ist das in jedem kleinsten Zeitmomente Wirkende ein Verschiedenes. Das heißt: die Zeit beweist das absolute Nichtbeharren einer Kraft. Alle Raumgesetze sind also zeitlos gedacht, das heißt müssen gleichzeitig und sofort sein. Die ganze Welt in einem Schlage. Dann aber giebt es keine Bewegung. Die Bewegung laborirt an dem Widerspruch, daß sie nach Raumgesetzen construirt und durch Annahme einer Zeit wieder diese Gesetze unmöglich macht: d. h. zugleich ist und nicht ist. Hier ist durch die Annahme zu helfen, daß entweder Zeit oder Raum = 0 ist. Nehme ich den Raum als unendlich klein, so werden alle Zwischenräume zwischen den Atomen unendlich klein, d. h. alle punktuellen Atome fallen zusammen in einen Punkt. Da aber die Zeit unendlich theilbar ist, so ist die ganze Welt möglich rein als Zeitphänomen, weil ich jeden Zeitpunkt mit dem einen Raumpunkt besetzen kann, somit ihn unendliche Mal setzen kann. Man müßte sich somit als Wesen eines Körpers Zeitpunkte distinkt denken, d. h. den einen Punkt in bestimmten Zwischenräumen gesetzt. Zwischen jedem Zeitzwischenraum haben noch unendliche Zeitpunkte Platz: also könnte man sich eine ganze Körperwelt denken, alle aus einem Punkte bestritten, aber so, daß wir Körper in unterbrochene Zeitlinien auflösen. :: . Jetzt ist nur :: . .: .: ein reproduzirendes Wesen nöthig, welches frühere Zeitmomente neben den gegenwärtigen hält. Darin sind unsere Körper imaginirt. Es giebt dann kein Nebeneinander, als in der Vorstellung. 390
Alles Nebeneinander wäre erschlossen und vorgestellt. Die Gesetze des Raumes wären sämmtlich construirt und verbürgten nicht das Dasein des Raumes. Die Zahl und die Art der Aufeinanderfolge jenes einen oft gesetzten Punktes macht dann den Körper aus. Die Realität der Welt bestünde dann in einem verharrenden Punkte. Die Vielheit enstünde dadurch, daß es vorstellende Wesen gäbe, welche diesen Punkt in den kleinsten Zeitmomenten wiederholt dächten: Wesen, welche den Punkt auf verschiedenen Zeitpunkten als nicht identisch annehmen und jetzt diese Punkte gleichzeitig nehmen. Übersetzung aller Bewegungsgesetze in Zeitproportionen. Das Wesen der Empfindung bestünde darin, allmählich solche Zeitfiguren immer feiner zu empfinden und zu messen; die Vorstellung construirt sie als ein Nebeneinander und erklärt jetzt diesem Nebeneinander gemäß den Fortgang der Welt: reine Übertragung in eine andere Sprache, in die des Werdens. Die Ordnung der Welt wäre die Regelmäßigkeit der Zeitfiguren: doch müßte man dann jedenfalls die Zeit mit einer constanten Kraft wirkend denken, nach Gesetzen, die wir uns nur aus dem Nebeneinander deuten können. Actio in distans temporis punctum. An sich haben wir gar kein Mittel ein Zeitgesetz hinzustellen. Wir hätten dann eine punktuelle Kraft, welche zu jedem späteren Zeitmomente ihrer Existenz eine Relation hätte, d. h. deren Kräfte in jenen Figuren und Relationen bestünden. In jedem kleinsten Moment müßte die Kraft verschieden sein: aber die Aufeinanderfolge wäre in irgendwelchen Proportionen und die vorhandene Welt bestünde in der Sichtbarwerdung dieser Kraft-Proportionen, d.h. Übersetzung ins Räumliche. Gewöhnlich nimmt man in der atomistischen Physik in der Zeit unveränderliche Atom-Kräfte an, also οντα im parmenideischen Sinne. Diese können aber nicht wirken. Sondern nur absolut veränderliche Kräfte können wirken, solche die keinen Augenblick dieselben sind. Alle Kräfte sind nur Funktion der Zeit. 1. Eine Wirkung von aufeinanderfolgenden Zeitmomenten ist unmöglich: denn zwei solche Zeitpunkte würden in einander fallen. Also ist jede Wirkung actio in distans, d. h. durch Springen. 2. Wie eine Wirkung dieser Art in distans möglich ist, wissen wir gar nicht. 3. Schnell, langsam usw. in der ganzen Art dieser Wirkung. D. h. die Kräfte, als Funktionen der Zeit, äußern sich in den Relationen naher oder ferner Zeitpunkte, nämlich schnell oder langsam. Die Kraft liegt im Grade der Beschleunigung. Die allerhöchste Beschleunigung läge in der Wirkung eines Zeitmomentes auf das nächste, d. h. es wäre dann = unendlich groß. Je größer die Langsamkeit, um so größer die Zwischenräume der Zeit, um so größer das distans. 391
Also Relation entfernter Zeitpunkte ist Langsamkeit: alle Langsamkeit ist natürlich relativ. Zeitlinie. Real: ein Raumpunkt. Relationen seiner verschiedenen Zeitlagen. Wo bestehen die Relationen. Keine Bewegung in der Zeit ist stetig. Wir messen an etwas Räumlichbleibendem die Zeit und deshalb setzen wir voraus, daß zwischen Zeitpunkt A und Zeitpunkt B eine stetige Zeit sei. Die Zeit ist aber gar kein continuum, sondern es giebt nur total verschiedene Zeitpunkte, keine Linie. Actio in distans. Es ist nur von Zeitpunkten zu reden, nicht mehr von Zeit. Der Zeitpunkt wirkt auf einen anderen Zeitpunkt, also dynamische Eigenschaften vorauszusetzen. Zeitatomenlehre. Es ist möglich, 1) die vorhandene Welt auf punktuelle Raumatomistik zurückzuführen, 2) diese wieder auf Zeitatomistik zurückzuführen, 3) die Zeitatomistik fällt endlich zusammen mit einer Empfindungslehre. Der dynamische Zeitpunkt ist identisch mit dem Empfindungspunkt. Denn es giebt keine Gleichzeitigkeit der Empfindung. 26 [13] Vielleicht hat Jeder einmal in seiner Jugend jenen leidenschaftlichen Moment erlebt, in dem er zu sich sagte: "Könntest Du doch deine ganze Vergangenheit auslöschen! Und du ständest, rein und unbeschrieben, im Angesicht der Natur, und wie der erste Mensch, um von nun an weiser und besser zu leben". Es ist ein thörichter und schrecklicher Wunsch: denn sollte wirklich die ganze Vergangenheit des Wünschenden von der Tafel des Seins ausgelöscht werden, hieße dies nicht weniger als mit seinem ärmlichen Paar Lebensmonden auch zahllose frühere Geschlechter auszutilgen: deren Nachklang und Überrest nun einmal unsre Existenz ist, so gern sich das Individuum als etwas ganz Neues und Unerhörtes zu empfinden geneigt ist. Inder That giebt es kaum ein selbstsüchtigeres Verlangen, als ganze frühere Generationen noch a posteriori zu vernichten, weil irgend ein Späterer Grund hat, mit sich unzufrieden zu sein. Sollte aber wirklich Jemand, in der Leidenschaft, ausrufen: Fluch allen Generationen, denen mein Dasein - - 26 [14]
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Wunderbar die Unbesorgtheit der Natur um die Kultur. Sie .hängt an zu wenig Individuen. Bakunin, der im Haß gegen die Gegenwart, die Geschichte und die Vergangenheit vernichten will. Nun wäre um alle Vergangenheit zu tilgen freilich nöthig, die Menschen zu vertilgen: aber er will nur die bisherige Bildung, das ganze geistige Weiterleben, vernichten. Die neue Generation soll ihre neue Kultur finden: Der Mensch ist nur der Kunst werth, die er selbst schafft. Die Bildung überträgt sich nicht einfach durch die Generation. Sie ist viel gefährdeter: sie kann Jahrhunderte lang wirklich vernichtet werden. Es ist möglich die Bildung zu vernichten. Sie zu ruiniren ist sogar sehr leicht und das Werk weniger Menschen und Jahre. Die Natur hat nicht solche Vorsichtsmaßregeln getroffen Da die Bildung so wandelbar ist, so ist sie auch leicht zu verbessern. 26 [15] über gute Handlanger 3 p. 59 Eckerm 3 p. 164 der griechische Stil. 3 p. 37 durch Zeitungen Halbkultur der Massen 3 p. 45 über Reformen ohne Gott der Grad dessen, was ein Mensch leiden kann, bestimmt seine Tiefe und seinen Ernst, aber auch seine Freude. 26 [16] Es ist jetzt durch die öffentliche Meinung fast verboten, von den schlimmen Folgen des Krieges, zumal eines siegreich beendeten Kriegs zu reden, weshalb die Schriftsteller, die außer jener Meinung keine Meinungen besitzen, um die Wette das Lob des Kriegs, überhaupt sein Verdienst um Kultur, Kunst und Sittlichkeit zu singen beflissen sind. Trotzdem sei es gesagt: von allen schlimmen Folgen, die der letzte mit Frankreich geführte Krieg im Gefolge hat, ist vielleicht die schlimmste eine schnell um sich greifende und jetzt fast allgemeine Täuschung, als ob die deutsche Kultur in jenem Kriege über eine fremde Kultur gesiegt habe und deshalb vor allem den Lorbeer verdiene, der einem so außerordentlichen Kriege gemäß sei. Einmal wäre immer, selbst angenommen daß jene Kulturen mit einander gekämpft hätten, der Maßstab für die siegende immer noch ein sehr relativer und unter Verhältnissen noch gar zu keinem Siegesjubel oder Selbstglorifikation berechtigend; denn es käme darauf an, was jene unterjochte Kultur werth gewesen wäre, vielleicht sehr wenig, in welchem Falle auch der Sieg, selbst bei pomphaftestem Waffenerfolge, für die siegende Kultur keine Aufforderung zum Triumph enthielte. Andrerseits ist in unsrem Falle davon gar nicht die Rede. Strenge Kriegszucht, wissenschaftliche Überlegenheit der Führer, Einheit und Gehorsam unter den Geführten, kurz wesentlich Elemente, die nichts mit der Kultur zu thun haben, haben gesiegt, und nur darüber kann man sich wundern, daß die Kultur so wenig hemmend in diese militärischen Erfordernisse dazwischengetreten ist: daß sie entweder so ohnmächtig war oder 393
so zugehörig dienstfertig. Genug, daß nach dem Krieg die Sache anders erscheint und überall anders betrachtet wird. Die Kultur soll es sein, die gesiegt hat; alle Gewerbe, alle Wissenschaften feiern ihre Mitbetheiligung daran und selbst eine Versammlung von Philologen und Schulmännern läßt sich das populäre Thema nicht entgehen und feiert ihren Stand als den am Siege mit Betheiligten. Ich will gar nichts darüber sagen, in wie weit mit Recht. Nur scheint mir darin eine allgemeine Gefahr zu liegen, daß eine höchst zweideutige, unfertige, unnationale Kultur, eine wahre Verlegenheits-Cultur plötzlich den TriumphatorMantel sich umlegt. Um Gottes Willen, seht euch um und nehmt euch in Acht. Noch ein solcher Sieg und das deutsche Reich besteht, aber das Deutsche selbst ist vernichtet! Ich habe schon jetzt kaum den Muth, irgend eine Eigenschaft als eine speziell deutsche zu reklamiren. Die deutsche Sitte, die deutsche Geselligkeit, die deutschen Verwaltungen und Vertretungen, alles hat einen ausländischen Beigeschmack und sieht aus wie eine Nachahmung ohne Talent, von der noch dazu vergessen ist, daß sie Nachahmung ist: überall Originalität aus Vergeßlichkeit. In dieser Noth halte ich mich an die deutsche Sprache, die wahrhaftig bis jetzt allein sich durchgerettet hat, durch all die Mischung von Nationalitäten und Wechsel der Zeiten und Sitten, und meine, daß ein metaphysischer Zauber, Einheiten aus Vielheiten, Einartiges aus Vielartigem zu gebären, in der Sprache liegen müsse. Eben deshalb müssen wir die strengsten Wächter über diese unificirende, unsre zukünftige Deutschheit verbürgende Sprache setzen. Unsere großen Autoren haben ein heiliges Amt, als Wächter dieser Sprache; und unsere deutsche Schule hat eine fruchtbare ernste Aufgabe, unter den Augen solcher Wächter zur deutschen Sprache zu erziehen. (Neue Eigenschaft der d<eutschen> Sprache: alles anzunehmen und nachzuahmen, europäisches Mosaik.) Nun hat der Krieg die unselige Wirkung gehabt, daß auch die deutschen Schriftsteller sich glorificirt fanden und jetzt ein Zutrauen zu sich bekamen, als hätte schon die strengste Nachwelt ihnen die Unsterblichkeit zuerkannt. Kecklich wagte eine ganze Reihe von neuen Klassikern sich ans Licht: die Zeitschriften und europäischen Zeitungen trugen ihnen das Krönungsdiadem voran und das Ausland geräth bei der immer erneuten Versicherung, daß wir eine große Kultur und große Classiker besäßen, in staunende Verwirrung. Denken wir uns einen gebildeten Engländer, der mit unsren großen Deutschen sich vertraut gemacht hat und nun über den Kanal her immer von neuem es hören muß, daß wieder deutsche Classiker und Musterschriftsteller existiren, als die wahren Helfer und Ursachen so gewaltiger Kriege und Siege, und dadurch höher gestellt als jene älteren, denen am wenigsten kriegerische Kränze dargebracht worden sind. Unser Engländer liest z. B. davon, daß man sich in verbreiteten Zeitschriften darüber unterhält, ob David Strauß der größte Stilist der Gegenwart sei oder noch einer Anzahl von Seinesgleichen beisitze: und jetzt steigt sein Verlangen aufs Höchste, sich mit dieser modernen Klassicität bekannt zu machen und verlangt das Werk, das in einem Vierteljahr viermal, in starken Auflagen, zur Welt kam, "Der alte und der neue Glaube." Damit haben wir alles gesagt, was als Einleitung für den von nun an selbst redenden Engländer gesagt werden mußte: dieser liest, liest wieder, staunt, fragt, horcht, untersucht und endlich ergreift er, in Verzweiflung, die Feder, um das ihn so Beängstigende in einem Briefe loszuwerden - er wendet sich eben direkt an David Strauß. Erster Brief. Ein Ausländer hat Einiges voraus, wenn er sich mit dem berühmten David Strauß in ein Gespräch über das einläßt, was Deutsch ist, zumal er - - 26 [17]
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Wenn ein moderner Mensch wie Strauß an einem so großen Alten Fehler zu rügen hätte, so sollte es billig nicht anders geschehen, als auf den Knien, um mit Goethe zu reden, 3, p. 137. 26 [18] Die plötzliche Bereicherung eines Volkes birgt dieselben Gefahren wie die plötzliche Überfüllung mit wissenschaftlichen Erkenntnissen. Der Weg von der Einsicht zum Leben, vom Kennen zum Können, von der Kunde zur Kunst wird vergessen: ein luxuriöses Schwelgen im Wissen beginnt. Das ruhige Fortarbeiten derjenigen, welche die Kultur produziren, wird plötzlich durch die Erkenntnißstolzen überfluthet: niemand will die kleinen Wege mehr praktisch gehen, sondern beschränkt sich egoistisch ein Besserwissen zu haben. Und so wie man neuerdings fürchtet, daß die berühmten fünf Milliarden zum Fluch ausschlagen könnten, so scheint der Überschuß an Wissenschaftlichkeit ein Fluch für unsere Kultur zu werden. 26 [19] Die Illusion des Kultursieges. Der Kampf dagegen nöthig, Ausgang unwahrscheinlich durch jene Illusion. Es fehlt das Gefühl daß es schlimm steht. 26 [20] Über Lesen und Schreiben. 1. Das Viellesen. 2. Das Vielschreiben. 3. Der Stil. 4. Die Rede. 26 [21] Griechisch und deutsch. Kampf des Römischen und des Griechischen. 26 [22] Stil. Autoren, welche zuerst schlecht schreiben und nachher formen und künsteln. Autoren, welche nur schlecht schreiben. Die Herablassung der populären Schriftstellerei. 26 [23]
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Geburt der Tragödie. Die Philosophen des tragischen Zeitalters. Die Zukunft unserer Bildungsanstalten. Über Lesen und Schreiben. Der Wettkampf. Rhythmus. Griechisch und Deutsch. Bayreuther Horizont-Betrachtungen. 26 [24] Gegen David Strauss. Er ist einheitlich. Der Stilist. Die Kunstanschauung. Die Lebensbetrachtung. Die philiströse Impotenz dieser Bildung. Resignation und erkünstelte Heiterkeit. Gefühllos für das Deutsche. Von Pacific Nil. [Dokument: Heft] [Frühjahr - Herbst 1873] 27 [1] Der Stil des Strauß beweist, daß er während eines langen Lebens viel schlechte Bücher gelesen - ich meine vor allem die Schriften seiner Gegner. Er hat am Christenthum das Beste vergessen, die großen Einsiedler und Heiligen, kurz das Genie und urtheilt wie der Dorfpastor über die Kunst oder wie Kant über die Musik (der sie nur als Militärmusik schätzt). Wenn die Franzosen mehr Deutsch verstehen werden, wird es ein großes Gelächter über den Geschmack der deutschen Landsleute geben: was für Gelehrte, und Dichter und 396
Romanschreiber, wie stolz und wie geschmacklos! Es war frech von Strauß, das Leben Jesu dem deutschen Volke zu bieten als ein Gegenstück zu dem viel größeren Renan: und gar Voltaire hätte er nicht berühren dürfen. Strauß hat gewähnt das Christenthum zu zerstören, in dem er Mythen nachweisen wollte. Aber das Wesen der Religion besteht gerade darin, mythenbildende Kraft und Freiheit zu besitzen. Widersprüche mit der Vernunft und der heutigen Wissenschaft sind sein Trumpf. Er ahnt nichts von der fundamentalen Antinomie des Idealismus und von dem höchst relativen Sinn aller Wissenschaft und Vernunft. Oder: gerade die Vernunft sollte ihm sagen, wie wenig durch die Vernunft über das Ansich der Dinge auszumachen ist. 27 [2] Er sieht nirgends, wo die Probleme liegen. Er nimmt das Christenthum, die Kunst immer in der niedrigsten demokratischen Verkümmerung und widerlegt dann. Er glaubt an die moderne Kultur - aber die antike war eine viel größere und doch ist das Christenthum darüber Herr geworden. Er ist kein Philosoph. Er ist ohne Stilgefühl. Er ist kein Künstler. Er ist ein Magister. Er zeigt den magisterhaften Typus der Bildung unsrer Bourgeoisie. Das Bekenntniß ist eine Überschreitung seiner Grenze: der Gelehrte ist zu Grunde gegangen, dadurch daß er Philosoph scheinen wollte. Und doch ist nur ein magisterhaftes Wesen von Weltanschauung, unfrei, ärmlich, bornirt, entstanden. Die Disposition der Schrift: zuletzt zwei Nischen zur Erbauung. Er ist ein schlechter Stilist und ein unbedeutender Autor, dazu nicht auf seinem Felde. Übrigens ein Greis. Was sagt Goethe vom Systeme de la nature? p. 257 steht die lächerlich matte Abschwächung eines starken Wortes Proudhon's. Bei Strauß ist kein Zusammenhang, es sind Lappen. Sein Darwinismus und seine Ethik klaffen, der Erstere hätte eine Ethik des bellum omnium und der höheren Utilität und Macht erzeugen sollen. Der Artbegriff als Moralregulativ ist ganz unzureichend. Er meint den Idealbegriff. Wer aber soll diesen aufstellen, der die Ethik noch nicht hat? Denn der Idealbegriff ist erst aus der Ethik abzuziehn, also kann der Idealbegriff nicht für den Menschen der sittliche Maßstab sein. 27 [3] Es ist ein lapsus von Strauß, ein Leben Jesu zu geben. Er mußte sich auf die historische Arbeit beschränken. - Dagegen durfte er jetzt das eigentl wahrhafte Christenthum, das Mönchsthum, nicht vergessen. 27 [4] Gegen den Schriftsteller David Strauss. 27 [5]
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Wenn die "Wir" von Strauß wirklich so zahlreich sein, so trifft ein, was Lichtenberg prophezeit, daß unsre Zeiten noch einmal die dunklen heißen. 27 [6] Für Strauß ist Jesus ein Mann, den er in's Irrenhaus stecken würde. 27 [7] An den deutschen Schriftsteller David Strauss. Brief eines Ausländers. Irgend Jemand hat mir einmal gesagt, Sie sein ein Jude und als solcher des Deutschen nicht vollständig mächtig. 27 [8] Es ist tröstlich, wenn einer alt wird und sein litterarisches Testament macht; man darf anfangen ihn zu vergessen und nicht mehr zu lesen - und das ist ein positiver Gewinn. - Das allerneueste Testament vererbt seine Weisheit, an die, die "geistig arm" sind, weil sie nichts gelernt oder schlechte Bücher z. B. nur ihre eignen gelesen haben. Vor allen an die geistig armen Zeitungsleser und Concertbesucher. Ein Evangelium für das Leipziger Gewandhaus. Er geht in sein Kämmerchen und spielt Kammermusik, - "so leben wir, so leben wir, so leben wir alle Tage." 27 [9] Es soll euch durchaus nicht erlaubt sein, Lessing zu glorificiren, da ihr doch nur euch meint. Davon daß dieses herrliche Wesen unter euch stumpfen Gesellen zu Grunde gieng, habt ihr keine Ahnung. Daß er sich in den verschiedensten Gebieten herumwarf, ist kein Glück, dafür hat er in nichts es zu wahrer Größe gebracht. Gervinus. Grillparzer. 27 [10] Jahn, dem das Lied an die Freude nicht gelungen erschien. 27 [11] Aristoteles meint daß man die Produkte alter Männer tödten solle. 27 [12] Lichtenberg: "Ich weiß, daß berühmte Schriftsteller, die aber im Grunde seichte Köpfe waren - was sich in Deutschland leicht beisammen findet - bei allem ihren Eigendünkel sei von den besten Köpfen, die ich befragen konnte, für seichte Köpfe gehalten worden sind". 27 [13]
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Mich gelüstete so wenig, ein Bekenntniß über Leben und philosophische Fragen von Strauß zu vernehmen, als etwa von Mommsen oder von Freitag oder Gervinus. 27 [14] Er ist berühmt, wie ein Reisender in berühmten Ländern berühmt wird: dieselbe Arbeit, auf eine finnische Erzählung verwendet, hätte ihm unter Gelehrten einen guten Namen, aber weiter nichts gegeben, als was Tausende haben. Die Dummheit der Theologen hat ihn berühmt gemacht. 27 [15] Ein großer Künstler könnte jetzt noch das Christenthum wieder herstellen, vor allem seine Feste. Klopstock hatte eine Ahnung von diesem Privilegium des Genie's. 27 [16] So wie sie sich zum Stil verhalten, so zur Kunst: wie zur Kunst, so zum Leben: nämlich gemein, oberflächlich, weichlich. 27 [17] Welcher Muth, sich zum Darwinismus zu bekennen, zu sagen "nicht Christen", aber in allen wirklichen Lebensernstfragen scheu auf die dürftigste Bequemlichkeit zurückzufallen! 27 [18] Die charakterlose und stumpfe Manier als Ausdruck der Gesundheit. Das Alterthümliche als Ausdruck der deutschen Kraft. Das Bild und zwar aus der modernsten Welt als Zeichen des Geschmacks und zwar des modernen Geschmacks. Er affektirt ein großer populärer Schriftsteller zu sein: falscher Begriff der Popularität. Er gehört zu denen, die in einem gewissen Alter unfähig sind, Kant zu verstehen. Das klassische Alterthum existirt für ihn nicht. "Das Testament der modernen Ideen!" Ist es denn nöthig, daß jemand in dem Fach viel verstehen muß, in dem er berühmt geworden ist? 27 [19] Sie nennen sich David Strauss, ich verstehe Ihre Schelmerei wohl, Sie wollen dem deutschen Publikum zu verstehen geben, wie ärmlich und dürftig der wahre David Strauss ist, wie schlecht und gering seine schriftstellerischen Talente sind. Aber wie arg sind Sie
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mißverstanden! Überall nimmt man Sie ernsthaft: und gar den Stil, die lustige Carikatur, preist man wie etwas Einziges. Ich will Ihnen zeigen, daß ich Sie verstanden habe. 27 [20] Brief 1. Der Wunsch, als Autor naiv und populär, ja ein Genie zu sein. Preis der Form. 2. Archaismen Neologismen. 3. Verwirrung der Bilder. 4. Hegel und die Zeitungen - so wie die Gegner. 5. Ober Lessing. 6. Die großen Musiker. 7. Der Darwinismus und die Ethik. 8. Keine Philosophie. 9. Reduzirt auf die Theologie. Alles sonst zu streichen. 10. Er hat keinen Begriff vom Christenthum. 27 [21] Lichtenberg: "man kann sich selbst bis zum Erstaunen in einer Sache Genüge leisten, und der Erfahrene lacht über unser Werk." "Es giebt in der gelehrten Republik Männer, die ohne das geringste wahre Verdienst ein sehr großes Aufsehen machen. Wenige untersuchen den Werth derselben und die, die ihn kennen, würde man für Lästerer halten, wenn sie ihre Meinung öffentlich sagten. Die Ursache ist, der eigentlich große Mann hat Eigenschaften, die nur der große Mann zu schätzen weiß; der andre solche, welche der Menge gefallen, die hernach die Vernünftigen überstimmt." "Es ist nur allzu gemein, daß kluge Leute beim Bücherschreiben ihren Geist in eine Form zwingen, die von einer gewissen Idee, die sie vom Stil haben, bestimmt wird, ebenso wie sie Gesichter machen, wenn sie sich malen lassen." Strauß sucht bald das Gesicht von Voltaire, bald von Lessing zu machen. 27 [22] Briefe eines Ausländers an den deutschen Schriftsteller David Strauss. 27 [23] Es ist ein schmerzlicher Gedanke, daß Jemand alt und doch nicht weise werden kann. Bei Strauß frage ich mich immer: wie hat er nur bis dahin leben können?
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Die Menge ist unphilosophisch und Strauß gehört zur Menge. Sein "Aristokratismus der Natur" ist ganz inconsequent und angeschwindelt: er ist eben berühmt geworden. 27 [24] Ein seelenloses Wörtermosaik mit europäischer Syntax schreibt bald das Deutsche. Wir verlieren die Sprache immer mehr und wir sollten wissen, was wir an ihr haben - das Deutsche! Wir bekommen ein deutsches Reich, zu der Zeit als wir bald aufgehört haben Deutsche zu sein. Der abstrakte europäische Mensch, der alles nachmacht und schlecht Was sind doch deutsche Sitten - meistens schlechte und festgewordene Nachahmungen, die als solche vergessen wurden. Dann scheint auch das strenge Denken verloren zu gehn, denn die "Klassiker" sind lüderliche Gesellen. Ich habe nicht mehr den Muth eine einzige Eigenschaft als deutsch zu reklamiren. Der Krieg hat entschieden verschlimmert. Es ist fast verboten, von den schlimmen Wirkungen des Kriegs zu reden: ich thue es und sage: die schlimmste Wirkung ist daß durch den Sieg der Schein entsteht, als ob die deutsche Kultur gesiegt habe und als ob sie deshalb preiswürdig sei. 27 [25] Sie sagen uns, daß Sie alt sind. Nun sagt Lichtenberg: "ich glaube, daß man selbst bei abnehmendem Gedächtniß und sinkender Geisteskraft noch immer gut schreiben kann, wenn man nur nicht soviel auf den Augenblick ankommen läßt, sondern bei seinen Lektüren oder seinen Meditationen, immer wieder schreibt, zu künftigem Gebrauche. So sind gewiß alle großen Schriftsteller verfahren." - Nein, Sie sind kein alter Mann, denn Sie lassen es auf den Augenblick ankommen! "Das Populärmachen sollte immer so getrieben werden, daß man die Menschen damit heraufzöge. Wenn man sich herabläßt, so sollte man immer daran denken, auch die Menschen, zu denen man sich herabgelassen hat, ein wenig zu heben." "Die simple Schreibart ist schon deshalb zu empfehlen, weil kein rechtschaffner Mann an seinen Ausdrücken künstelt und klügelt." "Ich mag immer den Mann mehr lieben, der so schreibt, wie es Mode werden kann, als den, der so schreibt, wie es Mode ist." "Es kommt so außerordentlich viel darauf an, wie etwas gesagt wird, daß ich glaube, die gemeinsten Dinge lassen sich so sagen, daß ein Andrer glauben müßte, der Teufel hätte es einem eingegeben." 27 [26] David Strauss als Schriftsteller und Sprachkünstler. 27 [27] Schopenhauer: "daher müssen solche Sprachverbesserer, ohne Unterschied der Person, gezüchtigt werden, wie die Schuljungen. Jeder Wohlgesinnte und Einsichtige ergreife also mit mir Partei für die deutsche Sprache gegen die deutsche Dummheit."
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27 [28] Es sind rohe Empiriker: unsre Schulen sind gänzlich unzureichend. Der Nothstand ist auf der Spitze. Polizeiliches Verbieten eines Zeitungsblattes, das den geringsten sprachlichen Fehler hat. 27 [29] Die Wirkungen Hegels und Heine's. Letzterer zerstört das Gefühl für einheitliche Farbe des Stils und liebt die Hans Wurst Jacke, mit dem buntesten Farbenwechsel. Seine Einfälle, seine Bilder, seine Beobachtungen, seine Worte passen nicht zu einander, er beherrscht als Virtuose aber alle Stilarten, um sie nun durcheinander zu werfen. Bei Hegel das nichtswürdigste Grau, bei Heine das Schimmern der elektrischen Farbenspiele, die die Augen fürchterlich angreifen, wie auch jenes Grau. Denkt euch nur alles mimisch, bei Hegel und Heine. Jener ein factor, dieser ein farceur. 27 [30] Die furchtbare Dilapidation der Hegelei! Auch wer sich zu retten verstand, wie Strauß, ist nie wieder völlig zu kuriren. Zwei Unglücksfälle hat Strauß erfahren: einmal erfaßte ihn die Hegelei und machte ihn wirblicht, in einer Zeit, wo ein ernster Philosoph ihm hätte Richtung geben müssen. Sodann kam er, durch die Gegner, in den Wahn, seine Sache sei eine populäre und er selbst ein populärer Autor. In Folge dessen hat er nie aufhören können, Theolog zu sein, und nie wieder anfangen dürfen, wieder strenger Jünger seiner Wissenschaft zu sein. Nun hat er sich bemüht, Hegel und das Theologische möglichst zu beseitigen: umsonst. Der erste zeigt sich in der platt optimistischen Weltbetrachtung mit dem preußischen Staate als Zielpunkt der Weltgeschichte, das zweite in den gereizten Invektiven gegen das Christenthum. Er hat keinen Halt und wirft sich dem Staate und dem Erfolg an's Herz; sein ganzes Denken ist nicht sub specie aeternitatis, sondern decennii vel biennii. So wird er zu einem "Klassiker des Pöbels", wie Büchner usw. 27 [31] Unusquisque mavult credere quam judicare. Seneca. 27 [32] Wer weiß, wie die Alten sich mühten und die Neueren sich nicht abmühen, macht sich bald zum Grundsatz, dies Gesindel gar nicht mehr zu lesen. Erstens muß man etwas zu sagen haben, von dem man glauben darf, daß man es besser als irgend ein andrer Mensch sagen kann. Somit muß es in allen Theilen durchdacht, als zusammenhängend befunden sein. Die erste Niederschrift hat weiter keinen Werth als den allgemeinen Gang und die Dimensionen zu finden, das totum ponere: allerdings die Hauptsache für den Inhalt: meistens auch werden die richtigen Farben gefunden. Nun ist das Ganze noch voll von zahllosen 402
Fehlern, hier und da ist ein vorläufiger Bretterverschlag und "Fehlboden", überall liegt Staub, die Zeichen der Arbeit, der Noth sind sichtbar. Die ganze jetzt noch nöthige Arbeit, fehlt bei Strauß: selbst angenommen, das totum ponere sei gelungen. Das totum ponere ist insofern gelungen, als das ganze Buch wenigstens eine Art Mensch abmalt, so, daß auch die großen Inconsequenzen und Halbheiten in's Bild gehören. Es soll ja einen Glauben darstellen, nicht eine Philosophie, und hat sich deshalb seiner Gedankenlosigkeiten nicht zu schämen, da es auf das Ethos vor allem ankommt. Dieses Ethos zeigt Muth, soweit es dem Philister wohlthut, also in Religionssachen, in naturwissenschaftlichen Behauptungen usw. Sonst, nämlich in der Lehre vom Leben, gilt umgekehrt alles Vorhandene so ziemlich als vernünftig: ein paar fromme Wünsche, Abschaffung des allgemeinen Stimmrechts, Beibehaltung der Todesstrafe, Beschränkung des Rechts zu striken und Einführung von Nathan und Hermann und Dorothea in die Volksschule - das ist alles, im Übrigen "leben wir, so wandeln wir beglückt!" 27 [33] Er hat das Leichtschürzen mißverstanden an großen Autoren: diese wollten ein zierliches Gartenhaus, dagegen spricht der plumpe Entwurf von St es fehlt gerade die Leichtigkeit und Anmuth. Das Oberflächliche Unausgebaute ist noch lange nicht das Zierliche. 27 [34] Die Gesetzmäßigkeit in der Natur und die Vernünftigkeit werden von Strauß zum Düpiren benutzt. Er braucht in der That eine volle Kosmodicee. "Gottgewollt" d. h. "naturgemäß"! Sie koketter Greis! Gaukelnder Magister! 27 [35] Lessing hat die gewaltige, unruhige, ewig spielende, in schwellenden Muskeln überall sichtbare Kraft eines jugendlichen Tigers. Der neue Glaube kann keine Berge versetzen, wohl aber Worte. (Zum Stil.) 27 [36] Sie werden zugeben, daß ich mich nicht an die "höheren Galerien" wende, wenn ich gegen Sie kämpfe. 27 [37] Man redet von den geologischen und darwin Vorgängen: da denkt man sich das Subjekt als ewig. Es ist auch völlig unmöglich es wegzudenken. Unwillkürlich nimmt alle Naturwissenschaft die Einheit des Subjekts, seine Ewigkeit und Unveränderlichkeit an. Unser Gehirn, unser Auge ist bereits ein extra nos oder praeter nos: es ist nicht die Welt eine Gehirnqualität, sondern das Gehirn selbst ist ein Theil dieser Empfindungen und Vorstellungen. Nicht das Gehirn denkt, sondern wir denken das Gehirn: das selbst an sich 403
durchaus keine Realität hat. Empfindung ist die einzige kardinale Thatsache, die wir kennen, die einzige wahre Qualität. Alle Naturgesetze sind auf Bewegungsgesetze zurückzuführen: durchaus ohne Stoff. Wenn man am Ende damit ist, wird man nur die Empfindungsgesetze festgestellt haben. Für das "an sich" ist dann gar nichts gewonnen. Die Idealität der Welt ist keine Hypothese, sondern die handgreiflichste einzige Thatsache. Es ist unsinnig zu glauben, daß je Empfindung erklärt werden könne aus Bewegung, oder aus etwas anderem. Man kann nicht Empfindung aus etwas anderem erklären, da man gar nichts Anderes hat. 27 [38] Wo Heine und Hegel zugleich gewirkt haben, wie z. B. bei Auerbach (wenn auch nicht direkt), und dazu eine natürliche Fremdheit in der deutschen Sprache aus nationalen Gründen kommt, entsteht ein Jargon, der in jedem Worte, jeder Wendung verwerflich ist. 27 [39] ' Strauß sagt: "es wäre auch Undank gegen meinen Genius, wollte ich mich nicht freuen, daß mir neben der Gabe der schonungslos zersetzenden Kritik zugleich die harmlose Freude am künstlerischen Gestalten verliehen ward." "Man erwies mir von verschiedenen Seiten sogar die ungesuchte Ehre, mich als eine Art von klassischem Prosaschreiber gelten zu lassen." Freilich, Sie haben es nicht gesucht, sondern alles unterlassen, es zu werden. "Unsre Zeit, der das Formlose als erhaben gilt" ironisch auf Strauß anzuwenden. Merck: "solchen Quark mußt du nicht mehr machen, das können die Andern auch." Nachwort, p. 10. Einer meiner Freunde hat eine Blüthenlese von stilistischen Classicitäten des Voltaire. 27 [40] An Stelle des "Reich Gottes" scheint "das Reich" getreten. 27 [41] Die absichtliche Oberflächlichkeit - er kann alles besser. Riehlsche Hausmusik. Es ist durchaus nöthig, daß wir kräftig auffordernde Redner hören - an Stelle der schlechten Prediger. Ungeheure Aufgabe der Kunst! Die Vernunft des Universums als Religion festzuhalten, ist sehr unvernünftig und jedenfalls ungefähr so toll, wie zu behaupten, daß eins gleich drei sei - ein Glaube. Was Strauß gegen die Antinomie der Unendlichkeit sagt, ist furchtbar dumm. Er hat gar nicht begriffen, worum es sich handelt. 27 [42]
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Strauß, p. 10: "Man denkt sich Manches halbträumerisch im Innern zusammen, was, wenn man es einmal in der festen Gestalt von Worten und Sätzen aus sich herausstellen will, nicht zusammengeht." 27 [43] Das religiöse Reagiren: "er sticht sich". 27 [44] Strauß, p. 11. "Für's Andere aber wollen wir erfahren, ob uns diese moderne Weltansicht auch den gleichen Dienst leistet, und ob sie uns denselben besser oder schlechter leistet als den altgläubigen die christliche, ob sie mehr oder weniger geeignet ist, das Gebäude eines wahrhaft menschlichen d. h. sittlichen und dadurch glücklichen Lebens darauf zu gründen." Antwort steht p. 366: "Wer hier sich nicht selbst zu helfen weiß, dem ist überhaupt nicht zu helfen, der ist für unsern Standpunkt noch nicht reif." Es soll ein Katechismus der modernen Ideen sein; "er will nach der Richtung hinzeigen, wo seiner Überzeugung nach ein festerer Boden zu finden ist" - "nämlich die moderne Weltanschauung, das mühsam errungene Ergebniß fortgesetzter Natur- und Geschichtsforschung." Nachher stellt er den alten Glauben der neueren Wissenschaft gegenüber. Kunst und Philosophie ist vergessen. 27 [45] "Rolle" p. 35 zweimal, p. 143. "Man geht nicht mit steifem Tritte auf unbekannten und von tausend Abgründen unterbrochnen Wegen." Aber muß man denn affektiren zu tänzeln? 27 [46] Der Philister, der sich als Genie fühlt oder gebärdet. 27 [47] Der Muth und die Consequenz. Heine Hegel Stilgefühl. totum ponere und die Ausarbeitung. Philosophie-Mangel. Kunst. Christenthum. Er benutzt das aristokratische Genie wie Bismarck die Socialdemokie benutzt: Strauß aber gegen die Socialdemokraten zu Gunsten der Bourgeoisie, höchst ungern.
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Er läuft wie eine Rauchsäule vor seinen "Wir" einher. 27 [48] "Krötenagilität der Gedanken." 27 [49] Der Philister, der sich als Genie gebärden möchte. Moralisch. Muth und Consequenz wie weit? Intellectuell. Voltairisch leicht geschürzt. Enthält sich der Philosophie. Lobt (Kant), empfiehlt, tadelt als Genie. In der Kunst klassisch. Litterarisch. Emancipirt sich von Heine Hegel, aber wie! Will ein Evangelium der neuen Ideen machen. Genialität der Anlage des Buches! Die Durchführung. Flecken. Wirkung auf die Jugend. 27 [50] Schopenhauer würde von Strauß sagen: ein Autor der nicht durchblättert, geschweige studirt zu werden lohnt: außer für den, der den Grad des jetzigen Stumpfsinns ermessen will. 27 [51] Empedokles sagte den Agrigentinern nach: sie hingen den Lüsten an, als ob sie den anderen Tag sterben sollten, und sie bauten so, als ob sie niemals sterben würden. Strauß baut so, als ob sein Buch morgen sterben müßte, und benimmt sich so, als ob es gar niemals sterben sollte. 27 [52] Entstehung des Philisters der Bildung. An sich die Bildung immer in sehr exclusiven Kreisen. Der eig<entliche> Philister hielt sich davon fern. Der Gelehrte machte einen Übergang, er glaubte an das klassische Alterthum, die Künstler galten ihm als bedenkliche Gesellen. Hegel hat sehr viel Aesthetik auf Universitäten in Umlauf gebracht. Das Publikum des Almanachs ist das Stammpublikum, Abendzeitung. In den 50ger Jahren die Realisten, Julian Schmidt. Allmählich entsteht das Publikum der populären Vorträge, als eine Macht, es hat Sympathien, Voraussetzungen usw. Der Philister hat kein Gefühl von den Mängeln der Kultur und von 406
dem Experimentiren bei Schiller und Goethe. Er geht von einem starken Chauvinismus aus. Das übereilige Aburtheilen Hegel's und seiner Schüler hat die Meinung hervorgebracht, wir seien auf der Höhe. 27 [53] 1. Ob die deutsche Cultur gesiegt hat? 2. Der Bildungsphilister und die Cultur. 3. Glaubensbekenntniss eines solchen Philisters. 4. Wie er lebt. 5. Sein Muth im Lob und Tadel, und im Optimismus. 6. Grenze seines Muthes. 7. Eine Gelehrtenreligion. 8. Politisch zeitgemäss, sub specie biennii. 9. Stil der Gegenwart. 10. Das totum ponere bei Strauss. 11. Der Stil im Einzelnen. 12. Schluss. 27 [54] Daß unsere Universitäten nichts für Kunst zu bedeuten haben, ist stark zu erwähnen. Strauß als eine durchaus unaesthetische Natur. 27 [55] Aus dem wilden Gebräu von Philosophie, Romantik und Experimentiren aller Art entstand zuletzt eine ungeheure Sicherheit im Vernichten und Verurtheilen, durch die fortwährende Übung - und dadurch wieder ein Zutrauen auf Seiten der Nichtproduzirenden zu ihrer eignen Kultur als einem Maßstabe. Worin bestand denn das Positive? In einem gewissen Behagen, das jenem praktischen Experimentiren entgegengesetzt war; Behagen am eignen Leben. Dazu fanden sich auch noch Talente, die dies verherrlichten, die idyllische Heimlichkeit des Deutschen, des Gelehrten usw. Diese Behaglichen suchten jetzt die Klassiker sich zuzulegen, und alles noch lebendig Produzirende hochmüthig abzuweisen; sie setzten sich in Ruhe und erfanden das Epigonenzeitalter. Otto Jahn und Mozart. Die neunte Symphonie und Strauß. Gervinus und Shakespeare. Historisch sollte alles Große begriffen werden. Alle lebendige Kraft zeigte sich auf dem historischen Gebiete, im Ablehnen und Zerstören. gegenwärtiger entarteter Triebe, z. B. der Orthodoxie. Religiöser Liberalismus war überall die Voraussetzung. Die historische Richtung machte allen Fanatismus unmöglich.
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1) Sie verlangt keine Änderung, der Erziehung usw. 2) Sie giebt dem Gelehrten die Superiorität in Geschmackssachen. 27 [56] Der Philister ist ja gerade der αµονσοζ: es ist merkwürdig zu sehen, wie er trotzdem dazu kommt, in aesthetischen und Kulturfragen mitreden zu wollen. Ich glaube, daß der Schulmann hier den Übergang gemacht hat: er, der von Berufswegen mit dem klassischen Alterthum sich abgab und allmählich meinte deshalb auch einen klassischen Geschmack haben zu müssen. 27 [57] David Strauss, der Bekenner und der Schriftsteller. Unzeitgemässe Betrachtungen eines Ausländers. 27 [58] Wenn Streitschriften immer nur von ihren Parteien bewundert werden, so hat diese Schrift nicht die geringste Hoffnung bewundert zu werden; und David Strauß selbst wird ihr am letzten vorzuwerfen haben, daß er etwa hier "unter lautem Jubel der höheren Stände" und durch diesen Jubel widerlegt werden sollte. Vielmehr dürfte ein solcher Angriff, wie der hier versuchte, Strauß nützen und dem Angreifenden nur deshalb nicht schaden, weil er sich nicht genannt hat. Nach dieser Vorbereitung mag der Kampf beginnen: und als Zeugen wünsche ich mir eben jene, welche dem neuen Bekenntnißbuche des Dr. Strauß zugethan sind und sich freuen, wenn der Angreifende von vorn herein freiwillig eine schlechte Position wählt. Und welche Position könnte schlechter sein als die eines vereinzelten Ausländers, der den allgemeinen deutschen Erfolg jenes Buches den Deutschen zum Vorwurf macht? und als das Merkmahl einer gesunkenen Kultur betrachtet? 27 [59] Anmaßlichkeit eines Bekenntnisses. Wer bekennt? Eine Partei, die Wir. Beschreibung Strauss als Bekenner der "wir". Der Bildungsphilister. über die Philistercultur und Genesis. Strauß typisch. Der Schriftsteller. Als Schriftsteller Will ja nicht als Philister erscheinen. (legt selbst Zeugniss von der 408
Phil ister cult ur ab). 27 [60] Hat die "deutsche Kultur" gesiegt? Nein. Aber sie glaubt es. Wie es mit der Bildung steht, ist zu erkennen 1. aus den Confessionen selbst. a)daraus daß sie eine Confession wagt. b)aus der Art der Bekenntnisse. 2. aus der schriftstellerischen Leistung: direkter. Resultat. Worüber sie gesiegt hat. Nicht über die französische, aber über die deutsche Kultur und den deutschen Genius. 27 [61] Ob die deutsche Kultur gesiegt hat? Der siegreiche Bildungsphilister. Seine Genesis. Macht Bekenntnisse. Sein Leben, Stellung zur Kunst. Philosophie Dreistigkeit. Seine Art Muth. Gelehrtenreligion. Der klassische Schriftsteller. Leicht geschürzt. Stilproben. 27 [62] Ja, wenn es sich nur um einen schlechten Stilisten handelte! Aber alles Volk klatscht Beifall!
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Er redet wie ein Mensch, der täglich die Zeitungen liest. 27 [63] Die Gesundheit. Die Begeisterung für Altdeutsches hat mitgeholfen. Dem trockenen Philister steht einzig zu Nüchternheit und Deutlichkeit; aber Strauß hat von der Simplicität des Genie's gehört' Und daß es Bilder braucht usw. 27 [64] 1872. Erste Auflage der Geburt der Tragödie. 1873. Zweite Auflage der Geburt der Tragödie. Strauß. Zukunft der Bildungsanstalten. Vorplatonische Philosophen. 27 [65] Der Kulturphilister weiß nicht, was Kultur ist - Einheit des Stils. Er findet sich damit ab, daß es Klassiker giebt (Schiller Goethe Lessing) und vergißt, daß sie eine Kultur suchten, aber kein Fundament, auf dem man ruhen könnte, sind. Er versteht deshalb den Ernst noch lebendiger Kultursucher nicht. Er glaubt, daß das Leben, das Geschäft sich trennen müssen von der Kultur-Erholung. Er kennt nicht die Kultur, die fortwährend fordert. Die Autoren der Deutschen sind auf Nachahmung der Natur angewiesen, der bäuerlichen, oder städtischen zumal, also zum Idyll oder der Satyre. Zu den höheren reinen Formen haben sie kein natürliches Verhältniß, weil das entsprechende Wirkliche unkünstlerisch und vorbildlos ist. Es ist die Zeit der unstilisirten Portraitkünste, kurz ikonischer Künste und Geschichtsschreibung. 27 [66] Zur Einleitung. Es ist für uns kein Ereigniß, dieses Straußische Buch, sondern nur sein Erfolg . Kein Gedanke ist darin, der werth wäre, als gut und neu bemerkt zu werden. Wir haben keine Kultur, sondern Civilisation mit einigen Kulturmoden, doch noch mehr Barbarei. Wir haben auch in der Sprache noch keinen Stil, sondern nur Experimente.
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Eine "Kultur" kann nicht über die französische gesiegt haben, denn wir hängen nach wie vor von ihnen ab und in der französischen selbst ist keine Änderung eingetreten. "Der Philister der nicht zugeben will Barbar zu sein" nach dem Ausdrucke Vischers über Hölderlin. Ihr habt keine Kultur, nicht etwa eine schlechte oder entartete, sondern auch die würde noch Einheit des Stils haben. Das deutsche "Gespräch" wie die deutsche "Rede" ist nachgemacht. Unsere "Salon" Geselligkeit, unsre Parlaments-Redner! Wo ist ein Fundament, auf das man eine Kultur gründen könnte! 27 [67] Nach Heraklit: der klügste Philister (Mensch) ist dem Genie (Gott) gegenüber ein Affe. 27 [68] Schwierigkeit ein guter Schriftsteller zu werden. 1) Mangel des guten Redens und der Übung. Verderb des Geschmacks durch die öffentlichen Reden. 2) Mangel an Übung in den Schulen im Schreiben und Strenge der Methode. Trotzdem ist das Lob leicht zu erreichen. Bes unter Gelehrten. Sie sehen nicht nach den produktiven Zügen, sondern urtheilen nach dem Mangel des Anstößigen und einer gewissen schulmäßigen Annahme über Bilder, Lebendigkeit. Lessing scheint gemäß dem theatralischen Lustspieldialog. Herder pastoral, Goethe Lust zu fabuliren, frauenhaft. Der "Mangel des Anstößigen" ist aber in der Zeitungsatmosphäre immer seltener geworden: während das Gefühl für das Anstößige abnimmt. Es ist fast identisch mit Nüchternheit und Trockenheit, die beide schon jenen Mangel zu verbürgen scheinen. So schreiben, wie alle Welt schreibt, d. h. die Zeitungsschreiber, und diese nehmen das erste bequemste Wort. Die Bilder sodann müssen modern sein, denn alle anderen gelten als dagewesen. Das Didaktische macht sich Glauben durch lange Sätze, das Überredende Geistreiche durch kurze Sätze. , Wer schreibt einmal eine positive Sprachlehre des Allerweltsstils? - Der falsche Begriff von Eleganz! Woher? 27 [69] Hölderlin an Deutschland: 411
Noch säumst und schweigst du, sinnest ein freudig Werk, Das von dir zeuge, sinnest ein neu Gebild, Das einzig wie du selber, das aus Liebe geboren und gut, wie du, sey. Wo ist dein Delos, wo dein Olympia, Daß wir uns alle finden am höchsten Fest? Doch wie erräth dein Sohn, was du den Deinen, Unsterbliche, längst bereitest? 27 [70] Falsch p. 106: "man wisse ja längst, daß Gott, allgegenwärtig, eines besonderen Sitzes nicht bedürfe." p. 44: "so bringt Schleiermacher in seiner Art wieder einen Gottmenschen heraus." Das Didaktische durch Häufung von Abstraktionen, das Überredende durch Mischung aller Farben, durch "Blenden". 27 [71] Nächstes Capitel: Himmel im Himmel - Heroenverehrung - Lessing. 27 [72] Wohlgewaschene Lumpen kleiden zwar reinlich, doch jedenfalls lumpenhaft. 27 [73] Verwirrung der Bilder. Verkürzungen, die Unklarheit hervorbringen. Geschmacklosigkeiten und Geschraubtheiten. Fehler. Vorwort, p. 6: "der hat sich gegen die Anfechtung - einen breiten Rückhalt gesichert." p. 12. 27 [74] Feinere Wendungen. 412
27 [75] David Strauss, der Bekenner und der Schriftsteller. Unzeitgemässe Betrachtungen von Friedrich Nietzsche. 27 [76] Das sechste und fünfte Jahrhundert der Griechen. Ethisch - Politisch. Aesthetisch. Philosophie. 27 [77] Alle Naturwissenschaft behandelt die Gesetze der Empfindung. Die Empfindung ist nicht das Wirken der Sinnesorgane, sondern die Sinnesorgane selbst sind uns nur als Empfindungen bekannt. Nicht das Auge sieht, sondern wir sehen, nicht das Gehirn denkt, sondern wir denken. Das Auge wie das Gehirn ist uns absolut nur als Empfindung gegeben, in keiner Weise mehr als alle Dinge extra nos. Unser Leib ist ebenso etwas außer uns, wie alles andre, d. h. er ist ebenso uns als Empfindung bekannt, wie die andern Dinge. 27 [78] Vorwort. Ein Buch, das in Jahresfrist sechs starke Auflagen erlebt, kann deshalb immer noch ohne jeden Werth sein; aber gerade dann ist es für jeden, der keine höhere Sorge als die Sorge um das Volk kennt, wichtig, ja nothwendig zu wissen, dass dafür ein so grosses Publicum wirklich vorhanden ist. Nur der Erfolg des Straussischen Bekenntnissbuches, nicht das Buch selbst, trieb mich zu den nachfolgenden Betrachtungen. Es musste mir allmählich unerträglich werden, unter allem was gegen Strauss eingewendet wurde, nichts zu finden, was allgemein genug gedacht war, um erklären zu können, wie ein so unbedeutendes Buch zu einem so skandalösen Erfolge komme. Wenn Göthe sagt, dass die Gegner einer geistreichen Sache in die Kohlen schlagen, so dass diese herumspringen und zünden, so bin ich in diesem Falle wenigstens sicher, nicht der Gegner einer geistreichen Sache zu sein. 27 [79] Neu.
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Zweites Stück: Historie. Plato und Vorgänger. Drei Abhandlungen. 2. A Erstes Stück: Strauss. Geburt der Tragödie. 27 [80] Zum Schlusskapitel. Die Zeit kann keine gefährlichere Wendung machen, als wenn sie aus der Ironie über sich zum Cynismus übergeht. 27 [81] Geschichte - schwächt das Handeln und macht blind gegen das Vorbildliche, durch masse verwirrend. Vergeudete Energie, an das völlig Vergangne gewendet. Die historische Krankheit als Feindin der Cultur. Übertreiben ist Zeichen des Barbarischen. Wir übertreiben den Wissenstrieb. Nur der Alte lebt in lauter Erinnerungen. Nicht Respect vor der Geschichte, sondern ihr sollt den Muth haben, Geschichte zu machen! [Dokument: Mappe mit losen Blättern] [Frühjahr - Herbst 1873] 28 [1] Der wissenschaftliche Mensch ist ein rechtes Paradoxum: rings umstarren ihn die schrecklichsten Probleme, an Abgründen wandelt er und er pflückt eine Blume um ihre Staubfäden zu zählen. Es ist nicht Stumpfheit des Erkennens: denn er glüht in seinem Triebe zum Erkennen und Entdecken und kennt keine größere Lust als den Schatz des Wissens zu mehren. Aber er benimmt sich wie der stolzeste Müssiggänger des Glücks: als ob das Dasein nicht eine heillose und bedenkliche Sache sei, sondern ein fester, für ewige Dauer garantirter Besitz. In der jetzigen Zeit ist er dazu in eine Hast gerathen als ob die Wissenschaft eine Fabrik sei und jede Art von Minuten-Versäumniß einer Strafe werth sei. Er arbeitet, er beschäftigt sich nicht mehr, er sieht weder rechts noch links und macht alle Geschäfte und Bedenklichkeiten 414
des Lebens durch mit der halben Aufmerksamkeit oder dem widrigen Erholungsbedürfniß, das dem erschöpften Arbeiter zu eigen ist. Er benimmt sich als ob das Leben für ihn nur otium sei, aber sine dignitate: wie ein Sklave, der auch im Traume sein Joch nicht abwirft. Vielleicht findet man für die große Masse der Gelehrten die richtige Würdigung, wenn man sie zunächst als Ackerbauern betrachtet: mit ererbtem kleinem Besitz, emsig vom Tag bis in die Nacht hinein bemüht, den Acker zu bauen, den Pflug zu ziehn und den Ochsen zuzurufen. Pascal meint, die Menschen trieben so angelegentlich ihre Geschäfte, ihre Wissenschaften, um damit den Fragen zu entfliehn, die jede Einsamkeit ihnen aufdringt, dem Woher? und Wie? und Wohin? Aber viel wunderlicher ist es, daß ihnen die nächsten Fragen nicht einfallen: wozu diese Arbeit, wozu diese Hast, wozu dieser Taumel? Vielleicht zum Broderwerb? Nein. Aber nach der Art der Broderwerbenden. Alle Wissenschaften sind unnützes Zeug, sobald der Mensch mit ihnen wie mit den Arbeitsaufgaben der Noth und der Bedürftigkeit verfährt. Die Kultur ist möglich, ohne diese eure Wissenschaft; wie die Griechen beweisen. Eine bloße Neugierde ist so stolzer Namen nicht würdig. Wenn ihr nicht versteht, zu eurem wissenschaftlichen Leben die entsprechende Gegendosis von derber Erfahrung, Philosophie und Kunst zu mischen, so werdet ihr der Kultur ebenso unwürdig als ihrer unfähig sein. Eine spätere Generation wird erstarren über die Uniformität eures eigentlichen Lebens und Denkens: wie dürftig und arm die eigentliche Welterfahrung, wie büchermäßig euer Urtheilen ist. Manche Disciplinen erlauben es, heerdenweise überfallen zu werden. andre nicht: und gerade letzteren geht ihr aus dem Wege. Denkt nur an eure Gesellschaften, seht wie die Ermüdung, die Zerstreuungslust und die litterarische Reminiszenz sie zusammensetzen. Die Wissenschaft selbst ist in der Periode des Niedergangs, trotz der Methoden und des Handwerkszeugs: und eure großen Universitäten mit dem imponirenden Apparat von Laboratorien Spektatorien und Spektatores und Laboureurs erinnern an die Zeughäuser mit den ungeheuren Geschützen und Kriegswerkzeugen: man erschrickt über die Zurüstungen, aber im Kriege kann niemand solche Maschinen brauchen. So ist es mit den großen Universitäten: sie stehen ganz abseits von der Kultur, dagegen allen bedenklichen Strömungen der gegenwärtigen Unkultur offen. Ein Professor ist ein Wesen, auf dessen Unbildung und Geschmacksroheit man so lange schließen darf, bis er nicht das Gegentheil beweist. Denke ich an die Vulgarität eurer politischen oder theologischen, oder gar Protestantenvereins-Ansichten, oder an eure Sprachstudien, um die klassischen Vorbilder abzuschwächen, eure indischen Studien, ohne nur einen Zusammenhang mit der indischen Philosophie zu haben, denke ich an das Aufsehn, das unter euch so schlechte Bücher wie David Strauß gemacht haben und andere Bücher nicht gemacht haben, denke ich daran, wie eure Professoren Aesthetik treiben, wie eure Universitäten in der Kunst auf der Höhe der Männergesangvereine stehen, wie stumpfsinnig ihr allen produktiven Kräften fern bleibt, so weiß ich soviel, daß ihr keine Schonung mehr verdient, ihr seid die Arbeiter an der Fabrik aber für die Kultur kommt ihr nur als Hemmnisse in Betracht. 28 [2] I. Einleitung. Was vermag ein Philosoph in Betreff der Cultur seines Volks? - Er scheint a) gleichgültiger Einsiedler b) Lehrer von den hundert geistreichsten und abstraktesten Köpfen c) oder feindseliger Zerstörer der Volkskultur. - Was b) betrifft, so ist die Wirkung nur mittelbar, aber sie ist da, wie bei c). 415
- Was a) betrifft, so kommt es wohl vor, durch die Unzweckmäßigkeit der Natur, daß er Einsiedler bleibt. Sein Werk bleibt doch für spätere Zeiten. Doch fragt sich eben, ob er für seine Zeit nothwendig war. • • • •
Hat er ein nothwendiges Verhältniß zum Volke, giebt es eine Teleologie des Philosophen? Bei der Beantwortung muß man wissen, was man seine "Zeit" nennt: das kann eine kleine oder eine sehr große Zeit sein. Hauptsatz: er kann keine Kultur schaffen, aber sie vorbereiten, Hemmungen beseitigen, immer oder sie mäßigen und dadurch erhalten, nur verneinend. oder sie zerstören. Nie hat ein Philosoph in seinen positivis das Volk hinter sich drein gezogen. Denn er lebt im Kultus des Intellekts. Zu allen positivis einer Kultur, einer Religion ist er auflösend, zerstörend (selbst wenn er zu begründen sucht). Er ist am nützlichsten, wenn es viel zu zerstören giebt, in Zeiten des Chaotischen oder der Entartung. Jede blühende Kultur hat das Bestreben, den Philosophen unnöthig zu machen (oder ihn völlig zu isoliren). Die Isolation oder Verkümmerung kann doppelt zu erklären sein: aus der Unzweckmäßigkeit der Natur (dann wenn er nöthig ist) aus der zweckmäßigen Vorsicht der Natur (dann wenn er unnöthig ist). II. Seine zerstörenden und beschneidenden Wirkungen - worauf?
III. Jetzt - da es keine Kultur giebt, hat er vorzubereiten (zerstören) - was? IV. Die Angriffe auf die Philosophie. V. Die Philosophen verkümmert. Beides Folge der Unzweckmässigkeit der Natur, die zahllose Keime ruinirt: aber ihr gelingen doch ein paar Grosse: Kant und Schopenhauer. VI. Kant und Schopenhauer. Der Schritt zu freierer Cultur vom Einen zum Andern. Teleologie Schopenhauer's in Hinsicht auf eine kommende Cultur. Seine doppelte positive Philosophie (es fehlt der lebendige Centralkeim) - ein Conflikt nur für den Nichtmehr-Hoffenden. Wie die kommende Cultur diesen Conflikt überwinden wird. Olympier. Mysterien. Alltag-Feste. 416
28 [3] 6: 100 17 6 40 9 grüne Seiten jedes Capitel. 28 [4] Alles Allgemein-Wichtige einer Wissenschaft ist zufällig geworden oder fehlt ganz. Das Sprachstudium, ohne die Stillehre und die Rhetorik. Die indischen Studien, ohne die Philosophie. Das klassische Alterthum, ohne Zusammenhang mit den praktischen Bestrebungen, von ihm zu lernen. Die Naturwissenschaft, ohne jene Heilung und Ruhe, die Goethe fand. Die Geschichte, ohne den Enthusiasmus. Kurz alle Wissenschaften, ohne die praktische Wendung: also anders getrieben, als sie die wahren Kulturmenschen getrieben haben. Die Wissenschaft als Broderwerb! 28 [5] Die Philosophie treibt ihr mit Jünglingen, ohne Erfahrung: eure Alten wenden sich zur Geschichte. Eine Popularphilosophie habt ihr gar nicht, dagegen schmählich uniforme populäre Vorlesungen. Preisaufgaben, von Universitäten an Studenten gestellt, über Schopenhauer! Populäre Vorträge über Schopenhauer! Es fehlt an aller Würde. Wie die Wissenschaft zu dem werden konnte, was sie jetzt ist, ist nur aus der Entwicklung der Religion deutlich zu machen. 28 [6] Zu Schopenhauer. Lächerlich ihn sich an einer jetzigen Universität zu denken! Seine eudämonologische Lehre ist wie die des Horaz für erfahrene Männer, seine andre pessimistische ist gar nichts für die jetzigen Menschen: diese werden höchstens ihre Unzufriedenheiten hineinstecken und diese wieder herausziehend glauben, Schopenhauer widerlegt zu haben. Die ganze "Kultur" nimmt sich so unsäglich kindisch aus, ebenso der Jubel nach dem Kriege. Er ist einfach und ehrlich: er sucht keine Phrasen. Welche Kraft haben alle seine Conceptionen, der Wille, die Verneinung, die Darstellung vom Genius der Gattung. Er hat in der Darstellung keine Unruhe, sondern die helle Tiefe des Sees bei Unbewegtheit oder leichtestem Wellenschlage. Er ist grob wie Luther. Er ist das strengste Ideal des Schriftstellers, das die Deutschen haben, keiner hat es so streng genommen. Wie würdevoll er ist, kann man an seinem Nachahmer Hartmann sehen. Unendliche Größe, wieder den Grund des Daseins erfaßt zu haben, kein gelehrtenhaftes Abziehn, kein Verweilen in der Scholastik. Das Studium der Anderen ist interessant, weil sie sofort auf die Stelle gerathen, 417
wo das gelehrtenhafte Erkennen erlaubt ist, aber nichts weiter. Er zertrümmert die Verweltlichung, und ebenso die barbarisirende Kraft der Wissenschaften. Er erweckt das ungeheuerste Bedürfniß: wie Sokrates ein solcher Erwecker des Bedürfnisses war. Dieser aber rief die Wissenschaft: jener die Religion und die Kunst. Was die Religion war, war vergessen worden, ebenso die Stellung der Kunst zum Leben. Erst durch den Pessimismus sind beide wieder begriffen worden. Wie tief aber die neue Religion sein muß, ergiebt sich 1) daraus, daß das Unsterblichkeitsmotiv, mit der Todesfurcht, wegfällt 2) die ganze Scheidung von Seele und Körper 3) die Einsicht, nicht durch Correkturen palliativischer Art über das Elend des Daseins wegzukommen: viel radikaler 4) das Verhältniß zu einem Gott ist vorbei 5) das Mitleid (nicht die Liebe zum Ich, sondern die Einheit alles Lebenden und Leidenden). Gegenbild der Kultur, wenn die Religion nicht mehr möglich sein sollte. Tragische Resignation. Schopenhauer steht zu allem in Widerspruch, was jetzt als "Kultur" gilt: Plato zu allem, was damals Kultur war. Schopenhauer ist vorausgeschleudert: wir ahnen jetzt bereits seine Mission. Er ist Vernichter kulturfeindlicher Kräfte, er öffnet wieder die tiefen Gründe des Daseins. Durch ihn wird die Heiterkeit der Kunst wieder möglich. [Dokument: Heft] [ Sommer - Herbst 1873] 29 [1] Die Wahrheit zu sagen ohne eudämonologischen Zweck rein aus Pflicht. Dabei wird häufig die eigenthümliche Lust vergessen, die das Aussprechen der W mit sich bringt. Der reinste Fall der, in dem die Wahrheit eine viel größere Unlust mit sich führt, selbst den Untergang - und trotzdem wird die Wahrheit gesagt. Ein Staatsmann hat die Existenz eines Staates durch ein Wort in der Hand: er sagt die Wahrheit und zerstört den Staat. Rede Kant's an die Pflicht. Ein großer Mensch ist mehr werth als ein Reich, weil er heilsamer für alle Nachwelt ist. Sinn der großen That - große Thaten zu erzeugen. 29 [2] Analyse des gewöhnlichen Wahrheitssinnes bei Gelehrten. Lüge aus Nothwehr, Nothlüge enthält einen eudämonologischen Charakter: sie sucht das Individuum zu retten. 29 [3] Begriff der Unmöglichkeit in allen Tugenden, in denen der Mensch groß ist. 29 [4] 1. Wahrheit als Pflicht - verderbliche Wahrheit. Analyse des Wahrheitstriebes - Pathos. 2. Das Unmögliche in den Tugenden. 3. Der Mensch ist nicht aus diesen höchsten Trieben herausgewachsen, sein ganzes Wesen zeigt eine laxere Moral, er springt über sein Wesen mit der reinsten Moral hinaus.
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4. Lüge in der menschlichen Natur - Traum z. B. Selbstbewußtsein (Verschleierung der Wahrheit). 5. Sprache Empfindung Begriffe. 6. Materie. 7. Kunst. Noth-Lüge und Frei-Lüge. Letztere doch wieder auf eine Noth zurückzuführen. Alle Lügen sind Nothlügen. Die Lust an der Lüge ist künstlerisch. Sonst hat nur die Wahrheit eine Lust an sich. Die künstlerische Lust die größte, weil sie die Wahrheit ganz allgemein spricht in der Form der Lüge. Begriff der Persönlichkeit, ja der der moralischen Freiheit nothwendige Illusionen, so daß selbst unsere Wahrheitstriebe auf dem Fundament der Lüge ruhn. Die Wahrheit im System des Pessimismus. Das Denken ist etwas, was besser nicht wäre. 29 [5] Ika! Ika! Bäh-Bäh29 [6] Benjamin Constant: "der sittliche Grundsatz: es sei eine Pflicht, die Wahrheit zu sagen, würde, wenn man ihn unbedingt und vereinzelt nähme, jede Gesellschaft zur Unmöglichkeit machen." Der Ungar und der Hegelsche Professor in Berlin. Rameau's Neffe. Man schlingt die Lüge, die uns schmeichelt, in vollen Zügen hinab, und kostet Tropfen für Tropfen die Wahrheit, die uns bitter ist." 29 [7] "Wahrheit." 1. Wahrheit als unbedingte Pflicht feindselig weltvernichtend. 2. Analyse des gemeinen Wahrheitssinnes (Inconsequenz). 3. Das Pathos der Wahrheit. 4. Das Unmögliche als Correctiv des Menschen. 5. Das Fundament des Menschen lügnerisch, weil optimistisch. 6. Die Körperwelt. 7. Individuen.
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8. Formen. 9. Die Kunst. Feindschaft gegen sie. 10. Ohne Unwahrheit weder Gesellschaft noch Kultur. Der tragische Conflikt. Alles Gute und Schöne hängt an der Täuschung: Wahrheit tödtet - ja tödtet sich selbst (insofern sie erkennt, daß ihr Fundament der Irrthum ist). 29 [8] 1. Was entspricht der Askese in Betreff der Wahrheit? - Wahrhaftigkeit, als Fundament aller Verträge und Voraussetzung des Bestehens des Menschengeschlechts, ist eine eudämonistische Forderung: dagegen tritt die Erkenntniß, daß die höchste Wohlfahrt der Menschen vielmehr in Illusionen liegt: daß also, nach dem eudämonistischen Grundsatze, Wahrheit und Lüge angewendet werden müßten - wie es auch geschieht. Begriff der verbotenen Wahrheit d. h. einer solchen, die gerade die eudämonistische Lüge verhüllt und maskirt. Gegensatz: die verbotene Lüge, dort eintretend, wo die erlaubte Wahrheit ihr Bereich hat. 2. Symbol der verbotenen Wahrheit: fiat veritas, pereat mundus. Symbol der verbotenen Lüge: fiat mendacium! pereat mundus. Das Erste, was durch die verbotenen Wahrheiten zu Grunde geht, ist das Individuum, das sie ausspricht. Das Letzte, was durch die verbotene Lüge zu Grunde geht, ist das Individuum. Jenes opfert sich selbst sammt der Welt, dieses opfert die Welt sich und seiner Existenz. Casuistik: ist es erlaubt, der Wahrheit die Menschheit zu opfern? - 1) Es ist nicht wohl möglich! Wollte Gott, die Menschheit könnte an der Wahrheit sterben. 2) Wenn es möglich wäre, so wäre es ein guter Tod und eine Befreiung vom Leben. 3) Niemand kann ohne einigen Wahn so fest glauben die Wahrheit zu haben: die Skepsis wird nicht ausbleiben. Die Frage: ist es erlaubt, einem Wahne die Menschheit zu opfern, müßte verneint werden. Aber praktisch geschieht <es>, weil Wahn eben Glauben an die Wahrheit ist. 3. Der Glaube an die Wahrheit - oder der Wahn. Ausscheidung aller eudämonistischen Bestandtheile (1. als mein eigner Glaube, 2. als gefunden von mir, 3. als Quelle guter Meinungen bei andern, des Ruhms, des Geliebtwerdens, 4. als herrisches WiderstandsLustgefühl). Ist, nach Abzug aller dieser Bestandtheile, das Aussprechen der Wahrheit rein als Pflicht noch möglich? Analyse des Glaubens an die Wahrheit: denn alles Wahrheit-haben ist im Grunde nur ein Glaube die Wahrheit zu haben. Das Pathos, das Pflichtgefühl geht von diesem Glauben aus, nicht von der angeblichen Wahrheit. Der Glaube setzt eine unbedingte Erkenntnißkraft voraus, bei dem Individuum, sodann die Überzeugung, daß nie ein erkennendes Wesen hierin weiterkommen werde: also die Verbindlichkeit für alle Weiten erkennender Wesen. Die Relation hebt das Pathos des Glaubens auf, etwa die Begrenzung auf das Menschliche, mit der skeptischen Annahme, daß wir vielleicht alle irren. Wie ist aber Skepsis möglich? Sie erscheint als der eigentlich asketische Standpunkt des Denkers. Denn sie glaubt nicht an den Glauben und zerstört damit alles Segensreiche des Glaubens. 420
Selbst die Skepsis enthält aber in sich einen Glauben: den Glauben an die Logik. Das äußerste ist also Preisgeben der Logik, das credo quia absurdum est, Zweifel an der Vernunft und deren Verneinung. Wie dies im Gefolge der Askesis auftritt. Leben kann niemand darin, ebensowenig wie in der reinen Askesis. Womit erwiesen ist, daß der Glaube an die Logik und überhaupt der Glaube zum Leben nothwendig ist, daß also das Bereich des Denkens eudämonistisch ist. Dann tritt aber die Forderung der Lüge hervor: wenn nämlich Leben und ευδαιµονια ein Argument ist. Gegen die verbotenen Wahrheiten wendet sich die Skepsis. Dann fehlt das Fundament für die reine Wahrheit an sich, der Trieb darnach ist nur ein maskirter eudämonischer. 4. Jeder Naturvorgang ist uns im Grunde unerklärlich: wir können nur die jedesmalige Scenerie feststellen, bei der das eigentliche Drama sich begiebt. Wir sprechen dann von Kausalitäten, während wir im Grunde nur ein Nacheinander von Ereignissen sehen. Daß dies Nacheinander bei einer bestimmten Scenerie immer eintreten müsse, ist ein Glaube, der unendlich oft widerlegt wird. 5. Die Logik ist nur die Sklaverei in den Banden der Sprache. Diese aber hat ein unlogisches Element in sich, die Metapher usw. Die erste Kraft bewirkt ein Gleichsetzen des Ungleichen, ist also Wirkung der Phantasie. Darauf beruht die Existenz der Begriffe, Formen usw. 6. Formen. 7. "Naturgesetze". Lauter Relationen zu einander und zum Menschen. 8. Der Mensch als fertig und hart gewordenes Maaß der Dinge. Sobald wir ihn uns als flüssig und schwankend denken, hört die Strenge der Naturgesetze auf. Die Empfindungsgesetze - als Kern der Naturgesetze. Mechanik der Bewegungen. Der Glaube an die Außenwelt und an die Vergangenheit, in der Naturwissenschaft. 9. Das Wahrste in dieser Welt - die Liebe Religion und die Kunst. Erstere sieht durch alle Verstellungen und Maskeraden hindurch auf den Kern, das leidende Individuum und leidet mit, letztere tröstet, als praktische Liebe, über das Leiden, indem sie von einer anderen Weltordnung erzählt, und diese verachten lehrt. Es sind die drei unlogischen Mächte, die sich als solche bekennen. "auf der ausgedörrten Steinwüste des morschen Erdballs" 29 [9] Penzel, von Preußischen Werbern angeworben, stand als gemeiner Musketier in Königsberg. Kant hält ihn vom Katheder zurück, "(Kant) indem er ihn für einen niederträchtigen Menschen hielt, weil er seinen Soldatenstand so ruhig bisher ertragen habe." Eine Stelle bei Luther, dass wenn Gott an das schwere Geschütz gedacht hätte, er die Welt nicht geschaffen hätte. 29 [10] Analysis des Gelehrten, hinsichtlich seines Wahrheitssinnes. 1) Gewohnheit 2) Flucht vor der Langenweile 3) Broderwerb 4) Achtung bei anderen Gelehrten, Furcht vor ihrer Mißachtung 5) Erwerbssinn von etwas Eignem (es muß "wahr" 421
sein, sonst rauben es die Andren wieder) 6) Knötchen knüpfen, Knötchen lösen. - Maaß des Wahrheitssinnes: beim Umwerfen einer alten Theorie, bei Angriffen auf ihren Stand, ihre Bildung, beim Lautwerden der Unzünftigen, Haß gegen die Philosophie, weil sie sich nichts aus dem Gelehrten macht. Die Unwahrheit, wenn sie in allgemeiner Geltung ist, wird von dem Gelehrten als Wahrheit behandelt. Furcht vor Religionen und Regierungen. - 7) Ein gewisser Stumpfsinn, sie sehen die Folgen nicht und sind mitleidslos. 8) Sie merken die Hauptprobleme des Lebens nicht, deshalb beschäftigen sie sich mit den kleinsten Problemchen, d. h. in der Hauptsache haben sie kein Bedürfniss nach Wahrheit. Daher giebt es nirgends eine Gelehrten-Republik, sondern immer nur eine Gelehrten-Ochlokratie. Verhaßt und durch Scherbengericht vertrieben ist der seltene geniale Kopf, der Wahrheitsfreund, ebenso der Künstler. 29 [11] Die unbedingte Übereinstimmung im Logischen und Mathematischen weist nicht auf ein Gehirn, auf ein leitendes und abnorm ausfallendes Organ hin - auf eine Vernunft? Seele? Das ganz und gar Subiektive ist es, vermöge dessen wir - Menschen sind. Es ist das angehäufte Erbgut, an dem alle Theil haben. 29 [12] Naturwissenschaft ist Sichbewußtwerden, was man alles als Erbgut besitzt, Registratur der festen und starren Empfindungsgesetze. 29 [13] Der Gelehrte. 1. Eine gewisse Biederkeit, fast nur Ungelenkigkeit zur Verstellung, zu der einiger Witz gehört. Überall wo dialektische Advocatenmanier da ist, mag man auch in Betreff dieser Biederkeit Zweifel haben und auf seiner Hut sein. Es ist bequemer, in adiaphoris die Wahrheit zu sagen, es entspricht einer gewissen Trägheit. Gegen das copernikanische System z. B. machte gerade die Biederkeit Opposition, weil es dem Augenschein widersprach: Augenschein und Wahrheit fällt aber für die trägen Geister zusammen. Auch der Hass gegen die Philosophie bei den Gelehrten ist vor allem Hass gegen die langen Schlussketten und die Künstlichkeit der Beweise: die Bewunderung des Scharfsinns ist mit Furcht verbunden, und im Grunde hat jede Gelehrtengeneration ein Maass für den erlaubten Scharfsinn: was darüber hinaus ist, wird abgelehnt. 2. Scharfsichtigkeit in der Nähe mit grosser Myopie in die Ferne und in das Allgemeine. Das Gesichtsfeld sehr klein und die Augen werden sehr nahe heran gehalten. Will der Gelehrte von einem eben durchforschten Punkte zu einem neuen, so rückt er den ganzen Sehapparat zu jenem Punkte: er zerlegt ein Bild, wie durch Anwendung eines Opernglases, in lauter Flecke. Sie alle sieht er nie verbunden, sondern berechnet nur ihren Zusammenhang: deshalb hat er von allem Allgemeinen keinen starken Eindruck. Er beurtheilt z. B. eine Schrift, die er im Ganzen nicht zu überschauen vermag, nach einem Flecken aus dem Bereiche seiner Studien: er würde nach seiner Art zu sehen zuerst behaupten müssen, ein Oelgemälde sei ein wilder Haufen von Klexen. 3. Normalität seiner Motive, Nüchternheit, insofern zu allen Zeiten die gemeineren Naturen und somit die Masse von gleichen Motiven geleitet worden ist. Diese wittert er heraus. In 422
einem Maulwurfsloch findet sich der Maulwurf am besten zurecht. Er ist behütet vor vielen künstlichen und abnormen Hypothesen und vor allem Ausschweifenden und gräbt, wenn er beharrlich ist, alle gemeinen Motive der Vergangenheit, durch seine eigne Gemeinheit, aus. Freilich ist er deshalb unfähig, das Seltne Grosse und Abnorme, d. h. das Wichtige und Wesentliche zu verstehen. 4. Gefühlsarmut befähigt sie selbst zu Vivisectionen. Er ahnt das Leiden nicht, das manche Erkenntniss mit sich führt und fürchtet sich deshalb nicht auf gefährlichstem Bereiche. Das Maulthier kennt den Schwindel nicht. Sie sind kalt und erscheinen deshalb leicht grausam, ohne es zu sein. 5. Geringe Selbstschätzung, ja Bescheidenheit. Sie fühlen, im dürftigsten Studienbezirk, nichts von Vergeudung, selbst nichts von Aufopferung, sie wissen es im tiefsten Grunde, dass sie kriechendes, nicht fliegendes Gethier sind. Darin sind sie oft rührend. 6. Treue gegen ihre Führer und Lehrer; diesen wollen sie helfen und sie wissen wohl, dass sie ihnen am besten mit der Wahrheit helfen. Gegen diese sind sie dankbar gestimmt, weil sie nur durch sie Einlass in die würdigen Hallen der Wissenschaft bekommen haben, in die sie, auf eignem Wege, nie hineingekommen wären. Wer in Deutschland ein Gebiet zu erschliessen weiss, auf dem die geringen Köpfe arbeiten können, ist ein berühmter Mann: so gross ist alsbald der Schwarm. Freilich ist Jedermann aus diesem Schwarm zugleich die Caricatur des Meisters, in irgend einem Sinne: selbst dessen Gebresten erscheinen karikirt, nämlich unmässig gross und übertrieben, an einem viel kleineren Individuum: während die Tugenden des Meisters an eben demselben Individuum proportional verkleinert erscheinen. In so fern ist es eine Missgestalt, und wirkt als solche, wenn sie es aus Treue ist, rührend-drollig. 7. Gewohnheitsmässiges Fortlaufen auf der Bahn, in die man ihn gestossen hat: Wahrheitssinn aus Gedankenlosigkeit und Bequemlichkeit in der einmal angenommenen Gewöhnung. Dies gilt besonders von dem Lernen, das Viele von ihrer Übung im Gymnasium her, wie im Bann einer unentrinnbaren Noth, betreiben. Solche Naturen sind Sammler, Commentatoren, Verfertiger von Indices, Herbarien etc. Der Fleiss derselben entsteht beinahe aus Trägheit, ihr Denken aus Gedankenlosigkeit. 8. Flucht vor der Langeweile. Während der wirkliche Denker nichts mehr ersehnt als Musse, flieht der Gelehrte vor ihr, weil er mit ihr nichts anzufangen weiss. Seine Tröster sind die Bücher: d. h. er hört zu, wie jemand Anderes denkt und lässt sich auf diese Art unterhalten und über den langen Tag hinweg unterhalten. Besonders wählt er Bücher, bei denen sein Interesse, sein persönlicher Wille irgendwie aufgeregt wird, wo er ein wenig, durch Neigung oder Abneigung, in Affect gerathen kann. Schriften, wo er in Betracht kommt, oder sein Stand, seine politische oder ästhetische oder grammatische Meinung: hat er erst eine eigne Wissenschaft, so hat er auch ein Mittel, immer wieder interessirt zu werden. 9. Broderwerb. Der Wahrheit wird gedient, wenn sie im Stande ist, zu höheren Stellungen und Gehalten zu verhelfen, wenn durch sie Beförderung bei Höheren erreicht werden kann. Aber eben auch nur dieser Wahrheit wird gedient: weshalb sich eine Grenze für die erspriessliche Wahrheit und die unerspriessliche W finden lässt. Letztere wirkt nicht zu Gunsten des Broderwerbs und, da sie Mühe und Zeit braucht und diese der ersteren wegnimmt, sogar gegen den Broderwerb. Ingenii largitor venter. Die "Borborygmen eines leidenden Magens". 10. Achtung bei andern Gelehrten, Furcht vor ihrer Missachtung. Sie Alle überwachen sich eifersüchtig, damit die Wahrheit, an der so viel hängt, Ehre, Broderwerb, Beamtungen, 423
wirklich auf den Namen des Erfinders lautet. Die Achtung vor der Wahrheit, die ein Andrer gefunden, wird gezollt, weil man sie wieder fordert, bei der, die man selbst findet. Die Unwahrheit wird schallend explodirt, damit sie nicht als Wahrheit gelte und Ehren und Titel an sich reisse, die nur der unwiderstehlichen Wahrheit gegönnt werden. Gelegentlich wird auch die wirkliche Wahrheit explodirt, damit wenigstens Platz für andre Wahrheiten, die Anerkennung wollen, geschafft werde. "Moralische Idiotismen, die man Schelmenstreiche nennt." "Ausnahmen vom allgemeinen Gewissen." 11. Der Gelehrte aus Eitelkeit, schon eine seltnere Spielart. Er will etwas ganz für sich haben, wählt deshalb die Curiositäten als sein Forschungsfeld und freut sich, wenn er selbst als Curiosität neugierig betrachtet wird. Er begnügt sich meistens mit dieser Art Ehrbezeigung und gründet nicht seinen Lebensunterhalt auf einen solchen Wahrheitstrieb. 12. Der Gelehrte aus Spieltrieb. Seine Ergötzlichkeit ist, Knötchen zu suchen und sie zu lösen: wobei er sich nicht zu sehr anstrengen mag, damit er das Gefühl des Spiels nicht verliert. Deshalb dringt er nicht gerade in die Tiefe, doch sieht er oft etwas, was der Brodgelehrte in seiner stumpfen und mühsam kriechenden Befangenheit des Auges nicht wahr nimmt: er hat doch wenigstens ein Vergnügen an der Wahrheit und ist Dilettant, bildet in sofern sogar den Gegensatz des unlustigen Brodgelehrten, der nur gezwungen und gleichsam unter dem Joche des bezahlten Berufs oder dem Peitschenschlag seiner Beförderungssucht seine Arbeit thut. 29 [14] Es giebt keinen Trieb nach Erkenntniss und Wahrheit, sondern nur einen Trieb nach Glauben an die Wahrheit. Die reine Erkenntniss ist trieblos. 29 [15] Triebe, die mit einem Wahrheitstriebe leicht verwechselt werden: 1. Neubegier, gesteigert Sucht nach Abenteuern der Erkenntniss. Das Neue, Seltne im Gegensatze zum Langweilig-Alten. 2. Dialektischer Spür- und Spieltrieb, Lust an verschmitzten Fuchsgängen: nicht die Wahrheit wird gesucht, sondern das listige Herumschleichen, Umzingeln usw. 3. Trieb zum Widerspruch, die Persönlichkeit will sich einer andern gegenüber geltend machen. Klopffechterthum, der Kampf ist die Lust, persönlicher Sieg das Ziel. 4. Trieb aus Unterthänigkeit gegen Personen Religionen Regierungen, gewisse "Wahrheiten" zu finden. 5. Trieb aus Liebe Mitleid usw. gegen einen Menschen, Stand oder die Menschheit, eine rettende beglückende Wahrheit zu finden - Trieb der Religionsstifter. 29 [16] Alle Triebe mit Lust und Unlust verbunden - einen Trieb zur Wahrheit d. h. zur völlig folgenlosen reinen affectlosen Wahrheit kann es nicht geben, denn dort hörte Lust und Unlust auf, und es giebt keinen Trieb, der nicht in seiner Befriedigung eine Lust ahnte. Die Lust zu denken weist nicht auf ein Begehren nach Wahrheit. Die Lust aller Sinneswahrnehmung<en> 424
liegt darin, dass sie mit Schlüssen zu Stande gebracht sind. Der Mensch schwimmt insofern immer in einem Lustmeere. In wiefern kann aber der Schluss, die logische Operation, Lust bereiten? 29 [17] Wie ist nur die Kunst als Lüge möglich! Mein Auge, geschlossen, sieht in sich zahllose wechselnde Bilder - diese producirt die Phantasie und ich weiss dass sie der Realität nicht entsprechen. Also ich glaube ihnen nur als Bildern, nicht als Realitäten. Oberflächen Formen. Kunst enthält die Freude, durch Oberflächen Glauben zu erwecken: aber man wird ja nicht getäuscht? Dann hörte ja die Kunst auf! Die Kunst legt es doch auf eine Täuschung ab - aber wir werden nicht getäuscht? Woher die Lust an der versuchten Täuschung, an dem Schein, der immer als Schein erkannt wird? Kunst behandelt also den Schein als Schein, will also gerade nicht täuschen, ist wahr. Das reine begierdenlose Betrachten ist nur an dem Scheine möglich, der als Schein erkannt wird, der gar nicht zum Glauben verführen will und insofern unsern Willen gar nicht anregt. Nur der, der die ganze Welt als Schein betrachten könnte, wäre im Stande, sie begierden- und trieblos anzusehen - Künstler und Philosoph. Hier hört der Trieb auf. So lange man Wahrheit an der Welt sucht, steht man unter der Herrschaft des Triebes: der aber will Lust und nicht Wahrheit, er will den Glauben an die Wahrheit, also die Lustwirkungen dieses Glaubens. Die Welt als Schein - Heiliger Künstler Philosoph. 29 [18] Alle eudämonistischen Triebe erwecken Glauben an die Wahrheit der Dinge, der Welt - so die ganze Wissenschaft -auf das Werden gerichtet, nicht auf das Sein. 29 [19] Plato als Kriegsgefangner, auf einem Sclavenmarkte ausgeboten - wozu wollen wohl die Menschen den Philosophen? - Das lässt errathen, wozu sie die Wahrheit wollen. 29 [20] I. II. III.
Wahrheit als Deckmantel ganz anderer Regungen und Triebe. Das Pathos der Wahrheit bezieht sich auf den Glauben. Der Trieb zur Lüge fundamental. 425
IV.
Die Wahrheit ist unerkennbar. Alles Erkennbare Schein. Bedeutung der Kunst als des wahrhaftigen Scheines.
29 [21] 1 . Schilderung der Diener der Wahrheit. 2. Bändigung und Beschränkung der Erkenntniss zu Gunsten des Lebens, der Cultur. 3. Gerechtigkeit unter den Objecten der Erkenntniss, Abschätzung ihrer Wichtigkeit. Das Grosse. Zurückzurufen zur Hauptsache und den Hauptproblemen. Beseitigung des falschen Glanzes. 29 [22] Die geistig wirksamen Mächte sind über alle Vergangenheiten hin zerstreut Colonienbildung! Aber die eigentliche Heimat verarmt, wenn alles auswandert. Sie sind zurückzurufen zum Nothwendigsten. Gegen das laisser aller in der Wissenschaft. Alle sind so zerstreut und von einander entfernt, dass kein Band sie alle umschlingt: den verbindenden Kitt giebt unsre Zeitungscultur. Ist es erlaubt, dass ein Jüngling seine beste Kraft in der mikroscopischen Arbeit verschwendet und abgezogen wird von der Ausbildung seiner selbst? 29 [23] Allerlei Diener der Wahrheit. Zuerst optimistisches Staunen! Wie viele Wahrheitsforscher! Ist es erlaubt, dass die besten Kräfte sich so zerstreuen? Bändigung des Erkenntnisstriebes: classisch - antiquarisch. - Pessimistisches Erstaunen! Das sind ja alles keine Wahrheitsforscher! Preis der Gerechtigkeit als der Mutter des wahren Wahrheitstriebes. Prüfung der "Diener der Wahrheit" nach ihrem Sinn für Gerechtigkeit. Es ist recht gut, dass diese alle exilirt sind: denn sie würden überall nur stören und Schaden anrichten. Wir wollen sie die Lohnarbeiter der Wahrheit nennen, sie dienen ihr wider Willen und seufzend. Die Wissenschaft ist für jene eine Correctionsanstalt, eine Galeere. Hinweis auf Socrates, der sie alle wahnsinnig nennt, im Hause wissen sie nicht, was gut und böse. Unschädlichmachung der Wissenschaft durch Klöster. 426
Unsre Aufgabe: das Gespaltene Zerstreute wieder zusammenzubringen und zusammenzuschweissen, einen Herd für die deutsche Culturarbeit zu gründen, abseits von aller Zeitungscultur und Popularisirung der Wissenschaften. 29 [24] Was Zöllner beklagt, das unendliche Experimentiren und der Mangel an logisch-deductiver Kraft, ist ebenfalls in den historischen Disciplinen zu sehen - Unterschätzung des Classischen im Gegensatze zu dem Antiquarischen: so geht der Sinn der historischen Wissenschaft verloren, alles verflacht sich. Wie dort das Weltbild immer gemeiner wird und eigentlich nur noch von den Popularisirern gezeichnet wird, so hier das Vergangenheitsbild. 29 [25] Schiller: ihr geht aus, die Wahrheit mit Stangen zu fangen, aber. sie geht mitten hindurch. 29 [26] "Allerlei Diener der Wahrheit." 1. Schilderung des laisser faire der Wissenschaft. Es fehlt die Dictatur. 2. Folge. es fehlt der rechte Kitt - (dafür Zeitungscultur-Kitt!) im Allgemeinen immer grössere Roheit. Verkümmerung des Bildes des Wahrheitsdieners. 3. Daher haben sich Viele eingeschlichen. Schilderung. 4. Stellung der deutschen Cultur dazu: was ist die Aufgabe? (Goethes Stellung zur Naturwissenschaft.) 29 [27] Protest gegen die Section des Lebendigen d. h. sie sollen leben lassen, was noch nicht todt ist, und es nicht sofort als wissenschaftliches Object behandeln. 29 [28] Durch Wissen tödten: eig<entlich> ist es nicht einmal das Wissen, sondern nur das neugierige unruhige Belauern, also ein nothwendiges Mittel und conditio der Wissenschaft. MitredenWollen, wo man nur stört, wenn man redet. Defienda me Dios de my "Gott behüte mich vor mir". 29 [29] Alles Erinnern ist Vergleichen d. h. Gleichsetzen. Jeder Begriff sagt uns das; es ist das "historische" Urphänomen. Das Leben erfordert also das Gleichsetzen des Gegenwärtigen mit dem Vergangnen; so dass immer eine gewisse Gewaltsamkeit und Entstellung mit dem Vergleichen verbunden ist. Diesen Trieb bezeichne ich als den Trieb nach dem Klassischen und Mustergültigen: die Vergangenheit dient der Gegenwart als Urbild. Entgegen steht der 427
antiquarische Trieb, der sich bemüht das Vergangne als vergangen zu fassen und nicht zu entstellen, nicht zu idealisiren. Das Lebensbedürfniss verlangt nach dem Klassischen, das Wahrheitsbedürfniss nach dem Antiquarischen. Das Erste behandelt das Vergangne mit Kunst und künstlerischer Verklärungskraft. Denkt man sich die andre Richtung übermächtig, so hört die Vergangenheit auf, vorbildlich und mustergültig zu wirken, weil sie aufhört, Ideal zu sein, und individuelle Wirklichkeit wie die Gegenwart selbst geworden ist. Sie dient dann nicht mehr dem Leben, sondern ist gegen dieses Leben. Man erreicht so praktisch, was man erreichte, wenn man alle Kunstkammern und Bibliotheken verbrennen würde. Die Gegenwart wird isolirt, wird zufriedner mit sich und entspricht ihrem Wesen und ihren Bedürfnissen, zeigt also, was sie ist, wie gross oder gemein sie ist. - Wodurch nützt aber der Trieb zum Klassischen der Gegenwart? Er deutet an, dass, was einmal war, jedenfalls einmal möglich war und deshalb wohl auch wieder möglich sein wird ( wie die Pythagoreer meinen dass, wenn die Sterne die gleiche Stellung haben, alles wieder völlig gleich geschehen werde). An das Mögliche und Unmögliche denkt aber der Muthige und der Verwegene: ihn stärkt die Vergangenheit: z. B. wenn er hofft, dass 100 productive Menschen im Stande sind, die ganze deutsche Cultur zu gründen und findet, dass auf ähnliche Weise die Cultur der Renaissance möglich geworden ist. Am Grossen und Unmöglichen aber pflanzt sich die Menschheit fort. 29 [30] Nehme man an dass jemand glaube, es gehörten nicht mehr als 100 productive, in einem neuen Geiste erzogene Menschen dazu, um der in Deutschland jetzt gerade modischen Gebildetheit den Garaus zu machen, was müsste es ihn bestärken wahrzunehmen, dass die Cultur der Renaissance auf den Schultern einer solchen Schaar Hundert-Männer sich heraushob. 29 [31] Die Schätzung der Geschichte und die in ihr verschwendete Kraft. Die antiquarische Manier, die das Klassische möglichst beseitigt oder als ganz individuelle Möglichkeit zu begreifen sucht. Weil viel Vernunft verwendet wird, irgend ein Stückchen Vergangenheit so zu begreifen, meint man zuletzt auch, dass Vernunft sie zu Stande gebracht. So entsteht der Aberglaube an die Vernünftigkeit der Geschichte: wobei die absolute Nothwendigkeit verstanden wird als Manifestation des Vernünftigen und Zweckmässigen. Aber die grösste historische Macht ist die Dummheit und der Teufel. Es schwächt den Muth ab, so viele Möglichkeiten zu wissen als dagewesen: wenn es nicht darauf abgesehn ist, abzuschätzen (also das Klassische und Gute aus dem Vergangnen auszuscheiden), sondern nur alles als geworden zu begreifen, so lähmt der antiquarische Sinn; denn er wittert auch im Unsinnigen Zweck und Vernunft. Die Geschichte will nur , eine grosse Behandlung; sonst macht sie Sclaven. Nun giebt es zweitens ein Maass des erlaubten Retrospectiven und des Unerlaubten. Verboten ist die Vivisection; es soll den Kindern verboten werden zu lauern, wo Eier gelegt werden. Der Wahrheitstrieb, der den eben erlebten Moment secirt, tödtet den nächsten. Solange erkannt wird, wird nicht gelebt. Dazu - welche Gefahren bringt der antiquarische Sinn, wenn er sich der Menge und der geringen Köpfe bemächtigt! Zuletzt zerfällt alles in Solche, welche historisch leben, und Solche, welche nur historisch tödten. Welche fatale Neubegierde, Unruhe, Belauern, 428
Verrathen, Ablisten des eben Werdenden. Am Tag wird kein Geist citirt. Jede Zeit bedarf so viel Historie, als sie in Fleisch und Blut, durch Verdauen, umsetzen kann; so dass die stärkste und gewaltigste am meisten Geschichte vertragen wird. Wie aber, wenn schwächliche Zeiten mit ihr überfüllt werden! Welche Verdauungsbeschwerden, welche Ermüdung und Kraftlosigkeit! 29 [32] Es ist möglich, dass ein Volk durch Geschichte sich selbst tödtet: etwa wie ein Mensch, der sich dem Schlaf entzieht. Wiederkäuen ist die Sache gewisser Thiere: sich aber durch Wiederkäuen ruiniren scheint hier und da einmal bei dem menschlichen Rindvieh vorzukommen. Wenn alles, was wird, interessant, des Studiums würdig erachtet wird, so fehlt bald für alles, was man thun soll, der Maassstab und das Gefühl, der Mensch wird in der Hauptsache gleichgültig. 29 [33] Die Mythologie, mit der sich die antiquarischen Menschen umgeben - die Ideen "die es lieben, sich in immer reineren Formen zu offenbaren" usw. 29 [34] Das Monumentale sieht von den Ursachen ab. "Effect an sich" das, was zu allen Zeiten Effect macht" (oder das zu allen Zeiten entstehen kann, zu dem die Ursachen immer da sind). 29 [35] 3. Wie ist nur das Monumentale möglich? Oder über den Nutzen der Geschichte. Hülfsbegriff das rein-Menschliche - oder das Grosse und Ungemeine, an dem sich immer wieder das Grosse entzündet. Bestreben der Antiquare, das Ungemeine in das Verständliche d. h. Gemeine herabzuziehn. Deshalb vernichten sie das Monumentale nach besten Kräften. Sodann wird aber aus dem Codex des Monumentalen ein Zwang und Canon der gegenwärtigen Künstler, mit dem gegen das Entstehn, gegen die Entwicklung angekämpft wird: das Grosse soll nicht werden, es soll dasein. Die Antiquare sagen: das Grosse ist im Grunde das Gemeine und Allgemeine; auch sie kämpfen gegen das Werden des Grossen (durch Verkleinern, Begeifern usw.). So kämpfen beide historische Schulen gegen das Grosse an: sowohl mit dem Monumentalen, als dem Gemeinen. Dies war zu allen Zeiten so. Gegen Beides muss das Historisch-Grosse Recht behalten, gegen ersteres, dadurch dass es sich den Eintritt im Tempel des Monumentalen erzwingt, gegen die Antiquare, dadurch dass es endlich wieder selbst Erkenntnissobject wird und damit auch den Antiquaren "interessant" wird. 29 [36] Die Geschichte gehört dem Thätigen. Es ist ein widerliches Schauspiel, neugierige Mikrologe oder Egoisten oder Touristen auf Pyramiden herumklettern zu sehn. Die Geschichte ist jetzt ebenso zur Schau gestellt wie Bilder in der Gallerie: für den
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Müssiggänger. Früher suchte man sich von dort Kraft und Trost, jetzt will man Gewissheit, Unterhaltung im Realen, aus Feindschaft gegen die Kunst und gegen das Grosse. 29 [37] Woraus erklärt sich die Hypertrophie des historischen Sinnes? 1. Feindschaft gegen das erdichtete, Mythische. 2. Feindschaft gegen die Lebensprobleme. 3. Sie verbirgt oder drapirt die, welche sich damit befassen - ist leichter als ein Kunstwerk. 4. Sie löst auf und macht schlaff, weil sie durch Analogien das Rechtsgefühl und die Instinkte, kurz das Naive in Sitte und Handeln tödtet oder lähmt. 5. Sie ist demokratisch und lässt jedermann zu, beschäftigt die geringsten Köpfe. Sie ist das Ideal eines Wahrheitsstrebens, bei dem nichts herauskommt. 6. Wie sie im Grunde nicht von fruchtbaren kräftigen Instinkten geleitet wird, zeigt z. B. die Historie bei der Evangelien-Kritik. Man vergleiche die Reformationszeit. 29 [38] Die historische Krankheit. 1. Bei pythagoreischer Constellation wäre von einem Nutzen der Geschichte zu reden. So aber ist die Motivirung jeder Handlung eine verschiedne. 2. Vergleichung setzt ein Gleichsetzen voraus. Gedächtniss-Begriff. Das Klassische und Monumentale, der "Effect an sich" idealisirende Entstellung und Verallgemeinerung, das "Allgemein-Menschliche" als Wahn. Der Wahn des Monumentalen befördert die Fortzeugung des Grossen. 3. Kampf gegen das Grosse und Seltne und gegen das Monumentale durch die Antiquare. Alles Gewesene interessant, vernünftig: lähmender Einfluss der Antiquare auf die historische Thatkraft. 4. Der moderne Historiker als Amalgam von beiden Trieben, Hermaphrodit. Seine Mythologie. Seine negative Praxis. Einwirkung auf Kunst Religion. Gefährlich für eine werdende Cultur. Die Vivisection. Man soll nicht Beides sein, Classiker und Antiquar, sondern Eins, aber ganz. Wirkungslosigkeit der modernen Historiker: ihr Niederschlag in der nörgelnden Kritik und der amerikanisirenden Presse. Es fehlt dem modernen Historiker das Fundament: er ist im Monumentalen willkürlich, im Antiquarischen tödtend und wurzelt nicht in einer Cultur. 29 [39] Im Grunde ist jedermann zufrieden, wenn ein Tag vorüber ist. Ihn so ernst zu nehmen, dass er am andern Tag bereits historische Untersuchungen anstellt, ist lächerlich. Denn damit ist die Hauptlehre, die jeder Tag giebt, verwirkt, "das Leben ist abzuleiden" "es ist eine Busse". In der Hauptsache d. h. gerade in dem, was die Gesammtschätzung des Lebens betrifft, kann kein Ereigniss etwas wesentlich Neues lehren und einer, der vor ein Paar tausend Jahren lebte, kann ebenso weise sein wie einer, der die Geschichte dieser 2000 Jahre zu Hülfe nimmt. Für den Menschen, der das Dasein ableidet, ist Geschichte nichts: er findet überall dasselbe Problem, das jeder Tag ihm zeigt. Sie ist aber etwas für den Thätigen, Unweisen, der alles noch zu hoffen hat, der nicht resignirt, der kämpft - der braucht Geschichte als Exempla
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dessen, was Einer erreichen kann, wie Einer geehrt werden kann, besonders aber als Tempel des Ruhms. Sie wirkt vorbildlich und stärkend. 29 [40] Nun aber die Geschichte als Wissenschaft! Da handelt es sich also um Gesetze, die Personen kommen wenig in Betracht, Muth und Begeisterung sind hier nicht mehr zu gewinnen, sie stören vielmehr. Vorausgesetzt dass sich Gesetze finden liessen, so bekämen wir als Resultat den Determinismus und der Thätige würde mit Gewalt wieder zu einem Leidenden gemacht, ohne dass eine moralische Empfindung ihn zur Resignation brächte. Zudem sind die Gesetze wenig werth: weil sie aus den Massen und deren Bedürfnissen abgeleitet sind, also als Bewegungsgesetze der niederen Lehm- und Thonschichten. Die Dummheit und der Hunger sind immer dabei, wie bei jedem französischen Criminalprozess la femme. Wozu sollte man auch solche Gesetze wissen, da ja Jedermann, ohne sie zu kennen, schon Jahrtausende hindurch, nach ihnen gehandelt hat! Der starke und grosse Mensch hat sich immer, wider diese Gesetze, durchgeschlagen: von ihm sollte eigentlich allein die Rede sein. Die Massen sind nur zu betrachten einmal 1) als verschwimmende Copien der grossen Männer, auf schlechtem Papier und mit abgenutzten Platten 2) als Widerstand gegen die Grossen 3) als Werkzeug der Grossen. Im Übrigen hole sie der Teufel. 29 [41] Die Statistik beweist dass es Gesetze in der Geschichte giebt. Ja, sie beweist, wie gemein und ekelhaft uniform die Masse ist. Ihr hättet einmal in Athen Statistik treiben sollen! Da würdet ihr den Unterschied gefühlt haben! Je niedriger und unindividueller eine Masse ist, um so strenger das statistische Gesetz. Ist die Menge feiner und edler zusammengesetzt, geht sofort das Gesetz zum Teufel. Und ganz hoch oben, bei den grossen Geistern, könnt ihr gar nicht mehr rechnen: z. B. wann haben die grossen Künstler geheirathet! Hoffnungslos ihr, die ihr da ein Gesetz suchen wollt. Also: so weit es Gesetze giebt in der Geschichte, sind sie nichts werth und ist die Geschichte d. h. das, was geschehen ist, nichts werth. Überdies: was heisst denn hier "Gesetze"? Stehen sie irgendwie gleich einem Naturgesetz oder einem Rechtsgesetz? Es sagt doch nicht "ihr sollt", sondern "leider war es so". Es ist der Ausdruck eines dummen faktischen Verhältnisses, bei dem Niemand mehr nach dem Warum? fragen darf. "Hier werden jährlich c. 40 Ehen geschlossen" - Warum denn so viel und nicht 80? "Es ist nun einmal nicht anders"! - Sehr belehrend! Wir danken. Es giebt aber eine Richtung, welche die grossen Massentriebe als das Wichtige betrachtet und alle grossen Männer nur als den Ausdruck, gleichsam das sichtbar werdende Bläschen auf der Wasserfluth betrachtet. Da soll die Masse aus sich heraus das Grosse, das Chaos aus sich heraus die Ordnung gebären. Am Ende wird natürlich der Hymnus auf die gebärende Masse angestimmt; es lebe die Geschichte! Eine andre Richtung will alles in Betracht ziehn, was "eine historische Macht" gewesen ist und schätzt darnach "das Grosse" ab: "Gross" heisst, was historisch nachhaltig gewirkt hat. Das heisst recht Quantität und Qualität verwechseln. Wenn die plumpe Masse irgend einen Gedanken, eine Religion sich recht adäquat gefunden hat und ihn zäh vertheidigt: soll der Finder und Gründer jenes Gedankens "gross" sein! Warum doch! Das Edelste und Höchste wirkt gar nicht auf die Massen: und der historische Erfolg des Christenthums beweist glücklicherweise nichts über seinen Gründer, da es im Grunde gegen ihn beweisen würde:
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hier scheint aber das Ursprüngliche ganz verloren gegangen zu sein und der Name für Tendenzen der Massen und vieler ehrsüchtig-egoistischen Einzelnen geblieben zu sein. 29 [42] Vergötterung des Erfolgs ist recht der menschlichen Gemeinheit angemessen. Wer aber nur einen einzigen Erfolg einmal genau studirt hat, weiss, was für Faktoren (Dummheit, Bosheit, Faulheit usw.) immer mitgewirkt haben, und nicht als die schwächsten Faktoren. Es ist toll, dass der Erfolg mehr werth sein soll als die unmittelbar vorher noch bestehende schöne Möglichkeit! Gar aber in der Geschichte die Verwirklichung des Guten und Rechten sehen ist Blasphemie gegen das Gute und Rechte. Diese schöne Weltgeschichte ist, um Heraklitisch zu reden, "ein wirrer Kehrichthaufen"! Das Kräftige schlägt sich durch, das ist das allgemeine Gesetz: wenn es nur nicht so oft gerade das Dumme und das Böse wäre! 29 [43] Luther: "Cicero, ein weiser und fleissiger Mann, hat viel gelitten und gethan". 29 [44] Der Engländer über Berlin: "in Berlin, wer nicht Geschmack hat an Bierstuben und Weinstuben, er sei arm oder reich, er lebt und stirbt armselig." 29 [45] Die schreckliche Übung, Charactere und Individuen zu begreifen und somit aus ihrem Lebensnerv zu rechtfertigen, scheint vielleicht auf Gerechtigkeit zu beruhen und auf Gerechtigkeit gegen die Zeitgenossen hinzuwirken. Dem steht entgegen, dass wir gerade an den Zeitgenossen die fatalste Uniformität fordern und am wenigsten gerecht gegen die mannigfachen Charactere sind. Der geübteste Historiker ist, der Zeit gegenüber, "un personnage haineux" , und ist ungerecht oder blasirt. 29 [46] Der wissenschaftliche Stand ist eine Art Clerus und missachtet die Laien; er ist der Erbe des geistlichen Clerus, ohne diese vererbte Ehrfurcht würde schwerlich unsere Zeit so die Wissenschaften pflegen. Was man früher der Kirche gab, giebt man jetzt, obzwar spärlicher, der Wissenschaft: dass man aber giebt, hat einstmals die Kraft der Kirche bewirkt, die noch jetzt, in dem wissenschaftlichen Clerus, nachwirkt. Und gerade Geschichte zu treiben ist immer noch eine verkappte Theologie, als Lehre von dem Wirken Gottes oder des Vernünftigen. Bemächtigt sich der Menge die Meinung, Geschichte sei ein Wust und keine Wissenschaft, so ist es aus mit ihrer Förderung. 29 [47] Die verfluchte Volksseele! Wenn wir von deutschem Geiste reden, so meinen wir die deutschen grossen Geister, Luther, Goethe, Schiller und einige Andere, nicht den mythologischen Phantom der vereinigten Ungeistermasse, in der - - - Besser wäre es schon, von lutherartigen Menschen usw. zu reden. Wir wollen vorsichtig sein, etwas deutsch zu nennen -. zunächst ist es die Sprache, diese aber als Ausdruck des Volkscharacters zu fassen, ist eine reine Phrase und bis jetzt bei keinem Volke möglich gewesen, ohne fatale 432
Unbestimmtheiten und Redensarten. Griechische Sprache und griechisches Volk! Das bringe Einer zusammen! Überdies steht es ähnlich wie bei der Schrift: das allerwichtigste Fundament der Sprache ist eben nicht griechisch, sondern wie man jetzt sagt, indogermanisch. Schon besser steht es mit Stil und Mensch. Von einem Volke Prädikate auszusagen, ist immer sehr gefährlich: zuletzt ist alles so gemischt, dass erst immer später eine Einheit wieder an der Sprache sich einfindet oder eine Illusion der Einheit sich an ihr einstellt. Ja Deutsche! Deutsches Reich! Das ist etwas, Deutschsprechende ist auch etwas. Aber Race-Deutsche! Das Deutsche als künstlerische Stileigenschaft ist erst noch zu finden, wie bei den Griechen der griechische Stil erst spät gefunden ist: eine frühere Einheit gab es nicht, wohl aber eine schreckliche κρασιζ. 29 [48] Gegen die Parallele der Geschichte mit Jugend, Mannesalter und Greisenalter: auch nicht die Spur Wahrheit daran! Ein fünf-sechs Jahrtausende ist gar nichts und vor allem keine Einheit, weil immer wieder neue Völker hinzukommen und alte in einen Winterschlaf verfallen. Zuletzt aber handelt es sich gar nicht um Völker, sondern um Menschen, die Nationalität ist zumeist nur die Consequenz starrer Regierungsmassregeln, d. h. einer Art Züchtung durch umschliessende Gewalt und Bändigung, nebst Nöthigung, sich zu heirathen und mit einander zu sprechen und zu leben. 29 [49] Christlich ausgedrückt: so ist der Teufel der Regent der Welt und dabei wird es im Wesentlichen bleiben. Aber jetzt sagt man gebildeter: das System miteinander kämpfender Egoismen: wobei man an den Wald denkt, der so gleichförmig und regelmässig wächst, weil alle Bäume nur ihren Egoismus befriedigen. 29 [50] 1) Die Gefahr des Monumentalen, das, zusammengeschleppt aus allen Zeiten, den suchenden Instinkt verwirrt und schwächt. So auch die Kenntniss aller Verhältnisse und Gesellschaftsschichten: hätte sie der Bauer, was würde er wohl mit dem Pfluge anfangen! 29 [51] Eine Bändigung des unbegrenzten historischen Sinnes ist nöthig: und thatsächlich besteht eine schon, die aber nicht nöthig ist, die Bändigung durch den nüchternen uniformirten Zeitgeist, der sich überall sucht und zu finden glaubt, und die Geschichte auf sein Maass herunterschraubt. Ein solches Herunterschrauben nehme ich wahr bei Cicero (Mommsen), Seneca (Hausrath), Luther (Protestantenverein) usw. In andrer Art bändigte und streckte Hegel die Geschichte, er, der recht eigentlich der deutsche "Genius der Historie" zu nennen ist; denn er fühlte sich auf der Höhe und am Ende der Entwicklung und damit auch im Besitz aller ehemaligen Zeiten, als deren ordnender νουζ. Jeder Versuch, das Gegenwärtige als das Höchste zu begreifen, ruinirt die Gegenwart, weil er die vorbildliche Bedeutung des Geschichtlichen leugnet. Die schrecklichste Formel ist die Hartmannsche "sich dem Weltprozess hinzugeben". Wohin es führt, die Geschichte als einen Prozess anzusehen, zeigt E. von Hartmann p. 618 (woraus mir der ungeheure Erfolg klar wird). Die historische Ansicht verbrüdert sich hier mit dem Pessimismus: nun sehe man die Consequenzen! Die Lebensalter des Einzelnen bieten die 433
Analogie, die gar nicht schmeichelhafte Schilderung der Gegenwart erweckt nur den Schluss, dass es noch schlimmer kommt und dass dies der nothwendige Process sei, dem man sich hinzugeben habe. Zur Analogie dient ein recht gemeines Menschenkind, dessen Mannesalter es zur "gediegenen Mittelmässigkeit" und zu einer Kunst bringt, die ihm durchschnittlich etwa das ist, "was dem Berliner Börsenmann etwa Abends die Posse ist". Er nimmt vor allem "auf eine bedächtig in die Zukunft schauende praktisch wohnliche Einrichtung in der irdischen Heimath Bedacht". Dabei eine Art von sauersüssem Imperativ: "Unbarmherzig und grausam ist dieses Handwerk der Zerstörung der Illusion, wie der rauhe Druck der Hand, der einen süss Träumenden zur Qual der Wirklichkeit erweckt; aber die Welt muss vorwärts; nicht erträumt werden kann das Ziel, es muss erkämpft und errungen werden, und nur durch Schmerzen geht der Weg zur Erlösung." Nur ist unbegreiflich, wie der Process, dessen Mannesalter vorhin geschildert wurde, endlich "in eine Periode der reifen Beschaulichkeit eintritt, wo sie die ganzen wüst durchstürmten Leiden ihres vergangnen Lebenslaufes mit wehmüthiger Trauer in Eins fassend überschaut und die ganze Eitelkeit der bisherigen vermeintlichen Ziele ihres Strebens begreift." p. 625 f. Wenn aber die Menschheit als eine Art Leopardi ihr Greisenalter erleben soll, so müsste sie edler sein als sie ist und vor allem ein anderes Mannesalter haben, als Hartmann ihr ertheilt. Der Greis, der einem solchen Mannesalter entspräche, würde sehr ekelhaft sein und würde mit widriger Gier am Leben hängen, in die gemeinsten Illusionen mehr als je verstrickt. 29 [52] Hartmann ist wichtig, weil er den Gedanken eines Weltprozesses todtmacht, dadurch dass er consequent ist. Um ihn zu ertragen, legt er als τελοζ zu Grunde die bewusste Erlösung und Freiheit von Illusionen und das Wählen des Unterganges. Aber das Ende der Menschheit kann jeden Augenblick durch eine geologische Umwälzung da sein: und jene Illusionslosigkeit setzte eine höhere Entwicklung der moralischen und intellectuellen Kräfte voraus: was ganz unwahrscheinlich ist: vielmehr dürften, wenn diese alt würden, die Illusionen nur immer mächtiger werden und das Greisenalter mit einem Kindisch-werden schliessen. Tröstlich ist somit das letzte Resultat keinesfalls und könnte gewiss nicht als τελοζ bezeichnet werden. So wie er das Mannesalter schildert, nimmt überdies die Fähigkeit, das Dasein als Problem zu nehmen, immer mehr ab und das Bedürfniss nach Erlösung wird immer geringer. Wir wollen uns ja aller Constructionen der Menschheitsgeschichte enthalten und überhaupt nicht die Massen betrachten, sondern die überall hin zerstreuten Einzelnen: diese bilden eine Brücke über den wüsten Strom. Diese setzen nicht etwa einen Prozess fort; sondern sie leben gemeinsam und gleichzeitig, Dank der Geschichte, die ein solches Zusammenwirken zulässt. Es ist die "Genialen-Republik". Die Aufgabe der Geschichte ist, zwischen ihnen zu vermitteln und so immer wieder zur Erzeugung des Grossen und Schönen Anlass zu geben und Kraft zu verleihen. Das Ziel der Menschheit kann nicht am Ende liegen, sondern in den höchsten Exemplaren, die, zerstreut durch Jahrtausende, zusammen alle höchsten Kräfte, die in der Menschheit verborgen sind, repräsentiren. Überdies: Weltprozess!! Es handelt sich doch nur um die Lumperei der menschlichen Erdflöhe! Hartmann sagt p. 637. "So wenig es sich mit dem Begriff der Entwicklung vertragen würde, dem Weltprozess eine unendliche Dauer in der Vergangenheit zuzuschreiben, weil dann jede irgend denkbare Entwicklung bereits durchlaufen sein müsste, was doch nicht der Fall ist (!!!), ebensowenig können wir dem Prozess eine unendliche Dauer für die Zukunft zugestehen; beides höbe den Begriff der Entwicklung zu einem Ziele auf und stellte den 434
Weltprozess dem Wasserschöpfen der Danaïden gleich. Der vollendete Sieg des Logischen über das Unlogische muss also mit dem zeitlichen Ende des Weltprozesses, dem jüngsten Tage zusammenfallen (!!)". Von diesem Hartmannschen "Weltprozess" flüchtet man gern zu dem demokritischen Atomengewirr und zur Darwinistischen Lehre vom Bestehen des Lebensfähigen unter den zahllosen Combinationen. Hier ist doch noch ein Platz für die grossen Individuen, sei es auch dass ein Zufall sie herausgeschleudert. Bei Hartmann ist die Willensverneinung eine Verirrung und die Bejahung des Lebens die eigentliche Pflicht. Zuletzt sollen gar die Majoritäten auf der Erde für die Vernichtung und die Rückkehr in's Nichts abstimmen! Dagegen unsre Lehre, dass das Bewusstsein nur durch immer höhere Illusionen gefördert und entwickelt wird. Wir stehen deshalb mit unserm "Bewusstsein" so niedrig (verglichen etwa mit den Griechen), weil unsre Illusionen niedriger und gemeiner sind, als die ihrigen. Diesen Fortschritt zur Gemeinheit bin ich nicht im Stande, einen Fortschritt zum "Mannesalter" zu nennen. Dächte man die Illusionen verschwinden, so verdunstet das Bewusstsein bis zur Pflanze. Illusionen sind übrigens nur der Ausdruck für einen unbekannten Sachverhalt. Die Menschheit zur Blasirtheit zu führen ist das Hartmannsche Ziel: dann allgemeiner Selbstmord: von der Majorität der Menschen ausgeführt! Dann kippt die Welt um und versinkt wieder ins Meer des Nichts. Aufgabe der nächsten Generationen, durch Hingabe an den Weltprozess d. h. Bejahung des Willens zum Leben die Blasirtheit einzuleiten! Ekelhaftes Buch, eine Schande für die Zeit! Wie unendlich reiner, höher und sittlicher wirkt Schopenhauers Pessimismus! Diese Hartmannsche Philosophie ist die Fratze des Christenthums, mit ihrer absoluten Weisheit, ihrem jüngsten Tag, ihrer Erlösung usw. Die Speculation auf den Effect der monströsen Paradoxie, verbunden mit dem laissez faire, war nie toller. Die David-Straussische Gegenwart wird in den Weltprozess eingeordnet, findet ihre Stelle und wird also justificirt. Daher der Erfolg bei der Litteraten-Masse (das heisst nämlich jetzt "Erfolg" überhaupt: die vermögen es schon, das Publikum zum Kaufen aufzureizen!). 29 [53] Der Hegelsche "Weltprozess" verlief sich in einen fetten preussischen Staat mit guter Polizei. Das ist alles verkappte Theologie, auch bei Hartmann noch. Wir vermögen aber Anfang und Ende nicht zu denken: so lassen wir doch diese "Entwicklung" auf sich beruhen! Es ist sofort lächerlich! Der Mensch und der "Weltprozess"! Der Erdfloh und der Weltgeist! 29 [54] Wozu die Menschen da sind, wozu "der Mensch" da ist, soll uns gar nicht kümmern: aber wozu Du da bist, das frage dich: und wenn Du es nicht erfahren kannst, nun so stecke Dir selber Ziele, hohe und edle Ziele und gehe an ihnen zu Grunde! Ich weiss keinen besseren Lebenszweck als am Grossen und Unmöglichen zu Grunde zu gehen: animae magnae prodigus. 29 [55] 1. Schilderung des historischen Sinns, zuletzt mit seinem Extrem, dem Weltprozess und daraus abgeleiteten Moralgesetz. 2. Innere Gründe dieser Hypertrophie des historischen Sinns. 3. Bedeutung der Historie für eine Cultur. 435
29 [56] Das Historische in der Erziehung. Der junge Mensch wird durch alle Jahrtausende gepeitscht, das wurde der Grieche und Römer nicht. Dazu politische Geschichte für Jünglinge! Die nichts von einem Kriege, nichts von einer Staatsaktion, von Handelspolitik, Machtfragen usw. verstehen können! So geht der moderne Mensch durch Galerien, so hört er Concerte! Das klingt anders als jenes, fühlt er, und das nennt er dann "historisches Urtheil". - Die Masse ist so gross, dass Abstumpfung die Folge sein muss. Das Schreckliche und Barbarische dringt hinzu, im Übermaass, und wo ein feineres Bewusstsein da ist, muss das Gefühl eins sein: Ekel. Dazu wird der junge Mensch seiner Heimat entfremdet und lernt an allen Sitten und Begriffen zweifeln. Es war in jeder Zeit anders: "es kommt nicht darauf an, wie du bist". Je nach dem ηϑ οζ, wird jetzt der Mensch sich zum Schlimmen oder Guten (d. h. Grossen) lösen: "So geht frei, aber gefährlich, ohne Gängelband." Glücklicher Weise ist der Sinn der Jugend meist so stumpf, dass gar nichts wesentlich herauskommt, ausser einer unklaren Betäubung; es fehlt die starke Phantasie und dazu sind die einströmenden Massen zu gewaltig, es wird alles überfluthet. Ein solches Maass von Historie ist für Niemanden nöthig, wie die Alten zeigen, ja im hohen Grade gefährlich, wie die Neueren zeigen. Nun der historische Student! Ein ganz isolirtes Capitelchen der Vergangenheit hat er erforscht: jetzt ist er Diener der Wissenschaft, der Wahrheit, jetzt ist es vorbei mit aller Bescheidenheit, er ist fertig! Der gelehrte Dünkel hindert die höhere Erziehung. Ich betrachte junge Doktoren der Geschichte als Menschen, welche in der Bildung nicht bis drei zählen können und meistens auch nie zählen werden: denn sie sind bereits "produktiv"! Herr Je! 29 [57] Alles "objectiv" nehmen, über nichts zürnen, nichts lieben, alles "begreifen" - das heisst jetzt "historischer Sinn". Die Regierungen fördern einen solchen Sinn ebenso gern, als sie die Hegelei gefördert haben; denn er macht gefügig und schmiegsam. Vor allem aber ist die ganze Presse darin erzogen: man zürnt und ärgert sich nur noch "artistisch", übrigens ist man "blasirt" und "versteht" alles: tout comprendre c'est tout pardonner: aber man "verzeiht" nicht, man justificirt alles. Selbst nicht gebunden, leugnet der historische Journalist alle Bande: er lässt sie nur im utilitarischen Sinne bestehn. Es soll nicht mehr das Zeitalter der harmonischen Persönlichkeit sein, sondern das der "gemeinsamen Arbeit". Das heisst doch nur: die Menschen, bevor sie fertig sind, werden in der Fabrik gebraucht. Aber seid überzeugt, in Kurzem ist die Wissenschaft ebenso ruinirt, wie die Menschen dieser Fabrikarbeit. Die "gediegene Mittelmässigkeit" wird immer mittelmässiger, der Mensch ist weiser als irgend ein Mensch in einem Punkt und in allen andern dümmer als irgend ein ehemaliger Gelehrter: in summa aber unendlich dünkelhafter. System der Kärrner, die das Genie als überflüssig dekretiren: man wird es euren Bauten ansehen, dass sie zusammengekarrt, nicht zusammengebaut sind. Dem, der ewig "Arbeitstheilung!" "In Reih und Glied" usw. im Munde hat, ist klärlich und voll zu sagen: wollt ihr die Wissenschaft möglichst schnell fördern, so werdet ihr sie auch möglichst schnell vernichten: wie auch die Henne zu Grunde geht, die ihr künstlich zum allzuschnellen Eierlegen zwingt. Gut, die Wissenschaft ist in den letzten Jahrzehnden schnell gefördert: aber seht euch die Gelehrten, die erschöpften Hennen an. Es sind wahrhaftig keine "harmonischen" Naturen mehr: nur gackern können sie mehr als je, aber die Eier sind auch kleiner als je. Daher nun auch die beliebte "Popularisirung" der Geschichte für "gemischtes Publikum". Das 436
wird den Gelehrten so leicht, weil sie selbst, von einem ganz kleinen Bereiche abgesehn, "sehr gemischtes Publikum" sind und dessen Bedürfnisse in sich tragen. Sie brauchen sich nur einmal bequem im Schlafrock hinzusetzen, so gelingt es ihnen, auch ihr kleines Studienbereich jenen gemischt-populären Bedürfnissen aufzuschliessen: für diesen Bequemlichkeits-Akt affichirt man den Namen "bescheidne Herablassung des Gelehrten zum Volk", während im Grunde der Gelehrte nur zu sich, so weit er nicht Gelehrter, sondern Pöbel ist, herabstieg. Schafft erst ein Volk - das könnt ihr euch nie edel und hoch genug denken! Euer "gemischtes Publikum" kann man sich aber nicht leicht gemein genug denken! 29 [58] Zum Schlusse. Wenn ihr durch diese Betrachtung unmuthig geworden seid, so kann euch der Autor sagen, dass er dies vorausgesehen hat: etwas aber, was er nicht voraussehen kann, ist, wohin ihr nun jenen Unmuth richten werdet: ob nämlich gegen den Autor oder gegen euch selbst. Im letzteren, gewiss seltnen Falle, werdet ihr am besten thun, den Autor ganz zu vergessen: was kommt auch darauf an, wer eine Wahrheit sagt: wenn sie nur überhaupt gesagt wird und solche da sind, die sie zu Herzen nehmen. Geschrieben habe ich für beide Classen und, wie ich hoffe, deutlich genug. 29 [59] In der ganzen Welt redet man nicht vom Unbewussten, weil es seinem Wesen nach ungewusst ist; nur in Berlin redet und weiss man etwas davon und erzählt uns, worauf es eigentlich abgesehn ist. Nämlich darauf, dass unsre Zeit gerade so sein muss wie sie ist, wenn die Menschheit dieses Dasein einmal satt bekommen soll: was wir von Herzen glauben - während nur E. von H<artmann> es weiss. - Was David Strauss als naive Thatsächlichkeit hinnimmt, wird bei H<artmann> nicht nur von hinten, ex causis efficientibus gerechtfertigt, sondern sogar von vorn, ex causa finali: von dem jüngsten Tage her lässt H<artmann> das Licht über unsre Zeit strahlen, und da findet sich, dass sie sich dem Mannesalter der Menschheit nähert, jenem beglückten Zustande, wo es nur noch gediegene Mittelmässigkeit, Kunst von der Art, wie sie der Berliner Börsenmann am Abend braucht, wo die "Genies kein Bedürfniss der Zeit mehr sind, weil es hiesse, die Perlen vor die Säue werfen oder auch weil die Zeit über das Stadium, welchem Genie's gebührten, zu einem wichtigeren hinweggeschritten ist" (p. 6191). Wir wünschten, wir hätten uns verschrieben; aber ich habe nur abgeschrieben. Moral: es steht ganz und gar erbärmlich, es wird noch erbärmlicher kommen, aber es muss so stehen, es muss so kommen, "sichtbar greift der Antichrist weiter und weiter um sich" (p. 610). Aber wir sind auf dem besten Wege mit dem allem: "darum rüstig vorwärts im Weltprozess als Arbeiter im Weinberge des Herrn, denn der Prozess ist es allein, der zur Erlösung führen kann" p. 638. Errathen wir den Sinn des H<artmann>, wenn wir in ihm den ironischen Farceur wittern, der ein für allemal die Vorstellung vom "Weltprozess" der Lächerlichkeit preisgeben will? In diesem Sinne haben wir selten eine lustigere Erfindung und eine philosophischere Schelmerei gelesen: aber das gesammte Litteratenthum hat nicht recht hingehört und nur seine eigene Rechtfertigung im apokalyptischen Lichte darin gefunden, so dass ihm entgangen ist, dass H<artmann> geradezu die Weltprozess-Philosophie als eine Philosophie für zeitgenössisches Strolchthum geschrieben hat. Das ist der eigentliche Reiz bei allen Erfindungen H<artmann>'s: der Wissende fühlt, dass er es gar nicht ernsthaft meint, ausser so weit es nöthig ist, die Unwissenden zu biederem Ernste zu verführen. 29 [60]
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Grillparzer "jeder Mensch hat zugleich seine Separat-Nothwendigkeit, so dass Millionen Richtungen parallel, in krummen und geraden Linien nebeneinander laufen, sich durchkreuzen, fördern, hemmen, vor- und rückwärtsstreben, und dadurch für einander den Character des Zufalls annehmen, und es so, abgerechnet die Einwirkungen der Naturereignisse, unmöglich machen, eine durchgreifende, alle umfassende Nothwendigkeit des Geschehenden nachzuweisen". Übrigens wäre nur das Abgeschlossne Fertige Todte zu studiren, weil die letzten belehrenden Consequenzen sichtbar werden. - Geschichte als "Weltsystem von Irrthümern und Leidenschaften". Negative Lehre: wovor man sich zu hüten hat. Grillparzer: "es ist etwas Eigenes um das Aufblühen und Verwelken der Völker. In jedem ist eine hervorstechende Kraft, die heilsam wirkt, solange sie Hindernisse zu besiegen hat, nach diesem Siege aber sich gegen sich selbst kehrt. 29 [61] Wenn ein Stoiker und ein Epicureer eins werden, dann verschwören sie sich, Cäsar zu ermorden. 29 [62] Die Fakta selbst werden als "unmittelbare Ausflüsse des Weltgeistes" betrachtet, nur sie allein hätten deshalb die nöthige Würde und Tiefe, deshalb solle die tragische Kunst sich der Geschichte unterordnen. Lächerlich! Der Geschichte! "Was ist denn Geschichte anders als die Art, wie der Geist des Menschen diese ihm undurchdringlichen Begebenheiten aufnimmt; das, weiss Gott ob Zusammengehörige, verbindet; das Unverständliche durch etwas Verständliches ersetzt; seine Begriffe von Zweckmässigkeit nach Aussen einem Ganzen unterschiebt, das wohl nur eine nach innen kennt; und wieder Zufall, wo tausend kleine Ursachen wirkten. Was anders ist die Geschichte! Was anders als das Werk der Menschen! Da es nun aber nicht die Begebenheiten, sondern ihre Verbindung und Begründung ist, worauf es dem Dichter ankommt, so lasst ihn in Gottes Namen sich auch seine Begebenheiten selbst erfinden, wenn er anders dazu Lust hat." 29 [63] Wie man vom Schauspieler gesagt hat, seine Kunst habe drei Stufen: "eine Rolle verstehen, eine Rolle fühlen und das Wesen einer Rolle anschauen", und nur alles dreies den wahren Schauspieler macht: so wird man anders vom historisch grossen Menschen sagen: er schaut vor allem das, was zu thun ist, seine Mission, als eine Summe von lauter einzelnen anschaulichen Fällen, selten fühlt er die Einheit aller dieser Fälle als seine Mission und am seltensten versteht er seine Mission. Aber der Historiker folgt ihm auf den Fersen und kann alles dreies. 29 [64] Ungar und der Hegelsche Professor. Die Geschichte als "der sich selbst realisirende Begriff, mit nachweisbarer Nothwendigkeit und zu immerwährendem Fortschritt. Sie bekommt dadurch "einen theoretischen Heiligenschein", sie ist "das Wandeln Gottes auf der Erde, welcher Gott aber seinerseits erst 438
durch die Geschichte gemacht wird". Da möchte ich fast dem Spanier Juan Huart<e> beistimmen, der von den Deutschen sagt, sie hätten ein starkes Gedächtniss und wenig Verstand; ihr Verstand wäre immer wie der Verstand der Betrunknen, weil ihnen die viele Feuchtigkeit, womit ihr Gehirn und ihr übriger Körper ausgefüllt sind, nicht verstatte in die Natur der Dinge einzudringen." Auch wird man daran erinnert, dass er ihnen grosse Erfindungskraft in Uhrwerken, Wasserkünsten und mechanischen Kunststücken zuschreibt und wäre geneigt, ein solches sich selbst realisirendes Begriffs-Uhrwerk in diese Reihe zu stellen. 29 [65] Grillparzer eifert "gegen den in neuerer Zeit prätendirten Nutzen der Litterargeschichte selbst für die praktische weitere Fortbildung der Litteraturzweige und zählt sie vielmehr jenen mitunter gefährlichen Bestrebungen zu, die, indess sie einerseits die Masse der oberflächlichen Kenntnisse, will sagen: Notizen vermehren, auf der anderen Seite den Gesichtskreis in's Unermessliche erweitern, so dass endlich jene innere Concentration immer schwieriger wird, ohne die eine That oder ein Werk nicht möglich wird. Im Mangel dieser Concentration liegt aber der Fluch unserer Zeit." Wir empfinden mit Abstraction, sagt Grillparzer. Wir wissen kaum mehr, wie sich die Empfindung bei unsern Zeitgenossen äussert; wir lassen sie Sprünge machen, wie man sie heut zu Tage nicht mehr macht. Shakespeare hat uns Neueren alle verdorben. - Wer wird an die Wahrheit der Empfindung eines Heine glauben! Etwa so wenig ich an die eines E. von Hartmann glaube. Aber sie reproduciren mit einem ironischen Hange, in der Manier grosser Dichter und grosser Philosophen: wobei sie im Grunde eine satirische Richtung haben und ihre Zeitgenossen verspotten, die sich gerne etwas vorlügen lassen, in Philosophie und Lyrik, und daher mit ihren neugierigen Brillenaugen ernsthaft zusehen, um sofort die historische Rubrik zu finden, wo diese neuen Genie's ihren Platz haben: Goethe und Heine, Schopenhauer und Hartmann! Es lebe der feine "historische" Sinn der Deutschen! 29 [66] Alles redet fortwährend vom Volksgeist, vom Unbewussten, von den Ideen in der Geschichte usw., aber für die Gegenwart kommt nichts dabei heraus. Man scheint nur zu schätzen, was aus dem tiefsten Borne des Volksgeistes unbewusst entspringt und praktisch macht man alles, möglichst bewusst und leider möglichst ungeschickt, nach: englischen Parlamentarismus, französische Moden und englische Krämermoral und französische, ja internationale Fortschritt-Phraseologien, dazu Gemälde aller Zeiten und Völker, und das Befremdende gilt nun einmal dem modernen Deutschen als der schönste Luxus. Man denke sich Freitag an der Siegessäule: was für Gefühle schwellen ihn an! Dann steht es freilich bei uns, wie der Schalk Hartmann erzählt, dass wir uns "seit dem letzten Jahrhundert jenem idealen Zustande nähern, wo das Menschengeschlecht seine Geschichte mit Bewusstsein macht" (p. 291); wir ahnen sogar den noch idealeren Zustand, wo die Menschheit mit ihrer Geschichte und mit dem Weltprozess überhaupt ein Ende macht und sich sammt der Welt "in's Nichts zurückschleudert", vielleicht nach telegraphischer Verständigung über den Erdball hin, dass dafür die Majorität (s. p. 640) gewonnen sei und mit der polizeilichen Verordnung, dass nächsten Samstag Abends pünktlich 12 Uhr die Welt untergehen soll, die überstimmte Minorität mit eingeschlossen. "Von morgen an wird keine Zeit mehr sein": wozu Hartmann der Schalk citiren würde Offenbarung Johannis 10,6 (s. Philosophie des Unbewussten, p. 637).
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Derselbe Schalk bezeichnet als die "vierte und letzte" Phase der socialen Entwicklung die freie Association: der Arbeiter ist zur Reife zu erziehen, diese Erziehung (durch SchultzeDelitzsch'sche Vereine, bessere Schulbildung, Arbeiterbildungsvereine usw.) zu üben, das ist die wichtigste sociale Aufgabe der Gegenwart. p. 296: "Das Endziel dieser socialen Entwicklung würde das sein, dass jeder bei einer Arbeitszeit, die ihm für seine intellectuelle Ausbildung genügende Musse lässt, ein comfortables Dasein führe." 29 [67] Hartmann und Heine sind unbewusste Ironiker, Schalke gegen sich selbst: Kant leugnet zwar, dass jemand sich selbst belügen könne. 29 [68] "In die Zukunft schauen ist schwer, sagt Grillparzer in die Vergangenheit rein zurückblicken, noch schwerer. Ich sage rein, d. h. ohne von dem, was in der Zwischenzeit sich begeben oder herausgestellt hat, etwas in den Rückblick mit einzumischen." Grillparzer: "Der Grundfehler des deutschen Denkens und Strebens liegt in einer schwachen Persönlichkeit, zufolge dessen das Wirkliche, das Bestehende nur einen geringen Eindruck auf den Deutschen macht." 29 [69] Innerlichkeit - nach aussen Unehrlichkeit. Philosophie. 29 [70] Polybios sagt "gleichwie ein Thier durch den Verlust der Augen durchaus untauglich wird, so ist' die der Wahrheit beraubte Geschichte nichts als eine unnütze Erzählung." "Geschichte die Vorbereitung auf die Staatsverwaltung und die vorzüglichste Lehrerin, weil sie durch Erinnerung an die Unfälle Anderer die Abwechslungen des Glücks standhaft zu ertragen uns ermahne." 29 [71] Wie sich die kriegerischen Leit- und Lärmartikel der Kölnischen Zeitung während des letzten Krieges zu einer Demosthenischen Rede verhalten, so verhält sich dieses ausgeblasene Präparat, der historische Fiebermann, zu den historischen Thatenmännern. Ein Zeitungsredacteur mit der tyrtäischen Schlachttrompete ist eben so komisch als Demosthenes als Leitartikelschreiber. Wer etwas ordentliches thun will, muss vorempfinden und nicht nachempfinden und darf sich überhaupt nicht umsehn. 29 [72] Hegel "wenn der Geist einen Ruck macht, da sind wir Philosophen auch dabei." In der Philosophie ist es der Geist eines Volkes, der Geist einer Zeit, der sich darin zum Bewusstsein kommt. Nun da wird wohl auch bei Hartmann etwas von dem ironischen Bewusstsein zu finden <sein.>
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Gott soll "der in allen Völkergeistern thätige allgemeine Geist der Menschheit" sein, die Erhebung zum Genuss der Idee an und für sich soll Religion sein. Hegel: "die allgemeine Weltgeschichte, deren Begebenheiten die Dialektik der besonderen Völker geister, - die er auf Fläschchen hat, - das Weltgericht darstellt." "Dass der Geschichte und zwar wesentlich der Weltgeschichte ein Endzweck an und für sich zum Grunde liege und derselbe wirklich in ihr realisirt worden sei und werde - der Plan der Vorsehung - dass überhaupt Vernunft in der Geschichte sei, muss für sich selbst philosophisch und damit als an und für sich nothwendig ausgemacht werden." "Eine Geschichte ohne solchen Zweck und ohne solche Beurtheilung wäre nur ein schwachsinniges Ergehen des Vorstellens, nicht einmal ein Kindermährchen, denn selbst die Kinder fordern in den Erzählungen ein Interesse, das ist einen wenigstens zu ahnden gegebnen Zweck und die Beziehung der Begebenheiten und Handlungen auf denselben." Schluss: jede Erzählung muss einen Zweck haben, also auch die Geschichte eines Volkes, die Geschichte der Welt. D. h. Weil es "Weltgeschichte" giebt, muss auch im Weltprozess ein Zweck sein. D. h. wir fordern Erzählungen nur mit Zwecken: aber wir fordern gar keine Erzählungen vom Weltprozess, weil wir es für Schwindel halten, davon zu reden. Dass mein Leben keinen Zweck hat, ist schon aus der Zufälligkeit seines Entstehens klar; dass ich einen Zweck mir setzen kann, ist etwas anderes. Aber ein Staat hat keinen Zweck: sondern nur wir geben ihm diesen oder jenen. 29 [73] Zur Mythologie des Historischen. Hegel "was einem Volke geschieht und innerhalb desselben vorgeht, hat in der Beziehung auf den Staat seine wesentliche Bedeutung; die blossen Particularitäten der Individuen sind am entferntesten von jenem der Geschichte angehörigen Gegenstand." Der Staat ist aber immer nur das Mittel zur Erhaltung vieler Individuen: wie sollte er Zweck sein! Die Hoffnung ist, dass bei der Erhaltung so vieler Nieten auch einige mit geschützt werden, in denen die Menschheit kulminirt. Sonst hat es gar keinen Sinn, so viele elende Menschen zu erhalten. Die Geschichte der Staaten ist die Geschichte vom Egoismus der Massen und von dem blinden Begehren, existiren zu wollen: erst durch die Genien wird dieses Streben einigermassen gerechtfertigt, insofern sie dabei existiren können. Particularund Collectiv-Egoismen im Kampf mit einander - ein Atomenwirbel der Egoismen - wer wird da nach Zwecken suchen wollen! Durch das Genie kommt bei jenem Atomenwirbel doch etwas heraus und jetzt denkt man milder über das Sinnlose jenes Treibens: etwa als ob ein blinder Jäger viele hundert Male umsonst schiesst und endlich, aus Zufall, einen Vogel trifft. Endlich kommt doch was dabei heraus, sagt er sich und schiesst weiter. 29 [74] Hegel "das Interesse einer Biographie scheint direkt einem allgemeinen Zwecke gegenüber zu stehen, aber sie selbst hat die historische Welt zum Hintergrunde, mit welchem das Individuum verwickelt ist." Daher also die Entschuldigungstitel "Demosthenes und seine Zeit" usw. Wenn es 10 Biographien aus Einer Zeit giebt, so hat man zehn Mal dasselbe: Buchmacherei! Über den "Geist der Zeit des Ambrosius und sogar - mit Lichter zu reden etwas über die individuelle Paticularität Ambrosius, soweit sie mit dem Hintergrunde dieser Zeit verwickelt ist." Übrigens wäre alles ganz schön, wenn es nur nicht so absurd wäre, von "Weltgeschichte" zu reden: gesetzt es gäbe einen Weltzweck, so wäre es unmöglich ihn zu wissen, weil wir Erdflöhe und nicht Weltregierer sind. Jede Vergötterung der abgezogenen Allgemeinbegriffe, 441
Staat, Volk, Menschheit, Weltprozess hat den Nachtheil, die Bürde des Individuums kleiner zu machen und seine Verantwortung zu erleichtern. Wenn es auf den Staat ankommt, dann liegt wenig am Einzelnen: wie jeder Krieg zeigt. In's Moralische gewendet: wer dem Menschen den Glauben nimmt, dass er etwas Fundamental-Werthvolleres sei als alle die Mittel zu seiner Existenz, der macht ihn schlechter. Die Abstracta sind seine Erzeugnisse, seine Mittel zur Existenz - nichts mehr, nicht seine Herren. Es muss ihm als dem moralischen Wesen, jederzeit erlaubt sein, im Kampfe gegen übermächtig werdende, zu Zwecken umgedeutete Mittel zu Grunde zu gehen, d. h. Märtyrer zu werden: um nicht propter vitam vitae perdere causas. 29 [75] Was der Mensch als Ursache und Wirkung in einander greifen sieht, ist er geneigt, als Mittel und Absicht zu verbinden. Schiller: "eine Erscheinung nach der andern fängt an, sich dem blinden Ohngefähr, der gesetzlosen Freiheit zu entziehen und sich einem übereinstimmenden Ganzen - das freilich nur in seiner Vorstellung vorhanden ist - als ein passendes Glied einzureihen." Ich stelle als allgemeinen Kanon auf, die Geschichte der Völker mit Anwendung eines Minimums von Geist und Absicht, im Ganzen rein materiell, nach Analogie von stossenden Atomencomplexen, zu erklären. Schwerkraft Dummheit. - Gegen die Mythologie. 29 [76] Gewiss ist das Bedürfniss des Umgangs mit grossen Vorgängern das Zeichen einer höheren Anlage, aber eben so sehr hat Goethe Recht, dass ein Lump freilich ein Lump bleibt und dass eine kleinliche Natur durch einen selbst täglichen Verkehr mit der Grossheit antiker Gesinnung um keinen Zoll grösser werde. Wenn aber solche kleinliche Naturen nun gar noch mit vergangnen Kleinheiten und Schlechtigkeiten vertraut umzugehen lernen und in der Geschichte die Wirkungen des Kleinen mit Vorliebe herausspüren, so werden sie von Tag zu Tag immer koboldartiger, schadenfroher, tückischer und treiben ihre üble Behendigkeit zum Ärgerniss aller Rechten und Grossen. 29 [77] Wie sehr das historische Wissen tödtet, hat Goethe einmal ausgedrückt. "Hätte ich so deutlich wie jetzt gewusst, wie viel Vortreffliches seit Jahrhunderten und Jahrtausenden da ist, ich hätte keine Zeile geschrieben, sondern etwas anderes gethan." 29 [78] Goethe: "unsre Zeit ist so schlecht, dass dem Dichter im umgebenden menschlichen Leben keine brauchbare Natur mehr begegnet. Um sich nun aufzuerbauen, griff Schiller zu zwei grossen Dingen: zu Philosophie und Geschichte." Goethe "eigentlich ist es nicht mein Bestreben, in den düstern Regionen der Geschichte bis auf einen gewissen Grad deutlicher und heller zu sehn - Niebuhr war es eigentlich und nicht die römische Geschichte, was mich beschäftigte. So eines Mannes tiefer Sinn und emsige Weise ist eigentlich das, was uns auferbaut. Die sämmtlichen Ackergesetze gehen mich eigentlich gar nichts an, aber die Art, wie er sie aufklärt, wie er mir die complicirten Verhältnisse deutlich macht, das ist's, was mich fördert, was mir die Pflicht auferlegt, in den Geschäften, die ich übernehme, auf gleiche gewissenhafte Weise zu verfahren." 442
Goethe an Lavater "Resultate und Abstractionen mag ich nicht, Geschichte und Einzelheiten will ich nicht." 29 [79] Goethe "Schiller erscheint hier, wie immer, im absoluten Besitz seiner erhabnen Natur; er ist so gross am Theetisch, wie er es im Staatsrath gewesen sein würde. Nichts geniert ihn, nichts engt ihn ein, nichts zieht den Flug seiner Gedanken herab; was in ihm von grossen Ansichten lebt, geht immer frei heraus, ohne Rücksicht und ohne Bedenken. Das war ein rechter Mensch, und so sollte man auch sein!" 29 [80] Mit der historischen Bildung steht es wie mit der Gelehrsamkeit. Lichtenberg sagt ich glaube, dass einige der grössten Geister, die je gelebt haben, nicht halb so viel gelesen hatten und bei weitem nicht so viel wussten, als manche unserer mittelmässigen Gelehrten. Und mancher unserer sehr mittelmässigen Gelehrten hätte ein grösserer Mann werden können, wenn er nicht so viel gelesen hätte." Lichtenberg "sollte es nicht sehr viel besser um das menschliche Geschlecht stehen, wenn wir gar keine Geschichte, wenigstens keine politische, mehr hätten? Der Mensch würde mehr nach den jedesmaligen Kräften handeln, die er hat; da jetzt hier und da das Exempel, gegen einen, den es bessert, Tausende schlimmer macht." Goethe "Wer sich von nun an nicht auf eine Kunst oder Handwerk legt, der wird übel daran sein. Das Wissen fördert nicht mehr, bei dem schnellen Umtrieb der Welt; bis man von allem Notiz genommen hat, verliert man sich selbst." 29 [81] Durch die historischen Studien ist der Gegensatz von "Gebildet" und "Ungebildet" in die Welt gekommen: was hat der produktive Geist dabei verloren! Es ist unaussprechlich! Er hat das Zutrauen zu seinem Volk verloren, weil er dessen Empfindung gefälscht und verfärbt weiss. Mag auch diese Empfindung bei einem kleinen Theile feiner und edler geworden sein: das entschädigt ihn nicht, denn er redet dann gleichsam zu einer Sekte und fühlt sich nicht mehr nothwendig in seinem Volke. Er vergräbt seinen Schatz lieber, weil er einen Ekel empfindet, von einer Classe anspruchsvoll patronisirt zu werden, während sein Herz voll ist von Mitleid mit Allen. Es ist mit den Religionen zu Ende, wie mit den Künsten, wenn es nicht einem blitzenden Gotte gelingt, jene Mauer niederzuwerfen. 29 [82] Die Zahl der jährlich erscheinenden historischen Schriften? Dazu noch zu rechnen, dass fast die ganze Alterthumswissenschaft noch hinzugehört! Und überdiess in fast allen Wissenschaften beinahe die überwiegende Masse Schriften historisch ist, ausgenommen die Mathematik und einzelne Disciplinen der Medecin und Naturwissenschaft. Ich wundere mich immer, dass die Menschen nicht einen Widerwillen gegen sich bekommen, wenn sie immer das Vergangne betrachten. Aber neben einander steht das historische Fieber und die grösste augenblickliche Eitelkeit. 443
29 [83] Goethe Natur. Gesetzt es wäre wahr - dann fehlt der Wahn: bei grossen Dingen, die nie ohn' ein'gen Wahn gelingen. 29 [84] "Nur durch eine erhöhte Praxis, sagt Goethe, sollten die Wissenschaften auf die äussere Welt wirken; denn eigentlich sind sie alle esoterische und können nur durch Verbesserung irgend eines Thuns exoterisch werden. Alle übrige Theilname führt zu nichts. - Dass man auch die übrige Welt dazu beruft und ihr davon Notiz giebt, wie es in der neueren Zeit geschieht, ist ein Missbrauch und trägt mehr Schaden als Nutzen." Goethe "Durchaus aber bleibt ein Hauptkennzeichen, woran das Wahre vom Blendwerk am sichersten zu unterscheiden ist: jenes wirkt immer fruchtbar und begünstigt den, der es besitzt und hegt; dahingegen das Falsche an und für sich todt und fruchtlos daliegt, ja sogar wie eine Nekrose anzusehen ist, wo der absterbende Theil den lebendigen hindert die Heilung zu vollbringen." 29 [85] "Brav, meiner Treu, Nachbar Schlehwein! Seht ihr, der liebe Gott ist ein guter Mann; wenn ihrer zwei auf Einem Pferde reiten, so muss schon einer hinten aufsitzen." 29 [86] "Fragen Sie sich selbst, sagt Hume, oder jeden ihrer Bekannten, ob sie die letzten zehn oder 20 Jahre ihres Lebens noch einmal zu durchleben wünschten. Nein! Aber die nächsten 20 werden besser sein, sagen sie And from the dregs of live hope to rec<e>ive, What the first sprightly running could not give." Das Elend treibt die Menschen in die Zukunft, das Elend treibt sie in eine frühere Vergangenheit, um sich daran das relative Glück der Gegenwart zu demonstriren oder sich zu trösten, dass andern es doch einmal gut gegangen. Der Trieb nach Glück ist es, der die Menschen abhält, die Lehre ihres Tages, Resignation, zu finden; da das Glück nicht da ist, muss es offenbar kommen, schliessen sie, oder dagewesen sein. Oder es ist schon da, verglichen mit dem früheren Unglück usw. Was jeden Menschen vorwärts treibt, treibt sie alle vorwärts: sie benutzen die Geschichte zum Glücklicherwerden in der Zukunft. Es giebt zwei Betrachtungsarten des Vergangnen: für die eine genügt jeder Zeitraum, jedes Volk, jeder Tag; die andre ist unersättlich, weil sie nirgends die Antwort findet, die sie sucht: wie sich's glücklich lebt. Nach der ersten lebt der Weise, nach der zweiten, der historischen,
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der Unweise, thätige Mensch. Nun giebt es eine Art, Geschichte zu treiben, die die Menschen hindert, thätig zu sein, ohne sie zur Resignation zu bringen. Das ist unsere Manier. David Hume "diese Welt ist, im Vergleiche mit einem höhern Maassstabe, sehr gebrechlich und unvollkommen. Sie war nur der erste rohe Versuch einer noch jugendlichen Gottheit, welche nachher dieselbe aus Schaam über die misslungne Arbeit im Stiche liess: sie ist vielleicht nur das Werk irgend einer abhängigen Untergottheit und der Gegenstand des Hohngelächters höherer Wesen: vielleicht ist sie die Geburt des Alters und der Schwachheit, einer der Last der Jahre unterliegenden Gottheit und hat, seit dem Tode derselben, nach dem ersten Anstosse und der von ihr mitgetheilt erhaltenen Thätigkeit, sich auf gut Glück fortbewegt." Hume: "wenn ein Fremder plötzlich auf unsere Erdkugel verschlagen würde, so würde ich, um ihm ein Vorbild ihrer Leiden zu geben, demselben ein mit Krankheiten angefülltes Hospital zeigen, oder ein Gefängniss, das von Missethätern oder Schuldnern überladen ist, oder ein Schlachtfeld mit Leichen übersäet, eine untergehende Flotte auf der See, eine Nation, die unter Tyrannei, Hungersnoth und Pest dahinschmachtet. Um ihm die fröhliche Seite des Lebens zu zeigen und ihm einen Begriff von den Vergnügungen desselben zu geben - wohin soll ich ihn führen? Auf einen Ball, in eine Oper, an einen Hof? Mit Recht würde er glauben, ich wollte ihm nur eine andre Art von Kümmernissen und Sorgen zeigen." 29 [87] Jemanden über den Sinn des Erdenlebens aufzuklären - das eine Ziel; jemanden im Erdenleben festzuhalten und mit ihm zahlreiche kommende Generationen (wozu es nöthig ist, ihm die erste Betrachtung vorzuenthalten) - das ist das andre Ziel. Das erste sucht nach einem Quietiv für das Wollen, das zweite auch: das erste findet es in der nächsten Nähe und ist bald satt am Dasein, das andre ist unersättlich und schweift in jede Ferne. Bei der zweiten Art sollte eigentlich die Vergangenheit immer nur pessimistisch betrachtet werden - um nämlich die Gegenwart relativ erträglich zu finden. Jedoch wieder nicht so pessimistisch, dass sie jene erste Lehre von der Werthlosigkeit gäbe, sondern so, dass sie zwar schlechter ist als die Gegenwart, und der Gegenwärtige mit ihr nicht tauschen mag, aber doch einen Fortschritt in sich zeigt, eben zur Gegenwart hin, damit der Glaube bekräftigt werde, dass das Glück bei einem weitern Fortschreiten zu erreichen sei. Je nachdem also eine Zeit ihr eignes Elend erkennt, um so dunkler wird sie die Vergangenheit zeichnen, je weniger, um so heller. Und die Glücklichen d. h. die Behaglichen werden alles Vergangene im fröhlichen Lichte sehn, die Gegenwart aber im fröhlichsten. Aber überhaupt wird der Trieb, rückwärts zu sehen, um so stärker sein, je grösser die Noth der Gegenwart: für die fröhlich-thätigen Zeiten ist Geschichte wenig nöthig und wird, für die Behäbigen, sogar zum Luxus. Bei uns ist nun der historische Trieb ausserordentlich stark wie noch nie: und trotzdem ist die Überzeugung von dem Glück der Gegenwart eben so stark. Ein Widerspruch! Hier scheint das natürliche Verhältniss zu fehlen. Man denke an Livius' Ziel, an Tacitus, an Macciavell -Flucht vor der Gegenwart und Trost - oft genügt schon die Betrachtung, dass es einmal anders war, oft dass es ebenso war, oft dass es besser war. Unsre Zeit dagegen capricirt sich auf die objective Geschichtsschreibung, das heisst Geschichte als Luxus: und verräth das allergrösste Behagen an sich selbst. 445
Geschichte treiben ist zum luxuriirend en Triebe geworden: deshalb soll man sich der Nöthe bewusst werden und damit ein naturgemässes Verhältniss von Geschichte und gegenwärtiger Noth herstellen. Wie kommt es, dass das Nothgefühl so schwach geworden ist? Von der schwachen Persönlichkeit. Der luxuriirende historische Trieb macht diese aber immer schwächer. 29 [88] Es giebt zwei Arten das Vergangne zu betrachten, und wenn ich die eine die historische, die andre die unhistorische nenne, so will ich doch damit die erstere nicht gelobt, die letztere noch weniger etwa getadelt haben. Nur wolle man mit der zweiten nicht die schlecht-historische verwechseln, d. h. die erste in ihrer Entartung oder Unreife. Die unhistorische Art der Betrachtung findet in jedem Zeitmoment, jedem Erlebniss, unter jedem Himmel und jedem Volke, den Sinn des Menschenlebens überhaupt: und wie alle Sprachen die gleichen Bedürfnisse des Menschen ausdrücken, so scheint dem unhistorischen Betrachter jener allen Geschichten im Grossen und Kleinen zu Grunde liegende Ursinn von innen heraus hellseherisch erleuchtet, so dass die mannichfachen Hieroglyphen ihn nichts mehr kümmern: Bettler und Fürst, Dorf und Stadt, Griechen und Türken - alle lehren über das Dasein das Gleiche. Solche Betrachtung ist bei uns selten: wir fordern Historie, wie wir den geschichtlichen Völkern und Personen soweit den Vorzug geben, dass wir die anderen verachten. Am Ganges leben nach unserer Meinung schwach gewordene, in heissem Clima und Trägheit überdrüssige Menschen; wir werfen ihnen die schwache Persönlichkeit vor und erklären ihre unhistorische Betrachtungsart als Zeichen der Stagnation. Vielleicht aber ist auch unsere Forderung geschichtlicher Menschen und Völker nur ein occidentalisches Vorurtheil. Gewiss ist wenigstens, dass die Weisen aller Zeiten so unhistorisch gedacht haben und dass durch Jahrtausende von historischen Erlebnissen auch keinen Schritt breit mehr Weisheit zu erlangen ist. Die folgende Untersuchung aber wendet sich an die Unweisen und Thätigen, um zu fragen, ob nicht gerade unsre jetzige Manier Geschichte zu treiben erst recht der Ausdruck schwacher Persönlichkeiten ist: während wir doch mit dieser Manier so weit als möglich von jenem unhistorischen Betrachten und Weisewerden entfernt sind. Nehmen wir an, die historische Untersuchung vermöchte in Betreff von etwas Lebendigem die Wahrheit zu erreichen, z. B. in Betreff des Christenthums: dann hätte sie jedenfalls den Wahn zerstört, der um alles Lebendige und Thätige, wie eine Atmosphaere, sich breitet, nämlich "bei allen grossen Dingen, "die nie ohn' einigen Wahn gelingen." Man hätte durch die Beseitigung des Wahns, z. B. in Betreff der Religion, die Religiosität bei sich selbst, d. h. die productive Stimmung, zerstört und hätte ein kaltes leeres Wissen, nebst dem Gefühle der Enttäuschung in den Händen zurück behalten. 29 [89] Wer einmal nicht mehr in jedem Sperling, der vom Dache fällt, das Walten eines persönlichen Gottes sieht, der wird viel besonnener sein, weil er jetzt keine mythologischen Wesen, wie die 446
Idee, das Logische, das Unbewusste usw. an dessen Stelle setzt, sondern den Versuch macht, mit einer blinden Weltbeherrscherin das Bestehen der Welt verständlich zu machen. Mag er also einmal von Naturzwecken absehn, noch mehr von dem Zwecke, den ein Volksgeist, oder gar den ein Weltgeist zu erfüllen habe. Wage er es, den Menschen als ein zufälliges Ohngefähr, als ein unbeschütztes und jedem Verderben preisgegebenes Nichts zu betrachten: von hier aus gelingt es ebenfalls den Willen des Menschen zu brechen, wie von dem einer göttlichen Regierung. Der historische Sinn ist nur eine verkappte Theologie "wir sollen es noch einmal herrlich weit bringen!" Ein Endzweck schwebt dem Menschen vor. Das Christenthum, das die Menschheit verdammt und seltne Exemplare herausnimmt, ist deshalb durch und durch unhistorisch, weil es leugnet, dass bei den folgenden Jahrtausenden etwas herauskäme, was nicht jedem jetzt schon und seit 1800 Jahren zu Gebote stünde. Wenn trotzdem die gegenwärtige Zeit durch und durch historisch gesinnt ist, so giebt sie zu verstehen, dass sie nicht mehr von dem Christenthum niedergehalten ist, dass sie wieder unchristlich ist, wie sie es vor ein Paar Jahrtausenden war. 29 [90] I. II. III. IV. V.
Historisch - Unhistorisch. Monumental -Antiquarisch. Wirkungen der Hypertrophie. Ursachen derselben. Hartmann als Illustration zum Schluss. Die schwache Persönlichkeit. Deshalb ist jener Trieb zu bezwingen, er ruht auf einer Schwäche.
(Mythologie der Geschichte.) Mittel gegen das historische Fieber: 1) Keine Geschichte? 2) Leugnung aller Zwecke: das Atomengewirr. 3) Goethe Naturwissenschaft. 4) Pflege des unhistorischen Sinns: Philosophie - Religion Kunst. Seher: Zukunft. 29 [91] Viele Schwachen machen noch nichts Furchtbares: wohl aber viele Dummen, die geben den Esel in concreto, ein furchtbares Thier. Dumm ist die Zeit nicht. Starker, freue dich der Kraft. 29 [92] Wenn solche Historiker wie Ranke allgemein werden, belehren sie nicht: solche Sätze wusste man längst vor ihrer Arbeit: sie erinnern an das unsinnige Experimentiren, über das Zöllner in den Naturwissenschaften klagt.
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29 [93] Mirabeau: si j'ai dit la vérité, pourquoi ma vehémence en l'exprimant, diminuerait elle de son prix? 29 [94] - Der Weg, auf den die Blindheit der letzten Generationen hintreibt, ist der, an dessen Ende, nach einem wahren Wort des Herrn von Stein, "die Juden die herrschende Klasse, der Bauer ein Lump und der Handwerker ein Pfuscher sein wird: wo alles aufgelöst sein wird und nur das Schwert herrscht". 29 [95] Niebuhr (fere): "zu einer Sache wenigstens ist die Geschichte, klar und ausführlich begriffen, nutz: dass man weiss, wie auch die grössten und höchsten Geister unsres menschlichen Geschlechts nicht wissen wie zufällig ihr Auge die Form angenommen hat, wodurch sie sehen, und wodurch zu sehen sie von Jedermann gewaltsam fordern, gewaltsam nämlich, weil die Intensität ihres Bewusstseins ausnehmend gross ist. Wer dies nicht ganz bestimmt und in vielen Fällen weiss und begriffen hat, den unterjocht die Erscheinung eines mächtigen Geistes, der in eine gegebene Form die höchste Leidenschaftlichkeit bringt: ist der Leser unreif, so bewirkt das unmittelbare Anschauen des täglichen intellectuellen Lebens eines Mächtigen in seiner Seele den gleichen Nachtheil, den Romanlecture für ein schwaches Mädchen hat." 29 [96] "Objectivität des Historikers" ist ein Unsinn. Man meint, es bedeute, dass ein Ereigniss in allen seinen Motiven und Folgen so rein angeschaut werde, dass es keine Wirkung mehr thut, nämlich ein reiner intellectueller Process bleibt: wie die Landschaft für den Künstler, der sie nur darstellt. "Interesseloses Anschauen", ein ästhetisches Phänomen, Abwesenheit aller Willensregungen. Mit "objectiv" ist also ein Zustand im Historiker gemeint, die künstlerische Beschaulichkeit: ein Aberglaube aber ist es, dass das Bild, das die Dinge in einem solchermassen gestimmten Menschen zeigen, das wahre Wesen der Dinge offenbare. Oder meint man, dass in jenem Zustande die Dinge sich förmlich abphotographiren, meint man, es sei ein rein passiver Zustand? Im Gegentheil: es ist die eigentliche Zeugungszeit des Kunstwerks, ein Compositionsmoment allerhöchster Art: der Einzelwille schläft dabei. Das Gemälde ist künstlerisch wahr, gewiss noch nicht historisch; es sind die facta nicht, sondern deren Gewebe und Zusammenhang, der hier hinzugedichtet ist und der zufällig wahr sein kann: ist er aber falsch, immer noch objectiv". Objectiv Geschichte denken ist die stille Arbeit des Dramatikers: alles an einander denken, alles Vereinzelte zum Ganzen zu weben: überall mit der künstlerischen Voraussetzung, dass der Plan, der Zusammenhang darin sei: eine Voraussetzung, die gar nicht empirisch-historisch ist und aller "Objectivität", wie man sie gewöhnlich versteht, widerstreitet. Dass der Mensch die Vergangenheit überspinnt und bändigt, ist Kunsttrieb: nicht Wahrheitstrieb. Die vollkommene Form einer solchen Geschichtsschreibung ist rein Kunstwerk: ohne einen Funken der gemeinen Wahrheit.
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Ist es erlaubt, dass alles küntlerisch betrachtet werde? Für das Vergangne wünsche ich vor allem die moralische Abschätzung. Also eine bedenkliche Verwechslung des Künstlerischen und des Moralischen: wodurch das Moralische abgeschwächt wird. Nun aber ist meistens jene Objectivität nur eine Phrase, weil die künstlerische Potenz fehlt. An Stelle jener künstlerischen Ruhe tritt die schauspielerische Affectation der Ruhe: der Mangel an Pathos und moralischer Kraft kleidet sich als überlegne Kälte der Betrachtung. In gemeineren Fälle tritt die Banalität, und Allerweltsweisheit, die allerdings gar nichts Aufregendes hat, an Stelle der künstlerischen Interesselosigkeit. Alles Nichtaufregende wird gesucht Wo nun gerade das Höchste und Seltenste behandelt wird, da ist die gemeine und flache Motivation empörend, wenn sie aus der Eitelkeit des Historikers herstammt. (Swift : "jeder Mann hat gerade soviel Eitelkeit, als es ihm am Verstande mangelt.") Soll der Richter kühl sein? Nein: er soll nicht parteiisch sein, nicht Nutzen und Schaden für sich im Auge haben. Vor allem muss er wirklich über den Parteien stehen. Ich sehe nicht ein, weshalb ein Spätgeborner schon deshalb Richter aller früher Gebornen sein solle. Die meisten Historiker stehen unter ihren Objecten! Man nimmt jetzt an: der, den ein Moment der Vergangenheit gar nichts angeht, sei berufen ihn darzustellen: Philologen und Griechen verhalten sich meistens so zu einander: sie gehen sich nichts an. Das nennt man auch "Objectivität": selbst zum Photographiren gehört, ausser Object und Platte, das Licht: doch meint man, es genüge Object und Platte. An strahlendem Sonnenlicht fehlt es: im besten Falle glaubt man, dass das Oellicht der Studirstube genüge. Ganz unbesonnene Menschen glauben überhaupt dass sie und ihre Zeit, in allen Popularansichten, Recht habe: wie jede Religion es von sich glaubt. Sie nennen "Objectivität" das Messen vergangner Meinungen an den Allerweltsmeinungen, in denen sie den Canon aller Wahrheiten suchen. Übersetzung der Vergangenheit in die Trivialität der Gegenwart ist ihre Arbeit. Feindselig sind sie gegen jede Geschichtsschreibung, die diese Popularmeinungen nicht für kanonisch hält: das soll "subjectiv" sein! Nur aus der höchsten Kraft der Gegenwart dürft ihr das Vergangne deuten: nur in der höchsten Anspannung werdet ihr errathen, was in dem Vergangnen wissenswürdig ist. Gleiches durch Gleiches! Sonst seid ihr verloren, sonst zieht ihr das Vergangne zu euch nieder. Glaubt einer Geschichtsschreibung nicht, wenn sie nicht in den Händen der seltensten Geister ist: ihr werdet es immer merken, welcher Qualität ihr Geist ist, wenn einmal ein allgemeiner Satz ausgesprochen wird. Es kann Keiner zugleich ein grosser Historiker und ein Flach- oder Duselkopf sein. Verwechselt mir aber die Arbeiter nicht: z. B. les historiens de Ms. Thiers wie man in Frankreich naiver sagt. Ein grosser Gelehrter und zugleich ein Flachkopf - das ist möglich! Also: Geschichte bedarf der Thätige, Geschichte schreibt der Erfahrne! Wer nicht Einiges grösser und höher erlebt hat als alle, wird auch nichts aus der Vergangenheit zu deuten vermögen. - Der Spruch der Vergangenheit ist immer ein Orakelspruch: nur als Seher in die Zukunft, als Wissende der Gegenwart werdet ihr ihn deuten. Man erklärt jetzt die Wirkung Delphi's besonders daraus, dass diese Priester genaue Kenner des Vergangnen waren: jetzt geziemt sich zu wissen, dass nur der, welcher die Zukunft baut, ein Recht habe, die Vergangenheit zu richten: als Seher nur ist er Historiker. Die Gegenwart ist schlecht und, nur eine Linie. 449
29 [97] 1. Keine Betrachtung des Vergangnen. Thier - Leopardi. 2. Monumental - Antiquarisch. 3. "Objectivität". 4. Hypertrophie aus Schwäche. 5. Wirkungen. 6. Erziehung darin. 7. Mythologie der Historie. 8. Ursachen. 9. Hartmann. 10. Reaction - Atomengewirr. 11. Gegenmittel. 12. Maassstab der zukünftigen Historiker. 29 [98] Die Heerde weidet an uns vorüber: sie fühlt keine Vergangenheit, springt frisst ruht verdaut, springt wieder und so vom Morgen bis zur Nacht und von Tag zu Tage, kurz angebunden mit ihrer Lust und Unlust, nämlich an den Pflock des Augenblicks: so dass der Mensch sie sehend seufzen muss und sie anreden möchte, wie Giacomo Leopardi im Nachtgesang des Hirten in Asien: Ach wie muss ich dich beneiden! Nicht nur weil frei du scheinest Beinah von allen Leiden, Mühsal, Verlust, die schlimmste Beängstigung im Augenblick vergessend Mehr noch, weil nie der Überdruss dich quälet! Wir seufzen aber über uns, dass wir das Vergangne nicht los werden können: während es uns scheinen will, als ob das Thier glücklich sein müsse, weil es überdrüssig wird, sofort vergisst und fortwährend den erlebten Augenblick in Nebel und Nacht zurückweichen sieht. So geht es auf in der Gegenwart, wie eine Zahl in einer andern ohne Rest aufgeht, und erscheint ais das ganz und gar, was es ist, in jedem Moment, ohne alle Schauspielerei und 450
absichtliches Verbergen. Wir dagegen leiden alle an dem dunkeln und unauflöslichen Reste des Gewesenen und sind etwas anderes als was wir erscheinen, <wir> fühlen uns ergriffen, die Heerde oder, in vertrauterer Nähe, das Kind zu sehen, das noch ohne dieses Leiden zwischen den beiden Thoren der Vergangenheit und Zukunft in allzu kurzer und allzu seliger Blindheit spielt, ja vielleicht nur zu spielen scheint, wir scheuen uns sein Spiel zu stören und es aus der Vergessenheit zu wecken - weil wir wissen, dass mit dem Wort "es war" das Leiden und der Kampf beginnt und das Leben als ein unendliches Imperfectum inaugurirt wird: zuletzt drückt der Tod auf diese Erkenntniss, dass das Dasein ein ewiges Imperfectum ist - als ewiges Gewesensein -, sein Siegel, indem er zwar das begehrte Vergessen bringt, aber die Gegenwart und Dasein selbst dabei unterschlägt. Wir müssen also das Vergangne betrachten - das ist nun einmal Menschenloos: unter diesem harten Joche hart zu werden soll keinem erspart sein, und wenn einer sehr hart geworden ist, bringt er es vielleicht sogar so weit, das Menschenloos eben wegen jenes Nichtvergessenkönnens zu preisen, eben deshalb weil das Vergangne in uns nicht sterben kann und uns mit der Unruhe eines Gespenstes rastlos weiter treibt, die ganze Stufenleiter alles dessen hinauf, was die Menschen gross, erstaunlich, unsterblich göttlich nennen. 29 [99] Dass die gewöhnliche Geschichtsschreibung als angenehm gilt, führe ich auf denselben Grund zurück, aus dem eine gewöhnliche Unterhaltung als angenehm gilt: ihr Character ist aus Höflichkeit und Lüge zusammengesetzt. 29 [100] Diejenige Betrachtung der Geschichte ist die beste, welche die fruchtbarste ist, aber für das Leben. Was nützt es, die Ursachen streng zu sammeln, daraus das Factum herzustellen und so zu mortificiren! Bei einer anderen Betrachtung hätte es noch lebendig weiterzeugen können: sobald es als Resultat der Rechnung erscheint, wirkt es nicht mehr, sondern vergeudet alle Kräfte in der Erklärung seiner selbst. 29 [101] Antiquarisch - Monumental. Alle Gefahren beider vereinigt in der "Objectivität". Welche Menschen dadurch an die Historie gekommen sind Allgemeine Hypertrophie dadurch eingetreten. Niebuhr - Goethe fanden kein Verhältniss; Niebuhr siegte. Das mag gut sein, des Nationalen wegen: aber jetzt ist die höchste Zeit zurück zu gehen. 29 [102] Einwirkung auf's Leben. Natürliche Bedingungen bei Monumentalem und Antiquarischem.
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Historie als Luxus - Einwirkung rein negativ. Diese Triebe bringen Gefahren für die Wahrheit der Geschichte mit sich: deshalb hat man sie exstirpiren wollen: aber jetzt hat Historie keinen Sinn. A. Nachmachen - nicht nachmachen - Resultat: Assimilation. Gesichtspunkt des Monumentalen. Verehren, Dank: Resultat Treue - Motiv des Antiquarischen - Pietät. "Es war einmal so" "Trost". B. Historie ohne alle subjectiven Anlässe, ohne Nachahmung, Pietät, gegenwärtige Noth. Höchste Schätzung des Wahren ein Characteristikum der Zeit: Kant - Lüge. Jetzt reines Begreifen, ohne Beziehung zum Leben - übernimmt die Ausartung des Antiquarischen (das Todte ohne Verehrung) und des Monumentalen (das Lebende ohne Nachahmung). Schilderung der Objectivität. C. Von welchen Trieben lebt dieser Luxus (da die natürlichen fehlen). Motive der Hypertrophie. D. E. F. G.
Consequenzen solcher Historiker für die Historie selbst. Neue Mythologie. Consequenzen für das Volk, Kunst usw. Politik, Religion. Letzte Consequenz für das Moralische - Hartmann. Heilmittel: Historie kein Luxus.
29 [103] Was bedeutet Historie für die Bildung einer Cultur? Sie warnt und räth ab: sie ist gleich dem Dämonion zu benutzen: sonst nicht. 29 [104] Historie ohne Nachahmung (ohne sich dem Grossen zu unterwerfen), ohne Pietät (ohne die Atmosphaere des Lebendigen zu schonen), ohne gegenwärtige Noth - - 29 [105] Niebuhr schreibt 1796, dass es mit Deutschland's Litteratur sichtbarlich auf die Neige gehe, dass Schiller und Goethe schlimmer als todt seien "soll Voss allein stehen bleiben?" Als Grund wird zunächst angeführt "der gewöhnliche Naturgang, der sich durchgängig bewiesen hat bei allen Völkern". Mich freuts die Erbitterung über den heurigen Schillerschen Almanach mit Baggesen zu theilen." 29 [106]
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Hölderlin "du wirst durchaus finden, dass jetzt die menschlichen Organisationen, Gemüther, welche die Natur zur Humanität am bestimmtesten gebildet zu haben scheint, dass diese jetzt überall die unglücklicheren sind, eben weil sie seltener sind als sonst in anderen Zeiten und Gegenden. Die Barbaren um uns her zerreissen unsre besten Kräfte, ehe sie zur Bildung kommen können, und nur die feste tiefe Einsicht dieses Schicksals kann uns retten, dass wir wenigstens nicht in Unwürdigkeit vergehen. Wir müssen das Treffliche aufsuchen, zusammenhalten mit ihm, so viel wir können, uns im Gefühle desselben stärken und heilen und so Kraft gewinnen; das Rohe, Schiefe, Ungestalte nicht nur im Schmerz, sondern als das, was es ist, was seinen Character, seinen eigenthümlichen Mangel ausmacht, zu erkennen." 29 [107] Hölderlin, "auch ich, mit allem guten Willen, tappe mit meinem Thun und Denken diesen einzigen Menschen (den Griechen) in der Welt nur nach und bin in dem, was ich treibe und sage, oft nur um so ungeschickter und ungereimter, weil ich wie die Gänse mit platten Füssen im modernen Wasser stehe und unmächtig zum griechischen Himmel emporflügle." 29 [108] Den grössten Nutzen, wenn sich alles (pythagoreisch) wiederholte: dann müsste man die Vergangenheit und Constellation kennen, um die Wiederholung genau zu erkennen. Nun wiederholt sich nichts. 29 [109] Man klagt, dass der Cosmopolitismus vorüber sei: in der Geschichte besteht er, als Residuum: aber die Voraussetzung, die universale Pietät ist verloren, der Wunsch überall zu helfen. 29 [110] Goethe an Sch "Sie haben ganz Recht, dass in den Gestalten der alten Dichtkunst, wie in der Bildhauerkunst, ein Abstractum erscheint, das seine Höhe nur durch das, was man Styl nennt, erreichen kann. Es giebt auch Abstracta durch Manier, wie bei den Franzosen." 29 [111] Epische und dramatische Behandlung des Vergangenen. Schiller: "der epische Dichter schildert uns bloss das ruhige Dasein und Wirken der Dinge nach ihren Naturen; sein Zweck liegt schon in jedem Punkte der Bewegung; darum eilen wir nicht ungeduldig zu einem Ziele, sondern verweilen mit Liebe bei jedem Schritte." 29 [112] Goethe "es ist doch nur die Neigung, die alles sehen kann, was das Kunstwerk enthält, und die reine Neigung, die dabei noch sehen kann, was ihm mangelt." Goethe "es ist lustig zu sehen, was diese Menschenart eigentlich geärgert hat, was sie glauben, dass einen ärgert, wie schaal leer und gemein sie eine fremde Existenz ansehen, wie sie ihre Pfeile gegen das Aussenwerk der Erscheinung richten, wie wenig sie auch nur ahnen, in welcher unzugänglichen Burg der Mensch wohnt, dem es nur immer Ernst um sich und um die Sachen ist." 453
29 [113] Die Pietät für das Vergangene geht so weit, dass die Griechen den hieratischen Stil neben dem freien und grossen duldeten, mit den spitzen Nasen und dem Lächeln: später wurde daraus eine Feinschmeckerei. So die antiquarische Manier gegenüber der monumentalen. 29 [114] Antiquarisch. - Pietät gegen das, woraus oder worin wir sind. Heiligende Macht der Persönlichkeit - Urväterhausrath und Gemeindeinstitutionen bekommen Würde und erregen eifriges Nachforschen. Das Kleine, das Beschränkte wird geadelt - frauenhaft - das Idyllische gefunden. Überall Zeugnisse von braver treuer fleissiger Sinnesart. Schäden: alles Vergangne gleich wichtig genommen, keine Beziehung aufs Leben als bewahrend, nicht schaffend, das Lebendige zu Gunsten des Verehrten (Hieratischen) unterschätzt. Mangel an Urtheil, alles Vergangene liegt wie eine bunte Jagdbeute da. Hindert den kräftigen Entschluss, lähmt den Handelnden, der immer die Pietät verletzt. Der ehrwürdige "Alte"; de mortuis nil nisi bene. Die ältesten Sitten, Religionen usw. rechtfertigen sich durch Alter und verwirren alle Werthabschätzungen: weil sie die viele Sympathie, die die Griechen ihnen geschenkt haben, zusammenrechnen. Das, was die meiste Sympathie erzeugt hat, ist am ehrwürdigsten: man ehrt die Masse Liebe. Man vergisst nach den Motiven dieser Sympathie zu fragen: Faulheit Egoismus Gedankenbequemlichkeit usw. Wie leidet dabei die Vergangenheit? Es giebt keine Proportion der Dinge zu einander, der Eine hält dies, der Andere das wichtig. Die V<ergangenheit> zerfällt: ein Partikel ist jemandem sympathisch, das nächste kalt und gleichgültig. Dazu wird das Unbedeutende perpetuirt. Allmählich entsteht eine gelehrtenhafte Gewohnheit, die Pietät stirbt ab, die Sammelwuth tritt ein, völlige Verwirrung der menschlichen Aufgaben: bedeutende Naturen verlieren sich in bibliographische Fragen usw. In summa Ruin der Lebendigen, die fortwährend durch ehrwürdigen Moderduft geplagt werden. 29 [115] Der Mensch will schaffen monumentalisch im Gewohnten verharren antiquarisch von Noth sich befreien kritisch. 29 [116] Gegen den Contrast von Sentimentalisch und Naiv wäre einzuwenden: dass gerade unsere Gegenwart jene frostig klare und nüchterne Atmosphaere hat, in der der Mythos nicht gedeiht, die Luft des Historischen - während die Griechen in der dämmerigen Luft des Mythischen lebten und dafür in ihren Dichtungen, im Contrast klar und linienbestimmt sein konnten: da wir die Dämmerung in der Kunst suchen, weil das Leben zu hell ist. Damit stimmt, dass Goethe die Stellung des Menschen in der Natur und die umgebende Natur selbst geheimnissvoller räthselhafter und dämonischer nahm als seine Zeitgenossen, um so mehr aber in der Helligkeit und scharfen Bestimmtheit des Kunstwerkes ausruhte. 454
29 [117] Schiller gebrauchte die Historie im monumentalen Sinne, doch nicht als handelnder Mensch, sondern als zur That antreibender, als zum Dran drängender Dramatiker. Vielleicht müssen wir jetzt alle Dinge eine Stufe weiter stellen: wozu früher die Historie diente, dazu jetzt das Drama. Schiller's Ahnung war die rechte: das Wortdrama muss die Historie bezwingen, um die Wirkung hervorzubringen, die ursprünglich die Historie (monumentalisch dargestellt) hatte. Das historische Drama darf aber um keinen Preis antiquarisch sein; Shakespeare hat das Rechte, der Römer als Engländer auftreten liess. Im Drama wird der mächtige Mensch vorangestellt: es ist nicht als statistisches Gesetz, darin liegt die Erhebung über die jetzige Wirkung der Geschichte. Nur mache man nicht die höchsten Kunstansprüche daran: man stelle das Drama hin als ein rhetorisches Kunstwerk: was es wirklich bei Schiller ist, man unterschätze nicht die Kraft der Beredsamkeit und lasse wenigstens unsre Schauspieler gut reden lernen, da sie wahrscheinlich gar nicht mehr lernen werden, etwas Poetisches vorzutragen. Dadurch dass wir alle die höchsten Wirkungen der Tragödie für das musikalische Drama separiren, bekommen wir eine freiere Stellung zum Wortdrama: es darf rhetorisch sein, es darf dialektisch sein, es darf naturalistisch sein, es soll auf die Moralität wirken, es soll schillerisch sein. Der Prinz von Homburg ist das Musterdrama. "Natürlich" zu sprechen ist in der höchsten Kunst wieder nöthig: da es aber jetzt auch im Leben keine Natürlichkeit des Sprechens giebt, so übe man die Schauspieler in der Convention des Rhetorischen und verachte die Franzosen nicht. Der Weg zum Stil muss gemacht, nicht übersprungen werden: dem hieratisch bedingten "Stile", das heisst einer Convention, wird man nicht ausweichen können. Goethe's Theaterleitung. 29 [118] Nachdem wir aus der Schule der Franzosen heraus sind, sind wir hülflos geworden: wir wollten natürlicher werden, sind es auch geworden, indem man sich möglichst gehen liess und im Grunde nur schlotterig und beliebig nachmachte, was man früher peinlich nachmachte. Es ist alles erlaubt zu denken, aber im Grunde ist gerade nur die öffentliche Meinung erlaubt. Man ist scheinbar frei geworden, indem man sich die Fesseln der strengen Convention zerriss und die Stricke der Philisterei eintauschte. "Einfach und natürlich" zu sein ist das höchste und letzte Ziel der Cultur: inzwischen wollen wir uns bestreben, uns zu binden und zu formen, damit wir zuletzt vielleicht ins Einfache und Schöne zurückkommen. Es ist ein so toller Widerspruch in unserer Schätzung der Griechen und. unserer Befähigung für deren Stil und Leben. Fast ist es unmöglich gemacht, auf einer der unteren und niederen Stufen des Stils stehen zu bleiben (was doch so nöthig wäre!), weil das Wissen um das Höhere und Bessere so mächtig ist, dass man gar nicht mehr den Muth hat, das Geringere auch nur zu können. Hier ist die grösste Gefahr der Historie. 29 [119] Mein Ausgangspunct ist der preussische Soldat: hier ist eine wirkliche Convention, hier ist Zwang, Ernst und Disciplin, auch in Betreff der Form. Sie ist aus dem Bedürfniss entstanden. Freilich weit entfernt vom "Einfachen und Natürlichen"! Seine Stellung zur Geschichte ist empirisch und darum zuversichtlich lebendig, nicht gelehrt. Sie ist, für einige Personen, fast mythisch. Sie geht aus von der Zucht des Körpers und von der peinlichst geforderten Pflichttreue.
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Goethe sodann ist vorbildlich: der ungestüme Naturalismus: der allmählich zur strengen Würde wird. Er ist, als stilisirter Mensch, höher als je irgend ein Deutscher gekommen. Jetzt ist man so bornirt, daraus ihm einen Vorwurf zu machen und gar sein Altwerden anzuklagen. Man lese Eckermann und frage sich, ob je ein Mensch in Deutschland so weit in einer edlen Form gekommen ist. Von da bis zur Einfachheit und Grösse ist freilich noch ein grosser Schritt, aber wir sollten nur gar nicht glauben Goethe überspringen zu können, sondern müssen es immer, wie er, wieder anfangen. 29 [120] Wirkung des musikalischen Drama's auf die Entwicklung der Gruppe, der langen Stellung. 29 [121] In Deutschland ist die Furcht vor der Convention epidemisch. Aber bevor es zu einem nationalen Stile kommt, ist eine Convention nöthig. Dazu lebt man doch in einer bummeliginkorrecten Convention, wie all unser Gehen Stehen Unterhalten anzeigt. Es scheint, man will die Convention, die am wenigsten Selbstüberwindung kostet, bei der jeder recht schlampen kann. Die Historie ist freilich sehr gefährlich, indem sie alle Conventionen neben einander zur Vergleichung stellt und damit das Urtheil dort aufruft, wo die δυναµιζ alles entscheidet. Man gehe durch eine deutsche Stadt alle Convention, verglichen mit anderen Nationen, zeigt sich im Negativen, alles ist farblos, bummelig, abgelebt, jeder treibt es nach Belieben, aber nicht nach einem kräftigen gedankenreichen Belieben, sondern nach der Bequemlichkeit, die unsre Kleidung bereits als Hauptrücksicht anklagt. Zudem will man keine Zeit verlieren, denn man ist in Hast. Nur die Convention ist gebilligt, die dem Faulen - Hastigen gemäss ist. Es ist wie beim Christenthum; der Protestantismus rühmt sich, dass Alles innerlich geworden ist: darüber ist die Sache verloren gegangen. So ist bei dem Deutschen alles innerlich, man sieht aber auch nichts mehr davon. 29 [122] Gegensatz der Convention und der Mode. Gerade die letztere wird von dem historischen Sinne befruchtet: sie erwächst aus Luxusbedürfnissen, sucht das Neue seiner selbst wegen, vor allem das Auffallende, ist solange "Mode" als es "neu" ist. Die Deutschen sind fast gewillt, eine französische Convention, rein aus Bequemlichkeit und Sinn für das Gewohnte, zur Convention zu machen. 29 [123] Ist es wahr, dass es zum Wesen des Deutschen gehört, stillos zu sein? Oder ist es ein Zeichen seiner Unfertigkeit? Es ist wohl so: das, was deutsch ist, hat sich noch nicht völlig klar herausgestellt. Durch Zurückschauen ist es nicht zu lernen: man muss der eignen Kraft vertrauen. Das deutsche Wesen ist noch gar nicht da, es muss erst werden; es muss irgendwann einmal herausgeboren werden, damit es vor allein sichtbar und ehrlich vor sich selber sei. Aber jede Geburt ist schmerzlich und gewaltsam. 29 [124] 456
Heilmittel: die Schillersche Benutzung der Historie ihre Gefahren (Drastiker usw.) Bedeutung als Warnerin, als Dämonion ja sie warnt vor sich selber. 29 [125] Goethe: Madame de Stael "gerirt sich mit aller Artigkeit noch immer grob genug als Reisende zu den Hyperboreern, deren capitale alte Fichten und Eichen, deren Eisen und Bernstein sich noch so ganz wohl in Nutz und Putz verwenden liessen; indessen nöthigt sie einen doch die alten Teppiche als Gastgeschenk und die verrosteten Waffen zur Vertheidigung hervorzuholen". Goethe: übrigens ist mir Alles verhasst, was mich bloss belehrt, ohne meine Thätigkeit zu vermehren, oder unmittelbar zu beleben." 29 [126] Schiller: "ich kann nicht anders glauben, als dass der naive Geist, welchen alle Kunstwerke aus einer gewissen Periode des Alterthums gemeinschaftlich zeigen, die Wirkung und folglich auch der Beweis für die Wirksamkeit der Überlieferung durch Lehre und Muster ist. Nun wäre aber die Frage, was sich in einer Zeit wie die unserige von einer Schule für die Kunst erwarten liesse. Jene alten Schulen waren Erziehungsanstalten für Zöglinge, die neueren müssten Correctionshäuser für Züchtlinge sein und sich dabei, wegen Armuth des productiven Genie's, mehr kritisch als schöpferisch bildend beweisen." 29 [127] Goethe ein alter Hofgärtner pflegte zu sagen: "die Natur lässt sich wohl forciren aber nicht zwingen." Goethe "wie wird es möglich, dass das Alberne, ja das Absurde sich mit der höchsten ästhetischen Herrlichkeit der Musik so glücklich verbindet? Es geschieht dieses allein durch das Humor; denn dieses, selbst ohne poetisch zu sein, ist eine Art von Poesie und erhebt uns seiner Natur nach über den Gegenstand. Dafür hat der Deutsche so selten Sinn, weil ihn seine Philisterhaftigkeit jede Albernheit nur ästimiren lässt, die einen Schein von Empfindung oder Menschenverstand vor sich trägt." 29 [128] Schiller zu Goethe "Sie sind wirklich, so lang Sie arbeiten, im Dunkeln, und das Licht ist bloss in Ihnen; und wenn Sie anfangen zu reflectiren, so tritt das innere Licht von Ihnen heraus und bestrahlt die Gegenstände Ihnen und andern." 29 [129] Schiller "dass die Deutschen nur für's Allgemeine, für's Verständige und für's Moralische Sinn haben" (nichts verriethe "einen Blick in die poetische Oekonomie des Ganzen"). Goethe 457
"in Herrmann und Dorothea habe ich, was das Material 29 [130] Goethe: "Niemand hat das materielle Costüme mehr verachtet als er; er kennt recht gut das innere Menschen-Costüme, und hier gleichen sich Alle. Man sagt, er habe die Römer vortrefflich dargestellt; ich finde es nicht; es sind lauter eingefleischte Engländer, aber freilich Menschen sind es, Menschen von Grund aus, und denen passt wohl auch die römische Toga." "Der Dichter lebt zur würdigen und wichtigen Zeit und stellt ihre Bildung, ja Verbildung mit grosser Heiterkeit uns dar". - Nun frage ich, ob es auch nur möglich wäre, Römer als moderne Deutsche im Überrock und Litteraten- Beamten- oder Leutnantsmanieren vorzuführen. Es wäre eine Carikatur: woraus sich ergiebt, dass sie keine Menschen sind. Dies gehört zum historischen Thema. Wir pflegen uns durch fremde Zeiten und Sitten zu drapiren: sobald wir die fremden Zeiten und Menschen mit uns drapiren wollten, machen wir sie zur läppischen Carikatur. 29 [131] Goethe "genau aber genommen, so ist nichts theatralisch, als was für die Augen zugleich symbolisch ist: eine wichtige Handlung, die auf eine noch wichtigere deutet." 29 [132] Man findet, dass "der Deutsche isolirt lebe und eine Ehre darin suche, seine Individualität originell auszubilden." Ich kann jetzt nicht mehr zugeben: ja, eine gewisse Freiheit der Sinnesart ist erlaubt: die Handlungsart ist uniformirt und starr imperativisch. Es bleibt überall bei dem Innern ohne ein Äusseres, wie der Protestantismus das Christenthum gereinigt zu haben glaubt, indem er es durch Verinnerlichung verflüchtigte und aus der Welt schaffte. An Stelle der Sitte d. h. der natürlich zutreffenden und angemessenen Tracht steht die Mode, die willkürlich übergehängte, die Individuen auszeichnende und sofort wieder uniformirende Tracht. Man erlaubt jetzt die Mode, aber nicht mehr die abweichende Denk- und Handlungsart. Umgekehrt hätte der antike Mensch die Mode ausgelacht, aber die individuelle Manier zu leben, bis auf die Kleidung, gutgeheissen. Die Individuen waren stärker und freier und unabhängiger in allem, was sichtbar werden kann in Handlung und Leben. Unsre Individuen sind schwach und furchtsam: ein widerhaariger Geist des Individuellen hat sich in's Innere zurückgezogen und zeigt seine Mucken hier und da; er widerstrebt verdriesslich und versteckt. Die Pressfreiheit hat diesen muckenden Individuen Luft gemacht: sie können jetzt ohne Gefahr sogar ihr elendes Separatvotumchen schriftlich geben: für das Leben bleibt es beim Alten. Die Renaissance zeigt freilich einen andern Anlauf, nämlich in's Heidnischstark-Persönliche zurück. Aber auch das Mittelalter war freier und stärker. Die "Neuzeit" wirkt durch Massen gleichartiger Natur: ob sie "gebildet" sind, ist gleichgültig. 29 [133] Das Wort "Tugend" ist in Deutschland alt und doch verrostet und ein wenig lächerlich geworden: man merkt aber auch praktisch nichts mehr von der Strenge der Selbstzucht, von dem kategorischen Imperativ und einer bewussten Moralität. Wie viele Lehrer würden sich 458
nicht lächerlich fühlen, wenn sie davon reden sollten! Man beruhigt sich dabei, die Sache zu haben: was mir aber auch zweifelhaft wird. 29 [134] Die reife Goethesche Weisheit kann man nicht im Sprunge erfassen; nicht als junger Mensch. Da ist es nur " Blasirtheit". 29 [135] Man kann seine Ehrfurcht vor dem deutschen Soldaten nur dadurch ausdrücken, dass man sagt "er wusste nicht was er sang, er hörte es gar nicht"; jene Lieder des letzten deutschen Kriegs, jene Märsche der vorangehenden preussischen Kriege sind plumpe, mitunter sogar süsslich-widrige Gemeinheit, die Hefe jener "Bildung", die jetzt so gerühmt wird. Freilich nur die Hefe! Aber es gab andre Hefen! Kein Zug wahrer Volksthümlichkeit darin, wahre Beschimpfung der Worte "Volkslied, Volksweise"! Etwa wie sich ein Kölner Leitartikelschreiber zu Tyrtäus verhält. Pfui dich mal an, Junfer Bildung, würde Luther sagen. 29 [136] Der historische Sinn des Deutschen wurde offenbar in dem Sturm der Empfindung, mit der Goethe an Erwin von Steinbach dachte: im Faust, in W's R d<es> N, in Luther, in dem deutschen Soldaten, in Grimm. Ein Hindurchfühlen und Ahnen, ein Wittern auf fast verlöschten Spuren, ein Herauslesen des Palympsest, ja Myriopsest - vieles Irren Vergreifen möglich! 29 [137] Programm. 6. November 1873. 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Freiheit der Städte - die conditio. Schule und Sitte in der städtischen Gewalt. Der absolute Lehrer vernichtet ("Bildungskosak"). Der historische Sinn als Pietät, nicht als Rechnung tragen. Der Soldat zur Vorbereitung einer ernsteren Cultur zu benutzen. Folgen der Centralisation und Uniformirung der Meinungen zum Äussersten zu steigern, um ihre reinste Formel zu gewinnen und abzuschrecken. 7. Die sociale Crisis nur städtisch zu lösen, nicht staatlich. 8. Beseitigung der Presse durch städtische Beredsamkeit. 9. Die Vernichtung der grossen uniformirenden politischen Parteien. 10. Das religiöse Problem localisiren. Herstellung der Volksgemeinde und der Gefolgschaften (Armee, Diplomaten). 11. Die objectiv genannte Geschichtsschreibung ist ein Ungedanke: die objectiven Historiker sind vernichtete oder blasirte Persönlichkeiten.
29 [138] Zu Lichtenberg's Zeiten wusste man nichts davon, dass die Deutschen die Historie im Übermaasse trieben. Wohl aber spricht er ihnen Begabung für die höhere Historie zu. 459
Neuerdings ist die ganze Bildung historisch fundirt: liegt es nun an der Historie, wenn die deutsche Bildung im Ganzen so wenig werth ist? Geschichte rein als Erkenntnissproblem, in niederem Grade nur auf Kunde, nicht auf Einsicht gerichtet, im höheren Sinne ohne Rückwirkung auf das Leben. Ungeheurer Aufwand der Mittel, ohne kräftige Praxis. 29 [139] Die Statistik betrachtet die handelnden grossen Personen auf der Bühne der Geschichte nicht, sondern nur die Statisten, das Volk usw. 29 [140] Wie leicht geht die objective Geschichtsschreibung in die tendenziöse über! Das ist eigentlich das Kunststück, das zweite zu sein und das erste zu scheinen. 29 [141] Platonische Erziehung ohne Historie. Hartmann. Progressive Hast: wo stürzt man hin? Gründung der modernen Institute. Die Welt utilisirt sich immer mehr. Alles wird abstrakter, was die Menschen ehemals gebunden hat. Man macht das Experiment, ob der Mensch von Natur gut oder böse ist. Die Institutionen werden auf Furcht und Noth basirt. Im Grunde muss der Kosmopolitismus um sich greifen. Die willkürlichen Begrenzungen Staat Nation sind ohne Mysterium allmählich und erscheinen viel grausamer und schlechter. Die Gegensätze schärfen sich heillos. Am Fieber zu Grunde gehen. 29 [142] Schilderung der Ruhe der unhistorischen Welt. Sehnen nach der Umschattung des Kunstwerks: in dem leben wir wenigstens auf Stunden unhistorisch. "Zu den redenden Künsten gehört die schweigende." Jean Paul. "Es braucht viel Zeit, bis eine Welt untergeht - weiter aber auch nichts" sagt Gibbon.
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29 [143] Wenn Glück das Ziel wäre, so stünden die Thiere am höchsten. Ihr Cynismus liegt im Vergessen: das ist der kürzeste Weg zum Glücke, wenn auch zu einem, das nicht viel werth ist. 29 [144] Schopenhauer meint, vielleicht liege alles Genie im genauen Erinnern des eignen Lebenslaufes. Wenn reine Erkenntniss das Ziel wäre - wäre dann unsre Zeit die genialste Zeit? Ist die grösste Menschen- und Sachkenntniss Zeichen der Grösse? Ist Richter zu sein die Aufgabe jeder Generation? Ich denke, die Aufgabe ist vielmehr, etwas zu thun, was Spätere richten mögen. 29 [145] Alles Historische misst sich an etwas. Was hat unsre Zeit entgegenzusetzen? 29 [146] 1. Innerlich. 2. Gerecht und objectiv. 3. Illusion zerstört. 4. Alter der Menschheit. 5. Mythologie. 6. Hartmann. 7. Unhistorisch. 8. Die naivsten Stufen der Historie. 9. Umgränzung des Horizontes. 29 [147] Plan. 1. Unhistorisch - Historisch. 2. Nutzen und Schaden der Historie. Allgemein. 3. Übergang zur Zeitschilderung. 4. Innerlichkeit. 5. Gerecht, objectiv. 461
6. Illusion zerstört. 7. Alter der Menschheit. Hartmann. Mythologie. 8. Ob Unhistorisch? Plato. 9. Maass des Historischen. Begrenzung. Beherrschung. 10. Deutsche Kultur. Werth der Historie für dieselbe. Stil. Nationale Modification. 29 [148] Er sagt seine Sachen immer noch etwas deutlicher als er sie denkt. 29 [149] Fortsetzung der Zoologie. Dass der Mensch als Heerdenthier ist, beweist die Statistik. 29 [150] Wartburgwettkampf: von der Hagen, Minnesinger, II 2ff. vom Jahr 1300. Ludus Paschalis de adventu et interitu Antichristi. Pezii thesau<us> Anecdot N 2. 29 [151] Thier Mensch - Historisch Unhistorisch. Plastische Kraft. Unhistorisches Fundament. Staat als Beispiel. (Vergessen des Vergangnen und Illusion über das Vergangne.) Geschichte dient dem Leben, sie steht im Dienste des Unhistorischen. 29 [152] Was heisst unhistorisch? Leidenschaft wirkt unhistorisch. Auch grosse Ziele, ob Mensch ob Volk. Übermässige Schätzung - Niebuhr. Leopardi. 29 [153]
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1. Thema und Thesen. 2. Monumental. 3. Geschichte zum Leben. Antiquarisch. 4. Kritisch. 5. Übergang zur Zeitkritik. 6. innerlich. 7 Geschichte angebliche Gerechtigdem Leben keit, Objectivität. 8. feindlich. nicht mehr reif. 9. Spätlinge. 10. Weltprocess. 11. Übergang zu den Remedia: Plato. Keine Historie. 12. Remedia 13. 29 [154] Erdichtetes Mythisches. Liebe und Selbstvergessen. Das Leben als Problem. Recht reif zu werden. Die Ehrlichkeit und die Keckheit des Wortes. Die Hitze des Rechtsgefühls. 29 [155] Das Übermaass bewiesen 1) dadurch dass alles innerlich bleibt 2) dass nichts mehr reif wird 463
3) das Gefühl Spätlinge zu sein 4) Stadium der Selbstverspottung 5) die Historie selbst erlahmt: angebliche Objectivität. Übergang: da wirft man sich gern einmal in den Gedanken: gar keine Historie. Rousseau. 29 [156] Die historische Bildung als die Bildung überhaupt. Die historische Objectivität als die Gerechtigkeit. Unreif. Ironie - Alter der Menschheit. Weltprozess. Kluger Egoismus. Vorrede. Einleitung. Historie zum Leben. Historie dem Leben schädlich. 29 [157] 1. Historisch, Unhistorisch und Überhistorisch. 2. Die Historie im Dienste des Lebens. 3. Die Historie dem Leben schädlich. 4. Das Unhistorische und das Überhistorische als Heilmittel für das durch Historie geschädigte Leben. 29 [158] Die Historie dem Leben feindlich. 1. erzeugt den gefährlichen Contrast von Innerlich und Äusserlich. 2. erweckt den Anschein der Gerechtigkeit. 3. hindert das Reif- und Fertigwerden. 464
4. erweckt den Glauben an das Alter der Menschheit und ist der advocatus diaboli. 5. eignet <sich> für den Dienst des klugen Egoismus. 29 [159] Kennt mein Leser die Stimmung, in der der Betrachtende lebt? Vermag er sich zu vergessen, den Autor zu vergessen und in seine Seele gleichsam Dinge, die wir zusammen betrachten, überwandern zu lassen? Ist er bereit aus dem ruhigen in ein bewegtes Wellenspiel fortgetragen zu werden, ohne die Stimmung des Betrachtenden dabei zu verlieren? Liebt er das Pfeifen des Sturmes und erträgt er die Ausbrüche des Zorns und der Verachtung? Und noch einmal: vermag er es, bei dem allen, weder an sich noch an den Autor zu denken? - Nun wohlan, ich glaube von ihm ein Ja gehört zu haben und halte mich nun nicht länger zurück, ihn also anzureden. 29 [160] Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. Vorrede. I. Historisch, Unhistorisch, Überhistorisch. II. Die Historie im Dienste des Lebens. a) die monumentale Historie b) die antiquarische c) die kritische III. Die Historie dem Leben feindlich. a) Sie erzeugt den gefährlichen Contrast von Innerlich und Äusserlich. b) Sie erweckt den Anschein der Gerechtigkeit. c) Sie zerstört die Instinkte und hindert das Reifwerden. d) Sie pflanzt den Glauben an das Alter der Menschheit. e) Sie wird von dem klugen Egoismus benutzt. IV. Das Unhistorische und das Überhistorische als Heilmittel für das durch Historie geschädigte Leben. 29 [161] Capitel über Leben und Historie: was die Wissenschaft dazu sagt: laissez faire. Es fehlt die dazu gehörige Praxis, die Heilkunst.
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29 [162] Zum Schluss. Von der Ironie zum Cynismus. Plato's Mittel die Jugend für den Staat zu retten. Schiller - Correctionsanstalten. Hülfswissenschaft nöthig - angewandte Historie, Gesundheitslehre. Heilmittel das Unhistorische, das Überhistorische. Lob der Kunst und ihrer Kraft Atmosphaere zu bilden. 29 [163] Entwurf der Unzeitgemässen Betrachtungen. 1873 David Strauss. Nutzen und Nachtheil der Historie. 1874 Viel-Lesen und Viel-Schreiben. Der Gelehrte. 1875 Gymnasien und Universitäten. Soldaten-Kultur. 1876 Der absolute Lehrer. Die sociale Crisis. 1877 Zur Religion. Klassische Philologie. 1878 Die Stadt. Wesen der Kultur (Original-). 1879 Volk und Naturwissenschaft. 29 [164] 1 Vorspiel. 2---
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3 Die Bedrängniss der Philosophie. 4 Der Gelehrte. 5 Die Kunst. 6 Die höhere Schule. 7 Staat Krieg Nation. 8 Social. 9 Klassische Philologie. 10 Religion. 11 Naturwissenschaft. 12 Lesen Schreiben Presse. 13 Weg zur Freiheit (als Epilog). 29 [165] Plato und seine Vorgänger. Homer. Skeptische Einfälle. 29 [166] Ausgezeichnete Schilderung der Deutschen und der Franzosen: Görres, Europa und die Revolution, p. 206. Wie veränderlich und schwimmend die Grenzlinien jeder gemachten Zeichnung sind. Licht<enberg> I 206. 29 [167] Cyclus von Vorlesungen. Rhetorik. Rhythmik. Geschichte der Poesie. Prosa.
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Alte Philosophie: 1) Vorplatoniker und Plato. 2) Aristoteles und Socratiker. Choephoren. Hesiod's Erga. Thucydides, B: I. Lyriker. Aristoteles Poetik. 29 [168] Römer und Griechen: Stellung der Römer zu der griechischen Kultur. Ihre Urtheile darüber. Von ihnen stammt die dekorative Manier der Cultur. 29 [169] Drei Abhandlungen von Friedrich Nietzsche. Homer und die klassische Philologie. Über Wahrheit und Lüge. Die Grundlagen des Staats. (Wettkampf, Krieg.) 29 [170] 3. Schilderung des chaotischen Durcheinanders in einem mythischen Zeitalter. Das Orientalische. Anfänge der Philosophie als Ordnerin der Kulte, Mythen, sie organisirt die Einheit der Religion. 4. Anfänge einer ironischen Stellung zur Religion. Neues Auftauchen der Philosophie. 5. usw. Erzählung. Schluss: Plato's Staat als überhellenisch, als nicht unmöglich. Philosophie erreicht hier ihre Höhe, als Staatengründerin eines metaphysisch geordneten Staates. 29 [171] Griechen und Barbaren. Erster Theil: Geburt der Tragödie. 468
Zweiter Theil: die Philosophie im tragischen Zeitalter. Dritter Theil: über dekorative Kultur. 29 [172] Es ist gar nichts Unsinniges zu denken, dass das Gedächtniss für die Vergangenheit auch bei uns geringer sei und dass der historische Sinn etwa ebenso schliefe, wie er in der höchsten Akme der Griechen schlief. Bald hinter der Gegenwart begänne das Dunkel: in ihm wandeln schattenhaft unsicher grosse Gestalten ins Ungeheure sich ausdehnend, wirkend auf uns, aber fast wie Heroen, nicht wie gemeine helle Tageswirklichkeit. Alle Tradition wäre jene fast unbewusste der ererbten Charactere: die lebenden Menschen wären, in ihren Handlungen, Beweise, was im Grunde durch sie tradirt werde; mit Fleisch und Blut liefe die Geschichte herum, nicht als vergilbtes Document und als papiernes Gedächtniss. Die Sitten der Eltern und der Grosseltern gelten bei den Kindern als die Vergangenheit: was ferne dahinter lag, wirkt kaum noch als übrig gebliebene Architectur, als Tempel, als Aberglaube auf die Gegenwärtigen ein. Ähnlich lebt jetzt noch der Bauer, ähnlich fast jedes grosse Volk der Vergangenheit. Der Hauptgewinn für beide ist und war, dass die gegenwärtige Generation nicht so peinlich vergleicht und sich misst, so dass sie über sich selbst in Unbewusstheit des Urtheils bleiben kann. Sie wird zutrauensvoller zu ihrer Kraft sein, weil ihre Kraft nur durch das wirkliche, nicht durch das eingebildete und anerzogene Bedürfniss in Anspruch genommen wird und Kraft und Bedürfniss sich meistens entsprechen. Sie wird vor dem Überdrusse mehr bewahrt bleiben als ein Volk, das historischer und gebildeter ist, als seine Productionskraft auszuhalten vermag. Nicht so oft irregeführt nach dem unerreichbaren Ziele, zum Ekel gestimmt über das Erreichte, kommt der Mensch zu einer Ruhe, die der Gegensatz der modernen durch und durch historischen Welt und ihrer Hast ist. Sollte man es nicht zu büssen haben, wenn man in kostbaren Bildergallerien aller Zeiten lebt und der Blick immer vergleichend zu dem Betrachter zurückkehrt, mit Frage, was er eigentlich in diesen Räumen zu suchen habe? Und so entfährt dem Verwegensten wohl einmal der Fluch: "weg mit allem Vergangenen, ins Feuer mit den Archiven, Bibliotheken, Kunstkammern! Lasst doch die Gegenwart selbst produciren, was ihr noththut, denn nur dessen, was sie selbst kann, ist sie werth. Quält sie nicht durch Mumisirung des einmal, in ferner Zeit Gültigen und Nothwendigen und schafft das Todtengerippe weg, damit die Lebenden ihres Tages und Thuns froh werden können." Ja, wenn Glück, Freiheit von Überdruss, Behagen unsre Losung sein dürfte: dann wäre es erlaubt, das Thier zu preisen, das immer auf der schmalen Linie der Gegenwart lebt und ohne Verdrossenheit und Überdruss frisst, verdaut, wieder frisst, ruht und springt. "Historisch fühlen" heisst wissen, dass man jedenfalls zum Leiden geboren ist und dass alles unser Arbeiten im schönsten Fall Vergessenheit des Leidens erringt. Immer lebten früher die Halbgötter, immer ist das gegenwärtige Geschlecht das entartete. Was seine Auszeichnung ist, weiss es selten; denn das Vergangne umgiebt uns wie eine geschwärzte verdunkelnde Zimmerwand. Erst der Nachkomme vermag zu würdigen, worin auch wir Halbgötter waren. Nicht dass es somit ewig abwärts gienge und alles Grosse in immer kleineren Proportionen sich wiederholte: aber immer ist jede Zeit zugleich eine absterbende und seufzt unter dem herbstlichen Fall der Blätter. Man sehe nur das einzelne Menschenleben an: was der Jüngling verliert, wenn er die Kindheit verlässt, ist so unersetzlich, dass er wünschen müsste, nach diesem Verlust das Leben als gleichgültig hinzugeben. Und doch verliert er als Mann noch einmal Unschätzbares, um endlich als Greis auch noch das letzte Gut zu verlieren, so dass er nun das Leben kennt und es zu verlieren bereit ist. Welches verlorne Bemühen, wollten wir als Jünglinge nach dem ringen, was der Kindheit Glück und Kraft ausmachte. Der Verlust ist zu erleiden, die Erinnerung häuft immer mehr Verluste
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zusammen, und am Schluss, wenn wir wissen alles verloren zu haben, nimmt uns tröstlich der Tod dieses Wissen, unser letztes Erbgut. 29 [173] Homer und die klassische Philologie. 24. Der Wettkampf bei den Griechen. 15. Über Wahrheit und Lüge. 20. Der griechische Staat. 15. Vier Abhandlungen. 29 [174] Plato. Jugend. Pest. Critias. Das Künstlerische in Plato. Heracliteer. Sokrates. Der platonische Socrates. Reisen. Ziele - das praktische Ideal. l'ythagoreer-Ideen (geringere Conception). Dion. Akademie. Der Philosoph im Staate. Sophist. Rhetor. Kunst. Schriftstellerei - Eros. Dialektik. Zweite Reise. Dritte Reise - Staatsideal. Dion's Ende. Andre politische Wirkungen. Parmenides. Präludirende Skepsis zu der Theorie: Plato hauptsächlich Legislator und Reformator, nie darin Skeptiker.
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29 [175] Empedocles. Democrit. Pythagoreer: Kampf gegen die Eleaten, mehr um sich zu schützen. Beschreibung ihres Bundes. Socrates. Moralisch - dialektisch - plebejisch. 29 [176] "Die Neigung der Menschen, kleine Dinge für wichtig zu halten, hat sehr viel Grosses hervorgebracht" sagt Lichtenberg. 29 [177] Historie, die zwar nicht unmittelbar oder mittelbar zu besseren Menschen und zu besseren Bürgern macht, ist nur, nach einem Ausdrucke, den Bolingbroke in seinen berühmten Briefen on the study and use of history anwendet "a specious and ingenious sort of idleness". 29 [178] Aristoteles "zwei Dinge sind es ja, welche vorzüglich die Menschen zu hegender Sorgfalt und Anhänglichkeit bestimmen: der alleinige Besitz und die Seltenheit der besessenen Sache, durch welche sie dem Besitzer theuer wird." So pflegt der antiquarische Mensch das Vergangne, weil es so ganz und gar individuell und einmalig ist - ganz abgesehen wie gering oder wie kostbar an sich -, er fühlt sich als den Besitzer dieses kleinen Besitzthums, das er vor allen Menschen voraus hat. Die kleinste Erkenntniss, sobald sie Eigenthum ist, macht ihren Erfinder glücklich, z. B. eine Correctur in einem gedruckten oder geschriebenen Buche. 29 [179] Von der kritischen Historie gilt auch, was Benjamin Constant sagt: "der sittliche Grundsatz, es sei eine Pflicht die Wahrheit zu sagen, würde, wenn man ihn unbedingt und vereinzelt nähme, jede Gesellschaft zur Unmöglichkeit machen". Man denke nur an sein eignes Leben: wäre es die Aufgabe, seine Vergangenheit überhaupt laut zu sagen, wer würde es selbst aushalten können? Es gehört sehr viel Kraft zum Vergessen dazu, um leben zu können. 29 [180] Luther: "dass Gott, wenn er an das schwere Geschütz gedacht hätte, er die Welt nicht erschaffen hätte". Vergessen gehört nun einmal zu allem Schaffen. 29 [181] Denken wir uns den letzten Menschen auf der ausgedörrten Wüste des morschen Erdballs sitzen 29 [182] 471
Was birgt nicht alles der Mensch in sich, was er nie kennen lernen darf: weshalb der alte Spanier sagte "Defienda me Dios de my" "Gott behüte mich vor mir". 29 [183] Die Antiquare sagen: "das Grosse ist im Grunde das Gemeine und Allgemeine", auch sie kämpfen gegen das Werden des Grossen (durch Verkleinern Begeifern Mikrologie). 29 [184] Luther "Cicero ein weiser und fleissiger Mann hat viel gelitten und gethan". Man schraubt die Geschichte je nach seiner Höhe herauf und herunter: so schraubt Mommsen seinen Cicero zum Journalisten herab, Luther nennt ihn (siehe vorher). 29 [185] Gewiss ist das Bedürfniss des Umgangs mit grossen Vorgängern usw. Umgang mit den kleinen, koboldartig (siehe hinten). 29 [186] Goethe (wer sich von nun an nicht auf eine Kunst oder ein Handwerk legt usw.). Pietät für das Vergangene zu Gunsten des Hieratischen (s. h). Zu den redenden Künsten gehört die schweigende. "Es braucht viel Zeit bis eine Welt untergeht - weiter auch nichts." 29 [187] Zum Schlusse. Goethe über Niebuhr "der Historiker als das eigentlich werthvolle Object, nicht die Historie." Davon ist etwas zu hoffen (siehe hinten). Schiller von Goethe gepriesen (siehe hinten). 29 [188] Gegenmittel: 1) Keine Geschichte? 2) Leugnung der Zwecke Atomengewirr? 3) Interesse für den Historiker gegen die Historie gewendet? Die meisten Historiker unter ihren Objecten. 4) Goethe, Natur. 5) Pflege des Überhistorischen und Unhistorischen. Religion Mitleid Kunst.
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29 [189] Niebuhr zur Vertheidigung Macchiavelli<s> "es giebt Zeiten, in denen Einem jeder Mensch heilig sein muss: andre wo man sie nur als Masse behandeln kann und soll; es kommt darauf an, die Zeit zu kennen". 29 [190] "Der Deutsche ist von Natur, seitdem er seinen einfachen grossen Character verloren hat, afterrederisch und verunglimpfend, und nichts weniger als billig: und noch weniger liebend." 29 [191] Gehofftes Resultat: Character zu offenbaren in der Bildung, keine dekorative Bildung, sondern eine organische. So gelingt vielleicht den Deutschen noch, was den Griechen in Betreff des Orients gelang und so das, was "deutsch" ist, erst zu finden. 29 [192] Von sich selbst Besitz zu ergreifen, das Chaotische zu organisiren, alle Furcht vor der "Bildung" wegzuwerfen und ehrlich zu sein: Aufforderung zum γνωϑ ι σαυτον, nicht im grüblerischen Sinne, sondern um wirklich zu wissen, was unsre ächten Bedürfnisse sind. Von da aus kühn bei Seite werfen, was fremd ist, und aus sich hinaus wachsen, nicht in ein Ausseruns sich hineinpassen. Zum Organisiren des Chaotischen eignet sich Kunst und Religion: letztere giebt Liebe zu den Menschen, erstere Liebe zum Dasein dabei Verachtung - - 29 [193] Tradition anpflanzen, fortschreitende Bewegung, Eichbäume für die Enkel. Organisation zu finden, um der ersten Generation ihre Existenz zu ermöglichen und dann die Volksbildung zu übernehmen. Wie ein Gestirn ohne Rast, ohne Hast. Die Ruhe der Arbeitenden. Der ruhige Blick in die Zukunft erst möglich, wenn wir uns nicht mehr so ephemer fühlen, so wie eine Welle. 29 [194] Die unhistorischen Mächte heissen Vergessen und Wahn. Die überhistorischen Kunst Religion Mitleid Natur Philosophie. 29 [195] Handwerk lernen, nothwendige Rückkehr des Bildungsbedürftigen in den kleinsten Kreis, den er möglichst idealisirt. Kampf gegen die abstracte Production der Maschinen und Fabriken. 473
Ein Hohn und Hass gegen das zu erzeugen, was jetzt als "Bildung" gilt: dadurch dass man eine reifere Bildung dagegen stellt. 29 [196] Und was wird aus uns, werden die Historiker unwillig entgegnen: wohin soll die Wissenschaft der Historie? unsre berühmte strenge nüchterne mütterliche Wissenschaft? - Geh in ein Kloster, Ophelia, sagt Hamlet; in welches Kloster wir aber die Wissenschaft und den historischen Gelehrten bannen wollen, dieses Räthsel wird der Leser sich selber aufgeben, sich selber lösen, falls er zu ungeduldig ist dem langsamen Gange des Autors zu folgen und einer hiermit versprochenen späteren Betrachtung "über den Gelehrten" und die gedankenlose Einordnung desselben in die moderne Gesellschaft vorauszueilen vorzieht. Schluss. Es giebt eine Gesellschaft der Hoffenden. 29 [197] Die Bedrängniss der Philosophie. Von aussen: Naturwissenschaft Geschichte (Beispiel Instinkt. Begriff geworden). Von innen: der Muth, eine Philosophie zu leben, ist gebrochen. Die anderen Wissenschaften (Natur, Geschichte) vermögen nur zu erklären, nicht zu befehlen. Und wenn sie befehlen, vermögen sie nur auf den Nutzen zu verweisen. Jede Religion, jede Philosophie hat aber gerade irgendwo eine erhabene Naturwidrigkeit, eine auffallende Unnützlichkeit. Damit wäre es denn zu Ende? - Wie mit der Poesie, die eine Art Unsinn ist. Das Glück des Menschen beruht darauf, dass es irgendwo für ihn eine Undiskutirbare Wahrheit giebt, gröbere (z. B. das Wohl seiner Familie als höchsten Beweggrund) feinere, der Glaube an die Kirche usw. Hier hört er gar nicht hin, wenn dagegen gesprochen wird. In der ungeheuren Bewegtheit sollte der Philosoph Hemmschuh sein: kann er es noch sein? Das Misstrauen der strengen Forscher gegen jedes deductive System, vid. Bagehot. 29 [198] Die Bedrängniss der Philosophie. A. Die Anforderungen an den Philosophen in der Noth der Zeit. Grösser als je. B. Die Angriffe auf die Philosophie grösser als je. C. Und die Philosophen schwächer als je. 29 [199] Die Philosophie rein zur Wissenschaft zu machen (wie Trendelenburg) heisst die Flinte in's Korn werfen.
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29 [200] Die mangelhaft entwickelte Logik! Durch die historischen Studien ist sie verkümmert. Auch Zöllner klagt. Lob des Spir. Und der Engländer. 29 [201] Welche Naturen werden jetzt noch Philosophen? 29 [202] "Wer das Tiefste gedacht, liebt das Lebendigste." Hölderlin. "Ein Räthsel ist Reinentsprungenes. Auch Der Gesang kaum darf es enthüllen. Denn Wie du anfingst, wirst du bleiben, So viel auch wirket die Noth Und die Zucht, das Meiste nämlich Vermag die Geburt Und der Lichtstrahl, der Dem Neugebornen begegnet." Hölderlin. 29 [203] Zur Religion. Ich bemerke eine Erschöpfung, man ist an den bedeutenden Symbolen ermüdet. Alle Möglichkeiten des christlichen Lebens, die ernstesten und lässigsten, die harmlosesten und die reflektirtesten, sind durchprobirt, es ist Zeit zur Nachahmung oder zu etwas Anderem. Selbst der Spott, der Cynismus, die Feindschaft ist abgespielt - man sieht eine Eisfläche bei erwärmtem Wetter, überall das Eis schmutzig, zerrissen, ohne Glanz, mit Wasserpfützen, gefährlich. Da scheint mir nur eine rücksichtsvolle ganz und gar ziemliche Enthaltung am Platze: ich ehre durch sie die Religion, ob es schon eine sterbende ist. Mildern und beruhigen ist alles, nur gegen die schlechten gedankenlosen Köche, zumal wenn es Gelehrte sind, muss protestirt werden. - Das Christenthum ist ganz der kritischen Historie preiszugeben. 29 [204] Wenn ich einmal recht in Wünschen ausschweife, So denke ich mir, dass mir die schreckliche Bemühung, sich selbst zu erziehen erleichtert worden wäre und ich einen Philosophen als Erzieher gefunden hätte, dem man gehorchen könnte, weil man ihm mehr als sich vertraute! Dann suche ich wohl die Grundsätze seiner Erziehung zu errathen, z. B. über harmonische und partielle Bildung: und seine Methoden. Mühsam würde es sein, und wir, an die Bequemlichkeit der Erziehung und an das Sichgehenlassen gewöhnt, würden oft verzagen. So aber, ohne solche Erzieher, fühlt man seine Kräfte oft im Kampfe mit einander, in Empörung, auch seine geistigen Triebe. Zwar glauben die Gelehrten, man könne mit der 475
Wissenschaft nicht leicht genug thun: der Wissenschaft nicht genug, das ist wahr, aber sich übergenug, zuviel: das ist auch wahr. Ich sehe lauter geistige Krüppel: ihre partielle Ausbildung hat ihnen einen Höcker zugetragen. - Was heisst harmonisch und partiell? Sollten wir etwa die partielle Ausbildung überhaupt fürchten? Die pars soll vielmehr nur das Centrum werden für alle andern Kräfte, die Sonne im Systeme. Aber ein Balanciren mit Gegengewichten ist überall nöthig, wo eine grosse Kraft ist. Kleist - Philosophie (ihm fehlte Schopenhauer). 29 [205] Der Philosoph ist einmal für sich, sodann für andre Philosoph. Es ist nicht möglich, es ganz allein für sich zu sein. Denn als Mensch hat er Beziehung zu andern Menschen: und ist er Philosoph, so muss er es auch in diesen Beziehungen sein. Ich meine: selbst wenn er sich streng von ihnen absondert, als Einsiedler, so giebt er damit eine Lehre, ein Beispiel und ist Philosoph auch für die Andern. Er mag sich benehmen, wie er will: sein Philosoph-sein hat eine Seite, die den Menschen zugekehrt ist. Das Product des Philosophen ist sein Leben (zuerst, vor seinen Werken ). Das ist sein Kunstwerk. Jedes Kunstwerk ist einmal dem Künstler, sodann den andern Menschen zugekehrt. - Welches sind die Wirkungen des Philosophen auf die Nichtphilosophen und andre Philosophen? Der Staat, die Gesellschaft, die Religion usw., alle können fragen: was hat uns die Philosophie geleistet? Was kann sie uns jetzt leisten? So auch Cultur. Frage nach den Culturwirkungen der Philosophie überhaupt. Umschreibung der Cultur - als einer Temperatur und Stimmung vieler ursprünglich feindselig<er> Kräfte, die jetzt eine Melodie abspielen lassen. 29 [206] Die feindseligen Kräfte werden im Mittelalter durch die Kirche ungefähr zusammengehalten: als dies Band zerreisst, so empört sich eins wider das andre. Die Reformation erklärte vieles für αδιαϕορα - von da greift die Scheidung immer mehr um sich. Zuletzt sind es die derbsten Kräfte, die fast allein noch alles bestimmen; der militärische Staat voran. Versuch des Staates alles aus sich zu organisiren und das Band zu sein für die feindseligen Kräfte. Begriffe einer Staatskultur, im Gegensatz zu einer Religionskultur. Nun ist die Macht böse, und will das Nützliche mehr als alles Andre. Wir befinden uns in dem eistreibenden Strome des Mittelalters, dasselbe ist aufgethaut, in verheerende Bewegung gerathen. 29 [207] Unter allen Umständen die Revolution: aber von der Klugheit und Menschlichkeit der nächsten Geschlechter hängt es ab, ob daraus die Barbarei oder etwas Anderes hervorgeht: der Mangel an ethischer Philosophie in den gebildeten Schichten ist natürlich in deutlicheren Formen in die ungebildeten gedrungen, die immer das vergröbernde Echo waren. Darin geht alles zu Grunde. Kein neuer grosser Gedanke ist weit und breit zu sehen. Nur dass irgendwann einmal von Neuem angefangen wird. 476
29 [208] Ich kann mir Schopenhauer nicht an einer Universität denken: die Studenten liefen vor ihm davon und er selbst liefe vor den Mit-Professoren davon. 29 [209] Wenn ich denke, was für starke frohe Geschlechter gelebt haben - wo sind nur die Kräfte der Reformationszeit hin! - so kommt mir unsre Art zu leben vor wie die Einwinterung auf hohem Gebirge, selten kommt die Sonne, alles ist grau, alle Freuden sind rührend für den Beschauer so flüchtiges Glück! Es lebt sich so schwer. Und dazu die Erinnerung an Sommertage. 29 [210] Ach diese Spanne Zeit! Wir wollen sie wenigstens gross und willkürlich behandeln. Für so kleine Gabe sollen wir doch nicht Sklaven der Geber sein! Das ist das Wunderlichste, wie gebunden die Vorstellung und Einbildung der Menschen ist, sie nehmen das Leben nie als ein Ganzes wahr. Sie fürchten sich vor den Worten und Meinungen ihrer Nächsten - ach, nur zwei Generationen weiter und niemand hat mehr die Meinungen, die jetzt herrschen und euch zu Sklaven machen wollen. 29 [211] Jede Philosophie muss das können, was ich fordere, einen Menschen concentriren - aber jetzt kann es keine. 29 [212] Zwei Aufgaben: das Neue gegen das Alte zu defendiren und das Alte an das Neue anzuknüpfen. 29 [213] Zum Plan. Der Philosoph hat zwei Seiten: eine kehrt er den Menschen zu, die andre bekommen wir nicht zu sehen, da ist er Philosoph für sich. Wir betrachten zuerst das Verhältniss des Philosophen zu den anderen Menschen. Resultat für unsre Zeit: es kommt bei diesem Verhältniss nichts heraus. Warum wohl? Sie sind nicht Philosophen für sich selbst. "Arzt hilf dir selber!" Müssen wir ihnen zurufen. 29 [214] Ach wir Menschen dieser Zeit! Es liegt ein Wintertag auf uns und wir wohnen am hohen Gebirge, gefährlich und dürftig. Kurz ist jede Freude und bleich jeder Sonnenglanz, der an den Bergen zu uns herabblickt. Da tönt Musik -, es erschüttert den Wanderer dies zu hören: so wild, so verschlossen, so farblos, so hoffnungslos ist alles, was er sieht - und jetzt darin ein Ton der Freude, einer gedankenlosen lauten Freude. Aber schon schleichen die Nebel des frühen Abends, der Ton verklingt, der Schritt des Wanderers knirscht; grausam und todt ist das Gesicht der Natur am Abend, der immer so früh kommt und nicht weichen will. 477
29 [215] Die fliegenden Spinnefäden des Altmännersommers - Strauss als Bekenner. 29 [216] Wenn einmal die Arbeiterstände dahinter kommen, dass sie uns durch Bildung und Tugend jetzt leicht übertreffen können, dann ist es mit uns vorbei. Aber wenn das nicht eintritt, ist es erst recht mit uns vorbei. 29 [217] Vom Maler auszugehn und dem Kunstkenner vor dem Bilde - Goethe. 29 [218] Nicht nur den nennen wir unvernünftig, welcher einen unvernünftigen Zweck verfolgt, sondern auch den, der um einen vernünftigen Zweck zu erreichen unzweckmässige und unverhältnissmässige Mittel anwendet: als sowohl den, der das Meer ausschöpfen will, als den, welcher nach Sperlingen schiesst, aber mit Kartätschen. Von dieser zweiten Art der Unvernunft ist die Natur voll. Auch in ihrem höchsten Bereiche, das wir kennen, innerhalb der Menschen, zeigt sie sich nicht klüger, was die Mittel betrifft, so ausserordentlich ihre Zwecke und Absichten sind. Die Art, wie sie die seltenen Begabungen zum Wohl der Menschen verwendet, ist eben so bewunderungswürdig wegen ihrer Unvernunft als jener Gedanke selbst, das Seltene zum Wohle des Gewöhnlichen zu benutzen, erstaunlich ist: denn das Wohl des Gewöhnlichen liegt eben darin, dass es zum Seltenen erhoben, gesteigert, zum Ungewöhnlichen und Neuen umgeprägt werde. Ich frage nach der Teleologie des Philosophen, eines der seltensten Gebilde, die in der Werkstätte der Natur entstehen: wozu ist er da? Für das Wohl eines Volks und einer Zeit, vielleicht auch aller Völker und aller Zeiten. Und wie wird er für jenen Zweck verwendet? Wie das gleichgültigste Spielzeug, das man liegen lässt oder aufhebt, herumwirft oder zertritt, als ob es zu Tausenden auf den Strassen zu finden wäre. Ist es nicht nöthig, dass die Menschen etwas noch hoffen und der Unvernunft der Natur entgegenarbeiten? Ja, es wäre nöthig, wenn es nur möglich wäre! weil die Natur gerade in den Menschen und durch die Menschen wirkt und ein Volk als Ganzes eben jene Doppelheit der Natur zeigt, die wundersamste Vernunft der Zwecke und die nicht minder wunderbare Unvernunft der Mittel. Der Künstler macht sein Werk für die anderen Menschen, es ist kein Zweifel. Trotzdem weiss er es, dass niemals jemand sein Werk so verstehen und lieben wird, wie er selbst. Der hohe Grad der Erkenntniss und der Liebe ist aber nöthig, damit ein niedriger Grad entstehe: jener niedrigere Grad ist der Zweck, den die Natur mit dem Kunstwerk verfolgt, sie verschwendet ihre Mittel und Kräfte, und die Ausgabe ist viel grösser, als der Ertrag ist. Und doch ist dies das natürliche Verhältniss, überall. Wenig Kosten, aber hundertfältiger Ertrag wäre vernünftiger. Geringere Mühe, geringere Lust und Erkenntniss, im Künstler selbst, aber ungemeines Anwachsen von Lust und Erkenntniss im Kunstempfänger das wäre vortheilhafter eingerichtet. Könnten wir die Rollen tauschen: der Künstler müsste der schwächere Mensch und die Aufnehmenden Zuhörer Zuschauer die stärkeren Menschen sein. Die Kraft der Kunstwerke müsste erst mit der Resonanz im Volke wachsen: wie die Schnelligkeit wächst mit dem Quadrate der Entfernungen. Ist es sinnlos zu wünschen, dass die Kunstwirkung am Anfange das schwächere, zuletzt das stärkere Ende habe? Oder dass mindestens so viel genommen wird als gegeben ist, dass Ursache und Wirkung gleich stark sind?
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Deshalb sieht es oft so aus, als ob ein Künstler und zumal ein Philosoph zufällig in ihrer Zeit seien, versprengte Wanderer oder zurückgebliebene Einsiedler. Wo wir aber ein Verhältniss zwischen einem Philosophen und einem Volk entdecken, so spüren wir folgende Zwecke der Natur, folgende Bestimmung des Philosophen. 29 [219] 1. 2. 3. 4.
Was der Philosoph zu verschiedenen Zeiten gewesen ist. Was er in unserer Zeit sein müsste. Bild der zeitgemässen Philosophie. Weshalb er das nicht leisten kann, was er nach N. 2 müsste: weil eine feste Cultur fehlt. Der Philosoph als Einsiedler. Schopenhauer zeigt, wie die Natur sich anstrengt: es manquirt doch.
29 [220] Weisheit unabhängig vom Wissen der Wissenschaft. Jetzt allein zu hoffen auf die Klassen der niedern ungelehrten Menschen. Die gelehrten und gebildeten Stände sind preiszugeben. Damit auch die Priester, die nur jene Stände verstehen und ihnen angehören. Die Menschen, die noch wissen, was Noth ist, werden auch fühlen, was ihnen Weisheit sein kann. Die grösste Gefahr ist, wenn die ungelehrten Klassen mit der Hefe der jetzigen Bildung angesteckt werden. Wenn jetzt ein Luther entstünde, so würde er gegen die ekelhafte Gesinnung der besitzenden Klassen sich erheben, gegen ihre Dummheit und Gedankenlosigkeit, dass sie gar nichts von der Gefahr wittern. Wo suchen wir das Volk! Die Bildung wird täglich geringer, weil die Hast grösser wird. 29 [221] Es ist ernsthaft zu erwägen, ob für eine werdende Kultur überhaupt noch Fundamente da sind. Ob die Philosophie als ein solches Fundament zu gebrauchen ist? - Aber das war sie nie. Mein Vertrauen zur Religion ist grenzenlos gering: die abfluthenden Gewässer kann man sehen, nach einer ungeheuren Überschwemmung. 29 [222] Zum Anfang. Überall Symptome eines Absterbens der Bildung, einer völligen Ausrottung. (Laissez faire der Wissenschaften). Hast, abfluthende Gewässer des Religiösen, die nationalen Kämpfe, die zersplitternde und auflösende Wissenschaft, die verächtliche Geld- und Genusswirthschaft der gebildeten Stände, ihr Mangel an Liebe und Grossartigkeit. Dass die gelehrten Stände durchaus in dieser Bewegung darin sind, ist mir immer klarer. Sie werden täglich gedanken- und liebeloser. Alles dient der kommenden Barbarei, die Kunst sowohl wie 479
die Wissenschaft - wohin sollen wir blicken? Die grosse Sündflut der Barbarei ist vor der Thür. Da wir eigentlich nichts zu vertheidigen haben, und alle mit darin stehen - was ist zu machen? Versuch die wirklich vorhandenen Kräfte noch zu warnen, sich mit ihnen zu verbinden und die Schichten, aus denen die Gefahr der Barbarei droht, noch bei Zeiten zu bändigen. Nur ist jeder Bund mit den "Gebildeten" abzuweisen. Das ist der grösste Feind, weil er den Ärzten hinderlich ist und die Krankheit weglügen will. 29 [223] Von der Bestimmung des Philosophen. Es giebt etwas Unzweckmässiges, das der Natur vorzuwerfen ist: man bemerkt es bei der Frage: wozu ist ein Kunstwerk da? Für wen? Für den Künstler? Für die andern Menschen? Aber der Künstler hat es nicht nöthig, ein Bild das er sieht sichtbar zu machen und Andern zu zeigen. Jedenfalls ist das Glück des Künstlers in seinem Werke, ebenso wie sein Verständniss desselben grösser als das Glück und das Verständniss bei allen Übrigen. Diese Disproportion finde ich unzweckmässig. Die Ursache sollte der Wirkung entsprechen. Dies ist nie bei Kunstwerken der Fall. Es ist dumm eine grosse Lawine zu wälzen, um ein wenig Schnee wegzuschieben, einen Menschen zu erschlagen, um die Fliege auf seiner Nase zu tödten. So verfährt die Natur. Der Künstler ist ein Beweis gegen die Teleologie. Der Philosoph erst recht. Für wen philosophirt er? Für sich? für Andere? Aber das Erstere wäre sinnlose Verschwendung der Natur, das Zweite wieder unzweckmässig. Der Nutzen des Philosophen trifft immer nur Wenige und nicht das Volk: und diese Wenigen trifft er nicht so stark wie den Urheber selbst. Für wen baut ein Baumeister? Sollte der mannichfache ungleiche Reflex, diese Repercussion in vielen Seelen die Absicht der Natur sein? Ich glaube er baut für den nächsten grossen Baumeister. Jedes Kunstwerk sucht weiter zu zeugen und sucht nach empfänglichen und zeugenden Seelen umher. So der Philosoph. Die Natur verfährt unverständlich und nicht geschickt. Der Künstler schiesst wie der Philosoph seinen Pfeil in das Gewimmel hinein. Er wird wohl irgendwo hängen bleiben. Sie zielen nicht. Die Natur zielt nicht und schiesst unzählig oft daneben. Künstler und Philosophen gehen zu Grunde, weil ihre Pfeile nicht treffen. Im Bereiche der Kultur geht die Natur eben so vergeuderisch um wie bei dem Pflanzen und Säen. Ihre Zwecke erfüllt sie auf eine schwerfällige und allgemeine Manier. Sie opfert viel zu viel Kraft auf, zu Zwecken, die nicht im Verhältniss sind. Der Künstler und seine Kenner und Liebhaber verhalten sich zu einander wie ein grosses Geschütz zu einer Anzahl Spatzen. Die Natur ist gemeinnützig, wendet aber nicht immer die besten und geschicktesten Mittel an. Dass sie mit dem Künstler, dem Philosophen den Andern helfen wollte, ist kein Zweifel: aber wie unverhältnissmässig gering und wie zufällig ist die Wirkung, gerechnet gegen die Ursachen (den Künstler, das Kunstwerk)! Besonders bei dem Philosophen ist die Verlegenheit gross: der Weg von ihm zum Object, auf das gewirkt werden soll, ganz zufällig. Zahllose Male misslingt es. Die Natur verschwendet, doch nicht aus Üppigkeit, sondern aus Unerfahrenheit: es ist anzunehmen, dass sie, wenn sie ein Mensch wäre, aus dem Ärger über sich gar nicht heraus käme. 480
29 [224] Ich hasse das Überspringen dieser Welt, dadurch dass man sie in Bausch und Bogen verdammt: aus ihr stammt die Kunst, die Religion. - Ach diese Flucht begreife ich so, hinaus und hinüber in die Ruhe des Einen! Ach dieser Mangel ah Liebe in diesen Philosophen, die immer nur an die Ausgewählten denken und nicht so viel Glauben zu ihrer Weisheit haben. Es muss die Weisheit wie die Sonne für jedermann scheinen: und ein blasser Strahl selbst in die niedrigste Seele hinabtauchen können. Einen Besitz den Menschen verheissen! Philosophie und Religion ist Sehnsucht nach einem Eigenthum. 29 [225] Ich ergötze mich an der Vorstellung, dass die Menschen bald einmal das Lesen satt bekommen werden: und die Schriftsteller dazu; dass der Gelehrte einer kommenden Generation eines Tags sich besinnt, sein Testament macht und verordnet, dass sein Leichnam inmitten seiner Bücher, zumal der eignen Schriften, verbrannt werden solle. Und wenn die Wälder immer spärlicher werden, sollte es nicht bald an der Zeit sein, die Bibliotheken als papiernen Holzstock und Gestrüpp zu behandeln? Sind doch die meisten Bücher aus Rauch und Dampf der Köpfe geboren: so sollen sie auch wieder zu Rauch werden. Ich glaube übrigens, dass ein Geschlecht, das den Geschmack hat mit seinen Bibliotheken seine Öfen zu heizen, gerade deshalb auch den guten Geschmack haben wird, eine kleine Anzahl Bücher und gerade die welche es verdienen auszuwählen und leben zu lassen. Es wäre freilich möglich, dass ein Jahrtausend später gerade unser jetziges Zeitalter als die dunkelste Periode der Vergangenheit gelte, weil nichts von ihm übrig geblieben ist. Wie glücklich sind wir also, dass wir unsre Zeit noch kennen lernen können aus dem überreichen Material, was sie täglich den Druckerpressen übergiebt: hat es nämlich überhaupt einen guten Sinn, sich mit seinem Gegenstand zu beschäftigen, so ist es jedenfalls ein Glück, sich so gründlich mit ihr zu beschäftigen, dass einem kein Zweifel über sie übrig bleibt. Es hat aber einen guten Sinn; denn man lernt viel dadurch selbst kennen, und gerade die schlechte Litteratur einer Zeit erlaubt uns selber im Bilde zu sehen: weil sie den Durchschnitt der gerade herrschenden Moralität usw., also nicht die Ausnahme, sondern die Regel zeigt, während die wirklich guten Bücher der Zeitgenossen meistens von solchen herrühren, die mit der Zeit eben nichts gemein haben als die Zeit. Deshalb sind sie zur Selbsterkenntniss nicht so nützlich wie jene. Aus den schlechten Büchern und Zeitungen will ich nun beweisen, dass wir alle Stümper in der Philosophie sind und keine Ph haben. 29 [226] Lesen und Schreiben. Denken und Reden dagegen: welchen Einfluss übt darauf das viele Lesen und Schreiben? 29 [227] Manche Dinge werden erst dauerhaft, wenn sie schwach geworden sind: bis dahin bedroht sie die Gefahr eines plötzlichen Unterganges: das Christenthum wird jetzt so fleissig vertheidigt, 481
weil es die bequemste Religion geworden ist; jetzt hat es Aussicht auf Unsterblichkeit, nachdem es die langwierigste Sache der Welt, die menschliche Trägheit und Bequemlichkeit auf seine Seite gezogen hat. So hat auch die Philosophie jetzt ihre grösste Schätzung, denn sie quält die Leute nicht mehr und macht ihnen doch das Maul flüssig. Die heftigen und starken Dinge sind in Gefahr, plötzlich zu verderben, geknickt und von Blitzen getroffen zu werden. Den Vollblütigen fasst der Schlagfluss. Unsere heutige Philosophie stirbt gewiss nicht am Schlagfluss. 29 [228] Rührend: ein Fest im tiefen Schneegebirge bei Winterszeit. 29 [229] Der Weg zur Freiheit. Dreizehnte Unzeitgemässe. Stufe der Beobachtung. Der Verwirrung. Des Hasses. Der Verachtung. Der Verknüpfung. Der Aufklärung. Der Erleuchtung. Des Kampfes für. Des inneren Friedens und Freisinns. Versuche der Construction. Der historischen Einordnung. Der staatlichen Einordnung. Der Freunde. 29 [230] Der Philosoph. 1. Cap. Die medicinische Moral. 2. Der Excess des Denkens wirkungslos. Kleist. 1. Wirkung der Philosophie, sonst und jetzt. 1. 2. 3. 4.
Die Popularphilosophie (Plutarch, Montaigne). Schopenhauer. Der Pfaffenstreit zwischen Optimismus und Pessimismus. Die Urzeiten.
1. 2. 3. 4.
Christenthum und Moral. Warum nicht zur Kraft der Alten? Die jungen Lehrer und Erzieher als Philosophen. Verehrung des ethischen Naturalismus. Ungeheure Operationen: aber es kommt nichts heraus dabei.
29 [231] Ich würde einem Amte nie erlauben, mir mehr als ein Viertel meiner Kraft zu rauben. 29 [232] Ich schätze das Glück nicht übermässig, unter den Deutschen geboren zu sein, und würde das Leben mit vielleicht mehr Befriedigung als Spanier betrachten. [Dokument: Heft]
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[Herbst 1873 - Winter 1873-74] 30 [1] Vom Nutzen und Nachtheil der Historie. 30 [2] Die Heerde weidet an dem Menschen vorüber: sie weiss nicht was gestern und heute ist, springt umher frisst ruht verdaut springt wieder und so vom Morgen bis zur Nacht und von Tag zu Tage, kurz angebunden mit ihrer Lust und Unlust, nämlich an den Pflock des Augenblicks und desshalben weder verdrossen noch überdrüssig. Dies zu sehen geht dem Menschen hart ein, da er des Thieres sich überhebet und doch nach seinem Glück trachtet; denn das will er, weder überdrüssig noch traurig leben, gleich dem Thier: und will es doch umsonst und ohne Hoffnung. Ach wie muss ich dich beneiden! Nicht nur, weil frei du scheinest Beinah von allen Leiden, Mühsal, Verlust, die schlimmste Beängstigung im Augenblick vergessend Mehr noch weil nie der Überdruss dich quält! Wir seufzen über uns, dass wir das Vergangne nicht los werden können und seine Kette immerfort nachschleppen müssen; während es uns scheinen will als ob das Thier glücklich sei, weil es nicht überdrüssig wird, sofort vergisst und fortwährend den erlebten Augenblick in Nebel und Nacht zurückweichen sieht. So geht es auf in der Gegenwart, wie eine Zahl in einer anderen ohne Rest aufgeht und erscheint ganz und gar als das, was es in jedem Moment ist, ohne alle Schauspielerei und absichtliches Verbergen. Wir dagegen leiden alle an dem dunklen und unauflöslichen Reste des Gewesenen und sind etwas anderes als was wir zu sein scheinen: so dass es uns mit der Empfindung des verlornen Paradieses ergreift, die weidende Heerde oder, in vertrauterer Nähe, das Kind zu sehen, das in allzukurzer und allzuseliger Blindheit zwischen den beiden Thoren der Vergangenheit und Zukunft spielt. Wer möchte sein Spiel stören und es aus der Vergessenheit herauf rufen! Wir wissen ja, dass mit dem Worte "es war" der Kampf und das Leiden beginnt und das Leben als ein nie vollendetes Imperfectum inaugurirt wird: wenn zuletzt der Tod das ersehnte Vergessen bringt, aber die Gegenwart und das Dasein selbst dabei unterschlägt, so drückt er eben damit das Siegel auf jene Erkenntniss - dass nämlich das Dasein nur ein continuirliches Gewesensein, ein ewiges Imperfectum ist, ein Ding, das sich fortwährend selbst widerspricht, sich verneint und aufzehrt. Wir müssen also das Vergangne betrachten und erleiden - das ist nun einmal Menschenloos. Unter diesem harten Joche hart zu werden soll keinem erspart sein; und wenn Einer sehr hart geworden ist, bringt er es vielleicht so weit, das Menschenloos sogar wegen jenes Nicht483
Vergessen-Könnens zu preisen, eben deshalb, weil das Vergangne in uns nicht sterben kann und uns wie ein eingeimpfter fremder Tropfen Blutes rastlos weiter treibt, die ganze Stufenleiter alles dessen hinauf, was die Menschen gross erstaunlich unsterblich göttlich nennen. Müssen wir aber das Vergangne betrachten, so giebt es jedenfalls noch eine Wahl zwischen zwei verschiedenen Arten, sich mit ihm zu schaffen zu machen, die ich klärlich und rund als die historische und die unhistorische bezeichnen will: nur möge man nicht meinen, dass die erstere mit diesem Namen gelobt oder etwa gar dass ich die andere, die unhistorische mit dem ihrigen getadelt haben wolle. Was wäre dies anderes als eine Verwechslung der unhistorischen Art mit der schlecht historischen, unter der aber doch nur die historische Betrachtungsart im Zustande der Unreife oder der Entartung verstanden werden darf. Sondern jene ist sui generis und sui juris; und zwar hat sie ein eben so gutes Recht als die historische, obschon die einzelnen Zeiten und Völker, je nachdem sie in der einen oder der anderen befangen sind, immer nur eine von beiden Arten gelten lassen, die andere gar nicht begreiflich finden und höchstens als ein Curiosum stehen lassen; wie zum Beispiel unserer Gegenwart die unhistorische Betrachtungsart im Ganzen und Grossen fremd und unverständlich ist und deshalb als verwerflich oder mindestens als ein wenig verrückt zu gelten pflegt. Fragen Sie sich selbst, fordert uns David Hume auf, oder jeden ihrer Bekannten, ob sie die letzten zehn oder zwanzig Jahre ihres Lebens noch einmal zu durchleben wünschen. Nein! Aber die nächsten zwanzig werden besser sein, sagen sie "And from the dregs of life hope to rec<e>ive, What the first sprightly running could not give". Die, welche so antworten, sind die Historischen; der Blick in die Vergangenheit drängt zur Zukunft hin, feuert den Muth an, es noch länger mit dem Leben aufzunehmen, entzündet die Hoffnung, dass das Rechte noch komme, dass das Glück hinter dem Berge sitze, auf den wir zuschreiten. Denn die historischen Menschen glauben, dass der Sinn des Daseins im Processe liege, sie schauen nur deshalb rückwärts, um an der Betrachtung des bisherigen Processes die Gegenwart verstehen und die Zukunft heftiger begehren zu lernen. Jene Frage aber, deren erste Beantwortung wir gehört haben, kann auch einmal anders beantwortet werden: zwar im Resultat vielleicht wiederum mit einem Nein! Wir wollen die zehn Jahre nicht zum zweiten Male durchleben. Aber mit welcher Begründung? Mit der Begründung des un(über)historischen Menschen, welcher nicht im Processe das Heil sieht, sondern an jedem Menschen und jedem Erlebniss und wiederum in jedem durchlebten Zeitraum, in jedem Tage, an jeder Stunde zu erkennen meint, wozu überhaupt gelebt wird: so dass für ihn die Welt in jedem einzelnen Augenblicke fertig ist und ihr Ende erreicht. Was können zehn neue Jahre lehren, was die 10 alten, wenn sie noch einmal durchlebt würden, nicht bereits zu lehren vermochten! Ob nun der Sinn der Lehre Glück oder Resignation oder Tugend oder Busse ist, darüber sind die unhistorischen Menschen mit einander nie einig geworden, aber allen historischen Behandlungsarten des Vergangnen entgegen kommen sie zur vollen Einmüthigkeit des Satzes: das Vergangne und das Gegenwärtige ist eins und dasselbe, nämlich in aller Mannichfaltigkeit gleich und als Allgegenwart unvergänglicher Typen ein stillstehendes Gebilde von unverändertem Werthe und ewig gleicher Bedeutung. Wie die Hunderte verschiedener Sprachen denselben typisch festen Bedürfnissen des Menschen entsprechen, so dass einer, der diese Bedürfnisse verstände, aus allen Sprachen nichts Neues zu lernen vermöchte: so erleuchtet sich der unhistorische Mensch alle Geschicke der Völker und der Einzelnen von innen heraus, hellseherisch den Ursinn der wechselnden Hieroglyphen errathend und allmählich sogar der immer neu hinzuströmenden Zeichenschrift ausweichend: 484
denn wie sollte er es, im unendlichen Überfluss des Geschehenden, nicht zur Sättigung bringen! Solche Betrachtungsart ist bei uns selten und anstössig, denn wir fordern gerade Unersättlichkeit in der Betrachtung des Geschehenden und nennen die Völker, die mit diesem unersättlichen Drange weiter leben und, wie man sagt, immer "fortschreiten", im ehrenden Sinne die "geschichtlichen" Völker; ja wir verachten die andersgesinnten, z. B. die Inder, und pflegen uns ihre Art aus heissem Clima und allgemeiner Trägheit, vor allem aus der sogenannten "Schwäche der Persönlichkeit" abzuleiten: als ob unhistorisch leben und denken immer das Zeichen der Entartung und der Stagnation sein müsse. Es quält unsre Gelehrten, mit der Herstellung einer indischen Geschichte so gar nicht fertig werden zu können: sie werden selber um ihre Ableitung der Litteraturgattungen nach occidentalischem Schema misstrauisch und zweifeln selbst in solchen Allgemeinheiten, ob z. B. eine so mächtige und ausgebildete Philosophie wie die Sankhya-Philosophie vor- oder nach-buddhaistisch sei: solcher Zweifel und Misserfolge wegen rächen sie sich dann durch jene Missachtung an so querköpfigen trägen und stagnirenden Völkern. Die historischen Menschen merken nicht, wie unhistorisch sie sind und wie auch ihre Beschäftigung mit der Geschichte nicht im Dienste der Erkenntniss, sondern des Lebens steht. Vielleicht betrachten hinwiederum die Inder unsre Gier nach dem Geschichtlichen und unsre Schätzung der "geschichtlichen" Völker und Menschen als ein occidentalisches Vorurtheil, oder sogar als eine Krankheit der Köpfe: "haben nicht so unhistorisch wie wir - werden sie sagen, auch alle jene Männer gelebt, die selbst ihr die Weisen nennt? Oder war Plato kein unhistorischer Mensch? Um einmal von euren gerühmten Griechen nur Einen, und nicht ganze Generationen, gegen euch vorzuführen. Und glaubt ihr im Ernste, dass Jemand durch ein Jahrtausend geschichtlicher Dinge um einen tüchtigen Schritt der Göttin Weisheit näher kommen müsse, als ein andrer, der von allen diesen Dingen nichts erfahren hat? Vielleicht ist sogar eure jetzige Manier, Geschichte zu treiben und zu fordern, erst recht der Ausdruck der sogenannten "schwachen Persönlichkeit"; wenigstens scheint uns gerade an euren starken Persönlichkeiten, euren historischen Grössen, herzlich wenig von dem specifischen "historischen Sinn", von der "geschichtlichen Objectivität", von der zur Pflicht gewordnen Belehrtheit in Jahreszahlen, Schlachtennamen und Völkergeistern sichtbar zu werden: welche Eigenschaften zu verstecken sie doch keinen Grund hatten, da sie unter euch und nicht unter uns lebten". Doch lassen wir die Inder zanken: mögen sie weiser sein als wir, wir wollen aber heute einmal unserer Unweisheit recht froh werden und uns als den "Thätigen und Fortschreitenden" einen guten Tag machen. Denn es soll über den Nutzen der Historie nachgedacht werden und zwar darüber, ob wir bereits den grösstmöglichen Nutzen, der von ihr zu gewinnen ist, gewonnen haben. Es lebe das occidentalische Vorurtheil für das Historische: sehen wir nur zu, dass wir, bei dem Glauben an den Fortschritt, auch innerhalb jenes "Vorurtheils" fortschreiten, nämlich jedenfalls irgendwohin, wo wir noch nicht standen. Den grösstmöglichen Nutzen werden wir aber aus der Historie nur dann ziehen können, wenn wir uns über den Schaden, den sie etwa zufügen könnte, so gut als möglich zu verständigen wissen. Denn wenn man an jeder hypertrophischen Tugend bekanntlich nicht nur leiden, sondern auch zu Grunde gehen kann, so wird es der Würde der Historie schwerlich Abbruch thun, zu wissen, dass sie auch schaden kann, ja dass es möglich ist an ihr zu leiden und zu Grunde zu gehen. Soll man sich nun deshalb vor der Hypertrophie jeder Tugend hüten? Soll man auf den Nutzen der Historie verzichten, weil man Gefahr läuft bei einiger Hypertrophie derselben an ihr zu leiden? Oder spornt es vielleicht sogar den Muthigen an, zu erkennen, dass man an ihr und in ihr untergehen kann? Ist zuletzt es nicht das Ziel jedes Heroismus, im Untergang den grösstmöglichen Gewinn zu finden? Entscheide man sich, wie man wolle, 485
bezweifle man die Hypertrophie der Historie, leugne man überhaupt, dass Historie eine Tugend sei - man wird damit verrathen, wie weit und wie tief man denkt, ja ob man überhaupt denkt: inzwischen aber wollen wir darüber berathen, in wie fern die Historie (das heisst, mit Erlaubniss meiner Leser: jede Beschäftigung mit Geschichte) auch schaden kann. 30 [3] Kurzschreiben - Es ist schwer, kurz zu schreiben, sagt Winckelmann, auch nicht eines Jeden Werk; denn man kann in einer völligern Art zu schreiben nicht so leicht beim Wort genommen werden. Derjenige, der an Jemand schrieb: ich hatte nicht Zeit diesen Brief kürzer zu machen, erkannte, was die kurze Schreibart erfordert. 30 [4] Ohne jedes Pathos. Fast keine Perioden. Keine Fragen. Wenig Bilder. Alles sehr gedrängt. Friedfertig. Keine Ironie. Keine Klimax. Das Logische betont, doch sehr kurz. 30 [5] Was ist Weisheit? Im Gegensatz zur Wissenschaft. 1 Vorrede. Giebt es jetzt ein Streben nach Weisheit? Nein. 1 Haupttheil. Ist ein Streben nach Weisheit nöthig, ein Bedürfniss? - Nein. Aber vielleicht wird es bald einmal Bedürfniss sein. Wann? Schilderung. Nachwort. 30 [6] Bildung steht im Widerspruche zur Natur eines Menschen. Was ergiebt sich, wenn man die Natur sich selbst entwickeln liesse, das heisst sie selbst unter lauter zufälligen Einwirkungen: sie würde auch gebildet, zufällig gebildet und geformt, aber nach der grenzenlosen Unvernunft der Natur, unter zahllosen Exemplaren ein schönes Exemplar. Sonst unzählige zerstörte Keime, zerstört entweder im Zwiespalt der innern Kräfte oder durch Einwirkung von aussen. Untergang entweder aus innerem Zwiespalt (während die Kräfte erstarken) oder von aussen her, durch Mangel an Lebensluft etc. Neigung der Zeit für die starken Einseitigkeiten, weil sie doch wenigstens noch Lebenskraft der Natur verrathen: und allerdings ist Kraft der Natur die Voraussetzung. Schwächliche Naturen soll man gar nicht in den Erziehungsplan einrechnen; sie werden weder im Guten noch im Schlimmen viel zu bedeuten haben. 30 [7] Es giebt zwei Maximen im Betreff der Erziehung: 1) man solle die Stärke eines Individuums bald erkennen und dann darauf hin alles richten, diese Stärke auf Kosten aller übrigen geringeren Kräfte auszubilden: so dass die Erziehung dann eben Leitung jener Kraft wird. 2) man solle alle vorhandenen Kräfte heranziehn und in ein harmonisches Verhältniss setzen, 486
also die geringern, gerade der Überleitung , kräftigen, die überstarken schwächen. Woran soll man nun einen Maassstab haben? Das Glück des Einzelnen? Der Nutzen, den er dem Gemeinwesen erweist? Die partiellen sind nützlicher, die harmonischen sind glücklicher. Sofort entsteht diese Frage von Neuem: eine grosse Gemeinschaft, ein Staat, ein Volk: soll es eine partielle Kraft besonders ausbilden oder viele Kräfte? Im ersten Falle wird der Staat die partielle Ausbildung der Individuen nur ertragen, wenn die partiellen Eigenschaften in seinem Ziele liegen, d. h. er wird nur einen Theil der Individuen nach ihrer Stärke erziehen, bei den andern wird er nicht mehr nach Stärke und Schwäche sehen, sondern dass die bestimmte Eigenschaft, sei sie ursprünglich noch so schwach, jedenfalls entwickelt werde. Will er eine Harmonie, so kann er dies immer noch auf zwei Weisen: entweder durch harmonische Ausbildung aller Individuen, oder eine Harmonie der partiell ausgebildeten Individuen. Im letzten Falle wird er aus lauter widerstreitenden machtvollen Kräften eine Temperatur erzeugen, d. h. er muss die Stärken in ihrer partiellen Ausschliesslichkeit abhalten von der Feindseligkeit gegen einander, von der gegenwärtigen Zerstörung, er muss alle binden durch ein gemeinsames Ziel (Kirche, Staatsglück usw.). Der letzteren Art ist Athen, der ersteren Sparta. Die erstere Art ist viel schwieriger und künstlicher, sie ist der Entartung am meisten ausgesetzt, sie bedarf eines überwachenden Arztes. In unserer Zeit ist alles wüst und unklar. Der moderne Staat wird immer spartanischer. Es wäre möglich, dass die grössten und edelsten Kräfte durch Verkümmern und Überleiten versiegen und absterben. Denn ich bemerke, dass gerade die Wissenschaften und die Philosophie selbst dies vorbereiten. Sie sind keine Bollwerke mehr, weil sie kein eignes Ziel mehr haben dürfen: d. h. weil kein Gemeinwesen ihr Wesen mit in sein Ziel aufnimmt. So wäre denn geboten die Gründung eines Kulturstaates im Gegensatz zu den lügnerischen, die sich jetzt so nennen, als einer Art von Refugium der Kultur. 30 [8] Das Glück des Einzelnen im Staate wird untergeordnet dem Gesammtwohl: was heisst das? Nicht dass die Minoritäten benutzt werden zum Wohle der Majoritäten. Sondern dass die Einzelnen dem Wohle der höchsten Einzelnen untergeordnet werden, dem Wohle der höchsten Exemplare. Die höchsten Einzelnen sind die schöpferischen Menschen, sei es die besten moralischen oder sonst im grossen Sinne nützlichen, also die reinsten Typen und Verbesserer der Menschheit. Nicht die Existenz eines Staates um jeden Preis, sondern dass die höchsten Exemplare in ihm leben können und schaffen können, ist das Ziel des Gemeinwesens. Das liegt auch der Entstehung der Staaten zu Grunde, nur dass man oft eine falsche Meinung hatte, was die höchsten Exemplare seien: oft die Eroberer usw. Dynasten. Ist die Existenz eines Staates nicht mehr zu erhalten, so dass die grossen Individuen in ihm nicht mehr leben können: so entsteht der schreckliche Noth- und Raubstaat: wo die stärksten Individuen sich an Stelle der besten setzen. Aufgabe des Staates nicht dass möglichst viele darin gut und sittlich leben: auf die Zahl kommt es nicht an: sondern dass überhaupt in ihm gut und schön gelebt werden könne: dass er die Basis einer Kultur abgäbe. Kurz: die edlere Menschlichkeit ist das Ziel des Staates, sein Zweck liegt ausser ihm, er ist Mittel. Jetzt fehlt das, was alle partiellen Kräfte bindet: und so sehen wir alles feindselig gegen einander und alle edlen Kräfte in gegenseitigem aufreibendem Vernichtungskrieg. Dies soll an der Philosophie gezeigt werden: sie zerstört, weil sie durch nichts in Schranken gehalten wird. Der Philosoph ist zu einem gemeinschädlichen Wesen geworden. Er vernichtet Glück
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Tugend Kultur, endlich sich selbst. - Sonst muss sie ein Bündniss der bindenden Kraft sein, als Arzt der Kultur. 30 [9] Anfang! Was! Harmonische Entwicklung! Soll man den, der Talent zur Bildhauerei hat, gewaltsam zur Musik nöthigen, wie Cellini von seinem Vater immer wieder zu dem lieblichen Hörnchen und zu dem verfluchten Pfeifen - - - den Schuster zum Schneider machen? Was liegt an der Allerweltswissenschaft eines solchen Menschen! - Man verwechselt oft die schwachen Naturen mit den harmonischen. Vielmehr ist Harmonie da, wenn alles auf einen Mittelpunct, auf eine Cardinalkraft bezogen ist, nicht wenn zahlreiche schwache Kräfte zugleich spielen. Der ästhetische Mensch soll der harmonische sein? Er ist nicht einmal ästhetisch verwendbar, er ist flach. Rafael ist doch gewiss harmonisch. 30 [10] Was ist Beredsamkeit? Sich verständlich machen? Doch das will auch der Maler, die Hieroglyphe, die Gebärde. Sich durch Worte verständlich machen? Geschriebene oder gesprochne macht keinen Unterschied hinsichtlich der Definition. Aber da fällt Poesie und Prosa hinein. Nun giebt es auch in der Poesie Rhetorik, aber Poesie ist nicht ein Theil der Rhetorik. Aber verständlich machen? Es ist doch nicht der Appell an den Verstand allein? Es giebt doch keine Rhetorik in der Mathematik. Den fremden Intellect und Willen durch Worte erregen? Aber das thut auch der Hitzkopf, der Betrunkene. Mit Besonnenheit dies thun? Aber dies thut auch der Betrüger, der Lügner. Ist es möglich, die Moralität mit in der Definition zu berücksichtigen? Keine Vorschrift sich zu verstellen. Mit künstlerischer Besonnenheit dies thun? Doch dies thut auch der Schauspieler und ist doch kein Redner (auch wenn er den Redner spielt, ist er noch etwas Anderes als der wirkliche Redner). Aber der Zweck ist doch kein künstlerischer? Nur das Mittel? Zu erinnern an die Baukunst.
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Durch Worte mit künstlerischer Besonnenheit zu bewirken, dass jemand über eine Sache so denkt und fühlt wie man will. Aber gehört das "Erreichen" zur Definition? Nein. Auch wenn das Ziel nicht erreicht wird, ist immer noch Rhetorik da. Der Redner bemüht sich, durch Anwendung von Worten und Gebärden, mit künstlerischer Besonnenheit, die von ihm Angeredeten denken und fühlen zu lassen, was er will. Doch will man dies nicht auch in der Dialektik? Wie wirkt man mit Worten auf den Verstand? Wie auf das Gefühl? Was unterscheidet den Redner vom leidenschaftlichen Sprecher, was vom Betrüger? Vom Schauspieler? Im Grunde ist Dichter und Redner eins. Der spätere Unterschied ist welcher? Ist es eine Kunst, eine Fertigkeit? Gewiss der Redner ist ein Künstler. Aber die frühesten Redner wissen nichts von Kunst? Sie haben sie als lebendige Praxis ererbt. Das Wichtigste ist: Aufstellung des Themas. Dann: Gliederung Zeichnung Architectur. Dann: Colorit Ornamentik etc. Der Redner im Gegensatz zum wissenschaftlichen Menschen. Die Anwendung der Stratagemata der Dialectik auf die Rede. 30 [11] Ein rechtes Problem ist die Ehrlichkeit und das Künstlerische: denke an Cicero und das Romanische Decorationsprincip. 30 [12] Poetik. Rhetorik. Alte Philosophie. Mythologie. Staat. Ethik. 30 [13] Ein Versuch über die Griechen. Staat. Ethik. Religion. Philosophie. Poetik. Rhetorik.
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30 [14] Cap. I. Der angebliche Welttag und die Vernichtung des Pessimismus. Woher? Unmenschen. Der Name Philosoph will mir nicht über die Lippen. Die modernen Menschen beten die Kraft an. Schilderung der Schwäche überall. Das gegen einander Feindselige, weil die Klammer fehlt. Das Atomistische. Hartmann gar nicht zu erwähnen. 30 [15] BEDRAENGNISS der PHILOSOPHIE A. Noth der Zeit, Anforderungen an den Philosophen. 1. Hast. 2. Kein Bauen fürs Ewige (die neuen Häuser). 3. Die mattgewordene Religion. 4. Medicinische Moral. Naturalismus. 5. Geschwächte Logik (durch Historie, Naturwissenschaft). 6. Mangel an Erziehern. 7. Unnütze und gefährliche Complicirtheit von Bedürfnissen, Pflichten. 8. Vulkanischer Grund. B. Angriffe auf die Philosophie. 1. Misstrauen der strengeren Methoden. 2. Die Geschichte nimmt den Systemen das Gültige. 3. Die Kirche hat die populäre Einwirkung an sich gerissen. 4. Der Staat verlangt Leben im Augenblick. C. Bild der Philosophen. 490
1 . Matt - Excess des Denkens wirkungslos (Kleist). 2. Sie finden den Punkt, wo das Gelehrte beginnt. 3. Pfaffenstreit. 4. Urzeiten. 5. Mangel der sittlichen grossen Vorbilder. 6. Conflikt zwischen Leben und Denken überall geduldet. 7. Mangelhafte Logik. 8. Die unsinnige Erziehung der Studenten. 9. Das Leben der Philosophen und ihre Genesis. D. Philosophie - ob sie Fundament einer Kultur sein kann? Ja - aber jetzt nicht mehr: sie ist zu sehr verfeinert und zugespitzt, man kann sich nicht mehr daran halten. Thatsächlich hat die Philosophie sich in den Strom der jetzigen Bildung hineinziehn lassen: sie beherrscht ihn gar nicht. Bestenfalls Wissenschaft geworden (Trendelenburg). Bild Schopenhauers. Gegensatz seiner eudämonologischen Praxis (der Weltklugheit überreifer Zeiten wie der Spanier) und seiner nur geschauten tiefern Philosophie. Von zwei Seiten aus verurtheilt er die Gegenwart. Ich sehe einstweilen keine andre Möglichkeit, als für die Praxis die Weltklugheit Schopenhauer's, für die tiefern Bedürfnisse die Weisheit. Wer nicht in diesem Widerspruche leben will, der muss für eine verbesserte Physis (Cultur) kämpfen. 30 [16] Ist Herr Ulrici weise? Weilt er auch nur im Gefolge der Weisheit als einer ihrer Liebhaber? Nein: betrübter Weise nein, und ich kann doch nichts davor, dass er kein Weiser ist. Es wäre ja so erhebend zu wissen, dass wir Deutschen einen Weisen von Halle, einen Weisen von München usw. besässen: und besonders ungern lassen wir uns Carrière, den Erfinder des Realidealismus und des hölzernen Eisens entschlüpfen: wäre er nur ein wenig mehr weise, wie gern wollten wir ihn als voll gelten lassen. Denn es ist eine Schande, dass die Nation nicht einmal Einen Weisen, sondern nur fünf Denkwirthe hat: und dass E. von Hartmann es merken lassen kann, was er weiss: dass es augenblicklich in Deutschland an Philosophen fehlt. 30 [17] Wirkungen der kantischen Philosophie. Kleist. Simplicität der Alten.
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Nur soweit einer der Philosophie nachleben kann, soll er Philosophie haben: damit nicht Alles Worte werde (wie bei Plato, Brief 7). 30 [18] 1. Welche Wirkung hat die Philosophie jetzt auf die Philosophen geübt? - Sie leben so wie alle anderen Gelehrten, selbst Politiker. Schopenhauer ist schon eine Ausnahme. Sie zeichnen sich durch keine Sitten aus. Sie leben um's Geld. Die fünf Denker der Augsburger Allgemeinen. Man betrachte das Leben ihrer höchsten Exemplare, Kant und Schopenhauer ist das das Leben von Weisen? Es bleibt Wissenschaft: sie stehen zu ihrem Werke als Artisten, daher bei Schopenhauer die Begierde nach Erfolg. Es ist bequem, Philosoph zu sein: denn niemand macht an sie Ansprüche. Die erste Nacht des Diogenes. Sie beschäftigen sich mit lauter apices: Sokrates würde verlangen, dass man die Philosophie wieder zu den Menschen herab hole; es giebt keine oder eine ganz schlechte Popularphilosophie. Sie zeigen alle Untugenden der Zeit, die Hast voran, und schreiben darauf los. Sie schämen sich nicht zu lehren, sehr jung bereits. Welche Wirkung der Philosophie verspürt man bei den Zöglingen der Philosophen, ich meine bei den Gebildeten? Es fehlt uns der beste Stoff der Unterhaltung, die feinere Ethik. Rameau's Neffe. Überwucherung der aesthetischen Gesichtspuncte für die Betrachtung der Grösse, des Lebens. 30 [19] Das Wort Philosophie, auf deutsche Gelehrte und Schriftsteller angewendet, macht mir neuerdings Beschwerde: es scheint mir unpassend. Ich wollte, man vermiede es und spräche fürderhin, deutsch und kräftig, nur noch von Denkwirthschaft. Doch ich will erzählen, wie ich zu diesem Einfalle kam. 30 [20] Ich bin so unbescheiden, zu dem "Volk der Denker" von der deutschen Denkwirthschaft (um nicht zu sagen Philosophie) zu reden. Wo lebt dieses Volk? wird der Ausländer fragen. Dort wo die fünf Denker leben, auf welche, als auf den Inbegriff deutscher Philosophie der Gegenwart, kürzlich an einer ausserordentlich öffentlichen Stelle aufmerksam gemacht wurde: Ulrici, Frohschammer, Huber, Carrière, Fichte. Was zwar den letztern anbetrifft, so ist es leicht, über ihn etwas Gutes zu sagen: denn selbst der böse Kraftmensch Büchner hat es gethan: "alle Menschen haben nach Herrn Fichte dem Jüngern von Geburt an einen sie begleitenden Geist: nur Herr Fichte hat keinen." Aber auch in Betreff der übrigen vier Männer würde jener fanatische Freund des Stoffs mir zugeben, dass in ihnen etwas phosphorescirt, was in dem jüngern Fichte nicht phosphorescirt. Also: einer hat keinen Geist und die vier Übrigen phosphoresciren: in Bausch und Bogen: alle fünf philosophiren oder, um gut deutsch zu reden, sie treiben Denkwirthschaft. Auf sie aber wird das Ausland hingewiesen, um zu erkennen, dass wir Deutsche noch das Volk der Denker sind. Aus guten Gründen hat man E. von Hartmann nicht mit genannt: denn dieser besitzt wirklich, was der jüngere Fichte gerne hätte: ja er hat vermöge dieses Etwas das Volk jener fünf Denker, die Deutschen, auf eine recht unmanierliche Manier an der Nase herumgeführt: wonach es scheint, dass er nicht mehr an das Volk der Denker glaubt, und wahrscheinlich - was schlimmer ist - nicht einmal mehr an die fünf Denkwirthe. Nur aber, wer an sie glaubt, wird jetzt selig gesprochen: deshalb fehlt
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Hartmann unter den berühmten Namen des deutschen Reichs. Denn er hat Geist, und nur den Armen im Geiste gehört jetzt das "Reich". 30 [21] Die Professoren der Philosophie üben nicht mehr Fertigkeiten ein, nicht einmal mehr das Disputiren. Die Logik, so wie sie gelehrt wird, ist ganz nutzlos. Aber die Lehrer sind schon viel zu jung, um mehr sein zu können als wissenschaftliche Anlerner: wie sollten sie erziehen, zur Weisheit? 30 [22] Tugend , ein altmodisches Wort. Man denke nur an die jungen Gymnasiallehrer, wenn die den ethischen Erzieher abgeben wollten! 30 [23] Es ist mit den Wissenschaften wie mit den Bäumen: man kann sieh nur an dem derben Stamm festhalten: an den obersten Ästen nicht mehr, man fällt herab und zerbricht meistens noch die Äste. So steht es mit der Erkenntnisstheorie. 30 [24] Welches Nachdenken, welche Vertrautheit mit der Seele zu Zeiten Diderots und Friedrich des Grossen! Selbst die Minna von Barnhelm, durch und durch auf französischer Gesellschaftssprache aufgebaut, ist jetzt zu fein. Wir sind rohe Naturalisten. Ich möchte, dass jemand zeigte, wie wir in unserer Verherrlichung des ethischen Naturalismus vollständig zu Jesuiten geworden sind. Wir lieben das Natürliche, als Ästhetiker, nicht als Ethiker: aber es giebt keine Ethiker. Man denke nur an Schleiermacher. 30 [25] Das Wichtigste an der Weisheit ist, dass sie den Menschen abhält, vom Augenblick beherrscht zu werden. Sie ist deshalb nicht zeitungsgemäss: ihre Absicht ist, den Menschen für alle Schicksalsschläge gleich fest hinzustellen, für alle Zeiten zu wappnen. Sie ist wenig national. 30 [26] Auch Montaigne ist den Alten gegenüber ein Naturalist der Ethik, aber ein grenzenlos reicher und denkender. Wir sind gedankenlose Naturalisten und zwar mit allem Wissen. 30 [27] Die Sympathie für die Urzustände ist recht die Liebhaberei der Zeit. So ein Unsinn, dass eine Descendenzlehre gar religionsmässig gelehrt werden kann! Die Freude liegt darin, dass nichts Festes da ist, nichts Ewiges und Unverbrüchliches. 30 [28]
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Es fehlen die ethischen Berühmtheiten; entschieden fehlt der Sinn dafür, sie anzuerkennen. Dagegen spukt die Theorie der Kraft. Ein Beispiel: einer sagt, Hegel ist ein schlechter Stilist: der andere: aber er ist so reich an originellen und volksthümlichen Wendungen. Das trifft aber das Material allein: der Stilist zeigt sich nicht darin, dass er schönen Marmor hat, sondern wie er ihn behaut. Ebenso im Ethischen. 30 [29] Nach Ruhe der Seele haben die Philosophen immer gestrebt: jetzt nach unbedingter Unruhe: so dass der Mensch in seinem Amte, seinem Geschäfte ganz aufgeht. Die Tyrannei der Presse wird sich kein Philosoph gefallen lassen: bei Goethe durften nur Wochennummern und Hefte erscheinen. 30 [30] Es giebt eine Kunst, sich die Dinge nur durch Worte und Namen, die man ihnen beilegt, fernzuhalten: ein Fremdwort macht uns oft das fremd, was wir sonst recht gut aus der Nähe kennen. Sage ich Weisheit und Liebe zur Weisheit, so empfinde ich gewiss etwas Heimischeres, Wirksameres als wenn ich Philosophie sage: aber wie gesagt, es ist mitunter eben die Kunst, sich die Dinge nicht zu nah kommen zu lassen. Liegt doch in den heimischen Worten oft so viel Beschämendes! Denn wer würde sich nicht schämen, sich als Weisen oder auch nur als werdenden Weisen zu bezeichnen! Aber als einen Philosophen? Das will jedermann so leicht über die Zunge: etwa so leicht als jeder den. Titel Doctor trägt, ohne jemals an die so anmaassliche Confession, die in ihm liegt, Lehrer zu sein, zu denken. Nehmen wir also an, dass das Fremdwort Philosoph von der Scham und Bescheidenheit eingegeben ist: oder wäre es wahr, dass vielleicht gar keine Liebe zur Weisheit da ist, und die fremdländische Bezeichnung, etwa wie bei dem Worte "Doctor" nur den Mangel an Inhalt, die Leere des Begriffs verhüllen soll? Es ist mitunter ausserordentlich schwer, das Vorhandensein einer Sache nachzuweisen: so verquickt, übersetzt, versteckt, so diluirt und abgeschwächt ist sie, während die Namen beharrlich sind und Verführet obendrein. ist das, was wir jetzt Philosophie nennen, wirklich Liebe zur Weisheit? Und giebt es jetzt überhaupt wahre Freunde der Weisheit? Setzen wir ungescheut Liebe zur Weisheit an Stelle des Wortes Philosophie: es wird schon herauskommen, ob sie sich decken. 30 [31] Unbekanntschaft mit Plutarch. Montaigne über ihn. Der wirksamste Autor (bei Smiles). Ob ein neuer Plutarch auch nur möglich wäre? Wir leben ja alle in einer stillosen naturalistischen Sittlichkeit; wir halten die antiken Gestalten leicht für deklamatorisch. 30 [32] Das Christenthum hat höhere Formen gezeigt: aber die grössere Menge ist zurückgefallen. Es ist jetzt so schwer, zur Simplicität der Alten wieder zurückzukehren. 30 [33] Die Jesuiten schwächten und milderten die Ansprüche des Christenthums, um doch seine Macht noch zu behaupten. Der Protestantismus begann mit der Erklärung von Adiaphora in grösster Masse.
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30 [34] Gracian zeigt eine Weisheit und Klugheit in der Lebenserfahrung, damit sich jetzt nichts vergleichen lässt. Wir sind wohl die Mikroskopiker des Wirklichen, unsre Romane verstehen zu sehen (Balzac, Dickens), nur zu fordern und zu erklären versteht niemand. 30 [35] Die Neigung zur Mystik ist doch bei unsern Philosophen zugleich eine Flucht aus der handgreiflichen Ethik. Dort giebt es keine Forderungen mehr, noch Genie's der Güte, des transscendenten Mitleids. Wird die Imputabilität in das Wesen verlegt, so sind die antiken Moralsysteme sinnlos. 30 [36] Die Philosophen wollen der Wissenschaft entfliehen: von ihr werden sie gejagt. Man sieht, worin sie schwach ist. Sie geht nicht mehr voran: weil sie selbst nur Wissenschaft ist, allmählich nur Grenzwächterschaft. 30 [37] 24 Einleitung, 8 Innerlich. 8 Objektiv. 8 Hartmann. 8 Gegenmittel. 56 30 [38] Entwurf der "Unzeitgemässen Betrachtungen". 1. Der Bildungsphilister. 2. Geschichte. 3. Philosoph. 4. Gelehrte. 5. Kunst. 6. Lehrer. 7. Religion. 8. Staat Krieg Nation. 9. Presse. 10. Naturwissenschaft. 11. Volk Gesellschaft. 12. Verkehr. 13. Sprache.
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[Dokument: Mappe loser Blätter] [Herbst 1873 - Winter 1873 - 74] 31 [1] Morgen ist vorbei und Mittag senget heissen Blicks das Haupt lasset uns in Lauben sitzen und der Freundschaft Lieder singen, die des Lebens Frühroth war: Abendroth wird sie uns sein doch zu Mittag ist sie nur ein Klang: sagt, verhiess der Morgenhimmel uns nicht schöneres Gewinnen - - 31 [2] Pericles spricht von den Festen Athens, den schönen und kostbaren Einrichtungen des Hauses, deren täglicher Anblick das düstere Wesen verscheucht. Wir Deutsche leiden sehr an diesem düstern Wesen; Schiller hoffte durch das Einströmen von Schönheit und Grösse, durch die aesthetische Erhebung eine Nachwirkung in Betreff der moralischen Erhebung. Wagner hofft umgekehrt dass die moralischen Kräfte der Deutschen sich endlich auch einmal dem Bereiche der Kunst zuwenden, um hier Ernst und Würde zu verlangen. Er nimmt die Kunst so streng und ernst wie möglich: so hofft er erst ihre erheiternde Wirkung zu erleben. Bei uns steht es recht verkehrt und unnatürlich; wir machen den Menschen, die uns durch Kunst erheitern wollen, die grössten Schwierigkeiten, so dass wir von ihnen moralische Genialität und Charactergrösse fordern. Weil den begabtesten Künstlern ihre Bildung so schwer gemacht wird und sie alle Kraft auf den Kampf verschwenden müssen, sind wir Nichtkünstler umgekehrt wieder sehr lax in den moralischen Ansprüchen an uns geworden: die Bequemlichkeit herrscht in den Grundsätzen und Anschauungen des Lebens. So das Leben lässig nehmend verlieren wir das rechte Bedürfniss der Kunst. Wenn das Leben, wie das athenische, Pflicht Aufforderung Unternehmung Mühsal fortwährend im Schoosse trägt, so weiss man auch die Kunst, das Fest und überhaupt die Bildung zu ehren und zu begehren: damit sie erheitert. Und deshalb ist die moralische Schwäche der Deutschen vornehmlich die Ursache davon, dass sie keine Cultur haben. Zwar: sie arbeiten ausserordentlich, alles ist in Hast, der vererbte Fleiss zeigt sich fast als Naturkraft. Worin offenbart sich ihre moralische Schwäche! 31 [3] Neigung der Zeit für die starken Einseitigkeiten, weil sie doch wenigstens noch Lebenskraft verrathen: Kraft aber muss da sein, bevor etwas gebildet werden kann. Ist Schwäche da, so ist 496
die Bemühung aufs Conserviren um jeden Preis gerichtet: da wird jedenfalls kein Gebilde, an dem man Freude haben könnte. Zu vergleichen dem Schwindsüchtigen, der nach Leben schnappt und bei jedem Augenblick an Gesundheit d. h. Erhaltung denken muss.. Hat eine Zeit viel dergleichen Naturen, so ehrt sie endlich die Kraft, selbst wenn sie roh und feindselig ist: Napoleon als gelber gesunder Tiger bei Marwitz-Brief. 31 [4] Wer die antike Moral kennt, wird sich wundern, wie viel damals moralisch genommen wurde, was jetzt medicinisch behandelt wird, wie viele Störungen der Seele, des Kopfes damals dem Philosophen, jetzt dem Arzt zur Heilung übergeben werden, wie besonders die Nerven und ihre Beruhigung jetzt durch Alkalien oder Narkotika bedacht werden. Die Alten waren viel mässiger und absichtlich mässiger im täglichen Leben: sie wussten sich zu enthalten und sich viel zu versagen, um die Herrschaft über sich nicht zu verlieren. Ihre Worte über Moral gehen überall von dem lebendigen Beispiele solcher aus, die wie diese Worte lauten gelebt haben. Ich weiss nicht, von welchen fernen und seltenen Dingen die modernen Ethiker reden: sie nehmen den Menschen wie ein wunderlich spiritualistisches Wesen, sie scheinen es für unanständig zu halten, den Menschen so nackt-antik zu behandlen und von seinen vielen nöthigen obzwar niedrigen Bedürfnissen zu reden. Die Schamhaftigkeit geht so weit, dass man glauben möchte, der moderne Mensch habe nur noch einen Scheinleib. Ich glaube dass die Vegetarianer, mit ihrer Vorschrift, weniger und einfacher zu essen, mehr genützt haben als alle neueren Moralsysteme zusammen genommen: auf etwas Übertreibung kommt nichts dabei all. Es ist kein Zweifel, dass die einstmaligen Erzieher den Menschen auch wieder eine strengere Diät vorschreiben werden. Man glaubt durch Luft Sonne Wohnung Reisen usw. die modernen Menschen gesund zu machen, eingeschlossen die medicinischen Reize und Gifte. Aber alles, was dem Menschen schwer wird, scheint nicht mehr angeordnet zu werden: auf angenehme und bequeme Art gesund und krank zu sein scheint die Maxime. Doch ist es gerade die fortgesetzte kleine Masslosigkeit, d. h. der Mangel an Selbstzucht, der zuletzt als allgemeine Hast und impotentia sich zeigt. 31 [5] Manche Dinge werden erst dauerhaft, wenn sie schwach geworden sind - bis dahin bedroht sie die Gefahr eines plötzlichen und gewaltsamen Unterganges. Die Gesundheit im Greisenalter wird immer gesünder. Das Christenthum z. B. wird jetzt so fleissig vertheidigt und wird lange Zeit fortvertheidigt werden, weil es die bequemste Religion geworden ist. Jetzt hat es fast Aussicht auf Unvergänglichkeit, nachdem es die langwierigste Sache der Welt, die menschliche Faulheit und Bequemlichkeit auf seine Seite gebracht hat. So hat auch die Philosophie ihre grösste Schätzung und ihre zahlreichsten Vertreter gerade jetzt: denn sie quält die Leute nicht mehr, ja viele werden von ihr unterhalten und alle dürfen ihren Mund aufthun, ohne alle Gefahr, und los schwätzen. Die heftigen und starken Dinge sind in Gefahr plötzlich zu verderben, geknickt und vom Blitz getroffen zu werden. Den Vollblütigen fasst der Schlagfluss. Unsere heutige Philosophie stirbt gewiss nicht am Schlagflusse. Besonders seitdem die Philosophie eine historische Disciplin ist, hat sie sich die Unschädlichkeit und damit die Unvergänglichkeit gewährleistet. 31 [6] [+ + +] während der Philosoph, als der wissende Vertreter dieser Verbindung, nicht mehr anerkannt werden darf, nicht mehr Glauben findet, sondern als Schwindler gilt, als einer, der zuviel verspricht. 3) ist die strengste Richtung der Philosophie im Begriff, sich in ein 497
relativistisches System zu verwandeln, ungefähr gleich dem παντων µετρον ανϑ ρωποζ. Damit ist es vorbei: denn es giebt nichts Unerträglicheres als solche Grenzwächter, die nie was anderes wissen als "hier nicht weiter" "dort darf man nicht hingehen" "jener hat sich verlaufen" "wir wissen nichts mit absoluter Zuverlässigkeit" usw. Es ist ein ganz und gar unfruchtbarer Boden. - So wäre es denn vorbei? - Der Kaiser Augustus gebot, als ganz kleiner Knabe, den Fröschen auf einem Landhause Schweigen, die ihm durch ihr Quaken lästig fielen: sie sollen von da an geschwiegen haben, wie Sueton sagt. 31 [7] Wenn sich jetzt Philosophen eine Polis träumen wollten, so würde es gewiss keine Platonopolis, sondern eine Apragopolis (Stadt der Müssiggänger). 31 [8] Zur Zeitschilderung. In Betreff der Religion bemerke ich eine Ermüdung, man ist an den bedeutenden Symbolen endlich müde und erschöpft. Alle Möglichkeiten des christlichen Lebens, die ernstesten und lässigsten, die harm- und gedankenlosesten und die reflectirtesten, sind durchprobirt, es ist Zeit zur Erfindung von etwas Neuem oder man muss immer wieder in den alten Kreislauf gerathen: freilich ist es schwer, aus dem Wirbel herauszukommen, nachdem er uns ein paar Jahrtausende herumgedreht hat. Selbst der Spott, der Cynismus, die Feindschaft gegen das Christenthum ist abgespielt; man sieht eine Eisfläche bei erwärmtem Wetter, überall ist das Eis zerrissen, schmutzig, ohne Glanz, mit Wasserpfützen, gefährlich. Da scheint mir nur eine rücksichtsvolle, ganz und gar ziemliche Enthaltung am Platze: ich ehre durch sie die Religion, ob es schon eine absterbende ist. Mildern und beruhigen ist unser Geschäft, wie bei schweren hoffnungslosen Kranken; nur gegen die schlechten, gedankenlosen Pfuscher-Ärzte (die meistens Gelehrte sind) muss protestirt werden. - Das Christenthum ist sehr bald für die kritische Historie d. h. für die Section reif. 31 [9] Man muss auch beachten, dass eine Menge Philosophie bereits vererbt ist, ja dass die Menschen fast gesättigt sind. Was führt nicht jede Unterhaltung, jedes Gesellschafts-Buch, jede Wissenschaft mit sich an angewandter Philosophie! In wie zahllosen Thaten zeigt sich auch, dass der Mensch, der jetzige, unendlich viel Philosophie eingeerbt hat. Schon die homerischen Menschen zeigen diese angeerbte Philosophie. Ich meine, die Menschheit würde nicht aufhören zu philosophiren, wenn man auch die Lehrstühle unbesetzt liesse. Was hat nicht die Theologie alles in sich aufgeschluckt! Ich meine, die ganze Ethik. Eine solche Weltbetrachtung, wie die christliche, muss allmählich alle andern Ethiken hinzunehmen, bekämpfen, an sich ziehen, muss sich mit ihnen auseinandersetzen - ja muss sie vernichten, wenn sie stärker und anhaltender ist. 31 [10] Ich denke an die erste Nacht des Diogenes: alle antike Philosophie war auf Simplicität des Lebens gerichtet und lehrte eine gewisse Bedürfnisslosigkeit, das wichtigste Heilmittel gegen alle socialen Umsturzgedanken. In diesem Betracht haben die wenig philosophischen Vegetarianer mehr für die Menschen geleistet als alle neueren Philosophien; und so lange die
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Philosophen nicht den Muth gewinnen, eine ganz veränderte Lebensordnung zu suchen und durch ihr Beispiel aufzuzeigen, ist es nichts mit ihnen. 31 [11] Es ist mit den Wissenschaften wie mit den Bäumen, man kann sich nur an dem derben Stamme und den unteren Ästen festhalten, nicht mehr an den äussersten Zweigen und Spitzen; sonst fällt man herab und zerbricht meistens auch noch die Äste. So steht es mit der Philosophie: wehe einer Jugend, welche sich an ihre Apices anklammern will! [Dokument: Heft] [Anfang 1874 bis Frühjahr 1874] 32 [1] Ist noch Alles christlich, was sich so nennt? Oder, ausführlicher und zugleich bedenklicher gefragt, was ist überhaupt, in unserem jetzigen Leben, noch wirklich christlich, was dagegen nennt sich nur so, aus Angewöhnung oder Furchtsamkeit? Und giebt es etwas was sich nicht einmal mehr so nennt vielmehr eingestandenermaassen unchristlich ist? Um die letzte Frage zuerst zu beantworten, nenne ich, des Beispiels halber, die gesammte Wissenschaft: sie ist jetzt unchristlich und will so heissen. 32 [2] Cicero. Schmuck. Ehrlichkeit. Decorative Cultur. An den Griechen auch jetzt zu lernen. Der moralische Mangel Cicero's erklärt seinen aesthetischen Mangel (an Ehrlichkeit)? Alle neueren Zeiten leiden an diesem Mangel: unser Stil verhüllt. Es ist nach der Art Cicero's fortzuringen mit den Griechen. Leopardi. Die Stärke und Ehrlichkeit seines Characters zeigt sich als Künstler. Aber die Reinheit seines Geschmacks ist nicht so gross, dass er vermöchte Demosthenes nachzuahmen: ob er schon höchlichst mit ihm wetteifert. (W und Beethoven.) Er ist als Künstler ehrlich und giebt ganz, was ihm gefällt. Aber ihm gefällt nicht das Beste am meisten, sondern das Asiatische. Das war ächt römisch. Civilisatorische Möglichkeit schwebt vor. Für die römische Cultur wesentlich die Separation der "Form"; der "Inhalt" wird durch sie versteckt oder übertüncht. Das Nachmachen einer fremden fertigen Cultur ist deutlich zu 499
beobachten. Aber das haben, die Griechen auch gethan. Ein neues Gebilde ist das Resultat. Die römische Beredsamkeit war da grösster Kraft und vermochte deshalb sich das Fremde zu assimiliren. Das Prächtige, Brutale und Verführerische der asiatischen Rhetorik zuerst, dann der rhodischen, dann der attischen Kunst: also rückwärts, in's immer Einfachere. 32 [3] Epos (Sprache Genesis der Kultur) - Hesiod's Erga. Lyrik (dazu die Rhythmik) - Fragmente. Drama (Staat und Kunst) - Choephoren Oedipus rex. Redner (Griechen und Römer) - Demosth. de corona. Philosophen (Kampf gegen die Religion) - Phaedo. Historiker (Kampf gegen das Mythische) - Thucydides. 32 [4] Griechisch und Barbarisch. 1. Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. 2. Plato und seine Vorgänger. 3. Cicero und Demosthenes. Unzeitgemässe Betrachtungen. Strauss. Historie. Lesen und Schreiben. Einjährig-Freiwillig. Wagner. Gymnasien und Universitäten. Christlichkeit. Absolute Lehrer. Philosoph. Volk und Cultur. Classische Philologie.
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Der Gelehrte. Zeitungs-Sklaverei. 32 [5] 1874 Thuc. I Perser. Gorgias. Pro corona. Redner. Epos 1875 Thuc. II Trachin. Ar. Ethik. Rede Drama. 1876 Thuc. 3 Antigone. Ar. Politik. Rede. Lyrik. 1877 Thuc. 4 Oed. Col. Plat. Staat. Rede. Mythologie. 1878 Thuc. 5 Frösche. Leges. Rede. 1879 Thuc. 6 Vögel. Theophr. Charact. Historiker Rede 32 [6] Geschichts-Werk. Tragödie. Novelle. Moral und Medezin. Über griechische Litteratur. 32 [7] Die Philosophen. Laertius Diogenes. Die διαδοχαι. Die Sprache. 32 [8] Wenn Goethe ein versetzter Maler, Schiller ein versetzter Redner ist, so ist Wagner ein versetzter Schauspieler. Er nimmt bes die Musik hinzu 32 [9] Wagner fand das Publikum sehr verschiedenartig ausgebildet, anders in der Beurtheilung der Schauspielkunst, anders für Musik. Er nahm es als Einheit und erklärte seine Ausbrüche von Neigung als aus Einer Wurzel kommend, d. h. er setzte voraus, dass der Effect durch gleiche 501
Portionen von Einzeleffecten zusammenaddirt sei. So und so viel Freude an der Musik, ebenso viel an der Schauspielkunst, ebensoviel am Drama. Nun lernt er, dass eine grosse Schauspielerin diese Rechnung in Verwirrung bringt - zugleich aber steigert sich sein Ideal - was wird die Wirkung erst für eine Höhe erreichen, wenn eine gleich grosse Musik usw. entspricht? 32 [10] Unmässigkeit und Schrankenlosigkeit galt ihm wohl als Natur. Goethe zweifelte auch nicht das zu können, was ihm gefiel. Sein Geschmack und sein Können giengen parallel. Das Präsumptuöse. Was auf Wagner stark wirkte, das wollte er auch machen. Von seinen Vorbildern verstand er nicht mehr, als er auch nachmachen könnte. Schauspieler-Natur. Wagner ist eine gesetzgeberische Natur: er übersieht viel Verhältnisse und ist nicht im Kleinen befangen, er ordnet alles im Grossen und ist nicht nach der isolirten Einzelheit zu beurtheilen - Musik Drama Poesie Staat Kunst usw. Die Musik ist nicht viel werth, die Poesie auch , das Drama auch nicht, die Schauspielkunst ist oft nur Rhetorik - aber alles ist im Grossen Eins und auf einer Höhe. Wagner als Denker ist gleich so hoch als Wagner als Musiker und Dichter. 32 [11] Das erste Problem Wagner's "warum bleibt die Wirkung aus, da ich sie empfange?" Dies treibt ihn zu einer Kritik des Publikums, des Staates, der Gesellschaft. Er setzt zwischen Künstler und Publikum das Verhältniss vom Subject und Object - ganz naiv. Wagners Begabung ist ein aufwachsender Wald, kein einzelner Baum. 32 [12] Er hat das Gefühl der Einheit im Verschiedenen - deshalb halte ich ihn für einen Kulturträger. 32 [13] Bei manchen Harmonien hat er etwas Angenehm-Widerstrebendes, wie beim Drehen eines Schlüssels in einem complicirten Schlosse. Im Grossen ist Wagner gesetzmässig und rhythmisch, im Einzelnen oft gewaltsam und unrhythmisch. Wagner hat sich so gewöhnt, in verschiedenen Künsten zugleich zu empfinden, dass er für neue Musik völlig unempfindlich ist: so dass er sie theoretisch verwirft. Ebenso für Dichtungen. Daraus viele Misshelligkeiten mit Zeitgenossen. 32 [14] 502
Jede Kunst hat eine Stufe der Rhetorik. Fundamentaler Unterschied zwischen Poesie und Rhetorik, oder Kunst und Rhetorik. Entstehung bei Empedocles characteristisch. Mittelwesen. Schauspieler und Redner: erster vorausgesetzt. Naturalismus. Rechnung auf den Affect. Auf das grosse Publikum. Alles aufzuzählen, wodurch die Rhetorik der unmoralischen Kunst entspricht. Entstehung der Kunstprosa als Nachklang der Rhetorik. Es ist sehr selten, dass einer als Künstler wirklich seine Subjectivität herausstellt: die meisten verstecken sie durch eine angenommene Manier und Stil. Ehrliche Kunst und unehrliche Kunst - Hauptunterschied. Die sogenannte objective Kunst ist am häufigsten nur unehrliche Kunst. Die Rhetorik ist deshalb ehrlicher, weil sie das Täuschen als Ziel anerkennt. Sie will gar nicht die Subjectivität ausdrücken, sondern einem gewissen Ideal von Subject, dem mächtigen Staatsmanne usw., wie ihn sich das Volk denkt <, entsprechen>. Jeder Künstler fängt unehrlich an, nämlich redend wie sein Meister (Sophocles Schwulst des Aeschylus). Am häufigsten Contrast zwischen Erkennen und Können ewig: dann stellen sich die Künstler auf Seite des Geschmacks und bleiben ewig unehrlich. Cicero der dekorative Mensch eines Weltreichs. Als vollendeter Mensch und Wonne der Natur empfindet er sich, daher sein Ruhmgefühl. Seine politischen Thaten sind Dekoration. Er verwendet Alles, Wissenschaften und Künste, nach ihrer dekorativen Kraft. Erfinder des "Pathos an sich", der schönen Leidenschaft. Die Cultur als verhüllende Dekoration. Aufgabe. das Werden einer solchen Natur psychologisch zu erklären. 32 [15] Die eine Eigenschaft Wagner's: Unbändigkeit, Maasslosigkeit, er geht bis auf die letzten Sprossen seiner Kraft, seiner Empfindung. Die Heiterkeit Wagner's ist das Sicherheitsgefühl dessen, der von den grössten Gefahren und Ausschweifungen zurückkehrt, in's Begrenzte und Heimische: alle Menschen, mit denen er umgeht, sind solche begrenzte Abschnitte aus seinem eignen Laufe (wenigstens empfindet er nichts mehr an ihnen) deshalb kann er hier heiter und überlegen sein, denn hier kann er mit allen Nöthen Bedenken spielen. Die andere Eigenschaft ist eine grosse schauspielerische Begabung, die versetzt ist, die sich in anderen Wegen Bahn bricht als auf dem ersten nächsten: dazu nämlich fehlt ihm Gestalt Stimme und die nöthige Bescheidung. Keiner unserer grossen Musiker war in seinem 28ten Jahr ein noch so schlechter Musiker wie Wagner.
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Im Tannhäuser sucht er eine Reihe von ekstatischen Zuständen an einem Individuum zu motiviren: er scheint zu meinen, erst in diesen Zuständen zeige sich der natürliche Mensch. In den Meistersingern und in Theilen seiner Nibelungen kehrt er zur Selbstbeherrschung zurück: er ist darin grösser als in dem ekstatischen Sichgehenlassen. Die Beschränkung steht ihm wohl. Ein Mensch, der durch seinen Kunsttrieb disciplinirt wird. Er entladet sich seiner Schwächen, dadurch dass er sie der modernen Zeit zuschiebt: natürlicher Glaube an die Güte der Natur, wenn sie frei waltet. Er misst Staat Gesellschaft Tugend Volk, Alles an seiner Kunst: und in unbefriedigtem Zustande wünscht er, dass die Welt zu Grunde gehe. Die Jugend Wagner's ist die eines vielseitigen Dilettanten, aus dem nichts Rechtes werden will. Ich habe oft unsinniger Weise bezweifelt, ob Wagner musikalische Begabung habe. Seine Natur theilt sich allmählich: neben Siegfried, Walter, Tannhäuser tritt Sachs-Wotan. Er lernt den, Mann zu begreifen, sehr spät. Tannhäuser und Lohengrin sind Ausgeburten eines Jünglings. Er lief seinem Amte davon, weil er nicht mehr dienen mochte. 32 [16] Als Schauspieler wollte er den Menschen nur als den wirksamsten und wirklichsten nachahmen: im höchsten Affect. Denn seine extreme Natur sah in allen andern Zuständen Schwäche und Unwahrheit. Die Gefahr der Affectmalerei ist für den Künstler ausserordentlich. Das Berauschende, das Sinnliche Ekstatische, das Plötzliche, das Bewegtsein um jeden Preis - schreckliche Tendenzen! 32 [17] Die Musik zu Beckmesser ist superlativisch: sie kann keinen mehr ausdrücken, der mehr geprügelt und geschunden ist. Man hat ordentlich Mitleid, wie wenn ein Bucklichter verhöhnt wird. 32 [18] Richard Wagner in Bayreuth. 1. Ursachen des Misslingens. Darunter vor allem das Befremdende. Mangel an Sympathie für Wagner. Schwierig, complicirt. 2. Doppelnatur Wagner's. 3. Affect Ekstase. Gefahren. 4. Musik und Drama. Das Nebeneinander. 5. Das Präsumptuöse. 6. Späte Männlichkeit - langsame Entwicklung. 504
7. Wagner als Schriftsteller. 8. Freunde (erregen neue Bedenken). 9. Feinde (erwecken keine Achtung, kein Interesse für das Befehdete). 10. Das Befremden erklärt: vielleicht gehoben? Mot to: -32 [19] Die Sehnsucht nach der Ruhe Treue - aus dem Unbändigen, Grenzenlosen - im fliegenden Holländer. 32 [20] Wagner ist eine regierende Natur, nur dann in seinem Elemente, nur dann gewiss mässig und fest: die Hemmung dieses Triebes macht ihn unmässig, excentrisch, widerhaarig. Wagner ist ein geborner Schauspieler, aber gleichsam wie Goethe ein Maler ohne Malerhände. Seine Begabung sucht und findet Auswege. Nun denke man sich diese versagten Triebe zusammen wirkend. 32 [21] Es ist ernstlich möglich, dass Wagner den Deutschen die Beschäftigung mit den einzelnen vereinzelten Künsten verleidet. Vielleicht sogar lässt sich aus seiner Nachwirkung das Bild einer einheitlichen Bildung gewinnen, das durch Zusammenaddiren einzelner Fertigkeiten und Kenntnisse nicht erreicht werden kann. 32 [22] Nicht zu vergessen: es ist eine theatralische Sprache, die Wagner's Kunst redet; sie gehört nicht in's Zimmer, in die camera. Es ist eine Volksrede, und die lässt sich ohne eine starke Vergröberung selbst des Edelsten nicht denken. Sie soll in die Ferne wirken und das Volkschaos zusammenkitten. Z. B. der Kaisermarsch. 32 [23] Sehr viele Missgriffe liegen daran, dass der Beurtheilende von seiner partiellen Kunst (HausKunst) ausgeht. 32 [24] Er steht zur Musik wie ein Schauspieler: deshalb kann er gleichsam aus verschiedenen Musikerseelen sprechen und ganz diverse Welten (Tristan, Meistersinger) nebeneinander hinstellen. 32 [25]
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Man muss nicht unbillig sein und nicht von einem Künstler die Reinheit und Uneigennützigkeit verlangen, wie sie ein Luther usw. besitzt. Doch leuchtet aus Bach und Beethoven eine reinere Natur. Das Ekstatische ist bei Wagner oft gewaltsam und nicht naiv genug, zudem durch starke Contraste zu stark in Scene gesetzt. 32 [26] Sein Zurückfliehen zur Natur d. h. zum Affect ist deshalb verdächtig, weil der Affect am wirkungsreichsten ist. Falsch die Möglichkeit einer Kunst, die reine Improvisation ist: das ist der deutschen Musik entgegen doch nur ein naiver Standpunct. Die organische Einheit liegt bei Wagner im Drama, durchdringt aber deshalb nicht die Musik (oft nicht), ebensowenig den Text. Der behält den Eindruck des Improvisirten (das nur bei den vollendeten Künstlern etwas Gutes ist, nicht bei werdenden: aber es täuscht immer und erweckt den Eindruck des Reichthums). 32 [27] Zwischen Musik und Sprache ist eine Verbindung möglich, die wirklich organisch ist: im Lied. Oft auch in ganzen Scenen. Es ist ein Ideal, das Drama und die Musik in ein solches Verhältniss zu bringen. Vorbild der antike Chortanz. Aber das Ziel ist sofort viel zu hoch genommen: denn wir haben noch keinen Stil der Bewegung, keine ebenso reiche Ausbildung der Orchestik, wie es unsre Musik hat. Die Musik aber in den Dienst einer naturalistischen Leidenschaftlichkeit zwingen, löst sie auf und verwirrt sie selbst und macht sie später unfähig, die gemeinsame Aufgabe zu lösen. Dass uns eine solche Kunst wie die Wagner's auf's höchste gefällt, dass sie eine unendliche Ferne der Kunstentwicklung noch aufzeigt, ist kein Zweifel. Aber der deutsche Formensinn! Wenn nur die Musik nicht schlecht wird und die Form ausbleibt! Im Dienste Hans-Sachsischer Gebärden muss die Musik entarten (Beckmesser). 32 [28] Es liegt etwas Komisches darin: Wagner kann die Deutschen nicht überreden, das Theater ernst zu nehmen. Sie bleiben kalt und gemüthlich - er ereifert sich, als ob das Heil der Deutschen davon abhienge. Jetzt zumal glauben die Deutschen ernsthafter beschäftigt zu sein und es kommt ihnen wie eine lustige Schwärmerei vor, dass Jemand der Kunst so feierlich sich zuwendet. Reformator ist Wagner nicht, denn bis jetzt ist Alles beim Alten geblieben. In Deutschland nimmt jeder seine Sache ernst, da lacht man über den, der für sich allein das Ernstnehmen praetendirt. Einwirkung der Geldkrisen. Allgemeine Unsicherheit der politischen Lage. Zweifel an der besonnenen Leitung der d<eutschen> Geschicke. Zeit der Kunstaufregungen (Liszt usw.) vorüber. Eine ernste Nation will sich einige Leichtfertigkeit nicht verkümmern lassen, die Deutschen nicht in den theatralischen Künsten.
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Hauptsache: die Bedeutung der Kunst, wie sie Wagner hat, passt nicht in unsre gesellschaftlichen und arbeitenden Verhältnisse. Daher instinktive Abneigung gegen das Ungeeignete. 32 [29] Wagner ist für einen Deutschen zu unbescheiden; man denke an Luther, unsre Feldherrn. 32 [30] Wagner als Schriftsteller giebt nicht sein Bild treu wieder. Er componirt nicht: das Gesammte kommt nicht zur Anschauung: im Einzelnen schweift er ab, ist dunkel, und nicht harmlos und überlegen. Er hat keine heitere Anmaassung. Es ist ihm alle Anmuth, Zierlichkeit versagt, auch dialektische Schärfe. 32 [31] Wie erwarb sich Wagner die Anhänger? Sänger, die als Dramatiker interessant wurden und eine ganz neue Möglichkeit zu wirken bekamen, vielleicht bei geringerer Stimme. Musiker, die bei dem Meister des Vortrags lernten: der Vortrag muss so genial sein, dass er über das Werk selbst zu keinem Bewusstsein dringt. Orchestermusiker im Theater, die sich früher langweilten. Musiker, die Berauschung oder Bezauberung des Publikums auf direkte Weise betrieben und die die Farbeneffecte des Wagnerschen Orchesters erlernten. Alle Arten von Unzufriednen, die bei jedem Umsturz etwas für sich zu gewinnen hofften. Menschen, die für jeden sogenannten "Fortschritt" schwärmen. Solche, die sich bei der bisherigen Musik langweilten und nun ihre Nerven kräftiger bewegt fanden. Menschen, die sich für alles Verwegne und Kühne fortreissen lassen. - Er hatte bald die Virtuosen für sich, bald einen Theil der Componisten; - entbehren kann ihn kaum Einer oder der Andre. Litteraten mit allen unklaren Reformbedürfnissen. Künstler, die die Art unabhängig zu leben bewundern. 32 [32] Die "falsche Allmacht" entwickelt etwas "Tyrannisches" in Wagner. Das Gefühl ohne Erben zu sein - deshalb sucht er seiner Reformidee die möglichste Breite zu geben und sich gleichsam durch Adoption fortzupflanzen. Streben nach Legitimität. Der Tyrann lässt keine andre Individualität gelten als die seinige und die seiner Vertrauten. Die Gefahr für Wagner ist gross, wenn er Brahms usw. nicht gelten lässt: oder die Juden. 32 [33] Wagner ist moderner Mensch und vermag sich nicht durch den Glauben an Gott zu ermuthigen und zu befestigen. Er glaubt nicht in der Hand eines guten Wesens zu stehen, aber er glaubt an sich. Keiner ist mehr gegen sich ganz ehrlich, der nur an sich glaubt. Wagner beseitigt alle seine Schwächen, dadurch dass er sie der Zeit und den Gegnern aufbürdet. 32 [34] Der Tyrannensinn für das Colossale.
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Es kommt ihm gar keine Pietät entgegen, der ächte Musiker betrachtet ihn als einen Eindringling, als illegitim. 32 [35] Es ist ein Glück, dass Wagner nicht auf einer höheren Stelle, als Edelmann, geboren ist und nicht auf die politische Sphäre verfiel. 32 [36] Der Mensch, der dieser ungeheuren Entzückungen und Selbstentäusserungen sich fähig fühlt, behält schwerlich Bescheidenheit, denn nur der Wissende ist zum Bescheiden aufgefordert, der Unwissende-Begeisterte ist unbegrenzt. Cult des Genius kommt hinzu, durch Schopenhauer genährt. 32 [37] Man sollte durch das Misslingen Wagner nicht noch mehr aufreizen; man macht ihn allzu grimmig. 32 [38] Er wird jetzt wohl der unbefangenste Schätzer der deutschen kleinen Tugenden und Beschränktheiten sein, denn er sieht sie unterliegen und conspirirt mit ihnen gegen das, was jetzt siegt. 32 [39] Er hat sich vom Nachdenken über politische Möglichkeiten nicht frei gehalten: zu seinem Unglücke auch mit dem K<önig> v B, der ihm erstens sein Werk nicht aufführte, zweitens es durch vorläufige Aufführungen halb preisgab und drittens ihm einen höchst unpopulären Ruf schaffte, weil man die Ausschreitungen dieses Fürsten Wagner allgemein zuschreibt. Ebenso unglücklich liess er sich mit der Revolution ein: er verlor die vermögenden Protectoren, erregte Furcht und musste wiederum den socialistischen Parteien als ein Abtrünniger erscheinen: alles ohne jeden Vortheil für seine Kunst und ohne höhere Nothwendigkeit, überdiess als Zeichen der Unklugheit, denn er durchschaute die Lage 1849 gar nicht. Drittens beleidigte er die Juden, die jetzt in Deutschland das meiste Geld und die Presse besitzen. Als er es that, hatte er keinen Beruf dazu: später war es Rache. Ob er mit dem grossen Vertrauen, welches er in Bismarck setzte, Recht hatte, wird eine nicht zu ferne Zukunft lehren. 32 [40] In seinen Werthschätzungen der grossen Musiker gebraucht er zu starke Ausdrücke, z. B. nennt er Beethoven einen Heiligen. Auch ist, das Hinzuziehn der Worte in der neunten Symphonie als Hauptthat zu schildern, ein starkes Stück. Er erregt Misstrauen durch sein Lob wie durch seinen Tadel. Das Zierliche und Anmuthige sowie die reine Schönheit, der
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Widerglanz einer völlig gleichschwebenden Seele geht ihm ab: aber er sucht sie zu diskreditiren. 32 [41] Seine Begabung als Schauspieler zeigt sich darin, dass er es nie im persönlichen Leben ist. Als Schriftsteller ist er Rhetor, ohne die Kraft zu überzeugen. 32 [42] Das Aufhören der grossen rhythmischen Perioden, das Übrigbleiben der Taktphrasen, macht allerdings den Eindruck der Unendlichkeit, des Meers: aber es ist ein Kunstmittel, nicht das reguläre Gesetz, zu dem es Wagner stempeln möchte. Wir haschen zuerst darnach, suchen uns Perioden, werden immer wieder getäuscht, und endlich wirft man sich in die Wellen. 32 [43] Der Weg vom Tanz bis zur Symphonie kann nicht übersprungen werden: was bleibt übrig als ein naturalistisches Gegenstück der unrhythmischen wirklichen Leidenschaft. Aber mit der unstilisirten Natur kann die Kunst nichts anfangen. Excesse in dem Tristan der bedenklichsten Art, z. B. die Ausbrüche am Schluss des 2ten Aktes. Unmässigkeit in der Prügelscene der Meistersinger. Wagner fühlt, dass er in Hinsicht der Form die ganze Rohheit des Deutschen hat und will lieber unter Hans Sachsens Panier kämpfen als unter dem der Franzosen oder der Griechen. Unsre deutsche Musik (Mozart Beethoven) hat aber die italiänische Form in sich aufgenommen, wie das Volkslied, und entspricht deshalb mit ihrem feingegliederten Reichthum der Linien nicht mehr der bäuerlich-bürgerlichen Rüpelei. 32 [44] Wagner's Kunst ist überfliegend und transscendental, was soll unsre arme deutsche Niedrigkeit damit anfangen! Sie hat etwas wie Flucht aus dieser Welt, sie negirt dieselbe, sie verklärt diese Welt nicht. Deshalb wirkt sie nicht direkt moralisch, indirekt quietistisch. Nur um seiner Kunst eine Stätte in dieser Welt zu bereiten, sehen wir ihn beschäftigt und activ: aber was geht uns ein Tannhäuser Lohengrin Tristan Siegfried an! Das scheint aber das Loos der Kunst zu sein, in einer solchen Gegenwart, sie nimmt der absterbenden Religion ein Theil ihrer Kraft ab. Daher das Bündniss Wagner's und Schopenhauer's. Es verräth, dass vielleicht bald einmal die Kultur nur noch in der Form klosterhaft abgeschiedener Sekten existirt: die sich zu der umgebenden Welt ablehnend verhalten. Der Schopenhauerische "Wille zum Leben" bekommt hier seinen Kunstausdruck: dieses dumpfe Treiben ohne Zweck, diese Ekstase, diese Verzweiflung, dieser Ton des Leidens und Begehrens, dieser Accent der Liebe und der Inbrunst. Selten ein heitrer Sonnenstrahl, aber viel magische Zaubereien der Beleuchtung. In einer solchen Stellung der Kunst liegt ihre Stärke und Schwäche: es ist so schwer, von dort her zu dem einfachen Leben zurückzukehren. Die Verbesserung des Wirklichen ist nicht mehr das Ziel, sondern das Vernichten oder das Hinwegtäuschen des Wirklichen. Die Stärke liegt in dem sektirerischen Character: sie ist extrem und verlangt von dem Menschen eine unbedingte Entscheidung. - Ob wohl ein Mensch besser zu werden vermag, durch diese Kunst und durch Schopenhauerische Philosophie? Gewiss in Betreff der Wahrhaftigkeit. Wenn nur in einer
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Zeit, in der die Lüge und Convention so langweilig und uninteressant ist, die Wahrhaftigkeit nicht so interessant wäret So unterhaltend! Aesthetisch reizvoll! 32 [45] Die künstlerische Kraft veredelt den unbändigen Trieb und engt ihn ein, concentrirt ihn (zu dem Wunsch, dies Werk möglichst vollkommen zu gestalten). Sie veredelt die ganze Natur Wagners. Immer reckt sie sich wieder nach höheren Zielen aus, so hoch als er nur sehen kann: immer besser werden diese Ziele, endlich auch immer bestimmter und dadurch näher. So scheint der gegenwärtige Wagner dem Wagner von Oper und Drama, dem Socialisten nicht mehr zu entsprechen: das frühere Ziel scheint höher, ist aber nur ferner und unbestimmter. Seine jetzige Auffassung des Daseins, Deutschlands usw. ist tiefer, obwohl sie viel conservativer ist. 32 [46] Die Einfachheit in der Anlage der Dramen zeigt den Schauspieler. 32 [47] Shakespeare und Beethoven nebeneinander - der kühnste wahnsinnigste Gedanke. 32 [48] Schuld und Unrecht abwälzend - weil er immer wächst, so vergisst er das Unrecht schnell: auf der neuen Stufe erscheint es ihm bereits gering und verharscht. Kann sich über Alles trösten, wie Schopenhauer. 32 [49] Die Goethische Stelle vom präsumptuösen Menschen steht 27, 507. 32 [50] Ob man bei Wagner von prächtiger "Actfigurenmusik" reden könnte? Ihm schwebt das Bild des sichtbar werdenden Innern, des als Bewegung anzuschauenden Gemüthsprozesses vor - dem will er entsprechen: höchst schopenhauerisch den Willen direkt zu fassen. Musik als Abbild einer Existenz durch das Nacheinander. 32 [51] Gefahr dass in den Bewegungen und Handlungen des Drama's die Motive für die Bewegung der Musik liegen, dass sie geleitet wird. Es ist nicht nöthig, dass Eins von beiden leitet - im vollkommenen Kunstwerk haben wir das Gefühl des nothwendigen Nebeneinanders. 32 [52]
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Wagner bezeichnet als den Irrthum im Kunstgenre der Oper, dass ein Mittel des Ausdrucks, die Musik, zum Zwecke, der Zweck des Ausdrucks aber zum Mittel gemacht war. Also die Musik gilt ihm als Mittel des Ausdrucks - sehr characteristisch für den Schauspieler. Jetzt war man bei einer Symphonie gefragt. wenn die Musik hier Mittel des Ausdrucks ist, was ist der Zweck? Der kann also nicht in der Musik liegen: das, was seinem Wesen nach Mittel des Ausdrucks ist, muss nun etwas haben, was es ausdrücken soll: Wagner meint das Drama. Ohne dies hält er die Musik allein für ein Unding: es erweckt die Frage "warum der Lärm?". Deshalb hielt er die 9te Symphonie für die eigentliche That Beethovens, weil er hier durch Hinzunahme des Wortes der Musik ihren Sinn gab, Mittel des Ausdrucks zu sein. Mittel und Zweck - Musik und Drama - ältere Lehre. Allgemeines und Beispiel - Musik und Drama - neuere Lehre. Ist die letztere wahr, so darf das Allgemeine ganz und gar nicht abhängig vom Beispiel sein, d. h. die absolute Musik ist im Recht, auch die Musik des Drama's muss absolute Musik sein. Nun ist das immer noch mehr ein Gleichniss und Bild - es ist nicht völlig wahr, dass das Drama nur ein Beispiel zur Allgemeinheit der Musik ist: Gattung und Species, worin doch? Als Bewegung von Tönen gegenüber den Bewegungen von Gestalten (um hier nur vom mimischen Drama zureden). Nun können aber auch die Bewegungen einer Gestalt das Allgemeinere sein: denn sie drücken innerliche Zustände aus, die viel reicher und nuancirter sind als ihr Bewegungsresultat am äussern Menschen: weshalb wir so oft eine Gebärde missverstehen. Überdies ist unendlich viel Conventionelles an allen Gebärden - der völlig freie Mensch ist ein Phantasma. Lässt man aber die Bewegtheit der Gestalt fahren, und redet vom bewegten Gefühl, so sollte nun die Musik das Allgemeinere, das bewegte Gefühl der und jener Person das Specielle sein. Die Musik aber ist eben das bewegte Gefühl des Musikers in Tönen ausgedrückt, also jedenfalls eines Individuums. Und so war es immer (wenn man von der reinen formalistischen TonArabesken-Lehre absieht). So hätte man den vollen Widerspruch: ein ganz specieller Ausdruck des Gefühls als Musik, ganz bestimmt - und daneben das Drama, ein Nebeneinander von Ausdrücken ganz bestimmter Gefühle, der dramatischen Personen, durch Wort und Bewegung. Wie können diese sich je decken? Wohl kann der Musiker den Vorgang des Dramas selbst nachempfinden und als reine Musik wiedergeben (Coriolanouvertüre). Dieses Abbild hat aber dann zum Drama selbst allerdings den Sinn einer Verallgemeinerung, die politischen Motive, Gründe, alles ist weggelassen und nur der dumme Wille redet. In jedem andern Sinne ist dramatische Musik schlechte Musik. Nun aber die verlangte Gleichzeitigkeit und der genaueste Parallelismus! des ganzen Vorgangs, im Musiker und im Drama. Da stört nun die Musik den Dramatiker, denn sie braucht, um etwas auszudrücken, Zeit, oft zu einer einzigen Regung des Drama's eine ganze Symphonie. Was macht währenddem das Drama? Wagner benutzt dazu den Dialog, überhaupt die Sprache. Da kommt nun eine neue Macht und Schwierigkeit hinzu: die Sprache. Diese redet in Begriffen. Auch diese haben ihre eignen Zeitgesetze: kurz Mimus allein drückt das zu Grunde
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liegende Gefühl jedes in anBegriffswelt dern Zeitmaassen aus. Musik. Im Wortdrama regiert die Macht, die die meiste Zeit braucht, der Begriff. Deshalb ist die Action oft ein Ruhen, plastisch, Gruppen. Besonders in der Antike: die ruhende Plastik drückt einen Zustand aus. Der Mimus wird also bedeutend durch das Wortdrama bestimmt. Nun braucht der Musiker ganz andre Zeiten und eigentlich sind ihm gar keine Gesetze vorzuschreiben: eine angeschlagene Empfindung kann bei dem Einen Musiker lang, bei dem andern kurz sein. Welche Forderung nun, dass hier die Begriffssprache und die Tonsprache neben einander hergehen! Nun enthält aber die Sprache selbst ein musikalisches Element. Der stark empfundene Satz hat eine Melodie, die auch ein Bild der allgemeinsten Willensregung dabei ist. Diese Melodie ist künstlerisch verwendbar und ausdeutbar, in's Unendliche. Die Vereinigung aller dieser Factoren scheint unmöglich: der eine Musiker wird einzelne durch das Drama erregte Stimmungen wiedergeben und mit dem grössten Theil des Dramas sich nicht zu helfen wissen: daher dann wohl das Recitativ und die Rhetorik. Der Dichter wird dem Musiker nicht zu helfen vermögen und dadurch sich selbst nicht helfen können: er wünscht nur so viel zu dichten, was man singen kann. Davon hat er aber nur ein theoretisches Bewusstsein, kein innerliches. Der Schauspieler muss vor allem wieder als Sänger eine Menge thun, was nicht dramatisch ist, den Mund aufsperren usw.; er braucht conventionelle Manieren. Nun würde sich alles verändern, wenn der Schauspieler einmal zugleich Musiker und Dichter wäre. Er benutzt Gebärde Sprache Sprachmelodie und dazu noch die anerkannten Symbole des Musikausdrucks. Er setzt eine sehr reich entwickelte Musik voraus, die schon für eine Unzahl Regungen einen festeren erkennbaren und wiederkehrenden Ausdruck gewonnen hat. Durch diese Musikcitate erinnert er den Zuhörer an eine bestimmte Stimmung, in der der Schauspieler sich gedacht wissen will. Jetzt ist wirklich die Musik ein "Mittel des Ausdrucks" geworden: steht deshalb künstlerisch auf einer niedern Stufe, denn sie ist nicht mehr organisch in sich. Nun wird der musikalische Meister immer noch die Symbole in der kunstvollsten Weise verflechten können: aber weil der eigentliche Zusammenhang und Plan jenseits und ausserhalb der Musik liegt, kann sie nicht organisch sein. Aber es würde unbillig sein, dies dem Dramatiker vorzuwerfen. Er darf zu Gunsten des Drama's die Musik als Mittel gebrauchen, wie er die Malerei als Mittel gebraucht. Solche Musik, rein an sich, ist der gemalten Allegorie zu vergleichen: der eigentliche Sinn liegt nicht im Bilde, deshalb kann er sehr schön sein. 32 [53] Gefahren der dramatischen Musik für die Musik. Gefahren des musikalischen Drama's für den dramatischen Dichter. Gefahren für den Sänger.
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32 [54] Alles Grosse, zumal Neue, ist gefährlich: meistens tritt es auf, als ob es einzig berechtigt wäre. Man muss eben denken, was für eine Zeit sich hier eine Kunst schafft. ganz ungebunden athemlos unfromm habsüchtig formlos unsicher in den Fundamenten, fast desperat, unnaiv, durch und durch bewusst, unedel, gewaltsam, feige. 32 [55] Als Schauspieler reproducirt Wagner am besten, er kehrt in fremden (Musiker-) Seelen ein. 32 [56] Die Kunst sammelt einmal alles zusammen, was sie noch für Reize hat, bei dem modernen Deutschen - Character, Wissen, alles kommt zusammen. Ein ungeheurer Versuch, sich zu behaupten und zu dominiren - in einer kunstwidrigen Zeit, Gift gegen Gift: alle Überspannungen richten sich polemisch gegen grosse kunstwidrige Kräfte. Religiöse, philosophische Elemente mit hineingezogen, Sehnsucht nach dem Idyllischen, Alles Alles. 32 [57] Wagner schätzt das Einfache der dramatischen Anlage, weil es am stärksten wirkt. Er sammelt alle wirksamen Elemente, in einer Zeit, die sehr rohe und starke Mittel wegen ihrer Stumpfheit braucht. Das Prächtige Berauschende Verwirrende das Grandiose das Schreckliche Lärmende Hässliche Verzückte Nervöse Alles ist im Recht. Ungeheure Dimensionen, ungeheure Mittel. Das Unregelmässige, der überladene Glanz und Schmuck macht den Eindruck des Reichthums und der Üppigkeit. Er weiss, was auf unsre Menschen noch wirkt: dabei hat er sich "unsre Menschen" noch idealisirt und sehr hoch gedacht. 32 [58] Eine besondre Form des Ehrgeizes Wagner's war es, sich mit den Grössen der Vergangenheit in Verhältniss zu setzen: mit Schiller-Goethe, Beethoven, Luther, griechischer Tragödie, Shakespeare, Bismarck. Nur zur Renaissance fand er kein Verhältniss. Aber er erfand den deutschen Geist, gegen den Romanischen. Interessante Characteristik des deutschen Geistes nach seinem Vorbilde. 32 [59] Eine Art Gegenreformation: die transscendente Betrachtung ist äusserst geschwächt worden, Schönheit, Kunst, Liebe zum Dasein sehr vulgarisirt, unter den Nachwirkungen des protestantischen Geistes. Idealisirtes Christenthum katholischer Art. 32 [60] Die Sprache auf den stärksten Ausdruck gesteigert - Stabreim. Orchester ebenfalls. Die Deutlichkeit der Sprache ist nicht das Höchste, sondern die berauschende Kraft der Ahnung. 513
32 [61] - Wagner versucht die Erneuerung der Kunst von der einzigen noch vorhandenen Basis aus, vom Theater aus: hier wird doch wirklich noch eine Masse aufgeregt und macht sich nichts vor wie in Museen und Concerten. Freilich ist es eine sehr rohe Masse, und die Theatrokratie wieder zu beherrschen hat sich bis jetzt noch als unmöglich erwiesen. Problem: soll die Kunst ewig sektirerisch und isolirt fortleben? Ist es möglich, sie zur Herrschaft zu bringen? Hier liegt Wagner's Bedeutung: er versucht die Tyrannis mit Hülfe der Theatermassen. Es ist wohl kein Zweifel, dass Wagner als Italiäner sein Ziel erreicht haben würde. Der Deutsche hat keine Achtung vor der Oper und betrachtet sie immer als importirt und als undeutsch. Ja das ganze Theaterwesen nimmt er nicht ernst. 32 [62] Krieg. Der Sieger wird meistens dumm, der Besiegte boshaft. Der Krieg simplificirt. Tragödie für Männer. Welches sind die Wirkungen auf die Cultur? Indirekte: er barbarisirt und macht dadurch natürlicher. Er ist ein Winterschlaf der Cultur. Direkte: preussischer Versuch der Einjahrsfliegen: gewisse Erleichterungen des Dienstes an Cultur-Bedingungen knüpfen. Belehrung über das Leben. Abbreviatur des Daseins. Die Griechen machten Sophocles zum Feldherrn, dafür wurde er auch geschlagen. Der wissenschaftliche Krieg. - Gleichgültigkeit des Einzelnen und seine Pflicht. Das pflichtmässige Handeln wider die Menschlichkeit - wunderbar belehrender Conflikt. Der "Staat" führt keine Kriege, sondern der Fürst oder der Minister, man muss nicht schwindeln mit Worten. Der Sinn des Staates kann nicht der Staat, noch weniger die Gesellschaft sein: sondern Einzelne. So verfährt die Natur, wie der Krieg verfährt, gleichgültig gegen den Werth der Einzelnen. Ich weiss dass so wie ich in nicht langer Zeit viele Deutsche empfinden werden: das Bedürfniss frei von Politik, Nationalem, Zeitungen ihrer Ausbildung zu leben. Ideal einer Bildungs-Sekte. 32 [63] Ich halte es für unmöglich, aus dem Studium der Politik noch herauszukommen als Handelnder. Die greuliche Nichtigkeit der sämmtlichen Parteien, die kirchlichen mit eingeschlossen, ist mir deutlich. Heilung von der Politik ersehne ich: und Ausübung der nächsten bürgerlichen Pflichten in Gemeinden. In Preussen halte ich eine Repräsentativ514
Verfassung für überflüssig: ja für grenzenlos schädlich. Sie impft das politische Fieber ein. Es muss doch Kreise geben, wie die Mönchsorden waren, nur mit einem weiteren Inhalt. Oder wie die Philosophenklasse in Athen. Die Erziehung durch die Staatserziehung ist zu verhöhnen. 32 [64] Ist Jemand mit einem Andern weder durch alte Schulden der Dankbarkeit noch durch Bundesgenossenschaft verknüpft und begehrt trotzdem dessen Hülfe - und dies ist gerade unser Fall: so hat er zweierlei zu beweisen: vor allem dass sein Gesuch dem Andern Vortheil oder mindestens keinen Nachtheil bringt und sodann dass man auf seine Dankbarkeit sicher rechnen dürfe. Gelingt es ihm nicht, über diese zwei Punkte Jeden Zweifel zu heben: so hat er gar keinen Grund zum Zorne, wenn man seine Bitte abweist. 32 [65] Wagner's Natur. Sein Kunstwerk. Kampf gegen die Zeit. Der berechtigte Widerstand. Versuch eines Gewaltstreichs. 32 [66] Die Bedeutung, die Wagner der Kunst zuschreibt, ist nicht deutsch. Hier fehlt es selbst an einer dekorativen Kunst. Alle öffentliche Schicklichkeit für Kunst fehlt. Im Wesentlichen gelehrtenhaft oder ganz gemein. Hier und da vereinzelte Begierde zum Schönen. Musik steht einzig da. Aber selbst diese hat nicht vermocht, eine Organisation zu schaffen: nicht einmal, die importirte Theatermusik abzuhalten. Jemand, der heute im Theater klatscht, schämt sich morgen darüber: denn wir haben unsern Hausaltar, Beethoven Bach - da bleicht die Erinnerung. 32 [67] Zur Zeit. Die Natur ist nicht gut - Gegendogma gegen die falsche schwächliche Meinung und Verweltlichung. Der Sinn des Lebens liegt nicht in der Erhaltung der Institutionen, oder in deren Fortschritt, sondern in den Individuen. Diese sollen gebrochen werden. Wenn einer die Aufgabe der Gerechtigkeit übernimmt, so lehrt ihn das Dasein seine Bedeutung.
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Nicht möglichst bequem und erträglich ist das Leben einzurichten, sondern streng. Auf jede Weise ist an dem metaphysischen Sinne festzuhalten. Die grosse Haltlosigkeit der Dinge erleichtert uns die Belehrung. Es ist nichts zu schonen, die Wahrheit ist zu sagen, mag dabei herauskommen, was da wolle. Unsre Aufgabe, aus all den Verdunkelungen und Halbheiten wieder herauszukommen und über das Dasein uns nicht zu betrügen. Denn die ganze Menschheit ist jetzt einer Verflachung verfallen (natürlich die religiösen Parteien inbegriffen. Auch die Ultramontanen, denn sie vertheidigen mit Unredlichkeit einen mythischen Ausdruck als sensu proprio wahr und wollen ihre äussere Macht festhalten). Das Goethische Hellenenthum ist erstens historisch falsch, und sodann zu weich und unmännlich. Die Gefahr der Erschlaffung ist nicht da: die Gerechtigkeit ist eine der schwersten Verpflichtungen, und das Mitleid ein grosser Stimulator. Wenn unsere Aufgabe wäre, über das Leben möglichst hinwegzugleiten, da gäbe es Recepte, das Goethische zumal. Es ist schön die Dinge zu betrachten, aber schrecklich sie zu sein. Das freiwillige Leiden der Wahrhaftigkeit, die persönlichen Verletzungen auf uns nehmen. Das Leiden ist der Sinn des Daseins. Die vielen Flausen, in die wir eingehüllt sind, insofern die Dunkelheit über unser eigenes Wesen, täuschen uns auch über den Sinn des Lebens: derselbe Muth, der dazu gehört sich selbst zu kennen, lehrt auch das Dasein ohne Flausen anzusehn: und umgekehrt. 32 [68] Metaphysik der Cultur. Alles, was diesem Leben einen metaphysischen Sinn unterlegt, ist zu fördern. Das Religiöse nicht mehr rein, sondern versetzt möglich. Woher der Drang nach Erziehung, Kenntnissen usw.? Die Vortheile für den Kampf des Daseins? Unsterblichkeit des Genius, des Dranges nachdem Genius. 32 [69] Bach<'s> und Händel's Sinn ist Deutsch. 32 [70]
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Die Deutschen haben die Kleinstaaterei nicht ausgehalten, demüthig, feige und innerlich reich. Sollten sie die Grossstaaterei aushalten können! dünkelhaft, innerlich hohl. 32 [71] Deutsche Cultur. Niemand hat bis jetzt grosse Ziele der deutschen Cultur gesteckt. Gefahr des politischen Sinnes. Als mächtige Nation haben wir eine ungeheure Verpflichtung: voranzugehen! Es ist gar nicht möglich, sich so schneckenhaft abzuschliessen. Das politische Übergewicht ohne das eigentlich menschliche Übergewicht ist die grösste Schädigung. Man muss suchen, das politische Übergewicht wieder gut zu machen. Sich zu schämen seiner Macht. Sie auf das Heilvollste zu benützen. Alle glauben, die Deutschen dürften ausruhen in ihrer moralischen und intellectuellen Überlegenheit. Man meint wohl, dass jetzt eben Zeit für etwas Andres ist, für den Staat. Bisher für die "Kunst" usw. Dies ist ein schmähliches Missverständniss; es sind Keime da für die herrlichste Entwicklung des Menschen. Diese sollen zu Grunde gehen zu Gunsten des Staates! Was ist denn ein Staat! Das Zeitalter der Gelehrten ist vorbei. An ihre Stelle müssen die Philalethen treten. Ungeheure Macht. Die einzige Art, die jetzige deutsche Macht richtig anzuwenden, ist die ungeheure Verpflichtung zu begreifen, die in ihr liegt. Eine Erschlaffung der Culturaufgaben machte diese Macht zu der grässlichsten Tyrannei. 32 [72] Zeit. - Vernichtung der Aufklärung. - Wiederherstellung vom metaphysischen Sinn des Daseins. - Feindschaft gegen das Christenthum, weil es dasselbe übersieht. - Gegen die Gedanken der Revolution. - Nicht auf Glück gerichtet: die "Wahrheit", nicht im bequemen Ausruhen, sondern heroisch und hart. 517
- Gegen die Überschätzung des Staates, des Nationalen. J B. Der missverstandene Schopenhauer. Liebelos oder nur kurz in seiner Liebe. 32 [73] Erziehung des Philosophen. Durch frühe Reisen gegen das Nationale abzustumpfen. Die Menschen kennen, wenig lesen. Keine Stubenkultur. Den Staat und die Pflichten einfach zu nehmen. Oder auszuwandern. Nicht gelehrtenhaft. Keine Universitäten. Auch keine Geschichte der Philosophie; er soll für sich die Wahrheit suchen, nicht um Bücher zu schreiben. . 32 [74] Nehmen wir an, es sei gegenwärtig eine recht schwache Generation solcher Philosophen aber eine bessere wird es nicht an der Universität aushalten. 32 [75] Universitätsphilosophie im Dienst der Theologen der Historie (Trendelenburg). Der Philosoph als Gelehrter unter Gelehrten. Kein Vorbild. Er darf kein Amt haben. Wie kann man junge Leute in der Philosophie examiniren. Ihre Jugend und Erziehung für ihren Beruf. 32 [76] 1. Es giebt gar nicht soviel als der Staat braucht - daher Verschlechterung, zu jung usw. 2. Diese sind an Institutionen der Gelehrsamkeit eingeordnet. 3. Diese sollen jeden Jüngling unterrichten, der will, und zu bestimmten Stunden, wohl gar in bestimmten Disciplinen. 4. Diese sind durch die Theologie gehemmt. 518
5. Ebenfalls durch den Staatszweck. 6. Sie sollen gelehrt sein und die Geschichte (und Urtheil) einer Wissenschaft kennen. 7. Soll man überhaupt junge Menschen vor aller Erfahrung damit einweihen (oder verderben)? examiniren? Griechische Jünglinge waren erfahrener. 8. Dürfen sie eigentlich sagen - folgt mir nach und lasst alles hinter euch? Das würde weder Staat noch Universität erlauben. 9. Sie stehen nicht im Leben und sind deshalb ohne Erfahrung. Dort sind so viele feindliche Bedingungen, dass das Geschlecht auch wirklich verkrüppelt ist. Daraus entsteht: Missachtung der Philosophie. Diese merkend werden sie böse und suchen den wahren Philosophen um keinen Preis gelten zu lassen. Tückisch arbeiten sie in ihrer Ecke, Kameradschaft usw. Einige achtungswerthe Gelehrte ausgenommen: doch selbst diese sind eben Gelehrte und keine Vorbilder; ihre historischen Arbeiten werden doch von Philologen besser gemacht: so ist die griechische Philosophie immer noch von dem Fluch der Langweiligkeit zu befreien: lest lieber Laertius, wie die Vorfahren. Auch ist ihr Gehalt kein eigentliches Honorar, kein Ehrensold, sondern sie sind verkauft auf Bedingungen hin: somit ist es eigentlich keine freie Vergünstigung von Seiten des Staates. 32 [77] Zum Capitel IV. Unterschied vom Menschen Rousseaus. Er will nicht weltliches Glück, er erstrebt es auch nicht für die Menschen. Goethe's. Er will sich nicht hinwegtäuschen über das Leben; er will auch nicht für sich allein, in einem edlen Egoismus, leben. Widerspruch gegen die Zeit durch seine Wahrhaftigkeit gegen die gute Natur gegen die Aufklärung gegen das entartete Christenthum gegen die Gedanken der Revolution gegen die Überschätzung des Staates gegen das Historische gegen die Hast. 519
Herstellung des Metaphysischen Sinnes. Die verzerrten Bilder des Schopenhauerischen Menschen nach der Seite des Mephistopheles hin, ohne Güte nach der bequemen Seite Goethe's zu, Reiz am neu und anders Erkannten, ohne Folge. Abwesenheit des Heroischen. Schluss. 32 [78] Worin bestehen die Leiden der Wahrhaftigkeit? Man vernichtet sein Erdenglück. Man muss den Menschen, die man liebt, feindlich sein. Man muss die Institutionen, an die man durch Sympathie geknüpft ist, enthüllen und preisgeben. Man wird häufig ungerecht sein im Streben nach Gerechtigkeit. Man darf die Individuen nicht schonen und leidet mit ihnen. Wie oft ist unsre Gesinnung nicht rein, durch Hass und Hohn getrübt. Oft wird man Institutionen zu schützen scheinen und als Bundesgenosse von Verächtlichem gelten. Die Gesinnung der Wahrhaftigkeit rein, unpersönlich nicht kalt und wissenschaftlich sich selbst immer preisgebend ohne Nörgelei und Griesgrämigkeit mit Bewusstsein über die Leiden, die daraus entspringen. 32 [79] Glaube an einen Gott und einen Erlöser ist eben auch nur mythologisches Beiwerk und hat mit dem Wesen einer Religion nichts zu thun. 32 [80]
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Capitel V. Deutsche Cultur. Jede grosse Macht enthält eine grosse Schuld. Deshalb grosse Verpflichtungen, grosse Ziele. Es ist gar nicht erlaubt, so für sich hinzuleben und die andern leben zu lassen. Ganz falsch zu sagen, jetzt werden die Deutschen politisch, vordem aesthetisch. Die Deutschen haben ein Ideal gesucht, in ihrem Luther; die deutsche Musik, höher als alles, was wir von Cultur wissen. Das Suchen darnach sollte aufhören, weil sie die politische Macht haben? Gerade die Macht (ihrer Bosheit wegen) sollte sie stärker als je dorthin führen. Er muss seine Macht zu seinem hohen Culturziele anwenden. Die Verweltlichung zu bekämpfen. Der Kampf gegen die katholische Kirche ist ein Aufklärungsakt, nichts Höheres, und stärkt sie unverhältnissmässig: was gar nicht zu wünschen war. Natürlich hat sie im Allgemeinen Recht. Wenn Staat und Kirchen sich gegenseitig auffressen wollten! Die Adoration des modernen Staates kann geradezu die Vernichtung jeder Cultur herbeiführen. Der metaphysische Sinn des Daseins ist auch der Sinn jeder Cultur. Dagegen stellt man die Aufgabe der Eleganz und der Verhübschung! 32 [81] Teleologie Schopenhauer's unter den Deutschen. Der Genius und der Sinn des Lebens. Die Wahrhaftigkeit als Brücke zu einer Cultur. Solche Menschen brauchen die Kunst. 32 [82] Perser: gut schiessen, gut reiten, nicht borgen und nicht lügen. 32 [83] Gemeinsame Feinde der Cultur und des metaphysischen Sinns - Aufklärung Revolution Natur usw. Deshalb gehören sie zusammen.
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Ende der Aufklärungsbildung, die dem Metaphysischen feindlich ist: und der Renaissance, die das Alterthum nicht recht kannte wie Goethe. In voller Blüthe steht die Musik. Wie unendlich höher ist Beethoven als Goethe! Deren Sinn von Schopenhauer verstanden. Problem der neuen Cultur. Frage, ob diese national ist? Was die Deutschen jetzt als nationale Kultur ersehnen: Eleganz. Dubois-Reymond. [Dokument: Mappe loser Blätter] [Januar - Februar 1874] 33 [1] Wenn für Göthe das Dichten eine Art Auskunftsmittel für einen verfehlten Malerberuf war, wenn man von Schillers Dramen als von einer versetzten Volksberedtsamkeit reden kann, so mag es auch recht sein, in Wagner als Urbegabung die schauspielerische anzunehmen, der es versagt war, sich auf dem nächsten Wege zu befriedigen, und die in der Heranziehung aller andern Künste zu einem großen schauspielerischen Ideale ihre Auskunft und ihre Rettung findet. 33 [2] Das Publicum, welches in unsern Theatern sitzt, ist für die verschiedenen Künste des Theaters sehr verschiedenartig und ungleichmäßig ausgebildet; der Grad seines Wissens und Fühlens ist für die Musik ein anderer, als für die Schauspielkunst, und wieder ein anderer für die dramatische Dichtkunst. Wagner beobachtete frühzeitig das, was auf dieses Publicum wirkt, und setzte zur Erklärung dieser Wirkungen voraus, daß jenes Publicum immer aus dem Innersten heraus und gleichsam aus der einen Wurzel seines Wesens seine Neigung und Abneigung äußere. Er suchte also die Quelle der Wirkungen hinter den verschiedenen Ausbildungen in dem lebendigen Kerne der Individuen. Bei dem Anblick einer Oper nahm er z. B. instinktiv an, daß kein Zuhörer seinen Musikgenuß von dem Genuß des Dramas und der schauspielerischen Kunst abtrennen könne und daß der Effekt, den die ganze Oper macht, aus einer Menge von einzelnen Effekten zusammen addirt sei, zu denen jede Kunst eine völlig gleiche Zahl beigesteuert habe. Später wurde ihm diese Rechnung durch eine große Schauspielerin in Verwirrung gebracht, die Schröder-Devrient steigert eine unbedeutende Musik und ein oberflächliches, marionettenhaftes Theaterstück durch ihr Spiel zu der Wirkung tragischer Größe; aber sofort steigert sich auch das Ideal Wagners, und seine Rechnung kommt wieder in's Gleiche dadurch, daß er sich die Frage stellt, welche Höhe wird erst die Wirkung erreichen können, wenn einer solchen Künstlerin die Größe der Musik und überhaupt das ganze Drama entspricht. 33 [3]
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Was Goethe von sich gesagt hat, konnte auch Wagner von sich sagen: "Ich habe niemals einen präsumptuöseren Menschen gekannt, als mich selbst; und daß ich das sage zeigt schon, daß wahr ist, was ich sage. Niemals glaubte ich, daß etwas zu erreichen wäre, immer dachte ich, ich hätte es schon; man hätte mir eine Krone aufsetzen können, und ich hätte gedacht, das verstehe sich von selbst. Und doch war ich gerade dadurch nur ein Mensch, wie andere, aber daß ich das über meine Kräfte ergriffene durchzuarbeiten, das über mein Verdienst erhaltene zu verdienen suchte, dadurch unterschied ich mich blos von einem wahrhaft wahnsinnigen." So zweifelte auch Wagner nie daran, das zu können, was ihm gefiel; sein Geschmack und sein Können wuchsen zusammen. Was auf ihn stark wirkte, das wollte er auch machen; von seinen Vorbildern verstand er auf jeder Stufe nicht mehr, als er auch nachmachen konnte. 33 [4] Wagner ist eine gesetzgeberische Natur. Er übersieht viele Verhältnisse auf einen Blick und ist nicht im Kleinen befangen. Er ordnet alles nach großen Maaßen; man wird ihn immer falsch beurtheilen, wenn man ihn nach einer Einzelheit beurtheilt, sowohl in der Musik, als im Drama, als sogar in seinen Staats- und Gesellschaftsansichten. 33 [5] Von seinen frühsten Werken könnte man sagen, die Musik darin ist nicht viel werth, die Poesie auch nicht, das Drama auch nicht, die Schauspielkunst ist oft nur naturalistische Rhetorik, aber alles ist eins und auf einer Höhe und hat darin seine Größe. Es wäre möglich, daß Wagner der Denker gleich hoch stünde, wie Wagner der Musiker und Dichter. 33 [6] Das frühste Problem Wagners ist: warum bleibt die Wirkung aus, da ich sie empfange. Dieß treibt ihn zu einer Kritik des Publikums, der Gesellschaft, des Staates. Sein Instinkt führte ihn zuerst dahin, zwischen Künstler und Publicum das Verhältniß von Subjekt und Objekt vorauszusetzen. Seine Erfahrung zeigt ihm, daß das Verhältniß leider ein ganz anderes ist, und er wird zum Kritiker seiner Zeit. 33 [7] Wagners Begabung ist ein aufwachsender Wald, kein aufwachsender Baum. Seine stärkste Kraft ist die, die Einheit im Verschiedenen zu fühlen, und zwar außer sich, als Künstler, und in sich, als Individuum. Sein Auge ist von Natur auf die Beziehung der Künste zu einander, auf die Verbindung von Staat, Gesellschaft und Kunst gerichtet. 33 [8] In mancher Folge von Harmonien Wagners <em>pfinde ich etwas angenehm Widerstrebendes, w beim Drehen eines Schlüssels in einem complicirt<en> Schlosse. Man wundert sich, wie gesetzmäßig der <Wider>stand nachläßt. 33 [9] Das Rhythmische und Gesetzmäßige zeigt sich bei Wagner nur in den Maaßen der größten Dimension, im einzelnen ist er oft gewaltsam und unrhythmisch. 523
33 [10] Wagner hat sich so gewöhnt in verschiedenen Künsten gleichzeitig zu empfinden und zu schaffen, daß er sich für vereinzelte Künste oft ganz unempfindlich oder ungerecht zeigt. In der Periode seiner größten theoretischen Strenge hat er sogar das Recht jener vereinzelten Künste geleugnet, und aus jener Zeit stammen viele Mißhelligkeiten mit seinen Zeitgenossen. 33 [11] Die eine Eigenschaft Wagners ist Unbändigkeit und Maaßlosigkeit. Er steigt immer bis auf die letzten Sprossen seiner Kraft, seiner Empfindung, und glaubt dort erst in der freien Natur zu sein. Seine andere Eigenschaft ist eine außerordentliche schauspielerische Begabung, die gehemmt und versetzt ist, und sich auf andern Wegen als auf den ersten und nächsten Bahn brechen muß. Zum Schauspieler fehlt ihm Gestalt, Stimme und die nöthige Beschränktheit. 33 [12] Die Heiterkeit Wagners ist das Sicherheitsgefühl dessen, der von den größten Gefahren, Ausschreitungen und Ekstasen zurückgekehrt ist, zurück in's Begrenzte und Heimische. Alle Menschen, mit denen er umgeht, sind solche begrenzte Abschnitte aus seinem eigenen grenzenlosen Laufe (wenigstens empfindet er nichts mehr an ihnen); deshalb kann er mit ihnen heiter und überlegen gütig verkehren, sind doch alle Leiden, Nöthe, Bedenken derselben im Vergleiche zu den seinigen wunderliche Spiele. 33 [13] Keiner unserer großen Musiker war in seinem achtundzwanzigsten Jahre noch ein so schlechter Musiker wie er. 33 [14] Im Tannhäuser suchte er eine Reihe von verschiedenen ekstatischen Zuständen als Äußerungen eines Individuums zu motiviren. Er meinte wohl damals, daß sich erst in diesen Zuständen der natürliche und freie Mensch offenbare. In den Meistersingern und in Theilen seiner Nibelungen kehrt er freiwillig zur Selbstbeherrschung und Selbstbegrenzung zurück. Er ist darin größer, als in dem früheren ekstatischen Sichgehenlassen. 33 [15] Wagner ist ein Mensch, dessen sittliche Natur durch die immer stärkeren Forderungen seines Kunsttriebes disciplinirt wird. Seine Natur theilt sich allmählig, wie ein Stamm in Äste auseinandergeht; neben Tannhäuser, Walther, Siegfried treten Sachs und Wotan. Er lernt den Mann zu begreifen, und lernt dieß sehr spät. Tannhäuser und Lohengrin sind Spiegelungen eines Jünglings. Die Jugend Wagners ist die eines vielseitigen Dilettanten, aus dem nichts Rechtes werden will. Ich habe aber selbst in den letzten Jahren zwei oder dreimal den unsinnigen Zweifel in mir gefühlt, ob Wagner überhaupt musikalische Begabung habe. 33 [16] Er hat Staat, Gesellschaft, Jugend, Begabung der Völker und überhaupt alles an seiner Kunst gemessen; in unbefriedigtem Zustande wünschte er wohl, daß diese ganze moderne Welt zu 524
Grunde gehe. Er entladet sich selbst seiner Schwächen, wenn er sie <einma>l erkannt hat, dadurch, daß er diese der modernen <Welt> zuschiebt. Er glaubt an die Güte der menschlichen r, vorausgesetzt, daß sie frei waltet, und führt alle <Schlec>htigkeit auf Knechtschaft und Hemmung zurück. auch als Künstler frei zu sein, lief er in Dresden seinem Amte davon, denn er wollte durchaus nicht mehr dienen und benutzte die Revolution, um als Hof- und Kapellmeister sich unmöglich zu machen. [Dokument: Heft] [Frühjahr - Sommer 1874] 34 [1] Schopenhauer als Erzieher und Zuchtmeister der Deutschen. Frühjahr 1874. 34 [2] Der werdende Philosoph Siegfried. 34 [3] Abnahme der Religiosität seit dem Alterthum. Wahrscheinlich wird es ein paar Jahrhunderte später gar nicht mehr rein vorkommen, sondern immer inkrustirt. Ermüdung an den Symbolen. 34 [4] Der Mensch Schopenhauers: freiwillig leidend nicht schonend tragisch - denn er muss hier und da ungerecht sein, er muss die Menschen, die er liebt, verletzen er lebt wahr - und so wirkt er mit, wie das Leben, auf die andern, befreiend und den metaphysischen Sinn des Lebens predigend. 34 [5] Was hat er in der Cultur zu thun? Jede Verweichlichung des Daseins wird von ihm bekämpft. Eleganz kann er nicht meinen. Er begreift, vermöge seiner Wahrhaftigkeit, den Sinn der Cultur: immer wieder die Menschen zu erzeugen, die das Leben metaphysisch verstehn. 525
34 [6] Wie unterstützt man die Genesis des philosophischen Genius? Reisen, Freiheit vom Nationalen. Nicht durch Philosophieprofessoren. 34 [7] Schilderung der Zeit: ob hoffnungslos, hat für Schopenhauer keinen Sinn. Indem er wahr ist, stellt er die ursprüngliche Natur her und den Sinn des Lebens. Es giebt keine Hoffnung auf Erdenglück: genug, wenn die Menschen vermöge jener Wahrhaftigkeit es sich eingestehn, dass das nie möglich war. Der Sinn des Lebens für das Individuum ist immer derselbe, zu jeder Zeit. Er soll hoffnungslos sein, in Beziehung auf Glück: aber hoffen, dass er selber noch den Sinn des Lebens besser begreife. - Die Reinigung der Cultur gilt ihm vor allem als Wahrhaftigkeit gegen wahre Bedürfnisse, nicht aber Schönheit und Glanz des Lebens. 34 [8] Schopenhauer erzog sich selbst gegen die Zeit, und im Kampfe mit ihrem Bewusstsein bekämpfte er sich selbst. So strebt er zu seinem Kerne zurück, dort wo er Genius ist, und die Menschheit in ihrer höchsten Kraft erkennt. Von da aus, spricht er über das Dasein, als Genius und Verklärer der Welt, über die Welt - und nennt ihren Unwerth, selbst den des Genius. - Er ist vorbildlich, in der Art, wie er zu sich und damit über sich hinaus kommt. Jeder ist im Grunde Genius, insofern er einmal da ist und einen ganz neuen Blick auf die Dinge wirft. Er vermehrt die Natur, er zeugt mit diesem neuen Blick. 34 [9] Wie die Perser erzogen wurden: mit dem Bogen zu schiessen und die Wahrheit zu sagen. 34 [10] Plan. Einleitung des 4. Capitels. Siehe links. Dann die Zeitschilderung. Die drei Bilder. Die Entartungen des Schopenhauerischen Menschen. J B
Ich bin fern davon zu glauben, dass ich Schopenhauer richtig verstanden habe, sondern nur mich selber habe ich durch Schopenhauer ein weniges besser verstehen gelernt; das ist es, weshalb ich ihm die grösste Dankbarkeit schuldig bin. Aber überhaupt scheint es mir nicht so wichtig zu sein, wie man es jetzt nimmt, dass bei irgend einem Philosophen genau ergründet und an's Licht gebracht werde, was er eigentlich im strengsten Wortverstande gelehrt habe, was nicht: eine solche Erkenntniss ist wenigstens nicht für Menschen geeignet, welche eine Philosophie für ihr Leben, nicht eine neue Gelehrsamkeit für ihr Gedächtniss suchen: und zuletzt bleibt es mir unwahrscheinlich, dass so etwas wirklich ergründet werden kann. 34 [14] Wie kehrt man nun von solchen Augenblicken einer erhabenen Vereinsamung wieder in das sogenannte Leben zurück? Wie erträgt man's nur? Es ist ein Gefühl, als ob man eben gewacht hätte: und gleich darauf stürzen sich mit hundert Ringeln und Windungen die Träume wie ein Schlangengewimmel auf die Seele los: und schon vom Traum erfasst verändert sich jenes Gefühl zum umgekehrten, nämlich als ob wir eben geträumt hätten und jetzt erwacht wären. 34 [15] Das, was Cultur heißt, besteht aus den Einwirkungen und Zusammenwirkungen von Staat, Erwerbenden, Formenbedürftigen, Gelehrten. Diese haben sich in einander hineingelebt und sind nicht mehr in Fehde. Großer Lärm und scheinbarer Erfolg. Nur daß die eigentliche Probe nie bestanden wird: die großen Genien sind gewöhnlich in Fehde dagegen. Man denke an Goethe und die Gelehrten, Wagner und die Staatstheater. Schopenhauer und die Universitäten: es wird offenbar nicht zugegeben, daß die großen Menschen die Spitze sind, derentwegen alles andre da ist. - Die Bedingungen für die Entstehung des Genius haben sich gar nicht verbessert, sondern verschlimmert. Allgemeiner Widerwille gegen die originalen Menschen. Sokrates hätte nicht bei uns 70 Jahr alt werden können. 34 [16] Nun glaube ich nicht sehr an den ganzen Bestand dieser modernen Welt. Es kann da mancherlei eintreten. Deshalb wollen wir nichts verhehlen, sondern die Wahrheit so lange heraussagen, als man es nicht verhindert, aus dem Glauben an die Metaphysik der Cultur. jedenfalls muß noch einiges im Verlauf der Zeit einmal geschehen und sich verändern. Ob eine Institution zu finden ist? - Jedenfalls sind erst die Begriffe zu reinigen und manche Institution zu verbessern. Die Menschheit muß lernen, sorgsamer mit ihren edelsten Produkten umzugehen. 34 [17] Die Originalität zu unterstützen wird den Menschen außerordentlich schwer. 34 [18] Daß die Erzeugung einzelner großer Exemplare die ungeheure Arbeit und Rastlosigkeit der Menschen
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Es kostet Überwindung, noch mehr als Einsieht, - - 34 [19] Wenn ich jetzt also noch einmal gedrängt ausdrücke, was die Schopenh Philosophie als Erzieherin für mich war und ist, so thue ich dies in - - 34 [20] Über das, was einer in solchen Augenblicken einer erhabenen Vereinsamung gelernt hat, hat niemand das Recht, in den gleichen Ausdrücken zu reden, mit denen Schopenhauer selbst seine Erfahrungen darstellt, und welche sein versiegeltes Eigenthum sind und bleiben sollen; und noch mehr empört es, in trocknen spindeldürren Auszügen, etwa in Abrissen der Geschichte der Philosophie, jenen Worten zu begegnen, zu denen das Alltags-Leben und der Alltagskopf nun einmal keinen Zugang finden wird. Vielmehr sollte als Gesetz gelten: jeder hat nur dann ein Recht, seine inneren Erfahrungen auszusprechen, wenn er auch seine Sprache dafür zu finden weiss. Denn es ist wider den Anstand und im Grunde auch gegen die Rechtschaffenheit, mit der Sprache der grössten Geister umzugehen, als sei sie kein Eigenthum und als läge sie auf der Strasse. 34 [21] Denn vor nichts warnt uns die Schopenhauerische Philosophie mehr als vor dem Verkleinern und Vernebeln jener tauben unbarmherzigen, ja bösen Urbeschaffenheit des Daseins: durch nichts erregt sie das schaudernde Gefühl des Erhabenen mehr, als dass sie uns in die höchste und reinste Alpen- und Eisluft trägt, um uns in den granitnen Urschriftzügen der Natur lesen zu lassen. Wer es hier nicht aushält und wem die Kniee zittern, der mag nur schnell wieder in die Weichlichkeit seiner Verklärungsbildung hinabflüchten. 34 [22] Deshalb rasen sie in ihrer Feindschaft gegen jeden, welcher gleich Schopenhauer ihr Bedürfniss erkennt und wie eine Bremse auf ihrem Nacken sitzt; da zeigen sie Gebärden und Mienen, so roh und unbändig, dass ihnen oft genug die Larve der "Eleganz" und der "schönen Form" abfällt. Kommt aber gar ein ganzes Heer von solchen Bremsen über sie, so ist es mit ihrer "Cultur" völlig vorbei: denn sobald sie sich nicht mehr im Zaume halten und die künstliche Selbstbeherrschung verlieren, hört überhaupt ihre Macht auf: weil sie, sobald der hässliche Inhalt entblösst wird, Niemanden mehr belügen können. Darauf kommt aber Alles an, dass dieser hässliche Inhalt des Menschen im Bewusstseinsblick --Gerade auf diesen Inhalt richten nun jene Wahrhaftigen ihr Auge - - 34 [23] Die überlegene Güte und Menschlichkeit unserer Seelen und die Überlegenheit des modernen Intellectes. Nicht dass man daran glaubt: aber man soll daran zu glauben scheinen.
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Auf einen Fehlschluss geht die Absicht jener After-Cultur hinaus: die "schöne Form" soll für den "guten Inhalt" gutsagen; es soll durchaus so scheinen, dass der moderne Mensch mit sich zufrieden und glücklich lebe, also dass er, da die älteren Zeiten sehr unzufrieden mit sich waren, über diese nicht nur durch Kraft des Intellects, sondern auch durch natürliche Güte und Menschlichkeit weit hinaus gekommen sei. Vielmehr lässt man der eignen begehrlichsten Selbstsucht freien Lauf, hin zur frevelhaften Ausschweifung, wie sie kaum irgend eine Zeit gekannt hat - aber immer gepanzert mit der ganzen modernen Wissenschaft, und lernt alles was geschieht philosophisch sittlich zu erläutern und zu verklären. Überhaupt ist "verklären" jetzt das beliebteste Verfahren bei Dingen, die nicht reinlich sind: Staat Krieg Geldmarkt Ungleichheit der Menschen. 34 [24] Jeder Augenblick des Lebens will uns etwas sagen, aber wir wollen nicht hören; wir fürchten uns, wenn wir allein und stille sind, dass uns etwas in das Ohr geraunt werde - und so hassen wir die Stille und betäuben uns durch Geselligkeit. Der Mensch weicht nach Kräften dem Leiden aus, aber noch mehr dem Sinne des erlittenen Leidens, in immer neuen Zielen sucht er das dahinten-Liegende zu vergessen. Wenn der Arme und Geplagte sich gegen das Schicksal aufbäumt, welches ihn gerade an diese rauheste Küste des Daseins warf, so weicht er dem tiefen Auge aus, das ihn aus der Mitte seines Leides fragend ansieht: als ob es sagen wollte: ist es dir nicht leichter gemacht, das Dasein zu begreifen? Selig sind die Armen! - Und wenn die scheinbar Beglückteren thatsächlich von der Unruhe und Flucht vor sich selbst verzehrt werden, um die natürliche böse Beschaffenheit der Dinge, des Staates zum Beispiel oder der Arbeit oder des Eigenthums, durchaus nicht zu sehen - wem könnten sie Neid erregen! 34 [25] Wenn man zum Beispiel an das grausame Gesetz der "Arbeit" denkt, unter welchem die gesammte Masse der Menschheit, mit zählbaren Ausnahmen, sich verzehrt - - So redet man überall mit - - 34 [26] Es ist ein und derselbe Trieb, der den Armen und Unterdrückten aufbäumen lässt gegen den Druck, als der den Staat oder die Reichen so unmenschlich macht: sie wollen durchaus nicht die Nutzanwendung machen. Der Staat fürchtet diese Gesinnung; er will sie durch seine Cultur möglichst ausrotten; die Staatskunst muss unterhalten und verführen. Er umgürtet sich mit den "Gebildeten". Beschreibung meines "Gebildeten". Er findet sich in allen Ständen, bei allen Graden von Unterrichtetheit. Tiefe Begierde nach Wiedergeburt als Heiliger und Genius. Einsicht in das gemeinsame Leid und die Täuschung. Scharfe Witterung für das Gleichartige und die Gleichartig-Leidenden. Tiefe Dankbarkeit gegen die wenigen Erlöser. 34 [27]
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Alles Handeln muss allmählich gefärbt werden von der Überzeugung, dass unser Leben abzubüssen ist. "Segen der Arbeit!" das ist die süsse Gewohnheit, die Freude, dass man etwas fertig bringt und dergleichen. Aber der Sinn ist: sich im Leben zu erhalten und doch nicht aus Lust am Leben: sondern jeder ist gern bereit im Augenblick zu sterben. Aber die Lection steht nicht in unserer Hand: wir dürfen sie nicht beliebig abschliessen. 34 [28] Überhaupt aber: wie hohl und hungrig muss eine Seele geworden sein, um sich eine solche widerliche Nahrung gefallen zu lassen, wie sie ihr jetzt vorgeworfen wird. 34 [29] Und wirklich ist es ziemlich gleichgültig, ob jemand hierin einen guten oder schlechten "Geschmack" zeigt: so lange er nämlich mit der Kunst nur als "Schmecker" zu thun hat, ist und bleibt sie eine recht verächtliche Sache und schickt sieh nicht für ernst-thätige und leidende Menschen. Wenn ich das Geschrei nach "schöner Form", nach "Eleganz" höre, wie es unsre Kunstschriftsteller jetzt anstimmen, so klingt es mir nicht viel anders, als ob ein Indianer darnach schreit, tätowirt zu werden, oder sich einen Ring durch die Nase wünscht. 34 [30] Die Alten suchten das Glück und die Wahrheit - beschränken wir uns darauf, die Unwahrheit überall zu suchen und das Unglück in den Dingen. 34 [31] Er will alles erkennen. Er giebt sich selbst preis und nimmt sich nicht zu wichtig. Er will nicht nur unterhalten sein, wie der Goethe'sche Mensch. Er hofft nicht mehr, wie der Mensch Rouss<eau's> (denn das, was er hofft, ist unaussprechbar und hat mit einer Veränderung der menschlichen Einrichtungen nichts zu thun. Es kommt wenig darauf an, ob die Menschen sich so oder so verhalten). Endlich, er sagt es den Menschen und verschweigt nicht. Rückwirkung der Wahrhaftigkeit gegen sein Werdendes. Neues Ideal des theoretischen Menschen. Er betheiligt sich an dem Staat usw. nur noch zum Spiele. Dies die höchste menschliche Möglichkeit - alles in Spiel aufzulösen, hinter dem der Ernst steht. Musik - Schopenhauer erkennt ihr Wesen. Traum, in den schon das wache Leben hineinspielt. 34 [32] Schopenhauer hat uns an etwas erinnert, was wir fast vergessen hatten und jedenfalls vergessen wollten: dass das Leben des Einzelnen nicht darin seine Bedeutung haben könne, historisch zu sein, in irgend einer Gattung zu verschwinden und in den grossen und 530
wechselnden Configurationen von Nation Staat Gesellschaft, in den kleinen von Gemeinde und Familie. Wer nur historisch ist, hat das Leben als Lection nicht verstanden und wird sie wieder lernen müssen. Gar zu gern möchte der Mensch es sich erleichtern und glauben, damit dem Dasein genug gethan zu haben, dass er um die grossen Fahrzeuge sich bemüht und immer auf der Oberfläche bleibt. Er will nicht in die Tiefe. Aber alle diese Allgemeinheiten entfremden dich dir selbst, auch unter dem Namen der Kirchen Wissenschaften. In dir wird das Räthsel des Daseins aufgegeben: niemand kann es dir lösen, du selbst allein. Der Mensch entflieht dieser Aufgabe, dadurch dass er sich an die Dinge hingiebt. - Dreht er nun die Betrachtung um, sieht er sich in seinem Elend, so erkennt er auch das Lügnerische aller dieser Allgemeinheiten. Er hofft von ihnen nichts mehr: sondern alles, was er hofft, ist, dass alle Menschen die Lection des Lebens richtig verstehen. Er wird sich betheiligen müssen an Staat usw., aber ohne leidenschaftliche Ungeduld: von aussen kann ihm ja nichts kommen. Es wird ihm immer mehr zum Spiel. Er ahnt als die seligste Periode, wenn die Völker nur noch zum Spiel Völker und Staaten sind, pur zum Spiel Kaufleute und wissenschaftliche Menschen mit Überlegenheit über dies alles. Es giebt die Musik, welche dies erklärt: wie alles nur Spiel, im Grunde nur Seligkeit sein kann. Deshalb ist sie die verklärende Kunst, metaphysisch durch und durch. 34 [33] Die Welt kann gar nicht besser sein als der Mensch: denn wie existirt sie, nur als menschliche Empfindung. 34 [34] Was hätten wir an uns zu bewundern, was bliebe uns fest! Alles ist gering. Wahrheit gegen sich ist das Höchste, was wir von uns erreichen: denn die meisten beschwindeln sich. Mit einer herzlichen Selbstverachtung kommen wir auf unsre Höhe: wir sehen, wie die Dinge und Producte solcher Menschen etwas Verächtliches sind, und lassen uns nicht mehr durch Massen täuschen. Pessimismus. - Tiefe der Selbstverachtung: das Christenthum zu eng. Warum sollte Zerstören ein negatives Geschäft sein! Wir räumen unsre Beklemmungen und Verführungen hinweg. 34 [35] Die alten Philosophen suchten nach dem Glück des Einzelnen: ach sie konnten es nicht finden, weil sie es suchten. Schopenhauer sucht nach dem Unglück: und es ist der höchste Trost, dass ein Solcher eigentlich das Unglück nicht finden kann, weil er es sucht: so verschiedenartig belohnt das Suchen. 34 [36] Kapitel 3/4. Er ist der Genius der heroischen Wahrhaftigkeit. Durch das Capitel über die Gefahren ist bewiesen, wie er sich selbst erzogen hat. Doch wodurch hat er dies erreicht? Durch das Bestreben, wahr zu sein.
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Es ist ein auflösendes, vernichtendes Bestreben; doch das Individuum wird dadurch gross und frei. Vielleicht dass er äusserlich daran zu Grunde geht, nicht innerlich. Capitel 4. Schopenhauer als befreiender Zerstörer in seiner Zeit. Nichts verdient mehr Schonung. Alles ist halb und morsch. Capitel 5. Ebenso steht er zur deutschen Cultur. Der befreiende Zerstörer. Capitel 6. Fortsetzung seines Werks. Dazu ist Erziehung einer Generation der Philalethen nöthig. Wie wird sie erzogen? 34 [37] Jeder Philosoph ist einmal für sich, sodann für Andere Philosoph: dieser Doppelheit der Beziehungen kann er gar nicht ausweichen. Selbst wenn er sich streng von seinen Mitmenschen absonderte, so müsste doch eben diese Absonderung ein Gesetz seiner Philosophie sein: sie würde zur öffentlichen Lehre, zum sichtbaren Beispiel. Das eigenthümlichste Product eines Philosophen ist sein Leben, es ist sein Kunstwerk und als solches eben sowohl dem, welcher es schuf, wie den andern Menschen zugekehrt. Der Staat, die Gesellschaft, die Religion, ja Ackerbau und Gartenkunst - alle können fragen: was ist mir dieser Philosoph? Was kann er uns geben, was nützen, was schaden? - So fragt nun auch, in Betreff Schopenhauers, die deutsche Cultur. Ich nenne ihn, auch in dieser wichtigen Rücksicht, einen Erzieher der Deutschen. Wie sehr sie aber gerade eines solchen bedürfen, ist mir nach dem französischen Kriege von Stunde zu Stunde deutlicher geworden: obwohl ein Scharfsichtigerer diese allerneuesten Belehrungen gar nicht erst nöthig gehabt hätte. "Wir müssen von den Franzosen lernen" - aber was? "Eleganz!" Das scheint die Belehrung zu sein, welche die Deutschen aus jenem Kriege allesammt mit nach Hause genommen haben. Vor dem wurde dieser Ruf noch ziemlich selten gehört: obwohl es genug Litteraten gab, die eifersüchtig nach Paris hinüberblinzelten. Die Eleganz Renan's zum Beispiel liess zuerst die Feder Straussens und neuerdings die des Theologen Hausrath nicht schlafen 34 [38] 4. Soviel über Schopenhauer als Erzieher von Menschen. 5. von Deutschen. 6. von Philosophen. 34 [39] Diese Thätigkeit des Philosophen steht nicht für sich, sie gehört in einen Cyclus. Cultur. Hauptcharacter. Die Afterkultur. In Dienst genommen
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vom Erwerb vom Staate. Schöne Form, täuschen. Grundstimmung, aus der die wahre Cultur hervorwächst. 34 [40] Das ist ein Ideal, davor fühlt sich der Einzelne beschämt. Wie bringt er sich dazu in ein natürliches thätiges Verhältniss? Wie ist der Weg zur Erziehung zu finden? Diese seine Stimmung benützt die verweltlichte Cultur, ihre Ziele sind näher und belasten das Individuum nicht so. Der metaphysische Sinn der wahren Cultur ist festzustellen. Erster Satz der Erziehung. Die Erzeugung des Genius ist die praktische Aufgabe. 34 [41] Ein Ideal. Einwurf: es nöthigt in einer doppelten Art zu leben, es wird keine verbindende Thätigkeit gefunden. Die Consequenteren ziehen sich auf ein niedrigeres Ziel zurück. Dagegen: es gehört in einen Kreis von Idealen, Cultur. Jenes niedrigere Ziel ist keine Stufe auf dem Wege, sondern ein andrer feindseliger Standpunkt. Bei der Grösse des Bildes zweierlei Gefahren: 1) das grosse Ziel wird preisgegeben (abgeirrte Cultur) 2) das Ziel wird festgehalten, aber keine Thätigkeit gefunden, die uns damit verbindet. Die schwächeren Naturen unterliegen: deshalb ist Schopenhauer nur etwas für die Thätigsten. Bedeutung der abgeirrten Cultur. Versuch, Pflichten aus dem vollen Begriffe derselben abzuleiten. In einzelnen Augenblicken steht man darin. Es ist nöthig die niedere Stufe zu finden, auf der wir wirklich stehen können, wo wir nicht taumeln. 34 [42] 533
Aber das sind Rückfälle und Merkmale der philosophischen Neulingschaft und Jugend: und es muss möglich sein, männlicher und beharrlicher, ohne diese blendenden Abstände von Finsterniss und Licht, von Wachen und Träumen, zu leben: dergestalt dass mein Blick von der Natur der Dinge kalt und leuchtend zur eignen Natur zurückkommt, nicht zu etwas Neuem und Anderem, sondern nur zu einem einzelnen Beispiele, an dem wenig gelegen ist und das, je weniger es geachtet wird, immer mehr verschwindet. Ist erst einmal dieses Ich an uns zusammengeschmolzen, und leiden wir nicht mehr oder fast nicht mehr als Individuen, sondern als das Lebendig-Bewusste überhaupt, dann ist auch jene Verwandlung eingetreten, auf die alles Spiel des Werdens nie verfällt, und der Mensch geboren, zu dem sich die Natur hindrängt, um sich in seinem Spiegel zu betrachten. 34 [43] Anfang. Gerade dieses Problem will ausführlicher betrachtet werden: wie hielt es Schopenhauer in seiner Zeit aus, ohne irgend einen Versuch zu machen, ihr Reformator zu sein? Und hat nicht die Schwäche der modernen Zeit sein Bild des Lebens abgeschwächt? Gegen 1) Er ist der befreiende Zerstörer. Der Freigeist. Gegen 2) Er setzt sich als Genius ein gegen die Schwäche der Zeit und kennt so die Natur in ihrer ganzen Kraft. 34 [44] Letztes Capitel. Wie erziehn wir den Philosophen? Den, welcher Gerechtigkeit zu seinem Panier macht! 34 [45] Odysseus opferte, um die Schatten - - Lasst uns dem Geiste Schopenhauers ein ähnliches Opfer bringen, indem wir sagen: Philosophia academica delenda est. 34 [46] Ils se croient profonds et ne sont que creux. 34 [47] (II) Capitel. Verwunderung, wie Schopenhauer überhaupt zu Stande kam und existiren konnte. Gefahren: von Kant her. 534
Vereinsamung. Klima der deutschen Bildung. Innerster Conflict: la Trappe und Genius. (In diesem Gefühl der Beschränktheit liegt seine Grösse, sie hat gar nichts mit der Zeit zu thun: ein allzeitiger Conflict.) Beispiel: Schritt von Kant zu Schopenhauer im Leben. Überwindung des Gelehrten. Überwindung des Romantischen. Ergänzung des klassischen Ideals. Anspornende Verachtung seiner Zeit. (III) Capitel. Hat er Erfolg gehabt? Wo er zu erwarten ist: a) in Betreff der Philosophie, Universität. Cap. IV b) Erkenntniss und Correctur der Zeit. Cap. V c) deutsche Nutzanwendung: Genesis des Genius. 34 [48] Als Schriftsteller: ehrlich heiter männlich (nie greisenhaft) und nicht gefühlvoll, er klagt nicht. [Dokument: Mappe loser Blätter] [Frühjahr - Sommer 1874] 35 [1] Es giebt eine ethische Aristokratie, in die niemand hineinkommen kann, wer nicht schon in und zu ihr geboren ist. Nun ist beobachtungswerth, wie in dieser gehandelt wird. Man wirft der Schopenh Ethik vor, daß sie keine imperativische Form habe, ja diese eingeständlich zurückweise. 35 [2] Die Sphaere der Wahrheit fällt aber nicht zusammen mit der des Guten. 535
35 [3] Der Tiefsinn, der sich mit Kraft, hart, derb, fordernd äussert, ist besonders zu verehren: während er meist bei den Deutschen nebelhaft weichlich schwimmend gewahrt wird. Muthige Gelehrte sind eine Seltenheit. Thätige und harte Denker sind noch seltener in Deutschland. 35 [4] Aristipp sagte, der vornehmste Nutzen, den er von seiner Weltweisheit hätte, wäre, dass er mit jedem frei und offenherzig redete, Ariston sagte - ein Bad und eine Rede, die nicht reinigen und säubern, sind zu nichts nütze. 35 [5] Die Philosophie in Bedrängniss. Vorläufiges und Einzelnes. 35 [6] Goethe "Freunde, treibt nur Alles mit Ernst und mit Liebe, die beiden stehen dem Deutschen so schön, den noch so vieles entstellt". 35 [7] Es ist schrecklich zu denken, dass wenn man den Deutschen von Mangel an Cultur spricht, sie heraushören, man werfe ihnen Mangel an Eleganz vor. 35 [8] Schopenhauer unter den Deutschen. Was hat gerade hier sein Erscheinen zu bedeuten? Was bedeutet in einem Volke, in dem die Philosophie zu Grunde geht, die Jugend Schopenhauers? Was hat die Philosophie unter Deutschen für einen Sinn? Er hätte sehr gut unter Italiänern geboren werden können: siehe Leopardi. Leopardi nur er (der Gedanke der Schönheit) vermag zu mindern des Schicksals Schuld, des harten, das fruchtlos hier auf Erden so viel zu dulden giebt uns Menschenkindern, und nur durch ihn zuweilen
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kann edlen Seelen auch, nicht bloss gemeinen das Leben süsser als der Tod erscheinen." 35 [9] Es sind vielleicht nicht Viele, welche das Bild dieses Schopenhauerischen Menschen als ein Ideal empfinden und gelten lassen. 35 [10] Ein mystisches Ideal und ein gefährliches obendrein! dieser Schopenhauerische Mensch werden die Ängstlichen und Alltäglichen sagen; was geht er uns an? 35 [11] Schopenhauer ist einfach und ehrlich, er sucht keine Phrasen und keine Feigenblätter, sondern sagt einer in Unehrlichkeit verkümmerten Welt "seht, das ist wieder einmal der Mensch!" Welche Kraft haben alle seine Conceptionen, der Wille (der uns mit Augustin, Pascal, den Indern verbündet), die Verneinung, die Lehre vom Genius der Gattung; er hat in der Darstellung keine Unruhe, sondern die helle Tiefe des Sees, der unbewegt ist oder leicht seine Wellen schlägt, während die Sonne über ihm liegt. Er ist grob wie Luther. Er ist bis jetzt das strengste Muster eines deutschen Prosaschreibers, keiner hat es so ernst mit der Sprache und der Pflicht, die sie auferlegt, genommen. Wie viel Würde und Grösse <er> hat, kann man e contrario sehen, wenn man seinen Nachahmer Hartmann sieht (der sein eigentlicher Gegner ist). Seine Grösse ist ausserordentlich, wieder dem Dasein ins Herz gesehen zu haben, ohne gelehrtenhafte Abziehungen, ohne ermüdendes Verweilen und Abgesponnenwerden in der philosophischen Scholastik. Das Studium der Viertelsphilosophen nach ihm ist nur deshalb anziehend, um zu sehen, wie sie sofort auf die Stelle gerathen, wo das gelehrtenhafte Für und Wider, wo Grübeln, Widersprechen, aber nichts weiter, vor allem nicht zu leben erlaubt ist. Er zertrümmert die Verweltlichung, aber ebenso die barbarisirende Kraft der Wissenschaften, er erweckt das ungeheuerste Bedürfniss, wie Sokrates der Erwecker eines solchen Bedürfnisses war. Was die Religion war, ist vergessen gewesen, ebenso welche Bedeutung die Kunst für das Leben hat. Schopenhauer steht zu allem in Widerspruche, was jetzt als Cultur gilt: Plato zu allem, was damals in Griechenland Cultur war. Er ist vorausgeschleudert. 35 [12] 5. Der Philosoph als der wahre Widersacher der Verweltlichung, als der Zerstörer jedes scheinbaren und verführerischen Glücks und alles dessen, was ein solches Glück verspricht, der Staaten, Revolutionen, Reichthümer, Ehren, Wissenschaften, Kirchen unter den Menschen - dieser Philosoph muss, zum Heile von uns Allen, noch unendliche Male wiedergeboren werden; mit der Einen gebrechlichen Erscheinung desselben in Schopenhauer ist es nicht gethan. Aber er bleibt für alle kommenden Zeiten Eins: der bedeutendste Erzieher und Erleichterer jener nicht zahlreichen Menschen, welchen, bis zu irgend einem Grade, jener heroische Sinn der Wahrhaftigkeit und zugleich, als Werkzeug dafür, Scharfsinn und Weitblick eingeboren ist. Gewiss sind noch viele andersartige Offenbarungen derselben weltfeindlichen und unzeitgemässen Grundgesinnung möglich, volksthümliche, bildlichere, liebevollere, sprechendere - und nicht wenige davon mag gerade unsere Zeit, im Zustande der 537
hastigsten besinnunglosesten Verweltlichung und zugleich an der Grenze der schrecklichsten Gefahren für alles Weltenglück, noch im Schoosse tragen. Diesen ganzen noch möglichen Cyclus von Offenbarungen mit Einem Worte zu benennen - wem möchte das möglich sein, ohne Missverständnisse zu wecken? Aber immerhin: ich will den Namen "Cultur" aussprechen und in demselben jenen ganzen werdenden Cyclus verstanden wissen. Das Ziel dieser kommenden Cultur liegt nicht in dieser Welt, und gleichfalls weisen die grössten Äusserungen vergangner Culturen auf ein unaussprechbares Ende hin und waren welt- und werdefeindlich. Erzwingt sich nicht jedes wahre Kunstwerk ein Bekenntniss, mit dem der Satz des Aristoteles Lügen gestraft wird? Ist es nicht die Natur, welche die Kunst nachahmt? Stottert sie nicht mit der Unruhe ihres Werdens etwas nach, in unzureichender Sprache und in immer neuen Versuchen, was der Künstler rein ausspricht? Sehnt sie sich nicht nach dem Künstler, dass er sie von ihrer Unvollkommenheit erlöse? Goethe war es, der das übermüthig tiefsinnige Wort sprach "ich habe es oft gesagt und werde es noch oft wiederholen, die causa finalis der Welt- und Menschenhändel ist die dramatische Dichtkunst. Denn das Zeug ist sonst absolut zu nichts zu brauchen." Will nicht jede Cultur den einzelnen Menschen heraus aus dem Stossen, Schieben und Zermalmen des historischen Stromes nehmen und ihm zu verstehen geben, dass er nicht nur ein historisch begrenztes, sondern auch ein ganz und gar ausserhistorisch-unendliches Wesen sei, mit dem alles Dasein begann und aufhören wird? Ich mag es nicht glauben, dass dies der Mensch sei, was da mit trübem Fleisse durch das Leben kriecht, lernt, rechnet, politisirt, Bücher liest, Kinder zeugt und sich zu sterben legt - das ist wohl nur eine Insectenlarve, etwas Verächtliches und Vergängliches und ganz und gar Oberfläche. So zu leben heisst nur auf eine schlechte Art zu träumen. Nun ruft der Philosoph und der Künstler dem, der also träumt, ein paar Worte zu, Worte aus der wachen Welt; werden sie den unruhigen Schläfer wecken? Selten genug: gewöhnlich hört er auch in diesen Tönen nichts, was seinen Traum zerstörte, er webt sie mit hinein und vermehrt die Unklarheit und das Gedränge seines Lebens. So giebt es eine Art von abgeirrter Cultur, welche welt- und werdefreundlich ist und emsig beflissen, den Menschen recht streng im Bereiche seiner historischen Existenz einzuschliessen. Durch sie soll gerade die Aufgabe gelöst werden, die geistigen Kräfte einer Generation so weit zu entbinden, dass sie mit ihnen den bestehenden Institutionen, Staat, Verkehr, Kirche, Gesellschaft, am nützlichsten werden kann: aber nur soweit: wie ein Waldbach durch Dämme und auf Gerüsten theilweise abgeleitet wird, um mit der kleineren Kraft Mühlen zu treiben, während seine volle Kraft die Mühle mit fortreissen würde. Jenes Entbinden ist zugleich und noch viel mehr ein in-Fesseln-Schlagen. Wenn die grossen historischen Gewalten den Versuch wagen und zugestehn, die im Grunde weltfeindliche Cultur mit sich zu versöhnen, so verstehen sie unter Versöhnung immer nur dies Abdämmen und Wegleiten des Bachs auf ihre Mühlen. Ist dies gelungen, wie es dem modernen Staat gelungen, so nimmt man hinterdrein das heftigste und wortreichste Bemühen wahr, dieser in Dienst genommenen, geschwächten und weltfreundlich gewordnen Cultur ein Sonder- und Einzelrecht zu erkämpfen, als ob gerade nur sie und nichts sonst Cultur sein dürfe: sie selbst, diese missgebrauchte Cultur, kräht am lautesten, weil sie sich schuldig weiss und von ihrem Wesen abgefallen ist. So ist das Christenthum, eine der wundervollsten Einzeloffenbarungen und Ausdrucksweisen jener unerschöpflich ausdrucksfähigen weltfeindlichen Cultur, allmählich in hundertfacher Weise benutzt worden, um die Mühlen der Weltmächte zu treiben und wurde deshalb bis in die Wurzeln hinein verheuchelt und verlogen; und selbst sein letztes Ereigniss, die deutsche Reformation, wäre nichts als ein plötzliches Aufflackern und Verlöschen gewesen, wenn sich nicht von seinem Brande die Weltstaaten, der päpstliche und der deutsche voran, neue Kräfte und Flammen gestohlen hätten. Wenn jetzt noch christliche Theologen sich gebärden, als ob die moderne Staatskultur mit dem Christenthume versöhnt 538
werden müsste, so handelt es sich nur um Worte: denn das Christenthum existirt gar nicht mehr anders als in der Form jener Staatskultur. Und die Kunst des Tages? Sie soll gerade die moderne Art zu leben, rechtfertigen, als Abbild ihrer hastigen und überreizten Verweltlichung, als ein immer bereites Zerstreuungs- und Auseinanderstreuungsmittel, unerschöpflich in der Abwechslung des Reizenden und Prickelnden, gleichsam der Gewürzladen des ganzen Occidents und Orients, für jeden Geschmack eingerichtet, ob ihm nun nach Wohl- oder Übelriechendem, nach Sublimirtem oder Bäurisch-Grobem, nach Griechischem oder Chinesischem, nach Trauerspielen oder dramatisirten Zoten gelüstet. Und wirklich ist es ziemlich gleichgültig, ob jemand hierin einen guten oder schlechten "Geschmack" zeigt. So lange er nämlich mit der Kunst nur als Schmeckender zu thun hat, ist und bleibt sie eine eitle und verächtliche Sache und schickt sich nicht für den Ernst-thätigen und -leidenden. Wenn ich das Geschrei nach "schöner Form", nach Eleganz höre, wie es unsre Kunstschriftsteller jetzt anstimmen, so klingt es mir nicht viel anders als ob ein Indianer darnach schreit, tätowirt zu werden, oder sich einen Ring durch die Nase wünscht. Ähnliche Wünsche scheinen die Deutschen aus ihrem letzten Kriege mit Frankreich allesammt nach Hause gebracht zu haben. Jener Krieg war für viele die erste Reise in die elegantere Hälfte der Welt; wie herrlich nimmt sich nun die Unparteilichkeit des Siegers aus, welcher es nicht verschmäht, bei dem Besiegten sich seine "Cultur" zu holen. Besonders das Kunsthandwerk wird immer von Neuem wieder auf den Wetteifer mit dem gebildeteren Nachbar hingewiesen, die Einrichtung des deutschen Hauses soll der des französischen angeähnlicht werden, selbst die deutsche Sprache soll, vermittelst einer nach französischem Muster gegründeten Akademie, "gesunden Geschmack" sich aneignen und von dem bedenklichen Einflusse gereinigt werden, welchen Goethe auf sie ausgeübt hat. Unsere Theater haben längst, nicht durch Worte, wie jener Berliner Akademiker Dubois-Reymond, sondern durch Thaten bewiesen, dass sie von einem gleichen Triebe nach jenem "gesunden Geschmack" und nach der französischen Eleganz beseelt sind. Selbst der elegante deutsche Gelehrte ist erfunden: nun, da ist ja zu erwarten, dass Alles, was sich bis jetzt jenem Gesetze der Eleganz nicht recht fügen wollte, deutsche Musik, Tragödie und Philosophie, allmählich als "undeutsch" oder, wie man wohl sagt, als "reichsfeindlich" bei Seite geschafft wird. Die Reichsfreundschaft hat die Eleganz - nun Gott segne beide! - Oder, um einmal deutsch zu reden, der Teufel hole die erste, wenn sie uns den ekelhaften Begriff der Eleganz einimpfen will. Wahrhaftig, es wäre kein Finger für die deutsche Cultur zu rühren, wenn der Deutsche unter der Cultur, die ihm noch fehlt und die er sich erwerben soll, nichts weiter verstünde als Gefälligkeit, noch deutlicher, eine gewisse Tanzmeister- und Tapezierer-Erfindsamkeit, wenn er sich auch in der Sprache nur noch nach einer akademisch gutgeheissenen Regel und gemäss der Anforderung an Manierlichkeit bewegen wollte. Höhere Ansprüche kann aber der letzte Krieg und die Vergleichung mit den Franzosen kaum hervorgebracht haben; vielmehr scheint sich der Deutsche den alten Verpflichtungen gewaltsam entziehn zu wollen, welche seine wunderbare Begabung, der eigenthümliche Schwer- und Tiefsinn seiner Natur ihm auflegt; lieber möchte er einmal gaukeln, Affe sein; lieber lernte er Manieren und Künste, wodurch das Leben verhübscht wird, nicht solche, wodurch es verklärt und durchleuchtet wird. Man kann den deutschen Geist gar nicht mehr schänden, als wenn man ihn behandelt als ob er von Wachs wäre, so dass man ihm eines Tages auch die Eleganz ankneten könnte. Und wenn es leider wahr ist, dass ein guter Theil der Deutschen sich gern derartig kneten und formen lassen will, so soll doch dagegen so oft gesagt werden, bis man es hört: bei euch wohnt sie gar nicht mehr, jene deutsche Art, die zwar hart, herbe und voller Widerstand ist, aber ein köstlicher Stoff, an dem nur die grössten Künstler arbeiten dürfen, weil sie allein seiner werth sind. Was ihr in euch habt, ist ein weichliches breiiges Material: macht damit, 539
was ihr wollt und besonders was ihr könnt, formt lächerliche Puppen und nationale Götzenbilder daraus und nehmt dann selber vor ihnen elegante Gebetsstellungen an - es wird auch hierin bei Richard Wagner's Wort verbleiben: "der Deutsche ist eckig und ungelenk, wenn er sich manierlich geben will; aber er ist erhaben und allen überlegen, wenn er in das Feuer geräth." Und vor diesem deutschen Feuer haben die Eleganten allen Grund, sich sehr in Acht zu nehmen, es möchte sie sonst eines Tages fressen, sammt allen ihren Puppen und Götzenbildern. Aber um nicht von den Deutschen allein zu reden: soweit ist es überhaupt und überall mit jener Afterkultur, der welt- und werdefreundlichen, gekommen, dass sie äusserlich Manierlichkeit und neueste Moden, innerlich hastigste Kenntniss und Ausnützung des Ephemeren, ja des Augenblicklichen verlangt: und nichts sonst! Sie verkörpert sich folglich in dem verruchten Wesen des Journalisten, des Sclaven der drei M: des Moments, der Meinungen und der Moden; und je mehr Einer mit jener Cultur verwandt ist, um so ähnlicher wird er dem Journalisten sehen. Nun ist es gerade das Werthvollste an der Philosophie, immerfort die Gegenlehre alles Journalistischen zu lehren,. um den Menschen darin zu behüten, dass er den Augenblick zu wichtig nehme und von ihm fortgerissen werde. Ihre Absicht ist vielmehr, den Menschen für alle Schläge und Plötzlichkeiten des Schicksals gleich fest hinzustellen und gegen jede Überraschung zu wappnen. So ist sie die grösste Feindin jener Hast, jenes athemlosen Erfassens des Augenblicks, jener Übereile, die alle Dinge zu grün vom Zweige bricht, jenes Rennens und Jagens, das den Menschen jetzt Furchen in's Gesicht gräbt und alles, was sie thun, gleichsam tätowirt. Als ob ein Trank in ihnen wirkte, der sie nicht mehr ruhig athmen liesse, stürmen sie fort, in unanständiger Sorglichkeit: so dass freilich der Mangel an Würde allzu peinlich in die Augen springt und nun wieder eine lügnerische Eleganz nöthig wird, mit der die Krankheit der würdelosen Hast maskirt werden soll. Denn so hängt jene modische Gier nach der "schönen Form", wie es heisst, mit dem hässlichen Inhalt des jetzigen Menschen zusammen: jene soll verstecken, dieser soll versteckt werden. "Gebildet sein" heisst nun: sich nicht merken lassen, wie elend und schlecht man ist, wie raubthierhaft im Streben, wie unersättlich im Sammeln, wie eigensüchtig und schamlos im Geniessen. So entsteht die entsetzliche Stufenleiter: je mehr Geld, desto mehr Bildung, oder anders ausgedrückt: je mehr Begierde und Wildheit, desto mehr Verstellung und Politur. Wer das Dasein um jeden Preis bejahen will, muss sich so stellen, als ob er selbst die wohlschmeckende und anmuthige Frucht jenes Baumes und als ob überhaupt das Dasein bejahenswerth sei; denn dadurch verführt er andere zu einem gleichen Glauben. So lange der Reiche sich auf das Kunststück der "schönen Formen" versteht, wird auch der, Arme darnach trachten, reich zu werden. Mehrmals ist mir schon, wenn ich Jemandem die Abwesenheit einer deutschen Cultur vor Augen stellte, eingewendet worden "aber jene Abwesenheit ist ja ganz natürlich, denn die Deutschen sind bisher zu arm gewesen: lassen sie unsre Landsleute nur erst reich werden, dann werden sie auch eine Cultur haben!" Mag der Glaube immerhin selig machen: diese Art des Glaubens macht mich unselig, weil ich fühle, dass jene deutsche Cultur, an deren Zukunft hier geglaubt wird - die des Reichthums, der Politur und der manierlichen Verstellung - das feindlichste Gegenbild der deutschen Cultur ist, an die ich glaube. Gewiss, wer unter Deutschen zu leben hat, leidet sehr an der berüchtigten Grauheit ihres Lebens und ihrer Sinne, an der Formlosigkeit, dem Stumpf- und Dumpfsinn, an der Plumpheit im zarteren Verkehr, noch mehr an der Scheelsucht und einer gewissen Verstecktheit und Unreinlichkeit des Characters; es schmerzt und beleidigt ihn die überhand nehmende Lust am Falschen und Unächten, am Übel-Nachgemachten, an der Übersetzung des guten Ausländischen in ein schlechtes Einheimisches: aber ganz und gar ekelhaft ist es zu denken, dass alle diese Krankheiten und Schwächen grundsätzlich nie geheilt werden, sondern immer nur 540
überschminkt werden sollen - durch eine solche Luxus-Cultur, wie sie der unmenschliche Reichthum zu allen Zeiten um sich ausgebreitet hat, um sich den Anschein der Menschlichkeit zu geben. Eine solche Cultur wird über das gemeine und thierische Gesicht einer wilden Daseinsgier wie ein Schleier gehängt: gewoben aus Scheinreligionen, Scheinkünsten, Scheinwissenschaften, Scheinphilosophien, [+ + +] 35 [13] Schopenhauer spricht einmal den Satz aus, dass man allemal wohl thut, hinter seiner Zeit zurückzubleiben, wenn man sieht, dass sie selbst im Zurückschreiten begriffen ist. 35 [14] Ich pflege deshalb als die Wurzeln dieser jetzigen gesammten zeit- und werdefreundlichen Cultur zweierlei zu betrachten und zu unterscheiden: einmal die üppige Richtung der Gesellschaft auf Erwerb und Besitz, sodann die kluge Selbstsucht des modernen Staates. Erdenglück: so heisst in beiden Fällen der Köder, mit dem die Cultur in das Netz gelockt wird; der reiche und mächtige Mensch, die freie Persönlichkeit, der Culturstaat - das sind die Verheissungen, mit denen unsre Zeitgenossen betrogen werden sollen. Dass es sich nämlich hier um Betrug handelt, überkommt uns sofort wie eine Offenbarung, wenn wir nur einen Augenblick in jene Höhle niedergestiegen sind, in welcher wir die Wurzeln der ächten, weltfeindlichen Cultur sehen können. Die tieferen Menschen haben zu allen Zeiten gerade deshalb Mitleid mit den Thieren gehabt, weil sie am Leben leiden und doch nicht die Kraft besitzen, den Stachel des Leidens wider sich selbst zu kehren und ihr Dasein metaphysisch zu verstehn; und es empört im tiefsten Grunde, das sinnlose Leiden zu sehen. Deshalb entstand nicht nur an einer Stelle der Erde die Vermuthung, dass die Seelen schuldbeladner Menschen in diese Thierleiber gesteckt seien und dass jenes auf den nächsten Blick empörende sinnlose Leiden vor der ewigen Gerechtigkeit sich in lauter Sinn und Bedeutung, nämlich als Strafe und Busse, auflöse. Wäre aber eine härtere Strafe zu ersinnen, als dergestalt unter Hunger und Begierde als Thier zu leben und gar nicht zur Besonnenheit über das Leben zu kommen, als Raubthier zum Beispiel von der nagendsten Qual durch die Wüste gejagt zu werden, selten befriedigt und auch dies nur so, dass die Befriedigung zur Pein wird, im zerfleischenden Kampfe mit andern Thieren oder durch ekelhafte Gier und Übersättigung. So blind und toll am Leben zu hängen, um keinen höheren Preis, ferne davon zu wissen, dass und warum man so gestraft wird, sondern gerade nach dieser Strafe wie nach einem Glücke mit der Dummheit einer entsetzlichen Begierde zu lechzen - das heisst Thier sein; und wenn die Natur sich zum Menschen hindrängt, so fühlt sie, dass er zu ihrer Erlösung nöthig ist und dass in ihm das Dasein sich einen Spiegel vorhält, auf dessen Grunde das Leben nicht mehr sinnlos, sondern in seiner metaphysischen Bedeutsamkeit erscheint. Doch wo hört das Thier auf, wo fängt der Mensch an! Solange jemand nach dem Leben wie nach einem Glücke verlangt, hat er den Blick noch nicht über den Horizont des Thieres hinausgehoben, nur dass er mit mehr Bewusstsein will, was das Thier im blinden Drange sucht - das heisst, wir verbringen Alle den grössten Theil unsres Daseins in der Thierheit, wir selbst sind die Thiere, welche sinnlos zu leiden scheinen. Aber es giebt Augenblicke, wo die Wolken zerreissen und wo wir uns, sammt aller Natur, zum Menschen hindrängen. Schaudernd blicken wir, in jener plötzlichen Helle, um uns, rückwärts: wir sehen die verfeinerten Raubthiere rennen, uns mitten unter ihnen. Die ungeheure Bewegtheit der Menschen auf der grossen Erdwüste, ihr Städte- und Staatengründen, ihr Kriege-führen, ihr rastloses Sammeln und Auseinanderstreuen, ihr 541
Durcheinander-Laufen, von einander Ablernen, Ablisten, ihr gegenseitiges Überlisten und Niedertreten, ihr Geschrei in Noth, ihr Lustgeheul im Sieg - alles ist Fortsetzung der Thierheit: als ob der Mensch absichtlich zurückgebildet und um seine metaphysische Anlage betrogen werden sollte, ja als ob die Natur, nachdem sie solange den Menschen ersehnt und erarbeitet hat, nun vor ihm zurückbebte und lieber wieder zurück in die Unbewusstheit des Triebes wollte. Ach, sie braucht Erkenntniss, und ihr graut vor der Erkenntniss, die ihr eigentlich Noth thut; und so flackert die Flamme unruhig und gleichsam vor ihrer Aufgabe erschreckt, hin und her und ergreift tausend Dinge zuerst, bevor sie das ergreift, dessentwegen überhaupt die Natur der Erkenntniss bedarf. Wir wissen es Alle in einzelnen Augenblicken, wie die weitläuftigsten Anstalten unseres Lebens nur gemacht werden, um vor unserer eigentlichen Aufgabe zu fliehen, wie wir gerne irgendwo unser Haupt verstecken wollen, als ob uns dort unser hundertäugiges Gewissen nicht erhaschen könne, wie wir unser Herz an den Staat oder den Geldgewinn, die Wissenschaft, die Geselligkeit hastig wegschenken, bloss um es nicht mehr zu haben, wie wir selbst der schweren Tagesarbeit hitziger und besinnungsloser fröhnen, als nöthig wäre um zu leben - weil es uns nöthiger scheint nicht zur Besinnung zu kommen. Allgemein ist die Hast, weil jeder auf der Flucht vor sich selbst ist, allgemein auch das scheue Verbergen dieser Hast, weil man zufrieden scheinen will und die scharfsichtigeren Zuschauer über sein Elend täuschen möchte, allgemein das Bedürfniss nach neuen klingenden Wort-Schellen, mit denen behängt das Leben etwas Festlich-Lärmendes bekommen soll. Jeder weiss aus seiner Erfahrung, wie plötzlich sich mitunter unangenehme Erinnerungen aufdrängen und wie wir dann durch heftige Gebärden und Worte bemüht sind, sie uns aus dem Sinne zu schlagen - aber die allgemeine Gestalt unseres Lebens lässt errathen, dass wir uns immer in einem solchen Zustande befinden: was ist es doch, was uns so häufig anficht, welche Mücke lässt uns nicht schlafen? Es geht geisterhaft um uns zu, jeder Augenblick des Lebens will uns etwas sagen, aber wir wollen diese Geisterstimmen nicht hören. Wir fürchten uns, wenn wir allein und stille sind, dass uns etwas in das Ohr geraunt werde; und so hassen wir die Stille und betäuben uns durch Geselligkeit. Der Mensch weicht nach Kräften dem Leiden aus, aber noch mehr der Deutung des erlittenen Leidens, in immer neuen Zielen sucht er das dahinten Liegende zu vergessen. Wenn der Arme und Geplagte sich gegen das Schicksal aufbäumt, welches ihn gerade an diese rauheste Küste des Daseins warf, so will auch er sich nur betrügen: er mag nicht in das tiefe Auge hineinsehen, das ihn aus der Mitte seines Leidens fragend anblickt, als ob es sagen wollte: ist es dir nicht leichter gemacht, das Dasein zu begreifen? Jene scheinbar Beglückteren, die sich in Unruhe und Flucht vor sich selbst verzehren, um nur ja nicht die natürliche böse Beschaffenheit der Dinge, des Staates zum Beispiel oder der Arbeit oder des Eigenthums, zugeben zu [+ + +] [Dokument: Heft] [Mai 1874] 36 [1] Einleitung zu Plato. 1874. Die antike Metrik. Laertius Diogenes. Über Homer. 36 [2] 542
1874. Schopenhauer. Der Gelehrte. 1875. Zwei Unzeitgemässe. 1876. Eine Unzeitgemässe. 36 [3] Zu lesen: 2 Griechische Litteratur. 1 Encyclopädie. 1 Metrik. [Dokument: Heft] [Ende 1874] 37 [1] Abarten degenerare (Sohn vom Vater) abätzen (die Weide) depascere abbesolden eine Sache zu grün abbrechen = übereilen er bricht sich nichts ab = versagt sich nichts die Zeit wird den Aberglauben schon abbringen abbrüchig (Dat.) = nachtheilig Licht abdäuben (dämpfen) davon lässt sich nichts abdingen alles, was man uns abdringt Aberglauben und Abdünkel einem etwas abeilen (eilends wegnehmen) es gehet gegen den Abend auf wahrscheinliche Vermuthungen ein Abenteuer wagen 543
abenteuernd euer ganzes aberweises Jahrhundert in Abfall und Verachtung kommen die Regel muss einen Abfall leiden nach ihm abgeformt abgeführte und arglistige Köpfe Fehl, Abgang und Gebrechen abgängige Kleider (abgenutzt) er gab einen Begleiter ab das Feuer abgehen lassen uns, denen nichts abgeht abgelebte Tage unser abgesagtester Feind dir will ich leicht abgewinnen mit zerlumpt die Segel, Rippen abgewittert er gewöhnte ihn von den Ausschweifungen ab da wird ein Todter geschwind noch abgegossen Abglimmen des Lichtes bei heiteren Abenden das Glück war mir abgünstig dass er ihnen nichts abhaben konnte Spiess abhag ab ziehn = die Belagerung aufgeben er hält gar nichts ab = aus ich kam mir selbst abhanden ich hange ganz von ihrem Willen ab die Natur macht den Menschen abhängig zur Erde, das Gemüth wie eine schwere Bleiwage nach der Eitelkeit abhängig 544
bei abgehellter Luft helfet mir das Marter ab Abhub (ablatio ciborum) ich lasse mir nichts abheucheln den Zeugen vor Gericht abhören allem Laster abhold abkarten abkaufen sich von der Welt abkehren das Jahr klingt ab, der Wind geht über die Stoppeln abgeklaubte Formeln als er seines Frostes ein wenig abgekommen war abkräftige Kranke er will sich keinen Heller von dem Gelde abkürzen lassen nach abgelegter Reise einen Besuch in der Nachbarschaft abzulegen einen Brief von Basel ablassen das Pferd läuft von der Strasse ab ihm den Vortheil, den Preis ablaufen du weisst dass bei Licht seine Augen immer mehr ablegen ablenken aller Wein muss erst abliegen, bevor man ihn trinken kann ein versetztes Pfand ablösen die Handgriffe abmerken den Streit gütlich abmachen was aber windfällig und wipfeldürr, mag man wohl abhauen 545
du kannst dich wohl von dem Schreiben einen Augenblick abmüssigen die Regel aus der Analogie abnehmen Bergleute müssen manchen Schurf vergebens werfen und viel Schächte abteufen ich bin nicht in Abrede, dass dass ich sie nicht recht gemahlet, sondern allein auf ein Papier schlecht abgerissen einen Absagbrief wider alle Zeitungsschreiber das Glück sagt ihm ab und widerstehet ihm eine Neigung, welche mit ihrem Alter einen starken Absatz machte ein glücklicher Abscheid aus dieser Welt wie leichtfertig hat jener Fürst seinen Dienern das abgebrochen und abgeschatzet pfui welch ein Abscheu, welch ein Schreckbild! aus der Abschilderung, die man mir von ihm gemacht ich nehme keinen Abschlag an, keine vorläufige Bezahlung jeden Gewaltstreich abschlagen worauf kann er wohl sein Absehen richten? (haben) seinen Vortheil schnell absehen Tag und Nacht setzen so entschieden von einander ab alte abgesetzte Wörter es setzte einen grossen Streit ab in gewisser Absicht, in Absicht der Wirkungen. 37 [2] Ebenmaass echt ist richtig, nicht ächt ehe ist falsch: eh zu schreiben mit ehester Gelegenheit augenfällig und eindrücktich 546
zu wilden und einöden Orten er hat ein grosses Stück am Eis gebrochen. 37 [3] Werth des Lateinschreibens. Das Übersetzen. Grad und Art des Lesens. Über Stilmuster. Nutzen von Sammlungen. Maass des Schreibens. Das Sprechen und Hören. Der logische Satz. Über Schmuck. Gesammtfärbung. Entstehung einer Schrift - Einfälle. Überzeugen - Belehren und andre Absichten. artem tegere. Freude am Schreiben als Gegengewicht gegen das Lesen. Ob zuerst kleine oder grosse Form? Die Gesammtproportion muss fühlbar sein. Die Alten schreiben nicht von Natur gut. Über Citate (sollen nicht die Farbe stören). Enthaltung von Zeitungen (lesend schreibend). Das Einfache ist das Schwerste und Letzte. Das Individuelle muss erst heraus, dann ist es zu brechen. Interpungiren, Gedankenstriche usw. Erhaltung der Sprache nur an künstlerische Behandlung geknüpft. 547
37 [4] Übersetzen: aber Verse machen verdirbt einem die Sprache. Nie sich scheuen, deutlicher zu sein als der Autor. Das "zwischen Zeilen lesen" ist in ein offneres Anspielungswesen zu übertragen. Mitunter sieht man die weissen Knochen zu sehr bei Aristoteles (so gewiss auch die Magerkeit am Platze ist). Aussichten auf die Zukunft der Sprache; es ist Zeit für lebenslange Arbeit an ihr. Vom unglücklichen Gedanken an eine Akademie auszugehen Unsre Mittel und Wege zur Cultur zu kommen sind der Kraft und Gesundheit der Cultur feindlich. Das Problem der Kunstprosa; zu einer gewissen Zeit nothwendig, als das einzige, was die Sprache noch erhält; aber ungeheurer Verlust einbegriffen. Der Kampf um die Prosa (Schrift- und Redeprosa). Die unmoralischen Bedingungen der einzelnen Dichtungsarten, z. B. Ungeduld des Zuhörers beim Drama: ebenso die intellectuellen Beschränktheiten, die zu jeder speziellen Kunst nöthig sind. Zum Lesen: wir sind eine Zeit, deren Cultur an den Mitteln der Cultur zu Grunde geht. Keller. Auerbach. Heine. Grimm. Auerbach kann weder erzählen noch denken; er stellt sich nur so an. Dagegen ist er in seinem Element, wenn er in einer weichlichen geschwätzigen Rührung schwimmen kann; doch sind wir nicht gern in seinem Elemente. Eine gute Schrift wird, wo sie wirkt, vergessen machen, dass sie litterarisch ist; sie wirkt als Wort und Handlung eines Freundes; wer möchte darüber etwas drucken lassen! Der Niedergang der Bildung zeigt sich in Verarmung der Sprache; das Deutsche der Zeitungen ist eine κοιν×η bereits. Man kann der Sprache äusserlich aufhelfen (2. und 3. Jahrhundert n. Chr.). 37 [5] Die Armut der Sprache entspricht der Armut der Meinungen: man denke an unsre Litteraturzeitungen: wie wenig herrschende Ansichten! Zuerst glaubt man mit lauter Fachgelehrten zu thun zu haben, wenn das Urtheil über ein Buch gesprochen wird: jetzt sehe ich dahinter. Die Nachtheile, die mit der Einheit einer Nation verknüpft sind, wie mit der Einheit einer Kirche; Segen des Kampfes. In der Concurrenz der Nationen verdorrt das widerhaarige 548
trennlustige Deutschwesen in sich und wird nach aussen streitbar, üppig, genusssüchtig, gierig. Wehe allen, die jetzt nach schönem Stile trachten: seid was ihr scheint und schreibt so! Fünf Jahre pythagoreisehes Nichtlesen. Das Goethische Dictiren: sein Vortheil, dem Sprechen näher. Der "schöne Stil" ist eine Erfindung der Prunkredner. "Warum sollte man sich mit der Sprache solche Mühe geben!" Deutlichkeit genügt, wie Epikur meinte. Zu schildern, was vermöge dieses Princips der Deutlichkeit verloren geht. Ist denn der Mensch nichts als Logik? 37 [6] Aller Verkehr unter Menschen beruht darauf, dass der eine in der Seele des andern lesen kann; und die gemeinsame Sprache ist der tönende Ausdruck einer gemeinsamen Seele. Je inniger und zarter jener Verkehr wird, um so reicher die Sprache; als welche mit jener allgemeinen Seele wächst oder - verkümmert. Sprechen ist im Grunde ein Fragen des Mitmenschen, ob er mit mir die gleiche Seele hat; die ältesten Sätze scheinen mir Fragesätze und im Accent vermuthe ich den Nachklang jenes ältesten Fragens der Seele an sich selbst, aber in einem andern Gehäuse. Erkennst du dich wieder? - dies Gefühl begleitet jeden Satz des Sprechenden; er macht den Versuch eines Monologs und Zwiegesprächs mit sich selbst. Je weniger er sich wieder erkennt, um so mehr verstummt er, und im erzwungenen Verstummen wird seine Seele ärmer und kleiner. Wenn man die Menschen nöthigen könnte, von jetzt ab zu schweigen: so könnte man sie zu Pferden und Seehunden und Kühen zurückbilden; denn diesen Wesen sieht man an, was es heisst, nicht sprechen können: nämlich so viel als eine dumpfe Seele zu haben. Nun haben in der That viele Menschen und mitunter die Menschen ganzer Zeiträume etwas von Kühen an sich; ihre Seele liegt dumpf und lässig in sich. Sie mögen springen und grasen und sich anstieren, es ist nur ein elender Rest von Seele unter ihnen gemeinsam. Folglich muss ihre Sprache verarmt sein oder mechanisch werden. Denn es ist nicht wahr, dass die Noth die Sprache erzeuge, die Noth des Individuums; sondern höchstens die Noth einer ganzen Heerde, eines Stammes, aber damit diese als das Gemeinsame empfunden werde, muss schon die Seele weiter als das Individuum ist geworden sein, sie muss auf Reisen gehen, sich wieder finden wollen, sie muss erst sprechen wollen, bevor sie spricht; und dieser Wille ist nichts Individuelles. Dächte man sich ein mythologisches Urwesen, mit hundert Köpfen und Füssen und Händen, als die Form des Urmenschen: so würde es mit sich selbst reden; und erst als es merkte, dass es mit sich wie mit einem zweiten, dritten, ja hundertsten Wesen reden könne, liess es sich in seine Theile zerfallen, die einzelnen Menschen, weil es wusste, dass es nicht ganz seine Einheit verlieren könne: denn diese liegt nicht im Raume, wie die Vielheit dieser hundert Menschen; sondern wenn diese sprechen, fühlt sich das mythologische Ungeheuer wieder ganz und eins. Und klingt denn wirklich das herrliche Tonwesen einer Sprache nach Noth, als der Mutter der Sprache? Ist nicht alles mit Lust und Üppigkeit geboren, frei und mit den Zeichen betrachtenden Tiefsinns? Was hat der affenartige Mensch mit unsern Sprachen zu thun! Ein Volk, welches sechs Casus hat und seine Verben mit hundert Formen abbeugt, hat eine volle 549
gemeinsame und überströmende Seele; und das Volk, welches eine solche Sprache sich schuf, hat die Fülle seiner Seele auf alle Nachwelt ausgegossen; in einer späteren Zeit werfen sich die gleichen Kräfte in die Form von Dichtern und Musikern und Schauspielern Rednern und Propheten; aber als diese Kräfte noch in der strotzenden Fülle der ersten Jugend waren, erzeugten sie Sprachenbildner: das waren die fruchtbarsten Menschen aller Zeiten, und sie zeichnete aus, was jene Musiker und Künstler zu allen Zeiten auszeichnet: ihre Seele war grösser, liebevoller, gemeinsamer und beinahe mehr in allen als in einem einzelnen dumpfen Winkel lebend. In ihnen sprach die allgemeine Seele mit sich. 37 [7] Sind für einen künftigen Schriftsteller viele Sprachen von Nutzen? Oder überhaupt fremde Sprachen? Zumal für einen deutschen Schriftsteller? Die Griechen hiengen von sich ab und bemühten sich nicht um fremde Sprachen: wohl aber um die eigne. Bei uns umgekehrt: die deutschen Studien haben sich erst allmählich eingedrängt, und sie haben, wie sie getrieben werden, etwas Ausländisches und Gelehrtenhaftes an sich. Viel wird gethan, um lateinischen Stil zu lehren; aber im Deutschen lehrt man Geschichte der Sprache und Litteratur: und doch hat diese Geschichte nur als Mittel und Hülfe einer praktischen Übung Sinn. Deutsch in frühern Perioden lesen zu können ist nichts oder wenig. Aber viel ist, zu einem Urtheil über das Verkommene der gegenwärtigen Sprache zu gelangen und deshalb die Vergangenheit zu Hülfe zu nehmen. Der Wort- und Wendungen-Schatz, der jetzt jedermann zu Gebote steht, ist als verbraucht anzusehn und zu empfinden; wirklich ist die Sprache viel reicher als man nach diesem Schatze meinen sollte; ebenso ist die verschlungene Syntax verbraucht. Man muss also künstlerisch mit der Sprache verfahren, um dem Ekel zu entfliehen; etwa wie ich nicht mehr Mendelssohn'sche Wendungen aushalte; ich verlange nach einer kräftigeren und reizvolleren Sprache. Jetzt wird es freilich viel schwerer zu schreiben als es war; man muss sich seine Sprache machen. Dies ist kein äusserliches Begehren, als ob man eine Tracht satt hätte und nach einer neuen Mode begehrte. Denn ich erkenne in dem stumpfen Character unserer Sprache recht gut unser stumpfgewordnes Deutschthum, unsre verschwindende Individualität. Der Kampf hier und dort ist nur ein Sich-Bäumen gegen die Vernichtung des besseren und stärkeren Deutschthums, an das wir noch glauben. Eine Stillehre, die auf das Correcte und Conventionelle sähe, wäre das letzte, was wir brauchten: während es für die Andern kaum mehr nöthig ist, da sie unwillkürlich darin schon leben, ich meine im Zwange des Correcten und Conventionellen. Wer der deutschen Sprache noch eine Zukunft verheissen will, muss eine Strömung erzeugen gegen unser jetziges Deutsch. Man muss vieles Unglückliche und Gequälte in Kauf nehmen; die nächste Hauptsache ist, dass man sich anstrengt, dass man auf die Sprache Blut und Kraft wendet. Schön und hässlich sind Worte, die uns jetzt gar nichts angehen sollen, guten "Geschmack" kann es gar nicht geben. Tod aller Weichlichkeit, Bequemlichkeit. Also: die Verarmung und Verblassung der Sprache ist ein Symptom der verkümmerten allgemeinen Seele in Deutschland; während die grosse Gleichmässigkeit in Wort und Wendung als das Gegentheil erscheinen könnte, als das Gegenstück der politischen Einheit, der Gewinn einer gemeinsamen Seele. Wenigstens könnte man sagen: es entsteht eine Einheit durch Zusammenschrumpfen und durch Erweiterung; die erste Art hätte man jetzt. Zum Beweis dass man die zweite nicht hat, dient es zu sehen, wie unsre grössten und reichsten Geister sich bei den Mitdeutschen gar nicht mehr verständlich machen können. Unwillkürlich werden sie Exilirte. Ebenso dient zum Beweise, was für Schriftsteller und Künstler der jetzigen allgemeinen Seele entsprechen und verstanden werden, z. B. so ein Strauss, Auerbach und dergleichen.
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37 [8] Wie kann man nur Stil und Darstellung so wichtig nehmen! Es kommt doch nur darauf an, dass man sich verständlich mache. - Zugegeben: aber das ist nichts Leichtes und etwas sehr Wichtiges. Man denke, <was für> ein complicirtes Wesen der Mensch ist: wie unendlich schwer für ihn, sich wirklich auszudrücken! Die meisten Menschen bleiben eben in sich kleben und können nicht heraus, das ist aber Sklaverei. Sprechen- und Schreibenkönnen heisst freiwerden: zugegeben dass nicht immer das Beste dabei herauskommt; aber es ist gut, dass es sichtbar wird, dass es Wort und Farbe findet. Barbar ist einer, der sich nicht ausdrücken kann, der sklavenhaft plappert. - "Schöner Stil" freilich ist nichts als ein neuer Käfig, ein vergoldetes Barbarenthum. Ich verlange von einem Buche Stimmung als Einheit und Maass; das bestimmt Wortwahl, Gleichniss-Art und -Zahl, Gang und Ende. [Dokument: Mappe loser Blätter] [Ende 1874] 38 [1] Prometheus und sein Geier sind vergessen worden, als man die alte Welt der Olympier und ihre Macht vernichtete. Prometheus erwartet seine Erlösung einmal vom Menschen. Er hat Zeus das Geheimniss nicht verrathen, Zeus ist an seinem Sohne zu Grunde gegangen. Die Blitze im Besitz der Adrasteia. Zeus wollte die Menschen vernichten - durch Krieg und Weib und deren Sänger Homer: in summa die griechische Cultur, allen späteren Menschen das Leben verleiden; er wollte sie durch Nachahmung und Neid gegen die Griechen tödten. Sein Sohn machte sie, zum Schutze vor diesem Ende, dumm und furchtsam vor dem Tode, und brachte sie zum Hass gegen das Hellenische; so vernichtete er Zeus selbst. Zeit des Mittelalters zu vergleichen den Zuständen vor der That des Prometheus, wie er ihnen das Feuer gab. Auch dieser Sohn des Zeus will die Menschen zerstören. Prometheus schickt ihnen den Epimetheus zu Hülfe, der die ganz alte Pandora wieder aufnimmt (die Geschichte und Erinnerung). Und wirklich lebt die Menscheit wieder auf und Zeus mit ihr, letzterer aus einer Fabel im Mythus. Das fabelhafte Griechenthum verführt zum Leben - bis er, genauer erkannt, wieder davon abführt: sein Fundament wird als schrecklich und unnachahmlich erkannt. (Prometheus hat den Menschen den Blick auf den Tod entzogen, jeder hält sich für ein unsterbliches Individuum und lebt thatsächlich anders, als ein Glied der Kette.) Periode des Misstrauens gegen Zeus und seinen Sohn; auch gegen Prometheus, weil er ihnen den Epimetheus geschickt hat.
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Vorbereitung des Chaos. Prometheus wird durch Epimetheus über seinen Fehler bei der Schaffung der Menschen belehrt. Er billigt seine eigne Strafe. Der Geier will nicht mehr fressen. Prometheus' Leber wächst zu sehr. Zeus, der Sohn und Prometheus sprechen mit einander. Zeus löst ihn, Prometheus soll die Menschen noch einmal einstampfen, die Form neu bilden, das Individuum der Zukunft. Mittel wie man eine Masse, einen Brei erzeugt. Zur Linderung der Schmerzen der einzustampfenden Menschheit verleiht der Sohn die Musik. Also: Concession an Prometheus, Menschen sollen wieder entstehen; Concession an Zeus und Sohn, sie sollen erst vergehen. 38 [2] Zur Form des Ganzen: der Geier spricht allein und erzählt: ich bin der Geier des Prometheus und durch die seltsamsten Umstände seit gestern frei. Als Zeus mir aufgab, Prometheus' Leber zu fressen, wollte er mich entfernen, denn er war eifersüchtig wegen des Ganymed. 38 [3] Alle Religion hat etwas Nachtheiliges für den Menschen. Was wäre geschehn, wenn Prometheus nicht zu Mekone listig gewesen wäre! Der Zustand unter dem Sohn, wo die Priester alles auffressen. 38 [4] "Ach ich Unglücksvogel, ein Mythus bin ich geworden!" 38 [5] Die Menschen durch das Christenthum, wie die griechischen im Hades, so schattenhaft. Blut trinken. (Kriege.) 38 [6] Bei des Prometh<eus> Bildung der Menschen hat er versehn dass Kraft und Erfahrung des Menschen zeitlich auseinanderliegen: alle Weisheit hat etwas Altersschwaches. 38 [7] Die Götter sind dumm (der Geier schwätzt wie ein Papagei); als Zeus Achill Helena und Homer schuf, war er kurzsichtig und kannte die Menschen nicht; das wirkliche Resultat war nicht die Vernichtung der Menschen, sondern die griechische Cultur. Darauf schuf er den Welteroberer als Mann und Weib (Alexander und Roma, die Wissenschaft), sein Sohn Dionysus den Weltüberwinder (dumm-phantastisch, entzieht sich das Blut, wird ein fanatischer Hadesschatten auf Erden, Gründung des Hades auf Erden). Die Weltüberwinder nehmen den Gedanken des Welteroberers an - und nun scheint es um die Menschen gethan. Zeus geht dabei fast zu Grunde, aber auch Dionysus-Überwinder. Prometheus sieht, wie alle 552
Menschheit zum Schatten geworden ist, im Tiefsten verdorben, furchtsam, böse. Aus Mitleiden schickt er ihr den Epimetheus mit der verführerischen Pandora (griechische Cultur). Jetzt wird es unter den Menschen ganz gespenstisch und ekelhaft und breiartig. Prometheus verzweifelt [+ + +]
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Teil II: Fragmente 1875 – 1879 Die Fragmente von 1875-1879 bestehen aus 35 Handschriften und zwar 9 Hefte, 22 Notizbücher, 4 Mappen mit losen Blättern. [Dokument: Notizbücher] [Winter – Frühling 1875] 1 [1] Romundt 9 Januar: 9 – 10 März muss seine Schrift fertig sein höchstens 10 April. 1 [2] Stelle über Faust Hölderlin Schluß Empedokles 1 [3] 1875 4 5
Philolog. Wagner.
1876 6
Presse.
1877 7 8
Religion. Schule.
1878 9 10
Social. Staat.
1879 11-12
Mein Plan. Natur.
1880 13
Weg der Befreiung.
1 [4] Vorspiel.
Der Bildungsphilister.
1 Geschichte. 2 Philosophie. 3 Alterthum. 4 Kunst. 5 Religion.
1876 Ostern April Mai Juni
6 Schule.
Juli August September 554
7 Presse.
October November December
8 Staat.
1877 Januar Februar März
9 Gesellschaft.
April Mai Juni
10 Mann als ich.
Juli August September
11 Natur.
October November December
12 Weg der Befreiung. 1878 Januar Februar März 1869 Ostern – 1876 Ostern. 7 Jahre Universität. Ostern 1876 – Ostern 1878. 800 Seiten in 24 Monaten, 24 : 800 33, d.h. alle Tage eine Seite, alle drei Monate 1 Unzeitgemässe. 72 33 Jahre alt bin ich dann mit den Unzeitgemäßen fertig. 1 [5] 13 Jahre alt – 19 Schulpforta. 19 – 24 Bonn Leipzig. 24 – 31 Basel 31-33 ?
[Dokument: Heft] [Bis Anfang März 1875] Notizen zu "WIR PHILOLOGEN" 2 [1] Die Muschel ist inwendig krumm, aussen rauh; wenn sie beim Blasen brummt, dann erst bekommt man die rechte Achtung vor ihr. (ind. Sprüche ed. Böthlingk. I 335.) Ein häßlich anzusehendes Blasinstrument: es muß erst geblasen werden. 2 [2] Themata.
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Theorie des Lächerlichen. Mit Sammlungen. Theorie des Schauerlichen. Mit Sammlungen. Beschreibung meiner musikalischen Erfahrungen in Betreff Wagner's. Die Frage in der Musik. Es soll ein grosses Buch für die täglichen Einfälle und Erfahrungen, Pläne usw. angelegt werden: wo auch die wissenschaftlichen Erkenntnisse kurz eingetragen werden. Alle litterarischen Pläne bei Seite zu stellen. Mihiscribere. 2 [3] Wir Philologen. Ungefährer Plan. 1. Genesis des jetzigen Philologen. 2. Der jetzige Philologe und die Griechen. 3 . Wirkungen auf Nichtphilologen. 4. Andeutungen über die Griechen. 5. Die zukünftige Erziehung des Philologen. 6. Griechen und Römer – und Christenthum. Wolf's Loslösung. Besser: a. Die Bevorzugung der Griechen. b. Genesis der jetzigen Philologen. c. Ihre Wirkung auf Nichtphilologen. d. Ihre Stellung zu den wirklichen Griechen. e. Zukünftiges. 2 [4] Vielleicht gegen die Feinde des Alterthums mit Cicero in Pison. c. 30 „Quid tè, asine, litteras doceam? Non opus est verbis, sed fustibus." 2 [5] Es bleibt ein grosser Zweifel übrig, ob man aus den Sprachen auf Nationalität und auf Verwandtschaft mit anderen Nationen schliessen kann; eine siegreiche Sprache ist nichts als 556
ein häufiges (nicht einmal regelmässiges) Zeichen einer gelungenen Überwältigung. Wo hätte es je autochthone Völker gegeben! Es ist ein ganz unklarer Begriff, von Griechen zu reden, die noch nicht in Griechenland lebten. Das Eigenthümliche-Griechische ist viel weniger das Resultat der Anlage als der adaptirten Institutionen und auch mit der angenommenen Sprache. 2 [6] Ich will für meine Schüler kurze Katechismen machen, z.B. – über Schreiben und Lesen. – über griechische Litteratur. – Haupteigenschaften der Griechen. Griechen und Römer. Was man von den Griechen lernen kann. 2 [7] a. Bevorzugung des Alterthums, ihre Gründe und deren Widerlegung. b. Bisherige Genesis der Philologen, auch ihre Praxis. 2 [8] Klinger sagt "die Kultur ist eine Frucht freierer furchtloserer Gefühle'".
[Dokument: Mappe loser Blätter] [März 1875] Notizen zu Wir Philologen 3 [1]
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3 [2] Der achte April 1777, wo F. A. Wolf für sich den Namen stud. philol. erfand, ist der Geburtstag der Philologie. 3 [3] 1. 559
Gegen die Wissenschaft der Philologie wäre nichts zu sagen: aber die Philologen sind auch die Erzieher. Da liegt das Problem, wodurch auch diese Wissenschaft unter ein höheres Gericht kommt. – Und würde wohl die Philologie noch existiren, wenn die Philologen nicht ein Lehrerstand wären? 3 [4] Es ist schwer, die Bevorzugung zu rechtfertigen, in der das Alterthum steht: denn sie ist aus Vorurtheilen entstanden: 1) aus Unwissenheit des sonstigen Alterthums, 2) aus einer falschen Idealisirung zur Humanitäts-Menschheit überhaupt; während Inder und Chinesen jedenfalls humaner sind, 3) aus dem Schulmeister-Dünkel, 4) aus der traditionellen Bewunderung, die vom Römerthum ausgegangen ist, 5) aus Widerspruch gegen die christliche Kirche, oder zur Stütze, 6) Eindruck, den die Jahrhunderte lange Arbeit der Philologen gemacht hat, und die Art ihrer Arbeit: es muss sich doch um Goldbergwerke handeln, meint der Zuschauer. 7) Fertigkeiten und Wissen, von dort her gelernt. Vorschule der Wissenschaft. In Summa: theils aus Ignoranz, falschen Urtheilen und trügerischen Schlüssen, auch durch das Interesse eines Standes, der Philologen. Bevorzugung des Alterthums sodann durch die Künstler, die das erkannte Maass und die Sophrosyne unwillkürlich zu einer Eigenschaft des gesammten Alterthums machen. Die reine Form. Ebenso durch die Schriftsteller. Bevorzugung des Alterthums als einer Abbreviatur der Geschichte der Menschheit, als ob hier ein autochthones Gebilde sei, an dem alles Werdende zu studiren sei. Thatsächlich ist nun allmählich Grund für Grund zu dieser Bevorzugung beseitigt, und wenn es die Philologen nicht merken sollten, so merkt man es sonst ausser ihren Kreisen so stark wie möglich. Die Historie hat gewirkt; sodann hat die Sprachwissenschaft die grösste Diversion, ja Fahnenflucht unter den Philologen selbst hervorgebracht. Nur die Schule haben sie noch: doch auf wie lange! In der bisherigen Form ist die Philologie am Aussterben: ihr Boden ist ihr entzogen. Ob überhaupt ein Stand von Philologen sich erhalten wird, ist sehr zweifelhaft: jedenfalls wäre es eine aussterbende Race. 3 [5] Schon unsere Terminologie zeigt, wie sehr wir geneigt sind, die Alten falsch zu messen; der übertriebene Sinn der Litteratur z. B., oder wie Wolf von der "innern Geschichte der antiken Erudition" redet, er nennt es auch "die Geschichte der gelehrten Aufklärung". 3 [6] 560
Was liegt für ein Hohn auf die "Humanitäts" – Studien darin, dass man sie auch belles lettres (bellas litteras) nannte! 3 [7] Wolfs Gründe, weshalb man Aegypter Hebräer Perser und andre Nationen des Orients nicht auf Einer Linie mit Griechen und Römern aufstellen darf: jene erhoben sich "gar nicht oder nur wenige Stufen über die Art von Bildung, welche man bürgerliche Policirung oder Civilisation, im Gegensatze höherer eigentlicher Geistescultur, nennen sollte". Er erklärt sie gleich darauf als die geistige oder die litterarische "bei einem glücklich organisirten Volke kann diese schon früher anfangen als Ordnung und Ruhe des äussern Lebens" ("Civilisation"). Er stellt dann den fernsten Osten von Asien ("ähnlich solchen Individuen, die es nicht an Reinlichkeit, Schicklichkeit und Bequemlichkeit von Wohnungen Kleidungen und allen Umgebungen fehlen lassen, aber niemals das Bedürfniss höherer Aufklärung empfinden") den Griechen gegenüber ("bei den Griechen, auch bei den gebildetsten Attikern, trat oft das Gegentheil bis zur Verwunderung ein und man vernachlässigte das als unbedeutend, was wir vermöge unserer Ordnungsliebe insgemein als Grundlage der geistigen Veredlung selbst anzusehen pflegen"). 3 [8] „Gegen Ende des Lebens befiel Markland, wie so viele seines gleichen früher, ein Widerwille gegen allen gelehrten Ruhm, dermaassen dass er mehrere lange gepflegte Arbeiten theils zerstreute, theils verbrannte." 3 [9] „In der Jugendzeit Winckelmanns gab es eigentlich kein Studium des Alterthums als in dem gemeinen Dienste von Brod erwerbenden Disciplinen – man las und erklärte damals die Alten, um sich besser zur Auslegung der Bibel und des corpus juris vorzubereiten." 3 [10] F. A. Wolf erinnert einmal daran, wie furchtsam und schwächlich die ersten Schritte waren, die unsere Ahnherrn zur Gestaltung der Wissenschaft thaten, wie sogar lateinische Klassiker gleich verdächtiger Waare unter Vorwänden auf den Markt der Universitäten eingeschwärzt werden mussten; im Göttinger Lectionskatalog 1737 kündigt J. M. Gesner Horatii Odas an "ut in primis, quid prodesse in severioribus studiis possint, ostendat". 3 [11] Newton wunderte sich, dass Männer wie Bentley und Hare sich über ein Comödienbuch herumschlügen (weil sie beide theologische Würdenträger waren). 3 [12] Es ist so schwer, nur etwas aus dem Alterthume nachzuempfinden, man muss warten können, bis wir etwas zu hören bekommen. Das Menschliche, das uns das Alterthum zeigt, ist nicht zu verwechseln mit dem Humanen. Dieser Gegensatz ist sehr stark hervorzuheben, die Philologie krankt daran, dass sie das Humane unterschieben möchte; nur deshalb führt man junge Leute hinzu, damit sie human werden. Ich glaube, um das zu erreichen, genügt viel Historie: das 561
Brutal-Selbstbewusste wird dadurch abgebrochen, wenn man Dinge und Schätzungen so wechseln sieht. – Das Menschliche der Hellenen liegt in einer gewissen Naivetät, in der bei ihnen der Mensch sich zeigt, Staat, Kunst, Societät, Kriegs- und Völkerrecht, Geschlechtsverkehr, Erziehung, Partei; es ist genau das Menschliche, das sich überall bei allen Völkern zeigt, aber bei ihnen in einer Unmaskirtheit und Inhumanität, dass es zur Belehrung nicht zu entbehren ist. Dazu haben sie die grösste Menge an Individuen geschaffen – darin sind sie über den Menschen so belehrend; ein griechischer Koch ist mehr Koch als ein andrer. 3 [13] Das Christenthum hat das Alterthum überwunden – ja das ist leicht gesagt. Erstens ist es selbst ein Stück Alterthum, zweitens hat es das Alterthum conservirt, drittens ist es mit den reinen Zeiten des Alterthums gar nicht im Kampf gewesen. Vielmehr: damit das Christenthum erhalten blieb, musste es sich vom Geiste des Alterthums überwinden lassen z. B. von der imperium-Vorstellung, der Gemeinde usw. Wir leiden an der ungemeinen Unreinlichkeit und Unklarheit des Menschlichen, an der witzigen Verlogenheit, die das Christenthum über die Menschen gebracht hat. 3 [14] Das griechische Alterthum ist als Ganzes noch nicht taxirt; ich bin überzeugt, hätte es nicht diese traditionelle Verklärung um sich, die gegenwärtigen Menschen würden es mit Abscheu von sich stossen: die Verklärung also ist unächt, von Goldpapier. 3 [15] Ein grosser Vortheil für einen Philologen ist, dass seine Wissenschaft so viel vorgearbeitet hat, um sich in den Besitz der Erbschaft setzen zu können, wenn er es vermag – nämlich die Abschätzung der ganzen hellenischen Denkart vorzunehmen. So lange man im Einzelnen herum arbeitete, leitete eine Verkennung der Griechen; die Stufen dieser Verkennung sind zu bezeichnen. (Sophisten des zweiten Jahrhunderts, die Philologen-Poeten der Renaissance, der Philologe als Schullehrer der höheren Stände) (Goethe – Schiller) 3 [16] Nachahmung des Alterthums: ob nicht endlich ein widerlegtes Princip? Flucht aus der Wirklichkeit zu den Alten: ob dadurch nicht die Auffassung des Alterthums gefälscht ist? 3 [17] Eine Art der Betrachtung ist noch zurück: zu begreifen, wie die grössten Erzeugnisse des Geistes einen schrecklichen und bösen Hintergrund haben; die skeptische Betrachtung: als schönstes Beispiel des Lebens wird das Griechenthum geprüft. Richtig Urtheilen ist schwer. 3 [18]
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Dass man nur durch das Alterthum Bildung gewinnen könne, ist nicht wahr. Aber man kann von dort aus welche gewinnen. Doch die Bildung welche man jetzt so nennt, nicht. Nur auf einem ganz castrirten und verlogenen Studium des Alterthums kann unsere Bildung sich erbauen. Um nun zu sehn, wie wirkungslos dies Studium ist, sehe man nur die Philologen an: die müssten ja am besten durch das Alterthum erzogen sein.
3 [19] 2. Wie wenig Vernunft, wie sehr der Zufall unter den Menschen herrscht, zeigt das fast regelmässige Missverhältniss zwischen dem sogenannten Lebensberufe und der Disposition dazu: die glücklichen Fälle sind Ausnahmen, wie die glücklichen Ehen, und auch diese werden nicht durch Vernunft herbeigeführt. Der Mensch wählt den Beruf, wo er noch nicht fähig zum Wählen ist; er kennt die verschiedenen Berufe nicht, er kennt sich selbst nicht; er verbringt seine thätigsten Jahre dann in diesem Berufe, verwendet all sein Nachdenken darauf, wird erfahrener; erreicht er die Höhe seiner Einsicht, dann ist es gewöhnlich zu spät, noch etwas Neues zu beginnen, und die Weisheit hat auf Erden fast immer etwas Altersschwaches und Mangel an Muskelkraft an sich gehabt. Die Aufgabe ist meistens die, wieder gut zu machen, ungefähr zu recht zu legen, was in der Anlage verfehlt war; viele werden erkennen, dass der spätere Theil des Lebens eine Absichtlichkeit zeigt, die aus ursprünglicher Disharmonie entstanden ist; es lebt sich schwer. Am Ende des Lebens ist man's aber doch gewohnt – dann kann man sich über sein Leben irren und seine Dummheit loben: bene navigavi cum naufragium feci, und gar ein Preislied auf die "Vorsehung" anstimmen. 3 [20] Ich frage nun nach der Entstehung des Philologen und behaupte: 1) der junge Mensch kann noch gar nicht wissen, wer Griechen und Römer sind, 2) er weiss nicht, ob er zu ihrer Erforschung sich eignet, 3) und erst recht nicht, in wiefern er sich mit diesem Wissen zum Lehrer eignet. Das was ihn also bestimmt, ist nicht Einsicht in sich und seine Wissenschaft, sondern a. Nachahmung, b. Bequemlichkeit, dadurch dass er forttreibt, was er auf der Schule trieb, c) allmählich auch die Absicht auf Broderwerb. Ich meine, 99 von 100 Philologen sollten keine sein. 3 [21]
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Strengere Religionen fordern, dass der Mensch seine Thätigkeit nur als ein Mittel eines methaphysischen Planes verstehe: eine misslungene Wahl des Berufs lässt sich dann als Prüfung des Individuums zurechtlegen. Religionen nehmen nur das Heil des Individuums in's Auge: ob das nun Sclave oder Freier, Kaufmann oder Gelehrter ist, sein Lebensziel liegt nicht in seinem Berufe und deshalb ist eine falsche Wahl kein grosses Unglück. Dies diene, die Philologen zu trösten; aber nackte Einsicht für die ächten Philologen: was wird aus einer Wissenschaft, die von solchen 99 betrieben wird? Diese, eigentlich ungeeignete Majorität legt sich die Wissenschaft zurecht und stellt an sich die Forderung nach den Fähigkeiten und Neigungen der Majorität: sie tyrannisirt damit den eigentlichen Befähigten, jenen Hundertsten. Hat sie die Erziehung in den Händen, so erzieht sie bewusst oder unbewusst nach dem eigenen Vorbilde: was wird da aus der Klassicität der Griechen und Römer! Zu beweisen A) das Missverhältniss zwischen Philologen und den Alten. B) die Unfähigkeit der Philologen, mit Hülfe der Alten zu erziehen. C) die Fälschung der Wissenschaft durch die Unfähigkeit der Majoritäten, die falschen Anforderungen, Verleugnung der eigentlichen Ziele dieser Wissenschaft. 3 [22] Wie ist wohl einer am geeignetsten zu dieser Schätzung? – Jedenfalls nicht dann, wenn er so zum Philologen abgerichtet wird wie jetzt. Zu sagen, in wiefern die Mittel hier den letzten Zweck unmöglich machen. – Also der Philologe selber ist nicht das Ziel der Philologie. – 3 [23] Leopardi ist das moderne Ideal eines Philologen; die deutschen Philologen können nichts machen. (Voss ist zu studiren dazu!) 3 [24] Die Eitelkeit ist die unwillkürliche Neigung, sich als Individuum zu geben, während man keins ist; das heisst, als unabhängig, während man abhängt. Die Weisheit ist das Umgekehrte: sie giebt sich als abhängig, während sie unabhängig ist. 3 [25] Ein grosser Werth des Alterthums liegt darin, dass seine Schriften die einzigen sind, welche moderne Menschen noch genau lesen. 3 [26] Überspannung des Gedächtnisses – sehr gewöhnlich bei Philologen, geringere Entwicklung des Urtheils. 3 [27]
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Bei der Erziehung des jetzigen Philologen ist der Einfluss der Sprachwissenschaft zu erwähnen und zu beurtheilen; für einen Philologen ziemlich abzulehnen: die Fragen nach den Uranfängen der Griechen und Römer sollen ihn nichts angehen: wie kann man sich auch sein Thema so verderben. 3 [28] An den Philologen bemerke ich: 1) Mangel an Respekt vor dem Alterthum, 2) Weichlichkeit und Schönrednerei, vielleicht gar Apologie, 3) einfaches Historisiren, 4) Einbildung über sich selbst, 5) Unterschätzung der begabten Philologen. 3 [29] Bergk's Litteraturgeschichte, nicht ein Fünkchen griechischen Feuers und griechischen Sinnes. 3 [30] Ich freue mich von Bentley zu lesen: "non tam grande pretium emendatiunculis meis statuere soleo, ut singularem aliquam gratiam inde sperem aut exigam". 3 [31] Horaz ist durch Bentley vor einen Richterstuhl gestellt, den er abweisen müsste. Die Bewunderung, die ein scharfsinniger Mann als Philologe erntet, steht im Verhältniss zur Rarität des Scharfsinns bei Philologen. – Das Verfahren bei Horaz hat etwas Schulmeisterliches, nur dass nicht Horaz selbst censirt werden soll, sondern seine Überlieferer; in Wahrheit und im Ganzen trifft es aber Horaz. Mir steht nun einmal fest, dass eine einzige Zeile geschrieben zu haben, welche es verdient, von Gelehrten späterer Zeit commentirt zu werden, das Verdienst des grössten Critikers aufwiegt. Es liegt eine tiefe Bescheidenheit im Philologen. Texte verbessern ist eine unterhaltende Arbeit für Gelehrte, es ist ein Rebusrathen; aber man sollte es für keine zu wichtige Sache ansehen. Schlimm, wenn das Alterthum weniger deutlich zu uns redete, weil eine Million Worte im Wege stünden! 3 [32] Ein Schullehrer sagte zu Bentley: „Master, ich werde euren Enkel zu einem ebenso grossen Gelehrten machen als ihr seid." "Wie so? sagte Bentley. Wenn ich nun mehr vergessen hätte, als du je wusstest?" 3 [33]
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Bentley, sagt Wolf, ist als Litterator wie als Mensch den grössten Theil seines Lebens hindurch verkannt und verfolgt, oder doch mit Malignität gelobt worden. 3 [34] Wolf nennt es die Blume aller geschichtlichen Forschung, sich zu den grossen und allgemeinen Ansichten des Ganzen zu erheben und zu der tiefsinnig aufgefassten Unterscheidung der Fortgänge in der Kunst und der verschiedenen Stile. Aber Wolf giebt zu, Winckelmann fehlte jenes gemeinere Talent, die philologische Kritik, oder es kam nicht recht zur Thätigkeit: „eine seltne Mischung von Geistes-Kälte und kleinlicher unruhiger Sorge um hundert an sich geringfügige Dinge mit einem alles beseelenden, das Einzelne verschlingenden Feuer und einer Gabe der Divination, die dem Ungeweihten ein Ärgerniss ist". 3 [35] „Eben da beweist die Kritik oft ihre beste Kraftäusserung, wo sie aus Gründen zeigt, bis zu welcher Stufe der Überzeugung auf beiden Seiten sich gelangen lasse und warum ein Ausdruck, eine Stelle unheilbar sei. Uns dünkt, die Ärzte, mit denen sich manchmal die Kritiker vergleichen, kennen in ihrer Kunst ganz ähnliche Triumphe." 3 [36] Bei der oft so tief sich aufdringenden Unsicherheit der Divination macht sich von Zeit zu Zeit eine krankhafte Sucht geltend, um jeden Preis zu glauben und sicher sein zu wollen: z. B. Aristoteles gegenüber, oder im Auffinden von Zahlennothwendigkeiten – bei Lachmann fast eine Krankheit. 3 [37] 3. Nun wird es nicht mehr verwundern, dass die Bildung der Zeit, bei solchen Lehrern, nichts taugt. Ich entziehe mich nie, eine Schilderung von dieser Unbildung zu machen. Und zwar gerade in Beziehung auf die Dinge, wo man vom Alterthum lernen müsste, wenn man es überhaupt könnte (z. B. Schreiben Sprechen usw.). 3 [38] Ausser der grossen Zahl unbefähigter Philologen giebt es nun umgekehrt eine Zahl von geborenen Philologen, welche durch irgendwelche Umstände verhindert sind, welche zu werden. Das wichtigste Hinderniss aber, welches diese geborenen Philologen abhält, ist schlechte Repräsentation der Philologie durch die unberufenen Philologen. 3 [39] Die unwahre Begeisterung für das Alterthum, in der viele Philologen leben. Eigentlich überfällt uns das Alterthum, wenn wir jung sind, mit einer Fülle von Trivialitäten, besonders glauben wir über die Ethik hinaus zu sein. Und Homer und Walter Scott – wer erlangt wohl den Preis? Wenn man ehrlich ist! Wäre die Begeisterung gross, so würde man schwerlich
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seinen Lebensberuf darin suchen. Ich meine: erst spät beginnt es zu dämmern, was wir an den Griechen haben können: erst nachdem wir viel erlebt, viel durchdacht haben. 3 [40] Wo zeigt sich die Wirkung des Alterthums? Nicht einmal in der Sprache, nicht in der Nachahmung von irgend etwas, nicht einmal in einer Verkehrtheit, wie die Franzosen sie gezeigt haben. Unsre Museen füllen sich; ich empfinde immer Ekel, wenn ich reine nackte Figuren griechischen Stils sehe: vor der gedankenlosen Philisterei, die alles auffressen will. 3 [41] Man vergleicht unsere Zeit wirklich mit der Perikleischen in Schulprogrammen, man gratulirt sich zum Wiedererwachen des Nationalgefühls, und ich erinnere mich einer Parodie auf die Leichenrede des Perikles, von G. Freitag, wo dieser mit steifen Hosen geborne Dichter das Glück schildert, das jetzt die 60jährigen Männer empfinden. – Alles reine Carricatur! So die Wirkung! Tiefe Trauer und Hohn und Zurückgezogenheit bleibt dem übrig, der mehr davon gesehn hat. 3 [42] Sie haben verlernt, zu andern Menschen zu reden, und weil sie nicht zu älteren Leuten reden können, können sie es auch nicht zu jungen. 3 [43] Es fehlt ihnen die eigentliche Lust an den starken und kräftigen Zügen des Alterthums. Sie werden Lobredner und werden dadurch lächerlich. 3 [44] Wolf sagt "überall ist es ja meist Weniges, was aus wohl verdauter Gelehrsamkeit gewonnen wird für geistigen Nahrungssaft." 3 [45] "Nur die Fertigkeit, nach der Weise der Alten zu schreiben, nur eignes productives Talent befähigt uns, fremde Productionen gleicher Art ganz zu verstehen und darin mehr als gewisse untergeordnete Tugenden aufzufassen." 3 [46] Wolf macht darauf aufmerksam, dass das Alterthum nur Theorien der Rede- und Dichtkunst kannte, welche die Production erleichtern, τεχναι und artes, die wirkliche Redner und Dichter bildeten; "da wir heut zu Tage bald Theorien haben werden, wonach sich eben so wenig eine Rede oder ein Gedicht machen lässt, als ein Gewitter nach einer Brontologie." 3 [47] "Am Ende dürften nur die Wenigen zu echter vollendeter Kennerschaft gelangen, die mit künstlerischem Talent geboren und mit Gelehrsamkeit ausgerüstet, die besten Gelegenheiten 567
benutzen, die nöthigen technischen Kentnisse sich praktisch und theoretisch zu erwerben." Wolf. Wahr! 3 [48] Die Alten sind nach Goethe "die Verzweiflung der Nacheifernden." Voltaire hat gesagt: "wenn die Bewunderer Homers aufrichtig wären, so würden sie die Langeweile eingestehen, die ihnen ihr Liebling so oft verursacht."
3 [49] 4. Wenn ich sage, die Griechen waren in summa doch sittlicher als die modernen Menschen: was heisst das? Die ganze Sichtbarkeit der Seele im Handeln zeigt schon, dass sie ohne Scham waren; sie hatten kein schlechtes Gewissen. Sie waren offener, leidenschaftlicher, wie Künstler sind, eine Art von Kinder-Naivetät begleitet sie, so haben sie bei allem Schlimmen einen Zug von Reinheit an sich, etwas dem Heiligen Nahes. Merkwürdig viel Individuum, sollte darin nicht eine höhere Sittlichkeit liegen? Denkt man sich ihren Character langsam entstanden, was ist es doch, was zuletzt so viel Individualität erzeugt? Vielleicht Eitelkeit unter einander, Wetteifer? Möglich. Wenig Lust am Conventionellen. 3 [50] Man denke sich, wie anders eine Wissenschaft sich fortpflanzt, wie anders eine specielle Begabung in einer Familie. Eine leibliche Fortpflanzung der einzelnen Wissenschaft ist etwas ganz Seltenes. Ob die Söhne von Philologen wohl leicht Philologen werden? Dubito. So entsteht keine Accumulation philologischer Fähigkeiten, wie etwa in Beethovens Familie von musikalischen Fähigkeiten. Die meisten fangen von vorn an, und zwar durch Bücher vermittelt, nicht durch Reisen usw. Wohl aber Erziehung. 3 [51] Die Hadesschatten des Homer – welcher Art von Existenz sind sie eigentlich nachgemalt? Ich glaube, es ist die Beschreibung des Philologen; es ist besser Tagelöhner sein als so eine leblose Erinnerung an Vergangenes – Grosses und Kleines. (Viele Schafe opfern.) 3 [52] Die Stellung des Philologen zum Alterthum ist entschuldigend oder auch von der Absicht eingegeben, das was unsere Zeit hochschätzt, im Alterthum nachzuweisen. Der richtige Ausgangspunct ist der umgekehrte: nämlich von der Einsicht in die moderne Verkehrtheit auszugehn und zurückzusehn – vieles sehr Anstössige im Alterthum erscheint dann als tiefsinnige Nothwendigkeit. Man muss sich klar machen, dass wir uns ganz absurd ausnehmen, wenn wir das Alterthum vertheidigen und beschönigen: was sind wir!
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3 [53] Jede Religion hat für ihre höchsten Bilder ein Analogon in einem Seelenzustande. Der Gott Mahomets die Einsamkeit der Wüste, fernes Gebrüll des Löwen, Vision eines schrecklichen Kämpfers. Der Gott der Christen – alles was si Männer und Weiber bei dem Worte „Liebe" denken. Der Gott der Griechen: eine schöne Traumgestalt. 3 [54] Wer keinen Sinn für das Symbolische hat, hat keinen für das Alterthum: diesen Satz wende man auf die nüchternen Philologen an. 3 [55] Es ist die Sache des freien Mannes, seiner selbst wegen und nicht in Hinsicht auf andre zu leben. Deshalb hielten die Griechen das Handwerk für unanständig. 3 [56] Mit Arbeitsamkeit lässt sich nicht viel erzwingen, wenn der Kopf stumpf ist. Über Homer her fallende Philologen glauben, man könne es erzwingen. Das Alterthum redet mit uns, wenn es Lust hat, nicht wenn wir. 3 [57] Die ausgezeichnete Tochter Joanna bedauerte Bentley, dass er soviel Zeit und Talent auf die Kritik fremder Werke verwandt habe, anstatt auf selbständige Compositionen. „Bentley schwieg eine Zeitlang wie in sich gekehrt; endlich sagte er, ihre Bemerkung sei ganz richtig; er fühle selbst, dass er seine Naturgaben vielleicht noch anders hätte anwenden sollen: indess habe er früher etwas zur Ehre Gottes und zum Besten seiner Mitmenschen gethan (er meint seine Confutation of Atheism); nachher aber habe ihn der Genius der alten Heiden an sich gelockt, und in der Verzweiflung, sich auf einem andern Wege zu ihrer Höhe zu erheben, sei er ihnen auf die Schultern gestiegen, um so über ihre Köpfe hinwegzusehn." 3 [58] "Den Griechen verdanken die Neuern vorzüglich, dass bei ihnen, die das Schöne immer nach dem Nützlichen suchten, nicht alles Wissen wiederum kastenmässig, dass die bessere Cultur nicht gänzlich in den Dienst der Civilisation zurückgewiesen worden, dass sogar verschiedene Studien, die als eine Art von Luxus unbelohnt bleiben müssen, wenigstens niemanden, der auf des Staates Hülfe verzichtet, untersagt werden." 3 [59] Merkwürdig ist Wolf's Urtheil über die Liebhaber philologischer Kenntnisse: fanden sie sich von der Natur mit Anlagen ausgestattet, die dem Geiste der Alten verwandt oder einer leichten Versetzung in fremde Denkarten und Lagen des Lebens empfänglich waren, so erlangten sie allerdings durch solche halbe Bekanntschaften mit den besten Schriftstellern mehr von dem Reichthume jener kraftvollen Naturen und grossen Muster im Denken und Handeln als die meisten von denen, die ihnen sich lebenslang zu Dolmetschern anboten."
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3 [60] 5. So wie der Mensch zu seinem Lebensberufe steht, skeptisch-melancholisch, so sollen wir uns zu dem höchsten Lebensberufe eines Volkes stellen: um zu begreifen, was Leben ist. 3 [61] Mein Trost gilt besonders auch den tyrannisirten Einzelnen: diese mögen einfach alle jene Majoritäten wie ihre Hülfsarbeiter behandeln, und ebenso mögen sie sich das Vorurtheil, das noch zu Gunsten des klassischen Unterrichtes verbreitet ist, zu Nutze machen; sie brauchen viele Arbeiter. Sie haben aber unbedingte Einsicht in ihre Ziele nöthig. 3 [62] Die Philologie als Wissenschaft um das Alterthum hat natürlich keine ewige Dauer, ihr Stoff ist zu erschöpfen. Nicht zu erschöpfen ist die immer neue Accommodation jeder Zeit an das Alterthum, das sich daran Messen. Stellt man dem Philologen die Aufgabe, seine Zeit vermittelst des Alterthums besser zu verstehen, so ist seine Aufgabe eine ewige. – Dies ist die Antinomie der Philologie: man hat das Alterthum thatsächlich immer nur aus der Gegenwart verstanden – und soll nun die Gegenwart aus dem Alterthum verstehen? Richtiger: aus dem Erlebten hat man sich das Alterthum erklärt, und aus dem so gewonnenen Alterthum hat man sich das Erlebte taxirt, abgeschätzt. So ist freilich das Erlebniss die unbedingte Voraussetzung für einen Philologen – das heisst doch: erst Mensch sein, dann wird man erst als Philolog fruchtbar sein. Daraus folgt, dass ältere Männer sich zu Philologen eignen, wenn sie in der erlebnissreichsten Zeit ihres Lebens nicht Philologen waren. Oberhaupt aber: nur durch Erkentniss des Gegenwärtigen kann man den Trieb zum klassischen Alterthum bekommen. Ohne diese Erkentniss – wo sollte da der Trieb herkommen? Wenn man zusieht, wie wenige Philologen es ausser denen, die davon leben, giebt, kann man schliessen, wie es im Grunde mit diesem Triebe zum Alterthum steht, er existirt fast nicht; denn es giebt keine uneigennützigen Philologen. So ist die Aufgabe zu stellen: der Philologie ihre allgemein erziehende Wirkung zu erobern. Mittel: Beschränkung des Philologenstandes, zweifelhaft ob die Jugend damit bekannt zu machen. Kritik des Philologen. Die Würde des Alterthums: sie sinkt mit euch: wie tief müsst ihr gesunken sein, da es diese Würde jetzt so wenig hat! 3 [63] Die meisten Menschen halten sich offenbar für gar keine Individuen; das zeigt ihr Leben. Die christliche Forderung, dass jeder seine Seligkeit und diese allein im Auge habe, hat als Gegensatz das allgemeine menschliche Leben, wo jeder nur als ein Punct zwischen Puncten lebt, nicht nur ganz und gar Resultat früherer Geschlechter, sondern auch nur im Hinblick auf kommende lebend. Nur bei drei Existenzformen bleibt der Mensch Individuum: als Philosoph, Heiliger und Künstler. Man sehe nur, womit ein wissenschaftlicher Mensch sein Leben todt schlägt: was hat die griechische Partikellehre mit dem Sinne des Lebens zu thun? – So sehen wir auch hier, wie zahllose Menschen eigentlich nur als Vorbereitung eines wirklichen Menschen leben: z. B. die Philologen als Vorbereitung des Philosophen, der ihre Ameisenarbeit zu nutzen versteht, um über den Werth des Lebens eine Aussage zu machen. 570
Freilich ist, wenn es keine Leitung giebt, der grösste Theil jener Ameisenarbeit einfach Unsinn und überflüssig. 3 [64] Die meisten Menschen sind offenbar zufällig auf der Welt: es zeigt sich keine Nothwendigkeit höherer Art in ihnen. Sie treiben dies und das, ihre Begabung ist mittelmässig. Wie sonderbar! Die Art wie sie nun leben zeigt, dass sie selbst nichts von sich halten, sie geben sich preis, indem sie sich an Lumpereien wegwerfen (seien das nun kleinliche Passionen oder Quisquilien des Berufs). In den sogenannten "Lebensberufen", welche jedermann wählen soll, liegt eine rührende Bescheidenheit der Menschen: sie sagen damit, wir sind berufen unseresgleichen zu nützen und zu dienen, und der Nachbar ebenfalls und dessen Nachbar auch; und so dient jeder dem andern, keiner hat seinen Beruf, seiner selbst wegen da zu sein, sondern immer wieder anderer wegen; so haben wir eine Schildkröte, die auf einer anderen ruht und diese wieder auf einer und so fort. Wenn jeder seinen Zweck in einem anderen hat, so haben alle keinen Zweck in sich, zu existiren; und dies „für einander existiren" ist die komischste Komödie. 3 [65] Die glücklichste und behaglichste Gestaltung der politischsocialen Lage ist am wenigsten bei den Griechen zu finden; jenes Ziel schwebt unseren Zukunftsträumern vor. Schrecklich! Denn man muss es nach dem Maassstab beurtheilen: je mehr Geist, desto mehr Leid (wie die Griechen beweisen). Also auch: je mehr Dummheit, desto mehr Behagen. Der Bildungsphilister ist das behaglichste Geschöpf, welches je die Sonne gesehen hat; er wird eine gehörige Dummheit haben. 3 [66] Es ist eine falsche Auffassung zu sagen: "immer gab es eine Kaste welche die Bildung eines Volkes verwaltete": folglich sind die Gelehrten nöthig. Denn die Gelehrten haben eben nur das Wissen um die Bildung (selbst dies nur besten Falls). Es wird wohl auch unter uns gebildetere Menschen geben, schwerlich eine Kaste; aber diese können sehr wenige sein. 3 [67] Die Beschäftigung mit vergangenen Cultur-Epochen Dankbarkeit? Um sich die gegenwärtigen Culturzustände zu erklären, sehe man rückwärts: zu panegyrisch gegen unsere Zustände wird man gewiss nicht, vielleicht muss man es aber thun, um nicht zu hart gegen uns selbst zu sein. 3 [68] Mein Ziel ist: volle Feindschaft zwischen unserer jetzigen „Cultur" und dem Alterthum zu erzeugen. Wer der ersten dienen will, muss das letztere hassen. 3 [69] Ein sehr genaues Zurückdenken führt zu der Einsicht, dass wir eine Multiplication vieler Vergangenheiten sind: wie könnten wir nun auch letzter Zweck sein? – Aber warum nicht? Meistens aber wollen wir's gar nicht sein, stellen uns gleich wieder in die Reihe, arbeiten an 571
einem Eckchen und hoffen, es werde für die Kommenden nicht ganz verloren sein. Aber das ist wirklich das Fass der Danaiden: es hilft nichts, wir müssen alles wieder für uns und nur für uns thun und z. B. die Wissenschaft an uns messen, mit der Frage: was ist uns die Wissenschaft? Nicht aber: was sind wir der Wissenschaft? Man macht sich wirklich das Leben zu leicht, wenn man sich so einfach historisch nimmt und in den Dienst stellt. "Das Heil deiner selbst geht über alles" soll man sich sagen: und es giebt keine Institution, welche du höher zu achten hättest als deine eigne Seele. – Nun aber lernt sich der Mensch kennen: findet sich erbärmlich, verachtet sich, freut sich, ausser sich etwas Achtenswürdiges zu finden. Und so wirft er sich fort, indem er sich irgendwo einordnet, streng seine Pflicht thut und seine Existenz abbüsst. Er weiss, dass er nicht seiner selbst wegen arbeitet; er wird denen helfen wollen, welche es wagen, ihrer selbst wegen da zu sein; wie Socrates. Wie ein Haufen Gummiblasen hängen die meisten Menschen in der Luft, jeder Windhauch rührt sie. – Consequenz: der Gelehrte muss es aus Selbsterkentniss, also aus Selbstverachtung sein: d. h. er muss sich als Diener eines Höheren wissen, der nach ihm kommt. Sonst ist er ein Schaf. 3 [70] Man glaubt es sei zu Ende mit der Philologie – und ich glaube, sie hat noch nicht angefangen. Die grössten Ereignisse, welche die Philologie getroffen haben, sind das Erscheinen Goethes Schopenhauers und Wagners: man kann damit einen Blick thun, der weiter reicht. Das 5te und 6te Jahrhundert sind jetzt zu entdecken. 3 [71] Ich empfehle an Stelle des Lateinischen den griechischen Stil auszubilden, besonders an Demosthenes: Einfachheit. Auf Leopardi zu verweisen, der vielleicht der grösste Stilist des Jahrhunderts ist. 3 [72] "Graiis – praeter laudem nullius avaris" sagt Horaz. Er nennt ihre Hauptthätigkeit nugari (ep. II 93), charakteristisch für den Römer. 3 [73] Wolf "auf alle Weise ist, es ein Vorurtheil zu meinen, dass die Geschichte der Welthändel in dem Grade glaubwürdiger werde, als sie sich unseren Tagen mehr nähern." 3 [74] Hauptgesichtspuncte in Bezug auf spätere Geltung des Alterthums. 1) Es ist nichts für junge Leute, denn es zeigt den Menschen mit einer Freiheit von Scham. 2) Es ist nichts zur direkten Nachahmung, belehrt aber, auf welchem Wege bisher die höchste Ausbildung der Kunst erreicht wurde. 3) Es ist nur für Wenige zugänglich, und es sollte eine Polizei der Sitte da sein, wie sie gegen schlechte Pianisten da sein sollte, die Beethoven spielen. 572
4) Diese Wenigen messen daran unsere Gegenwart, als Kritiker derselben und sie messen das Alterthum an ihren Idealen und sind so Kritiker des Alterthums. 5) Der Contrast zwischen Hellenisch und Römisch, und wieder zwischen Althellenisch und Späthellenisch zu studiren. – Aufklärung über die verschiedenen Arten von Cultur. 3 [75] Ich will einmal sagen, was ich alles nicht mehr glaube – auch was ich glaube. In dem grossen Strudel von Kräften steht der Mensch und bildet sich ein, jener Strudel sei vernünftig und habe einen vernünftigen Zweck: Irrthum! Das einzige Vernünftige, was wir kennen, ist das Bischen Vernunft des Menschen: er muss es sehr anstrengen, und es läuft immer zu seinem Verderben aus, wenn er sich etwa „der Vorsehung" überlassen wollte. Das einzige Glück liegt in der Vernunft, die ganze übrige Welt ist triste. Die höchste Vernunft sehe ich aber in dem Werk des Künstlers, und er kann sie als solche empfinden; es mag etwas geben, das, wenn es mit Bewusstsein hervorgebracht werden könnte, ein noch grösseres Gefühl von Vernunft und Glück ergäbe: z. B. der Lauf des Sonnensystems, die Erzeugung und Bildung eines Menschen. Glück liegt in der Geschwindigkeit des Fühlens und Denkens: alle übrige Welt ist langsam, allmählich und dumm. Wer den Lauf des Lichtstrahls fühlen könnte, würde sehr beglückt sein, denn er ist sehr geschwind. An sich denken giebt wenig Glück: wenn man aber viel Glück dabei hat, liegt es daran, dass man im Grunde nicht an sich, sondern an sein Ideal denkt. Dies ist ferne, und nur der Geschwinde erreicht es und freut sich. Eine Verbindung eines grossen Centrums von Menschen zur Erzeugung von besseren Menschen ist die Aufgabe der Zukunft. Der Einzelne muss an solche Ansprüche gewöhnt werden, dass, indem er sich selbst bejaht, er den Willen jenes Centrums bejaht z. B. in Bezug auf die Wahl, die er unter den Weibern trifft, über die Art, wie er sein Kind erzieht. Bis jetzt war kein Individuum oder nur die seltensten frei, sie wurden durch solche Vorstellungen auch bestimmt, aber durch schlechte und widerspruchsvolle. Organisation der individuellen Absichten. 3 [76] Wenn man von der Gesinnung und Gesittung des katholischen Mittelalters aus nach den Griechen hinschaut, da strahlen sie freilich im Glanze der höheren Humanität: denn alles, was man ihnen vorwerfen wird, muss man in viel höherem Maasse dem Mittelalter selber vorwerfen. So ist die Verehrung der Alten in der Renaissance-Zeit ganz ehrlich und recht. Nun haben wir in Einigem es noch weiter gebracht, gerade auf Grund jenes erwachenden Lichtstrahls. Wir haben in der Aufhellung der Welt die Griechen überholt, durch Natur- und Menschengeschichte, und unsere Kenntnisse sind viel grösser, unsere Urtheile mässiger und gerechter. Auch eine mildere Menschlichkeit ist verbreitet, dank der Aufklärungszeit, welche den Menschen geschwächt hat – aber diese Schwäche nimmt sich, in's Moralische 573
umgewandelt, sehr gut aus und ehrt uns. Der Mensch hat jetzt sehr viel Freiheit, es ist seine Sache, dass er sie so wenig gebraucht; der Fanatismus des Meinens ist sehr gemildert. Dass wir zuletzt doch lieber in dieser als in einer andren Zeit leben wollen, ist wesentlich das Verdienst der Wissenschaft, und gewiss gab es für kein Geschlecht eine solche Summe von edlen Freuden, wie für unseres – wenn auch unser Geschlecht gerade nicht den Magen und Gaumen hat, viel Freude empfinden zu können. – Nun lebt es sich bei aller dieser „Freiheit" nur gut, wenn man eben nur begreifen, nicht mitmachen will – das ist der moderne Haken. Die Mitmachenden erscheinen weniger reizvoll als je; wie dumm müssen sie sein! So entsteht die Gefahr, dass das Wissen sich an uns räche, wie sich das Nichtwissen während des Mittelalters an uns gerächt hat. Mit den Religionen, welche an Götter, an Vorsehungen, an vernünftige Weltordnungen, an Wunder und Sakramente glauben, ist es vorbei, auch bestimmte Arten von heiligem Leben, von Askese sind vorbei, weil wir leicht auf ein verletztes Gehirn und auf Krankheit schliessen. Es ist kein Zweifel, der Gegensatz von einer reinen unkörperlichen Seele und einem Leibe ist fast beseitigt. Wer glaubt noch an eine Unsterblichkeit der Seele! Alles Segensvolle und Verhängnissvolle, was somit auf gewissen irrthümlichen physiologischen Annahmen beruhte, ist hinfällig geworden, sobald diese Annahmen als Irrthümer erkannt sind. Das was nun jetzt die wissenschaftlichen Annahmen sind, lässt ebensowohl eine Deutung und Benutzung in's Verdummend-Philisterhafte, ja in's Bestialische zu, als eine Deutung in's Segensreiche und Beseelende. Unser Fundament ist neu gegen alle früheren Zeiten, deshalb kann man vom Menschengeschlecht noch etwas erleben. – In Betreff der Cultur heisst dies: wir kannten bisher nur eine vollkommene Form, das ist die Stadtkultur der Griechen, auf ihren mythischen und socialen Fundamenten ruhend, und eine unvollkommene, die römische, als Dekoration des Lebens, entlehnend von der griechischen. Jetzt haben sich nun alle Fundamente, die mythischen und die politisch-socialen verändert; unsere angebliche Cultur hat keinen Bestand, weil sie sich auf unhaltbare, fast schon verschwundene Zustände und Meinungen aufbaut. – Die griechische Cultur vollständig begreifend sehen wir also ein, dass es vorbei ist. So ist der Philologe der grosse Skeptiker in unseren Zuständen der Bildung und Erziehung: das ist seine Mission. – Glücklich, wenn er, wie Wagner und Schopenhauer, die verheissungsvollen Kräfte ahnt, in denen eine neue Cultur sich regt.
[Dokument: Notizbücher] [Frühling 1875] 4 [1] Sorgen: Bücher anzuschaffen und einzutauschen. Historiker z.B. den ganzen Ranke. Geographen z.B. Peschel Atlas. Biographen z.B. Cardanus. 574
Kirchliche Autoren in Übersetzung. Bibel in neuer Übersetzung. Griechisch-römische Classiker z. B. Aristoteles. Schopenhauer. Naturwissenschaftliche Bibliothek. 4 [2] Zu excerpiren: Die Bevölkerung der Alpen von Rütimeyer, in Jahrb. des Schweizer. Alpenclubs, Erster Jahrgang 1864. Dann: Vom Meer bis nach den Alpen, von L. Rütimeyer, Bern 1854. Dalpsche Buchhandlung. 4 [3] Bis Herbst 1876. Sommer 1875. „Philologie". Herbst und bis Weihnachten. Vorstudien zu „Wagner". Sommer 1875. Litteraturgeschichte. Winter 1875 – 76. Choephoren nebst Critik und Hermeneutik. Sommer 1876 – – – Heft Burckhardts auszuarbeiten. 4 [4] Schwierigkeit der Genesis des Künstlers. 1. Das Unnaive der Erziehung – beschränkter Begriff der Natur. 2. Wo soll sich der Künstler einordnen? Die Musik eine Sprache die nur in Feindschaft gegen die sonstige Cultur verstanden werden kann. Unruhe des Künstlers in Ämtern. 3. Wie schützt er sich gegen Missverstehen? Wenn er schreibt, wer ist sein Publikum? 4. Er nimmt das Spiel ernst (Cervantes die Ritterromane, W das Theater), das Pathos scheint verschwendet, wenn es nicht gleichartigen Kräften als Weckruf und Symbol gilt. 5. Er haftet mit mehr Lust am Dasein als andre Menschen. 6) Ein jetziger Künstler muss Absichten haben. 4 [5] Schule der Erzieher.
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Wo ist der Arzt der Naturforscher der Oekonom der Culturhistoriker der Kenner der Kirchengeschichte der Kenner der Griechen der Kenner des Staates.
[Dokument: Heft] [Frühling – Sommer 1875] 5 [1] Das von Vorn Anfangen ist immer eine Täuschung: selbst das was uns zu diesem angeblichen "Anfang" trieb, ist Wirkung und Resultat des Vorhergehenden. Aber ein so starkes und entscheidendes Abbrechen wird ein Zeichen sein von einem starken und übermässigen ehemaligen Fördern. Der Radikalismus unserer Meinungen und unsrer Wahrheit ist die Folge vom Radikalismus unsrer Irrthümer und Fehler. Das grosse Gesetz der Umsetzung – darin liegt aller sogenannte "Fortschritt". Die moralische Beurtheilung müsste im Grund immer dieselbe sein. Nun nimmt aber der Verstand und die Erfahrung zu, die moralische Qualität setzt sich immer nur um. Zuletzt schätzen wir eine Lehre doch nach ihren Wirkungen, ob sie z. B. viel Menschen getödtet oder verdreht gemacht; das ist nicht gerecht. – 5 [2] Das Alterthum in Schriften aufbaun – eine noch ganz ungelöste Aufgabe. 5 [3] Der Glaube an die Individualität – ob man ihn wohl wegdenken könnte! Jedenfalls gehn wir Zeiten entgegen, in denen die menschlichen Meinungen sehr uniformirt werden möchten; aber damit werden die Individuen ähnlicher, doch immer getrennter. Die Feindseligkeit zeigt sich dann bei kleinen Differenzen um so schärfer. 5 [4] Es ist genau neben einander zu stellen, weshalb Griechen und Philologen sich schwer verstehen müssen: dabei ist die Characteristik der Griechen mit zu geben. 5 [5] 576
Alle Religionen beruhen zuletzt doch auf gewissen physikalischen Annahmen, die vorher da sind und sich die Religion anpassen. Z. B. im Christenthum Gegensatz von Leib und Seele, unbedingte Wichtigkeit der Erde als der „Welt", wunderhaftes Geschehen in der Natur. Sind erst die entgegengesetzten Anschauungen zur Herrschaft gekommen, z. B. strenges Naturgesetz, Hülflosigkeit und Überflüssigkeit aller Götter, engste Auffassung des Seelischen als eines leiblichen Prozesses – so ist es vorbei. Nun ruht das ganze Griechenthum auf solchen Anschauungen. 5 [6] Bei Thukydides die angenehme Empfindung mit der man ein Schloss durch den Schlüssel bewegt: allmählich schwieriges Nachgeben, aber geordnet und sein Ziel immer mehr erreichend. Bei Aristoteles sieht man die weissen Knochen. 5 [7] Auch die Tyrannen des Geistes sind fast immer ermordet worden und haben nur spärliche Nachkommenschaft. 5 [8] Übertragung der Bewegung ist Vererbung: das sage man sich bei der Wirkung der Griechen auf Philologen. 5 [9] Wie man nur ein ganzes Volk verherrlichen und preisen kann! Die Einzelnen sind es, auch bei den Griechen. 5 [10] Es ist sehr viel Carikatur auch bei den Griechen, z. B. die Sorge um's eigne Glück bei den Cynikern. 5 [11] Mich interessirt allein das Verhältniss des Volkes zur Erziehung des Einzelnen; und da ist allerdings bei den Griechen Einiges sehr günstig für die Entwicklung des Einzelnen, doch nicht aus Güte des Volkes, sondern aus dem Kampf der bösen Triebe. Man kann durch glückliche Erfindungen das grosse Individuum noch ganz anders und höher erziehen, als es bis jetzt durch die Zufälle erzogen wurde. Da liegen meine Hoffnungen: Züchtung der bedeutenden Menschen. 5 [12] Die griechische Geschichte ist immer bisher optimistisch geschrieben worden. 5 [13] 577
Der Wunsch, irgend etwas Sicheres in der Aesthetik zu haben, verführte zur Anbetung des Aristoteles; ich glaube, es lässt sich allmählich beweisen, dass er nichts von der Kunst versteht, und dass nur die klugen Gespräche der Athener es sind, deren Wiederhall wir so bei ihm bewundern. 5 [14] Die Griechen sind interessant, und ganz toll wichtig, weil sie eine solche Menge von grossen Einzelnen haben. Wie war das möglich? Das muss man studiren. 5 [15] Mit dem Verschwinden des Christenthums ist auch ein guter Theil des Alterthums unverständlicher geworden, zumal die ganze religiöse Basis des Lebens. Schon deshalb ist eine Nachahmung des Alterthums eine falsche Tendenz; Betrüger oder Betrogene sind die Philologen, welche noch daran denken. Wir leben in der Periode, wo verschiedene Lebensauffassungen neben einander stehen: deshalb ist die Zeit so lehrreich, wie selten eine, deshalb so krank, weil sie an den Übeln aller Richtungen zugleich leidet. Zukunftsmensch: der europäische Mensch. 5 [16] Geschichte kennen heisst jetzt: zu erkennen, wie es alle Menschen sich zu leicht gemacht haben, welche an eine Vorsehung glauben. Es giebt keine. Wenn die menschlichen Dinge wild und unordentlich gehen, so glaube nicht, dass ein Gott damit etwas bezweckt oder dass er sie zulässt. Wir können ungefähr übersehn, dass die Geschichte des Christenthums auf Erden einer der schrecklichsten Theile der Geschichte ist und dass es damit einmal vorbei sein muss. Freilich ragte im Christenthum gerade auch das Alterthum in unsre Zeit hinein; und wenn es schwindet, schwindet das Verständniss des Alterthums noch mehr. Jetzt ist die beste Zeit es zu erkennen; uns leitet kein Vorurtheil zu Gunsten des Christenthums mehr, aber wir verstehen es noch und in ihm auch noch das Alterthum, soweit es auf einer Linie steht. 5 [17] Der Untergang der Philologen-Poeten liegt zu gutem Theile in ihrer persönlichen Verderbniss; ihre Art wächst später weiter, wie z. B. Goethe und Leopardi solche Erscheinungen sind. Hinter ihnen pflügen die reinen Philologen-Gelehrten nach. Die ganze Art hebt an mit der Sophistik des zweiten Jahrhunderts. 5 [18] Am Ausgange des Alterthums stehen noch ganz unchristliche Gestalten, die schöner reiner und harmonischer sind als alle christlichen, z. B. Proklos; die Mystik sein Synkretismos sind Dinge, die ihm gerade das Christenthum nicht vorwerfen darf. Jedenfalls wäre es mein Wunsch, mit denen zusammenzuleben. Denen gegenüber erscheint das Christenthum nur wie die roheste Vergröberung für den Haufen und die Ruchlosen hergerichtet. 5 [19]
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Alle Richtungen der Historie haben am Alterthum sich versucht; die kritische Betrachtung ist allein noch übrig. Nur muss man darunter nicht Conjectural- und litterarhistorische Kritik verstehen. 5 [20] Die Unvernunft in den menschlichen Dingen ans Licht zu bringen, ohne jede Verschämtheit – das ist das Ziel unserer Brüder und Genossen. Dann wird man zu unterscheiden haben, was davon fundamental und unverbesserlich ist, was noch verbessert werden kann. Aber jede "Vorsehung" ist fernzuhalten: denn das ist ein Begriff, wodurch man es sich zu leicht macht. Den Athem dieser Absicht wünsche ich der Wissenschaft einzuflössen. Die Kenntniss des Menschen vorwärts zu bringen! Das Gute und Vernünftige im Menschen ist zufällig oder scheinbar oder die Gegenseite von etwas sehr Unvernünftigem. Es wird irgendwann einmal gar keinen Gedanken geben als Erziehung. 5 [21] Ergebung in die Nothwendigkeit lehre ich nicht – denn man müsste sie erst als nothwendig kennen. Vielleicht giebt es vielfache Nothwendigkeiten; aber so im Allgemeinen ist es doch auch ein Faulbett. 5 [22] Zeichen und Wunder werden nicht geglaubt; nur eine "Vorsehung" braucht so etwas. Es giebt keine Hülfe weder im Gebet, noch in der Askese, noch in der Vision. Wenn dies alles Religion ist, so giebt es keine Religion mehr für mich. Meine Religion, wenn ich irgendetwas noch so nennen darf, liegt in der Arbeit für die Erzeugung des Genius; Erziehung ist alles zu Hoffende, alles Tröstende heisst Kunst. Erziehung ist Liebe zum Erzeugten, ein Überschuss von Liebe über die Selbstliebe hinaus. Religion ist "Lieben über uns hinaus". Das Kunstwerk ist das Abbild einer solchen Liebe über sich hinaus und ein volkommnes. 5 [23] Die Dummheit des Willens ist der grösste Gedanke Schopenhauer's, wenn man Gedanken nach der Macht beurtheilt. Man kann an Hartmann sehen, wie er sofort diesen Gedanken wieder eskamotirt. Etwas Dummes wird niemand Gott nennen. 5 [24] Also das ist das Neue alles zukünftigen Welttreibens: man darf die Menschen nicht mehr mit religiösen Vorstellungen beherrschen. Ob sie sich schlechter zeigen werden? Ich finde nicht, dass sie sich unter dem Joche der Religionen gut und sittlich ausnehmen; ich stehe nicht auf Seite von Demopheles. Die Furcht vor dem Jenseits und dann überhaupt die religiöse Furcht vor göttlichen Strafen werden die Menschen schwerlich besser gemacht haben. 5 [25]
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Wo etwas Grosses erscheint, mit etwas längerer Dauer, da können wir vorher eine sorgfältige Züchtung wahrnehmen z. B. bei den Griechen. Wie erlangten so viele Menschen bei ihnen Freiheit? Erzieher erziehn! Aber die ersten müssen sich selbst erziehn! Und für diese schreibe ich. 5 [26] Die Verneinung des Lebens ist nicht mehr so leicht zu erreichen: man mag Einsiedler oder Mönch sein – was ist da verneint! Dieser Begriff wird jetzt tiefer: es ist vor allem erkennende Verneinung, gerecht sein wollende Verneinung, nicht mehr in Bausch und Bogen. Wer heute gut und heilig sein wollte, hätte es schwerer: er dürfte, um gut zu sein, nicht so ungerecht gegen das Wissen sein, wie es die frühern Heiligen waren. Es müsste ein Wissender-Heiliger sein: Liebe und Weisheit verbindend; und mit einem Glauben an Götter oder Halbgötter oder Vorsehungen dürfte er nichts mehr zu schaffen haben; wie damit auch die indischen Heiligen nichts zu thun hatten. Auch müsste er gesund sein und sich gesund erhalten; sonst würde er gegen sich misstrauisch werden müssen. Und vielleicht würde er gar nicht einem asketisch Heiligen ähnlich sehen, vielleicht gar einem Lebemanne. 5 [27] Alle Arten die Geschichte zu behandeln sind schon am Alterthum versucht. Vor allem aber hat man genug erfahren, um nun die Geschichte des Alterthums sich zu nutze zu machen – ohne am Alterthum zu Grunde zu gehen. 5 [28] Die deutsche Reformation entfernte uns vom Alterthum: musste sie das? Sie entdeckte den alten Widerspruch „Heidenthum, Christenthum" von neuem; sie war zugleich ein Protest gegen die dekorative Cultur der Renaissance; es war ein Sieg über dieselbe Cultur, die beim Beginn des Christenthums besiegt wurde. 5 [29] Das Christenthum hat in Betreff der "weltlichen Dinge" gerade die gröberen Ansichten der Alten conservirt. Alles Edlere in Ehe, Sklaverei Staat ist unchristlich. Es brauchte die entstellenden Züge der Weltlichkeit, um sich zu beweisen. 5 [30] Ich träume eine Genossenschaft von Menschen, welche unbedingt sind, keine Schonung kennen und "Vernichter" heissen wollen: sie halten an alles den Maassstab ihrer Kritik und opfern sich der Wahrheit. Das Schlimme und Falsche soll an's Licht! Wir wollen nicht vorzeitig bauen, wir wissen nicht, ob wir je bauen können und ob es nicht das Beste ist, nicht zu bauen. Es giebt faule Pessimisten, Resignisten – zu denen wollen wir nicht gehören. 5 [31] Eigenthümlich bedeutende Stellung der Philologen: ein ganzer Stand, dem die Jugend anvertraut ist und der ein spezielles Alterthum zu erforschen hat. Offenbar legt man den 580
höchsten Werth auf dies Alterthum. Wenn man das Alterthum aber falsch abgeschätzt hätte, so fehlte plötzlich das Fundament für die erhabene Stellung der Philologen. Jedenfalls hat man das Alterthum sehr verschieden abgeschätzt: und darnach hat sich jedesmal die Würdigung der Philologen gerichtet. Dieser Stand hat seine Kraft aus starken Vorurtheilen zu Gunsten des Alterthums geschöpft. – Dies ist zu schildern. – Jetzt fühlt er, daß wenn endlich diesen Vorurtheilen gründlich widersprochen würde und das Alterthum rein geschildert würde, sofort jenes günstige Vorurtheil für die Philologen schwände. Es ist also ein Standesinteresse, reinere Einsichten über das Alterthum nicht aufkommen zu lassen: zumal die Einsicht, daß das Alterthum im tiefsten Sinne unzeitgemäß macht. Es ist zweitens ein Standesinteresse der Philologen, keine höhere Anschauung über den Lehrerberuf aufkommen zu lassen als die, welcher sie entsprechen können. 5 [32] Hoffentlich giebt es einige, die es als Problem empfinden, warum gerade die Philologen die Erzieher der edleren Jugend sein sollen. Es wird vielleicht nicht immer so sein. – An sich wäre es ja viel natürlicher,- daß man der Jugend geographische naturwissenschaftliche national-ökonomische gesellige Grundsätze beibrächte, daß man sie allmählich zur Betrachtung des Lebens führte und endlich, spät, die merkwürdigsten Vergangenheiten vorführte. So daß Kenntniß des Alterthums zum letzten gehörte, was einer erwürbe; ist diese Stellung des Alterthums in der Erziehung die für das Alterthum ehrenvollere oder die gewöhnliche? – Jetzt wird es als Propädeutik benutzt, für Denken, Sprechen und Schreiben; es gab eine Zeit, wo es der Inbegriff der weltlichen Kenntnisse war und wo man eben das durch seine Erlernung erreichen wollte, was man jetzt durch jenen eben beschriebenen Studienplan erreichen würde (der sich eben den vorgerückten Kenntnissen der Zeit entsprechend verwandelt hat). Also hat sich die innere Absicht im philologischen Lehrerthum ganz umgeändert, einst war dies die materiale Belehrung, jetzt nur noch die formale.– 5 [33] Die Verbindung von Humanismus und religiösem Rationalismus ist als sächsisch gut von Köchly hervorgehoben: der Typus dieses Philologen ist G. Hermann. 5 [34] Ist es wahr, daß der Philolog, insofern er das Alterthum zur formalen Bildung verwendet, selber formal gebildet ist? Aber was für ein Gegensatz! formal und material! Hier ist Material Kenntnisse, Fakta. Formal die Art, wie man denkt spricht schreibt, also wie man Kenntnisse sich verschafft und sie verbreitet. 5 [35] Wäre die Aufgabe des Philologen formal zu erziehen, so müßte er gehen, tanzen, sprechen, singen, sich gebaren, sich unterreden lehren: und das lernte man auch ungefähr bei den formalen Erziehern des zweiten und dritten Jahrhunderts. Aber so denkt man immer nur an die Erziehung des wissenschaftlichen Menschen und da heißt „formal": denken und schreiben, kaum reden."
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5 [36] Ausgewählte Punkte aus dem Alterthum: z.B. die Macht das Feuer der Schwung in der antiken Musikempfindung (durch die erste pythische Ode), die Reinheit in der historischen Empfindung und die Dankbarkeit für die Segnungen der Cultur, Feuer-Feste, Getreidefeste. Die Veredelung der Eifersucht, die Griechen das eifersüchtigste Volk. Der Selbstmord, Haß gegen das Alter z. B. gegen die Armut. Empedokles über die Geschlechtsliebe. 5 [37] Ich beklage eine Erziehung, bei der es nicht erreicht ist, Wagner zu verstehen, bei der Schopenhauer rauh und mißtönend klingt; diese Erziehung ist verfehlt. 5 [38] Es giebt einen alten Kampf der Deutschen gegen das Alterthum d. h. gegen die alte Cultur: es ist gewiß, daß gerade das Beste und Tiefste am Deutschen sich mit sträubt. Aber der Hauptpunkt ist doch der: jenes Sträuben ist nur im Recht, wenn man die romanisirte Cultur meint: diese ist aber bereits der Abfall einer viel tieferen und edleren. Gegen diese sträubt sich der Deutsche mit Unrecht. 5 [39] Ich sehe in den Philologen eine verschworene Gesellschaft, welche die Jugend an der antiken Cultur erziehn will; ich würde es verstehen, wenn man diese Gesellschaft und ihre Absichten von allen Seiten kritisirte. Da käme nun viel darauf an, zu wissen, was diese Philologen unter antiker Cultur verstehen. – Sähe ich z. B. daß sie gegen die deutsche Philosophie und Musik erzögen, so würde ich sie bekämpfen oder auch die antike Cultur bekämpfen, ersteres vielleicht, indem ich zeigte, daß die Philologen die antike Cultur nicht verstanden haben. Nun sehe ich 1) großen Wechsel in der Schätzung der antiken Cultur bei den Philologen 2) etwas tief Unantikes in ihnen selbst, Unfreies 3) Unklarheit darüber, welche antike Cultur sie meinen 4) in den Mitteln vieles Verkehrte z. B. Gelehrsamkeit 5) Verquickung mit Christenthum. 5 [40] Gesunder gewandter Körper, reiner und tiefer Sinn in der Betrachtung des Allernächsten, freie Männlichkeit, Glaube an gute Rasse und gute Erziehung, kriegerische Tüchtigkeit, Eifersucht im αοιστευειν, Lust an den Künsten, Ehre der freien Muße, Sinn für freie Individuen, für das Symbolische. 5 [41] Ein Colleg über „System der Cultur". 1. Das endlich klar erkannte Ziel der Cultur. 2. Geschichte der Ziele und ihrer Irrthümer. 3. Mittel der Cultur.
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5 [42] Pläne für das Leben. Unzeitgemässe Betrachtungen. Für die dreissiger Jahre meines Lebens. Die Griechen. Für die vierziger Jahre meines Lebens. Reden an die Menschheit. Für die fünfziger Jahre meines Lebens. 5 [43] Wenn das Gymnasium zur Wissenschaft erziehn soll, so sagt man jetzt: es kann die Vorbereitung zu keiner Wissenschaft mehr geben, so umfassend sind die Wissenschaften geworden. Folglich muß man allgemein d. h. für alle Wissenschaften d. h. für die Wissenschaftlichkeit vorbereiten – und dazu dienen die klassischen Studien! – Wunderlicher Sprung! Eine sehr verzweifelte Rechtfertigung! Das Bestehende soll Recht behalten, auch nachdem klar eingesehn ist, daß das bisherige Recht, auf dem es ruhte, zum Unrecht geworden ist. 5 [44] In Betreff der Einfachheit des Alterthums steht es wie bei der Einfachheit des Stils; es ist das Höchste, was man erkennt und nachzuahmen hat, aber auch das Letzte. Man denke daß die klassische Prosa der Griechen auch ein spätes Resultat ist. 5 [45] Das Fundament, auf dem noch die allgemeine Schätzung des Alterthums ruht, sind Vorurtheile: werden diese beseitigt, so dürfte sich die Schätzung in einen gründlichen Haß verwandeln. Hegen nun die Philologen auch diese Vorurtheile? Dann kennen sie das Alterthum nicht. Hegen sie dieselben nicht – wie steht es dann mit ihrer Redlichkeit! Wo zeigt sich aber, daß sie dieselben absichtlich zerstörten? 5 [46] Kennen die Philologen die Gegenwart? Ihre Urtheile über dieselbe als perikleische, ihre Verirrungen des Urtheils, wenn sie von einem Homer congenialen Geiste Freitags reden usw., ihr Nachlaufen, wenn die Litteraten voranlaufen. Ihr Verzichtleisten auf den heidnischen Sinn, den gerade Goethe als den alterthümlichen bei Winckelmann entdeckt hatte. 5 [47] Unsre Stellung zum klassischen Alterthum ist im Grunde die tiefe Ursache der Unproduktivität der modernen Cultur: denn diesen ganzen modernen Culturbegriff haben wir von den hellenisirten Römern. Wir müssen im Alterthum selbst scheiden: indem wir seine einzig produktive Zeit kennen lernen, verurtheilen wir auch die ganze alexandrinischromanische Cultur. Aber zugleich verurtheilen wir unsre ganze Stellung zum Alterthum und unsre Philologie zugleich! 5 [48] 583
Es giebt eine Art, sich philologisch zu beschäftigen, und sie ist häufig: man wirft sich besinnungslos auf irgend ein Gebiet oder wird geworfen: von da aus sucht man rechts und links, findet manches Gute und Neue – aber in einer unbewachten Stunde sagt man sich doch: was Teufel geht mich gerade das alles an? Inzwischen ist man alt geworden, hat sich gewöhnt und läuft so weiter, so wie in der Ehe. 5 [49] Im Ganzen hat die heutige Philologie den leitenden Faden verloren: die welche sie früher leiteten, werden verneint; aber im Ganzen beruht die ganze Wirkung und Schätzung noch auf dem Ruhm jener frühern Leitung, z. B. dem der Humanität. 5 [50] Es giebt Dinge, über die das Alterthum belehrt, über welche ich nicht leicht mich öffentlich aussprechen möchte. 5 [51] Es ist fast lächerlich zu sehen, wie fast alle Wissenschaften und Künste in der neueren Zeit wieder aus dem Samen aufwachsen, der aus dem Alterthum zugeweht wird, und wie das Christenthum hier nur als ein böser Frost einer langen Nacht erscheint, bei dem man glauben sollte, es sei für alle Zeit mit der Vernunft und der Ehrlichkeit der Menschen vorbei. Der Kampf gegen den natürlichen Menschen hat den unnatürlichen Menschen gemacht. 5 [52] Wie man die jungen Leute mit den Alten bekannt macht, hat was Respektwidriges: noch schlimmer, es ist unpädagogisch; denn was soll die Bekanntschaft mit Dingen, die der Jüngling unmöglich mit Bewußtsein verehren kann! Vielleicht soll er lernen zu glauben; und desshalb wünsche ich es nicht. 5 [53] Denen, welche sagen: "aber immer bleibt doch noch das Alterthum übrig als Objekt reiner Wissenschaft, wenn auch alle seine erziehenden Absichten geleugnet werden", ist zu antworten: was ist hier reine Wissenschaft! Es sollen Handlungen und Eigenschaften beurtheilt werden, und der Urtheilende muß darüber stehen: also hättet ihr erst dafür zu sorgen, das Alterthum zu überwinden. Bevor ihr das nicht thut, ist eure Wissenschaft nicht rein, sondern unrein und beschränkt: wie es zu spüren ist. 5 [54] Wie es mit den Philologen steht, zeigt ihre Gleichgültigkeit beim Erscheinen Wagner's. Sie hätten noch mehr lernen können als durch Goethe – und sie haben noch keinen Blick hingeworfen. Das zeigt: es führt sie kein starkes Bedürfniß: sonst hätten sie ein Gefühl, wo ihre Nahrung zu finden ist. 5 [55] Plan zu Capitel 1. 584
Philologie von allen Wissenschaften bis jetzt die begünstigtste: grösste Zahl, seit Jahrhunderten, bei allen Völkern gefördert, die Obhut der edlern Jugend und somit den schönsten Anlass sich fortzupflanzen und Achtung vor sich zu erwecken. Wodurch hat sie diese Macht erlangt? Aufzählung der verschiedenen Vorurtheile zu ihren Gunsten. Wie nun, wenn diese als Vorurtheile erkannt würden? – Bliebe wohl Philologie noch übrig, wenn man das Interesse eines Standes, eines Broterwerbes abrechnete? Wenn man über das Alterthum und seine Befähigung für die Gegenwart zu erziehn die Wahrheit sagte? Cap. 2. Um darauf zu antworten, sehe man die Erziehung zum Philologen, seine Genesis an: er entsteht gar nicht mehr, wenn jenes Interesse wegfällt. Cap. 3. Wenn unsre öffentliche Welt dahinter käme, was das Alterthum eigentlich für ein unzeitgemässes Ding ist, so würden die Philologen nicht mehr zu Erziehern bestellt. Cap. 4. Nur das Bündniss zwischen den Philologen, die das Alterthum nicht verstehen wollen oder nicht können, und der öffentlichen Meinung, die von Vorurtheilen über dasselbe geleitet ist, giebt der Philologie jetzt noch ihre Kraft. Cap. 5. Der zukünftige Philologe als Sceptiker über unsre ganze Cultur und damit auch als Vernichter des Philologen-Standes. 5 [56] Würde die Philologie noch als Wissenschaft existiren, wenn ihre Diener nicht Erzieher, mit Besoldungen wären? In Italien gab es solche. Wer stellt einen Deutschen neben Leopardi z. B.? 5 [57] Wirkung auf Nicht-Philologen gleich Null. Würden sie imperativisch und verneinend, o wie würden sie angefeindet! Aber sie ducken sich. Die Griechen wirklich und ihre Abschwächung durch die Philologen. 5 [58] Alle Geschichte ist bis jetzt vom Standpuncte des Erfolges und zwar mit der Annahme einer Vernunft im Erfolge geschrieben. Auch die griechische Geschichte: wir besitzen noch keine. Aber so steht es überhaupt: wo sind Historiker, die nicht von allgemeinen Flausen beherrscht die Dinge ansehn? Ich sehe nur einen – Burckhardt. Überall der breite Optimismus in der 585
Wissenschaft. Die Frage: "was wäre geschehn, wenn das und das nicht eingetreten wäre" wird fast einstimmig abgelehnt, und doch ist sie gerade die kardinale Frage, wodurch alles zu einem ironischen Dinge wird. Man sehe nur sein Leben an. Wenn man nach Plan in der Geschichte sucht, so suche man ihn in den Absichten eines gewaltigen Menschen, vielleicht in denen eines Geschlechtes, einer Partei. Alles übrige ist ein Wirrsal. – Auch in der Naturwissenschaft ist diese Vergötterung des Nothwendigen. – Deutschland ist die Brutstätte für den historischen Optimismus geworden: daran mag Hegel mit Schuld sein. Aber durch nichts hat die deutsche Cultur verhängnissvoller gewirkt. Alles durch den Erfolg Unterdrückte bäumt sich allmählich auf; die Geschichte als der Hohn der Sieger; servile Gesinnung und Devotion vor dem Faktum – "Sinn für den Staat" nennt man's jetzt: als ob der noch hätte gepflanzt werden müssen! Wer nicht begreift, wie brutal und sinnlos die Geschichte ist, der wird auch den Antrieb gar nicht verstehn die Geschichte sinnvoll zu machen. Nun sehe man, wie selten eine solche sinnvolle Erkenntniss des eignen Lebens ist wie die Goethes: was soll nun aus allen diesen verschleierten und blinden Existenzen Vernünftiges geschehn, wenn sie mit und gegeneinander chaotisch wirken. Besonders naiv ist es nun, wenn Hellwald, der Verfasser einer Cultur-Geschichte, von allen "Idealen" abwinkt, weil die Geschichte immer eins nach dem andern abgethan habe. 5 [59] Griechen und Philologen. Die Griechen huldigen der Schönheit
Philologen sind Schwätzer und Tändler.
sie entwickeln den Leib
hässliche Gehege.
sie sprechen gut
Stammler.
religiöse Verklärer des Alltäglichen
schmutzige Pedanten.
Hörer und Schauer
Wortklauber und Nachteulen.
für das Symbolische
Unfähigkeit zur Symbolik
freie Männlichkeit
Staatssclaven mit Inbrunst
reiner Blick in die Welt
verzwickte Christen
Pessimisten des Gedankens
Philister
5 [60] Es ist wahr, der Humanismus und die Aufklärung haben das Alterthum als Bundesgenossen in's Feld geführt: und so ist es natürlich, dass die Gegner des Humanismus das Alterthum anfeinden. Nur war das Alterthum des Humanismus ein schlecht erkanntes und ganz gefälschtes: reiner gesehn ist es ein Beweis gegen den Humanismus, gegen die grundgütige Menschen-Natur usw. Die Bekämpfer des Humanismus sind im Irrthum, wenn sie das Alterthum mit bekämpfen: sie haben da einen starken Bundesgenossen.
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5 [61] Religionen verstehe ich als Narkosen: aber werden sie solchen Völkern gegeben wie den Germanen, so sind es reine Gifte. 5 [62] Welchen Zustand nahmen nur die Griechen als Vorbild für ihr Leben im Hades? Blutlos, traumhaft, schwach: es ist die nochmalige Steigerung des Greisenalters: wo das Gedächtniß noch mehr schwindet und der Leib auch noch mehr. Das Greisenalter des Greisenalters – so leben wir in den Augen des Hellenen. 5 [63] Wie wirklich die Griechen selbst in reinen Erfindungen waren, wie sie an der Wirklichkeit fortdichteten, nicht sich aus ihr hinaus sehnten. 5 [64] Erziehung ist erst Lehre vom Nothwendigen, dann vom Wechselnden und Veränderlichen. Man führt den Jüngling in die Natur, zeigt ihm überall das Walten von Gesetzen; dann die Gesetze der bürgerlichen Gesellschaft: hier wird schon die Frage rege: mußte dies so sein? Allmählich braucht er Geschichte, um zu hören, wie das so geworden ist. Aber damit lernt er, daß es auch anders werden kann. Wie viel Macht über die Dinge hat der Mensch? dies ist die Frage bei aller Erziehung. Um nun zu zeigen, wie ganz anders es sein kann, zeige man z. B. die Griechen. Die Römer braucht man, um zu zeigen wie es so wurde. 5 [65] Die Griechen als das einzig geniale Volk der Weltgeschichte; auch als Lernende sind sie dies, sie verstehen dies am besten und wissen nicht bloß zu schmücken und zu putzen mit dem Entlehnten: wie es die Römer thun. Die Constitution der Polis ist eine phönizische Erfindung: selbst dies haben die Hellenen nachgemacht. Sie haben lange Zeit wie freudige Dilettanten an allem herum gelernt; wie auch die Aphrodite phönizisch ist. Sie leugnen auch gar nicht das Eingewanderte und NichtUrsprüngliche ab. 5 [66] Die Aegypter sind vielmehr ein litterarisches Volk als die Griechen. Dies gegen Wolf. 5 [67] Das erste Korn in Eleusis, die erste Rebe in Theben, der erste Ölbaum, Feigenbaum. 5 [68] Aegypten hatte seinen Mythus wesentlich verloren. 5 [69] 587
Das leibhafte Erscheinen von Göttern, wie bei Sappho's Anrufung der Aphrodite, ist nicht als poetische Lizenz zu verstehen, es sind häufige Hallucinationen. Vieles, wie auch den Wunsch zu sterben, fassen wir flach auf, als rhetorisch. 5 [70] Griechen das Genie unter den Völkern. Kindes-Natur. Leichtgläubig. Leidenschaftlich. Unbewußt leben sie der Erzeugung des Genius. Feinde der Befangenheit und Dumpfheit. Schmerz. Unverständiges Handeln. Ihre Art von intuitiver Einsicht in das Elend, bei goldenem genial-frohem Temperament. Tiefsinn im Erfassen und Verherrlichen des Nächsten (Feuer Ackerbau). Lügnerisch. Unhistorisch. Die Kulturbedeutung der Polis instinktiv erkannt; Centrum und Peripherie für den großen Menschen günstig. (Die Übersichtlichkeit einer Stadtgemeinde, auch die Möglichkeit sie als Ganzes anzureden.) Das Individuum zur höchsten Kraft durch die Polis gesteigert. Neid, Eifersucht wie bei genialen Leuten. 5 [71] Die Erholungen der Spartaner bestanden in Festen, Jagd und Krieg: ihr alltägliches Leben war zu hart. Im Ganzen ist ihr Staat doch eine Karikatur der Polis und ein Verderben von Hellas. Die Erzeugung des vollkommnen Spartaners – aber was ist er Großes, daß seine Erzeugung einen so brutalen Staat brauchte! 5 [72] Die griechische Cultur ruht auf dem Herrschafts-Verhältniß einer wenig zahlreichen Classe gegen 4-5mal so viel Unfreie. Der Masse nach war Griechenland ein von Barbaren bewohntes Land. Wie kann man die Alten nur human finden! Gegensatz des Genie's gegen den Broderwerber, das halbe Zug- und Lastthier. Die Griechen glaubten an eine Verschiedenheit der Rasse: Schopenhauer wundert sich, daß es der Natur nicht beliebt habe, zwei getrennte Species zu erfinden. 5 [73] Zum Griechen verhält sich der Barbar, wie „zum freibeweglichen, ja geflügelten Thiere die an ihren Felsen gekittete Muschel, welche abwarten muß, was der Zufall ihr zuführt". Schopenhauer'sches Bild. 5 [74] "Im Einzelnen stets das Allgemeine zu sehen ist gerade der Grundzug des Genie's" Schopenhauer. Man denke an Pindar, an die Ποοµηϑ εια usw. Die "Besonnenheit", nach Schopenhauer, hat zunächst ihre Wurzel in der Deutlichkeit, mit welcher die Griechen der Welt und ihrer selbst inne werden und dadurch zur Besinnung darüber kommen. 5 [75]
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Das „weite Auseinandertreten des Willens und des Intellektes" bezeichnet die Genies, und auch die Griechen. 5 [76] "Die dem Genie beigegebene Melancholie beruht darauf, daß der Wille zum Leben, von je hellerem Intellekte er sich beleuchtet findet, desto deutlicher das Elend seines Zustandes wahrnimmt." Schopenhauer. Cf. die Griechen! 5 [77] Wie stechen die Römer durch ihren trockenen Ernst gegen die genialen Griechen ab! Schopenhauer: „der feste praktische Lebensernst, welchen die Römer als gravitas bezeichneten, setzt voraus, daß der Intellekt nicht den Dienst des Willens verlasse, um hinauszuschweifen zu dem, was diesen nicht angeht." 5 [78] Die Mäßigkeit der Griechen in ihrem sinnlichen Aufwand, Essen und Trinken und ihre Lust daran: die olympischen Spiele und ihre Vergötterung – das zeigt, was sie waren. 5 [79] Beim Genie wird "der Intellekt die Fehler zeigen, die bei jedem Werkzeuge, welches zu dem, wozu es nicht gemacht ist, gebraucht wird, nicht auszubleiben pflegen." "Er läßt den Willen oft sehr zur Unzeit im Stich: so wird das Genie für das Leben mehr oder weniger unbrauchbar, ja erinnert in seinem Betragen mitunter an den Wahnsinn." 5 [80] "Wenn die abnorm erhöhte Erkenntnißkraft sich plötzlich, mit aller ihrer Energie, auf die Angelegenheiten und Miseren des Willens richtet – da wo alles zu lebhaft, in zu grellen Farben, zu hellem Lichte, ins Ungeheure vergrößert; dann verfällt das Individuum auf lauter Extreme." 5 [81] Es fehlt den Griechen die Nüchternheit. Übergroße Sensibilität, abnorm erhöhtes Nerven- und Cerebralleben, Heftigkeit und Leidenschaftlichkeit des Wollens. 5 [82] Das glücklichste Loos, welches dem Genie werden kann, ist Entbindung vom Thun und Lassen und freie Muße: und so wußten die Griechen zu schätzen. Segen der Arbeit! nugari nannten die Römer alles Tichten und Trachten der Hellenen. Es hat keinen glücklichen Lebenslauf, es steht im Widerspruch und Kampf mit seiner Zeit. So die Griechen: sie bemühten sich ungeheuer, instinktiv, sich ein sicheres Gehäuse (in der Polis) zu schaffen. Endlich gieng alles in der Politik zu Grunde.
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Sie waren gezwungen nach außen hin Stand zu halten: das wurde immer schwieriger, endlich unmöglich. 5 [83] Mit einer Veränderung eines Wortes von Bako von Verulam kann man sagen: infimarum Graecorum virtutum, apud philologos, laus est, mediarum admiratio, supremarum sensus nullus. 5 [84] Der kindliche Charakter der Griechen von den Aegyptern empfunden. 5 [85] Das Steigern des Gegenwärtigen ins Ungeheure und Ewige z.B. bei Pindar. 5 [86] Die unmathematische Schwingung der Säule in Pästum z. B. ist ein Analogon zur Modifikation des Tempos: Belebtheit an Stelle eines maschinenhaften Bewegtseins. 5 [87] Es ist das Werk aller Erziehung, bewußte Thätigkeiten in mehr oder weniger unbewußte umzubilden: und die Geschichte der Menschheit ist in diesem Sinne ihre Erziehung. Der Philologe nun übt eine Menge Thätigkeiten so unbewußt: das will ich einmal untersuchen, wie seine Kraft, d. h. sein instinktives Handeln, das Resultat von ehemals bewußten Thätigkeiten ist, die er allmählich als solche kaum mehr fühlt: aber jenes Bewußtsein bestand in Vorurtheilen. Seine jetzige Kraft beruht auf jenen Vorurtheilen, z. B. die Schätzung der ratio wie bei Bentley, Hermann. Die Vorurtheile sind, wie Lichtenberg sagt, die Kunsttriebe des Menschen. 5 [88] Fertigkeiten erwartet man von der Beschäftigung mit den Alten: früher z. B. Schreiben und Sprechen können. Aber welche erwartet man jetzt! – Denken und Schließen: aber dies erlernt man nicht von den Alten, sondern höchstens an den Alten, vermittelst der Wissenschaft. Zudem ist aber alles historische Schließen sehr bedingt und unsicher: man sollte das naturwissenschaftliche vorziehn. 5 [89] Proklos, der den aufgehenden Mond in feierlicher Weise anbetet. 5 [90] Die ererbte Abrichtung der jetzigen Philologen: eine gewisse Unfruchtbarkeit der Grundeinsichten hat sich ergeben; denn sie bringen die Wissenschaft, aber nicht die Philologen vorwärts.
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5 [91] Das politische Unterliegen Griechenlands ist der größte Mißerfolg der Cultur: denn es hat die gräßliche Theorie aufgebracht, daß man die Cultur nur pflegen könne, wenn man zugleich bis an die Zähne bewaffnet und mit Fausthandschuhen angethan sei. Das Aufkommen des Christenthums war der zweite große Mißerfolg: die rohe Macht dort, der dumpfe Intellekt hier kamen zum Siege über das aristokratische Genie unter den Völkern. Philhellene sein heißt Feind der rohen Macht und der dumpfen Intellekte sein. Insofern war Sparta das Verderben von Hellas, insofern es Athen zwang bundesstaatlich zu wirken und sich ganz auf Politik zu werfen. 5 [92] Sicher steht im Ganzen Großen das Wachsen der militärischen Kraft der Menschheit. Der Sieg der kräftigeren Nation: allmählich ist es nicht nur der Maaßstab des körperlicher, sondern noch mehr des geistigen Kräftiger-seins. 5 [93] In Sokrates haben wir einen Vorgang des Bewußtseins gleichsam vor uns offen liegen, aus dem später die Instinkte des theoretischen Menschen entstanden sind. Daß jemand lieber sterben will als alt und schwach im Geiste werden. 5 [94] Mit dem Christenthum erlangte eine Religion das Obergewicht, welche einem vorgriechischen Zustand des Menschen entsprach: Glaube an Zaubervorgänge in allem und jedem, blutige Opfer, abergläubische Angst vor dämonischen Strafgerichten, Verzagen an sich selbst, ekstatisches Brüten und Halluciniren, der Mensch sich selber zum Tummelplatz guter und böser Geister und ihrer Kämpfe geworden. 5 [95] Es wäre viel glücklicher noch gewesen, daß die Perser als daß gerade die Römer über die Griechen Herr wurden. 5 [96] Der herrliche Sinn für Ordnung und Gliederung hat den Staat der Athener unsterblich gemacht. – Die zehn Strategen in Athen! toll! gar zu sehr ein Opfer auf dem Altar der Eifersucht. 5 [97] Statut der Gesellschaft der Unzeitgemässen. Jeder hat vierteljährlich einen schriftlichen Bericht über seine Thätigkeit einzusenden. O. R. G. B. N. 5 [98] 591
Zur Einleitung der Gesammtherausgabe der Unzeitgemässen". Die Entstehung zu schildern: meine Desperation wegen Bayreuth, ich sehe nichts mehr, was ich nicht voll Schuld weiss, ich entdecke bei tieferem Nachdenken, auf das fundamentalste Problem aller Cultur gestossen zu sein. Mitunter fehlt mir alle Lust fortzuleben. Aber dann wieder sage ich mir: wenn einmal gelebt sein soll, dann jetzt. – Straussen hielt ich eigentlich für mich für zu gering: bekämpfen mochte ich ihn nicht. Ein paar Worte Wagner's in Strassburg. 5 [99] Wenn nun die Römer die griechische Cultur verschmäht hätten: sie wäre vielleicht radikal zu Grunde gegangen. Woran hätte sie wieder erwachen sollen? Christenthum und Römer und Barbaren – das wäre ein Ansturm gewesen. Völlig verwischt. Wir sehen die Gefahr, unter der das Genie lebt. Cicero ist so schon einer der größten Wohlthäter der Menschheit. – Es giebt für das Genie keine Vorsehung: nur für die gewöhnlichen massenhaften Menschen und ihre Nöthe giebt es so etwas; sie finden ihre Befriedigung, später ihre Rechtfertigung. 5 [100] Aus der gegenseitigen Todtfeindschaft erwächst die griechische πολιζ, und das αιεν αοιστευελν. Hellenisch und philantropisch waren Gegensätze, obschon die Alten genug sich geschmeichelt haben. 5 [101] Homer, in der Welt der hellenischen Zwietracht, der panhellenische Grieche. Der Wettkampf der Griechen zeigt sich auch im Symposion, in der Form des geistreichen Gesprächs. 5 [102] Das Genie macht alle Halbbegabten tributpflichtig: so schickten Perser selbst ihre Gesandtschaften an die griechischen Orakel. 5 [103] Zu einem griechischen Polytheismus gehört viel Geist; es ist freilich sparsamer mit dem Geist umgegangen, wenn man nur einen hat. 5 [104] Die Moral beruht nicht auf der Religion, sondern auf der πολιζ. Es gab nur Priester einzelner Götter, nicht Vertreter der ganzen Religion: also keinen Stand. Ebenfalls keine heilige Urkunde. 5 [105]
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Die "leichtlebenden Götter" ist die höchste Verschönerung, die der Welt zu Theil geworden ist; im Gefühl wie schwer es sich lebt. 5 [106] Ob es viele begabte Philologen gegeben hat? Ich zweifle; denn zu langsam bricht sich die Vernunft bei ihnen Bahn (Handschriften zählen usw.) – Wort- und Sach-philologie – dummer Streit! – und dann die übertriebene Schätzung irgend eines klugen Mannes unter ihnen! 5 [107] Das Humanistische ist von Karl dem Großen mächtig angepflanzt worden, während er gegen das Heidnische mit den härtesten Zwangsmitteln vorgieng. Die antike Mythologie wurde verbreitet, die deutsche wie ein Verbreden behandelt. Ich glaube, hier lag das Gefühl zu Grunde, daß das Christenthum eben schon fertig geworden sei mit der antiken Religion: man fürchtete sie nicht, aber benutzte die auf ihr ruhende Cultur des Alterthums. Die deutsche Götterwelt fürchtete man. – Eine große Äußerlichkeit in der Auffassung des Alterthums, fast nur die Schätzung seiner formalen Fertigkeiten und seiner Kenntnisse, muß hier gepflanzt worden sein. Es sind die Mächte zu nennen, die einer Vertiefung der Einsicht ins Alterthum im Wege gestanden haben. Zunächst 1) wird die alterthümliche Cultur als Reizmittel zur Annahme des Christenthums benutzt: es ist gleichsam das Draufgeld für die Bekehrung. Die Versüßung beim Einschlürfen jenes Giftes. Dann war man der Hülfsmittel der antiken Cultur benöthigt, 2) als Waffen zum geistigen Schutz des Christenthums. Selbst die Reformation konnte die klassischen Studien in diesem Sinne nicht entbehren. Dagegen beginnt nun die Renaissance mit reinerem Sinne die klassischen Studien, aber durchaus auch im christenfeindlichen; sie zeigt ein Erwachen der Ehrlichkeit im Süden, wie die Reformation im Norden. Vertragen konnten sie sich freilich nicht, denn ernstliche Neigung zum Alterthum macht unchristlich. Es ist der Kirche im Ganzen gelungen, den klassischen Studien eine unschädliche Wendung zu geben: der Philologe wurde erfunden, als Gelehrter, der im übrigen Priester oder sonst so etwas ist: und auch im Bereiche der Reformation gelang es, den Gelehrten ebenfalls zu castriren. Deshalb ist Friedrich August Wolf merkwürdig, weil er den Stand von der Zucht der Theologie befreite: aber seine That wurde nicht völlig verstanden, denn ein angreifendes aktives Element, wie es den Poeten-Philologen der Renaissance anhaftet, wurde nicht entwickelt. Die Befreiung kam der Wissenschaft, nicht den Menschen zu Gute. 5 [108] Das Unvolksthümliche der neuen Renaissance-Kultur! Eine furchtbare Thatsache! 5 [109] Was ist nun jetzt noch das Alterthum, gegenüber moderner Kunst und Wissenschaft und Philosophie? Nicht mehr die Schatzkammer aller Kenntnisse, in Natur- und Geschichtskenntniß ist es überwunden. Die Unterdrückung durch die Kirche ist gebrochen. Es ist jetzt eine reinere Kenntniß des Alterthums möglich, aber auch wohl eine wirkungslosere, schwächere? – Das ist richtig: wenn man die Wirkung nur als Massenwirkung kennt; aber für die Erzeugung der größten Geister ist das Alterthum mehr wie je kräftig. Goethe als deutscher Poet-Philolog; Wagner als noch höhere Stufe: Hellblick für die einzig würdige Stellung der Kunst; nie hat ein antikes Werk so mächtig gewirkt, wie die Oresteia auf Wagner. Der
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objektive-kastrirte Philolog, der im übrigen Bildungsphilister und Kulturkämpfer ist, und daneben reine Wissenschaft treibt, ist freilich eine traurige Erscheinung. 5 [110] Bentley war zugleich defensor fidei; und Scaliger war freilich ein Feind der Jesuiten, und sehr angegriffen. 5 [111] Zwischen unsrer höchsten Kunst und Philosophie und zwischen dem wahrhaft erkannten ältern Alterthum ist kein Widerspruch: sie stützen und tragen sich. Hier liegen meine Hoffnungen. 5 [112] Es giebt Gebiete, wo die ratio nur Unfug anrichten wird, und der Philolog, der nichts weiter hat, damit verloren ist und nie die Wahrheit sehen kann, z. B. bei Betrachtung der griechischen Mythologie. Natürlich hat ein Phantast auch noch keinen Anspruch: man muß griechische Phantasie und etwas von griechischer Frömmigkeit haben. Selbst der Dichter braucht in sich nicht consequent zu sein: überhaupt ist Consequenz das Letzte, wozu sich die Griechen verstehen würden. 5 [113] Fast alle griechischen Gottheiten sind angesammelte, eine Schicht wieder über der andern, bald verwachsen, bald nothdürftig verkittet. Dies wissenschaftlich auseinanderzuklauben scheint mir kaum möglich: denn dafür kann es keine gute Methode geben: der elende Schluß der Analogie ist hier schon ein sehr guter Schluß. 5 [114] Wie fern muß man den Griechen sein, um ihnen eine solche bornirte Autochthonie zuzutrauen wie O. Müller! Wie christlich, um mit Welcker die Griechen für ursprüngliche Monotheisten zu halten! Wie quälen sich die Philologen mit der Frage ab, ob Homer geschrieben habe, ohne den viel höheren Satz zu begreifen, daß die griechische Kunst eine lange innere Feindseligkeit gegen Schriftwesen hatte und nicht gelesen werden wollte. 5 [115] Die Griechen waren von der Lust zu fabuliren gräßlich geplagt. Gar im Alltagsleben war es schwer, sie vom "mythischen", vom Schwindeln fernzuhalten: wie alles Poetenvolk eine solche Lust zur Lüge hat, nebst der Unschuld dazu. Die benachbarten Völker fanden das wohl verzweifelt. 5 [116] Auf Bergen zu wohnen, viel Reisen, schnell von der Stelle zu kommen – darin kann man sich jetzt schon den griechischen Göttern gleichsetzen. Wir wissen auch das Vergangne und beinahe das Zukünftige. Was ein Grieche sagen würde, wenn er uns sähe? –
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5 [117] Die Götter machen den Menschen noch böser; so ist Menschennatur. Wen wir nicht mögen, von dem wünschen wir, daß er schlechter werde und freuen uns dann. Es gehört dies in die düstere Philosophie des Hasses, die noch nicht geschrieben ist, weil sie überall das pudendum ist, das jeder fühlt. 5 [118] Der Panhellene Homer hat seine Lust an der Leichtfertigkeit der Götter; aber erstaunlich ist, wie er ihnen wieder Würde geben kann. Dieses ungeheure Sich-Aufschwingen ist aber griechisch. 5 [119] Thukydides über den Staat. Das tyrannische Element in jedem Aristokraten großgenährt: das verräth sich in den Gebeten (Xenophon Socrates). Sie hielten sich gegenseitig in Schranken: das Volk hielt wieder alle zusammen in Schranken, so gut es gieng. 5 [120] Woher stammt nun der Neid der Götter? man glaubt nicht an ein ruhend stilles Glück, sondern nur an ein übermüthiges. Es muß den Griechen schlecht zu Muthe gewesen sein, allzu leicht verwundet war ihre Seele: es erbitterte sie, den Glücklichen zu sehen. Das ist griechisch. Wo es ein ausgezeichnetes Talent gab, da mag die Schaar der Eifersüchtigen ungeheuer groß gewesen sein: traf jenes ein Unglück, so sagte man aha! der war auch zu übermüthig". Und jeder hätte ebenso sich benommen, wenn er das Talent gehabt hätte, übermüthig; und jeder hätte gern etwas den Gott gespielt, der das Unglück schickt. 5 [121] Die griechischen Götter verlangten keine Sinnesänderung und waren überhaupt nicht so lästig und zudringlich: da war es auch möglich, sie ernst zu nehmen und zu glauben. Zu Homer's Zeiten war das griechische Wesen übrigens fertig: Leichtfertigkeit der Bilder und der Phantasie ist nöthig, um das übermäßig leidenschaftliche Gemüth etwas zu beschwichtigen und zu befreien. Spricht bei ihnen der Verstand, o wie herbe und grausam erscheint das Leben! Sie täuschen sich nicht. Aber sie umspielen das Leben mit Lügen: Simonides rieth, das Leben wie ein Spiel nehmen: der Ernst war ihnen als Schmerz zu bekannt. Das Elend der Menschen ist den Göttern ein Genuß, wenn ihnen davon gesungen wird. Das wußten die Griechen, daß einzig durch die Kunst selbst das Elend zum Genuße werden könne, vide tragoediam. 5 [122] Das eigentlich wissenschaftliche Volk, das Volk der Litteratur, sind die Aegypter und nicht die Griechen. Was wie Wissenschaft bei den Griechen aussieht, stammt daher und später kehrt es nach Aegypten zurück, um sich mit dem alten Strome wieder zu vereinigen. Alexandrinische Cultur ist eine Verquickung von Hellenisch und Aegyptisch: und wenn die neuere Welt an die Cultur der Alten anknüpft, dann hat sie – – – 595
5 [123] Der Seher muß liebevoll sein, sonst hat er kein Vertrauen bei den Menschen: v. Kassandra. 5 [124] Klassische Philologie ist der Herd der flachsten Aufklärung: immer unehrlich verwendet, allmählich ganz wirkungslos geworden. Ihre Wirkung ist eine Illusion mehr am modernen Menschen. Eigentlich handelt es sich nur um einen Erzieher-Stand, der nicht aus Pfaffen besteht: hier hat der Staat sein Interesse daran. Ihr Nutzen ist vollständig aufgebraucht; während z. B. Geschichte des Christenthums noch ihre Kraft zeigt. 5 [125] Aus den Reden über Philologie, wenn sie von Philologen stammen, erfährt man nichts, es ist die reinste Schwätzerei z. B. Jahn („Bedeutung und Stellung der Alterthumsstudien in Deutschland"). Gar kein Gefühl, was zu vertheidigen, was zu schützen ist: so reden Leute, die noch gar nicht darüber nachgedacht haben, daß man sie angreifen könnte. 5 [126] Es ist gar nicht wahr, daß die Griechen nur auf dieses Leben ihre Blicke gerichtet hatten. Sie litten auch an der Todes- und Höllenangst. Aber keine Reue und Zerknirschung. 5 [127] „Die frevelhafte gegenseitige Zernichtung (unvermeidlich, so lange noch eine einzige πολιζ leben wollte), ihr Neid gegen alles Höhere, ihre Habsucht, die Zerrüttung ihrer Sitte, die Sklavenstellung für die Frau, die Gewissenlosigkeit im Eidschwur, in Mord und Todschlag." B. 5 [128] Ungeheure Kraft der Selbstüberwindung z. B. im Bürger, in Sokrates, der zu allem Bösen fähig war. 5 [129] Die Eigenschaften des Genialen ohne die Genialität treffen wir bei dem Durchschnittshellenen, im Grunde alle die gefährlichsten Eigenschaften des Gemüths und des Charakters. 5 [130] Der „Dulder" ist hellenisch. Prometheus, Herakles. Der Heroenmythus ist panhellenisch geworden; dazu gehörte freilich ein Dichter. 5 [131] 596
Wagner bildet die innere Phantasie des Menschen aus; spätere Generationen werden Zeugen von Bildwerken sein. Die Poesie muß der bildenden Kunst voran gehen. 5 [132] „Klassische Bildung"! Was sieht man darin! Ein Ding, das nichts wirkt außer – Befreiung von militärischen Lasten und Doktortitel! 5 [133] Den Stand der Philologen als Problem zu empfinden. 5 [134] Wagner ehrt seine Kunst viel zu hoch, um sich in einen Winkel zu stecken wie Schumann. Entweder unterwirft er sich dem Publikum (Rienzi) oder er unterwirft es sich. Er züchtet es heran. Auch die Kleinen wollen ein Publikum, aber sie suchen es durch unkünstlerische Mittel, etwa Presse, Hanslick usw. 5 [135] Philologen, die von ihrer Wissenschaft reden, rühren nie an die Wurzeln, sie stellen nie die Philologie als Problem hin. Schlechtes Gewissen? oder Gedankenlosigkeit? 5 [136] "Aufklärung" und alexandrinische Bildung ist es – besten Falls! -, was Philologen wollen. Nicht Hellenenthum. 5 [137] Die Consequenz, die man am Gelehrten schätzt, ist den Griechen gegenüber Pedanterie. 5 [138] Klassische Bildung! Ja wenn es nur wenigstens soviel Heidenthum wäre, wie viel Goethe an Winckelmann fand und verherrlichte – es war nicht gar zu viel. Aber nun das ganze unwahre Christenthum unserer Zeiten mit dazu, oder mitten darunter – das ist mir zu viel und ich muß mir helfen, indem ich meinen Ekel einmal darüber auslasse. – Man glaubt förmlich an Zauberei, in Betreff dieser "klassischen Bildung"; aber natürlich müßten doch die, welche das Alterthum noch am meisten haben, auch diese Bildung am meisten haben, die Philologen: aber was ist an ihnen klassisch! 5 [139] Früher schrieb man dem Teufel oder bösen Geistern seine Anfechtungen und Lüste zu: das gilt jetzt als Mährchen. So wird es auch ein Mährchen sein, einem Gotte seine guten Regungen und Erfolge zu danken. Beides sind Erleichterungen, man machte sich's damit bequem. Zu beweisen, wie bei der Religion ganz vornehmlich für die Bequemlichkeit gesorgt worden ist: nahe und bereite Ausreden und Ausflüchte.
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5 [140] Fünfjähriges Schweigen. Schüler Pfleger Erzieher. 5 [141] Was ist Begabung? – Ein hohes Ziel und die Mittel dazu zu wollen. 5 [142] Philologen sind solche Menschen, welche das dumpfe Gefühl der modernen Menschen über ihr eigenes Ungenügen benutzen, um darauf hin Geld und Brod zu erwerben. Ich kenne sie, ich bin selber einer. 5 [143] Die deutschen Gelehrten und sogenannten Denker, der wirklichen Geschichte fernstehend, haben die Geschichte zu ihrem Thema gemacht und, als geborene Theologen, den Nachweis ihrer Vernünftigkeit versucht. Ich fürchte, eine spätere Zeit wird als die heilloseste Mitgift diesen deutschen Beitrag zur europäischen Cultur erkennen: ihre Geschichte ist falsch! 5 [144] Wir behandeln unsre Jünglinge als seien sie unterrichtete gereifte Männer, wenn wir ihnen die Griechen vorführen. Was eignet sich denn vom griechischen Wesen überhaupt für die Jugend? Zuletzt bleibt's gar beim Formalen, Einzelnes vorzuführen. Sind das Betrachtungen für junge Leute? – Die beste und höchste Gesammtvorstellung von den Alten bringen wir doch den jungen Leuten entgegen? Oder nicht? Das Lesen der Alten wird so betont. Ich glaube, die Beschäftigung mit dem Alterthum ist in eine falsche Stufe des Lebens verlegt. Ende der zwanziger fängt es an zu dämmern. 5 [145] Alle Schwierigkeiten des historischen Studiums einmal durch das größte Beispiel zu verdeutlichen. In wiefern unsre Jünglinge nicht zu den Griechen passen. Folgen der
hodmüthige Anticipation Philologie:
Bildungsphilisterei
Überschätzung von Lesen und Schreiben Ungründlichkeit Entfremdung vom Volk und Volks-Noth. Die Philologen selbst (und Historiker und Philosophen Juristen, alles durchräuchert vom Dunste). 598
Es sind wirkliche Wissenschaften der Jugend beizubringen. Ebenso wirkliche Kunst. So wird auch, in höherem Leben, Verlangen nach wirklicher Historie dasein. Philologe, Entstehung überhaupt und jetzt. Die Jugend und der Philologe. Die Folgen der Philologie. Aufgabe für die Philologie: Untergang. Die Inhumanität: selbst aus der Antigone, selbst aus der goethischen Iphigenie. Der Mangel an Aufklärung. Das Politische ist nicht für Jünglinge verständlich. Das Dichterische – eine schlimme Anticipation. 5 [146] Kritik der Entwicklung. Falsche Annahme einer naturgemässen Entwicklung. Die Entartung ist hinter jeder grossen Erscheinung her; in jedem Augenblick ist der Ansatz zum Ende da. Die Entartung liegt in dem leichten Nachmachen und Äusserlich-Verstehen der grossen Vorbilder: d. h. das Vorbild reizt die eitlern Naturen zum Nachmachen und Gleichmachen oder überbieten. Die Kette von einem Genius zum andern ist selten eine gerade Linie: so zwischen Aeschylus und Sophocles keineswegs. Es lagen eine Masse Entwicklungswege nach Aeschylus noch offen; Sophocles schlug einen von ihnen ein. Das Verhängnissvolle aller grossen Begabungen: sie reissen mit sich fort und veröden um sich, wie Rom in einer Einöde liegt. Viele Kräfte, embryonisch noch, werden so erdrückt. Zu zeigen, wie überwiegend auch in Hellas die Entartung ist, wie selten und kurz das Grosse, wie mangelhaft (von der falschen Seite) geschätzt. Wie steif müssen die Anfänge der Tragödie bei Thespis gewesen sein! d. h. die kunstmässigen Nachformungen der urwüchsigen Orgien. So war die Prosa erst sehr steif im Verhältniss zur wirklichen Rede. Die Gefahren sind: man hat die Lust am Inhalte oder man ist gleichgültig gegen den Inhalt und erstrebt Sinnesreize des Klanges usw.
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Das Agonale ist auch die Gefahr bei aller Entwicklung; es überreizt den Trieb zum Schaffen. – Der glücklichste Fall in der Entwicklung, wenn sich mehrere Genie's gegenseitig in Schranken halten. Ob nicht sehr viele herrliche Möglichkeiten im Keime erstickt sind? Wer würde z. B. Theocrit noch zu seiner Zeit für möglich halten, wenn er nicht da wäre? Die grösste Thatsache bleibt immer der frühzeitig panhellenische Homer. Alles Gute stammt doch von ihm her: aber zugleich ist er die gewaltigste Schranke geblieben, die es gab. Er verflachte, und deshalb kämpften die Ernstern so gegen ihn, umsonst. Homer siegte immer. Das Unterdrückende der grossen geistigen Mächte ist auch hier sichtbar, aber welcher Unterschied: Homer oder eine Bibel als solche Macht! Die Lust am Rausche, die Lust am Listigen, an der Rache, am Neide, an der Schmähung, an der Unzüchtigkeit – alles das wurde von den Griechen anerkannt, als menschlich, und darauf hin eingeordnet in das Gebäude der Gesellschaft und Sitte. Die Weisheit ihrer Institutionen liegt in dem Mangel einer Scheidung zwischen gut und böse, schwarz und weiss. Die Natur, wie sie sich zeigt, wird nicht weggeleugnet, sondern nur eingeordnet, auf bestimmte Culte und Tage beschränkt. Dies ist die Wurzel aller Freisinnigkeit des Alterthums; man suchte für die Naturkräfte eine mässige Entladung, nicht eine Vernichtung und Verneinung. – Das ganze System von neuer Ordnung ist dann der Staat. Er war nicht auf bestimmte Individuen, sondern auf die regulären menschlichen Eigenschaften hin construirt: es zeigt sich in seiner Gründung die Schärfe der Beobachtung und der Sinn für das Thatsächliche, besonders für das TypischThatsächliche, was die Griechen zur Wissenschaft Historie Geographie usw. befähigte. Es war nicht ein beschränktes priesterliches Sittengesetz, welches bei der Gründung des Staates befahl. Woher haben die Griechen diese Freiheit? Wohl schon von Homer; aber woher hat er's? – Die Dichter sind nicht die weisesten und logisch gebildetsten Wesen; aber sie haben die Lust am einzeln Wirklichen jeder Art und wollen es nicht verneinen, aber doch so mässigen, dass es nicht alles todt macht. 5 [147] Die Nothwendigkeit der Entladung, der χαϑ αοσιζ, ein Grundgesetz des griechischen Wesens. Ansammlung und Entladung in gewaltsamen, zeitlich getrennten Stössen. Ob die Tragödie daher zu erklären? 5 [148] Es müssen philosophische Köpfe darüber kommen und einmal die Gesammtabrechnung des Alterthums vorlegen. Sobald diese vorliegt, so wird es überwunden sein. Man ist viel zu stark mit allem Fehlerhaften, was uns quält, vom Alterthum abhängig, als dass man es noch lange milde behandeln wird. Die ungeheuerste Frevelthat der Menschheit, dass das Christenthum möglich werden konnte, so wie es möglich wurde, ist die Schuld des Alterthums. Mit dem Christenthum wird auch das Alterthum abgeräumt werden. – Jetzt ist es sehr nahe hinter uns, und gerecht zu sein gewiss nicht möglich. Es ist in der scheusslichsten Weise zur Unterdrückung benutzt worden und hat die religiöse Unterdrückung unterstützt, dadurch dass es sie mit „Bildung" maskirte. Der Hauptwitz war: "das Alterthum ist durch das Christenthum überwunden worden"! Dies war eine historische Thatsache und so wurde die Beschäftigung 600
mit ihm unschädlich. Ja es ist so plausibel, die christliche Ethik "tiefer" zu finden als Socrates! Mit Plato konnte man es schon aufnehmen! Es ist eine nochmalige Wiederkäuung desselben Kampfes, der <sich> in den ersten Jahrhunderten schon abspielte. Nur dass jetzt ein ganz blasses Gespenst an Stelle des damals recht sichtbaren Alterthums getreten ist, und freilich auch das Christenthum recht gespenstisch geworden ist. Es ist ein Kampf nach der Entscheidungsschlacht, ein Nachzittern. Zuletzt sind alle die Mächte, aus denen das Alterthum besteht, im Christenthum in der rohesten Gestalt zu Tage getreten, es ist nichts Neues, nur quantitativ extraordinär. 5 [149] Ach es ist eine Jammergeschichte, die Geschichte der Philologie! Die ekelhafteste Gelehrsamkeit, faules unthätiges Beiseitesitzen, ängstliches Unterwerfen. – Wer hat denn etwas Freies gehabt? 5 [150] Der religiöse Cultus ist auf das Erkaufen oder das Erbetteln der Gunst der Gottheiten zurückzuführen. Es kommt darauf an, wo man ihre Ungunst fürchtet. – Also dort, wo man nicht einen Erfolg durch eigne Kraft erringen kann oder will, sucht man übernatürliche Kräfte: also zur Erleichterung der Lebensmühe. Wo man etwas nicht durch die That wieder gut machen will oder kann, bittet man die Götter um Gnade und Verzeihung, also zur Erleichterung des bedrängten Gewissens. Die Götter sind zur Bequemlichkeit der Menschen erfunden: zuletzt noch ihr Cultus die Summe aller Erholungen und Ergötzlichkeiten. Man nehme sie hinweg: alle Lasten sind dann schwerer, und es giebt viel weniger Leichtigkeit. – Wo die Olympier zurücktraten, da war das griechische Leben düsterer. – Wo wir forschen und arbeiten, da feiern die Griechen Feste. Sie sind die Festefeiernden. Sie sehen über sich die Götter nicht als Herren, sich nicht als Knechte, wie die Juden. Es ist die Conception von einer glücklicheren und mächtigeren Kaste, ein Spiegelbild der gelungensten Exemplare der eignen Kaste, also ein Ideal, kein Gegensatz des eignen Wesens. Man fühlt sich durchaus verwandt. Es besteht gegenseitiges Interesse, eine Art Symmachie. Man denkt vornehm von sich, wenn man sich solche Götter dichtet. Und so hat auch das Erbetteln und Erkaufen ihrer Gunst etwas Vornehmes. Es ist ein Verhältniss, wie von niederem zu höherem Adel; während die Römer eine rechte Bauernreligion haben, Ängstlichkeit gegen Kobolde und Spukereien. 5 [151] Ich will mich so der Litteratur bemächtigen, daß ich z. B. die αναγνωοισειζ vergleiche die Prologe im Drama usw. 5 [152] Entwurf für 18 Vorlesungen 9. Ehren bei Städten, Fürsten, Festen, Opfern usw. Tyrannen. 18. Todesarten.
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10. Gruppen des Umgangs, desgleichen Strebens. 11. Verbreitung durch Schülerthum. 12. Abtrünnige Schüler. 6. Nichtgriechen und Griechen, geographische Betheiligung. 7. Sklaven und ganz niedere Leute. 8. Sehr vornehme Leute. 13. Persönliche Feindschaften, Wettkämpfe. 17. Einfluß auf den Staat und bei Seite stehen. 14. Verschweigen. 15. Geringschätzen und Nichtverstehen vom Früheren. 16. Verbreitung durch Vortrag, Reisen, Buchhandel, Bibliotheken. 2. Unsre Verluste, Größe, Gründe des Verlustes. 5. Die Kunstwerke für alle und die für einen bestimmten Kreis. 3. Einige Grundsätze für das Studium der Litteratur. 1. Kritik der Entwicklung, absoluter Werth. 4. Fälschungen. Litterarhistorische Mythologie. 5 [153] Ein Fürst ist immer eine Karikatur, etwas überladenes; und wenn ein Volk den Fürsten noch nöthig hat, so ist es ein Beweis, daß der politische Trieb des Einzelnen noch zu schwach ist. Wer es besser gekostet, denkt mit Ekel an das Nach-oben-Blicken, und mit Bedauern an die, welche so sich stellen müssen, als ob sie „von oben" herab blickten. 5 [154] Wenn ich sehe wie alle Staaten jetzt die klassische Bildung fördern, so sage ich „wie unschädlich muss sie sein!" Und dann "wie nützlich muss sie sein". Sie erwirbt diesen Staaten den Ruhm, die "freie Bildung" zu fördern. Nun sehe man die Philologen an, um diese "Freiheit" richtig zu taxiren. 5 [155] Im religiösen Cultus ist ein früherer Culturgrad festgehalten, es sind „Überlebsel". Die Zeiten, welche ihn feiern, sind nicht die, welche ihn erfinden. Der Gegensatz ist oft sehr bunt. Der griechische Cultus führt uns in eine vorhomerische Gesinnung und Gesittung zurück, ist fast 602
das älteste, was wir von den Griechen wissen; älter als die Mythologie, welche die Dichter wesentlich umgebildet haben, so wie wir sie kennen. – Kann man diesen Cult griechisch nennen? Ich zweifle. Sie sind Vollender, nicht Erfinder. Sie conserviren durch diese schöne Vollendung. 5 [156] Auf immer trennt uns von der alten Cultur, dass ihre Grundlage durch und durch für uns hinfällig geworden ist. Eine Kritik der Griechen ist in sofern zugleich eine Kritik des Christenthums, denn die Grundlage im Geisterglauben, im religiösen Cultus, in der Naturverzauberung ist dieselbe. – Es giebt jetzt noch zahlreiche rückständige Stufen; aber sie sind schon im Begriff zu verfallen. Dies wäre eine Aufgabe, das Griechenthum als unwiederbringlich zu kennzeichnen und damit auch das Christenthum und die bisherigen Fundamente unsrer Societät und Politik. 5 [157] Aufgabe: der Tod der alten Cultur unvermeidlich: die griechische ist als Urbild zu kennzeichnen und zu zeigen, wie alle Cultur auf Vorstellungen ruht, die hinfällig sind. Gefährliche Bedeutung der Kunst: als Bewahrerin und Galvanisirung abgestorbener und absterbender Vorstellungen. Der Historie, insofern sie uns in überwundene Gefühle zurückversetzen will. "Historisch" empfinden, "gerecht sein gegen Vergangenes" ist nur möglich, wenn wir zugleich darüber hinaus sind. Aber die Gefahr bei der hier geforderten Anempfindung ist gross: lassen wir doch die Todten ihre Todten begraben: so nehmen wir nicht selber Leichengeruch an. 5 [158] Der Tod der alten Cultur. 1. Bisherige Bedeutung der Alterthumsstudien, unklar, lügnerisch. 2. Sobald sie ihr Ziel erkennen, verurtheilen sie sich zum Tode: denn ihr Ziel ist, die alte Cultur selbst als eine zu vernichtende zu beschreiben. 3. Sammlung aller der Vorstellungen, aus denen die hellenische Cultur herausgewachsen ist. Kritik der Religion, Kunst, der Gesellschaft, des Staates, der Sitte. 4. Die christliche ist mit verneint. 5. Kunst und Historie – gefährlich. 6. Ersetzung der Alterthumsstudien, die für die Jugenderziehung hinfällig geworden sind. So ist die Aufgabe der Wissenschaft der Geschichte gelöst, und sie selber ist überflüssig geworden: wenn der ganze innerlich zusammenhängende Kreis vergangner Bestrebungen verurtheilt worden ist. An ihre Stelle muss die Wissenschaft um die Zukunft treten.
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5 [159] Der Lese- und Schreiblehrer und der Corrector sind die ersten Typen des Philologen. 5 [160] Unsre Philologen verhalten sich zu wirklichen Erziehern, wie die Medizinmänner der Wilden zu wirklichen Ärzten. Welche Verwunderung wird eine ferne Zeit haben! 5 [161] Alles mit Kritik. 2. Litteratur. 2. Religiöse Vorstellungen. 2. Sittliche Vorstellungen. 1. Erziehung. 1. Verkehr, der Geschlechter, der Länder usw. der Stände. 2. Staat. 1. Kunst der Sprache, Begriff des Gebildeten und Ungebildeten. 2. Die Philosophie und Wissenschaft. 1. Über klassische Philologie und das Alterthum in der neueren Zeit. 1. Über Griechen und Römer. Nach 5½ Jahren, d. h. Herbst 1875 – Ostern 81. Ostern 82 + 7½= 89½, z. B. 45-46 Jahre alt. 5 [162] Die Dichter sind rückständige Wesen und eine Brücke zu ganz fernen Zeiten, eigentlich immer Epigonen. Sind sie also nöthig? Es ist ihnen vorzuwerfen, was der Religion vorzuwerfen ist, dass sie vorläufige Beruhigungen geben und etwas Palliativisches haben. Sie halten die Menschen ab, an einer wirklichen Verbesserung zu arbeiten, indem sie selbst die Leidenschaft der Unbefriedigung aufheben und ableiten. 5 [163] Die Mittel gegen Schmerz, welche die Menschen anwenden, sind vielfach Betäubungen. Religion und Kunst gehören zu den Betäubungen durch Vorstellungen. Sie gleichen aus und beschwichtigen; es ist eine Stufe der niedrigen Heilkunst seelischer Schmerzen. Beseitigung der Ursache des Leidens durch eine Annahme, z. B. wenn ein Kind gestorben, anzunehmen, 604
es lebe noch, schöner, und es gebe einmal eine Vereinigung. So soll die Religion für den Armen da sein, mit ihrer Vertröstung. Ist die Tragödie für den noch möglich, der keine metaphysische Welt glaubt? Man muss zeigen, wie auch das Höchste der bisherigen Menschheit auf dem Grund jener niederen Heilkunst gewachsen ist. 5 [164] Wir sehen auf eine ziemliche Zeit Menschheit zurück; wie wird eine Menschheit einmal aussehen, welche auf uns ebenso fernher hinsicht? Welche uns noch ganz ertränkt findet in den Überbleibseln der alten Cultur. Welche nur im „Hülfreich und Gutsein" ihren Trost findet und alle andern Tröstungen abweist! – Wächst auch die Schönheit aus der alten Cultur heraus? Ich glaube, unsre Hässlichkeit hängt von unsern metaphysischen Überbleibseln ab; unsere Verworrenheit der Sitte, unsre Schlechtigkeit der Ehen usw. ist die Ursache. Der schöne Mensch, der gesunde und mässige und unternehmende Mensch formt um sich dann auch zum Schönen, zu seinem Abbild. 5 [165] Im griechischen Götterwesen und Cultus findet man alle Anzeichen eines rohen und düstern uralten Zustandes, in dem die Griechen etwas sehr verschiedenes geworden wären, wenn sie drin verharren mussten. Homer hat sie befreit, mit der eigenthümlichen Frivolität seiner Götter. Die Umbildung einer wilden düstern Religion zu einer homerischen ist doch das grösste Ereigniss. Nun beachte man die Gegenströmungen, das Sich-offenbaren der alten Vorstellungen, das Ergreifen verwandter, ausländischer. 1. Rohe und düstere Urzeiten. Fetischdienst. Menschenopfer usw. Todtenangst und Dienst. 2. Schauspiele des Cultus. 3. Spätere Regungen und Aufleben der ältesten düsteren Religion. 4. Die Erleichterung und Frivolität der Religion. Die Dichter Joniens. 5. Betäubungen und Ausflüchte gegen den Schmerz und die Schwierigkeiten des Lebens. 6. Das Deuteln und Dichten am Mythus, das Versöhnen und Mengen. 7. Der Unglaube. 8. Die Kunst als rückständig und gegen die Aufklärung, im Ganzen wirkend. 9. Der Staat sucht sein Fundament, im Religiösen. Ebenso die Gesellschaft. 10. Die Religion, um das Volk zu unterhalten, gegen Noth und Langeweile zu bewahren. Cultus. 1. Gebet. (Fluch, Eid.)
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2. Opfer. 3. Ekstase und ihre Mittel. Mantik. Orakel. Beschwörung. Zauberei. Der Priester. 4. Orientirung. (Tempelf) 5. Reinigung. (Mysterie.) 6. Complicirte Formen: Feste mit Schauspielen. a. Staatsculte. b. Gent Culte c. Häuslicher Cult d) Todtencult. 5 [166] Über Religion. I Die Liebe der Kunstgriff des Christenthums in seiner Vieldeutigkeit. (Die Geschlechtsliebe im Alterthum bei Empedokles rein gefaßt.) II Die christliche Liebe, auf Grund der Verachtung. III Die Thätigkeit des Christen im Gegensatz zu der buddhistischen Ruhe. IV Keine Religion der Rache und Gerechtigkeit! die Juden das schlechteste Volk. V Eingeschmuggelte Begriffe: stellvertretender Tod. VI Der Priesterstaat. Heuchler. Abneigung gegen ernste Fassung aller Probleme. (Cultus Opfer, Zwingung der Götter.) VII Die größte Versündigung am Verstand der Menschheit ist das historische Christenthum. VIII Gott ganz überflüssig. IX Der Untergang der Menschheit: nichts Ewiges. X Verächtlichkeit aller Motive, Unreinheit des Denkens, Grundfehler aller Typen, Stände, Bestrebungen. XI Entweder unter Illusionen allein leben: oder in der schwierigen Weise, ohne Hoffnung, ohne Täuschung, ohne Vorsehungen, ohne Erlösungen und Unsterblichkeiten: aber mit einem Blick erbarmensvoller Liebe gegen sich selbst. Scheidung zweier Weltbetrachtungen, die des Alltags und die der seltensten Augenblicke des Gefühls und des Denkens. (Verachtung und Liebe, Einsicht und Gefühl gleich mächtig.) Diese Fassung der Religion fordert die Wissenschaft (als Werkzeug der verachtungsvollen Einsicht in die Schwäche und Ziellosigkeit der Menschen). Sie nimmt immer zu, je höher die Erkenntniß der Welt steigt. –
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Der Kampf mit der Nothwendigkeit – das eine Princip des Lebens. Die Einsicht in das Täuschende aller Ziele und Erbarmen mit sich selbst – das andre. 5 [167] Das Griechenthum durch die That zu überwinden wäre die Aufgabe. Aber dazu müßte man es erst kennen! – es giebt eine Gründlichkeit, welche nur der Vorwand der Thatenlosigkeit ist. Man denke, was Goethe vom Alterthum verstand; gewiß nicht soviel als ein Philologe und doch genug, um fruchtbar mit ihm zu ringen. Man sollte sogar nicht mehr von einer Sache wissen, als man auch schaffen könnte. Überdies ist es selbst das einzige Mittel, etwas wahrhaft zu erkennen, wenn man versucht es zu machen. Man versuche alterthümlich zu leben – man kommt sofort hundert Meilen den Alten näher als mit aller Gelehrsamkeit. – Unsre Philologen zeigen nicht, daß sie irgend worin dem Alterthum nacheifern – deshalb ist ihr Alterthum ohne Wirkung auf die Schüler. Studium des Wetteifers (Renaissance, Goethe) und Studium der Verzweiflung! 5 [168] Es liegt nicht viel an einem richtig emendirten Autor. 5 [169] Das falsche Bild der Beschäftigung mit den Alten hemmt selbst die Besseren. 5 [170] Die Wissenschaften werden vielleicht einmal von den Frauen betrieben: die Männer sollen geistig schaffen, Staaten Gesetze Kunstwerke usw. 5 [171] Man soll das vorbildliche Alterthum nur studiren, wie man einen vorbildlichen Menschen studirt: also so viel man begreift, nachahmend, und wenn das Vorbild sehr fern ist, über die Wege und Vorbereitungen sinnend, und Mittelstadien erfindend. Das Maaß des Studiums liegt darin: nur was zur Nachahmung reizt, was mit Liebe ergriffen wird und fortzuzeugen verlangt, soll studirt werden. Da wäre das Richtigste: ein fortschreitender Kanon des Vorbildlichen, angepaßt für jüngere junge und ältere Menschen. 5 [172] In der Art hat Goethe das Alterthum ergriffen: immer mit wetteifernder Seele. Aber wer sonst? Man sieht nichts von einer durchdachten Pädagogik dieser Art: wer weiß, daß es Erkenntnisse des Alterthums giebt, die Jünglingen unmittheilbar sind! 5 [173] Der knabenhafte Charakter der Philologie: für Schüler von Lehrern erdacht. 5 [174] 607
Immer allgemeinere Gestalt des Vorbildlichen: erst Menschen, dann Institutionen, endlich Richtungen Absichten oder deren Mangel. Höchste Gestalt: Überwindung des Vorbildes mit dem Rückgange von Tendenzen zu Institutionen, von Institutionen zu Menschen. 5 [175] Die Förderung einer Wissenschaft auf Unkosten der Menschen ist die schädlichste Sache von der Welt. Der verkümmerte Mensch ist ein Rückschritt der Menschheit; er wirft in alle Zeit hinaus seinen Schatten. Es entartet die Gesinnung, die natürliche Absicht der einzelnen Wissenschaft: sie selber geht daran endlich zu Grunde; sie steht gefördert da, wirkt aber nicht, oder unmoralisch auf das Leben. 5 [176] Menschen nicht als Sache benutzen! 5 [177] Von der sehr unvollkommenen Philologie und Kenntniß des Alterthums gieng ein Strom von Freiheit aus, unsere hochentwickelte knechtet und dient dem Staatsgötzen. 5 [178] Je besser der Staat eingerichtet ist, desto matter die Menschheit. Das Individuum unbehaglich zu machen: meine Aufgabe! Reiz der Befreiung des Einzelnen im Kampfe! Die geistige Höhe hat ihre Zeit in der Geschichte, vererbte Energie gehört dazu. Im idealen Staat ist es damit vorbei. 5 [179] Die geistige Cultur Griechenlands eine Aberration des ungeheuren politischen Triebes nach αοιοτευειν. – Die πολιζ höchst ablehnend gegen neue Bildung. Trotzdem existirte die Cultur. 5 [180] Höchstes Urtheil über das Leben nur aus der höchsten Energie des Lebens, der Geist muß am weitesten von der Mattheit entfernt sein. In der mittleren Weltgeschichte wird das Urtheil am richtigsten sein, weil da die größten Genien existiren. Erzeugung des Genius als des Einzigen, der das Leben wahrhaft schätzen und verneinen kann. 5 [181] 608
Walter Scott liebte die Gesellschaft, weil er erzählen wollte; er übte sich, wie ein Virtuose sieben Stunden Klavier übt. 5 [182] Rettet euren Genius! soll den Leuten zugerufen werden, befreit ihn! Thut alles, um ihn zu entfesseln! 5 [183] Die Matten, geistig Armen dürfen über das Leben nicht urtheilen. 5 [184] Wenn gute Freunde usw. mich loben, so bin ich öfter aus Höflichkeit und Wohlwollen scheinbar erfreut und dankbar; aber in Wahrheit ist es mir gleichgültig. Mein eigentliches Wesen ist ganz träge dagegen und ist keinen Schritt dadurch aus der Sonne oder dem Schatten wo es liegt herauszuwälzen. – Aber die Menschen wollen durch Lob eine Freude machen und man würde sie betrüben, wenn man sich über ihr Lob nicht freute. 5 [185] Man muß von der Zukunft der Menschheit nicht erwarten, was bestimmte Vergangenheiten erzeugten z. B. die Wirkungen des religiösen Gefühls. Vielleicht ist der Typus des Heiligen nur bei einer gewissen Befangenheit des Intellekts möglich, mit der es vorbei ist. Selbst die Höhe der Intelligenz ist vielleicht einem Zeitalter der Menschheit aufgespart gewesen. Ungeheure Energie des Willens, auf geistige Bestrebungen übertragen (aberration) – nur möglich, so lange jene Wildheit und Energie groß gezüchtet war. Dem Ziel der Menschheit kommt sie vielleicht auf der Mitte ihres Weges näher als am Ende. – Es könnten Kräfte, von denen die Kunst bedingt ist, aussterben z. B. die Lust am Lügen, am Undeutlichen Symbolischen usw., auch der Rausch könnte in Mißachtung kommen. Und im Grunde: ist das Leben im idealen Staate geordnet, dann ist keine Dichtung der Gegenwart mehr möglich: besten Falls blickt sie mit Sehnsucht zurück, nach den Zeiten des unidealen Staates. 5 [186] Kindheit und Knabenalter hat sein Ziel in sich, ist nicht Stufe. 5 [187] Ich wünsche ein Buch über die Lebensweise der Gelehrten. 5 [188] Ziele. Der Werth des Lebens kann nur durch den höchsten Intellekt und das wärmste Herz gemessen werden. Wie sind die höchsten Intelligenzen zu erzeugen? –
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Die Ziele der menschlichen Wohlfahrt im Groben sind ganz andre: als die höchste Intelligenz zu erzeugen. Das Wohlleben gilt viel zu hoch und ist ganz äußerlich genommen, auch die Schule und die Erziehung. Der ideale Staat, den die Socialisten träumen, zerstört das Fundament der großen Intelligenzen, die starke Energie. Wir müssen wünschen, daß das Leben seinen gewaltsamen Charakter behalte, daß wilde Kräfte und Energien hervorgerufen werden. Das Urtheil über den Werth des Daseins ist das höchste Resultat der kräftigsten Spannung im Chaos. Nun will das wärmste Herz Beseitigung jenes gewaltsamen, wilden Charakters; während es doch selbst aus ihm hervorgieng! Es will Beseitigung seines Fundaments! Das heißt, es ist nicht intelligent. Die höchste Intelligenz und das wärmste Herz können nicht in Einer Person zusammen sein. Die höchste Intelligenz ist höher als alle Güte, auch diese ist nur etwas bei der Gesammtrechnung des Lebens Abzuschätzendes, der Weise steht darüber. Der Weise muß den Gedanken der unintelligenten Güte widerstreben, weil ihm an der Wiedererzeugung seines Typus liegt. Mindestens kann er nicht den idealen Staat fördern. – Christus förderte die Verdummung der Menschen, er hielt die Erzeugung des großen Intellekts auf. Consequent! Sein Gegenbild würde vielleicht der Erzeugung von Christus' hinderlich sein. – Fatum tristissimum generis humani! 5 [189] Procemium Wäre ich schon frei, so würde ich das ganze Ringen nicht nöthig haben, sondern mich zu einem Werke oder Thun wenden, an dem ich meine ganze Kraft erproben könnte. – Jetzt darf ich nur hoffen, allmählich frei zu werden; und ich spüre bis jetzt, daß ich es immer mehr werde. So kommt auch wohl mein Tag der eigentlichen Arbeit noch, und die Vorbereitung zu den olympischen Spielen ist vorüber. – 5 [190] Es steht mir noch bevor, Ansichten zu äußern, welche als schmählich für den gelten, welcher sie hegt; da werden auch die Freunde und Bekannten scheu und ängstlich werden. Auch durch dies Feuer muß ich hindurch. Ich gehöre mir dann immer mehr. – 5 [191] Wer zum Bewußtsein über die Erzeugung des Genies käme und die Art, wie die Natur verfährt, auch praktisch durchführen wollte, würde so böse und so rücksichtslos wie die Natur selbst sein müssen. 5 [192] Ich finde Xenophons Memorabilien sehr interessant. Man muß Sokrates' Vorbild noch anerkennen: es ist sofort noch nachahmbar. Die ανδοαποδισται εαυτων stechen mich. 610
5 [193) Platon's Sokrates ist im eigentlichen Sinne eine Carricatura, eine Überladung. 5 [194] Mißhandelt die Menschen, treibt sie zum Äußersten, und das durch Jahrtausende – da springt, durch eine Verirrung der Natur, durch einen abspringenden Funken der dadurch entzündeten furchtbaren Energie, auf einmal der Genius hervor. – So redet die Geschichte zu mir. Schreckliches Gesicht! Weh! Ich ertrag' dich nicht! – 5 [195] Die Griechen der Kaiserzeit sind matt und nehmen sich ganz gut als Typen der zukünftigen Menschheit aus. Sie erscheinen menschenfreundlich, namentlich gegen Rom, verabscheuen Gladiatorenkämpfe usw. – Es ist ganz falsch, von da aus Schlüsse auf ihre Jugendzeit zu machen. 5 [196] Homer ist in der vermenschlichten Götterwelt so zu Hause und hat als Dichter ein solches Behagen, daß er tief unreligiös gewesen sein muß. Er verkehrt wie der Bildhauer mit seinem Thon und Marmor. 5 [197] Die griechische Polis ist ausschließend gegen die Bildung, ihr politischer Trieb war auf dieser Seite höchst lähmend und stabilisirend. Es sollte keine Geschichte kein Werden in der Bildung sein, sie sollte ein für allemal fest sein. So wollte es später auch Plato. Trotz der Polis entstand die höhere Bildung: indirekt sogar durch sie, weil der Ehrgeiz des Individuums durch sie aufs Höchste gehoben wurde. Gerieth ein Grieche auf die geistige Auszeichnung, so ging er bis in's letzte Extrem. 5 [198] Urbevölkerung griechischen Bodens: mongolischer Abkunft mit Baum- und Schlangenkult. Die Küste mit einem semitischen Streifen verbrämt. Hier und da Thrakier. Die Griechen haben alle diese Bestandtheile in ihr Blut aufgenommen, auch alle Götter und Mythen mit (in den Odysseusfabeln manches Mongolische). Die dorische Wanderung ist ein Nachstoß, nachdem schon früher alles allmählich überfluthet war. Was sind "Rassegriechen"? Genügt es nicht anzunehmen, daß Italiker mit thrakischen und semitischen Elementen gepaart Griechen geworden sind? 5 [199] Denkt man an die ungeheure Masse von Sklaven auf dem Festlande, so waren Griechen immer nur sporadisch zu finden. Eine höhere Kaste von Nichtthuern Politikern usw. Ihre Feindschaften hielten sie in leiblicher und geistiger Spannung. Sie mußten ihre Superiorität an Qualität festhalten – das war ihr Zauber über die Massen. 5 [200] 611
Die Rede des Perikles ein großes optimistisches Trugbild, die Abendröthe, bei der man den schlimmen Tag vergißt – die Nacht kommt hinterdrein.
[Dokument: Heft] [Sommer? 1875] 6 [1] Nachahmung des Alterthums. Das Mittel, die Philologie, macht dem Philologen die Nachahmung unmöglich. Kennen ohne können. Daher: entweder rein historisch geworden – oder die Philologie zu Grunde gegangen (Schiller). Selbst die historische Erkenntniss des Alterthums ist vermittelt durch die Reproduction, die Nachahmung. Das Goethische Griechenthum (die griechische σωϕοοσυνη in der Kunst auf den moralischen Menschen übertragen). 6 [2] Das griechische Alterthum als classische Beispielsammlung für die Erklärung unsrer ganzen Cultur und ihrer Entwicklung. Es ist ein Mittel uns zu verstehen, unsre Zeit zu richten und dadurch zu überwinden. Das pessimistische Fundament unsrer Cultur. 6 [3] Socrates, um es nur zu bekennen, steht mir so nahe, dass ich fast immer einen Kampf mit ihm kämpfe. 6 [4] Wissenschaft und Weisheit im Kampfe. Wissenschaft (NB. bevor sie Gewohnheit und Instinkt ist) entsteht 1) wenn die Götter nicht gut gedacht werden. Grosser Vortheil irgend etwas als fest zu erkennen. 2) der Egoismus treibt den Einzelnen an, bei gewissen Beschäftigungen z. B. Schiffahrt seinen Nutzen zu suchen, durch Wissenschaft. 612
3) etwas für vornehme Leute, die Musse haben. Neugierde. 4) im wilden Hin und Her der Meinungen des Volks will der Einzelne ein festeres Fundament. Wodurch unterscheidet sich dieser Trieb zur Wissenschaft vom Triebe überhaupt etwas zu lernen und anzunehmen? Nur durch den geringeren Grad des Egoismus oder die weitere Spannung desselben. Einmal ein Sich-verlieren in die Dinge. Zweitens eine über das Individuum ausgedehnte Selbstsucht. Weisheit zeigt sich 1) im unlogischen Verallgemeinern und zum letzten Ziele Fliegen. 2) in der Beziehung dieser Resultate auf das Leben. 3) in der unbedingten Wichtigkeit, welche man seiner Seele beilegt. Eins ist Noth. Socratismus ist einmal
Weisheit im Ernstnehmen der Seele. zweitens Wissenschaft als Furcht und Hass vor der unlogischen Verallgemeinerung. drittens etwas eigenthümliches durch die Forderung des bewussten und logisch correcten Handelns.
Daraus entsteht Schaden für die Wissenschaft, für das ethische Leben. 6 [5] Wissenschaft und Weisheit im Kampfe, dargestellt an den ältern griechischen Philosophen. 6 [6] 1) Wie zeigt sich in diesen ältern Griechen die Welt gefärbt? 2) Wie verhalten sie sich zu den Nichtphilosophen? 3) An ihren Personen liegt viel: diese zu errathen, ist der Sinn meiner Betrachtung ihrer Lehren. 4) Wissenschaft und Weisheit im Kampfe bei ihnen. 5) Ironische Novelle: alles ist falsch. Wie der Mensch sich an einen Balken klammert. 6 [7]
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Es giebt auch eine Art, diese Geschichte zu erzählen, ironisch und voll Trauer. Ich will jedenfalls den ernsthaftgleichmässigen Ton vermeiden. Socrates wirft das Ganze um, in einem Augenblick, wo es sich der Wahrheit noch am meisten genähert hatte; das ist besonders ironisch. Alles auf dem Hintergrund des Mythos aufzumalen. Dessen grenzenlose Unsicherheit und Wogen. Man sehnt sich nach Sicherem. Nur wohin der Strahl des Mythus fällt, da leuchtet das Leben des Griechen; sonst ist es düster. Nun berauben sich diese Philosophen des Mythus; also wie halten sie es in dieser Düsterkeit aus? – Das Individuum, welches auf sich selbst stehen will. Da braucht es letzte Erkenntnisse, Philosophie. Die andern Menschen brauchen langsam anwachsende Wissenschaft. Oder vielmehr: es ist ein Glaube nöthig, solche letzte Erkenntnisse zu besitzen. Einen solchen Grad von Gläubigkeit für das eigene Erkennen wird es nie wieder geben, wie ihn jene alten Griechen besaßen: aber die Schwierigkeit und Gefahr des Erkennens stand ihnen noch nicht vor der Seele; sie hatten einen handfesten Glauben an sich, mit dem sie alle ihre Nachbarn und Vorgänger niederwarfen. Das Glück im Besitz der Wahrheit war nie größer auf der Welt, aber auch nie die Härte, der Übermuth, das Tyrannische. In seinen geheimen Wünschen war jeder Grieche Tyrann; und überhaupt jeder war es, der es sein konnte, vielleicht mit Ausnahme des Solon, nach seinen eigenen Gedichten zu schließen. Auch die Unabhängigkeit ist nur scheinbar: zuletzt knüpft jeder an seinen Vorgänger an. Phantasma an Phantasma. Es ist komisch, alles so ernst zu nehmen. Die ganze ältere Philosophie als curioser Irrgarten-Gang der Vernunft. Es ist eine Traum- und Märchentonart anzustimmen. 6 [8] Aristoteles in seinem aesthetischen Urtheil. gegen Empedocles. in Betreff der Tragödie. Demosthenes. Thucydides. bildende Kunst. Musik. 6 [9]
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Nebeneinander geht die Entwicklung der griechischen Musik und Philosophie. Vergleich beider, insofern beide Aussagen machen über das hellenische Wesen. Die Musik freilich nur aus ihrem Niederschlag als Lyrik uns bekannt. Empedocles – Tragödie
Sacrale Monodie
Heraclit – Archilochus
Xenophanes sympotisch.
Democrit – Anacreon Pythagoras – Pindar Anaxagoras – Simonides. Alles Vergleichen von Personen ist schief und dumm. 6 [10] Die Philosophien sind Hadesschatten gegenüber dem griechischen Leben: sie spiegeln es wieder, aber wie auf einer Rauchwolke. Hinter solchen Menschen muss man her sein, bis sie wieder von einem Dichter nachgeschaffen sind: die ergänzende Phantasie Vieler muss hier arbeiten. Sie sind zu selten, als dass man sie laufen lassen könnte. Das wenige, was sich mit Kritik und Umdrehen und Ausschütteln jeder Notiz erreichen lässt! 6 [11] Einleitung. 1. Cap. Vergleichung der älteren griechischen Philosophen mit den Sectenphilosophen nach Socrates. 2. Cap.
Die Zeitverhältnisse der älteren Philosophen.
Erzählung: Es hängt so viel von der Entwicklung der griechischen Cultur ab, da unsre ganze abendländische Welt daher ihre Antriebe bekommen hat: das Verhängniß wollte, daß das jüngere und entartete Griechenthum am meisten historische Kraft gezeigt hat. Darüber ist das ältere Griechenthum immer falsch beurtheilt worden. Das jüngere muß man genau kennen, um es von dem älteren zu unterscheiden. Es giebt noch sehr viele Möglichkeiten, die noch gar nicht entdeckt sind: weil die Griechen sie nicht entdeckt haben. Andere haben die Griechen entdeckt und später wieder verdeckt. 6 [12] Diese Philosophen beweisen, welche Gefahren die griechische Cultur in sich schloß –
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der Mythus als Faulbett – dagegen die kalte Abstraktion des Denkens und die strenge Wissenschaft. Democrit. die weichliche Behag-
dagegen Genügsamkeit, strenge asketische
lichkeit des Lebens
Auffassung bei Pythagoras, Empedocles, Anaximander.
Grausamkeit in Kampf
dagegen Empedocles mit seiner Reform des Opfers.
und Streit Lüge und Betrug –
dagegen Begeisterung für das Wahre bei jeder Consequenz.
Schmiegsamkeit, über-
dagegen Heraklits Stolz und Einsamkeit.
triebene Geselligkeit 6 [13] Diese Philosophen zeigen die Lebenskraft jener Cultur, die ihre eigenen Corrective erzeugt. Wie stirbt diese Zeit ab? Unnatürlich. Wo stecken denn nur die Keime des Verderbens? Die Flucht der Besseren aus der Welt war ein großes Unglück. Von Sokrates an: das Individuum nahm sich zu wichtig mit einem Male. Die Pest kam hinzu, für Athen. Dann ging man an den Perserkriegen zu Grunde. Die Gefahr war zu groß und der Sieg zu außerordentlich. Der Tod der großen musikalischen Lyrik und der Philosophie. Sokrates ist die Rache für Thersites: der herrliche Achill schlug den häßlichen Volksmann Thersites todt, vor Zorn über seine Worte bei Pentesileas Tode; der häßliche Volksmann Sokrates schlug die Auktorität des herrlichen Mythus in Griechenland todt. 6 [14] Die ältere griechische Philosophie ist die Philosophie von lauter Staatsmännern. Wie elend steht es mit unsern Staatsmännern! Das unterscheidet übrigens die Vorsokratiker und die Nachsokratiker am meisten. Bei ihnen hat man nicht "die garstige Pretension auf Glück" wie von Socrates ab. Es dreht sich doch nicht alles um den Zustand ihrer Seele: denn über den denkt man nicht ohne Gefahr nach. Später wurde das γνωϑ ι σαυτον des Apoll mißverstanden.
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Auch schwätzten und schimpften sie nicht so, auch schrieben sie nicht. Das geschwächte Griechenthum, romanisirt, vergröbert, decorativ geworden, dann als decorative Cultur vom geschwächten Christenthum als Bundesgenosse acceptirt, mit Gewalt verbreitet unter uncivilisirten Völkern – das ist die Geschichte der abendländischen Cultur. Das Kunststück ist geleistet, und das Griechische und das Pfäffische zusammengebracht. Ich will Schopenhauer Wagner und das ältere Griechenthum zusammenrechnen: es giebt einen Blick auf eine herrliche Cultur. 6 [15] Vergleichung der älteren Philosophie mit der nachsokratischen. 1) die ältere ist mit der Kunst verwandt, ihre Welträthsellösung hat mehrmals von der Kunst sich inspiriren lassen. Geist der Musik und der bildenden Kunst. 2) sie ist nicht die Negation des andern Lebens, sondern aus ihm als seltne Blüthe gewachsen; sie spricht dessen Geheimnisse aus. (Theorie-Praxis) 3) sie ist nicht so individuell-eudärnonologisch, ohne die garstige Pretension auf Glück. 4) diese ältern Philosophen selbst haben in ihrem Leben höhere Weisheit und nicht die kalt-kluge Tugendhaftigkeit. Ihr Lebensbild ist reicher und complicirter, die Sokratiker simplificiren und banalisiren. 6 [16] Die dreigegliederte Geschichte des Dithyrambus: 1 der arionische – daraus die ältere Tragödie 2 der agonale Staats-Dithyramb – parallel die zahme Tragödie 3 der mimetische, genialisch-wüst. 6 [17] Mehrfach ist bei den Griechen eine ältere Form die höhere z. B. beim Dithyramb und der Tragödie. Die Gefahr der Griechen lag im Virtuosenthum aller Art; mit Sokrates beginnen die Lebensvirtuosen, Socrates, der neuere Dithyramb, die neuere Tragödie, die Erfindung des Rhetors! Der Rhetor ist eine griechische Erfindung! der späteren Zeit. Sie haben die "Form an sich" erfunden (und auch den Philosophen dazu). Wie ist der Kampf Plato's gegen die Rhetorik zu verstehen? Er beneidet ihren Einfluss. Das ältere Griechenthum hat seine Kräfte in der Reihe von Philosophen offenbart. Mit Socrates bricht diese Offenbarung ab: er versucht sich selbst zu erzeugen und alle Tradition abzuweisen. 617
Meine allgemeine Aufgabe: zu zeigen, wie Leben Philosophie und Kunst ein tieferes und verwandtschaftliches Verhältniss zu einander haben können, ohne dass die Philosophie flach ist und das Leben des Philosophen lügenhaft wird. Herrlich ist, dass die alten Philosophen so frei leben konnten, ohne dabei zu Narren und Virtuosen zu werden. Die Freiheit des Individuums war unermesslich gross. Der falsche Gegensatz von vita practica und contemplativa ist asiatisch. Die Griechen verstanden es besser. 6 [18] Man kann diese älteren Philosophen darstellen als solche, die die griechische Luft und Sitte als Bann und Schranke fühlen: also Selbstbefreier (Kampf des Heraclit gegen Homer und Hesiod, Pythagoras gegen die Verweltlichung, alle gegen den Mythus, besonders Democrit). Sie haben eine Lücke in ihrer Natur, gegenüber dem griechischen Künstler und wohl auch Staatsmann. Ich fasse sie wie die Vorläufer einer Reformation der Griechen: aber nicht des Socrates. Vielmehr kam ihre Reformation nicht, bei Pythagoras blieb es sectenhaft. Eine Gruppe von Erscheinungen tragen alle diesen Reformations-Geist – die Entwicklung der Tragödie. Der misslungene Reformator ist Empedocles; als es ihm misslang, blieb nur noch Socrates übrig. So ist die Feindschaft des Aristoteles gegen Empedocles sehr begreiflich. Empedocles – Freistaat – Umänderung des Lebens – volksthümliche Reform – Versuch mit Hülfe der grossen hellenischen Feste. – Die Tragödie war ebenfalls ein Mittel. Pindar? Sie haben ihren Philosophen und Reformator nicht gefunden, man vergleiche Plato: der ist durch Socrates abgelenkt. Versuch einer Characteristik Platos ohne Socrates. Tragödie – tiefe Auffassung der Liebe – reine Natur – keine fanatische Abkehr: offenbar waren die Griechen im Begriff einen noch höheren Typus des Menschen zu finden, als die früheren waren; da schnitt die Scheere dazwischen. Es bleibt beim tragischen Zeitalter der Griechen. 6 [19] 1. Bild der Hellenen hinsichtlich ihrer Gefahren und Verderbnisse. 2. Gegenbild der tragischen Strömungen dagegen. Neue Deutung des Mythus. 3. Die Ansätze zu Reformatoren. Versuche das Weltbild zu gewinnen. 4. Die Entscheidung – Sokrates. Der abgelenkte Plato. 6 [20] Die Leidenschaft bei Mimnermus, der Hass gegen das Alter. Die tiefe Melancholie bei Pindar: nur wenn ein Strahl von oben kommt, leuchtet das Menschenleben. 618
Die Welt vom Leiden aus zu verstehen ist das Tragische in der Tragödie. 6 [21] Thales – das Unmythische. Anaximander – Vergehen und Entstehen in der Natur moralisch als Schuld und Strafe. Heraclit – Gesetzmässigkeit und Gerechtigkeit in der Welt. Parmenides – die andere Welt hinter dieser; diese als Problem. Anaxagoras – Weltenbaumeister. Empedocles – blinde Liebe und blinder Hass; das tief Unvernünftige im Vernünftigsten der Welt. Democrit – die Welt ist ganz ohne Vernunft und Trieb, zusammengeschüttelt. Alle Götter und Mythen unnütz. Socrates: da bleibt mir nichts als ich mir selbst; Angst um sich selbst wird die Seele der Philosophie. Plato's Versuch, alles zu Ende zu denken und der Erlöser zu sein. 6 [22] Es sind die Personen zu schildern: so wie ich Heraclit geschildert habe. Das Historische mit hineinzuflechten. 6 [23] In der ganzen Welt herrscht die Allmählichkeit, bei den Griechen geht es schnell vorwärts, aber auch furchtbar schnell abwärts. Als der hellenische Genius seine höchsten Typen erschöpft hatte, da sank der Grieche auf das Geschwindeste. Es musste nur einmal eine Unterbrechung eintreten, und die grosse Lebensform nicht mehr ausgefüllt werden: sofort war es vorbei; gerade wie bei der Tragödie. Ein einziger mächtiger Querkopf wie Socrates – da war der Riss unheilbar. In ihm vollzieht sich die Selbstzerstörung der Griechen. Ich glaube, es macht, dass er der Sohn eines Bildhauers war. Wenn einmal diese bildenden Künste reden würden, sie würden uns oberflächlich erscheinen; in Socrates, dem Sohne des Bildhauers, kam ihre Oberflächlichkeit heraus. 6 [24] Die Menschen sind witziger geworden während des Mittelalters; das Rechnen nach zwei Maassen, die Spitzfindigkeit des Gewissens, die Auslegung der Schrift sind die Mittel gewesen. Diese Art Schärfung des Geistes durch den Druck einer Hierarchie und Theologie fehlte dem Alterthum. Vielmehr sind die Griechen umgekehrt unter der grossen Freiheit des 619
Gedankens vielgläubisch und flach gewesen, man fing nach Belieben an und hörte nach Belieben auf, etwas zu glauben. Dafür fehlt ihnen die Lust am verdrehten Scharfsinn, und damit die beliebteste Art Witz aus der neueren Zeit. Die Griechen waren wenig witzig; darum hat man solches Aufheben von der Ironie des Socrates gemacht. Ich finde Plato darin oft etwas täppisch. 6 [25] Die Griechen waren mit Empedocles und Democrit auf dem besten Weg die menschliche Existenz, ihre Unvernunft, ihr Leiden richtig zu taxiren; dazu sind sie nie gelangt, Dank Socrates. Der unbefangene Blick auf die Menschen fehlt allen Sokratikern, die greuliche Abstracta "das Gute, das Gerechte" im Kopf haben. Man lese Schopenhauer und frage sich, warum es den Alten an einem solchen Tief- und Freiblick gefehlt hat – haben müsste? Das sehe ich nicht ein. Im Gegentheil. Sie verlieren durch Socrates die Unbefangenheit. Ihre Mythen und Tragödien sind viel weiser als die Ethiken Plato's und Aristoteles'; und ihre, stoischen und epikurischen" Menschen sind arm, gegen ihre älteren Dichter und Staatsmänner. 6 [26] Socrates' Wirkung: 1) er zerstörte die Unbefangenheit des ethischen Urtheils, 2) vernichtete die Wissenschaft, 3) hatte keinen Sinn für die Kunst, 4) riss das Individuum heraus aus dem historischen Verbande, 5) dialectische Rederei und Geschwätzigkeit befördert. 6 [27] Ich glaube nicht mehr an die „naturgemässe Entwicklung" der Griechen: sie waren viel zu begabt, um in jener schrittweisen Manier, allmählich zu sein, wie es der Stein und die Dummheit sind. Die Perserkriege sind das nationale Unglück: der Erfolg war zu gross, alle schlimmen Triebe brachen heraus, das tyrannische Gelüst ganz Hellas zu beherrschen wandelte einzelne Männer und einzelne Städte an. Mit der Herrschaft von Athen (auf geistigem Gebiete) sind eine Menge Kräfte erdrückt worden; man denke nur, wie unproductiv Athen für Philosophie lange Zeit war. Pindar wäre als Athener nicht möglich gewesen. Simonides zeigt es. Und Empedocles wäre es auch nicht, Heraclit nicht. Alle grossen Musiker kommen fast von Aussen. Die athenische Tragödie ist nicht die höchste Form, die man denken könnte. Den Helden derselben fehlt doch das Pindarische gar zu sehr. Überhaupt: wie grässlich war es, dass der Kampf gerade zwischen Sparta und Athen ausbrechen musste – das kann gar nicht tief genug betrachtet werden. Die geistige Herrschaft Athens war die Verhinderung jener Reformation. Man muss sich einmal dahinein denken, wo diese Herrschaft noch gar nicht da war: nothwendig war sie nicht, sie wurde es erst in Folge der Perserkriege, d. h. erst, nachdem es die physische politische Macht zeigte. Milet war z. B. viel begabter, Agrigent auch.
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6 [28] Der Tyrann, der thun kann wozu er Lust hat, d. h. der Grieche, der durch keine Gewalt in Schranken gehalten wird, ist ein ganz maassloses Wesen: "er stürzt die Gebräuche des Vaterlands um, thut den Weibern Gewalt an und tödtet Menschen nach Willkür". Ebenso zügellos ist der tyrannische Freigeist, vor dem die Griechen ebenfalls Angst haben. Königshass – Zeichen der demokratischen Gesinnung. Ich glaube: die Reformation wäre möglich gewesen, wenn ein Tyrann ein Empedocles gewesen wäre. Plato sprach mit seiner Forderung des Philosophen auf dem Throne einen ehemals möglichen Gedanken aus: er fand den Einfall, nachdem die Zeit, ihn zu verwirklichen, vorüber war. Periander? – 6 [29] Ohne den Tyrannen Pisistratus hätten die Athener keine Tragödie gehabt: denn Solon war dagegen, aber die Lust daran war einmal geweckt. Was wollte Pisistratus mit diesen grossen Trauer-erregungen? Solons Abneigung gegen die Tragödie: man denke an die Beschränkungen der Trauerfestlichkeiten bei Todesfällen, das Verbieten von Threnoi. Bei den milesischen Frauen wird µανιχον πενϑ οζ ; erwähnt. Nach der Anecdote ist es die Verstellung welche Solon missfällt; das unkünstlerische Naturell des Atheners zeigt sich. Kleisthenes, Periander und Pisistratus die Beförderer der Tragödie als einer Volkslustbarkeit, der Lust µανιχον πενϑ οζ. Solon will Mässigung. 6 [30] Die centralisirenden Tendenzen, durch die Perserkriege entstanden: ihrer haben sich Sparta und Athen bemächtigt. Dagegen war 776-560 davon nichts da: die Cultur der Polis blühte; ich meine, ohne Perserkriege hätte man die Centralisationsidee durch eine Reformation des Geistes bekommen -Pythagoras? Auf die Einheit der Feste und des Cultus kam es damals an: hier hätte auch die Reform begonnen. Der Gedanke einer panhellenischen Tragödie – da wäre noch eine unendlich reichere Kraft entwickelt worden. Warum kam es nicht dazu? Nachdem Korinth Sikyon und Athen diese Kunst entwickelt hatten. 6 [31] Der grösste Verlust, der die Menschheit treffen kann, ist ein Nichtzustandekommen der höchsten Lebenstypen. So etwas ist damals geschehen. Eine scharfe Parallele zwischen diesem Ideal und dem christlichen. Zu benutzen die Bemerkung Schopenhauers: "vorzügliche und edle Menschen werden jener Erziehung des Schicksals bald inne und fügen sich bildsam und dankbar in dieselbe; sie sehn ein, dass in der Welt wohl Belehrung, aber nicht Glück zu finden sei und sagen endlich mit Petrarca ,altro diletto, che 'mparar, non provo'. Es kann damit sogar dahin kommen, dass sie ihren Wünschen und Bestrebungen gewissermaassen nur noch zum Schein und tändelnd nachgehn, eigentlich aber und im Ernst ihres Innern, bloss 621
Belehrung erwarten; welches ihnen alsdann einen beschaulichen, genialen, erhabenen Anstrich giebt." – Parerga I 439. Damit vergleiche man die Socratiker und die Jagd nach Glück! 6 [32] Die entsetzliche Unterredung der Athener mit den Meliern bei Thucydides! Es musste bei solchen Gesinnungen das Hellenische zu Grunde gehen, durch Angst auf allen Seiten. Z. B. wie der Athener sagt: "was das Wohlwollen der Götter betrifft, so werden wir nicht im Nachtheil sein; denn wir verlangen und thun nichts, was ausser der menschlichen Art liegt, weder in Bezug auf den Glauben an die Götter noch auch in dem, was die Menschen für sich selbst wünschen." 6 [33] Luther: "ich habe kein besser Werk denn Zorn und Eifer: denn wenn ich wohl dichten, schreiben, beten und predigen will, so muss ich zornig sein, da erfrischt sich mein ganz Geblüt, mein Verstand wird geschärft und alle unlustigen Gedanken und Anfechtungen weichen." 6 [34] Es ist eine schöne Wahrheit, dass einem, dem Besserwerden oder Erkennung Lebensziele geworden sind, alle Dinge zum Besten dienen. Aber doch nur beschränkt wahr: ein Erkennenwollender zu ermüdendster Arbeit gezwungen, ein Besserwerdender durch Krankheiten entnervt und zerrüttet! Im Ganzen mag es gelten: die anscheinende Absichtlichkeit des Schicksals ist die That des Einzelnen, der sein Leben zurechtlegt und aus allem lernt, Erkenntniss saugend wie die Biene Honig. Das Schicksal, aber, welches ein Volk trifft, trifft ein Ganzes, welches nicht so seine Existenz überdenken und mit Zielen versehen kann; und so ist die Absichtlichkeit bei Völkern eine Erschwindelung von Grübelköpfen, nichts ist leichter als die Nichtabsichtlichkeit zu zeigen z. B. daran, dass eine Zeit im vollsten Aufblühen plötzlich von einem Schneefall betroffen wird, dass alles stirbt. Es ist darin ganz so dumm wie in der Natur. Bis zu einem Grad setzt wohl jedes Volk selbst unter den ungünstigsten Verhältnissen etwas durch, was an seine Begabung erinnert. Aber damit es sein Bestes leisten könne, müssen einige Unfälle nicht eintreten. Die Griechen haben ihr Bestes nicht geleistet. Auch die Athener wären etwas Höheres geworden ohne den politischen Furor seit den Perserkriegen: man denke an Aeschylus, der aus der vorpersischen Zeit stammt und der mit den Athenern seiner Zeit unzufrieden war. 6 [35] Durch die Ungunst der Lage der griechischen Städte nach den Perserkriegen sind viele günstige Bedingungen zum Entstehen und zur Entwicklung grosser Einzelner beseitigt worden: und so hängt allerdings die Erzeugung des Genius am Schicksal der Völker. Denn Ansätze zu Genie's sind sehr häufig, aber sehr selten das Zusammentreffen aller nöthigsten Begünstigungen.
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Diese Reformation der Hellenen, wie ich sie träume, wäre ein wunderbarer Boden für die Erzeugung von Genien geworden: wie es noch nie einen gab. Das wäre zu beschreiben. Da ist uns unsägliches verloren gegangen. 6 [36] Die höhere sittliche Natur der Hellenen zeigt sich in ihrer Ganzheit und Vereinfachtheit; dadurch dass sie den Menschen vereinfacht zeigen, erfreuen sie uns, wie der Anblick der Thiere. 6 [37] Das Streben der Philosophen geht dahin, zu verstehen, was seine Mitmenschen nur leben. Während sie ihr Dasein sich deuten und seine Gefahren verstehen, deuten sie zugleich auch ihrem Volke ihr Dasein. Ein neues Weltbild an Stelle des volksthümlichen will der Philosoph setzen. 6 [38] Thales' Städtebund: er sah das Verhängniss der Polis und sah den Mythus als das Fundament der Polis. Brach er den Mythus, dann vielleicht auch die Polis. Thales als Staatsmann. Kampf gegen die Polis. Heraclits Stellung zu den Persern: er war über die Gefahr des Hellenischen und Barbarischen klar. Anaximander als Coloniengründer. Parmenides als Gesetzgeber. Empedocles der Democrat, der sociale Reformen im Schilde führt. 6 [39] Die Verführer der Philosophen sind die Worte, sie zappeln in den Netzen der Sprache. 6 [40] Die Macht des Einzelnen ist ausserordentlich in Griechenland: Städte gründen, Gesetze geben. 6 [41] Wissenschaft ergründet den Naturverlauf, kann aber niemals dem Menschen befehlen. Neigung Liebe Lust Unlust Erhebung Erschöpfung – das kennt alles die Wissenschaft nicht. Das was der Mensch lebt und erlebt, muss er sich irgendworaus deuten; dadurch abschätzen. Die Religionen haben ihre Kraft , dass sie Werthmesser sind, Maassstäbe. Im Mythus
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gesehen sieht ein Ereigniss anders aus. Die Deutung der Religionen hat das an sich, dass sie menschliches Leben nach menschenartigen Idealen misst. 6 [42] Aeschylus hat vergebens gelebt und gekämpft: er kam zu spät. Das ist das Tragische in der griechischen Geschichte: die grössten wie Demosthenes kommen zu spät, um das Volk herauszuheben. Aeschylus verbürgt auch eine Höhe des griechischen Geistes, die mit ihm ausstirbt. 6 [43] Man bewundert jetzt das Evangelium der Schildkröte – ach, die Griechen liefen zu rasch. Ich suche nicht nach glücklichen Zeiten in der Geschichte, aber nach solchen, welche einen günstigen Boden für die Erzeugung des Genius bieten. Da finde ich die Zeiten vor den Perserkriegen. Man kann sie nicht genau genug kennen lernen. 6 [44] 1. Diese Philosophen isolirt für sich. 2. Dann als Zeugen für das Hellenische. (Ihre Philosophien Hadesschatten des griechischen Wesens.) 3. Dann als Kämpfer gegen die Gefahren des Hellenischen. 4. Dann im Verlauf der hellenischen Geschichte als misslungene Reformatoren. 5. Dann im Gegensatz zu Socrates und den Secten, und zu der vita contempl als Versuche eine Lebensform zu gewinnen, die noch nicht gewonnen ist. 6 [45] Manche Menschen leben ein dramatisches Leben, manche ein episches, manche ein unkünstlerisches und verworrenes. Die griechische Geschichte hat durch die Perserkriege einen daemon ex machina. 6 [46] Bei Anaxagoras: der νουζ ist ein αϑ εοζ ex machina. 6 [47] Versuch einer Volkscultur. Verschwendung des kostbarsten Griechengeistes und Griechenblutes! Daran ist zu zeigen, wie die Menschen viel besonnener leben lernen müssen. Die Tyrannen des Geistes in Griechenland sind fast immer ermordet worden, und haben nur spärliche Nachkommenschaft gehabt. Andre Zeiten haben ihre Kraft gezeigt im zu Ende Denken und im alle Möglichkeiten Verfolgen Eines grossen Gedankens: die christlichen z. B. Aber bei den Griechen war diese 624
Übermacht zu erlangen sehr schwer; alles war da in Feindschaft unter einander. Stadtcultur allein bis jetzt bewiesen – jetzt noch leben wir davon. Stadt-cultur Welt-cultur Volks-cultur: wie schwach bei den Griechen, eigentlich doch nur die athenische Stadtcultur, verblasst. 6 [48] 1. Es kommt wohl für jeden eine Stunde, wo er mit Verwunderung vor sich selbst fragt: Wie lebt man nur! Und man lebt doch! – eine Stunde, wo er zu begreifen anfängt, dass er eine Erfindsamkeit besitzt von der gleichen Art wie er sie an der Pflanze bewundert, die sich windet und klettert und endlich sich etwas Licht erzwingt und ein wenig Erdreich dazu und so ihr Theil Freude in einem unwirthlichen Boden sich selber schafft. In den Beschreibungen die einer von seinem Leben macht, giebt es immer solchen Punct, wo man Staunt, wie hier die Pflanze noch leben kann und wie sie doch mit einer unerschütterlichen Tapferkeit daran geht. Nun giebt es Lebensläufte, wo die Schwierigkeiten ins Ungeheure gewachsen sind, die der Denker; und hier muss man, wo etwas davon erzählt wird, aufmerksam hinhören, denn hier vernimmt man etwas von Möglichkeiten des Lebens, von denen nur zu hören Glück und Kraft bringt und auf das Leben der Späteren Licht herabgiesst, hier ist alles so erfinderisch, besonnen, verwegen, verzweifelt und voller Hoffnung, wie etwa die Reisen der grössten Weltumsegler und auch in der That etwas von der gleichen Art, Umsegelungen der entlegensten und gefährlichsten Bereiche des Lebens. Das Erstaunliche in solchen Lebensläuften liegt darin, dass zwei feindselige, nach verschiedenen Richtungen hin drängende Triebe hier gezwungen werden, gleichsam unter Einem Joche zu gehen; der welcher das Erkennen will, muss den Boden, auf dem der Mensch lebt, immer wieder verlassen und sich ins Ungewisse wagen, und der Trieb, der das Leben will, muss immer wieder sich zu einer ungefähr sicheren Stelle hintasten, auf der sich stehen lässt; wir werden an James Cook erinnert, der sich mit dem Senkblei in der Hand durch eine Kette von Klippen hindurch tasten musste, drei Monate lang: und dessen Gefahren oft so anwuchsen, dass er sogar in einer Lage, die er kurz vorher für eine der gefährlichsten gehalten hatte, gerne wieder Schutz suchte. Lichtenberg IV 152. Jener Kampf zwischen Leben und Erkennen wird um so grösser, jenes unter Einem Joch Gehen um so seltsamer sein, je mächtiger beide Triebe sind, also je voller und blühender das Leben, und wiederum je unersättlicher das Erkennen ist und je begehrlicher es zu allen Abenteuern hindrängt. 2. Ich werde darum nicht satt, mir eine Reihe von Denkern vor die Seele zu stellen, von denen jeder einzelne jene Unbegreiflichkeit an sich hat und jene Verwunderung erwecken muss, wie er gerade seine Möglichkeit des Lebens fand: die Denker, welche in der kräftigsten und fruchtbarsten Zeit Griechenlands, in dem Jahrhundert vor den Perserkriegen und während derselben lebten: denn diese Denker haben sogar schöne Möglichkeiten des Lebens entdeckt; und es scheint mir, dass die späteren Griechen das Beste davon vergessen haben: und welches Volk könnte bis jetzt sagen, es habe sie wiederentdeckt? – Man vergleiche die Denker anderer Zeiten und andrer Völker mit jener Reihe von Gestalten, die mit Thales beginnt und mit Democrit endet, ja man stelle Socrates und seine Schüler und alle die Sectenhäupter des späteren Griechenlands neben jene Altgriechen hin – nun wir wollen es in dieser Schrift thun und hoffentlich werden es andere noch besser thun: immerhin glaube ich, dass jede Betrachtung mit diesem Ausrufe enden wird: Wie schön sind sie! Ich sehe keine verzerrten 625
und wüsten Gestalten darunter, keine pfäffischen Gesichter, keine entfleischten WüstenEinsiedler, keine fanatischen Schönfärber der gegenwärtigen Dinge, keine theologisirenden Falschmünzer, keine gedrückten und blassen Gelehrten: ich sehe auch jene nicht darunter, die es mit dem "Heil ihrer Seele" oder mit der Frage: was ist das Glück, so wichtig nehmen, dass sie Welt und Mitmenschen darüber vergessen. – Wer „diese Möglichkeiten des Lebens" wieder entdecken könnte! Dichter und Historiker sollten über dieser Aufgabe Wüten: denn solche Menschen sind zu selten, dass man sie laufen lassen könnte. Vielmehr sollte man sich gar nicht eher Ruhe geben, als bis man ihre Bilder nachgeschaffen und sie hundertfach an die Wand gemalt hat – und ist man so weit, – dann freilich wird man sich erst recht nicht Ruhe geben. Denn unserer so erfinderischen Zeit fehlt noch immer gerade jene Erfindung, welche die alten Philosophen gemacht haben müssen: woher käme sonst ihre wunderwürdige Schönheit! woher unsre Hässlichkeit! – Denn was ist Schönheit, wenn nicht das von uns erblickte Spiegelbild einer ausserordentlichen Freude der Natur, darüber dass eine neue fruchtbare Möglichkeit des Lebens entdeckt ist? Und was ist Hässlichkeit, wenn nicht ihr Missmuth über sich selbst, ihr Zweifel, ob sie die Kunst zum Leben zu verführen, wirklich noch verstelle? 3. Die griechische Philosophie scheint mit einem ungereimten Einfalle zu beginnen, mit dem Satze, daß das Wasser der Ursprung und der Mutterschooß aller Dinge sei; ist es wirklich nöthig, darf man sich fragen, hierbei stehen zu bleiben und sich ernst zu besinnen? – Ja, und aus drei Gründen: erstens weil der Satz etwas vom Ursprung der Dinge aussagt, zweitens weil er dies ohne Bild und mythische Fabelei thut und endlich drittens, weil in ihm, wenngleich nur im Zustande der Verpuppung, der Gedanke enthalten ist: Alles ist eins. Der erstgenannte Grund läßt Thales noch in der Gemeinschaft mit Religiösen und Abergläubischen, der zweite nimmt ihn aus dieser Gesellschaft heraus und zeigt ihn als ersten Naturforscher, auf den dritten Grund hin gilt Thales als der erste griechische Philosoph. In Thales siegt zum ersten Male der wissenschaftliche Mensch über den mythischen und wieder der weise Mensch über den wissenschaftlichen. 6 [49] Wie war es nur möglich, daß sich Thales vom Mythus lossagte! Thales als Staatsmann! Hier muß etwas vorgefallen sein. War die Polis der Brennpunkt des hellenischen Willens und beruhte sie auf dem Mythus, so heißt den Mythus aufgeben soviel wie den alten Polisbegriff aufgeben. Nun wissen wir, daß Thales die Gründung einer Eidgenossenschaft von Städten vorschlug, aber nicht durchsetzte: er scheiterte an dem alten mythischen Polisbegriff. Zugleich ahnte er die ungeheure Gefahr Griechenlands, wenn diese isolirende Macht des Mythus die Städte getrennt hielt. In der That: hätte Thales seine Eidgenossenschaft zu Stande gebracht, so wäre Griechenland vom Perserkriege verschont geblieben, und damit auch vom Athener-Siege und Übergewicht. Um die Veränderung des Polisbegriffs und die Schaffung einer panhellenischen Gesinnung bemühen sich alle ältern Philosophen. Heraklit scheint sogar die Schranke zwischen Barbarisch und Hellenisch niedergerissen zu haben, um größere Freiheit zu schaffen und die engen Anschauungen vorwärts zu bringen. – Die Bedeutung des Wassers und des Meeres für den Griechen. 6 [50] Thales: was trieb ihn zur Wissenschaft und Weisheit? –
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Vor allem aber der Kampf gegen den Mythus. Gegen die Polis, die auf ihm fundirt ist. Einziges Mittel das Hellenische zu schützen; die Perserkriege abzuwenden. Bei allen Philosophen ein panhellenischer Zweck. Anaximander. Kampf gegen den Mythus, insofern er verweichlicht und verflacht und so die Griechen in Gefahr bringt. Heraclit. Kampf gegen den Mythus, insofern er die Griechen isolirt und sie den Barbaren entgegenstellt. Er denkt über eine Weltordnung nach, die überhellenisch ist. Parmenides. Theoretische Geringschätzung der Welt, als einer Täuschung. Kampf gegen das Phantastische und Wogende der ganzen Weltbetrachtung: er will dem Menschen Ruhe geben gegen die politische Leidenschaft. Gesetzgeber. Anaxagoras. Die Welt als unvernünftig, aber doch maassvoll und schön: so sollte der Mensch sein und so fand er ihn in den älteren Athenern, Aeschylus usw. Seine Philosophie Spiegelbild des älteren Athen: Gesetzgebung für Menschen, die keine brauchen. Empedocles. Panhellenischer Reformator, pythagoreisches Leben, wissenschaftlich begründet. Neue Mythologie. Einsicht in die Unvernunft der beiden Triebe, Liebe und Hass. Liebe Democratie Gütergemeinschaft. Vergleich mit Tragödie. Democrit: die Welt ist unvernünftig, auch nicht maassvoll und schön, sondern nur nothwendig. Unbedingte Beseitigung alles Mythischen. Die Welt ist begreiflich. Er will die Polis (an Stelle des epikurischen Gartens); das war eine Möglichkeit des hellenischen Lebens. Socrates. Die tragische Geschwindigkeit der Griechen. Die älteren Philosophen haben nicht gewirkt. Die Lebensvirtuosen: die älteren Philosophen denken immer ikarisch. 6 [51] Die Griechen sind gewiß nie überschätzt worden: denn da müßte man sie doch auch so geschätzt haben, wie sie es verdienen; aber gerade das ist unmöglich. Wie sollten wir ihnen gerecht in der Schätzung sein können! Nur falsch geschätzt haben wir sie.
[Dokument: Mappe loser Blätter] [1875] 7 [1] Die Verehrung des klassischen Alterthums, wie sie die Italiäner zeigten, das heisst also die einzig ernsthafte uneigennützige hingebende Verehrung, welche das Alterthum bis jetzt gefunden hat, ist ein grossartiges Beispiel der Don Quixoterie: und so etwas ist also Philologie besten Falls. So schon bei den alexandrinischen Gelehrten, so bei allen den Sophisten des ersten und zweiten Jahrhunderts, bei den Atticisten usw. Man ahmt etwas rein Chimärisches nach, und läuft einer Wunderwelt hinterdrein, die nie existirt hat. Es geht ein solcher Zug schon durch das Alterthum: die Art, wie man die homerischen Helden copirte, der ganze Verkehr mit dem Mythus hat etwas davon. Allmählich ist das ganze Griechenthum selber zu 627
einem Objecte des Don Quixote geworden. Man kann unsre moderne Welt nicht verstehn, wenn man nicht den ungeheuren Einfluss des rein Phantastischen einsieht. Dem steht nun entgegen: es kann keine Nachahmung geben. Alles Nachahmen ist nur ein künstlerisches Phänomen, also auf den Schein gerichtet; etwas Lebendiges kann Manieren Gedanken usw. annehmen durch Nachahmung, aber sie kann nichts erzeugen. Eine Kultur, welche der griechischen nachläuft, kann nichts erzeugen. Wohl kann der Schaffende überall her entlehnen und sich nähren. Und so werden wir auch nur als Schaffende etwas von den Griechen haben können. Worin aber wären die Philologen Schaffende! Es muss einige unreinliche Gewerbe geben, Abdecker; auch Correctoren: sollen die Philologen etwa so ein unreinliches Gewerbe vorstellen? 7 [2] Entstehung des Philologen. Dem grossen Kunstwerk wird sich beim Erscheinen desselben immer ein Betrachter gegenüberstellen, der seine Wirkung nicht nur empfindet, sondern sie auch verewigen möchte. So auch dem grossen Staate, kurz allem, was den Menschen erhebt. So wollen die Philologen die Wirkung des Alterthums verewigen: das können sie nur als nachschaffende Künstler. Nicht als nachlebende Men<schen?> 7 [3] Entstehung der Philologie. (Brauchte das Alterthum einen Stand von Vertretern?) Jetzige Entstehung des Philologen. Ihr Verhältniss zu den Griechen. Ihre Einwirkung auf die Nichtphilologen. Die Philologen der Zukunft – ob es welche geben wird? 7 [4] Freundschaft Göttin höre gnädig das Lied das wir jetzt singen der Freundschaft Wohin auch blickt das Auge der Freunde übervoll vom Glück der Freundschaft: hülfreich nahe uns Morgenröthe im Blick und ewiger Jugend treues Pfand in der heil'gen Rechten. 7 [5] Beim Durchmustern der Geschichte der Philologie fällt auf, wie wenig wirklich begabte Menschen dabei betheiligt gewesen sind. Unter den berühmtesten sind einige, die sich ihren Verstand durch Vielwisserei zerstört haben, und unter den Verständigsten darunter solche, die mit ihrem Verstande nichts anzufangen wussten als Mücken zu seihen. Es ist eine traurige 628
Geschichte, ich glaube, keine Wissenschaft ist so arm an Talenten. Es sind die Lahmen im Geiste, die in der Wortklauberei ihr Steckenpferd. gefunden haben. Ich ziehe vor, etwas zu schreiben, was so gelesen zu werden verdient, wie die Philologen ihre Schriftsteller lesen, als über einem Autor zu hocken. Und überhaupt – auch das geringste Schaffen steht höher als das Reden über Geschaffnes. 7 [6] Dass es Gelehrte giebt, welche sich ausschliesslich mit der Erforschung des griechischen und des römischen Alterthums beschäftigen, wird jeder billig, ja lobenswürdig und vor allem begreiflich finden, falls er überhaupt die Erforschung des Vergangenen billigt: dass dieselben Gelehrten aber zugleich die Erzieher der edlern Jugend, der reichen Stände sind, ist nicht ebenso leicht verständlich: hier liegt ein Problem. Warum sie gerade? Das versteht sich doch nicht so von selbst, wie das, wenn der Gelehrte der Heilkunst auch heilt und Arzt ist. Denn stünde es gleich, so müsste Beschäftigung mit dem griechischen und römischen Alterthum gleich sein mit „Wissenschaft der Erziehung". Kurz: das Verhältniss von der Theorie und Praxis im Philologen ist nicht so schnell einzusehen. Wie kommt er zu dem Anspruch, der Lehrer im höheren Sinne zu sein und nicht nur alle wissenschaftlichen Menschen, sondern überhaupt alle Gebildeten zu erziehn? – Diese erziehende Kraft müsste also der Philologe doch dem Alterthume entnehmen; da fragt man denn erstaunt: wie kommen wir dazu, einer fernen Vergangenheit den Werth beizulegen, dass wir nur mit Hülfe ihrer Erkenntniss gebildet werden können? – Eigentlich fragt man nicht so oder selten so: vielmehr besteht die Herrschaft der Philologie über das Erziehungswesen fast unbezweifelt, und das Alterthum hat jene Geltung. In so fern ist die Lage des Philologen günstiger als die jedes andern Jüngers der Wissenschaft: er hat zwar noch nicht die grösste Masse von Menschen, die seiner bedürfen; der Arzt z. B. hat noch viel mehrere. Aber er hat ausgesuchte Menschen und zwar Jünglinge in der Zeit, wo alles knospt; solche, die Zeit und Geld auf eine höhere Entwicklung verwenden können. So weit sich jetzt die europäische Bildung erstreckt, hat man die Gymnasien auf lateinisch-griechischer Grundlage angenommen, als erstes und oberstes Mittel. Damit hat die Philologie die rechte und beste Gelegenheit gefunden, sich fortzupflanzen und Achtung vor sich zu erwecken: hierin steht keine andre Wissenschaft so günstig. Im Ganzen halten auch alle die, welche durch solche Anstalten hindurch gegangen sind, an der Vortrefflichkeit der Einrichtung fest; sie sind unbewusste Verschworene zu Gunsten der Philologie; erschallt einmal ein Wort dagegen, von solchen die nicht auf diesem Wege gegangen sind, so erfolgt die Ablehnung so einmüthig und so still, als ob klassische Bildung eine Art von Zauberei sei, beglückend und durch diese Beglückung sich jedem Einzelnen beweisend; man polemisirt gar nicht, "man hat's ja erlebt". Nun giebt es viele Dinge, an welche der Mensch sich so gewöhnt hat, dass er sie für zweckmässig hält; denn die Gewohnheit mischt allen Dingen Süssigkeit bei und nach der Lust schätzen die Menschen meistens das Recht einer Sache. Die Lust am klassischen Alterthum, wie sie jetzt empfunden wird, soll nun einmal darauf hin geprüft und zerlegt werden, wie viel daran jene Lust der Gewohnheit, wie viel Lust der Ungewohnheit ist: ich meine jene innere thätige neue und junge Lust, wie sie eine fruchtbare Überzeugung von Tage zu Tage erweckt, die Lust an einem hohen Ziele, die auch die Mittel dazu will: wobei man Schritt für Schritt weiter kommt, aus einem Ungewohnten in's andere Ungewohnte: wie ein Alpensteiger. Auf welchem Grunde beruht die grosse Schätzung des Alterthums in der Gegenwart, dass man darauf die ganze moderne Bildung aufbaut? Wo ist der Ursprung dieser Lust? Dieser Bevorzugung des Alterthums? 629
Bei dieser Untersuchung glaube ich erkannt zu haben, dass auf demselben Grund, auf dem das Ansehen des Alterthums als wichtigen Erziehungsmittels ruht, auch die ganze Philologie, ich meine ihre ganze jetzige Existenz und Kraft ruht. Das Philologenthum als Lehrerthum ist der genaue Ausdruck einer herrschenden Ansicht über den Werth des Alterthums und über die beste Methode der Erziehung. Zwei Sätze sind in diesem Gedanken eingeschlossen; erstens: alle höhere Erziehung muss eine historische sein, zweitens: mit der griechischen und römischen Historie steht es anders als mit allen andern, nämlich klassisch. So wird der Kenner dieser Historie zum Lehrer. Hier untersuchen wir den ersten Satz nicht, ob eine höhere Erziehung historisch sein müsse, sondern den zweiten: in wiefern klassisch? Darüber sind einige Vorurtheile sehr verbreitet. Erstens das Vorurtheil, welches im synonymen Begriff „Humanitätsstudien" liegt: das Alterthum ist klassisch, weil es die Schule des Humanen ist. Zweitens: "das Alterthum ist klassisch, weil es aufgeklärt ist." 7 [7] Il faut dire la vérité et s'immoler. Voltaire. Nehmen wir einmal an, es gäbe freiere und überlegenere Geister, welche mit der Bildung, die jetzt im Schwange geht, unzufrieden wären und sie vor ihren Gerichtshof führten: wie würde die Angeklagte zu ihnen reden? Vor allem so: "ob ihr ein Recht habt anzuklagen oder nicht, jedesfalls haltet euch nicht an mich, sondern an meine Bildner; diese haben die Pflicht mich zu vertheidigen und ich habe ein Recht zu schweigen: bin ich doch nichts als ihr Gebilde." Nun würde man die Bildner vorführen: und unter ihnen wäre auch ein ganzer Stand zu erblicken, der der Philologen. Dieser Stand besteht einmal aus solchen Menschen, welche ihre Kenntniß des griechischen und römischen Alterthums benutzen, um mit ihr Jünglinge von 1320 Jahren zu erziehen, und sodann aus solchen, welche die Aufgabe haben, derartige Lehrer immer von neuem heranzubilden, also Erzieher der Erzieher zu sein; die Philologen der ersten Gattung sind Lehrer an Gymnasien, die der zweiten Professoren an den Universitäten. Den ersteren übergiebt man ausgewählte Jünglinge, solche an denen Begabung und ein edlerer Sinn bei Zeiten sichtbar werden, und auf deren Erziehung die Eltern reichlich Zeit und Geld verwenden können; übergiebt man ihnen noch andre, welche diesen drei Bedingungen nicht entsprechen, so steht es in der Hand der Lehrer sie abzuweisen. Die zweite Gattung, aus den Philologen der Universität bestehend, empfängt die jungen Männer, welche sich zum höchsten und anspruchsvollsten Berufe, dem der Lehrer und Bildner des Menschengeschlechts, geweiht fühlen; wiederum steht es in ihrer Hand, die falschen Eindringlinge zu beseitigen. Wird nun die Bildung einer Zeit verurtheilt, so sind jedenfalls die Philologen schwer angegriffen: entweder nämlich wollen sie, in der Verkehrtheit ihres Sinnes, gerade jene schlechte Bildung, weil sie dieselbe für etwas Gutes halten, oder sie wollen sie nicht, sind aber zu schwach, das Bessere, das sie erkennen, durchzusetzen. Entweder liegt also ihre Schuld in der Mangelhaftigkeit ihrer Einsicht oder in der Ohnmacht ihres Willens. Im ersten Falle würden sie sagen, sie wüßten es nicht besser, im zweiten, sie könnten es nicht besser. Da aber die Philologen vornehmlich mit Hülfe des griechischen und römischen Alterthums erziehen, so könnte die im ersten Falle angenommene Mangelhaftigkeit ihrer Einsicht einmal darin sich zeigen, daß sie das Alterthum nicht verstehen; zweitens aber darin, daß das Alterthum von ihnen mit Unrecht in die Gegenwart hineingestellt wird, angeblich als 630
das wichtigste Hülfsmittel der Erziehung, weil es überhaupt nicht oder jetzt nicht mehr erzieht. Macht man ihnen dagegen die Ohnmacht ihres Willens zum Vorwurf, so hätten sie zwar darin volles Recht, wenn sie dem Alterthum jene erzieherische Bedeutung und Kraft zuschreiben, aber sie wären nicht die geeigneten Werkzeuge, vermittelst deren das Alterthum diese Kraft äußern könnte: das heißt: sie wären mit Unrecht Lehrer und lebten in einer falschen Stellung: aber wie kamen sie dann in diese hinein? Durch eine Täuschung über sich und ihre Bestimmung. Um also den Philologen ihren Antheil an der gegenwärtigen schlechten Bildung zuzuerkennen, könnte man die verschiedenen Möglichkeiten in diesen Satz zusammenfassen. Drei Dinge muß der Philologe, wenn er seine Unschuld beweisen will, verstehen, das Alterthum, die Gegenwart, sich selbst: seine Schuld liegt darin, daß er entweder das Alterthum nicht oder die Gegenwart nicht oder sich selbst nicht versteht. Erste Frage: versteht der Philologe das Alterthum? – – –
[Dokument: Heft] [Sommer 1875] 8 [1] Bücher für 8 Jahre. Schopenhauer. Dühring. Aristoteles. Goethe. Plato. 8 [2] Gegen die lyrische Poesie bei den Deutschen. Da lese ich, daß gar Mörike der größte deutsche Lyriker sein soll! Ist es nicht ein Verbrechen dumm zu sein, wenn man hier also Goethe nicht als den größten empfindet oder empfinden will? – Aber was muß da nur in den Köpfen spuken, welcher Begriff von Lyrik! Ich sah mir darauf diesen Mörike wieder an und fand ihn, mit Ausnahme von 4-5 Sachen in der deutschen Volkslied-Manier, ganz schwach und undichterisch. Vor allem fehlt es ganz an Klarheit der Anschauung. Und was die Leute an ihm musikalisch nennen, ist auch nicht viel: und zeigt wie wenig die Leute von der Musik wissen: die mehr ist als so ein süßliches-weichliches Schwimm-schwimm und Kling-kling! – Gedanken nun hat er gar nicht: und ich halte nur noch Dichter aus, die unter anderm auch Gedanken haben, wie Pindar und Leopardi. Aber was kann auf die Dauer einem diese Knaben-Unbestimmtheit des Gefühls sein, wie sie im deutschen Volkslied sich ausdrückt! Da lobe ich mir selbst noch eher Horaz, ob der schon recht bestimmt ist und die Wörtchen und Gedänkchen wie Mosaik setzt. 8 [3]
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Der Reihe nach: Dühring Werth des Lebens. Dühring Cursus der Philosophie. Reis Mathematik. Physik usw. Naturwissenschaftliche Bibliothek. National-Ökonomie. Gesundheitslehre. Geschichte. Erste Stunde des Tags dem Lernen gewidmet. Dann Ausarbeitung des Collegs. Im Seminar
Prometheus? Choephoren? Alcestis?
8 [4] Pläne aller Art: 1) der Cyclus von Collegien über griechisches Wesen. 2) Sammlung eines ungeheuren empirischen Materials der Menschenkenntniss. Dazu viele ältere Geschichtswerke, Romane usw. zu lesen, auch Briefe. 3) Dühring, als den Versuch einer Beseitigung Schopenhauer's durchzustudiren und zu sehen, was ich an Schopenhauer habe, was nicht. Hinterdrein noch einmal Schopenhauer zu lesen. 4) allmähliche Fortsetzung meiner Unzeitgemässen Betrachtungen, zunächst "Richard Wagner in Bayreuth", "die Philologen" "über Religion". 5) meine philologischen Arbeiten ausführen, damit sie nicht ganz mir aus dem Gedächtniss kommen. Den ersten Band einer Sammlung philologischer Arbeiten herauszugeben, enthaltend: "die Choephoren des Aeschylus" „über Rhythmus" „Hesiods und Homer's Wettkampf" „Diadoche der Philosophen". 6) mit meinen Schülern Baumgartner und Brenner die Vorstudien zu einer Lehre vom Stil. 7) im Pädagogium: Plato Ilias Moduslehre Agamemnon des Aeschylus. 632
8 [5] Goethe ist vor Allem ein Epiker, viel mehr als etwa Lyriker. Ganz falsch, in ihm den größten Lyriker zu sehen. 8 [6] Aeschylus ist, wie alle Dichter, unreligiös. 8 [7] Eins der schädlichsten Bücher ist der Don Quixote. 8 [8] Es bedarf keineswegs des „schönen Wetters", damit die Natur schön erscheine. Manche Natur bedarf sogar dazu des schlechten.
[Dokument: Heft] [Sommer 1875] 9 [1] Der Werth des Lebens von E. Dühring. 1865. Vorrede Dührings zum „Werth des Lebens". Er erwartet Anfeindung von vielen Seiten, glaubt bei der Schulphilosophie Anstoß gegeben zu haben, einmal weil er auf die wirthschaftliche Zukunft der Menschheit Rücksicht nimmt, dann weil er die Begriffe von Gerechtigkeit auf Rache zurückführt. Sonst weiß er sich in vollständiger Übereinstimmung mit dem Geiste der Zeit und meint, daß die Versuche, ihn zu beseitigen eben an diesem Geiste scheiter werden. Schlechter Stil, Mangel an Haltung und Höhe, verdorbne Manier der Kürze („materielle Gesichtspunkte", Nation entfernt sich von der Traumwelt, in welche der Schwerpunkt ihres Daseins fiel", "Vorwegnahme", "Rücksichtnahme", „kolossalen Dimensionen, welche das Denken annehmen muß"). In der Sprache ist etwas Unlogisches, doch keineswegs das Unlogische der enthusiastischen Reflexion, vielmehr eine Vereinigung von Unsauberkeit (Schlumperei), Nüchternheit und Mangel an Übung im Stil. An Schopenhauer darf ich nicht denken, auch was das Ethos betrifft. – Der "Weltverzweiflung" – schönes Wort – wird also nicht das Wort geredet. Er bezeichnet sich als den "entschiedensten Antagonisten" Schopenhauer's; aber "Hochachtung für sein Streben und seine Leistungen" hat er doch! – Auf Feuerbach führt er "die junge lebende kräftige Richtung zurück, die jetzt einen Theil der Würde der Philosophie zu wahren versteht indem sie der Dunkelmacherei mit Energie und Erfolg entgegentritt." Berlin 1865. Einleitung. – "die Stärke des Optimismus besteht im Übersehen und Ignoriren" des Disharmonischen in dieser Welt, der Pessimismus lagert zwei Systeme über einander", "kennt die Kraft des einheitlichen Denkens nicht". – So wäre also der Optimismus die Philosophie der logischeren 633
Menschen – was das Schließen aus dem vorliegenden Material betrifft, aber sie legen sich absichtlich ein unvollständiges Material vor und sehen über das andre weg. Die Lösung der Pessimisten ist eine unlogische, sie stellen zwei logisch unvereinbare Welten neben einander: denn die höhere Ordnung der Dinge soll die niedere bei ihnen nicht erklären, sondern aufheben, vernichten; oftmals nehmen sie gerade für die Existenz der wirklichen Welt die blinde Unvernunft als Ursache an. Es ist keine logische Noth, sondern eine poetische, welche den Pessimismus erzeugt. Während dem ist es überhaupt nicht die praktische Noth, welche den Optimismus erzeugt: sie haben das Behagen und machen nur, wenn sie von den Pessimisten gezwungen werden, den Ansatz, daraus ein System zu bilden und sich logisch zu rechtfertigen. So ist Optimismus wesentlich Selbstvertheidigung der Glücklichen gegen die Behauptungen der Pessimisten, Pessimismus ist aggressiv und hat in der Noth seine Mutter. Er ist älter und ursprünglicher als der Optimismus, produktiv, so daß er selbst noch seinen Gegensatz an's Licht ruft. Ego. Im Felde der praktischen Urtheile und Werthe giebt es kein reines Urtheil, keine reine Erkenntniß. In der Beschaffenheit unseres Strebens, unserer Absichten liegt die Wurzel aller unserer beistimmenden oder verwerfenden Urtheile über das Leben. Dies zur Kritik der Schopenhauerischen Philosophie. Gewisse Vorstellungen sind gar nicht möglich außer der Beziehung auf ein Wollen. Jeder Trieb ist ein Bedürfniß und enthält bereits die Vorstellung von der Existenz eines Gegenstandes der Befriedigung; so ist der Trieb ideenbildend. Der Gegensatz rein theoretischer Urtheile und praktischer Werthschätzungen ist der: ein theoretisches Urtheil stellt Übereinstimmung mit einem rein theoretischen Begriff hin, die praktische Werthschätzung Übereinstimmung mit einem Bestreben d. h. mit einer Sache, welche ein Maaß dessen schon hat, was sein soll. Das Gesammturtheil über den Werth des Lebens ist die Resultante der Elementarbestimmungen; es kann keinen tleoretischen Begriff geben, welcher im Voraus feststellte, wie das Leben beschaffen sein müßte, um unseren Beifall zu haben. Absurde Standpunkte sind also solche: das Übel ist zu leugnen, denn es ist nur vom Standpunkt des Menschen wirklich Übel. Oder mit Spinoza: nichts ist an sich verwerflich; erst das Wollen der Menschen stempelt dies zum Guten, jenes zum Bösen. Wenn man so das Menschliche überhaupt aufgiebt, so verliert man jedes Maaß für praktische Werthschätzung. Nebenbei verliert man das sittliche Urtheil (man darf nicht mehr von gut und böse reden, ja jede nicht rein theoretische Entscheidung müßte als Täuschung bezeichnet werden). – Also am Streben mißt sich der Werth der Dinge, für den gar nicht Strebenden giebt es keine Werthe, für den rein Erkennenden fehlt alles Gut und Böse, alles Zustimmen und Verwerfen. Der gar nicht Strebende giebt nur rein theoretische Urtheile. Mir scheint also, daß alle Höhe des Urtheils über den Werth des Lebens an der Höhe und Stärke des Strebens hinge d. h. einmal am Ziele, und zweitens an dem Grad des nach dem Ziele Hindrängens, Hinlaufens. Jede bejahende Werthschätzung ist ein Zustreben, jede Verneinung ein Entgegenstreben. Jedes praktische Urtheil läuft auf Zuneigung oder Abneigung zurück. Vielleicht gehört selbst alles rein Theoretische unter die Grundform des Praktischen. Der Verstand giebt das Gesetz, was verstandesmäßig ist, was nicht: also was sein soll, was nicht: er stimmt dem zu, was seinem eignen Wesen gemäß ist. Das Urtheil über den Werth des Lebens ist, kurz gesagt, eine Gemüthsbewegung – entweder Lebensdrang oder Lebensüberdruß. Dühring leugnet den Lebenshaß: es wäre eine Lebensregung, welche sich gegen das Leben selber regt. 634
Die Betrachtung über das Unabänderliche im Subjekt des Menschen ist daher die Vorarbeit: mit der Frage: ist vielleicht die ganze Anlage des Empfindungs- und Gemüthslebens mit einer harmonischen Entfaltung des Wesens unvereinbar? Ob diese Welt die beste sei, ist eine absurde Frage: wir haben gar keine Vorstellung von verschiedenen Möglichkeiten. Dühring stellt seine Aufgabe so: die widrigen Seiten des Daseins sollen in der Harmonie des Ganzen ihre Beleuchtung finden" (infam ausgedrückt!) „Das Übel läßt sich nicht zum Guten umprägen." "Schmerz bleibt Schmerz, welche Folgen er auch haben möge." "Obwohl die Welt weder dem Verstande noch dem Triebe völlig genügt, haben wir doch gar kein Mittel verstandesmäßig zu untersuchen, warum das Leben Übel einschließe." Welt und Leben sind gegebne Thatsache, unsere Aussöhnung mit ihren widrigen Seiten kann nur eine thatsächliche sein." „Diese Aussöhnung ist also selbst nur in Gestalt einer Bestrebung vorhanden." Man sucht die Resultante der vereinzelten Gemüthsbewegungen und benutzt diese als Widerstandskraft gegen die mannichfaltigen Eindrücke. So gelangt man zu einer zwar nicht mißklanglosen, aber doch zu einer Harmonie. Die Aussöhnung mit dem Einzelnen wird aus der Betrachtung des Ganzen geschöpft. Die theoretische Unmöglichkeit, nach dem Grunde des Thatsächlichen zu fragen, ist selbst schon Disharmonie. Einzig bleibt uns für unseren Verstand übrig „die Idee des einzelnen Ungemachs durch die Vorstellung eines größeren Zusammenhangs zu überwinden", die einzelne Vorstellung durch die Gesammtheit der übrigen zu modificiren. Aber die theoretische Versöhnung reicht nicht aus; wäre das Denken im Stande ungetrübte Ruhe zu geben, dann würde die beschauliche Weisheit (wie alles, was durch bloße Theorie zu befriedigen verspricht z. B. Kunst) die ausschließliche Theilnahme der Menschen verdienen. Aber sie ist nicht das Mittel, der Übel Herr zu werden. Die Philosophie gerade muß anerkennen, daß bloße Anordnung der Ideen nicht ausreicht, wenn es heißt, den Übeln gewachsen zu sein. Die That und das Bewußtsein der That muß hinzukommen; die wirkliche Änderung der Empfindungen muß den Vorstellungen eine andre Grundlage geben, die Stimmung muß geändert werden. Selbst eine Theorie, welche auf eine harmonische Aussicht der Welt ausgeht, kann die Voraussetzung nicht entbehren, daß Thatkraft gegen das übel noththut. Nur das, was für Menschen unveränderlich feststeht, mag bloß zu einer Anordnung der Ideen auffordern. Wo menschlicher Eingriff die Dinge noch ändern kann, da sind die Thaten das Erste. Der Optimismus wird häufig verächtlich, weil er die übel seiner Trägheit wegen beschönigt, auch ein großer Theil der Philosophen hat dort Unveränderlichkeit angenommen, wo menschliche Thatkraft noch Aussicht auf Erfolg hat. "Das Urtheil über den Werth des Lebens wird verschieden ausfallen, je nachdem man die Linie zwischen dem Unabänderlichen und dem durch Menschen Verschiebbaren zieht." Das sind die Gedanken der Einleitung. Kurz: aus den vielen einzelnen Werthschätzungen resultirt als Summe die jedesmalige Ansicht vom Werth des Lebens. Bei keiner Werthschätzung handelt es sich um reine Erkenntniß, alle sind Gemüths-Affektionen; jene Summe ist auch nichts als eine GemüthsAffektion: das Urtheil über den Werth des Lebens kann nie reine Erkenntniß sein. Ich will doch hinzufügen, daß es richtiger noch wäre, alle solche Urtheile unreine Erkenntnisse zu nennen: die Unreinheit liegt 1) in der Art, wie das Material vorliegt, sehr unvollständig z. B. 2) in der Art, wie daraus die Summe gebildet wird: so daß z. B. eine falsche 635
Verallgemeinerung gemacht wird (die Summe unserer Erfahrungen kann nie zu einem Urtheil über das Leben berechtigen), also der logische Ausdruck jener Summirung falsch ist 3) darin daß jedes einzelne Stück des Materials wieder das Resultat unreinen Erkennens ist; und zwar ganz nothwendig: keine Erfahrung z.B. über einen Freund kann vollständig sein, so daß wir ein logisches Recht zu einer Gesammtschätzung hätten. Alle Schätzungen sind voreilig und müssen es sein. Sodann ist das Maaß, womit wir messen, unser Wesen, keine unveränderliche Größe, wir haben Stimmungen usw., wir müßten uns selbst kennen, um gerecht das Verhältniß irgend einer Sache zu uns abzuschätzen. Sind somit alle Urtheile über den Werth des Lebens ungerecht und unlogisch entwickelt: so würde daraus folgen, daß man gar nicht urtheilen sollte? Wenn man aber nur leben könnte, ohne zu schätzen, ohne Abneigung und Zuneigung zu haben! Denn alles Abgeneigtsein hängt mit einer Schätzung zusammen, ebenso alles Geneigtsein. Trieb ohne jede begleitende Erkenntniß (über Förderndes Schädliches) existirt gar nicht. – Wir sind von vornherein unlogische und daher auch ungerechte Wesen und können dies erkennen! Das ist eine der ungeheuersten Disharmonien des Daseins! Wir tragen doch ein Maaß in uns, womit wir hier das Dasein messen und das ganz unverrückbar ist: es wird wohl der Satz der Identität sein. Wiederum ist dieses Maaß gerade die einzige Harmonie, welche wir kennen. Uns scheint es so, daß die disharmonische Welt existirt, jene Harmonie im Satz der Identität aber nichts als eine Theorie, eine Vorstellung ist. Kann man sich aber das Sich-Widersprechende als wirklich denken? Die sogenannte Wirklichkeits-Philosophie empfiehlt sich durch dies Wort dem populären Vorurtheil über Wirklich und Nichtwirklich. Aber wenn z. B. feststünde, daß ohne den Begriff einer harmonischen Wirklichkeit gar nicht die Dinge geschätzt werden könnten, nicht einmal falsch, so ist ja Urtheilen, Werthe-bestimmen selbst nichts andres als Messen der „wirklichen" Welt an einer, die uns für wirklicher gilt. Also: die Unterscheidung zweier Welten, von denen die eine die schlechtere ist, die unwirklichere im Vergleich zu einer wirklicheren besseren, die These somit des Pessimismus ist die Thatsache, welche allem Werthschätzen vorausliegt; sie liegt in der Constitution des urtheilenden Verstandes, der von der Identität als der ihm zugänglichen Welt ausgeht. Die Entstehung des Verstandes und seine Constitution ist nicht aus dem praktischen Verhalten zu den Dingen abzuleiten, der Verstand ist keine Herausbildung des Gemüths. Sondern alles Zuund Abneigen setzt schon den Verstand voraus und in ihm den Satz des Widerspruchs; ohne Logisches auch keine Empfindung, keine Stimmung, keine Vorstellung. I. Das Leben als Inbegriff von Empfindungen und Gemüthsbewegungen. Auf die Gesammtheit von Affektionen kommt es an; auch die durch Träume hervorgebrachten sind in Anschlag zu bringen. Überhaupt ist gleichgültig, ob eine Affektion auf Wahrheit oder Irrthum beruht. Das Leben ist nicht nur die Summe der Erregungen, die in's Bewußtsein treten. Art und Grad derselben ist zu verschieden. Die Systeme der Alten nahmen nur eine Art heraus und machten sie zum ausschließlichen Maaß der Beurtheilung: die Epikureer die Empfindung, die Stoiker das abstrakte Bewußtsein. So gelangten sie in der Praxis zu falschen Maximen. Die ersteren jagten den angenehmen Empfindungen nach und unterschätzten die gewaltige Macht der abstrakten Vorstellungen auf das Gemüth; die andern erkünstelten einen Triumph über Empfindung und Affekt, geriethen in Affektation und richteten sich so äußerlich nach der Schablone des Katechismus, ohne innerlich gesiegt zu haben: Grimasse und Schauspielerei. – Nicht einmal das Leben der Thiere besteht aus lauter Empfindungen; in den höheren Stufen hat es Gemüthsbewegungen; es hat z. B. Gram. Der Mensch sinkt, wenn er einmal sinkt, 636
immer unter das Thier. Mit dem Verzicht auf gewisse Elemente des vollen Lebens ist immer eine Entartung verknüpft. – Giebt es eine Ansicht, welche die Gemüthsbewegungen zum ausschließlichen Werthmesser macht? Dagegen hat in die abstrakteren Vorstellungen nicht nur der Stoicismus, sondern die ganze neuere Moral den Schwerpunkt des Daseins gelegt: in der Übereinstimmung mit ganz abstrakten Maximen, die ihren Ursprung nicht in den Affekten haben sollen. Aber Motive des Handelns und der Affektion, die nicht ihre Wurzel in Empfindung und Affekt hätten, giebt es nicht. Das Spiel der Affekte macht alle Lebensäußerungen bis zur Produktion der abstraktesten Ideen begreiflich. Die Leidenschaften gehören zum Leben, man darf sie nicht als Störer des Glücks verdächtig machen. Das Dasein wird eine öde Wüste ohne Liebe und Haß. Die Menschen wollen die gleichmäßige Ruhe gar nicht, sie suchen Erregung und Aufregung. Sie fordern Lust und Schmerz gleichsam heraus. Nichts Großes wird ohne Leidenschaft vollbracht, sagt Aristoteles. Das Leben selbst ist jenes Große, welches nicht ohne Leidenschaft vollbracht wird. Von den Leidenschaften abstrahiren führt einerseits zur Askese, andererseits zum wohlberechneten matten Sinnengenuß; da wird alles, was dem Leben Werth ertheilt, vernichtet. Der Mensch sinkt im zweiten Falle unter das Thier, im ersten wird er zum widerwärtigen Ungeheuer („er tastet die Wurzel alles Strebens ohne Unterschied an"). Dort wendet man sich gegen einen Theil der Lebensbedingungen, hier gegen den ganzen Inhalt. Der gemeine Selbstmord ist etwas verhältnißmäßig Unschuldiges gegen das Beginnen, das Wesen der Gattung selber zu ertödten, nicht nur ein einzelnes Individuum. Selbst der Mord kann als geringeres Verbrechen erscheinen, als das finstere Werk der Leute, welche das Leben mit ihren Anklagen vergiften. – Und so geht die unverschämte Schimpferei vor; darin kommt vor: „die Entwurzelung alles Großen und Edlen, die Verhöhnung und Anfeindung aller humanen Empfindungen und Gefühle" -; „im Bunde mit der Ausschweifung und der abgestumpften Ausgelebtheit" -"geht eine vermeinte Philosophie dann kühn daran, den Haß des Lebens und des Lebendigen auszusäen." Nun denke man dabei einmal an Buddha und Christus usw.! "Der Einzelne mag entschuldigt werden, wenn er sich dem Kloster zuwendet; es kann nicht zur allgemeinen Doktrin werden, ohne den Charakter eines intellektualen Verbrechens anzunehmen." Das soll wohl heißen: der Einzelne in seiner praktischen Verneinung mag entschuldigt werden: nicht aber der Einzelne, der eine theoretische Allgemein-Maxime daraus macht, das wäre ein Verbrechen am Intellekt. "Wäre das Band der Menschheit fester geknüpft, so würden auch jene traurigen Ausnahmen aufhören, das Gemüth würde nicht allein an das eigne selbstsüchtige Trachten gebunden sein, das individuelle Geschick wäre nicht mächtig genug, die Affekte, die sich auf ein größeres Ganze, auf die Menschheit beziehn, zu erdrücken. Die Kraft der Leidenschaft würde sich erhalten; die Kraft zu Liebe und Haß würde der ertödtenden Macht des besonderen Schicksals entgehen." Da ist nun alles verkehrt! Erstens nimmt er überall an, daß die Asketen gerade als Egoisten Asketen sind, daß nur das individuelle Loos sie zum Haß gegen das Dasein bringt. Zweitens fühlt er nichts von dem allgemein helfenden und für Alle wirksamen Pathos des Asketenthums; in seiner höchsten Gestalt ist es ja gerade der Tod und das Leiden für Alle. Drittens verwechselt er Blasirtheit und Ekel mit jener Abwendung vom Leben. Wenn er sagt "wäre das Band der Menschheit fester geknüpft, so würden jene traurigen Ausnahmen, jener geistige Selbstmord aufhören." Er meint also in allem Ernste, daß ein Leben in der Einsamkeit nie ein Leben für die Menschen sein könne, und daß Abwendung vom Leben Abwendung von den Menschen sei. Nun ist es thatsächlich umgekehrt; ich möchte wissen, welche Art von höheren Bändern überhaupt Mensch an Mensch knüpfen würde, wenn man die Arbeit der einsamen Asketen jeder Art wegnehmen wollte! Und nun gar geistiger Selbstmord! Man denke an Empedokles und Schopenhauer, Leopardi, die hier als „Verbrecher am Intellekt" erscheinen, an Luther und an wie viele andre. Es scheint nicht, daß gerade der „Geist" bei dieser Art, das Leben zu betrachten, verkümmert!
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Die selbstquälerischen Lehren werden nun aus gewaltig erkünstelten Verhältnissen abgeleitet ("die Stimmung muß bedeutend von der normalen Haltung abweichen" – die beliebte Insinuation der Verrücktheit aller Asketen und asketischen Philosophien!). Deshalb soll diese „Carikatur des Menschlichen" kein so gefährlicher Gegner sein. – (Und doch haben die ernstesten Menschen ganzer ungeheurer Religionen darnach gelebt und gelehrt!) Gefährlicher sei die Moral, die den Abstraktionen opfert. Ich will hinzufügen, daß zur Entstehung des Asketenthums vielleicht ein intellektueller Irrthum nöthig ist (über Leib und Seele, über den Leib als Sitz der Affekte, wie bei Plato); aber dieser Irrthum bezieht sich doch nur auf die Vorstellung, wie der Mensch loskommt vom Willen zum Leben; der Trieb überhaupt davon loszukommen, hat damit nichts zu thun, ist nicht aus dem Intellekt abzuleiten. Daß ein solcher Trieb gerade bei den edleren Menschen entstehen kann, ist doch ein Werthmesser des Daseins, man kommt mit Schimpfen nicht darüber weg; selbst wenn ein ungeheurer Irrthum darin läge, so gehörte die Möglichkeit eines solchen Irrthums wieder zu den dunklen Zügen des Daseins. Dühring ist besonders über die erwähnte Affektlosigkeit wüthend; wenn nun aber jemand dem Pathos entsagt und ganz ηϑ οζ; zu werden versteht, so gilt das uns viel höher und die Möglichkeit eines solchen Verhaltens ist gerade für uns ein Objekt der Sehnsucht. Der Advokat des Pathos nimmt sich als Lebens-Verherrlicher übel aus. Wenn nichts Großes ohne Pathos entsteht (woran zu zweifeln ist –), so fällt ein unheimliches Licht auf das Leben; es genügt in allem Entstehen von etwas Großem etwas Tragisches zu sehen, ja im Leben selbst eine Tragödie. „Unsere Moral ist ein Götzendienst, der die lebendigen Motive den leeren Abstraktionen opfert." Unrecht z. B., das größte Übel, welches die Welt kennt (ich zweifle!); die Enthaltung von demselben die erste Voraussetzung eines befriedigten Gemüthszustandes. Es hat diese Eigenschaft nicht, weil eine abstrakte Regel es als verwerflich bezeichnet; ein Trieb hat den Begriff des Unrechts geschaffen, der Vergeltungstrieb, die Rache; auf diesen Affekt weisen die verbleichenden Begriffe von Gerechtigkeit und Pflicht zurück. Die Moral will über die verschiedenen Arten des Verhaltens den Werth bestimmen: dazu braucht sie ein Maaß. Dies liegt in den unwillkürlichen Bestimmungen, welche die Natur gegeben hat, die Grundlage ist in Trieben und Affekten gelegt. Der rein theoretische Verstand kann kein Sollen hervorbringen. Eine Moral, welche das ganze Reich der unmittelbaren Gefühle verurtheilt, ist eitel Gleißnerei. „So stehen die falschen Principien der moralischen Werthschätzung einer richtigen Würdigung des Lebens gegenüber." Nun sucht er das Gleichgewicht der Seele zu diskreditiren, das sei nichts Erhebliches, es komme auf die Kräfte an, die hier im Gleichgewicht befunden werden. Art und Maaß der mit einander verbundenen Empfindungen und Gemüthsbewegungen sind es, denen es verdankt wird, wenn ein Gleichgewicht entsteht; die abstrakte Kraft bezieht sich nur auf die Bestimmung der einzelnen Faktoren, nicht auf das Ganze. – Dies Alles ist unklar gedacht oder ausgedrückt. Die Ausartung der Systeme der Moral hängt an der Vernachlässigung des Unterschieds zwischen Gemüthsbewegungen, die sich auf den Menschen als Einzelnen und die sich auf das Verhalten der Menschen zu einander beziehn. Jemand als Einziger auf der Welt gedacht würde einer Hauptquelle der Lust und des Schmerzes ermangeln: nichts von den sympathischen Affektionen, nichts von Liebe und Haß, Neid und Rache wissen. Unrecht und Treulosigkeit würden ihm unbegreiflich sein. Der Mensch bedarf nicht nur der Natur, er bedarf seines, Gleichen. Der Tiefe des Wehes (bei Verletzung von Mensch zu Mensch) entspricht die Höhe der Wonne (bei Befriedigung von Liebe Ehre Ruhm). Der Spielraum 638
dazwischen ist außerordentlich groß: das liegt daran, daß der ganze Mensch für einen anderen Gegenstand werden kann; nicht das Einzelne, was wir in Gutem und Schlimmem von einander erfahren, sondern die Gesinnung, als deren Ausdruck wir alles Einzelne verstehen, bewegt uns so bis in die Tiefe des Wesens. Die rein egoistischen Lebensnöthe und die im Verkehr mit Menschen entstehenden, der egoistische Genuß und die Freuden des Mitgefühls stehen gar nicht gleich. Infam, die Aufopferung zur Selbstsucht zu stempeln und die uneigennützigen Gefühle zu leugnen! Mitleid und Liebe haben ihren Schwerpunkt in der Vorstellung des fremden Wesens, Rache und Neid sucht Wahrung des eignen Selbst. Gewisse anmaaßende Lehren suchen freilich den isolirten Subjektivismus und noch dazu eine abstrakte Einheit aller Affektionen: diese stellen ein Reich des Egoismus auf. Spinoza davon nicht frei zu sprechen. Dagegen zeigt Kant eine erste Ahnung, worum es sich handelt: Scheidung der Moral, die sich mit bloßen Zweckmäßigkeiten nach dem Gesichtspunkt der menschlichen Bedürfnisse beschäftigt und der Moral, welche die Rücksichten von Mensch zu Mensch in's Auge faßt. Die erstere Gattung verachtete er als bloße Technik des Lebens; das ist seine Einseitigkeit. Dagegen Dühring: „die höhere Einsicht in das Wesen des Lebens hängt davon ab, ob wir das Übel, das die Folge der ungerechten Verletzung ist, zu unterscheiden wissen von dem Ungemach, welches Zufall und Bedürftigkeit über uns verhängen." „Alles was der Gesichtspunkt des eignen Vortheils zu Laster und Tugend gestempelt hat, verschwindet gegen die Bedeutung des Verhaltens, in welchem der Mensch seinesgleichen fördert oder verletzt." „Die Gemüthsempfindungen der einen oder der andren Klasse sind ganz verschieden." „Darauf beruht es, daß wir die ärgsten Vergehungen gegen unser eigenes Wohl zwar bedauern, aber doch nicht mit jenem Stachel empfinden, welcher die Empfindung des Unrechts begleitet." II. Der Unterschied als der eigentliche Gegenstand der Gefühle. Nach den Veränderungen trachtet die Lust am Leben, nach dem stoßartigen Übergang des einen Zustandes in den andern. Vielleicht ist zwar selbst die Gleichförmigkeit der Stimmung nichts als eine große Menge von Stößen, die einzeln unmerkbar sind. Aber das Ungleichmäßige der Stöße begehren wir, die hohe Energie derselben, bei allen Veränderungen; wir stellen die Veränderung dorthin, wo der Höhepunkt der Empfindung liegt. Es wird wesentlich nur die Veränderung empfunden. Spannung der Gegensätze ist für die Entstehung jeder stärkeren Empfindung nöthig. Das Auge empfindet die Veränderung des Lichtreizes stärker als das Beharren: man sagt da, die Gewohnheit stumpfe ab. Physiologisch beruht die Abstumpfung auf der Wiederholung desselben plötzlichen Eindrucks, durch leere Zwischenzeiten unterbrochen. Ein Gitter, welches Sonnenstrahlen durchläßt; das Auge hält den plötzlichen Wechsel von Hell und Dunkel nicht aus, den starken Reiz und den fast völligen Mangel desselben. Alle Empfindung in der Form eines gleichmäßigen Rhythmus, das fast Leere und Volle wechselt wie am Gitter. Daher Ermüdung. Ein langer Ton auf die Dauer sehr lästig: man kann ein Bild nicht zu lange ansehen. So empfinden wir den Anfang einer Affektion stärker, weil der andauernde Reiz unsre Ermüdung mit sich bringt: also Gewohnheit ist der Ausdruck für eine gewisse Ermüdung; noch länger fortgesetzt, erzeugt sie den Überdruß. Die Langeweile: zu erklären aus Abwesenheit der Lebensreize, dort wo dieselbe Thätigkeit sich immer wiederholt; sie geht im glücklichen Falle über in den Überdruß und findet da ihr Ende. Aber oft ist der Lebenstrieb zu schwach, um die Intensität der Langeweile zu erzeugen, die zur Negation des Zustandes führt: die schlimmste Art der Unlust! Sonst ist sie eine treibende Macht; sie verurtheilt die gegenwärtige Bethätigung des Geistes und reizt ihn, in einen neuen Zustand überzugehn. Lebenerstarrend ist sie also nur da, wo Trägheit des Lebenstriebes bereits da ist. (Dies sagt er gegen Schopenhauer: aber was ist das für Blödsinn 639
„Trägheit des Lebenstriebes"). „Wo die Kraft zur Gemüthsbewegung für immer vernichtet ist, da ist Disharmonie zwischen den Vorstellungen des noch regsamen Verstandes und den wenigen Lebensreizen, denen das abgestumpfte Gemüth noch zugänglich ist." Er meint die Asketen und Philosophen des Asketismus: die hätten die Langeweile; also bei „theilweiser Ertödtung der Fähigkeit zum Leben;" er räth da, sich künstlich zu arrangiren und sich vornehmlich auf das abstrakte Vorstellungsvermögen zu beschränken; für den Greis fängt der Reiz der verblaßten Affektionsbilder an, auch dort wo eine „vorzeitige Abnutzung der Lebenskräfte" greisenähnlich macht. Da mag man sich vor nichts mehr hüten als „den frischen Reiz des Lebens wieder zu gewinnen"; „bei der Vergeblichkeit des Strebens würde das Dasein verkümmern." Man muß hier entsagen; dann fällt auch der vermeintlich lebenerstarrende Charakter der Langeweile fort. Es ist dann eine beschränktere Sphäre des Lebens, im Vergleich zum ganzen vollen Leben. Es wird stets nur der Unterschied empfunden, man muß das Maaß der Bestrebungen kennen, um über Dasein und Größe der Befriedigung zu urtheilen. Wenn die Menschen nicht die dauernden Verhältnisse mit Gleichgültigkeit betrachteten, so würden sie auch einsehen, daß es ein Glück im Unglück geben kann. Es kommt ganz auf den einmal gezogenen Rahmen des Lebens an: innerhalb desselben giebt es dann Befriedigung oder nicht. – Der Zustand, der uns gewaltig erregte, wird nachher gleichgültig und bildet die neue indifferente Basis des neuen Lebensgenusses. Der Eintritt in's Leben ist auch ein Übergang: der völlig neue Reiz hebt sich auf das Stärkste gegen die verhältnißmäßige Leerheit und Unbestimmtheit des Lebensdranges ab. Jedes Individuum ist ein neuer Standpunkt, der eine neue Welt ins Bewußtsein treten läßt. (Nun, das ist doch auch Mythologie, und Mystik und zwar schlecht geglaubte!) III. Die Grundgestalt in der Abfolge der Lebenserregungen. Wechsel von Hebung und Senkung, das Wogen ist der einfachste Typus. Die Wellenform fast in allen Vorgängen der Natur: in ihr pflanzen sich Bewegungen fort. Der Rhythmus beherrscht das ganze sogenannte todte Dasein. Wellen sind abwechselnde Anhäufungen und Minderungen in der übrigens gleichmäßig vertheilten Materie. Ihre Grundgestalt ist: Wechsel in Zusammenziehungen und Ausdehnungen. Hebungen und Senkungen der Gefühlsenergie folgen in stetem Wechsel, die beharrlichen Zustände sind ein gleichmäßig wiederkehrender Rhythmus, dessen einzelne Pulse wir nicht unterscheiden. So empfinden wir Licht- und Toneindrücke als stetige, während sie rhythmisch sind. Nun ist nicht etwa die Empfindung als solche eine Bewegung. Versuchen wir sie uns als solche vorzustellen, dann denken wir uns diese Kraft noch einmal in umgekehrter Richtung. Die ungehemmte Bewegung einer Masse im leeren Raume wird nicht als Kraft vom Standpunkt unsrer Empfindung vorgestellt. Bewegung gehört ganz der formalen Seite unsres Denkens an, hat mit der Empfindung nichts zu schaffen. Die Bewegung muß erst verschwinden d. h. zu einer statischen Wirkung führen, ehe sie unsre Empfindung angeht. Empfindung ist das Zeichen einer statisch wahrnehmbar gemachten d. h. aufgehobnen Bewegung. Die gewöhnliche Vorstellung, daß die Empfindung der direkte Ausdruck einer in uns erregten Bewegung sei, ist falsch. Die Bewegung als solche empfinden wir nicht. Also: in den stetigen Zuständen der Empfindung ist ein elementarer Rhythmus. Aber in den unterbrochenen Empfindungen? Giebt es da ebenmäßig periodischen Wechsel? Innerhalb 640
jeder Classe von Empfindungen ist Hebung und Senkung ganz offenbar. Aber verschiedene Gemüthszustände scheinen unregelmäßig zu folgen. Die Höhenpunkte des Lebens haben das Aussehen vereinzelter Gipfel. Eine gewisse Disharmonie d. h. eine Mischung von Einstimmung und Widerstreit scheint die thatsächliche Form des Lebens zu sein. Die Bewegung unterhalb der Grenze des völlig Harmonischen ist es, was dem Spiele seinen Reiz verleiht. Hier entnimmt Dühring viel aus der Analogie von Musik und Leben; seine Lehre ist übrigens symbolisch-mythologisch auch in meiner Auffassung des Dionysischen und Apollinischen enthalten. Das Dionysische ist dann der disharmonische Grund, welcher nach dem Rhythmus, der Schönheit usw. verlangt. Der Rhythmus des organischen Lebens – wie weit paßt er sich der Form der andringenden Reize an? Es kann zunächst der Gegensatz empfunden werden, bis zur völligen Vernichtung der Empfindung, andererseits kann, wenigstens für Zeiten, der Rhythmus des organischen Lebens ganz den andringenden Reizen nachgeben, in sie übergehen – dies alles ist das dionysische Phänomen. Dagegen ist das maßvolle Verhalten gegen die andringenden Reize, das Festhalten des eignen Rhythmus, das Einordnen von zwei Rhythmen-gestaltungen in einander, endlich die Übertragung des eignen Rhythmus auf die andringenden (= Reize Schönheit) das apollinische Phänomen. Weshalb verehrte Schopenhauer so die Musik? Dühring erklärt dies so. Mit dem Ton verbindet sich die Empfindung unmittelbar (die Musik ist ein "Mittel des Ausdrucks"). Handelt es sich um Verkürzung der Empfindungs- und Gemüthswelt, in der die objektiven Vorstellungen gar nichts zu bedeuten haben, so ist die Musik das verlangte abstrakte Reich. Nun leitet Schopenhauer alle Schuld der Verkümmerung des Daseins von der Objektivation ab. Er schaut mit mystischer Sehnsucht auf ein Reich aus, welches der Ungebundenheit und Freiheit in der Welt der Töne entspricht. IV. Der Verlauf eines Menschenlebens. Die Erkenntniß ist es, die die Lebenserfahrungen zu einem einheitlichen Bewußtsein vereinigt und, indem sie über das individuelle Leben hinausträgt, das allgemeine Schicksal ergreift und in ihm die Noth des Augenblicks verklingen macht. So wird sie zur Philosophie und führt zum Glauben an den Werth des Daseins. (Muß sie das wirklich? Die Erkenntniß des allgemeinen Schicksals – könnte sie nicht nur deshalb die gegenwärtige und individuelle Noth „verklingen machen", weil es so viel gewaltiger lastet und schmerzt, also nur als der intensivere Schmerz gegen den viel kleineren stumpf macht? Ist nicht der Glaube an den Unwerth des Daseins ein Narkotikon gegen das Individuelle, so gut als der Glaube an den Werth?) Wären wir auf eigne Erinnerung und Erwartung eingeschränkt, so würden wir Geburt und Tod gar nicht kennen: so wie die ganze Gattung der Menschen sie nicht kennt. (Ursprung gänzlich verborgen, in Bezug auf die Zukunft Zweifel, ob die Menschheit ein Ziel hat oder nicht.) Hätten wir die Kenntniß, wie die Bevölkerung eines kosmischen Körpers untergegangen ist, unser Bewußtsein von der Welt wäre gewaltig gesteigert. Erführen wir noch einmal so etwas, also auch vom Ziele, das unsrer Gattung gesteckt sei, der Schwerpunkt unsrer Bestrebungen würde sich verändern; wir würden nicht mehr glauben, in Wissenschaft Kunst und socialen Einrichtungen etwas von ewiger Bedeutung zu verrichten. (Ich denke dabei, wie schon solche Illusionen einzelner Völker als solche erkannt sind; die Griechen meinten bei jedem olympischen Siege, die ganze Welt sehe auf so ein Ereigniß hin, die Götter mitgerechnet.) Die Grenzenlosigkeit der Aussicht würde fehlen, alles müßte praktischer werden. Die Unsterblichkeit der Gattung ist die stillschweigende Voraussetzung aller unsrer 641
höheren Vorstellungen. (Ich wünsche untersucht, was die Menschheit den Einbildungen, dem unreinen Denken verdankt, ja ob ein höheres Leben möglich ist, nachdem nur erst die Skepsis hier zur Herrschaft kommt, z. B. ist Kunst noch möglich?) Die Grundform des Kindes lebens ist Gegenwart; der ganze Zuwachs von Lust und Schmerz, den die bewahrende Vorstellung bringt, fehlt; das ist ein Glück! Hunger und Durst sind gewiß weit stärkere Gefühle als in den späteren Altern. Das ganze Leben des Kindes hat einen kürzeren Rhythmus; der unruhig arbeitenden Entwicklung entspricht Unruhe der Empfindung. In Betreff der Ernährung hat der Organismus nicht nur das Gleichgewicht des Stoffwechsels zu unterhalten, sondern einen Zuwachs zu vermitteln: das muß die Empfindung zu offenbaren Schmerzen anregen; wie auch die Zeichen andeuten. – Das Weinen geht dem Lachen voran; es überwiegt jedenfalls. – Man denke sich zu der bedürftigen und hülflosen Lage den Gegensatz einer bewußten Vorstellung, welche die Ohnmacht ihrer Bemühungen, den Zustand zu ändern, fühlt, da wird man ermessen, was für ein Glück es ist, daß die Natur nicht alle ihre Zustände mit dem Lichte der Erkenntniß beleuchtet. (Und doch erreicht die Erkenntniß im Philosophen einen Grad, daß der einzelne Mensch in seiner Hülflosigkeit gegen die allgemeine αναγχη sich gerade wie ein bewußtgewordenes Kind vorkömmt!) Das Spielen ist die eigentliche Arbeit des Kindes und ihm ebenso Bedürfniß, wie dem reifen Alter schaffende Thätigkeit. (Man wird aus der Art, wie ein Kind spielt, seine spätere Thätigkeit völlig erschließen können.) Spiel ist die ernsteste Angelegenheit für ein Kind, nichts Unterhaltendes-Überflüssiges, wie Erwachsene es häufig beurtheilen. Man hat ja unser ganzes so ernstes Dasein für Spiel erklärt; wie hätte aus dem bloßen Nichts eine andre als nur eine willkürliche Anordnung der Lebensbedingungen hervorgehn können? So hätte das Dasein den Charakter einer frei gewählten Unterhaltung, die Hindernisse nur geschaffen, um sie zu überwinden. Dühring hält die Idee für fade: es war übrigens die des Plato, daß wir das Spielzeug der Götter seien. „Das Leben ist kein Spiel, denn es schließt echte Schmerzen ein"; als ob das nicht vom Spiel der Kinder auch gelte! Jedes Lebensalter hat sein eignes Recht auf Rücksicht, man soll die früheren nicht nur als Mittel für die späteren behandeln. Der Zweck kann nicht nur immer außerhalb der Gegenwart liegen. Das Kind ist viel mehr als ein bloßes Objekt der Erziehung. Die Pädagogen denken immer nur daran, was sie aus dem Kind zu machen haben: das Kind lebt in der Gegenwart, das ist der Contrast. Lernen und Spielen streng zu scheiden. Die Schule muß nüchternen Ernst zeigen, der auf das Leben vorbereitet. Die Überwindung von Hindernissen und die Wahrnehmung unsrer Fähigkeit ist mit einer Freude verbunden, welche an Stärke die des Spieles übertrifft. In Bezug auf gewisse erkünstelte Verhältnisse haben die, welche die Schule als den Anfang der Lebensverkümmerung ansehn, Recht: ein Gefängnißdasein war es. Aber die Arbeit des Lernens kann eine Freude und Befriedigung werden, es sind zufällige abänderliche Zustände, welche das Gegentheil aus ihr machen. Alberner Grundsatz, es handle sich nur um das Arbeiten-lernen und um Übung der Kräfte! Dühring hat Recht zu sagen, er sei eine Ironie auf das Wesen des Lebens. (Es versteckt sich gewöhnlich der Mißerfolg der Pädagogik z. B. am Gymnasium dahinter.) Diese Maxime abstrahirt vom Erfolg, verkümmert das natürliche Verhältniß von Mühe und Lohn und bringt es zu einer Pein, der keine Genugthuung entspricht. Übrigens ist es komisch, aus dem Leben erst noch ein Rennen mit Hindernissen machen zu wollen. Die Natur hat die Befriedigung 642
nicht an die Anstrengung, sondern an den Erfolg der Anstrengung gebunden: dieses Gefühl würde schwinden und dem des Widerwillens an einer wesentlich nutzlosen Beschäftigung Platz machen. Das Gemüth des Kindes findet an Haus und Familie seine Grenze: was ihm hier Gutes oder Schlimmes widerfährt, ist durch diese Beschränkung des ganzen Sehfeldes sehr gesteigert. Das größte Übel ist das Unrecht in Verletzung von Mensch und Mensch, das größte Glück das aus jeder Art von Zuneigung erwachsende. Wie wichtig, ob das Kind elterliche Liebe erfährt oder nicht! Die elterliche Liebe ist zunächst ein vom Verstande unabhängiger Trieb, wurzelt im Sinnlichen; deshalb kann sie durch entgegengesetzte Triebe gestört werden, sie bedarf eines verstandesmäßigen Supplementes. Gerechtigkeit gegen das Kind kann nicht durch Liebe ersetzt werden. Das Kind hat den schärfsten Instinkt für das Gerechte, denn dies Verlangen nach Recht wurzelt in dem natürlichen Trieb, ist mit Rachebedürfniß verwandt. Das kindliche Gemüth haßt, in solchem Falle, selbst die Eltern. Die späteren Erfahrungen stumpfen eher gegen gewisse Arten des Unrechts ab. Nun ist das Hausregiment selten das Muster eines gerechten Verhaltens. Überdies ist es bei der Familie auf Unterordnung abgesehn, nicht auf rechtliche Gleichordnung. Die Unterscheidung von Recht und Unrecht ist denen sehr leicht, welche der leidende Theil sind, aber macht denen, welche das Unrecht ausüben, Schwierigkeiten; der Begriff des Rechtes entspringt eben in dem Leidenden. Dadurch daß die Leidenden sich rächen, werden sie zu Lehrmeistern des Rechts für Alle. Die Widerstandskraft derer, welche Unrecht erleiden, wird vorausgesetzt: gleiches Recht nur bei gleicher Macht, also unter Gleichen. Überall, wo die Natur Ungleichheit geschaffen hat, steht es schlimm dafür, daß das subjektive Recht geltend gemacht werde. Auch in solchen Verhältnissen soll eine gewisse Gerechtigkeit geübt werden, aber diese hat nicht den gewöhnlichen Ursprung, sie ist unfreiwillig. Man entlehnt den Begriff des gerechten Verhaltens dorther, wo er am allgemeinsten ausgebildet ist, dies abstrakt entstandene Gerechtigkeitsgefühl ist aber schwächer und unbestimmter als die andre, aus dem Triebe entsprungene Art. Am schlimmsten steht es wohl in der Schule mit der Gerechtigkeit: da fehlt ja noch die Liebe, wie sie in der Familie regirt. Der Gedanke eines abstrakten Zweckes ist hier der einzige Schutz. Ein Lehrer, der Pedant der Gerechtigkeit ist, ist noch verhältnißmäßig ein Glück für den Zögling, im Vergleich zu einem Lehrer, der nach Stimmung und Laune verfährt. – Man vergißt das dem Schüler widerfahrene Unrecht am schwersten. Es ist sogar das Zeichen einer edlen Gesinnung, wenn die Erregung des unreifen Alters dauernde Spuren hinterläßt. Bis zu den Regungen des Geschlechtslebens führen Knaben und Mädchen ein verhältnißmäßig ruhiges Dasein. Nun steigert sich das Lebensgefühl zur höchsten Höhe. Die Wettkämpfe um Ehre, die Leidenschaften des Gemeinlebens kommen bald hinzu. Natur und sociale Welt theilen sich jetzt in den Menschen, die erste ergreift ihn mit der Liebe, die letztere mit der Ehre; darum gravitirt das fernere Dasein. Was ist Ehre? Zuerst hat man eine Menge Carikaturen zu beseitigen. – Ehre bedeutet einmal so viel wie Recht, sodann auszeichnende Anerkennung. Die Ehr-verletzungen, Beleidigungen sind Rechtsverletzungen, Eingriffe in die fremde Willenssphäre. Zu Gunsten des Zweikampfes sagt Dühring: „die groben Verletzungen, das gesteht man ein, sollen gerächt werden; aber die Verletzungen feinerer und geistigerer Gattung sollen für nichts geachtet werden? Liefe das nicht auf Abstumpfung des Rechtsgefühls hinaus?" –
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Die Selbsthülfe ist die ursprüngliche Form alles Rechts; dieses ursprüngliche Fundament kann nie ganz fortfallen. Die öffentliche Gerechtigkeit ist nur organisirte Selbsthülfe zur Rächung des Unrechts. So soll man sich nicht wundern, wenn die Selbsthülfe, als der erzeugende Grund, seine Organisation, wo sie nicht genügt, ergänzt. Die Injurienstrafen genügen dem natürlichen Rechts-Bewußtsein keineswegs. Vielleicht verschwände ein Theil des Widerwillens gegen öffentliche Austragung von Ehrverletzungen, wenn an Stelle der Beamten-Justiz eine Art Geschworenen-Gericht trete. Doch bleiben immer Fälle übrig, wo nur private Abhülfe möglich ist (d. h. bei tödtlichen Kränkungen, die gerade zur öffentlichen Behandlung sich nicht eignen). Die germanische Art unsres Ehrbegriffs war den Alten fern. Aber man soll nicht vergessen, daß die natürliche Vorstellung von der Nothwendigkeit, das Unrecht zu rächen, noch nicht bei ihnen durch ein entgegengesetztes Princip gelähmt wurde. Das Gemeinleben sodann trat in den Vordergrund, und so blieben die privaten Verhältnisse vor einer verkünstelten Zuspitzung des Rechtsbegriffs bewahrt. Der Mensch bleibt, sobald er das Leben wagen will, der Herr seines Rechtes und seiner Ehre. Die Ehre, die der Verletzung offensteht, ist ein negativer Begriff. – Völlig davon unterschieden die Anerkennung besonderer Vorzüge und Verdienste – etwas Positives! Sie geht mit ihrem Zauber durch alle Lebensalter hindurch. Die Vorstellung von der Meinung, welche die Andern von uns hegen, übt die größte Macht auf unsre Haltung aus. Diese Ehre ist nichts als der Beifall, den unser Thun und Sein bei Andern findet. Alles trachtet darnach: in höherem Grade bedarf das Ungemeine einer objektiven Anerkennung: selbst in der Form des Nachruhms. (Mir scheint dies das Wichtigste: unsre Werke und Thaten sind die höchsten Äußerungen unsres Selbst und repräsentiren zusammen unser Ideal: diesem wollen wir ein Leben für sich zugestehen, das nicht nur eine Menschen-leben-dauer habe. Wir selber behandeln unsre Werke als eine außer uns stehende Kraft und Größe, von wo aus wir Trost und Muth schöpfen können.) Es ist das Bedürfniß der sympathischen Affektion, nicht der Mangel an eignem Urtheil, eigner Überzeugung; wir fühlen uns gehoben, wenn wir Zustimmung erlangen (vor allem wir fühlen uns fruchtbarer! alle Liebe und Affektion weist auf Fruchtbarkeit hin.) Unehre (ατιµια) ist Mißbilligung und Verachtung gegen unser Sein und Thun, nicht etwa Ehrverletzung (υβοιζ). Ein verwerfendes Urtheil. Anerkennung und Verachtung die größten moralischen Mächte im Gemeinleben. Man entwurzelt das menschliche Wesen, wenn man ihm den Begriff der Ehre verdächtig macht. Der wichtigste Einwand ist, daß eine besondere Auszeichnung doch nur auf Kosten Andrer erreicht werden könne: die Ehre ein Motiv, das Menschen zu Feinden macht; sie suchen den eignen Genuß im Schaden Andrer. So soll sie mit einer edlen bescheidnen Gesinnung unverträglich sein. – Aber das ist Sophistik, die bloße Nichtexistenz besonderer Ehre für die Menge zur Beeinträchtigung, zum Unrecht zu stempeln. Unrecht mag sich häufig in den Wettkampf um Ehre eindrängen, aber im Streben selbst, die eigne Tüchtigkeit an der fremden zu messen, liegt es nicht. Das peinliche Gefühl beim Fehlschlagen der Bewerbung muß sich nicht mit Haß gegen den Mitbewerber verbinden, eine solche Feindschaft würde nicht in der Ehre, sondern im Neide wurzeln. War das Mißlingen gerecht, so soll sich nur das Bewußtsein eines früheren Irrthums und eines vergeblichen Versuchs einstellen: daran muß aber jeder Mensch gewöhnt sein. Ist ungerechter Weise das Verdienst nicht anerkannt, so tritt das Gefühl der widerfahrenen Verletzung hinzu. Wer aber Unrecht und Kränkungen nicht zu überwinden versteht, der mag nicht nur auf den Tummelplatz der Ehre, sondern auf das Leben selbst verzichten. Er mag Einsiedler werden und so seine sympathischen Affektionen auf das geringste Maaß einschränken. (Ein schönes Urtheil über das Leben, das Dühring hier so nebenbei fallen läßt!)
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Dühring hält, nächst der Liebe, die Ehre für die Ursache, welche das Leben lebenswerth macht. – Hüten wir uns mit unserer Phantasie die Natur zu übertreffen und den Tod zur versteinernden Gorgo des Lebens machen zu wollen. Leute, die von der Büßung der Lebenslust durch den Todesschmerz reden, treffen nicht die einfache Naivetät der Natur. (Da hat er recht, denn die Natur ist viel zu dumm und blind und grausam dazu, um einen solchen Gedanken fassen zu können.) Wir haben die außerordentlichen Störungen im Lebenslauf z. B. ungewöhnliche Krankheiten, nicht erwogen. Diese Übel laufen aber auf schnell vorübergehenden Schmerz hinaus und haben eine untergeordnete Bedeutung. (Höchst absurder Dühring!) "Ja man möchte sich versucht fühlen anzunehmen, daß selbst schmerzliche Überwindung von Hindernissen den Reiz des Zieles und die Befriedigung des Gelingens erhöht." (Hier ist er selber nur einen Schritt weit von der „faden" Auffassung, daß das Leben ein Spiel sei und daß die Schmerzen den Sinn von künstlerischen Dissonanzen haben. Und dazu kommt er gerade Angesichts der Krankheiten! Weiß er nicht von dem lähmenden und niederzwingenden Einfluß derselben, wo jemand auf sein höchstes Lebensziel ihrethalben verzichten muß oder zu verzichten fürchten muß? Gar von der Benutzung des Krankseins zur meditativen Reinigung, zum Milde- und Gutwerden weiß er nichts!) V. Die Liebe. Keine Art der Liebe ist ohne sinnliche Grundlage; stets etwas Unwillkürliches. Nicht durch bloße Absicht und guten Willen hervorzubringen. Das Gebot der allgemeinen MenschenLiebe ist nur eine Metapher der Liebe, man ruft die Erinnerung an eine bekannte Empfindung zu Hülfe, um anzugeben, welches Ziel sich der Verstand im allgemeinen Verkehr des Menschen zu setzen habe. Es ist nicht einmal eine Analogie der Liebe. Die allgemeine Menschenliebe ist eine verstandesmäßige, auf dem Boden des Gefühls erwachsene Bestimmung (Erinnerung an vorübergegangene einzelne Erregungen, dazu ein abstraktes Streben auf Allgemeineres). Gegensatz der uranischen und pandemischen Aphrodite für alle Zeiten und Völker richtig. Der Mensch kann von dem vollen Wesen seiner Natur abstrahiren, sich der augenblicklichen Lust hingeben. Viel widerwärtiger ist das berechnende Verfahren. Die Unwillkürlichkeit der Natur kennt die Trennung des Grobsinnlichen vom Edleren nicht. Was ist sinnlich, was ist geistig! Wer nur an das Gröbste der Sinnlichkeit denkt, der mag so wie Plato unterscheiden. Eine weitverbreitete Meinung denkt sich das Sinnliche und das Geistige in der Liebe als Gegensatz: so daß, wo die Befriedigung des sinnlichen Bedürfnisses gehemmt, verneint wird, erst die edleren Arten hervortreten; ohne eine unbefriedigte Sehnsucht würde es nie zur erhabnen Lyrik des Liebesschmerzes kommen; die schöpferische Kraft kann den einen Effekt nur auf Kosten des anderen erlangen. Wo das Verlangen in seiner ursprünglichen Richtung erfüllt wird, wird es sich nicht an bloßen Ideen genügen lassen. So sei die abnorme Störung die Schöpferin vom Hochgefühl der Liebe. Aber die Art, wie die Liebe in den Menschen einzieht, entzaubert sogleich eine Welt von zarteren Ideen und Regungen, lange bevor von abnormer Hemmung die Rede sein kann. (Diese Entgegnung erlaubt wieder eine Entgegnung.) Warum ist in jeglicher Empfindung, die einem Triebe und Bedürfniß entspricht, etwas Schmerzartiges? Peinigend wird das Gefühl erst bei abnormen Hemmungen. Das ist die 645
Verstärkung des ersten Keims. Eine geringe Reizung wird nicht als Schmerz, sondern als Perception, die ihre eigne Steigerung sucht, empfunden. Man denke an den Geschmack, an die verschiedenen Grade der Säure. Wir reden da von Lust: und doch würde nur eine quantitative Steigerung schon den Schmerz hervorbringen. Schopenhauer hält die Lust für das Negative, den Schmerz für das Positive in der Empfindung: eine geistreiche Theorie auf Grund der alleroberflächlichsten Gesichtspunkte. In jedem Bedürfniß ein Mangel, also werden alle Empfindungen, welche sich an das Bedürfniß knüpfen, zu etwas Negativem gestempelt. Aber die allgemeine Bewegung geht vom Schmerz zur Lust, das ist die positive Richtung. Freilich schwindet auch die Lust in der Richtung auf den Indifferenz-punkt; aber es wäre verkehrt, die Befriedigung nach Bedürfniß, anstatt das Bedürfniß nach Befriedigung, streben zu lassen. (Zwar sagt Faust „und im Genuß verschmachte nach Begierde".) Vielmehr verschwindet das Bedürfniß in der Lust. Das Negative muß in der Entstehung des Bedürfnisses gesucht werden. (Dagegen sage ich: jede Lust ist eine Reizung welche bei einer Steigerung des Reizes in Schmerz übergeht; jeder Schmerz ist nur quantitativ von einer Lust verschieden und es giebt einen Grad des Übergangs von Lust in Schmerz. Nicht immer wird diese einzelne Lust noch als solche empfunden; denn wir leben in einem Zustande zahlloser einzelner lustvoller Reizungen, das Wohlgefühl des ganzen Menschen ist der Ausdruck davon. Ein Minimalgrad von Reizung und Schmerz wird als Lust percipirt: so liegt auch in jeder Lust das Bedürfniß, der Mangel, das Verlangen nach Reizung; Schmerz ist nur das Übermaß von Befriedigung dieses Mangels und Bedürfnisses. So sind beide, Lust und Schmerz, positiv, nämlich einen Mangel aufhebend, der Schmerz aber zugleich ein neues Bedürfniß schaffend, nach Verminderung des Reizes verlangend. Die Lust verlangt nach Vermehrung des Reizes, der Schmerz nach Verminderung: darin sind sie beide negativ. Das Bedürfniß ist ihre gemeinsame Quelle.) Es wäre ein rechtschaffner Unsinn zu sagen, die Lust ist nichts andres als ein nachlassender Schmerz; so daß man sich Glück zu wünschen hätte, wenn sich das Leben schmerzenreich gestaltete; die Fülle des Schmerzes eröffnet ja eine verlockende Aussicht auf eine gleiche Fülle der Lust. Dühring unterscheidet zwischen den Gefühlen der Liebe, welche völlig normal entstehen, beim ersten Erblühen jenes Affekts und denen, welche gehemmt und reichlich mit Pein versetzt sind: auf letztere schmäht er; nur von einer naturwidrigen Ansicht würden sie als der Gipfel geistiger Verklärung gefeiert. Zwar scheint die lyrische Erhabenheit durch sehnsüchtige Trauer zu gewinnen. Die Liebe bewahre nur da ihre ächte Natur, wo sie der dramatischen Darstellung fähig ist. Was soll aber thatenloses Sehnen im Zusammenhang des handelnden Lebens? Die Dichter beweisen nichts: es ist leichter und oft auch reizender, der Unnatur als der Natur einen effektmachenden Ausdruck zu geben; die dichterische Empfindung giebt sich vielen Thorheiten hin. Es ist eine schwächliche Rückwirkung, wenn sich das Streben, anstatt die realen Hindernisse zu bekämpfen, einem Gefühls- und Ideenluxus ergiebt. Denn das Behagen am Schmerze könne man nur so erklären, daß die Empfindung, in Ermangelung einer auf das Ziel gerichteten Energie, in Reproduktionen und übermäßigen Steigerungen einen subjektiven Abschluß und Ruhe vor sich selbst sucht. Wo ein unabänderliches Schicksal entgegentritt, da wendet sich die Empfindung oft gegen ihren Träger, und zerstört dessen Gemüth. Weicht bloße Trägheit vor den Hindernissen zurück, da ist das Spiel der Affekte nicht sonderlich ernst und erschlafft das Subjekt. Die sinnliche Freundschaft in untadelhafter Gestalt, deren Verzerrung jetzt fast nur bekannt ist. Sie zeigt den Wahnwitz der höchsten Verliebtheit und edle bis zum Tod gehende Aufopferung bei den Griechen z. B. bei Plato. Die Liebe nicht nur als Aphrodite, sondern auch als Eros objektivirt: Eros ist keineswegs das Ideal der Liebe des Weibes zum Manne, sondern das Ideal jener zweiten Gestalt. Es scheint die nahe Verwandtschaft des Weiblichen 646
mit der zarten Blüthe des andern Geschlechts: und überall wo durch Alter- oder Charakterverschiedenheit ein Gegensatz besteht wie zwischen Mann und Weib, möchte er in der Empfindung auch wohl einen Ausdruck erhalten. Dühring erinnert an die Freundschaften der allerersten Jugend mit sinnlicherem Charakter; der Alters-Unterschied gering, die Naturen stark verschieden. Die Beziehungen im vorgerückten Alter sollen nach Dühring entweder Entartungen eines Naturtriebes oder das von der frühesten Jugend an gebliebene Band der Zuneigung sein. Die Erotische Liebe beweist die Überschwänglichkeit des Gefühls unabhängig vom Naturzweck. Nach Schopenhauer soll die Leidenschaft der Liebe nur der Ausdruck des Strebens der Natur sein, in einem zweiten Individuum fortzuleben. (Dühring nennt dies "Streben nach Benutzung einer günstigen Conjunktur".) Aber auch Eros spornte zu jeglicher That, scheute den Tod nicht – kann man da von einem Irrthum der Natur reden? Sie habe die Leistungen ihrer Leidenschaft nur aus Versehen vollbracht? Auch die elterliche Liebe eine wesentlich sinnliche Macht. Mutterliebe als Instinkt, als unwillkürlicher Affekt. Die Liebe des Kindes zu den Eltern ist nur eine reaktive Empfindung; keine instinktive Zuneigung. Es ist Dankbarkeit als Antwort auf Gesinnung. Diese Liebe ist sinnlich, zwar nicht ursprünglich, aber der elterlichen Zuneigung gleichartig. Schopenhauers Ansicht von der Liebe. Wer das Leben verachtet, muß auch die Liebe verachten. Die Wirklichkeit soll nicht leisten, was die Empfindung verspricht, die Liebe soll ein täuschender Wahn sein. Die Empfindung und das Gefühl als solches nie eine Täuschung. Der Mensch kann nur das Gewebe der Ideen der Trüglichkeit bezichtigen, welche mit der Empfindung verknüpft werden. Die Vorstellung ist stets geschäftig, die Zukunft der Empfindung vorwegzunehmen. Hierin ist Täuschung möglich, ja unvermeidlich. Der Verstand läßt die Dimension der Empfindung nach der bisherigen Erfahrung unbegrenzt auch für die Zukunft anwachsen, so lange die Empfindung noch im Anwachsen ist; der Glaube an die Vergänglichkeit der Empfindung ist ihm unmöglich. Die erste Liebe glaubt an die ewige Bedeutung ihrer selbst. Die Dichter haben sie so verherrlicht und den gemeinen Verstand, der die äußere Erfahrung allein kennt, nicht in Rücksicht gezogen. – Die Täuschung liegt also nicht in den Gesetzen der Empfindung, sondern in den Gesetzen des Verstandes. Wollen wir bedauern, daß es ursprünglich unvermeidliche Irrthümer giebt? (Ich denke!) Die Gewalt des Gefühls, welche eine Traumwelt hervorzaubert, ist eine höhere und edlere Kraft als die, welche leidend und empfangend eben nur erkennt. Schaffen steht höher als Erkennen. Schafft jener Zauber auch nur eine Welt der Dichtung, so ist er doch ein Abbild der im Grunde der Dinge wirksamen Potenz. Die Empfindung entspricht jenen überschwänglichen Ideen, weil diese erst von der Empfindung geschaffen sind: hier giebt es keinen Trug. (Schopenhauer's Anklage gegen die Liebe wäre also eine Anklage ihres kunstmäßigen Charakters; es wäre eine Polemik wie die des Plato gegen die Kunst.) Wo wäre denn die Enttäuschung, wenn das Gefühl in einen ruhigeren Rhythmus übergeht und die Ehe daraus entsteht: die dauernde innige Zuneigung kann wegen der Gewohnheit dem Gefühl nicht gegenwärtig bleiben, aber der hohe Grad der gleichsam latenten Liebe tritt hervor, sobald störende Mächte drohen. Was das Band der Familie z. B. bedeutet, zeigt sich auch nur, wenn ein Riß entsteht. Die Liebe des Gatten möchte vielleicht nicht hinter der leidenschaftlichen Liebe zurückstehen. Es ist nicht ganz gewöhnlich, die Ehe als ein Naturgebilde und als ein Geschöpf der Liebe zu betrachten. Sie soll eine gesellschaftliche Einrichtung mit allerlei Zwecken (KinderErzeugung und -Erziehung) sein: das sind aber keine bewußten Zwecke, sondern wirkende 647
Ursachen, die zu Bildungen treiben, welche der Verstand nicht sogleich begreift. An der socialen Welt hat der Instinkt mehr gearbeitet als man glaubt; nicht die bewußten Absichten. In den ältesten Zeiten der Völker ist die Ehe ein Rechts-Institut, verwandt mit dem Eigenthum; das Weib ist in der Herrschaft des Mannes, ohne Willen, als Sache. Es wechselt mit der Heirat den Besitzer, früher war es der Vater oder Großvater. Die Ehefrau gilt im römischen Rechte rücksichtlich der Beerbung der Tochter gleich. Bei andern Völkern zeigt sich in der Vollziehung der Ehe die Nachahmung eines Kaufgeschäftes. Ursprünglich also wurde die Ehe nicht von zwei Personen eingegangen, die Ehe kommt über das Weib wie ein Verhängniß, das Weib hat keinen Antheil an der Gestaltung der Ehe. Die Ehe geht der vollständigen Familie voran, sie muß auf dem Instinkt beruhen: welches ist nun der Instinkt, der zureichend wäre, die Promiskuität zu hindern? Die niedere sinnliche Lust wird vom Gesetz des Wechsels beherrscht. Es scheint also daß es die Natur auf nichts weniger als auf Ehe abgesehn habe. Man sucht sie auch wirklich als Bildung der Noth zu erklären, als Bestreben, die Verletzungen und Störungen auszuschließen, welche sich an die Concurrenz in der Promiscuität knüpfen. Wie kam es aber, daß dann das Weib nicht einfach zur Sklavin des Mannes wurde? So daß sie hätte verkauft werden können: während die Ehefrau, bei Verstoßung, wieder in die alte väterliche Gewalt zurückkam. Man könnte versucht sein, die edlere Gestalt der Liebe zum Fundament der Bildung der Ehe zu machen: aber die Polygamie spricht dagegen. Die Ehe ist also wohl die Verwirklichung der Liebe, aber sowohl der Liebe zum Weibe als der Liebe zu den Kindern. (Diese Partie ist schwach.) Was wollen die, welche den Besitz eines Weibes als das Grab ihrer Hoffnungen betrachten? Sie schmähen auf die Natur, weil sie sich in die Unnatur verliebt haben. "Mit dem Gürtel, mit dem Schleier reißt der schöne Wahn entzwei": die Schuld dieser Idee liegt in der verkünstelten Empfindung; sie stammt aus der düstern Auffassung des Lebens. Schopenhauer und auch die Dichter denken mit Abscheu an die Empfindungen, welche den sinnlichen Genuß begleiten. Man glaubt sich über die Natur zu erheben, indem man sie entadelt. – Die Niedergeschlagenheit soll die unvermeidliche Folge und zugleich das Urtheil über die vorangegangene sündige Lust sein. Hier wird bei Dühring der „natürliche Humor" rege. Das sei nur die Folge der Ausschweifung oder zeige sich in dem niederen animalen Leben (bei Bienen z. B.). Das Kloster heckt seine Theorien im Sinne der Unnatur aus. Ebenso geht es mit der coelibatären Metaphysik, die uns glauben macht, daß schwächliche Überreiztheit und deren Schicksal das Gesetz der gesunden Natur sei. Eine andre Deutung ist die Übertragung der Darwinschen natürlichen Züchtung auf dies Gebiet. Wenn der Mensch mit Überlegung die Verbesserung des Typus erstrebte, würde er so verfahren müssen wie die Natur; noch besser wäre gesorgt, wenn hier ein Instinkt waltete. Schopenhauer sieht ihn in der individuellen Liebe. Die höchsten Steigerungen der Liebe, mit Verachtung von Schicksal und Tod, sind dem Denker Mittel, eine besonders günstige Conjunktur für die Erzeugung zu erlangen. Die Natur ist gleichgültig gegen das Schicksal der Einzelnen; sie treibt sie in Noth und Tod, um in neuen Gestaltungen Dasein zu gewinnen. Das Schönere und Edlere erweckt die Liebe nun in höherem Grade: wo die Liebe nicht gegenseitig ist, da würden sich zwei entgegengesetzte Urtheile der Natur ergeben; vom einen Standpunkt erscheint die Gelegenheit zur Verbesserung der Gattung sehr günstig, vom andern nicht. Es bedürfte also eines zweiseitigen Urtheils, um den Willen der Natur kund zu thun. (In Wahrheit! so ist es!) Das Schicksal der Liebe ist kein Spiel um Zwecke, die außerhalb der individuellen Befriedigung gelegen sind. Die Natur sollte so thöricht sein, das Individuelle 648
nicht zu achten und zu opfern, um hinterher auch nur Individuelles zu erreichen? (Aber um Fortdauer im Individuellen zu erreichen.) Will man eine Deutung, so ist die Überschwänglichkeit der Empfindung das Vorgefühl des allgemeinen unbegrenzten Lebens, welches sich an die Erfüllung jener Sehnsucht zu knüpfen verspricht. (Alles ist schwach; und die tiefe Einsicht Schopenhauer's in's Wesen des Wahns bei allem Instinktiven hat er ganz bei Seite gelassen.) VI. Der Tod. Ist der Tod nichts andres als bloße Abwesenheit des Lebens, so würden wir uns um ihn gar nicht zu kümmern haben; wie wir ja zu dem Nichtsein vor der Geburt stehen. Die Empfindungen des Lebens verbreiten einen Trug über das, was nicht mehr Leben ist. An jedem Traume kann man lernen, wie sich das natürliche Verhältniß zwischen Vorstellung und Empfindung umkehren kann; ein schädlicher Druck auf das Herz und die Träume werden beängstigend. Alle Affekte erdichten Vorstellungen, wo sie dieselben in der Wirklichkeit nicht antreffen. Das jenseits wird mit Bildern dekorirt, die theils die Schöpfungen der unmittelbaren Furcht, theils der reaktiven Affekte sind, welche nach einem besseren Dasein und nach Gerechtigkeit verlangen. Da das Subjekt vernichtet wird, so haben wir vom Tode nichts zu hoffen, nichts zu fürchten. Aber was kommt auch auf dieses Selbst an! Wir wissen sicher, daß gelebt und gelitten werden wird; wer ist es denn eigentlich, der von jenem Leben und Leiden betroffen wird? Ist es ein absolutes Nichts, dem die Überraschung bevorsteht, Träger des Daseins zu werden? Dann dürfen wir für dies Nichts eine Theilnahme haben, wir sind ja jenes Nichts, an welches die Anwartschaft auf zukünftiges Leben verbunden ist. Was uns bereits begegnet ist zu leben wird uns wieder begegnen (dies „uns" im Sinne eines ganz unbestimmten Subjekts). Träume der Metaphysik helfen uns hier nicht weiter, wohl aber alle Instinkte, welche sich auf die folgenden Geschlechter beziehn. Sodann beruht unser Interesse an der Zukunft auf den Gesetz, daß die Vorstellungen unwillkürlich zu praktischen Affektionen führen. Man will z. B. seinen Cadaver nicht den anatomischen Prozeduren ausgesetzt wissen. Man denke an die umständliche Anordnung der Begräbnisse bei Lebzeiten. Gar nun Sorge für die Familie, für den Nachruhm, um die wahrscheinlichen nächsten Schicksale seines Geschlechts. Was uns von allem Nach-demTode angeht, ist das Schicksal derer, die unser Dasein fortsetzen, nicht aber der leere Raum an der Grenze des individuellen Bewußtseins. Jetzt ist der Tod als subjektive Erfahrung zu betrachten: hier beginnen die Anklagen. Die Sterblichkeit soll eine Strafe der Ursünde sein; alles was entsteht ist werth, daß es zu Grunde geht; die Lust des Lebens soll mit dem letzten großen Schmerze bezahlt werden. – Aber der völlig naturgemäße Tod ist gar kein Schmerz, das ruhige sanfte Hinscheiden; hier schiene also die Natur auf Todesqual zur Abbüßung der Lebenslust zu verzichten? Wenn man zwischen einem stillen Leben mit Euthanasie am Schluß – und einem stürmischen mit Todeskampf am Schluß zu wählen hätte, der Instinkt ergriffe das zweite. Nehme man an, es wisse jemand nicht um den nahen Tod, so wird er die Schmerzen des Todeskampfes für dasselbe halten, was einer beängstigenden Ohnmacht bevor geht. Die Aussicht auf diese Qual ist es nicht, die das Dasein vergiftet, bedenklich sind nur die "Riesenschatten unsrer eignen Schrecken". Der Tod wird erst furchtbar durch den Hintergrund, den man ihm giebt. Wie die Liebe eine beseligende Traumwelt, so erzeugt die Furcht eine höllische Traumwelt. Der irregeleitete Verstand erzeugt die Schrecken. Man soll den Tod nicht überwinden, aber wohl bestehen lernen.
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Die Träume üben eine Macht aus wie das Wirkliche, ihre Schatten liegen über dem Tage; sie überbieten oft noch die Empfindung des Wirklichen. Man mag die Pein der Empfindung zur Verdächtigung des Lebens heranziehn, aber man hat kein Recht, die falschen theoretischen Urtheile in Anschlag zu bringen. Die Bedeutung des Todes ist nach dem zu beurtheilen, was er vernichtet. Der schwerste Tod ist der des gereiften Alters; mit Schmerz um die unvollendete Aufgabe, mit Sorge um die Hinterbliebenen. Es ist die Unzeitigkeit, was hier den Tod so herbe macht. Das Sterben ist ein Akt des Lebens. Nur der wird mit Würde sterben, der im Leben eine edle und feste Haltung bewahrte. Will man das Leben des vorzeitigen Todes wegen anklagen, zu dem es fast immer führt, so muß man sich nicht gegen die Thatsache des Todes, sondern die Herrschaft des Zufalls wenden. Der gemeine Begriff des Zufalls hat volle Wahrheit. Nun beruht gerade der höchste Reiz in der Erprobung der Chancen des Daseins. Der Mensch liebt es unter gewissen Umständen geradezu um Leben und Tod zu spielen; die Erfolge, die mit dem höchsten Wagniß errungen sind, gelten ihm als die höchste Genugthuung. Der Zufall ist kein unglückliches Gesetz der Welt. Das Dasein ist nicht die Abspielung eines Schauspiels, bei dem wir nur das Zusehn hätten. Man sollte den Tod lieber als eine gewisse Versöhnung aller sonst nicht bezwingbaren Übel des individuellen Daseins betrachten. Der Gedanke der Vergänglichkeit alles Empfindens und Fühlens ist die letzte Zuflucht. Der Tod ist der endliche deus ex machina in allen Fällen. Was der Tod für die überlebenden ist: das schlimmere übel: hier könnte man eher die Ordnung der Dinge anklagen. Das Individuum ist im strengen Sinne unersetzlich. Der Einzelne muß den Blick auf das allgemein Menschliche richten. Der Einzelne hat bei solchen Verlusten stets ein Recht zur Klage, aber das Geschlecht kann die Schmerzen am einzelnen Gliede nicht bedauern, weil eben dadurch die Theilnahme für den höheren und allgemeineren Charakter des Lebens wach erhalten wird. Das individuelle Wollen wird durch den Zufall beeinträchtigt, die allgemeine Empfindung von der Bedeutung des Lebens gesteigert. Man hätte eher die Anklage gegen eine Welt in der nichts wahrhaft verloren, dann aber auch nichts wahrhaft gewonnen werden könnte. Bedeutung der unersetzlichen Verluste. Der freiwillige Tod scheint einen allgemeinen Vorwurf gegen die Ordnung der Dinge zu enthalten, in der er vorkommt; überdies ist er mit großem Schmerz verbunden. Wer lieber den Tod erleiden will als die Pein der verlornen Liebe oder Ehre, gesteht einem einzelnen Elemente des Lebens eine solche Bedeutung zu, um den Verlust desselben geradezu als den Verlust des Lebens zu betrachten. Der Verlust ist im Wesentlichen schon da. Der freiwillige Tod braucht keine Verurtheilung des Lebens in sich zu schließen. Die Liebe zum Leben ist es selbst, welche den Verlust des Daseins dem Gefühl des Mangels eines wesentlichen Mangels vorzieht. Schopenhauer hat mit dem Selbstmord zwei sich widersprechende Gedanken verbunden. Einmal ist er eine Selbsthülfe der Natur, mit dem Erwachen zu vergleichen, mit welchem die zu hoch gesteigerte Angst des Traumes endet. Dann aber soll der zum Sterben Entschlossne nach einer wiederholten Erprobung der Chancen des Lebens trachten, aber das Leben unter den bestimmten Umständen verabscheuen. – Ist aber das Leben ein Traum, so ist es stets und überall der Gegensatz des ersehnten wachen Zustandes, es ist ein Widerspruch, den freiwillig Sterbenden aus dem ganzen Traume zu einer höheren Wirklichkeit (dem Wachen) scheiden und zugleich doch auch der alten Gattung des Träumens wieder verfallen zu lassen. Nach 650
Schopenhauer erreicht der, welcher das Dasein wegwirft, gar nicht den höheren Zweck, die Frucht des Daseins; er wird wiedergeboren, um die Befreiung von der Lust des Lebens in einem neuen Dasein und dessen Schmerzen zu lernen. So ist der Selbstmord ein Verstoß gegen die ewige Heilsordnung. „Wer kennt nicht jene triviale Idee, daß das Leben die Vorbereitung für ein Jenseits ist? Wer hätte nicht von Prüfung, Zucht und dergleichen gehört?" sagt Dühring. Es ist ein großer Mißgriff, den Selbstmord nach Maaßgabe einer allgemeinen Vorstellung, ohne Rücksicht auf den besonderen Inhalt, zu beurtheilen. Der freiwillige Tod kann eine große Handlung sein oder der Ausdruck einer ganz gemeinen Misere oder einer widerwärtigen Verzerrung der Natur sein. Er kann als sittlich indifferent erscheinen, aber auch wieder als arge Pflichtvergessenheit und empörendes Unrecht gegen die Überlebenden. Der Tod ist eine Vernichtung, (dessen) deren Wesen man aus dem zu erkennen hat, was vernichtet wird. Das Leben ist das Maaß des Todes. Noch wichtiger die Umkehrung: der Tod ist das Maaß des Lebens. Welch einen Gehalt das Streben und Ringen der Menschen in sich einzuschließen vermöge, offenbart sich erst, wenn der Tod naht. Die höchste Energie des Lebens entfaltet sich, wo das Spiel von Gelingen und Mißlingen sich in eine Erprobung von Leben und Tod wandelt. Daher ist die tragische Gestaltung des Lebens die gehaltvollste, sie erhebt sich zu jenen Höhen, wo Leben und Tod an einander grenzen. Der Ernst der großen Leidenschaften bewährt sich an dem Tod. Der dunkle Horizont ist nöthig, damit die Flamme des Lebens in ihrer ganzen Gluth aufleuchte. Wenn die Tragödie uns von aller Kunst am gewaltigsten erschüttert, so ist auch wahr, daß das Leben selbst seinen höchsten Ausdruck in der tragischen Gestaltung erhält. – Der Reiz liegt übrigens mehr in der Möglichkeit der tragischen Gestaltung als in der Wirklichkeit, in der kühnen Bewegung bis zu jenen Grenzen hin. Der Tod darf im Ganzen des Lebens nicht fehlen, sonst würde ein schaales langweiliges Treiben daraus. Der Tod ist nicht der Feind des Lebens überhaupt, sondern das Mittel, durch welches die Bedeutung des Lebens offenbar gemacht wird. VII. Das Gemeinleben. Man weist, wenn die Vorwürfe gegen das individuelle Leben beseitigt sind, auf das gesellschaftliche Elend hin, stellt noch eine furchtbarere Zukunft in Aussicht. Die wachsende Cultur soll die Noth des Lebens nur vermehren; sie soll eine Menge nicht gekannter Übel mitbringen und nicht einmal die gemeine Notdurft des Geschlechts befriedigen; schließlich überall Übervölkerung und peinvolles Dasein. Die vorgeschlagenen Gegenmittel geben den Anklägern des Lebens Anlaß zu neuen Verwünschungen. So scheinen die socialen Übel etwas, was nur durch größere Übel bekämpft und in seinem Wesen gar nicht überwunden werden kann. Man müßte auf jede Rechtfertigung des Daseins verzichten, wenn zwischen den Forderungen des subjektiven Lebens und den objektiven Möglichkeiten, sie zu befriedigen, Disharmonie bestünde. Wäre es z. B. möglich, daß die Aussicht auf Übervölkerung sicher wäre, so wäre eine solche Disharmonie da. Keine Erfahrung kann uns eine solche Antinomie beweisbar machen. Wir denken uns mit Recht, daß die Fähigkeit zur Vermehrung von Individuen subjektiv zwar an gewisse Grenzen der Geschwindigkeit gebunden, übrigens nur durch objektive Hindernisse beschränkt sei. Nun stelle man sich ein Gesetz vor, nach dem die subjektive Kraft selbst gegen eine bestimmte Grenze hin abnähme, d. h. im allmählichen Gange des Geschlechts geradezu im allmählichen Verschwinden begriffen sei. Die 651
Fortpflanzung müßte sich zuletzt auf den bloßen Wiederersatz beschränken. Es giebt viele Analogien für einen solchen Gedanken. In den kosmischen wie individuellen Bildungen wiederholt sich das Gesetz der Abnahme der schaffenden Kräfte und des Überganges in fast gleichmäßiges Beharren des Wechsels. Es giebt nur drei Möglichkeiten: entweder bleibt das Vermögen der zusätzlichen Vermehrung; dann muß sich die Oberfläche des Planeten vergrößern (sonst fehlt einmal der Boden, auf dem die Menschen auch nur stehen können). Oder es entsprechen der zusätzlichen Vermehrung vernichtende objektive Mächte. Oder Abnahme der schöpferischen Kraft. Vom ersten Fall abgesehen, ist eine Hemmung der Vermehrung unumgänglich nöthig. Gegen die Annahme daß die subjektive Kraft abnähme, spricht die Erfahrung: diese beweist bisher weder Zu- noch Abnahme, sondern Gleichmäßigkeit. Die Vermehrung ist Äußerung derselben Kraft combinirt mit der Größe der zeitlichen Perioden, von welcher die Geschwindigkeit der Zunahme zuletzt abhängt. Wie könnte man an eine Änderung der Periodicität denken? So muß man die bisherige Constanz auch für die Zukunft anticipiren. So bleibt die dritte Möglichkeit, durch die Erfahrung überdies schon bewiesen „dem unbegrenzten Triebe objektive Schranken". Das ist es, was Malthus vorschwebte, dem Pessimisten der Socialphilosophie. Er weiß aber nur von den Übeln der Volksvermehrung zu reden und vergißt, daß es für den Menschen kein höheres Gut giebt als wiederum den Menschen. In der übervölkerten Welt werde der Mensch durch mannigfache Entbehrungen verkümmern und zu Grunde gehn. Da soll denn nun das Geschlechtsleben zu einem Privilegium werden, welches nach Maaßgabe des Besitzes ertheilt wird: Man soll unterscheiden 1) das Malthusische Gesetz 2) seine Gesinnung 3) sein Gespenst. Das Gesetz lautet, daß die Vermehrung der Volkszahl viel schneller als die Vermehrung der Unterhaltsmittel erfolge (er vermehrt die Volkszahl multiplicirend, die Unterhaltsmittel addirend mit einem constanten Summanden). In Betreff der arithmetischen Vermehrung der Unterhaltsmittel behauptet er zuviel, er stellt eine objektive Vermehrung der Mittel ohne Grenzen in Aussicht; aber da müßte ja die Materie sich selbst vermehren, damit dies möglich sei: es muß einen Punkt geben, wo der Zusatz von Menschenkraft gänzlich erfolglos bleibt und dem Boden nicht das geringste Mehr abzugewinnen ist. – Man kann zugeben, daß die Tendenz, Subjekte des Bedürfnisses zu schaffen, dem jeweiligen Stande der Bedürfnißmittel vorauseile; immer muß das Bedürfniß der Befriedigung vorausgehn. Malthus muthet nun deshalb einem großen Theil der Gesellschaft die Askese zu; und zwar tritt er dabei für die Besitzenden und Wohlvermögenden ein. Zu ihren Gunsten sollen die Meisten außerhalb der Familienbande wie Lastthiere ihre Arbeit verrichten. Ich sollte denken, eine edlere Gesinnung müßte alle Übel, die aus Übervölkerung entstehen werden, für Kleinigkeiten ansehen, im Verhältniß zu dem großen Unrecht der Doktrin gegen die Proletarier. Ein dürftiger Zustand ist schlimm, das Leben zu verleiden, ein rechtloser ist schlimmer. Die Politiker haben kein Vertrauen in die individuelle Moral, sie wollen aus jener Lehre Sitten und Rechte zur Beschränkung der Eheschließung ableiten. Der eine Theil der Gesellschaft hindert den andern durch Gesetzgebung und Verwaltung an der Eheschließung – das ist die praktische Consequenz jener Lehre. Das höchste Unrecht der Minorität gegen die Majorität! Schlimme Alternative zwischen den Nöthen der Übervölkerung und zwischen Heilmitteln aus Mathusianischer Gesinnung! – Bei einer wirklichen Übervölkerung, wo sie sich zeigt, hat man entweder die Volkskraft nach außen kehren oder die Hemmungen größerer Kraftentwicklung forträumen. Schmerzen der Geburt sind auch hier unvermeidlich, hier bei inneren und äußeren Kriegen. Der Krieg ist in keinem Sinne ein Übel als es der Schmerz überhaupt ist. 652
Verwerflich ist er nur, wenn er nicht die Folge einer Nothwendigkeit ist. Bisweilen müssen im Mechanismus des socialen Getriebes gewisse Potenzen als verlorne Kräfte angesehn werden, damit überhaupt eine Aktion möglich sei. Beim Kampf um das Recht des Lebens ist es ein Mittel ohne jede Bedenklichkeit. Es giebt keine andre letzte Garantie des Rechts als die Einsetzung der physischen Gewalt (wenn hier nicht die Rechtfertigung des Lebens in's Scheußliche und Bestialische übergeht, so bin ich blind!). Das Bewußtsein vom Recht wird erst im Kampfe recht begründet (nicht im Anfange des menschlichen Verkehrs). Falls man nicht überhaupt auf Durchsetzung des Rechts verzichtet (-!), wird die Anwendung von Gewalt nicht vermieden werden können. (Und derselbe Dühring moralisirt vorher auf das Erbaulichste gegen Malthus zu Gunsten des ungehinderten Geschlechtstriebes.) Nun könnte man einen Punkt setzen, wo keine Machtsteigerung mehr im Stande sei, einen gewissen Zustand der Übervölkerung in ein lebensfähigeres Dasein umzubilden. In diesen Fällen, deutet Dühring ah, sei Massenmord mehr zu empfehlen als Askese ("eine theilweise Vernichtung des volleren zur Entwicklung gelangten Lebens besser als die traurige Unterdrückung und Hemmung der Lebensenergie" – beiläufig finde ich, daß Keuschheit eine der mächtigsten Förderungen der Lebensenergie ist). Dann soll das Leben dadurch gehaltreicher werden, daß sich die Widerstände steigern: denn wenn bei Übervölkerung der Einzelne sich durchsetzen will das Spiel des individuellen Bemühens wird bedeutsamer". (o Blödsinn!) „Die Abwägung des Rechts würde wichtiger als sie es je vormals werden könnte." (Ich denke an halbverhungerte Leute auf einem verschlagenen Schiff im Meere, mit dem Problem, wer zu erst gegessen werden soll: da wird freilich der Begriff des Rechts feiner als je!) Dühring sieht in der socialen Unzufriedenheit von heute nur einen heilsamen Sporn, die Trägheit zu überwinden; die socialen Übel scheinen ihm hier und da noch nicht einmal groß genug zu sein, um die Trägheit der Volkskraft aufzustacheln. – Auch hätten wir kein Recht, eine unabsehbare Zeit in Anspruch zu nehmen, wie es Malthus thut. VIII. Die Erkenntniss. In wie fern kann der höhere oder niedere Grad von Erkenntniß eine Quelle von Freuden und Leiden werden? Erkennen beruht auf einem Bedürfniß. Die „reine Freude der Erkenntniß" ist nichts als die Befriedigung über weggeräumte Hemmnisse. Ein Streben muß immer vorangehen; wie bei allem Praktischen. Die Arbeit ist auch hier das Mittelglied zwischen Bedürfniß und Genuß. Das „reine Subjekt der Erkenntniß" ist eine Chimäre. Denn alle Äußerungen des menschlichen Wesens, Thaten oder Gedanken haben Gelingen und Mißlingen gemein. Auf dem Gebiet der Theorie tritt das Übel in der Gestalt des Irrthums auf. Die rein theoretische Enttäuschung ist nicht als Übel zu betrachten. Ist der Irrthum wirklich an sich ein Übel? Sind es vielleicht nicht nur die praktischen Folgen falscher Vorstellungen? Eine Vorstellung, so lange sie für wahr gehalten wird, ist in ihrer Wirkung auf's Gemüth gar nicht von einer echten Wahrheit zu unterscheiden. Vorurtheile können uns ebenso gut glücklich als unglücklich machen; man denke an die Seligkeit im Gefolge von Superstitionen.
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Manchen beseligenden Wahn könnte man für werthvoller als die Wahrheit halten z. B. den eines gütigen und liebenden Gottes. Der Glaube aber hat in unserm Gemüth eine unerschütterliche Grundlage, man muß nur das theoretisch Irrthümliche aus ihm ausscheiden. Nur die verstandesmäßige Dichtung des Glaubens, nicht der Glaube geräth vor der Kritik in Gefahr. Schließlich ist in der Wahrheit allein Übereinstimmung, der Irrthum führt immer zum Widerstreit. Daher ist er ein Übel. Der Irrthum könnte uns nur gleichgültig lassen, wenn in unsrer Natur das Streben nach Wahrheit fehlte. Ein subjektives Übel wird der Irrthum erst, wenn er als solcher erkannt ist. Immer wird daher auch ein Element der Befriedigung dabei sein. Die falsche Idee von der Unbewegtheit der Erde hatte früher gar keine Folgen; jetzt wäre es ein großes Unglück, wenn das wahre astronomische System noch einmal, wie nach den Zeiten Aristarch's verloren ginge. Eine freie Wissenschaft könnte ohne jenen Eckstein gar nicht fortbestehn; die wahren kosmischen Vorstellungen haben heute eine Bedeutung für das Gemüth, sie weisen den Menschen auf Bescheidenheit hin. Die Natur scheint es nicht darauf angelegt zu haben, uns überall sogleich zur Wahrheit zu führen; sie bedarf, scheint es, zeitweilig der Irrthümer. Daß Irren etwas Menschliches ist, genügt noch nicht um das Dasein zu verdächtigen. Erst wo der Irrthum moralisch wird, die Lebensauffassung vergiftet, wird er bedenklich. Je beschränkter unsre Vorstellungen sind, um so leichter werden sie mit den wirklichen Erfahrungen in Widerspruch gerathen.(!) Der unbefangne Mensch setzt seine Ideen sehr bald mit dem objektiven Lauf der menschlichen Angelegenheiten in's Gleichgewicht. (!) Wir hegen kein Mitgefühl mit den Enttäuschungen, welche aus einer pedantischen Moral entspringen. (Pfui!) Die absolutistische Moral ist mit der Grammatik zu vergleichen, so wie die Gouvernanten diese sich vorstellen: als eine Macht aus und durch sich selbst. Man kann die Sprache erst aus der Grammatik meistern, wenn man die Grammatik zuvor der Sprache abgelauscht hat. So muß erst die Moral aus den Triebkräften und dem Grundcharakter des Lebens gewonnen sein, ehe man mit ihr dem Leben entgegentreten darf. Die Moral ist des Lebens wegen da, nicht umgekehrt. – Man hat sich sehr vor unbegründeten Voraussetzungen zu hüten; wir haben uns vielmehr dem Charakter des Lebens hinzugeben. So ernten wir dauernde Befriedigung. Viel getäuschte Hoffnungen beruhen auf überspannten Voraussetzungen über die Mitmenschen. Beim Unrechtleiden ist es ja das eigne Wesen, dessen Consequenzen wir erdulden. Die fremde Gesinnung, die sich über unsere Schicksale hinwegsetzt, ist übrigens häufig nur Schein; die Menschen sind mit ihrer eignen Noth beschäftigt, sie haben da keine Augen für andre. Wie kann ein Mensch an dem Heile der Gattung verzweifeln! Wirft er ihnen allen Gemeinheit und Niederträchtigkeit vor, so bleibt er doch selbst noch übrig. Die Menschen mit großem Wollen glauben an die Möglichkeit ihrer Conceptionen und klagen deshalb die Menschen nicht in desperater Weise an.
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Die wirklich miserable Verzweiflung ist da, wo man selbst fühlt, das zu vertreten, was man wünscht. Ein großer Theil der geistigen Schmerzen ist nicht wirklich auf die Bosheiten der Menschen, sondern auf die Macht unglücklicher Zufälle zurückzuführen. Immerhin bleibt die Pein. Das Unrecht, als das größte Übel, wenn auch nicht gerade als die herrschende Macht. Wir können keine Entwicklung der menschlichen Angelegenheiten denken, ohne die Noth als spornendes Motiv vorauszusetzen. Es giebt keine Weisheit, die den Zusammenhang nach Zwecken eine Erdichtung nennen dürfte. Jede Aktion der Natur ist verstandesmäßig, sie verwirklicht nicht bloß eine Vielheit, sondern eine Unendlichkeit von Verstandesrücksichten. Der ursächliche und auch der finale Zusammenhang reichen so weit, als das Belieben unseres Verstandes ihnen nachzugehn. Was wir im klaren Bewußtsein erkennen, ist nur ein Abglanz jener unendlichen Verkettung: diese und die menschliche Einsicht gehören nicht in dieselbe Gattung. Es ist in den Dingen nicht nur Verstand, sondern etwas, was jenseits allen Verstandes liegt. Die Synthesis dieser unendlichen Verkettung bleibt uns immer ein unerreichbares Jenseits. So kann der Verstand nie das Vermögen haben, den absoluten Gehalt des Daseins zu rechtfertigen. Nicht die Übereinstimmung oder der Widerstreit im System der Dinge, sondern die Gesammtheit des Eindrucks, welchen das Leben auf das Subjekt macht, bleibt der Maßstab. Empfindungen und Gefühle irren nie, weil sie noch nicht zwischen Vorstellung und Gegenstand unterscheiden. Das Gefühl ist für den Verstand etwas Transscendentes, es vermag daher in gewissem Sinne die absolute Natur des Wirklichen zu repräsentiren. Verstand könnte auch im unseligsten Mißgebilde von Welt im reichsten Maaße verwirklicht sein. – Es kommt auf das Maaß und nicht auf die Thatsache des Leidens an. – Das unmittelbare Urtheil über den Werth des Daseins muß die Form des Gefühls haben, das heißt: es wird ein Glaube sein. IX. Der Glaube an den Werth des Lebens. Wenn die begrenzte Umschau, deren wir fähig sind, uns in dem Glauben verstärkt, die Dinge auch bei weiterer Untersuchung den Anforderungen unseres Wesens gemäß zu finden: so entsteht Glaube an den Werth des Daseins. Darin kann es Störungen geben. Bei dem Einzelnen kann durch furchtbare Schicksale das Zutrauen zum Leben ganz gestört werden. "Das Kloster und überhaupt die Abwendung vom Treiben der Welt hat bisweilen einen guten Sinn." (Nun, die Furchtbarkeit des allgemeinen Schicksals ist gewiss größer als jedes "individuelle" –) Die normale Verfassung des Gemüths geht dabei zu Grunde. Wir haben kein Recht, ihm zuzumuthen, aus eigner Kraft nach Versöhnung mit dem Leben zu streben. Das Instrument ist verletzt. Was aber für den Einzelnen berechtigt ist, das ist es nicht für das Ganze, er darf nicht die Menschheit zur Verwünschung des Daseins auffordern. Wäre die Menschheit ein bewußtes Ganze, sie würde vom Leiden des einzelnen Gliedes nicht viel Aufhebens machen. (Umgekehrt! Man denke nur an Zahnschmerz usw. beim Menschen.) (Gerade jenes Gesammtbewußtsein wäre als ein immerfort leidendes zu imaginiren?) Soweit es möglich ist Affektionen zu haben, deren Schwerpunkt in andre Wesen fällt, läßt sich die individuelle Empfindung zum allgemeinen Mitgefühl steigern: und daraus ist das individuelle Schicksal zu bewältigen und zu versöhnen (wie!? weil man an so vielen andern und größern Leiden theilnehmen lernt! der schwerere Schmerz überwältigt den geringeren!) 655
Was geht den Träger des individuellen Bewußtseins das Schicksal der Welt an! Die sympathischen Affekte sind die Vermittler. Ohne den Gedanken einer gewissen Solidarität ist keine Befriedigung, keine Versöhnung möglich. (ego: Das ist halb und halb Redensart; kein Mensch kann das Schicksal der Menschheit ganz empfinden, es ist ein sehr vages Übergreifen aus dem Individuellen in's Allgemeine, welches hier Versöhnung bringt. Ein stärkeres würde das Individuum ganz niederwerfen. Die Engigkeit von Kopf und Herz macht das Dasein erträglich!) Selbstsüchtige Isolirung ist Entartung des Menschlichen. Der furchtbarste Peiniger ist der Gedanke der Verlassenheit und des Preisgegebenseins. Die Menschen machen sich im Glauben an die bessere menschliche Natur gegenseitig irre, aus Eitelkeit, aus dem Kitzel, sich besonders verschlagen und unnatürlich zu zeigen. Es ist nur ein Schein, wenn der Egoismus als herrschende Regel des menschlichen Verkehrs gilt. (Hier fällt Dühring in's Kindische. Ich wollte, er machte mir hier nichts vor! Eigentlich hört hier jede Verständigung auf: glaubt er ernsthaft an seinen Satz, so darf er für alle Socialismen von Herzen hoffen.) Der Glaube an den Werth des Lebens muß auch an den guten Menschen von Natur glauben: (sonst ist es eben nicht auszuhalten, meint Dühring). Er betrifft einmal die subjektive Beschaffenheit unsrer Gattung und sodann die Übereinstimmung der Anlage der großen Natur mit den Bedürfnissen und Zwecken des menschlichen Daseins. In beiden Richtungen sucht er nach Bestätigung seiner noch unvollkommenen Conceptionen. Wenn irgend etwas das Gemüth zu philosophischer Ruhe zu stimmen vermag, so ist es die Betrachtung einer Welt, deren Bedeutung über das menschliche Schicksal unendlich hinausreicht (was wissen wir denn von einer "Bedeutung"! in solchem Falle, für wen bedeutet sie noch etwas!) – Es giebt keinen ärgeren Feind des philosophischen Glaubens als den Ideologismus (der kennt nämlich den strengen Begriff einer wirklichen Objektivität nicht mehr, er verwischt den Unterschied zwischen Glauben und Wissen). Insofern wir das Bedürfniß haben unsere allgemeinen über unser Gewußtes übergreifenden Conceptionen durch neue Erfahrungen und Untersuchungen zu belegen, befinden wir uns im Zustande des Glaubens. Er hat aber thatsächliche Grundlagen, schließt ein, wenngleich beschränktes Wissen ein, und unterscheidet sich dadurch von dem Autoritätsglauben. (Übrigens haben sich die Religionen immer ganz gut mit einem "wenngleich beschränkten" Wissen zu behelfen gewußt und es nie ganz verschmäht. Das bliebe sich also gleich; nur daß Dühring das Gewußte zur Grundlage macht, auf der sich dann die Dichtung erhebt: während in den Religionen gewöhnlich die Dichtung die Grundlage ist, an welche dann gelegentlich auch einiges Gewußte angelehnt wird, mehr um zu stützen als gehalten zu werden, aber doch nicht um ganz als Fundament zu dienen.) Anhang. Der theoretische Idealismus und die Einheit des Systems der Dinge. Von dem theoretischen Idealismus kann man niemals auf praktischen Idealismus, auf eine praktisch ideale Haltung derer, die sich zu ihm bekennen, schließen. Im Gegentheil findet sich, wie bis zu einem gewissen Grad das Beispiel Schopenhauer's zeigt, ein derber Lebensrealismus bisweilen mit idealistischen Grundansichten gepaart. Für Schopenhauer ist der praktische Idealismus eine Lächerlichkeit. Die edelsten Seiten der menschlichen Natur wurden von Schopenhauer in den Schmutz der gemeinsten Auffassung gezogen. (Alles höchst falsch und niederträchtig, Herr Dühring! Ich dachte, der praktische Idealismus Schopenhauer's leuchte heller als die Sonne. Und da muß ihn so ein weiser Knabe auch noch recht ausdrücklich verneinen.) 656
Die transcendente Befriedigung der Rache. Das Rechtsgefühl ist ein Ressentiment, gehört mit der Rache zusammen: auch die Vorstellung einer jenseitigen Gerechtigkeit geht auf das Rachegefühl zurück. Die Gerechtigkeit besteht in der Wiederver(letzung)geltung, der Verletzung muß eine Gegenverletzung entsprechen: talio. Dies die uralte und noch immer populäre Auffassung. Von einer anderen Seite suchte man einen Grund und verfiel auf einen Zweckgrund für die öffentliche Gerechtigkeit: Verhütung der Verletzung durch Abschreckung. Die von praktischen Motiven geleitete Intelligenz weiß, ohne das Rachegefühl, von keiner Gerechtigkeit. Im Criminalrecht zwei Classen: einmal bloße Zweckmäßigkeiten (hat nichts also mit der Gerechtigkeit zu schaffen), sodann die Rücksichten, welche der Mensch dem Menschen schuldig ist; die feindliche Verletzung. Auch im Civilrecht gilt es. Nur insofern Nichtachtung oder Störung eines Zustandes eine Verletzung sein würde, wird der Begriff der Ungestörtheit zum Rechtsbegriff. Das Recht schreibt nie ein positives Verhalten vor. Die transscendente Vergeltung: das Gute soll Segen, das Böse Fluch eintragen. Der Dankbarkeits-trieb ist die Grundlage von den Vorstellungen der Belohnung: wie der Rachetrieb von der Gerechtigkeit. So haben Haß und Liebe auch ihre jenseitigen Welten. Ist denn nun die „ewige Gerechtigkeit" Schopenhauer's etwas so Ernstes und Emphatisch-zuVerehrendes! Der ungebändigte Rachetrieb, der sogar transscendente Ideen bildet! Die, welche das Strafgericht der Ewigkeit anrufen, zeigen im Spiegel ihr eignes Bild. – Man hat nicht nur auf die Verwandtschaft und Gegensätzlichkeit der Ideen zu achten, sondern vor allem auf das, was zu dem ganzen Spiele reizt, die Gewalt der Triebe und Gefühle. Träume sind nur die Ursachen, sondern die Wirkungen unserer Gemüthszustände: Dichtungen auf dem Grund der Triebe und Gefühle. Und wie die Träume, so die ganze vorstellende Welt der Ideen. Die Vorstellung eines transscendenten Strafgerichts ist Dichtung und streitet sodann mit der edleren Haltung des Bewußtseins, als Erzeugniß des Rachegefühls. Am meisten nehmen wir den Arm der Götter in Anspruch, wenn wir über erlittenes Unrecht empört sind. Die letzte Stütze des wankenden Glaubens steht hier: die moralische Welt sollte einer Ergänzung bedürftig sein, sonst geschehe unserem Verlangen nach einer gerechten Ordnung der Dinge kein Genüge. Dazu müsse es eine über den irdischen Dingen stehende ewige Gerechtigkeit geben. Dazu wurde Gott als Forderung des Vergeltungstriebes herangezogen: der Vergelter, der Vertreter der ewigen Gerechtigkeit. Dazu die individuelle Unsterblichkeit. Die Voraussetzung einer eigentlichen metaphysischen Vergeltung ist metaphysische Schuld, und diese ist nicht ohne metaphysische Freiheit denkbar. Die zweite Voraussetzung einer metaphysischen Vergeltung ist metaphysische Fortexistenz des Schuldigen; die dritte – ein metaphysischer Richter und Vollstrecker. Dies ist die Religion der Rache. So hat Kant die Religion verstanden. Die feinste Wendung ist die Schopenhauerische. Die Weltgeschichte das Weltgericht, doch so daß über der physischen Bedeutung der Hergänge noch eine metaphysische steht. Eine mystische Ursächlichkeit des Weltlaufs. Wir sehen nur die Vollstreckung des Urtheils vor uns, und zwar in der Form des Weltlaufs, eines sich deterministisch abspielenden Daseins: Unrecht und Schuld liegt jenseits der Existenz der Welt 657
überhaupt. „Die Menschen sind in der That allzu poetisch, wenn es gilt das Unglück ihrer Feinde mit deren wahrer oder vermeinter Schuld zu verweben." Gerade die Feigheit und die Ohnmacht pflegen in Auffindung sogenannter "Strafgerichte" am glücklichsten zu sein. Es ist eine widerwärtige Consequenz der Rache, die Ereignisse im Sinne einer vermeinten Gerechtigkeit zu deuten. Wir vermehren die Übel der Welt noch durch transscendente Gespenster; erdichten wir keine metaphysischen Karikaturen der Dinge! Das natürliche Bild der Welt entspricht selbst da, wo es unbefriedigt läßt, dem tieferen Wesen unsrer Natur. – Ende. Schluss-Betrachtung, von mir. Der Glaube an den Werth des Lebens beruht auf unreinem Denken. Er ist nur möglich, wenn das Mitgefühl für das allgemeine Leben und Leiden der Menschheit sehr schwach entwickelt ist. Versteht man es, sein Augenmerk vornehmlich auf die seltensten Menschen, die hohen Begabungen, die reinen Seelen zu richten, nimmt man deren Werden zum Ziel und erfreut sich an deren Wirken, so mag man an den Werth des Lebens glauben. Ebenso wenn man bei allen Menschen nur eine Gattung von Trieben, die weniger egoistischen, ins Auge faßt und sie in Betreff der anderen entschuldigt: dann kann man von der Menschheit hoffen. Mir scheint aber umgekehrt viel sicherer, daß der Mensch gerade dann das Leben erträgt und an den Werth des Lebens glaubt, wenn er sich allein will und behauptet, nicht aus sich heraus tritt: so daß alles Außerpersönliche nur wie ein schwacher Schatten bemerkbar ist. Also darin ruht der Werth des Lebens für den gewöhnlichen thätigen Menschen, daß er sich für wichtiger hält als die Welt: und die Ursache davon, daß er so wenig an den anderen Wesen theilnimmt, ist der große Mangel an Phantasie, so daß er sich nicht in andre Wesen hineindenken kann. Wer das kann und ein liebevolles Herz hat, muß am Werth des Lebens verzweifeln; es sei denn, daß er sich eine mystische Bedeutung des ganzen Treibens ausdenkt. Vermöchte jemand gar ein Gesammtbewußtsein der Menschheit in sich zu fassen, er bräche unter einem Fluche gegen das Dasein zusammen. Denn die Menschheit hat keine Ziele. Folglich kann in Betrachtung des Ganzen der Mensch, selbst wenn er dessen fähig wäre, nicht seinen Trost und Halt finden: sondern seine Verzweiflung. Sieht er bei allem was er thut auf die letzte Ziellosigkeit der Menschheit, so bekommt sein Wirken in seinen Augen den Charakter der Vergeudung. Ich glaube, das ist mit nichts zu vergleichen, sich als Menschheit ebenso vergeudet zu fühlen, wie wir die einzelne Knospe von der Natur vergeudet sehen. Es war alles nothwendig und ist es in uns. Nur daß wir das Spectaculum sehen sollen! Da hört eigentlich alles auf. Das Wehe in der Welt hat die Menschen veranlaßt, sich auf geistreiche Weise daraus noch eine Art Glück zu saugen. Die Lebensbetrachtung dessen, der vom Dasein Erkenntniß allein will, dessen der sich ergiebt und resignirt, dessen der ruht und dessen der ankämpft – überall ist auch ein wenig Glück mit aufgesproßt. Es wäre aber schrecklich zu sagen, daß mit diesem Glück das Leiden selbst compensirt würde. Überhaupt sollte schon gar keine Compensation möglich sein! Oder vielmehr: was heißt es hier compensiren? Man kann das Leiden nicht ungeschehen machen, dadurch daß später ein Glück folgt. Lust und Unlust können sich gar nicht aufheben.
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Nun will ich zuletzt mein Evangelium aufstellen. Das lautet so. Wen man verehrt, den liebt man nicht, das ist bekannt. Und der würde am reinsten lieben, der das geliebte Ding gar nicht verehren, sondern verachten müßte. Verachtung ist Sache des Kopfes. Der, welcher sich selbst ganz rein lieben könnte, – also in völlig gereinigter Selbstliebe – wäre der, welcher zugleich sich selbst verachtete. Liebe dich selber und niemanden außer dir – weil du dich allein kennen kannst; und liebe die andern, wenn du es vermagst d. h. wenn du im Stande bist, sie völlig zu erkennen und zu verachten, wie dich selbst. Dies ist die Stellung von Christus zur Welt. Es ist die Selbstliebe aus Erbarmen, der Kern des Christenthums, ohne alle Schale und Mythologie. Selbsterkenntniß entspringt aus Gerechtigkeit gegen sich; und Gerechtigkeit ist im Grunde Rachegefühl. Hat jemand genug an sich gelitten, sich selbst genug verletzt, in Sündhaftigkeit – so beginnt er gegen sich das Gefühl der Rache zu spüren: seine eindringende Selbstbetrachtung und deren Resultat Selbstverachtung ist das Resultat. Bei manchen Menschen selbst Askese, das heißt Rache an sich in Thätlichkeit des Widerwillens und Hasses. (In viel Hast und Arbeit zeigt sich derselbe Hang –) Daß bei alledem der Mensch sich noch liebt, erscheint dann wie ein Gnaden-Wunder. Es ist dies nicht die Liebe des gierigen blinden Egoismus. Gewöhnlich legt man eine solche geläuterte und unbegreifliche Liebe einem Gotte zu. Aber wir selbst sind es, die einer solchen Liebe fähig sind. Es ist Selbstbegnadigung. Die Rache wird abgethan. Damit auch die Selbsterkenntniß. Wir handeln wieder und leben weiter. Aber alle gewöhnlichen Motive, die uns sonst leiten, erscheinen verwandelt. Hier ist der Unterschied zwischen Buddhistischem und Christlichem. Der Christ handelt aus jener Selbstliebe; und vermag er dies nicht immer, dann hat er doch „Selbst-Mitleid". Alles Mitleid ist, wie Menschen sind, schwach. -Aber Christus verachtete sich selbst und liebte sich selbst, und die Menschen ersah er als sich gleich. Der Christ handelt und hält das Handeln für unvermeidlich: dafür tröstet er sich im Hinblick auf den Weltuntergang. Er schätzt alles irdische Streben nicht sehr hoch, es ist für nichts. Wenn wir nun wissen, daß es mit der Menschheit einmal vorbei sein wird, so legt sich auch der Ausdruck der Ziellosigkeit auf alles menschliche Streben. Dazu kann man hinter die Grundirrthümer in allen Bestrebungen kommen und sie aufzeigen: ihnen allen liegt unreines Denken zu Grunde. Was thun alle Eltern z. B.? – sie erzeugen ohne Verantwortung und erziehn ohne Kenntniß des zu Erziehenden – sie thun jedenfalls Unrecht und vergreifen sich in einer fremden Sphäre – aber sie müssen es thun – das gehört zur Unseligkeit der Existenz. Und so wird der Mensch bei allem, was er thut, voller Ungenüge sein und Mitleid mit sich haben. Der Mensch scheint eine Mehrheit von Wesen, eine Vereinigung mehrerer Sphären, von denen die eine auf die andre hinzublicken vermag. – Ende. 9 [2]
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Die Erhaltung der Energie. Von B. Stewart. Das Universum – eine Maschine, die aus Atomen und einer Art von Medium zwischen ihnen zusammengesetzt ist: die Gesetze der Energie sind die Gesetze, welche die Wirkung dieser Maschine beherrschen. Capitel I. Unsere Unkenntniss der Einzelwesen, während wir oft die Gesetze kennen, welche die Gemeinschaften bestimmen. Bei einer sehr niedrigen Temperatur ist die Sterblichkeit in London eine viel größere. Das steht fest, nicht aber, wie ein beliebiger Todesfall durch die niedere Temperatur verursacht sei. Nach einer schlechten Ernte findet stets eine große Einfuhr von Getreide statt; den Weg des einzelnen Theilchens Mehl können wir nicht angeben. Es giebt eine fortwährende Luftströmung nach dem Aequator; aber niemand kann von einem einzelnen Theilchen Luft die Bewegungen angeben. So im Planetensystem, in der Politik der Nationen. Das Naturgesetz aller Einzelwesen ist sehr verwickelt, ob es nun lebende Wesen sind oder leblose Theilchen der Materie; eine große Schlacht wüthet, das Schlachtfeld ist uns oft verborgen; was die Einzelwesen darin thun, sehen wir nicht, aber das Ergebniß des Kampfes können wir beurtheilen, sogar oft vorhersagen. Das der Gemeinschaft erreichbare Gesammtresultat wird durch einfache Gesetze bestimmt. Man vermuthet, daß eine große Anzahl von Krankheiten durch organische Keime veranlaßt werden; unsere Unkenntniß von denselben ist vollkommen. Die Luft wimmelt von solchen, sie kämpfen miteinander, wir sind die Beute der stärkeren. So sind wir mit einer ganzen Welt von Geschöpfen auf's Innigste verknüpft und kennen sie nicht besser als die Bewohner des Mars. Aber doch kennen wir einige Eigenthümlichkeiten dieser Raubstaaten z. B. daß die Cholera hauptsächlich eine Krankheit der Tiefebenen ist, daß wir auf das Trinkwasser zu achten haben. – Die Impfung steuert die Verheerung durch die Blattern, aber wir sind wie Gefangne, die sich verstümmeln müssen, um sich für ihren siegreichen Gegner werthlos zu machen; so daß er sie frei läßt. Noch größer unsre Unkenntniß der Moleküle der unorganischen Materie. Ein Molekül Sand ist das denkbar kleinste Ding, das noch alle Eigenschaften des Sandes besitzt; eine weitere Theilung, falls sie möglich wäre, würde es in seine chemischen Bestandtheile, Kiesel und Sauerstoff, zerlegen. Jedenfalls geht die Zertheilung nicht in's Unendliche. Vergrößert man einen Wassertropfen bis zum Umfang der ganzen Erde: so würde ein einziges Molekül etwas größer als eine Flintenkugel, etwas kleiner als ein Cricketball sein. Wir kommen nie dahin, die letzten Moleküle sichtbar zu machen; die allergrößten Massen des Weltalls haben mit den allerkleinsten dies gemein, daß sie sich den menschlichen Sinnen entziehn: die erstern zu weit entfernt, die letztern zu klein. Diese Moleküle in beständiger Bewegung und in Kampf auf einander stoßend: bis etwa ein Schlag mächtig genug ist, die zwei oder mehr einfachen Atome zu trennen, aus denen ein Molekül zusammengesetzt ist. Dann tritt ein neuer Zustand der Dinge ein. Unsterblich ist das Grundatom, aber fortwährend bewegt. Dies ist eine neue Schranke für unsere Erkenntniß, es sitzt nicht still. Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung. 660
In jedem System, das sich selbst überlassen bleibt, mögen starke innre Kräfte zwischen den verschiednen Theilen wirksam sein, Wirkungen und Gegenwirkungen gleichen sich aber aus, das System verharrt in Ruhe. Eine hohle Glaskugel mit zahlreichen lebhaft sich bewegenden Goldfischen, ganz leicht auf Räder gesetzt, steht still, selbst wenn die Tischfläche eine glatte Eisfläche wäre: es ist ein System. Ein anderes ist die Flinte mit Pulver und Blei: während die Kugel vorwärts geschleudert wird, wird der Flintenkolben rückwärts geschleudert. Wenn die Flinte 3000 Gramm, die Kugel 30 Gramm wiegt und die Kugel per Secunde 300 Meter vorwärts geschleudert wird: dann die Büchse mit der Geschwindigkeit von 3 Meter rückwärts geschleudert. Also 3000 gr X 3 m = 30 gr X 300 m. – Werfe ich einen Stein von einem Abhang auf die Erde, so scheint die Bewegung nur eine Richtung zu haben, in Wahrheit ist sie das Resultat einer gegenseitigen Anziehung von Stein und Erde. Die Erde bewegt sich wirklich aufwärts, dem Stein entgegen, ganz unmerklich: aber, da die Masse der Erde sehr groß ist im Vergleich mit der Masse des Steins, so muß die Geschwindigkeit außerordentlich gering sein. st gw X Schnelligk. nach abwärts = Erdgw x Schnell. nach aufwärts. Allgemein: wenn A seine anziehende oder abstoßende Kraft auf B ausübt, so zieht B wiederum A an oder stößt es ab. Trotz unsrer Unkenntniß der Einzelwesen läßt sich dies Gesetz erkennen. "Bewegungsgröße" ist das Produkt der Masse und der Geschwindigkeit. Bei der Flinte sind also die Bewegungsgrößen in beiden Richtungen gleich. Was unterscheidet doch hier die Flintenkugel und den Büchsenkolben? Die Flintenkugel kann Widerstand überwinden: diese durchdringende Gewalt ist das Merkmal einer mit sehr großer Geschwindigkeit begabten Substanz. Nennen wir dies Vermögen Energie: sie steht im Verhältniß zum Gewicht oder zur Masse des Körpers. Es ist dasselbe, ob eine Kugel von 60 gr Gewicht sich mit Geschwindigkeit von 100 Meter per Sec bewegt oder 2 Kugeln, jede von 30 gr. – Aber die Energie steht nicht im einfachen Verhältniß zur Geschwindigkeit; sie wächst viel schneller mit der Geschwindigkeit. Wird die Geschwindigkeit einer Kugel verdoppelt, so wächst ihre Energie nahe aufs Vierfache. Ist die Geschwindigkeit 2(fach), dann die Energie 4(fach) 3 (fach), dann die Energie 9(fach) Die Energie ändert sich nach der Quadratzahl ihrer Geschwindigkeitszahl. Wie sollen wir nun Arbeit messen? Als Einheit des Gewichts das Kilogramm (2 Zollpfund), als Einheit der Länge den Meter (= 3,186 rhein. Fuß). Heben wir nun ein Kilogramm 1 Meter hoch, so wenden wir Energie auf: diese betrachten wir als Arbeitseinheit: Kilogrammeter. Multiplizirt man das gehobene Gewicht (in Kilogr) mit der senkrechten Höhe (in Met.), durch welche es gehoben wird, so erhält man als Resultat die geleistete Arbeit (in Kilogrammetern). Die Energie ist dem Quadrate der Geschwindigkeit proportional, ob wir nun die Energie an der Dicke der Bretter, welche er durchdringen kann oder an der Höhe messen, zu welcher er, der Schwerkraft entgegen, aufsteigen kann.
[Dokument: Notizbücher] 661
[Sommer 1875] 10 [1] Wer den höchsten Augenblick geniesst, erblindet. 10 [2] Eine Liebe, die noch ganz jung ist – kuhwarm. 10 [3] Du sollst über alle Dinge Gott lieben (eben nicht fürchten) und ihm vertrauen. 10 [4] Das Holländerhafte im Willen Wagner's. Vernichtungsfluch. Gehemmter Wille. Das Eifersüchtige Zornige. 10 [5] König von Baiern. Abendschatten. Herberge. 10 [6] Mathematik. Mechanik (mit Geschichte). Physik. Chemie. Naturwissenschaften descript. Physiologie. Kosmos. Geographie. Geschichte. Nationalökonomie. Philosophie. 10 [7] Bei den kräftigsten Schritten des Lebens resonirt der Tod.
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10 [8] Schriftsteller. Sprech-Stil. Vor Feinden. Unruhiger Rhythmus hier und da fortreissend. Gebrochene Dialectik. Betonen des Autoritativen. 10 [9] Diener und Freund, Kurwenal. 10 [10] Das Christenthum, eine mit ausschweifender Gründlichkeit zu Ende gedachte und gehandelte Form des Alterthums. Das Alexandrinische – die Richtung ist geblieben. Die Gewalt nehmend und dafür gebend – die Cultur den bisherigen Gewaltmächten. 10 [11] Das mittheilende Erfindsamkeit-Talent. Hineinpassen des Gedankens in gegebene Umstände. Dazu gehört auch Schriftstellerei (aus Noth, da das Beispiel nicht möglich war). 10 [12] Das Genossenschaftliche der B Unternehmung. 10 [13] Die Zukunft der Kunst (wenn die Menschheit ihr Ende begreift). Ich könnte mir auch eine vorwärts blickende Kunst denken, die ihre Bilder in der Zukunft sucht. Warum giebt es solche nicht? Die Kunst knüpft an die Pietät an. 10 [14] Die sich Zurückhaltenden, aus Desperation, wie Jacob Burckhardt. 10 [15] Jede Kunst schiesst in's Kraut, bei einer Höhe der Entwicklung. 10 [16] Wie W der Musik erst die Zunge löst und die Glieder bricht. 10 [17] Gegensatz der Höhe der Kunst und der elenden Männergesangsmusik. Bei den Griechen sorgte der Staat. 10 [18] Schilderung der Hauptcharactere. 663
Überblick der Arten. Reichthum. 10 [19] Musiker – Dichter – Schriftsteller – Schauspieler. 10 [20] Griechen. Philologen, Kastenlehrer (einer höheren Kaste). Wagner. Religion. Volkserziehung. Mann und Weib. Staat. Gesundheit und Krankheit. Universitäten, die Gelehrten. Arbeiter und Aristokraten. Handel. Presse. Schule der Erzieher. 10 [21] Ich bin bereit.
[Dokument: Mappe loser Blätter] [Sommer 1875] Vorarbeit zu „Richard Wagner in Bayreuth" 11 [1]
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35. Zu Wagner. Der Kampf mit der αναγχη; darin ruht aller Fortschritt, daß man verlernt, irgend etwas für Nothwendigkeit zu halten. Wagner hat die Desperation vom modernen Menschen genommen, als ob er immer nur Epigone sein müsse. Während sonst in allem wir der alten Cultur verpflichtet sind, mit Staat Gesellschaft Religion: bringt er den Menschen an's Licht, der in uns vor aller Kultur ist und damit wirft er die schwere Last von sich. 11 [2] 36. Er empfindet die Schmach der modernen Kunst innerhalb der modernen Gesellschaft, den Widerspruch der Anforderungen, er erträgt es nicht, quietistisch in der Ecke zu bleiben, sondern als Künstler verlangt er für die Kunst ihre öffentliche Würde und wird an allem zum Revolutionär. Alles an ihm ist prophetisch. Die Wortgelehrten haben nichts mehr zu sagen. Die Schrift-kunst und Poesie ist zum ersten Male erkannt und verachtet. Indem er christlichen und nordischen Mythus beseelt, spricht er doch gar nichts Dogmatisches aus und ist nicht rückständig, wie sonst der Dichter. Das Evangelium der Liebe gegenüber der Macht, der Convention, dem Geist des Handels und des Geldes und der Verträge. Er hat den Sinn für die Armen und Zurückgesetzten in unserer Cultur, den Mimen und Musiker entdeckt er. Er macht die Herzen weich und erschüttert. Und im Umkreis von Jahrhunderten saugt er alles Interesse an sich und ist der Wendepunkt. Der größte Künstler. 11 [3] Charakter der neuen Cultur: das Wissen ihr Fundament, der Nutzen ihre Seele. Woher nimmt man nun die Hoffnungen einer edleren Menschheit? Woher soll die Menschenliebe kommen? Der Veredlung des Einzelnen kann die Religion jetzt nicht mehr nützen, sein Wahrheitssinn empört sich. Die „Liebe zu Gott" ist eine Phrase. Da wäre es denn vorbei mit der Cultur? Der Nutzen bestialisirt und das Wissen mumisirt. Und die Rachegelüste der bisher unterdrückten Menschheit! Was bindet zusammen? Wo ist das Gemeinsame? Ist nicht alles Mittel zur Unterdrückung gewesen, die Kunst voran? Es ist der Haß und die Lust zu vernichten nur zu begreiflich. – Hier ist nun der Künstler Wagner ein Symptom des Entgegengesetzten. Es spricht der Geist der Verneinung des Bisherigen aus ihm; ebenfalls aber das Gefühl des tiefsten Mitleidens, des Hülfreichen, das den Kampf mit der Nothwendigkeit aufnimmt: das Prometheische des Künstlers. Fast hätte er bei diesem Kampf seine Kunst verloren: der Ekel war zu groß. „Ihr heroisch Weisen, gebt euer Herzblut drum." Das Mitleiden, das zur Mitthat drängt! 11 [4] 34. Es sind Elemente da in Wagner, die reaktionär erscheinen: das Mittelalterlich-chiristliche, die Fürstenstellung, das Buddhaistische; das Wunderhafte. Von hier aus mag er manchen Anhänger gewonnen haben. Es sind seine Mittel sich auszudrücken, die Sprache, die noch verstanden wird, aber einen neuen Inhalt bekommen hat. Diese Dinge sind bei dem Künstler künstlerisch, nicht dogmatisch zu nehmen. Auch das National-Deutsche gehört hierzu. Er sucht für das Kommende im Gewesenen die Analogien, so erscheint ihm das Deutsche Luthers, Beethovens und seiner selbst, das Deutsche und seine großen Fürsten, als Bürgschaften, daß etwas Analoges von dem, was er für nöthig in der Zukunft hält, einmal da war; Tapferkeit Treue Schlichtheit Güte Aufopferung, wie er alles dies in der herrlichen Symbolik seines „Kaisermarsches" zusammengesagt hat – das ist sein Deutschthum. Er sucht den Beitrag, den die Deutschen der kommenden Cultur geben werden. Das ist freilich nicht der „Historismus" der Gelehrten Deutschlands, wie Hillebrand meint. Denn das ist wirklich 665
Reaktion und Lügengeist und Optimismus. Sondern in dem großen unbefriedigten Herzen, das weit größer ist als eine Nation – das nennt er deutsch: man nennt es vulgärer Weise das Kosmopolitische des Deutschen, das ist aber nur die Karikatur. Die Deutschen sind nicht national, aber auch nicht kosmopolitisch, die größten Deutschen; nur ihre Feinde haben ihnen den dummen Wahn, man müsse beschränkt sein, eingeimpft. 11 [5] 32. Die Liebe im Tristan ist nicht schopenhauerisch, sondern empedokleisch zu verstehen, es fehlt ganz das Sündliche, sie ist Anzeichen und Gewähr einer ewigen Einheit. 11 [6] 33 – In Wagner sind gefährliche Neigungen: das Maaßlose (wie leicht hätte sein Genie sich zersplittern können! Aber es ist, wie bei den Griechen, als Künstler ist er οωϕοων, als Mensch nicht), die Neigung zu Pomp und Luxus (durch die fortwährende Entbehrung aufgestachelt, das Loos aller Künstler), das Eifersüchtige (er ist gezwungen zu einem Sichmessen an allen modernen Kräften, namentlich Künstlern, um das Wagnerhafte, aber Embryonische an ihnen zu entdecken und so sich doch als nothwendig zu fühlen; wenn er aber der Entwicklung auf sich hin Nothwendigkeit zumißt, so sieht er die andern Entwicklungen als Ab- und Nebenwege, auch Irrwege an, als entzogene Kräfte, als Vergeudung, und zürnt darüber; er zürnt auch dem Ruhme, der solchen Irrsternen gefolgt ist, weil es seinem Wege den Sonnenschein und seinem Werke die Fruchtbarkeit nimmt), das Vielgewandte, Vielverstehende (das Lesen in fremden Individuen, das Überschauen läßt kaum einen recht menschlichen Verkehr zu, wie man auch mit einem Weisen nicht umgehen kann. Einzig naht ihm die Liebe, aber diese blind, während er sieht. So gewöhnt er sich, sich lieben zu lassen und dabei zu herrschen: er hilft andern vor der Verzweiflung.) List und Kunst der Täuschung, zahllose vorgeschobene Motive, Auswege, gleichsam Nothbehelfe im Drama seines Lebens; die er blitzschnell findet und anwendet. Immer Recht haben, sein Unrecht bezieht sich höchstens auf die Form, den Grad, oder das gesammte Material war ihm nicht bekannt. – Alle diese Gefahren sind die Gefahren des Dramatikers, besonders gesteigert durch seinen Kampf, der um die Mittel nicht verlegen sein läßt. Er hat etwas von seinen Helden, sie sündigen nicht. – Nun liegt die Religion der Musik um sein ganzes Wesen: er fühlt es wie Verträge Macht Glanz Kampf und Sieg nicht beseligt, wie alles mächtige Wollen ungerecht macht, und so nennt er die Liebe das Höchste. Die Empedokleische. Er will ja helfen, nützen, erretten – und dies verurtheilt ihn zu einem solchen Leben der Leidenschaft und des Ungenügens. 11 [7] 28. Im Drama ist seine Leidenschaft langathmig und hat ihre Bogengestalt, ansteigend, rasch absteigend; er ist nicht so idyllisch und breitet sich wie ein sanfter See aus. Er bewegt sich unruhig, an verborgenen Felsenzacken gleichsam, zuckend, und plötzlich, allmählich geräth er in eine fortreißende Bewegung, die Unruhe ist in eine Ruhe der schnellen breiten Bewegung übergegangen und nun stürtzt er hinunter in die Tiefe, prachtvoll und mächtig. Die Lust an der Leidenschaft, etwas von der Meereslust an der Brandung und Unwetter. 11 [8] 29. Die vielköpfige Leidenschaft im Drama sein Element: es ist der seelische Vorgang in einer Gruppe von Personen, den er zugleich empfindet. Sein Orchester ist der Ausdruck der 666
verflochtenen Leidenschaft, symbolisch, ohne Ende; der Mensch aller Zeiten wird sich hier wiedererkennen. Er hat ein Ausdrucksmittel, welches über Sprache Convention Gebärde weit hinaus ist; oder vielmehr: Wort, Gebärde dienen zur Verdeutlichung der inneren bewegten Welt des Gemüths. 11 [9] 30. Das Volksthümliche: höchst merkwürdig, da er als Schriftsteller nicht einfach, nicht direkt ist, sondern sich müht, eine ihm unnatürliche Sprache zu sprechen. Er spricht die der höchsten Bildung, aber der alten, unvolksthümlichen, gelehrt-abstrakten; sobald er in sein Element kommt, wirft er dies alles von sich. Auch die Sentenz: man ist auf den Zustand zurückversetzt, wo man noch dichtete und fast noch nicht dachte: in die Zeit, wo die Sprache entstand. 31. Wie volksthümlich er ist, sehe man im Vergleich zu Goethe. Das ganze Faustproblem ist für uns dem Mittelalter kaum entkommenen Menschen sehr verständlich; von dieser Zeitbeziehung abgesehen, ist es die unverständlichste Dichtung. Goethe selbst wußte es, aber benutzte die „barbarischen Avantagen". Wie muß ein Volk zugerichtet sein, damit es den Faust als Volksstück gern haben konnte! Goethesche Lieder sind dem Volkslied nachgesungen, aber nicht vorgesungen: wie es der große Dichter thut. 11 [10] Letzter Akt der Götterdämmerung: alles Abendröthe, Sommerluft, Spätsommer, tiefes Glühen, Trauer webt in allem. Siegfried von seinen Thaten erzählend die rührende Erinnerung. Tragisch jäh bricht die Nacht ein. 11 [11] Wie war mir doch in Nirmsdorf, in der goldenen Aue! der Mond ist aufgegangen. In Plauen am Bach unter Schmetterlingen im Frühling. In Pobles, als ich über die verlorene Kindheit weinte. In Röcken, als ich bunte Schneckenhäuser fand. Bei Naumburg, als ich Kalkspathe und Gips grub. In Pforta als die Felder leer waren und der Herbst kam. Als der Großvater mir Hölty's „Wunderseliger Mann" erklärte. Bei Bonn am Einflusse der Wied (?) in den Rhein überkam mich noch einmal das Gefühl der Kindheit. Dann in der Neugasse, wo ich immer die mahnende Stimme des Vaters hörte. – Die Geschichte, welche die Haushälterin des Pastors Hochheim erzählte. Auf der krummen Hufe im Mondschein Schlittschuh fahrend, „was ich des Tags verdient auf meiner Leyer". – Ravaillac.
11 [12] 25. Wagner ist Organisator von Massen: von großer Masse des Mythus, von großen langathmigen Scenen. Gesetzgeberisch für ganz große Verhältnisse. Deshalb kann er einfach sein, wie nie ein Dramatiker gewesen ist. Er erreicht damit die höchste Wirkung. Blick für den großen Rhythmus zeichnet ihn aus. In Betreff des Rhythmus im Kleinen ist er für das Lebensvolle, Bewegte, Vielartige; jede Musik erscheint steif nach der seinigen; er macht alles Vorhergehende zu einer archaischen Kunst. Es ist als ob es auch noch kein Orchester gegeben habe, bevor seines erklang: das beseelte Leben jedes Instrumentes war früher gar nicht da.
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11 [13] 26. Das Überflüssige in der Kunst: selbst das Gute einer bestimmten Art soll einmal dasein. Der Reichthum der Kunst in der Mannichfaltigkeit der Formen und Wiederholungen hat den Nachtheil, die Form zu verbrauchen, abzustumpfen. Weshalb man sehr streng gegen Nachahmer sein soll. Die griechische Tragödie war vorbei, als die Dilettanten darüber herfielen. – Das Schönste ist die Unnachahmbarkeit Shakespeares und Wagners. D. h. in vielen Dingen, Mitteln der Wirkung werden sie sofort massenhaft nachgeahmt, und es giebt jetzt keinen begabten Componisten, der nicht bereits Wagnerisches Gepräge hätte, in den Melismen, der Harmonik, der freien langen Melodie usw. Die Gefahr von solcher Nachahmung ist sogar sehr groß, wie bei Michel Angelo. Um so stärker muß man sich von der Zusammengehörigkeit der Wagnerischen Mittel und Zwecke überzeugen, um es fast mit Ekel zu empfinden, wenn dann die Mittel isolirt zu ganz andren und kleinen Zwecken verwendet werden. Wagner muß auf Musiker die Wirkung haben, daß er diese zu Virtuosen der Ausübung und zu strengen Lehrmeistern macht; aber das wahnsinnige Componiren sollte er ihnen verleiden. 27. Besonders ist die Gefahr des Naturalismus groß, nach Wagner. Das Erschreckende, Berauschende usw. seiner selbst wegen erstrebt. Eine ungeheure Fülle von Mitteln ist ja da. 11 [14] Um die Erbschaft der Vergangenheit antreten zu können, müssen wir uns auch verpflichtet fühlen, ihre Schulden zu bezahlen. Man muß gut machen, was sie versäumt und verbrochen hat: das ist der billige Dank dafür, daß wir an dem Theil haben dürfen, was sie gewonnen und errungen hat. 11 [15] 24. Die vor-Wagnerische Musik hatte einen episch-lyrischen Charakter; eine Stimmung z. B. eine andächtige bußfertige, heitere usw. wollte sich aussprechen; eine gewisse Gleichartigkeit der Formen und längere Dauer setzten endlich den Hörer in diese Stimmung. Die Gesammtform eines Stimmungsbildes bekam gewisse Gesetze von Anfang und Schluß, Vermeidung von Langeweile und Monotonie bestimmte die Länge. Nun kamen die Contrastwirkungen der aufeinander folgenden Stimmungen auf und später auch, in demselben Tonstück, der Contrast des Ethos. Sehr häufig ein männliches und ein weibliches Motiv. Das sind alles noch uranfängliche Stufen der Musik. Dabei will sie meistens nur unterhalten, und höchstens rühren: die Stimmungen dürfen nicht zu tief, nicht zu stark sein und die Contraste deshalb auch nicht zu kühn. Allmählich lernte man aber doch eine Menge symbolischer Formen für alle Arten von Stimmungen erfinden. Und nun geschah etwas Neues: man bekam die willkürliche Contrastirung satt und überhaupt die Stimmung, das ηϑ οζ und seine Gegensätze; während man auf der anderen Seite immer raffinirter wurde in seltenen Stimmungen, in der Zeichnung abnormer Charaktere (blasirter, kindlicher, greisenhafter, nationaler). Beethoven erfand die Sprache der Leidenschaft, nicht mehr der Stimmung: und damit war die Form der Stimmungsmusik unmöglich: nicht mehr ein idyllischer See war jetzt zu malen. Ein innerer dramatischer Vorgang – denn jede Leidenschaft hat einen dramatischen Verlauf – erzwang sich seine Form; vielfach hemmte und störte das überlieferte Thema der Stimmungsmusik, das wie ein steifes Gesetz die Leidenschaft einschnürte. Es war oft ein Widerspruch: das Pathos, das sich in der Art des Ethos aussprechen sollte. Für das Pathos ist die große Form nöthig, um den großen geschwungenen Bogen jeder Leidenschaft wiederzugeben; die Symphonie wurde von Beethoven dafür erkannt, doch noch mit 668
Anlehnung an die Contraste der Zustände; so daß er oft drei vier Stufen aus dem ganzen Verlauf einer Leidenschaft herausnahm und die Linie der ganzen Leidenschaft mehr errathen ließ, dadurch daß er vier Punkte ihrer Flugbahn hinzeichnete. Dadurch entstand für viele Zuhörer eine Entfremdung von der Musik: sie konnten die Flugbahn nicht erkennen, und die Contrastwirkungen der einzelnen Theile waren auch unfaßlich. Und so entstand bei den geringeren Musikern die reine Willkür der Theile und ihrer Folge; der Zusammenhang des Ganzen fehlte, es waren vier Stücke. (So wie Aeschylus vier Punkte aus dem Leben und Mythus herausnahm und später die Stücke selbständig wurden.) Also: die Erfindung der großen Form der Leidenschaft führte, nicht verstanden, zurück auf den Einzelsatz mit subjektivem Inhalt und das Spannungsverhältniß der Theile zu einander hörte ganz auf; nur daß man häufig wieder zur früheren Contrastwirkung zurückgriff. Denn man muß Leidenschaft haben, um sie darstellen, um sie verstehen zu lernen: Musiker, wie Schubert, Schumann Mendelssohn haben nur Ethos, und deshalb ist die nach-Beethovensche Symphonie ein so wunderliches Gebilde. Im Einzelnen stammeln sie die Sprache des Beethovenschen Pathos, das verwirrt den Zuhörer noch mehr. Mittel passen nicht zu der Absicht und die Absicht ist überhaupt nicht klar. Die lange Cdur Symphonie von Schubert ist langweilig, weil die einzelnen Sätze nur scheinbar im Ganzen, in Wahrheit nur im Kleinen, Einzelnen, ihre Berechtigung haben. Das Einzige, was diese Musiker gewirkt haben, ist, daß sie eine Menge von Ausdrucksformen zugänglicher, verbreiteter gemacht haben, besonders auch im Liede. – Beispiel an der neunten Symphonie Beethoven's: hier giebt der erste Satz den Gesammtton und -Wurf der Leidenschaft und ihres Ganges: das braust immer fort, die Reise durch Wälder Klüfte Ungeheuer: da braust in der Ferne der Wasserfall, da stürzt er in mächtigen Sprüngen hinab, mit einem ungeheuren Rhythmus in seinem Donner. Ruhe auf der Reise, ist der zweite Satz (Selbstbesinnung der Leidenschaft und Selbstgericht), mit Vision einer ewigen Ruhe, welche über alles Wandern und jagen wehmüthig-selig nieder lächelt. Der dritte Satz ist ein Moment aus der höchsten Flugbahn der Leidenschaft: unter den Sternen ist ihr Lauf, unruhig, kometenhaft, irrlichthaft, gespenstisch-unmenschlich, eine Art von Abirrung, die Rastlosigkeit, inneres flackerndes Feuer, ermüdend, quälendes Vorwärtsziehen, ohne Hoffen und Lieben: höhnisch derb mitunter, wie ein nie Ruhe findender Geist herumschweift, auf Gräbern. Und nun der vierte Satz: herzzerschmetternder Aufschrei: die Seele trägt ihre Last nicht mehr, sie hält den ruhelosen Taumel nicht aus, sie wirft selbst die Vision ewiger Ruhe von sich, die in ihr auftaucht, sie knirscht, sie leidet schrecklich. Da erkennt sie ihren Fluch: ihr Alleinsein, ihr Losgelöstsein, selbst die Ewigkeit des Individuums ist ihr nur Fluch. Da hört sie, die einsame Seele, eine Menschenstimme, die zu ihr wie zu allen Einzelnen redet und zwar als zu Freunden spricht und zur Freude der Vielsamkeit auffordert. Das ist ihr Lied. Und nun stürmt das Lied von der Leidenschaft für das Menschliche überhaupt herein, mit seinem eigenen Gange und Fluge: der aber nie so hoch gewesen wäre, wenn nicht die Leidenschaft des nächtlich fortstürmenden einzelnen Vereinsamten so groß gewesen wäre. Es knüpft sich die Mitleidenschaft an die Leidenschaft des Einzelnen an, nicht als Contrast, sondern als Wirkung aus jener Ursache. – So bei Beethoven. Wagner erfindet nun, nach Beethoven, die Darstellung der verflochtenen Leidenschaften und braucht jetzt das sichtbare Drama zur Verdeutlichung, Wort und Gebärde. Er stellt Menschen gegenüber; er entwindet sich des Subjektiven der Leidenschaft, er stellt nicht mehr sich dar: oder zwar doch sich selbst, aber als Resonanz mehrerer leidenschaftlich handelnder Personen, deren Seelenleben in ihm nachlebt, in dem kunstvollen In- und Nebeneinander. Die Aufgabe ist so hoch, daß die Undeutlichkeit eine große Gefahr ist, und deshalb ist auf Deutlichkeit der Musiksprache Wagner's ganze Kraft gerichtet. Er hat erreicht, was noch nie einer erreicht hat: die allerstärkste und deutlichste Sprache des Gefühls. Alle frühere Musik erscheint steif, schwächlich, manierirt, ängstlich. Die 669
unglaubliche Festigkeit und Bestimmung jedes Gefühls grades ist bei ihm das Einzige: er hat das innerhalb der Musik gethan, was der Erfinder der Freigruppe innerhalb der Plastik that: darauf ruht seine Dirigentenkraft im Modificiren des Tempo's; er hat einen gleichsam objektiveren und hart gewordenen Eindruck der zartesten oder wildesten Regungen vor sich, den er trifft, mit zwingender Sicherheit, er schießt immer als Schütze, in's Herz. Alles ist ihm so individualisirte Leidenschaft, der Sturm und das Feuer hat sie, die ganze Natur lebt und webt, niemals unbestimmt, nie stimmungshaft, sondern wie etwas Wollendes, Begehrendes. – Nun ist das Drama bei ihm das bewegte Leben mehrerer Leidenschaften und ihre Geschichte, gleichsam ein Bündel von Kräften und Feuerzungen, die sich kreuzen, abstoßen, aufflammen, ersterben machen. Durch die Oper waren viele einzelne Ausdrucksmittel der Leidenschaft erfunden worden und populär verständlich gemacht. Denn es ist nicht nur nöthig, diese Symbolik zu erfinden, sondern sich auch eine verstehende Hörerschaft zu erziehn. Im Concert ist dies am wenigsten geschehn; da herrscht die Affektation der "höheren Kunst" und des höheren Geschmacks. Aber in der mißrathenen dramatischen Unform der Oper wurde viel Verständniß für das Symbolische eingeschmuggelt. Hier wollte man den Effekt und war ehrlich genug dazu, fern von der vornehmen Gleißnerei, welche die „Würde der effektlosen Kunst" vertritt; da bekam man allmählich eine ganze große Summe von Effekten d. h. von verständlichen symbolischen Formen: da konnte nun ein Genie kommen und sich ihrer bemächtigen. Denn keine Form ist so gemein, daß sie nicht in der Hand des Genie's zum Ausdruck des Höchsten und Edelsten umgedeutet werden könnte. – Von der Seite Schillers her (und Shakespeares) ist das Gefühl für die langathmige Leidenschaft auf der Bühne erzogen worden: ein hoher Grad von Cultur, da das Volk sonst immer nur Stückwerk will und das Ganze und Lange preisgiebt. – Alle diese partiellen Vorbildungen und Vorbereitungen brachten immer ihr eignes Maß von Absurdität und Gelehrtenhaftem mit sich; und der aesthetische Ausdruck, das Schreiben und Reden darüber war ganz ekelhaft. Es gehörte der Blick des Genie's dazu, daß trotzdem eine Erziehung zum Drama und zur Musik der Leidenschaft da gewesen sei und daß es nur gälte, jetzt einmal alles, was ursprünglich zusammengehörte, aber, historisch, jetzt einzeln angelehrt worden war, wieder zusammenzufügen und den Versuch zu wagen, ob man jetzt das Ganze verstehe. Die ersten Versuche Wagner's gelangen nur mäßig, ja fast hätte er verzweifeln wollen. Das in Deutschland übliche Kleben am Dogma, am Hergebrachten wandte gegen die neue Gattung alles das ein, daß ihr zu jeder vorher dagewesenen Gattung vieles fehle: man sah die schlechte Oper, die schlechte symphonische Musik, das schlechte Shakespear'sche Drama in dem Werke Wagner's. Einzelne empfanden die Wirkung, und diese waren für Wagner jetzt das Publikum. Diese lehrte er, sich um die bisherige Aesthetik nicht kümmern. Während er sich seine Zuhörer und Zuschauer entfesselte, entfesselte er immer mehr seine eigene Kraft von allem Angelernten. Das göttliche Gefühl überkam ihn immer mehr, sein Reich gefunden zu haben, wo er Herrscher war. Es geht durch den Tristan ein Wohlgefühl von neuerlangter Meisterschaft, von rücksichtslosem Sagen, was er kann und will, das wohl in keinem Werk der Welt seines gleichen hat. Jetzt erst hat er die große Form (die langathmige Leidenschaft, die vielköpfige Leidenschaft) gefunden; die Angst vor dem Mißverstehen, die ihn bis dahin zwang, das einzelne Stück immer noch zu sehr herauszuheben und zu isoliren (z. B. im Lohengrin), das Publikum gleichsam durch Annäherung an die gewohnte Form zu locken, kurz das Verführen-Wollende, das hat ihn jetzt verlassen. Nichts ist ihm unerträglicher als seine Zuhörer zu verlieren, darin ist er wahrhafter Künstler, der von der beseligenden Welt seines Wesens verständlich reden will; ein Kunstwerk, das sich nicht zu verstehen giebt, ist ein Widerspruch. Denn die Kunst ist eben die Kraft, das wirklich mitzutheilen, was man erlebt hat, weiter nichts! – Nun erkannte er die Schwächen der Mittheilbarkeit des Wort-Dramas als der Musik für sich. Das erstere hat 670
durch den Gedanken das Wort die Gebärde auf das Gefühl zu wirken, gehört also damit in die Rhetorik. Aber nicht immer ist die Leidenschaft beredt, hier muß sie es sein, und zwar weitschweifig. Das Wort ist eine zu verbrauchte und abgenutzte Art sich mitzutheilen, und so muß der Wortdichter die Sprache und den Gedanken ungewöhnlich färben, um so den Ausdruck der Leidenschaft zu finden, geräth aber damit leicht ins Unverständliche; anderseits muß er durch Tiefe der Gedanken und Sentenzen das Ganze heben und geräth so in's Unwahre, d. h. die Leidenschaft spricht sich wirklich so nicht aus und theilt sich also auch nicht mit. Durch die Verbindung von Musik und Sprache und Gebärde erlangt Wagner vor allem, daß er die Grundregungen des Inneren, welche durch Wort und Gebärde nur ausgedrückt werden, selbst, direkt darstellt; und jetzt wird Wort und Gebärde leichtverständlich. Jetzt kann der dramatische Darsteller wieder natürlich sein (der frühere mußte affektiren, Sentenzen sprechen usw.). Der ganze Haushalt des Dramas durfte einfacher sein, das idealisirende Element war nicht erst durch große Complicirtheit des Baus usw. zu schaffen, die Kraft der Musik vermochte in jedem Augenblick alles zu heben. Die Sprache convertirte sich aus einer Gedankensprache in eine Gefühlssprache, wurde gedrängter, warf die unsangbaren Hülfszeitwörter weg usw. Mit diesem neuen Lichtapparat hatte er es in der Hand, dem innern Leben eine Überzeugung zu geben, wie sie nie ein Künstler erreicht haben kann: er konnte dem Wunderbaren einen augenblicklichen Glauben verschaffen. Deshalb konnte er auch Prozesse darstellen, die wenig Handlung in banalem Sinne sind, sondern <sich> fast ganz im Innern abspielen und doch mit der höchsten Verständlichkeit an die Theilnahme der Hörer appelliren, z. B. im Tristan. Daraus folgt nun eine Veredelung der leidenschaftlichen Gebärde, des Plastischen, überhaupt bringt die Musik, weil sie die Empfindung gleichsam streckt (denn die gesungene Leidenschaft ist länger als die gesprochene), eine Überwindung der unplastischen Aufgeregtheit mit sich, des Allzubewegten, an denen das Wortdrama leidet. – Nachdem dies alles der Künstler als seinen Machtbereich wußte, griff er nach dem Stoffe, der groß genug war, zu zeigen, daß hier eine Macht da sei, wie sie kein Künstler der Welt besessen hat – zur Tragödie der Götter und Helden überhaupt. „Die Geschichte der Religion als Tragödie." 11 [16] Instrumentation: er hat die Blasinstrumente erst zu großen Wirkungen erzogen, alle früheren sind Dilettanten, ihm gegenüber, auch Beethoven. 11 [17] Der dramatische Darsteller hat jetzt ein Vorbild in der Musik. Es ist ja durch ein Untertauchen in das fremde Wesen entstanden, Wagner schwindelt nicht wie die Dichter mit Drachen Kröten usw.: der Umfang des von ihm Erlebten und Darstellbaren ist unbegrenzt. Selbstbeherrschung des Künstlers, der eine dreifach waltende Phantasie wie drei Rosse zügelt, zum höchsten Ziele. Kein symphonisches Ausschweifen. 11 [18] 23. Ein Wort über den Dichter Wagner. Denken in sichtbaren und fühlbaren Vorgängen, nicht in Gedanken ist das eigentlich Dichterische: dies zeigt sich im Mythus; dem nicht ein Gedanke zu Grunde liegt, wie man gewöhnlich meint, sondern der selbst ein Denken ist, aber nicht in Begriffen, ich meine ein Weltbild, welches nicht in Worten zu umspannen ist, 671
sondern in Vorgängen. Wie sich Musik ausnimmt für einen Tauben, der nur die Chladnischen Sandfiguren sieht, so ist der Mythus für den Nichtdenker, das Volk; und für dies dichtet der Dichter, der darin selbst zum Volk, ich meine zu den Nichtdenkern, gehört. Der Ring des Nibelungen ist ein ungeheures Gedankensystem ohne die begriffliche Form des Gedankens. Vielleicht könnte ein Philosoph etwas ganz Entsprechendes zur Seite stellen, das ganz ohne Bild und Handlung wäre: dann hätte man zwei disparate Sphären. Aus der einen könnte man in die andre nicht hinein: um zur einen, müßte man reiner Denker, um zur andren zu kommen, reiner Dichter sein. Die Gedanken, welche die Helden der Dichtung äußern, sind nicht die Gedanken des Dichters als Dichter: er denkt in Vorgängen, die Folge der Scenen, und das, was vorgeht, ist sein Denken. Nur die vielen Halbdichter bringen eine Verwirrung hervor: d. h. die Künstler, die nicht ganz Dichter sind. – Wenn nun Wagner bald den christlichgermanischen Mythus, bald Schiffahrer-Legenden, bald buddhaistische, bald heidnischdeutsche Mythen, bald protestantisches Bürgerthum nimmt, so ist deutlich, daß er über der religiösen Bedeutung dieser Mythen frei steht und dies auch von seinen Zuhörern verlangt; so wie die griechischen Dramatiker darüber frei standen und schon Homer. Auch Aeschylus wechselte nach Belieben seine Vorstellungen, selbst von Zeus. Fromm ist ein Dichter niemals. Es giebt keinen Cultus, keine Furcht und Angst Schmeichelei vor diesen Göttern, man glaubt nicht an sie. Der Grieche, der im Bühnenhelden in abergläubischer Weise den Gott sah, war nicht der Zuschauer, den Aeschylus wollte. Die Religiosität der Götzen und Fetische muß vorüber sein, wenn jemand so frei in Vorgängen denken soll, als Dichter. Wagner fand einen ungeheuren Zeitpunkt vor: wo alle Religion aller früheren Zeiten in ihrer dogmatischen Götzen- und Fetischwirkung wankt: er ist der tragische Dichter am Schluß aller Religion, der „Götterdämmerung". So hat er die ganze Geschichte sich dienstbar gemacht, er nimmt die Historie als sein Denkbereich in Anspruch: so ungemein ist sein Schaffen, daß er durch alles Gewordene nicht erdrückt wird, sondern nur in ihm sich auszusprechen vermag. – In welchem Lichte sieht er nun alles Gewordne und Vergangne? – Die wunderbare Bedeutung des Todes ist hier voranzustellen: der Tod ist das Gericht, aber das frei gewählte, das ersehnte Gericht, voll schauerlichen Liebreizes, als ob es mehr sei als eine Pforte zum Nichts. (Bei jedem starken Schritt des Lebens auf dem Bretterhaus resonirt dumpf der Tod.) Der Tod ist das Siegel auf jede große Leidenschaft und Heidenschaft, ohne ihn ist das Dasein nichts werth. Für ihn reif sein ist das Höchste, was erreicht werden kann, aber auch das Schwierigste und durch heroisches Kämpfen und Leiden Erworbene. Jeder solche Tod ist ein Evangelium der Liebe; und die ganze Musik ist eine Art Metaphysik der Liebe; sie ist ein Streben und Wollen in einem Reich, welches dem gewöhnlichen Blick wie das Reich des Nichtwollens erscheint, ein sich Baden im Meere der Vergessenheit, ein rührendes Schattenspiel vergangener Leidenschaft. 11 [19] 22. Wagner's Kunst gehört nicht zur jetzigen Kunst: er ist weit voraus oder darüber. Man soll seine Existenz nicht unserm Zeitalter zum Verdienst anrechnen, zumal es alles gethan hat um seine Existenz zu verhindern. Zähle auf, was Wagner gefördert hat – worin er nicht gehemmt, sondern unterstützt wurde (darunter als Gegenstück Meyerbeer anzuführen, der seinen Tagesund Zeiterfolg auf das Künstlichste in Scene setzte – Wagner hat immer das Gegentheil gethan, besonders seine „Freunde" waren immer schlimm daran, er erlaubte ihnen nie auszuruhen, plötzlich war er ihnen mit etwas Neuem aus dem Gesichtskreis, sie standen wie die jünger im Faust mit Sehnsucht und sahen nach oben). Ebensowenig sollen die Leipziger ihn als ihr Stadtkind verherrlichen dürfen: vielmehr haben sie durch ihr Verhalten gegen Wagner ihr Verhalten gegen die Lutherische Reformation in Erinnerung gebracht. Meine Betrachtung Wagner's bleibt als "unzeitgemäße" gerechtfertigt. Denn alle sonstige Kunst und Wissenschaft, die Musiker und Musikgelehrten dazu, haben ihm den Weg verlegen wollen. – 672
Mir liegt daran, nicht von Wagners Gegnern zu sprechen; denn ich müßte von Jedermann reden. Wer hat sich nicht versündigt? Durch flaches Nicht-hören-wollen oder Halbhören usw. Aber ich schweige: wie ich es verstehe, zeige aber der Titel, daß ich diese Betrachtung unzeitgemäß nenne. 11 [20] 21. Wie Unrecht thäte man, anzunehmen, Wagner sei es um die Kunst allein zu thun und er betrachte sie als das Heilpflaster für alle übrigen elenden Zustände! Sie ist ihm nur der Trost der αναγχη gegenüber, aber wo ist die Grenze der αναγχη, wenn man auf das weite Menschheitsleben blickt! Für das Individuum bleibt es der Haupttrost, seiner individuellen αναγχη gegenüber; zugleich aber stählt er so das Individuum, daß er den Kampf für das Allgemeine aufnimmt. Gerade das Drama Wagner's zeigt den Kampf des Individuums bis aufs Messer mit dem, was als αναγχη gilt, Gesetz, Herkommen, Vertrag, Macht, Geld; das Individuum kann nicht schöner leben, als wenn es in diesem Kampfe zum Tode reift und sich opfert. Dem hinsterbenden Individuum tritt das unerschöpfliche Leben der Gattung gegenüber; was ist unüberwindlich für diese! – Immerhin ist die Kunst für eine Ruhepause im Kampf, nicht für den Kampf selbst: für jene Minuten, wo man rückblickend und vorblickend alles symbolisch versteht, wo eine leise Müdigkeit uns befällt. Die Kunst ist der Traum für den Schlaf des Kämpfers, der erquickende Traum für den erquickenden Schlaf des Kämpfers. Der Tag bricht gleich wieder an, die heiligen Schatten verschweben, und da ist die Kunst fern. Aber ihre Tröstung liegt über dem Menschen von der Frühstunde her. So ist sie die höchste Weltbeglückerin, obschon ihr Glück wie ein Schatten ist. So ist die Kunst eine höhere Stufe der Religion, ohne deren gemeine Grundmotive, Betteln bei den Göttern und Abkaufen von etwas, ohne die niedrige Sucht nach Gewinn. Und so erscheint auch historisch die Kunst am Aussterben der Religionen; freilich werden dann gewöhnlich die Religionen noch durch die Kunst conservirt, durch Tempel Festaufzüge Ritual, dramatische Schaustellungen; dazu die vererbte Dankbarkeit gegen die mythischen Gestalten, welche der Kunst zu Gute kommen. Ein Zustand der Menschen, welcher die Kunst und Religion entbehren könnte, ist vielleicht keine Unmöglichkeit, aber wir können ihn uns noch nicht einmal imaginiren. Die beiden größten Leiden – 1) die Unsicherheit des Wissens, die Nichtgemeinsamkeit desselben bei allen Menschen und 2) die Ungleichheit des Könners – diese Leiden sind kunst bedürftig. Man kann nicht glücklich sein, so lange um uns herum alles leidet: man kann nicht sittlich sein, so lange der Gang der Dinge durch Macht und Gewalt und Ungerechtigkeit bestimmt wird; man kann nicht einmal weise sein, so lange nicht die ganze Menschheit im Wetteifer nach Weisheit gerungen hat. Überall findet der Einzelne sein Ungenügen: wie sollte er es aushalten können ohne zugleich in seinem Kampfe und Streben und Untergange etwas Erhabenes und Bedeutungsvolles zu erkennen? Das zeigt ihm die Tragödie; sie hat Lust am Rhythmus der Leidenschaft und am Opfer derselben; sie erhält die tragische Gesinnung aufrecht und zeigt sie in allem Wechsel der Sitten und Religionen als vorhanden. Lieber sterben als seinem innersten Zuge, seiner Leidenschaft, deren Verkörperung wir sind, untreu werden! Wehe der Menschheit, wenn dieser tragische Sinn ihr je entschwände! Nur ist die Kunst keine direkte Lehrerin und Erzieherin für das Handeln; die Objekte, die die tragischen Helden erstreben, sind nicht ohne Weiteres erstrebenswerthe Dinge. Es ist wie im Traum; was wir während der Bezauberung der Kunst für erstrebenswerth halten, so daß der Tod lieber zu wählen ist als darauf zu verzichten, das ist nicht oder selten im Leben zu gebrauchen; dafür ist die Kunst für die Ruhe und Rast, für den Schlaf des Thätigen; ihre Probleme sind vereinfacht, erleichtert, es sind lauter Abkürzungen der unendlich complizirten Rechnung des wirklichen Lebens. Aber gerade darin liegt ihre Größe und Unentbehrlichkeit, daß sie den Schein einer einfacheren Welt, einer präziseren Lösung seiner Räthsel erregt. Niemand kann diesen Schein entbehren; je complizirter die Erkenntniß von den Gesetzen des Daseins wird, um so 673
inbrünstiger begehren wir nach jener Vereinfachung, wenn auch nur für Augenblicke; um so größer wird die Spannung zwischen Erkenntniß und Einzelnem; damit der Bogen nicht breche, ist die Kunst da. Da aber diese Kluft immer größer wird, und dem Einzelnen eine immer höhere Spannung zugemuthet wird, im Zeitalter der untergehenden Religionen, so kommen wir in eine Periode der Kunst, wie sie noch nie nöthig war und noch nie da war. 11 [21] Vom Theater und der Zerstreuungssucht. Der Mensch hält das Gewohnte für das Rechte. Unser ganzes Leben und Wesen ist eigentlich höchst ungewöhnlich und nachdenkenswerth – corrupt! – Wagner ein umgekehrter Alexander: nicht ein Verbreiter der Cultur, sondern ein Concentrirer, ein Hohlspiegel, ein Zusammenzieher alles möglichen Culturhaften, aus der Weite in die Enge, aus der Zerstreutheit in einen Mittelpunkt zusammen. Seine Kraft zeigt sich darin, die Fäden zu ziehen, die so schlaff geworden sind. Das Adstringirende. Man kann nicht glücklich sein, so lange – Und auch das Wissen ist ein Vorwurf, so lange man den Arbeitern – – – Wagner als Küstenfahrer Mährchen für Kinder und Weiber Bayreuth Kampf mit den Elementen 11 [22] 20. Die Geschichte der Entwicklung der Cultur seit den Griechen ist kurz genug, wenn man den eigentlichen zurückgelegten Weg in Betracht zieht und das Stillestehen, Zurückgehen, Zaudern, Schleichen gar nicht mit rechnet. Die Hellenisirung der Welt und die Orientalisirung des Hellenischen – die Aufgabe des großen Alexanders – ist immer noch das letzte große Ereigniß; die Übertragung einer fremden Cultur immer noch das Problem, an dem wir herumrechnen. Inzwischen ist der Alexandrinismus in immer höherer Kraft hervorgetreten; das verdummende Zwischenspiel des Christenthums – das rhythmische Spiel der beiden Faktoren gegen einander, an dem die Welt zu leiden hatte – natürlich abgerechnet, ist der Gang der Wissenschaft weiter geworden. Aber bei der unendlichen Zerstreuung des hellenischen Geistes ist die eigentliche Culturwirkung des Hellenischen auch immer fadenscheiniger und blässer; vor allem fehlt jede Einheit, es ist ein verwirrtes Wogen. So ist denn jetzt eine Reihe von Gegenalexandern nöthig geworden, die die ungeheure Kraft haben zusammenzuziehn und zu binden, die entferntesten Fäden heranzulangen und das Gewebe vor dem Zerblasenwerden zu bewahren. Nicht den gordischen Knoten der griechischen Cultur zu lösen, so daß seine Enden nach allen Weltrichtungen hin flattern, sondern ihn zu binden, nachdem er gelöst war – das ist jetzt die Aufgabe. In Wagner erkenne ich einen solchen Gegen-Alexander. Er hat, medizinisch zu reden, etwas Adstringirendes, er bannt und schließt zusammen, was vereinzelt und schwach, lässig war: insofern gehört er zu den ganz großen Culturgewalten und ist der Erste einer neuen Reihe von Menschen. Er waltet über den Religionen, über den Künsten, über den Wissenschaften der Geschichte und ist doch der Gegensatz eines Polyhistor, eines zusammentragenden zusammenrechnenden und ordnenden Talentes (wie Aristoteles für die Natur es war). Er ist ein Zusammenbildner und Beseeler des Zusammengebrachten, ein Vereinfacher der Welt. Dabei hat er so viel Menschheitsstufen in 674
sich, um auch ganz in eine sofortige gegenwärtige Aufgabe sich hineinzudenken; er verbindet nicht nur die entferntesten Punkte des großen Meeres, sondern er kann auch, wenn er will, Küstenfahrer sein und sich der kleineren zeitgemäßen Arbeit gewachsen zeigen. 11 [23] 19. Eine Reform des Theaters – es sieht für den oberflächlichen Beschauer fast lächerlich aus. Gut, es sei reformirt, was ist denn damit geschehn? wird er sagen. Nun, damit wäre der moderne Mensch verändert und reformirt; so nothwendig hängt hier alles zusammen. Es ist gar nicht möglich, die Würde der Kunst herzustellen, ohne nicht überall, in Sitte und Staat, mit Gerechtigkeit und Liebe zu neuern. Schon um zu begreifen, in wiefern die Stellung der Kunst entartet ist, in wie fern unsere Theater eine Schmach sind – muß man willig umlernen und das Herrschende Alltägliche einmal als etwas sehr Ungewöhnliches und Complicirtes verstehn. Die seltsamste Barbarei, gemeinste Ergötzlichkeit, gelehrtenhafte Absichten, Wichtigthun und Schauspielerei mit dem Ernst der Kunst, Geldgewinn, Eitelkeit der Gesellschaft, ermüdete Sinne – alles das trifft im Theater zusammen. Wirklich hat man nur das griechische dagegen zu halten, um zu sehn, wie gemein und dazu auf barocke Art gemein unsre Einrichtungen sind. Gesetzt, wir wüßten nichts von den Griechen, so wäre unserm Zustand vielleicht gar nicht beizukommen, und man hielte die Einwendungen für utopistische Träumereien. „Wie die Menschen einmal sind, gebührt ihnen eine solche Kunst – sie sind nie anders gewesen": – würde man sagen. An demselben Orte weihevolle Ergriffenheit und Sammlung, den Höhepunkt unseres Glückes, die höchste Bestärkung der edelsten Menschen, die hingebendste Aufopferung der Künstler, dies Schauspiel aller Schauspiele selbst, den siegreichen Schöpfer eines solchen Werkes zu sehen – ist es nicht Zauberei, das zu Stande gebracht zu haben? Müssen nicht die Menschen, die das erleben können, schon verwandelt und erneuert sein? Ist nicht ein Hafen in der wüsten Weite des Meeres gefunden, eine Stille über den Wassern? Sehe ich von dort aus zurück, wie kahl und ekelhaft kommt mir dann die moderne Art, mit der Kunst zu verkehren vor, wie entwürdigend das Singen und Musiciren in unsern Concerten und Geselligkeiten, das Lesen und Sprechen in unsern gelehrten Kreisen vor! Und wie erbärmlich ist die Stellung des modernen Staates, der sich noch dazu "Culturstaat" nennen läßt! Nur einen Wunsch habe ich bei einem solchen Blick, nie in diese flache Welt zurückkehren zu müssen oder so sehr als möglich gegen sie vertheidigt zu sein; während ich allen den wirklich Leidenden Hoffnung machen möchte, daß es noch Menschen giebt, welche für sie gegen die unterdrückenden Elemente eines luxusartigen Triebes kämpfen werden. Mit dem Handwerker, Bauer und Arbeiter will ich lieber zusammen wohnen als mit dem jetzigen „Gebildeten", mit dem frommen schlichten Manne ohne Gelehrsamkeit lieber als mit dem Gelehrten, ja selbst mit dem unverstellten Diener der Selbstsucht eher noch als mit dem maskirten. 11 [24] 18. Wagner zeigt seine Macht besonders darin, wie er die Widerwilligen unterjocht. Kein begabter Musiker ist mehr, der nicht innerlich auf ihn hinhorchte und ihn hörenswerther fände als übrige Musik zusammen. Viele, die durchaus etwas bedeuten wollen, ringen geradezu mit diesem sie überwältigenden inneren Reize, aber wo sehe man einen, der jetzt noch sich frei erhalten hätte? – sie werden kleinlicher, suchen schlechte Bundesgenossen und Freunde, schmeicheln der Zeit und verderben so: zumal aber wenn sie die große Form affektiren, sind sie nicht mehr ehrlich, sondern wollen täuschen. Besten Falls sind sie fleißig und lernen das, was in der Musik zu lernen ist: in Vertrauen darauf, daß die "Gebildeten" den schwierigen Unterschied zwischen Original und Kopie, zwischen Erlernbarem und Unlernbarem nicht merken, schaffen sie darauf los. Ihnen allen sei, wenn sie durchaus 675
componiren wollen, die kleinste Form anempfohlen, etwas was ich mit freiem Ausdrucke das musikalische Epigramm nennen möchte, dafür reicht vielleicht der Witz und die Gestaltungskraft, und sie können ehrlich sein, dabei kann noch Herrliches entstehn, wie bei den Griechen, die sich auch auf die kleinste Form warfen, als die großen vorweggenommen waren. Wagner selber will keine Componistenschule. Da knüpft man sich an die früheren Meister mit ängstlicher Beflissenheit an, hält die Ohren zu und will lieber Schubert oder Händel oder irgend einen Charakter tragen als den Wagners. Unmöglich! Dieselbe Unentrinnbarkeit bei den schriftstellerischen Gegnern; von den eigentlichen Stroh- und Holz- und Zahlenköpfen abgesehn, ist jetzt jeder selbst nur mäßig begabte überwunden; und der Neid und Haß oder gar die Noth um Brod und Geld, die Verpflichtung, die man gegen Zeitungen eingegangen ist, die Furcht vor dem Publikum, die Anstandsfrage, wie man sich einen schicklichen Rückzug bereite, alles das giebt jetzt alledem, was über Wagner gesprochen und geschrieben wird, so einen ekelhaften Charakter. Hier und da bricht die eigentliche Wuth aus, und man ist so weit gegangen, alles was teuflisch ist in Verführungskünsten Berauschungen mit dem Namen „Wagner" zu bezeichnen. Alles neue Mittel, jene Macht zu mehren! Ob man in Japan oder in den Prérien Amerika's von Kunst redet, so kommt immer nur Eine Stellung in Betracht, die zu Wagner. Und vielleicht concentrirt sich die ganze moderne Kunstgeschichte, die letzten Jahrhunderte vorher und die nächsten nachher, um diesen einen Namen. 11 [25] 17. Wie Wagner es versteht abzuschließen, zeigt seine Beschäftigung mit der deutschen Mythologie. Alle Gelehrten haben nur für ihn gearbeitet; jetzt nachdem das Werk der Wiederauferstehung des deutschen Mythus vollendet ist, ist jene Gelehrten-Gattung überflüssig geworden. Und so sollen sich Gelehrte überflüssig machen lassen! Nur in Hinblick auf solche endgültige Beseitigung ihrer Gattung durch einen Genius arbeiten sie ja! Als solche, die auf Erlösung hoffen, verzaubert zur unterirdischen sonnenlosen mühsamen Arbeit! – Wer hätte jetzt noch viel über Aeschylus und Soph zu sagen! Das Größere ist da, der Inbegriff auch ihrer Kunst, zugleich die höchste Rechtfertigung der Verehrung, welche sie genossen haben, fast auf Treu und Glauben hin. Ebenso ist die Religionsgeschichte an einen Wendepunkt gestellt, ebenso die Kunstgeschichte; eine ungeheure Summe von Wissen kann man jetzt wegwerfen, nachdem das erlösende Wort gesprochen ist; ein guter Theil von Gelehrsamkeit und Geschichte (Aesthetik namentlich) ist veraltet, zum Trödel geworden. Wie es andere verstehn, nicht abzuschließen, zeigt z. B. die Beschäftigung mit dem deutschen Mährchen; das war durch Gelehrte wieder entdeckt und den alten Weibern und Kindern abgelauscht worden. Statt nun den hohen Grad von Erniedrigung zu empfinden, der in der Verwandlung des Männer-mythus zum Alt-weiber-Mährchen liegt, und diesen Bann zu brechen, beschäftigte man sich mit alberner Kindlichkeit mit künstlerischer Verarbeitung des Mährchens, wie z. B. Schwind; und unsere blasirten Großstädter thaten kindlich! Die ganze deutsche Romantik war eine Gelehrtenbewegung, man wollte gern in's Naive zurück und wußte, daß man's so gar nicht war. Wer jetzt nicht heldenhaft ist, kann nicht in's Einfache und Naive hindurch; aber jene meinten, durch Verweichlichung Vergreisung Altjungferhaftes und eine Art von absichtlicher „zweiter Kindheit" dahin zu kommen. Man muß dem Volksliede nicht nachsingen, sondern vorsingen können, um ein volksthümlicher Sänger zu sein. Und das versteht Wagner, er ist volksthümlich in jeder Faser. 11 [26] 676
16. Wagner's Diadochen: er vermacht sein Reich auch "dem Stärksten", aber hier ist nicht von Nach-Wagnerischer Kunst die Rede: man wird auf lange hinaus mit dem Musikschaffen vorsichtig werden, das Produziren und Dilettiren ist vorbei. Er erweist sich eben als eine ganz große Culturmacht darin, daß man gar nicht sagen kann, wo alles noch sein Einfluß ausbrechen kann. Er hat, nicht durch Begriffe allein, sondern durch die That, ein Fragezeichen vor unsere ganze modern sich nennende Cultur gesetzt. Sie ist nicht modern, sondern alt und ganz verdorben bereits. Hier ist mächtig zu erobern und zu siegen; die größten Reiche stehen offen; wer z. B. wird das Reich der Erziehung als morsch erkennen und niederwerfen? (Wenn man die stillen unzufriedenen tiefen Gelehrten zur offenen Empörung und Erklärung treiben könnte, so wäre das an dem bisherigen Gesammtbildungswesen der empfindlichste Aderlaß. Übrig blieben alle politisch Angesteckten unter den Gelehrten und die litteratenhaften Menschen aller Art.) Er hat errathen und verrathen, daß vieles sehr schwach ist; und der Widerstand der bisherigen Machtinhaber z. B. der Gelehrten dürfte nicht viele Schlachten aushalten können. Mit dem Namen „Bayreuth" bezeichne ich eine der tiefsten Niederlagen, welche die deutschen Gebildeten erlitten; sie waren nicht dabei, sie waren wüthend dagegen, die Verachtung der Kommenden wird sie treffen. 11 [27] <15.> Die sittliche Grundnatur Wagner's entfaltet sich immer leuchtender. Auch sie braucht Sonnenschein d. h. den Erfolg im Streben. Ein großes Ziel bringt große Gefahren! und die Unzulänglichkeit dazu und folglich auch die mangelnde Einsicht in diese Unzulänglichkeit – mitunter in den Umständen liegend? – macht böse, man sucht die Gründe in Anderen für das Mißlingen, geht Neben- und Schleichwege, immer im Glauben an sein Ziel und behandelt alle Welt als schuldig, wird gleichsam unterschwürig und reizbar, ungerecht; so geschieht es, daß gute Naturen verwildern, auf dem Wege zum Besten. – Selbst unter denen, welche der sittlichen Reinigung nachjagten, unter Mönchen und Einsiedlern, finden sich verwilderte und über und über erkrankte Menschen. – Wagner durch Mißlingen ausgehöhlt und zerfressen wäre eine fürchterliche Natur; es würde ihn die finstere Melancholie eines Umsturz-Dämons einhüllen. Man soll nur mit schamhafter Zurückhaltung vor dem unenthüllbaren Heiligen des Innern reden: aber ist es nicht zu fühlen, wie im Grunde des Rienzi, des Holländers, Tannhäuser, Lohengrin, Tristan, Hans Sachs, Wotan, Brünnhilde ein verbindender unterirdischer Strom der sittlichen Veredlung fortläuft, und wie immer reiner und heller dieser Strom fluthet? Welcher Künstler bietet uns ein ähnliches Bild? Vielleicht Schiller. Aber doch ist der Maßstab großartiger bei Wagner, der Weg auch viel ausgedehnter. Die Musik, nicht nur der Mythus spricht diese Läuterung aus: und im Ring des Nibelungen ist eine Höhe und Heiligkeit der Stimmung erreicht, daß wir an das Glühen der Eisund Schneegipfel denken müssen. Wie eine wilde Naturkraft, dunkel und unruhig, begann Wagner, suchte stürmisch Befriedigung, dort wo sie die Meisten finden, floh mit Ekel zurück, versuchte es mit Neuem, erstrebte Macht berauschenden Erfolg Taumel und wieder Entsagung, versuchte die Last von sich zu werfen, zu vergessen, neu zu beginnen; der gesammte Strom stürzte sich bald in dieses, bald jenes Thal, kroch in die dunkelsten Schluchten, riß ungestüm Felsen und Wälder an sich, zertrümmerte, tobte – in der Nacht dieses halb unterirdischen Wühlens stand ein Stern über ihm: die Treue, die selbstlose Treue. In immer neuen Bildern prägte er sie aus, Elisabeth zu Tannhäuser, der Bruder zur Schwester im Rienzi, Freund zum Freund, Diener zum Herrn, Elsa zu Lohengrin, Senta zum fliegenden Holländer, Brünnhilde zu Wotan's innerstem Wunsch, Brünnhilde zu Siegfried: warum leuchtete ihm dies Wort gerade heller und gab ihm unaufhörlich zu denken und in Vorgängen zu dichten? Es ist dies das Urgeheimniß Wagner's: das Verhältniß der beiden innersten Kräfte seines Wesens zu einander, Wille und Intellekt, – daß diese sich treu bleiben, ist die große Nothwendigkeit, das Eine, was für ihn noth thut, wodurch er ganz bleibt; während er die schrecklichen Gefahren der Untreue, der 677
Verführungen dazu um sich sieht. Jeder dieser Triebe strebt für sich, in's Ungemessene, will Befriedigung, es ist die innerste Seelenangst Wagner's, daß sie treu bleiben. Seine künstlerischen Begabungen sollen sich ebenfalls treu bleiben, und doch lockt die edelste Art der Neugierde bei Seite, es lockt z. B. die Verführung zur symphonischen Form: fühlt Ihr's nicht, wie oft Wagner sich mit grausamem Entschlusse dem dramatischen Ganzen, das wie ein Schicksal unerbittlich ist, unterwirft und wie der Musiker nicht durchgeht, wozu er so große Lust hätte? – Diese Treue gegen sich selbst oder gegen ein höheres Selbst, eines Weiblichen zu einem Männlichen ist das innerste Problem Wagner's; von da aus versteht er die Welt. Man denke nur an die Überfülle von Talenten, die alle für sich wollen! Die Treue ist bei Wagner sogar der universalere Begriff, unter den die Liebe fällt, die GeschlechtsGeschwister- Kindesliebe. Das ganze Thema der Treue ist bei ihm ausgeschöpft: das Herrlichste ist wohl Brünnhilde, die gegen den Befehl Wotan's Wotan Treue bewahrt und dadurch die Erlösung der Welt möglich macht – ein mythischer Gedanke vom höchsten Range und ganz ihm zu eigen. Da ist aber auch das Gefühl der erlittenen Untreue das Furchtbarste, was je ein Künstler erdacht hat: der Schwur "bei des Speeres Spitze" durch Brünnhilde das Herzzerschneidenste, was es giebt; wie mit Tigertatzen fällt uns da die Leidenschaft an. Die vielen tragischen Möglichkeiten, die in der Treue liegen, hat Wagner für die Kunst erst entdeckt. Sein eigenes Leben ging durch diese Möglichkeiten hindurch und war dadurch eines der schwersten Leben, das gelebt werden kann. Auf der größten Hälfte seines Lebens liegt das Nicht-Hoffen; darum auch das Nichtverzweifeln; aber wie ein Wanderer mit schwerer Bürde durch die Nacht zieht, allein, so mag ihm oft zu Muthe gewesen sein: ein plötzlicher Tod erschien ihm dann nicht als ein schreckendes, sondern ein verlockendes liebreizendes Gespenst. Last, Weg und Nacht – alles mit einem Male fort! Die Treue hielt ihn und stritt mit dem Gespenst. 11 [28] 14. Als Musiker hat Wagner etwas von Demosthenes, den furchtbaren Ernst um die Sache und den Griff und die Gewalt des Griffs, so daß er jedesmal die Sache faßt; er schlägt seine Hand darum, im Nu, und sie hält als ob sie aus Erz wäre. Er verbirgt wie jener die Kunst, er macht sie vergessen und doch ist er, wie jener, die letzte und höchste Erscheinung unter einer ganzen Reihe von gewaltigen Kunstgeistern. Er hat nichts Epideiktisches an sich, was alle früheren Musiker haben, die gelegentlich alle mit ihrer Kunst spielen und sich zeigen: man denkt bei Wagner weder an das Interessante, noch Ergötzliche, sondern fühlt nur das Nothwendige. Dazu gehörte eine ungeheure Willenskraft und die höchste künstlerische Reinheit des Charakters. Keiner hat sich so strenge Gesetze auferlegt wie Wagner, man erwäge nur das Verhältniß der Singstimme zur ungesungenen Rede und wiederum der Melodie der Stimme zum ganzen symphonischen Zusammenhang der Musik, um ein wahres Wunderwerk zu sehen! Und ist nicht jede Partitur Wagner's eine Art von Beweis dafür, daß es vor ihm gar keine rechte Anstrengung und Arbeit und Gewissenhaftigkeit gab? Der Fleiß und die Erfindsamkeit im Einzelnsten ist geradezu ein Ideal. Wie erscheint einem da ein Dichter! Wie etwas sehr Bequemes und Sorgenfreies, wie ein mit vielen Mußestunden beglückter Mensch, der die Arbeit scheut. Damit hat Wagner alle ausübenden Musiker hoch hervorgehoben, sie alle können mit ihrer Seele in ihrem Vortrage sein, weil ihre Aufgabe eine Seele fordert. Der virtuose Handwerker der Kunst ist durch Wagner abgethan; er reizt nicht mehr. Durch seine Mühe und Last und Zwang hat Wagner denen, die die Kunst ausüben, es leichter gemacht, er hat sie vor dem Gefühl, entwürdigt zu sein, geschützt. Und so hat Wagner allen denen geholfen, die sich mit Kunst abgeben; es wird bald nicht mehr möglich sein, daß der leichtfertige Betrieb der Kunst durch unsre Höfe, Stadttheater, Concertgesellschaften, weichliche Kunstfreunde und alle Art von "stillem Trunk ergebenen Leuten", die Kunst auf ihrem Kämmerlein in weichlicher Selbstbefriedigung treiben, sich vor der allgemeinen 678
Verachtung rettet. Wir, die wir wissen, was alles an der einmal richtig erfaßten Kunst hängt, welches Geflecht von Pflichten – verachten wenigstens alle bestehenden Einrichtungen der Kunstpflege auf das Tiefste. Der Gegensatz ist freilich ins Ungeheure aufgerissen! und es ist möglich, daß die Nachkommen zu schwach sind, um ihn zu überwinden. Mit Demosthenes war es vorbei. Aber es sind noch genug Menschen da, welche das fruchtbare Land sind, auf welchem Wagner säen kann – genug, welche wenigstens zu kämpfen und zu arbeiten verstehen: Bayreuth beweist es. Da haben wir für die kommenden Tage schöne Arbeit mit Sicheln und Sensen dem Unkraute beizukommen. Durch diese Arbeit adeln wir uns; denn bisher war es in meinen Augen eine fast verächtliche Sache, ein "Kunstfreund" zu heißen, und ich schätzte die deutlich erkennbaren Kunstfeinde mehr; denn bei ihnen verrieth sich doch häufig das Gefühl, daß dies eine Beschäftigung einer üppigen und selbstsüchtigen Klasse sei, fern von der Noth des Volkes und im Grunde ein Mittel, sich gerade vom Volke zu "distinguiren". Nieder mit der Kunst, welche nicht in sich zur Revolution der Gesellschaft, zur Erneuerung und Einigung des Volkes drängt! 11 [29] 13. Das Improvisatorische. Wagner hat zur Erklärung Shakespeare's darauf hingewiesen, wie er als improvisirender Schauspieler zu denken sei, der die Besonnenheit habe, seine Improvis zu fixiren; und ähnlich bezeichnet er sich als Musiker. "Selbstentäußerung"' als Wesen dieser Künste – Eingehen in fremde Seelen, Lust an dieser Vertauschung; ein solcher Seelenwechsel bei dem Musiker ist nun ein Phänomen höchster Art: das NichtSubjektive des Musikers etwas ganz Neues. So stellt Wagner die Meistersinger neben den Tristan – die herb-freudige Meisterschaft des Tristan, die durchgegohrne goldhellere Meisterschaft der Meistersinger: von einer solchen Möglichkeit hatten die älteren Musiker gar keine Vorstellung; wenn diese nicht ihre Stimmung, ihre Leidenschaft aussprechen wollten, waren sie steif oder spielten mit den überkommenen melodischen Typen. Besonders muß man Acht geben, wie mitunter die Musik entschieden im Gegensatz zu Wagner's persönlicher Stimmung steht: so ist Hagen als Hochzeitrufer eine der verwegensten Selbstentäußerungen Wagner's. Es versuche nur Einer das nachzumachen, nachdem er erst mit der Seele Partei ergriffen hat! Das Höchste ist vielleicht Mime. Und dann sehe man, wenn es Wunderthaten giebt, wie sehr da die Musik an diese Wunder glaubt, z.B. wenn Siegfried sein Schwert schmiedet: wozu eine Kraft der Entäußerung von der Zeit besteht, wovon unsre "Dichter" auch keine Ahnung haben. Wenn <sie> diese Wunder vorbringen, so schwindeln sie; wie unsere Philosophaster schwindeln, wenn sie sich in "Mystik" tauchen. Das ist aber der Fluch der jetzigen Philosophirer, daß sie sich mit ihrem phantasieleeren nüchternen und zugleich verworrenen Kopfe anstellen, als seien sie zur Mystik überhaupt befähigt; weshalb zu rathen ist, jedem, der mystische Wendungen macht, als einem unehrlichen Gesellen sechs Schritt fern zu bleiben; am wenigstens bedenklich ist es, wenn es nur Verlegenheits-Mystik ist, dort wo der Verstand unsicher wird, das Auge sich trübt, und der Besonnene sich zurückzieht – fast jeder Denker streift an solche Grenzen an. Wagner taucht in fremde Köpfe, Sinne, Zeiten hinein und hinab und macht uns nichts vor. Ein Riese, ein Höhlenwurm, Rheintöchter – das wäre alles für unsre "Dichter" Lügnerei und läppische Tändelei: sie haben den Zauber nicht im Leibe, um die Natur zu beseelen und das Belebten der Welt zu mehren! Es sei nur auf einen Augenblick – aber er war diesen Augenblick verwandelt, und trug den Eindruck davon: man höre, wie die Kröte kriecht! 11 [30] Da uns nicht allzu beglückten Menschen dieser Zeit einmal ein ganz großer Mensch geschenkt ist, so sollen wir uns darüber von Herzen freuen und es auch zeigen, daß wir uns 679
freuen; denn hassenswürdig ist die Freude, die keine Genossen sucht, sondern sich in's Kämmerlein versteckt. Vielleicht vermögen wir so das Glück in der Welt etwas zu mehren: und bei dem vielen Haß und Eifer, von dem wir voll sind und häufig genug überfließen, sollten wir doch am wenigsten unser Glück den Andern vorenthalten: es ist unsre Gegengabe, und ich wünsche sehr, daß noch ein Überschuß dabei bleibt. Wenn die Wahrheit meist bitter ist und doch gesagt wird, so wäre es grausam und böse, die süße Wahrheit im Stillen für sich zu verspeisen und Niemandem einen Antheil zu gönnen. 11 [31] 12. Daß die Kunst nicht die Frucht des Luxus von Klassen oder Einzelnen ist, sondern gerade einer vom Luxus befreiten Gesellschaft zugehört und ihre Entstehung zu verdanken hat, ist der neue Gedanke. Wie eine solche Gesellschaft beschaffen sein müsse, zeigt im mythischen Bilde Wagner in den Nibelungen: wo die Götter vernichtet, die Macht und das Geld seine fluchbeladene Bahn zu Ende gelaufen ist, wo der Geist der Treue, Liebe unter den Menschen herrscht. Die bisherige Kunst ist die Frucht des Luxus (doch nicht die kirchliche); auch die Musik hat einen Antheil daran gehabt und einen spielerischen Charakter erhalten, bis sie durch Beethoven zur Besinnung kam und von Wagner gereinigt wurde. Denn er ist der kathartische Mensch für die Kunst. Es sind wirklich die Armen und Schlechtbegüterten, auch die Wenig-Unterrichteten, an denen Wagner's Kunst ihren festesten Schutz hat. – Wagner hat ganz recht: wo die Politiker und die Weisen aufhören, da fängt der Künstler an, als Seher und Ahner der neuen Gedanken. Die nächste ungeheure Sphäre, die zu erobern ist, ist die Erziehung: und erst, wenn eine genügende Masse Menschen so im Widerspruche zu allen bestehenden Mächten sich fühlen, werden sie auch die Schultern gegen das Gebälk stemmen. Es ist eine sektirerische Kunst und wird eine sektirerische Erziehung sein: aber mit dem höchsten Streben, über die Sekte hinauszukommen. Es liegt in ihrem Wesen, nicht eine Grenze, eine Klasse abzusondern, nur durch äußere Gewalt kann sie eine Zeit Sekte sein. So lange es noch Menschen giebt, die nicht neu erzogen sind, haben die Neu-Erzogenen zu leiden. „Wir sollen alle Genies sein" Wagner. 11 [32] 11. Wagner's Prosa-Schriften, außerordentlich gedrängt den Gedanken nach, sind schwer zu verstehen, weil er nicht accentuiren will und weil im größeren Satzgefüge er Hochton und Tiefton nicht gegen einander abwägt; es ist ihm alles so wichtig, als ob alles unterstrichen wäre. Man wird diese Schriften bei weitem deutlicher finden, wenn man sie gut vorgetragen hört: denn sie sind im Sprechstil, nicht im Schreibstil geschrieben. Es ist ein unruhiger Rhythmus in ihnen, eine Ungleichmäßigkeit des Zeitmaßes, wodurch sie, als Prosa, in Verwirrung setzen; die Dialektik ist vielfach gebrochen, durch Gefühlssprünge und oft mit einer Art von Widerwilligkeit vorgetragen, gleichsam versteckt; gleichsam als ob der Künstler sich des begrifflichen Demonstrirens schämte. Am meisten beschwert den nicht ganz Vertrauten die Art der autoritativen Würde, die ganz eigen und schwer zu beschreiben ist: mir kommt es so vor, als ob Wagner häufig gleichsam vor Feinden spreche, mit denen er keine Vertraulichkeit haben mag und denen gegenüber er sich nicht natürlich, sondern zurückhaltend, abhaltend zeigt. Nun bricht häufig genug die fortreißende Leidenschaft durch diesen absichtlichen Faltenwurf hindurch; dann zerbricht die künstliche, schwere und mit Nebenworten reich geschwellte Periode, und es entschlüpfen ihm Sätze und ganze Seiten, die zu dem Schönsten gehören, was die deutsche Prosa hat: so namentlich im Beethoven. Im ganzen fehlte ihm, wenn er Prosa schrieb, der Leser; an das Volk dachte und als Volk fühlte 680
er, wenn er als Künstler schuf; aber als prosaischer Erklärer – an wen richtete er sich da! ja sollte er den „Gebildeten" vor Augen haben, den Gelehrten? Fast mußte er es: und daher das Erzwungene, Sich-zwingende. Die Noth gab ihm seine theoretischen Schriften ein, er schildert es selbst: man nahm ihm ja sein schönstes Mittel, sich mitzutheilen, das Beispiel. Immerhin möchte ich wissen, bis zu welchem Grad der Verwirrung das Reden über Wagner und über Musik gerathen wäre, wenn er nicht geschrieben hätte: und gewissen Schriften wie dem Beethoven, Schauspieler und Sänger, "über das Dirigiren" wohnt eine verstummen machende Kraft bei, wie sich das im Fortgange unserer Gesittung immer deutlicher zeigen muß. Hier ist ein ganz Großer, der von Erlebtem redet: was hätten die Kleinen, die nichts erlebt haben, unsere Aesthetiker und Kunsthistoriker noch zu sagen! Aber selbst die älteren namhaften aesthetischen Schriften sind seitdem im Werthe gesunken; man bedarf jetzt der Wagnerischen Schriften mehr als des Lessingschen Laokoon und der Schillerschen Prosaschriften. Dabei sind sie reicher, auch leichter zu verstehen als Schiller's aesthetische Schriften, auch viel principieller; und verdienen deshalb viel mehr als die schillerschen an den Schulen und Universitäten gelesen und erklärt zu werden. Sie sind überhaupt die wichtigsten aesthetischen Schriften, die es giebt – schlimm daß man so etwas überhaupt noch sagen muß! Da ist alles – Problem und Lösung – erlebt erlitten und siegreich errungen, kein albernes Heiligsprechen und Schwören auf Aristoteles, wie selbst bei Lessing, tritt dazwischen. Zudem sind sie ein treffliches Übungsmittel in einer der schönsten Aufgaben, einen großen Künstler im Werden zu belauschen, zu sehn, wie er sich selbst verbessert – auch wenn er stolpert, schlägt er noch Feuer heraus -, befreit, verdeutlicht und "verinhaltlicht" aus dem Unbestimmten heraus kommt. Diese Schriften haben gar nichts Kanonisches, Strenges: sondern das Kanonische liegt in den Werken. Es sind Versuche, das Erlebniß zu begreifen, in Begriffen abzuhäuten. Wer es besser kann, thue es besser; es war ein schlimmer Zwang für Wagner, es überhaupt thun zu müssen. Es nahm ihm ja Keiner Zeit seines Lebens eine Last ab. 11 [33] Zum Schlusse. 10. Die große Begabung ist das herrlichste Schauspiel von der Welt; wo sie erscheint, wird die Erde zu einem sommerlichen Garten und die Rosensträuche wollen gar nicht zu blühen aufhören. Alles muß ihr zum Heile werden, so schwere Schulen sie auch durchgeführt wird. Sie nährt sich von Gift und wird gesund und stark dabei, wenn ein Andres daran auch verderben sollte. Jede Gefährlichkeit macht sie beherzter, jeder Sieg sie besonnener. Das Gespött der umgebenden Welt ist ihr Reiz und Stachel, sie genießt es wie Lob und Balsam: schläft sie, so "Schläft sie nur neue Kraft sich an"; verirrt sie sich, so kommt sie mit der wundersamsten Beute aus Irrniß und Verlorenheit wieder heim. Sie macht den Leib immer gesunder und zehrt nicht am Leben, je mehr sie lebt; sie waltet über dem Menschen wie eine beschwingte Leidenschaft und läßt ihn gerade dann fliegen, wenn der Fuß im Sande ermüdet oder am Gestein wund worden ist. Sie kann nicht anders als mittheilen, und jeder darf an ihrem Dufte theilhaben; mildthätig und barmherzig ist sie ohne alles Nachdenken, sie sieht die Person nicht an und geizt nicht mit ihren Gaben. Zurückgewiesen, schenkt sie reichlicher, gemißbraucht von dem Beschenkten, giebt sie auch das kostbare Kleinod, das sie hat, noch hinzu; und noch niemals waren die Beschenkten der Gabe ganz würdig: so lautet die älteste und die jüngste Erfahrung. Dadurch ist die große Begabung das räthselvollste Ding, ein Abgrund in dem Kraft und Güte gepaart ruhen, eine Brücke zwischen Selbst und Nichtselbst: wer möchte den Zweck nennen, wozu sie überhaupt da ist? Sollte wirklich das Größere des Geringen wegen vorhanden sein, die größte Begabung um der kleinsten willen, die große Tugend und Heiligkeit um der Gebrechlichen willen? Wäre dies der Fall – nur einen 681
Augenblick gönne man uns so eine überschwängliche Möglichkeit: so würde dies wie ein sonniger Strahl von Liebe sein, in dem das ganze Erdenleben vergoldet glänzte. 11 [34] 9. Es ist durch Wagner wieder einmal bewiesen, daß der Einzelne, während eines gewöhnlichen Menschenlebens, etwas ganz Neues zeigen kann, daß einem, der auf den Kanon der Allmählichkeit der Entwicklung schwört, Hören und Selen vergeht. Alle begabten Menschen sind sehr geschwind – ich will einmal sehen, wie lange es dauert, bis unsere nichtgeschwinden Zeitgenossen nachgekommen sind; ihr Glaube an die Langsamkeit und an die Ameisen-Arbeit Vieler ist keine Schmeichelei auf ihre eigne Begabung. Von einem solchen Werk wie den Nibelungen, von einem Unternehmen wie dem Bayreuther, gab es keine Vorzeichen, keine Übergänge, keine Vermittlungen. Den langen Weg zum Ziele und das Ziel selbst wußte Keiner außer Wagner; es ist eine Weltumsegelung im Reich der Kunst, wobei, wie es scheint, nicht nur eine neue Kunst, sondern die wahre Kunst selber entdeckt wurde. Alle bisherigen modernen Künste sind dadurch als vereinzelte als Einsiedler- oder Luxus-Künste entwerthet; die halbtodten Erinnerungen an die wahre Kunst, die wir Neueren von den Griechen her hatten, dürfen nun ruhen. Es ist für Vieles an der Zeit, jetzt abzusterben. Alle spielsüchtige verweichlichte Kunst ist tödtlich erschrocken, alle mönchisch-einsame, verkümmerte Kunst erlöst. Das viele Reden und Lärmen, welches die moderne Bildung von der Kunst gemacht hat, wird als eine schamlose Zudringlichkeit empfunden werden, jetzt wo jeder jünger der neuerstandenen Kunst sich zu einem fünfjährigen pythagoreischen Schweigen verpflichtet. Er verlangt nach heiligeren Wassern und nach Weihungen; denn wer hätte nicht an dem widerlichen Götzendienst der bisherigen Kunst Hände und Gemüth besudelt! Schweigen und Reinsein – das gelobt er sich. 11 [35] 8. Hervorragend ist Wagner's Trieb zur Mittheilung und seine Erfindsamkeit im Mittheilen. Ein Gedanke, wie der seinige, in der höchsten Kraft empfangen und zur Schönheit geboren, würde verurtheilt erscheinen, ein Hirngespinst zu bleiben, wenn Wagner nicht diese biegsame und unersättliche Mittheilbarkeit besäße. Er denkt seinen Gedanken in die jedesmaligen Umstände und Zeiten hinein, und erscheint dann der Ausdruck desselben verkümmert, so ist er trotzdem selbst in Wagner's Kopf und Herz rein und groß geblieben. Wo eine kleine oder bedeutende Gelegenheit sich von Ferne zeigte, seinen Gedanken durch ein Beispiel zu zeigen, war er bereit; wo eine halbwegs empfängliche Seele sich ihm aufthat, warf er seinen Samen hinein. Er knüpft Hoffnungen an, wo der kalte Beobachter mit den Achseln zuckt; er täuscht sich hundertfach, um einmal gegen diesen Beobachter Recht zu behalten – und um auf die Dauer gegen alle Skeptiker überhaupt Recht zu behalten. Die kleinen und großen Orchester, die er führte, die einzelnen Musiker und Schauspieler, denen er ein Wort sagte, die Städte, die ihn im Ernste seiner Thätigkeit sahen, die Fürsten und Frauen, die halb mit Scheu halb mit Liebe etwas von ihm zu erhaschen suchten, die verschiedenen europäischen Länder, denen er zeitweilig angehörte, die auf das Eifrigste weitergesprochenen Nachrichten, die er von seinen Plänen gab (und von denen schon seit Jahrzehnten die aesthetischen Berichterstatter der Zeitungen fast gelebt haben), die Schriften, mit denen er sich half, wenn er nicht zur That kommen konnte, die Schüler, die er sich erzog – überall ein Echo seines Gedankens, oft absichtlich entstellt, aber tausendfältig; und man braucht nicht lange mehr zu warten, so entspricht der Obermacht jenes gewaltigen Tones, den er in die Welt hineinrief, auch die Übermacht des Echos. Dann ist es nicht mehr möglich, ihn nicht zu hören. Während er so durch alle hindurch geht, wird er nicht der Sklave derer, welchen er sich mittheilt: er selber schreitet höher und bleibt nicht im Banne des einmal ausgesprochenen Worts, und überhaupt 682
irgendeiner eigenen Vergangenheit. Man überlege nur, und schaudere bei dieser Überlegung: was stand auf dem Spiele, wenn Wagner jenen Gedanken nie durch ein solches Beispiel hätte zeigen können, wie er es jetzt in Bayreuth zeigt!; und wie groß war selbst die Wahrscheinlichkeit, daß ein Gedanke, von dem die anderen Menschen sich nicht träumen ließen, auch nur ein Traum im Kopfe dessen geblieben wäre, der ihn erdachte, und daß an Stelle von Bayreuth man von einem "Utopien" spräche. Es ist ja erstaunlich, was behagliche Menschen alles Utopien nennen: hier aber wären die unbehaglichtsen und kühnsten Menschen fast im Recht gewesen, von Utopien zu sprechen. Ein höherer Grad von Ekel und Verzweiflung an den Menschen, eine trotzigere Selbstigkeit des Erfinders hätte genügt: und im Grunde haben Wagner's Zeitgenossen auch alles gethan, um ihn zum Ekel zu bringen und in sich selber zurück zu drängen. Aber er wurde nicht müde und blieb gütig in seinem Willen, mitzutheilen. Er verschmerzte das Ungeschick und die prüde Beklemmtheit, mit der man hier und da sich herbeiließ, seine Kunst zu fördern, als ob der nächtliche Volksauflauf in den Straßen Nürnbergs (in den Meistersingern) durch Ballettänzer wiederzugeben sei; er vertrug es, obwohl oft mit dem bittersten Zwange, daß sein Werk gerade unter den von ihm bekämpften Namen und Formen, in der Entstellung zur "Oper", Besitz von den Menschen ergriff; er erduldete selbst das Herbste – der große Dulder -, seine Freunde von "Erfolgen" und "Siegen" berauscht zu sehen, wo sein einzig-hoher Gedanke gerade mitten hindurch zerknickt und verleugnet war. Zum Entgelt für alle diese tiefsten Nöthe sagte er endlich: mein großes Werk ist fertig, jetzt sollt ihr es sehn – dort auf dem Hügel bei Bayreuth. Das war seine Rache: er theilte sein höchstes Besitzthum mit, den angesammelten Schatz von zwanzig Meisterjahren! – Aber der, welchem gegeben wird, muß auch annehmen können: und der große Sinn des Gebens fordert einen großen Sinn des Nehmens. Hier ist aber der Schatz fast übergroß: um ihn zu heben, mußte Wagner auch seine Kraft, sein Vertrauen, sein Wagen, sein blitzartiges Erfassen, sein treues Benehmen auf uns Alle übertragen: und diese dämonische Übertragbarkeit der ganzen Wagnerischen Natur ist fast noch eben so wunderbar als seine Natur selbst. An jedem Orchester, das Wagner führt, kann man ein Beispiel sehen; die von ihm benannte und zuerst geübte "Modifikation des Tempo's" ist im Grunde die Übertragung des Wagnerischen Seelenrhythmus auf die Seelen der von ihm geleiteten Musiker; und wie so die Seelen der Musiker erlöst und ins Hohe verwandelt sind, ist auch wiederum die Seele der Musik aus dem eisernen Gitterwerk der mathematisch zertheilten Zeit erlöst und redet nun erst vernehmlich zu uns. Und so, wie Wagner sich den Musikern mittheilt, wird sich der Geist und Rhythmus seines Bayreuther Werkes den Schauern und Hörern nittheilen müssen, so daß ihre Seele ausgeweitet, ihre Bogen schon ausgespannt sind, wie nie zuvor: nur dann erst wird das Ungeheure ganz gethan sein, wenn es auch in's Ungeheure wirkt und eine Furche hinter sich aufreißt, welche nicht wieder zugefüllt werden kann. Wohin diese Furche sich reißt, nach welcher Richtung, – wer möchte es ganz errathen? Aber eine Vermuthung, eine einzelne neben anderen, darf jetzt schon laut werden. (Damit Übergang zur letzten Capitel. αναγχη, Bedeutung der Kunst, Fortsetzung, ihre Stellung in der wiederhergestellten Gesellschaft, Erziehung.) 11 [36] Wagner ist groß, damit wir Alle groß werden. 11 [37]
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7. Man könnte auch die Freunde Wagner's zu seinen Gefahren rechnen; es ist höchst wunderbar, wie er fast unbewußt jeder Parteigestaltung sein Lebenlang ausgewichen ist, wie sich andrerseits hinter jeder Phase seiner Kunst ein Kreis von Anhängern zusammenschließt, scheinbar ihn einschränkend. Er geht mitten durch sie hindurch und läßt sich nicht binden. Sein Weg ist zu lang gewesen, als daß so leicht ein Einzelner ihn von Anfang an hätte mitgehen können; und so ungewöhnlich und steil – fast allen ging einmal der Athem aus. Fast zu allen Lebensperioden Wagner's hätten ihn seine Freunde gern dogmatisiren mögen, seine Feinde ebenfalls; und wenn eine geringere Art von Herrschsucht in ihm gewesen wäre, so hätte er viel zeitiger zum Herrn der deutschen Musikzustände werden können. Der unselige Glaube, daß sich an ihn eine Schule von Componisten anlehnen müsse und werde, ist, wie ich vermuthe, nie der Glaube Wagner's gewesen; wozu er als Musiker erziehn wollte und erzog, das ist zu meisterhaften Dirigenten und Vortragskünstlern, zu wahrhaft dramatischen Sängern. Sonst ist es ja in der Entwicklung der Musik der Augenblick, wo eine bei weitem höhere Kraft und künstlerische Sittlichkeit sich darin offenbart, ein tüchtiger Meister der Darstellung und Ausübung zu werden als wieder fortzucomponiren d. h. das wahrhaft Große in seinen Wirkungen zu verflachen, dadurch daß man es nachmacht und seine Wirkungen vervielfältigt. Es ziemt sich ein viel weihevolleres Befassen mit Musik und gerade deshalb eine Beschneidung des albernen Produktionstriebs; während die Aufgabe, die große Kunst Beethovens und Wagners vorzutragen, eben erst gestellt ist und bei begabtesten Talenten unerhörten Fleiß und Charakter in Anspruch nehmen wird. Sodann das Volk zu erziehn zu dieser Höhe: was wiederum nur durch das Beste geschehn kann. Jetzt freilich hat der widerliche Betrieb unserer gebildeten Musikanstalten jenen größten Skandal nicht verhindert, welchen die Deutschen in der Kunst begangen haben – daß ein großer Krieg eine „Volksweise" als seinen musikalischen Ausdruck fand wie „die Wacht am Rhein"; ein so süßliches und gemeines Ding, daß jeder Landsknecht eines deutschen Heeres davor ausspuckt hätte. Und dann die Pflege des Männergesangs, wo man das glacirte Volkslied, mit zuckriger Harmonie und Tempokünsten einlernt! und deutsche Sängerfeste feiert, unserer großen Musik ins Gesicht lachend! 11 [38] 5. Muße und Arbeit bei Wagner: es giebt für große Culturbewegungen immer Raststätten und Ruhepausen, und denen entsprechen auch wohl einzelne Begabungen ganz: so ist innerhalb der weihevollen und keuchenden Reformationsbewegung Montaigne ein solches In-sich-zurRuhe-kommen ein friedliches Dasitzen und Ausathmen; so las ihn gewiß Shakespeare. Ich empfinde mitunter diese Wohlthat bei Horaz, und es giebt Stimmungen, in denen solche Sätze eine zauberhafte Sänftigung in sich tragen. So weilt Wagner in der Historie; und es ist kein Zweifel, daß ihr heute diese Mission zufällt, im ungeheuren Ringen nach neuen Zielen einmal aufathmen zu können und sich gleichsam abgeschieden zu fühlen. Wenn die Deutschen seit einem Jahrhundert besonders den historischen Studien obgelegen haben, so zeigt dies, daß sie in der Bewegung der modernen Zeit die aufhaltende hemmende verzögernde und beruhigende Macht sind: was vielleicht Einige zu ihrem Lobe wenden dürften. Im Ganzen ist es ein höchstgefährliches Anzeichen, wenn das geistige Ringen eines Volkes vornehmlich der Historie zugewandt ist, ein Merkmal von Erschlaffung, von Rück- und Hinfälligkeit, von Müdegewordensein; dies stellen unsere Gelehrten in der Geschichte des modernen Geistes dar im Gegensatz zu allen Reformations- und Revolutions-Bewegungen, sie haben sich nicht die stolzeste Aufgabe zugestellt aber eine eigene Art friedfertigen Glücks sich gesichert. Jeder freiere männlichere Schritt führt freilich an ihnen vorüber, ein schaffender Mensch kann sich bei ihnen nur, wenn er einmal müde ist, aufhalten. So verhält sich Wagner zur Historie und Philologie; sie ist ihm ein Labsal auf der ungestümen Reise. Vielleicht wird die Historie dies 684
nicht einmal sein können, wenn sie, wie es einst geschehen muß, in einem strengeren und tieferen Sinne und aus einer mächtigen Seele heraus geschrieben wird, als die deutschen Gelehrten bis jetzt gethan haben: es liegt etwas Beschönigendes, Unterwürfiges und Zufriedengestelltes auf allen ihren Arbeiten, und der Gang der Dinge ist ihnen recht. Es ist schon viel, wenn einer merken läßt, daß er gerade noch zufrieden sei weil es noch schlimmer hätte kommen können, die Meisten glauben unwillkürlich daß alles sehr gut sei, so wie es nun einmal gekommen ist. Wäre die Historie nicht immer noch eine verkappte christliche Theodicee, wäre sie mit mehr Gerechtigkeit und inbrünstigem Mitgefühl geschrieben, so würde sie zu einem furchtbaren Werkzeug der Revolution: während sie jetzt als Opiat gegen alles Umwälzende gedient hat. Ähnlich steht es mit der Philosophie; aus welcher ja die Meisten nichts andres lernen wollen als die Dinge ungefähr zu verstehen, um sich dann in sie zu schicken: und selbst in ihren edelsten Gestaltungen wird ihre stillende und tröstende Macht so stark hervorgehoben, daß die Ruhesüchtigen und Trägen meinen müssen, sie suchten das selbe, was die Philosophie suche. Mir scheint dagegen die wichtigste Frage aller Philosophien zu sein, wie weit die Dinge einen unabänderlichen Charakter haben: um dann, wenn diese Frage beantwortet ist, mit der rücksichtslosesten Tapferkeit auf die Verbesserung der als veränderlich erkannten Seite der Welt los zu gehen. Das lehren sie auch selber durch die That, dadurch daß sie an der Verbesserung der sehr veränderlichen Einsicht der Menschen arbeiteten und ihre Weisheit nicht für sich behielten; das lernen auch die wahren jünger wahrer Philosophien: welche, wie Wagner, aus ihnen nur gesteigerte Tapferkeit und Entschiedenheit für ihren Gang aber keine Einschläferungssäfte zu saugen verstehen. Wagner ist dort am meisten Philosoph, wo er am thatkräftigsten und heldenhaftesten ist; und vielleicht giebt es keine kühnere Symbolik für das heldenhafte und philosophische Verhalten zur Welt als das Wort Siegfrieds zu den Rheintöchtern, als er die Erdscholle über sein Haupt wirft „so werf ich es weit von mir." Es ist dies die Philosophie, welche die Götter vernichtet, an der Wotans Speer zerschellt. 11 [39] 6. Wie er als Lernender dann wieder Herr wird über das Erlernte in Hinsicht auf Historie. Überkommt Wagner dann wieder seine bildende Kraft, dann ist ihm die Historie etwas anderes geworden; die Vergangenheit hat sich gleichsam geballt, verdichtet; er steht zu ihr wie der Grieche zu seinem Mythus, als zu etwas, an dem man mit Liebe und scheuer Andacht formt und weiterspinnt; sie ist biegsamer wandelbarer als eine Wirklichkeit geworden und trägt doch mehr Zeichen der einstmaligen Wirklichkeit als irgend ein vergangnes Ereigniß. Wo ist das ritterliche Mittelalter so mit Fleisch und Geist in ein Gebilde übergegangen, wie dies im Lohengrin geschehen ist? Und werden nicht die Meistersinger noch zu den spätesten Zeiten von dem deutschen Wesen erzählen, ja mehr als erzählen: werden sie nicht vielmehr eine der reifsten Früchte jenes Wesens sein, das immer reformiren, nicht revolviren kann und das auf dem breiten Grunde seines Behagens auch das edelste Unbehagen der erneuernden That nicht verlernt hat? Zu erinnern, wie allein in der Musik überhaupt das völlig-Gelehrtenhafte überwunden ist – es ist der höchste Triumph des modernen Geistes, und der erste Musiker Wagner zeigt wieder in nuce dieselbe überwindende Kraft. 11 [40] 4. Die Sprache der Dichtungen. Wagner leidet an der Entartung und Schwächung unserer Sprache, an den Sünden und Verlotterungen früherer Jahrhunderte, an den Hülfszeitwörtern, den vielfältigen Verlusten und Verstümmelungen der Casusbezeichnungen, an dem 685
schwerfälligen Partikelwesen unserer Syntax: während er mit tiefem Stolze sich der uralten Ursprünglichkeit und Unerschöpflichkeit, der tonvollen Kraft ihrer Wurzeln erfreut, an welchen er, im Gegensatz zu den höchst abgeleiteten und künstlich-rhetorischen Sprachen der romanischen Stämme, eine wunderbare Nähe und Vorbereitung zur Musik, zur wahren Musik empfand. Es geht eine Lust an dem Deutschen durch Wagner's Dichtungen, eine Herzlichkeit und Freimüthigkeit im Verkehre mit ihm, wie so etwas außer bei Goethe wohl bei keinem Deutschen sich nachfühlen läßt. Man sollte jedes Wort singen können, und Götter und Helden sollten es in den Mund nehmen: das war eine ungeheure Anforderung, die Wagner an seine sprachliche Phantasie <stellte,> bei der jeder Andere hätte verzagen müssen: denn unsere Sprache ist fast zu betagt und verwittert; und doch rief sein Schlag mit dem Stabe gegen den Felsen eine reichliche Quelle hervor. Verwegene Gedrängtheit, Leiblichkeit des Ausdrucks, Gewalt und rhythmische Vielartigkeit, ein merkwürdiger Reichthum von starken und bedeutenden Wörtern, Vereinfachung der Satzgliederung, eine fast einzige Erfindsamkeit in der Sprache des wogenden Gefühls, der Ahnung, eine mitunter ganz rein und frisch sprudelnde Volksthümlichkeit und Sprüchwörtlichkeit – solche Eigenschaften würden aufzuzählen sein, und doch wäre dann immer noch die mächtigste und wunderwürdigste vergessen. Wer hintereinander zwei solche Dichtungen, wie Tristan und die Meistersinger liest, wird in Hinsicht der Wort-Sprache ein ähnliches Erstaunen empfinden müssen, wie hinsichtlich der Musik: wie nämlich es möglich sei, über zwei Welten, so verschieden an Farbe Form Figur als an Seele, schöpferisch zu gebieten. Dies ist das Mächtigste an der Wagnerischen Begabung, etwas was nur einem großen Meister gelingen wird: für jedes Werk eine eigenartige Sprache auszuprägen und der neuen Innerlichkeit auch einen neuen Leib, einen neuen Klang zu geben. Gegenüber einer solchen allerseltensten Macht, wird der Tadel immer nur kleinlich und unfruchtbar bleiben, der sich auf einzelnes Übermüthiges und Absonderliches oder auf die häufigen Dunkelheiten bezieht; für die freilich, welche bisher am lautesten getadelt haben, war im Grunde nicht sowohl die Sprache als die Seele, die Art zu empfinden und zu leiden anstößig, nämlich ganz und gar unzugänglich und unerhört. Wir wollen warten, bis diese selber eine andere Seele haben, dann werden sie selber auch eine andere Sprache sprechen: und dann wird es, wie mir scheint, auch mit der deutschen Sprache überhaupt besser stehn als es jetzt steht: etwas Wagnerischer nämlich, und nicht mehr so David-Straussisch! 11 [41] 2. Der rhythmische Sinn im Großen. Die Anlage jedes Wagnerischen Dramas ist von einer Einfachheit, welche noch größer ist als die der antiken Tragödie; und dabei ist die dramatische Spannung die höchste. Dies liegt in der Wirkung der großen Formen, ihrer Gegensätze, ihrer einfachen Bindungen, das ist das Antike an dem Bau dieser Dramen. – Man durchdenke die Einleitungen der drei einzelnen Akte, das Verhältniß der drei Akte zu einander; hier zeigt sich eine schlichte Größe des Baumeisters, welche in der neueren Dichtung überhaupt nicht ihres Gleichen hat. Die Spannung beruht auf den Höhenverhältnissen der Leidenschaften, niemals auf dem Effekt des neuen und überraschenden Schauspiels. Ich wünschte mir den Grad von rhythmischer Augen-Begabung, um über das Ganze Nibelungenwerk in gleicher Weise hinschauen zu können, wie es in einzelnen Werken mir mitunter gelingt: aber ich ahne da noch eine besondere Gattung rhythmischer Freuden des höchsten Grades. Die Rheintöchterscene mit Siegfried im letzten Akt des letzten Dramas und die Rheintöchterscene mit Alberich im ersten Akt des ersten Dramas, der Liebesjubel der sich findenden Siegfrieds und Brünnhildens im letzten Akt des Siegfried und der Abschiedsjubel der sich Trennenden im ersten Akt der Götterdämmerung usw. Dann wieder die Nornenscene im Anfange des ersten Akts (Vorspiels) der Götterdämmerung. Im Tristan Liebessehnsucht (2. Akt), Todessehnsucht im dritten Akt. Im einzelnen Akt ist der Schluß oftmals (Tristan 1, Walküre 686
1, Siegfried 1) ein Sich-stürzen eines Stromes mit immer schnellerem Rauschen, die zunehmende Breite und zugleich Schnelligkeit der Empfindung, mit der höchsten Sicherheit. Andre Akte haben eine Katastrophe und darauf eine Erschütterung und Stillstehen der Empfindung über das Ungeheure, was geschehen: so Marke im 7ten Akt des Tristan; der Zug der Mannen mit Siegfrieds Leiche. 11 [42] 3. Ein heftiger Wille, der gleichsam auf allen Wegen, Höhlen und Schluchten ans Licht will, springend, kletternd, fliegend, wild an die Wände stoßend und flatternd; eine jähe elementare Strömung, die unbefriedigt nach allen Seiten über das Strombett hinausschießt; eine auf verborgenen Felsen unruhig ruhende, wund und wild gewordene Meeresgottheit, die am Sturme mehr Lust hat als an der glatten Spiegelung des Himmels – dies ist die eine Seite der Wagnerischen Natur, furchtbar und friedlos, sich und anderen zur Qual (mir gab die Norn den Geist, der stets "unbefriedigt"). Dieser Wille, mit einem engen Geiste verbunden und zufällig Macht gewinnend, wäre ein Verhängniß geworden. Nur ein ganz hoher und freier Geist konnte dieser wilden Natur einen Weg ins Gute und Hülfreiche weisen und sie davor bewahren, daß sie gegen sich selber zerstörerisch wüthete. Dieser Geist, der sich auf Wagner niederließ, und der wie eine Flamme dem hin und her geworfenen Seefahrer beim Unwetter die Richtung zeigte, war der Geist der Musik; er führte ihn, ohne ihn erst in Fesseln geschlagen zu haben; wie es zum Beispiel der Geist der Politik gethan haben würde, wenn er sich mit einer solchen Natur hätte paaren wollen. So durfte er frei bleiben, denn es war ein liebevoller mit Güte und Süßigkeit überschwänglich mild zuredender Geist, dem die Gewaltthat und das Machtwort verhaßt ist und der Niemanden in Fesseln sehen will. Es gab Stunden und Zeiten, wo ihn auf eine schreckliche Weise der Zweifel heimsuchte, ob ihm dieser Geist noch treu geblieben sei; und wenn er dann seinen edel-mächtigen Flügelschlag um sich fühlte, so drang eine tiefe heiße Dankbarkeit und eine Fülle von ungesprochenen Gelöbnissen zu ihm empor: Treue gegen den Geist der Musik wurde seine Religion. – Wie aber die Musik zu Wagner's Willen redete, erschließen wir zu halbem Wege daraus, wie Musik zu uns spricht: wer könnte aber hierüber ganz deutlich reden? Genug, daß fast alle andere Musik uns – nicht bloß mir: denn ich brauche wahrhaftig nicht von mir allein zu reden – daß fast alle andere Musik uns nur wie eine veräußerlichte befangene unfreie Sprache klingt, als ob gespielt werden sollte, vor solchen, die des Ernstes nicht würdig wären oder als ob gelehrt und demonstrirt werden sollte, vor solchen, die nicht einmal des Spieles würdig wären. Es giebt in aller andren Musik eben nur kurze Stunden, wo plötzlich jene Sprache zu uns dringt, die wir immer in Wagner's Musik hören: seltne, sie gleichsam überfallende Augenblicke der Vergessenheit, wo die Musik mit sich selber redet und den Blick aufwärts richtet, wie die Rafaelsche Caecilia, weg von den Hörern, die Zerstreuung und Lustbarkeit oder Gelehrsamkeit von ihr fordern. Ich wüßte nicht, auf welchem Wege ich je des reinsten sonnenhellen Glücks theilhaftig geworden wäre als durch Wagner's Musik: und dies obwohl sie durchaus nicht immer vom Glück redet, sondern von den furchtbaren und unheimlichen unterirdischen Kräften des Menschentreibens, von dem Leiden in allem Glücke und von der Endlichkeit unseres Glücks; es muß also in der Art, wie sie redet, das Glück liegen, das sie ausströmt. – Man rechne nur nach, woran Wagner seine eigentliche Lust und Wonne hat, an was für Scenen, Conflikten, Katastrophen – da begreift man, was er ist und was die Musik für ihn ist. Wotan's Verhältniß zu Siegfried ist etwas Wundervolles, wie es keine Poesie der Welt hat: die Liebe und die erzwungene Feindschaft und die Lust an der Vernichtung. Dies ist höchst symbolisch für Wagners Wesen: Liebe für das, wodurch man erlöst gerichtet und vernichtet wird; aber ganz göttlich empfunden! 11 [43] 687
Bei strömendem Regen und verfinstertem Himmel war der Grundstein gelegt worden. Im Zurückfahren zur Stadt schwiegen wir und Wagner sah mit einem Blick in sich lange hinein, der mit einem Wort nicht zu bezeichnen ist. Er begann an diesem Tage sein sechzigstes Lebensjahr. Ein beschleunigtes zusammendrängendes Schauen. Alexander, der Asien und Europa kredenzt – sein innerer Blick – dies zu sehen! Ich möchte diesem innerlichen Schauen nachschauen: von da aus nimmt sich das Bayreuther Werk am wundervollsten aus. Die welche fallen, sollen in unglaublicher Schnelligkeit ihr ganzes Leben an sich vorüber fliegen sehen. So auch die, welche in einem bestimmten Ereigniß ihr Lebenswirken besiegeln: die Bedeutung des Grundsteins. Dieses unendlich beschleunigte innerliche Schauen Wagner's ist gewiß das höchste Schauspiel. Wagner geschildert, wie er auf sein Werk in Bayreuth blickt: die Qual und Besorgniß vom ersten bis letztem Augenblick, das Gift in der Verunstaltung der Grundgedanken, es ist so vieles abzuwägen gegen einander! Das Gefühl Wagner's, als der Grundstein gelegt war. Wer sein Gefühl bei der Aufführung zu dem Wagner's concentriren kann, hat gewiß das Höchste mit hinweg genommen. 11 [44] Ein großes Ereigniß ist nur für den großen Beobachter groß. Das Bayreuther Ereigniß macht mir Sorge: wo sind die Augen, um alles zu sehen? Zumal ist vielleicht das höchste Schauspiel, Wagner selbst, erst von einer viel weiteren Warte zu überschauen. Und doch, um uns nun ganz freuen zu können, müssen wir nicht nur von uns aus, sondern von Wagner aus auf diese Bayreuther That schauen, uns in ihn versetzen. 11 [45] 1. Die Deutschen sind ein lernendes Volk; und wenn ausnahmsweise einmal eine große Begabung unter ihnen auftritt, so zeigt sie auch diese Begabung in einem Maaße, das für andere Völker unbegreiflich ist. Wagner's Kunst und Wollen bleibt gegenwärtig für Nichtdeutsche schon deshalb etwas Unbemeßbares, weil sie auf eine solche Polyphonie des verschiedenartigsten Wissens an ihren Künstlern nicht eingewöhnt sind und weil sie sich überhaupt schon durch die weite Spannung des deutschen Wissens noch mehr belästigt als verwundert fühlen. Um ein Meister in der Musik zu werden ist jetzt fast jedes Menschenleben schon zu kurz: man lernt kaum aus, wenn man sich das Gebiet zertheilt und zum Beispiel sein Vollenden in der Kunst des Vortrags sucht. Wagner wurde ein allseitiger Meister der Musik und der Bühne und in jeder ihrer technischen Vorbedingungen ein Erfinder und Mehrer. Aber er wurde viel mehr: und um dies zu werden, war es ihm so wenig wie irgend jemandem erspart, auf dem Gebiete, wo er schaffen und erfinden sollte, sich lernend die höchste Cultur anzueignen. Wagner der Erneuerer des einfachen Drama's, der Entdecker der Stellung der Kunst in der wahren menschlichen Gesellschaft, der dichtende Erklärer vergangener Lebensbetrachtungen, der Philosoph, der Historiker, der Aesthetiker Wagner, der deutsche Mytholog, der zum ersten Male einen Ring um das herrliche uralte Gebilde schloß und die Runen seines Geistes darauf eingrub – welche Fülle von Wissen hatte er zusammen zu bringen und zu umspannen, um dies alles werden zu können! Und doch erdrückte weder diese Summe seinen Willen zur That, noch leitete das Einzelne und Anziehendste ihn abseits; um 688
das Ungeheure eines solchen Charakters zu messen, nehme man zum Beispiel das große Gegenbild Goethes, der wie ein vielverzweigtes Stromnetz erscheint, welches aber seine ganze Kraft nicht zum Meere trägt, sondern mindestens eben so viel auf seinen Wegen und Krümmungen verliert und verstreut als es am Ausgange mit sich führt. Es ist wahr, ein solches Wesen hat und macht mehr Behagen, es liegt etwas Mildes und EdelVerschwenderisches um ihn herum: während Wagner's Kunst und Stromgewalt vielleicht erschrecken und abschrecken kann. Mag aber sich fürchten, wer will: wir Anderen wollen dadurch nur um so muthiger werden, dadurch daß wir einmal einen Helden mit Augen sehen, der "das Fürchten nicht gelernt hat". Er geht nicht nur durch das Feuer, sondern auch durch den Dampf des Wissens und der Gelehrsamkeit hindurch und findet sein ihm vorbestimmtes Werk. 11 [46] Wagner in Bayreuth – ein Schauspiel bei dem Schauspiel! A. Was er ist und wie er es ward. Musiker Dichter Schriftsteller. Das Improvisatorische. Ethisches. Gefährliches. B. Was er kann. 1. Macht (1 abschließend 2 adstringirend 3 gesetzgeberisch 4 mittheilend). 2. Nachwirkung (die neunte Symphonie, das anscheinend Reaktionäre, "die heroisch Weisen", die αναγχη). Der Philolog das Deutsche Selbsterziehung die Dramen die Sprache der Dichtung die Harmonie das Plastische. Macht Wagner's 1) abschließende 2) adstringirende 3) gesetzgeberische, in Massen organisirende 4) mittheilende. 11 [47] 689
Einleitung. Von wo aus ist das Bayreuther Ereigniß zu betrachten? Etwas Neues in einem Leben – Schweigen – Reinsein 9. Wagners Blick. Werden. Das sittliche Grundwesen 3: Gegensätze, Treue 15. 32. Geist der Musik. Der Lernende 1: Historie vom Künstler bezwungen 6. Gefahren 33. Beförderndes 7. Unzeitgemäßes 22. Sein und die Machtäusserung (Polyphonie und Einheit seiner Machtäusserungen). Polyphonie der Begabung (Wirkung des dionysischen Willens, der überall heraus will). Die große Begabung zum Schluß? Das Schauspielerische (wenn man von einem Defekt einmal alles erklären wollte). Das Improvisatorische – Selbstentäußerung 13. Entwicklung der Musik der Leidenschaft und des Drama's 24.28.29. Der Dichter 23. Der Dialog. Der rhythmische Sinn im Großen 2. Keine Wolkengebilde, wie es zuerst erscheint. Der Ausruhende: Historiker und Philosoph 5. Reichthum seiner Gestalten, an denen er mit tiefer Innigkeit hängt! Der Prosaiker 11. Der Mittheilende 8. Das Demosthenische 14. Sprache der Dichtung 4. Wagner in den Wiederholungen am schönsten (Liebessce, Fragen usw., dieselben Motive – Trauermarsch). Das Abschließende 17. Gegen-Alexander, das Adstringirende 20. Historie bezwungen 6. Organisator von Massen 25. Volksthümliches 30. 31. Die große Begabung 10.
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Zukunft. Kunst und αναγχη 21. 35. Reform des Theaters – nichts Geringes. Gesellschaft in Bayreuth und sonst 19. Unterjochung 18. Wagner's Diadochen 16. Schmach der modernen Kunst 36. Keine Luxus-Kunst: Reform der Gesellschaft 12. Gefährliche Nachwirkungen.
Naturalismus 27. Componistenschule. Überflüssiges in der Kunst 26.
Anscheinend reaktionäre Elemente 34. Sammlung von großen Gestalten und Scenen. Neunte Symphonie und Schluß der Nibelungen. Er wird sein: der Seher einer neuen Ordnung. Man denke sich die Ergriffenheit einer Gesellschaft, die Ernst gemacht hat mit der Abschaffung der Macht und der Lüge und nun das Werk schaut! Wer diesen Augenblick schauen könnte, würde für alles jetzige erblinden. 11 [48] 3. Die Urstimmung des dithyr Dram. 4. Wort Melodie Gebärde. 5. Rhythmus im Großen. 6. Der Dichter. 7. Der Musiker. 8. Abschließendes Adstringirendes. 11 [49] 2. Es wird absichtlich versucht: Ableitung des Einflusses – wohin alles: A) in's rein Aesthetische und
Schilderung der Anhänger
Fade (oder Regellose)
Gefahren der Nachahmung 691
B) in's Compromittirende
Politische usw.
und Gefährliche.
Anti-Wissenschaftliche Religiös-Restaurative Unsittlich-Caressiren
11 [50] – gegen den Hochmuth der Wissenden und ihre Albernheit (über Phantasierecht, Eckermann, p. 251) nimmt er die Partei des Volks: er verbindet, er erinnert an die Unmöglichkeit eines Lebens im Wissen. – davon weiß ich eine Viertelstunde eher was als viele; aber wenn ich alt bin, werde ich mit Allen etwas Gemeinsames haben. 11 [51] Wer so glücklich ist, sich darüber Rechenschaft geben zu können, was Wagner ist, der hat auch bis zu irgend einem Grade an dem unvergleichlichen Glück theilgenommen, das Wagner selbst in sich trägt: an dem Glück seiner Begabung. Diese ist ein aufwachsender Wald, ein Aufschießen der mannichfaltigsten Kräfte, die sich gegenseitig in Schranken halten, so daß sie freudig und geradezu aufwärts steigen und alle zusammen ein Ganzes bilden. Einheit im Verschiedenen fühlen, um das Verschiedene innig zu lieben – das ist sein Geheimniß: sein Auge ist von Natur auf Beziehungen gerichtet, nicht nur auf die Beziehung der Künste zu einander, sondern auch auf die Verbindung von Staat Gesellschaft und Kunst: also im stärksten Maaße darf ihm eine gesetzgeberische Befähigung zugesprochen werden. Er übersieht große Verhältnisse mit einem Blick und läßt sich nicht durch das Kleine befangen. Wie die innere Schauwelt des Epos der Plastik vorausgehen muß, so auch die innere Nachahmungs-welt der Musik der Schauspielkunst. Ein leidenschaftliches Verlangen nach Luxus und Glanz in Wagner: gerade von da aus war er befähigt, diesen Trieb im Innersten zu verstehn, zu verurtheilen. Sein äußeres Leben verhielt sich zu diesem Hange wie ein neckendes Possenspiel mit seinem Wechsel von Dürftigkeit und Luxus. Mit der Kunst des Luxus kritisirte er sich selbst und durchschaute sich. 11 [52] Als Musiker. Das Demosthenische. Als Dichter. Sprache. Prosaschriften. Wirkung im Unterjochen der Gegner. Abzuschließen, überflüssig machen. Das Improvisatorische. 692
Trieb zur Mittheilung. Freunde Wagners. Er vermacht sein Reich an den Stärksten. 11 [53] Mittheilung an die Freunde (ohne unterjocht zu werden), an die Feinde (unterjochend). Abzuschließen. Und wie es seinen Freunden nicht gelang, ihn mit ihrer Liebe zu unterjochen, so gelang es seinen Feinden nicht, sich durch ihre Feindschaft gegen das Unterjochtwerden zu schützen. 11 [54] Wagner als Musiker. Als Dichter. Sprache. Rhythmiker. Prosa-Schriftsteller. Wagner zu Geschichte und Philosophie. 11 [55] Musiker Dichter Mittheilender Schriftsteller für Freunde Erzieher Diadochen. 11 [56] Was Wagner sein wird? – der Gott will Macht: Verträge Schuld Unfreiheit er sucht einen Helden, der frei für ihn kämpfe (gegen ihn), um seine Macht zu behaupten
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Wandlung des Willens. – nachher: nur um seine Schuld los zu werden. Als Siegfried stirbt, wird Wotan seine Schuld ledig und wählt den Untergang. 11 [57] Das was die Musik schon ahnt, das erfährt der Held erst an einem Ende seiner Bahn: sein Leben, der bemitleidenswertheste Vorgang der Welt, die Musik, die die mitleidigste Sache derselben ist, folgt ihm auf jedem Schritt. Wie vermag sie das? – Dies zu begreifen, müssen wir in das Wesen des dithyrambischen Dramatikers einen Einblick zu erlangen suchen. – 11 [58] §
6.
Das Improvisatorische. Der dithyrambische Dramatiker.
Aber die Beethovensche Musik mußte vorangehn: die der unpersönlichen Leidenschaft. §
7.
Der Musiker. Demosthenischer Rhythm<us->Sinn.
§
8.
Dichter und Schriftsteller. Mittheilung in Form des Rückblicks. § 9. Reiniger der Kunst, Reiniger seiner selbst: der „Kunstfreund" beseitigt. Die große Begabung. § 10. Diadochen. Mißverständnisse gefährlich: das anscheinend Reaktionäre – das anscheinend Naturalistische.
§
11.
Der Ring des Nibelungen.
11 [59] Luxus-Kunst. Verwendung der Mittel zu unwahren Bedürfnissen. Abschwächung der wahren Bedürfnisse. Trennung der Menschen von einander. Überarbeitung vieler Menschen, um den Scheinbedürfnissen zu genügen, während die wahren Bedürfnisse nicht befriedigt werden. Die sociale Frage ist die Fortexistenz des Luxus, d.h. des Unnöthigen und Überflüssigen und Unbefriedigenden im Verhältniß der Arbeit zur Kunst. Das praktische Gegenmittel ist der Cynismus der Schlichtheit auf der einen Seite (<1.> negativ: zum Beweise, daß man nicht jene Scheinbefriedigung nöthig hat; 2. Positiv: das Drama – – – 11 [60] 1 Als Lernender (Treue). 2 Der rhythmische Sinn im Großen. 3 Heftiger Wille und Geist der Musik (Treue). 4 Sprache der Dichtung. 694
5 Muße und Historie und Philosophie. 6 Historie vom Künstler bezwungen (Treue). 7 Freunde Wagner's als Gefahr. Keine Komponisten-Schule. 8 Talent der Mittheilung (Übergang zum Schlußcapitel). 9 Etwas Neues in einem kurzen Leben. Schweigen und Reinsein. 10 Die große Begabung. 11 Prosaschriften. 12 Keine Luxuskunst: Reform der Gesellschaft. 13 Improvisatorisches – Selbstentäußerung. 14 Das Demosthenische, Verachtung gegen die bisherigen Kunstfreunde. 15 Die ethische Entwicklung, Treue Hauptbegriff. 16 Wagner's Diadochen. Vieles sehr schwach. 17 Das Abschließende, er macht manchen Gelehrten überflüßig. 18 Unterjochung der Widerwilligen. 19 Reform des Theaters, in wiefern nichts Geringes. Die Menschen in Bayreuth und ihr Gegensatz sonst. 20 Gegenalexander, das Adstringirende, Vereinfacher der Welt. 21 Kunst und αναγχη. 22 Wagner nicht zeitgemäß. Was hat ihn gefördert! 23 Der Dichter am Schluß der Religionen. 24 Entwicklung der Musik der Leidenschaft und des Dramas. Schluß mit dem Stoffe des Nibelungenmythus. 25 Organisator von Massen. 26 Das Überflüssige in der Kunst. 27 Gefahr des Naturalismus nach Wagner. 28 Langathmige Leidenschaft. 29 Verflochtene Leidenschaft, vielköpfig. 695
30 Das Volksthümliche (zur Prosa). 31 Volksthümlich im Verhältniß zu Goethes Faust. 32 Die Liebe empedokleisch. 33 Das Gefährliche in Wagner. 34 Reaktionäre Elemente. 35 Kampf mit der αναγχη. 36 Schmach der modernen Kunst. Dramatiker – dämonische Mittheilbarkeit doppelseitig 1 sich anderen 2 andere sich (Selbstentäußerung). Musiker. Dichter. Darsteller. Gesammtorganisator.
[Dokument: Heft] [Sommer bis Ende September 1875] 12 [1] Einfluß der Oresteia. Vordramatischer Theil. Die Linie der Geschlossenheit höchster Art in der Form bis zu einem Spiele wie mit zarten Wolken, bei keinem Componisten. Die Unruhe des Menschen in Ämtern, deren Unvereinbarkeit er durchschaute. Das Publikum hat Wagner doch anders beurtheilt als ich meinte. 12 [2] Wagner hat ein großes Reich Innen-Natur aufgeschlossen auch historisch und über die ganze Entstehung der Kunst einsichtig gemacht.
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In einer entnüchterten Welt weist er auf die Kräfte hin, woraus alles Gute und Große selbst für diese entnüchterte Welt gewachsen ist. Er läßt einen neuen Strom solcher Urkräfte über uns hinströmen und zeigt die Unversiegtheit der inneren Quelle der Mensch<en->Natur. 12 [3] Es giebt vielleicht ein paar ganz unaufmerksame Leute, die jetzt noch gar nichts von Bayreuth und den Dingen, welche sich jetzt an diesen Namen knüpfen, wissen: und dann zahllose, die viel Falsches davon wissen und erzählen. Aber auch das Wahre und Herrliche, was davon zu berichten bliebe, wie matt lebt es in den Empfindungen und Worten derer, die ehrlich genug sind, es anzuerkennen: und wiederum, wie unaussprechbar muß es ebendenselben erscheinen, welche ganz von dem Feuer jenes Geistes durchglüht sind, der hier zum ersten Mal zu der Menschheit reden will. Zwischen den Schwachempfindenden und den Sprachlosen stehe ich selber in der Mitte: dies zu bekennen ist weder vermessen noch allzubescheiden, sondern nur schmerzlich: weshalb gerade das, braucht Niemand zu wissen. Wohl aber entnehme ich aus meiner Mittenstellung ein Gefühl von Pflicht, zu reden und Einiges deutlicher zu sagen, als es bis jetzt in Bezug auf diese Ereignisse geschehen ist. Ich verzichte aus Noth darauf, die sehr verschiedenen Erwägungen, zu denen ich mich gedrängt fühle, in Form und Zusammenhang zu bringen; man könnte wohl den Eindruck eines Ganzen und Geschlossenen mit einiger Kunst der Täuschung hervorbringen: ich will ehrlich bleiben und sagen, daß ich es jetzt nicht besser machen kann, als ich es hier mache, ob ich es freilich schlecht genug mache. 12 [4] Zukunft von den Bayreuther Sommern: Vereinigung aller wirklich lebendigen Menschen: Künstler bringen ihre Kunst heran, Schriftsteller ihre Werke zum Vortrage, Reformatoren ihre neuen Ideen. Ein allgemeines Bad der Seelen soll es sein: dort erwacht der neue Genius, dort entfaltet sich ein Reich der Güte. 12 [5] Wagners Musik macht den Eindruck erhabener Arbeit, im Vergleich zu der flacheren Manier der älteren. Das „Unbeugsam-Unbändige". 12 [6] Wagner's Nachwirkung – alle Gefahren, denen er als Künstler entgieng, wird man völlig erst erkennen, wenn es Nachahmer geben sollte – hier ist nun aufzuzählen. 12 [7] Erst glauben wir einem Philosophen. Dann sagen wir: "mag er in der Art, wie er seine Sätze beweist, Unrecht haben, die Sätze sind wahr". Endlich aber: es ist gleichgültig, wie die Sätze lauten, die Natur des Mannes steht uns für hundert Systeme ein. Als Lehrender mag er hundertmal Unrecht haben: aber sein Wesen selber ist im Recht; daran wollen wir uns halten. Es ist an einem Philosophen etwas, was nie an einer Philosophie sein kann: nämlich die Ursache zu vielen Philosophien, der große Mensch. 697
12 [8] Wie durch Wagner die aesthetischen Gegensätze „subjektiv", „objektiv", romantisch, klassisch, naiv, sentimentalisch ganz aufgehoben sind; sie passen nicht. 12 [9] – – – schreiben: zu Goethe's Zeit regierte ganz Andres. Degeneration: jetzige Dichter und Litteraten, junges Deutschland, Romantik, Goethe. Progeneration: Luther Goethe Schiller Schopenhauer Beethoven Wagner. Fortpflanzung des deutschen Wesens hoch über allem (Nach-Luther). Was die Kunst in unsrer Zeit ist. Meistens etwas Entwürdigtes oder EinsiedlerischSelbstisches. Was ist Bayreuth? Nichts Harmloses. Stellung der Kunst zur αναγχη. Vielleicht übertreibt unsere Empfindung etwas: wir sind genöthigt, zuviel Nöthe durch Eins wieder gut zu machen, durch Bayreuth. Die Kunst ist jetzt im Geblüte einiger Menschen so mächtig geworden, um nun auch ihr Verhältniß zur übrigen Welt zu bestimmen. Das ist eine Revolution, was jetzt in Bayreuth vor sich geht, die Constitution einer neuen Macht, die fern davon ist, sich nur aesthetisch zu fühlen. Für den tieferen Blick ist es nichts Revolutionäres: sondern der Fortgang des deutschen Geistes in seinen Genien: in besonders schrecklicher ja verwirrender Beleuchtung durch das politische Prunken mit dem Nationalen (während das, was von den Nationalen verehrt wird, gerade uns beinahe als das Feindselige, mindesten als das Gefährlichste gilt). Das aesthetische Phänomen fragt an: sucht voraus: giebt es noch verwandte Kräfte? 12 [10] Es dauert lange, ehe das Drama ja die Expos beginnt. Kindheit – etwas Altes Altkluges – die Jugend des Menschen, seine Naivetät viel später bei Modernen. Leipzig – geistiges Anschmecken, Ungründlichkeit der Empfindung, geschmeidiges Wesen, schlechte herrschende Neigungen der Litteratur. Er schien zu dilettantisiren, zu lüsteln und genüßeln ohne Genuß. 698
Über Mangel an Erfahrungen soll sich keiner beklagen, sondern höchstens über den Überfluß. Im Tannhäuser kann die bessere Natur für die andere eigentlich nur leiden und bitten, sie sind getrennt. Im Lohengrin Sehnsucht aus Macht zur Liebe, zur fraglosen Treue. Im Holländer das düstere Schweifen, das zum Fluch wird: das Leid des Heimwehs. Begehren nach Macht, Taumel der Sinne – Zurückschrecken vor der ekelhaften Sittlichkeit und Verlogenheit. Er landete an der Theaterwelt, der leichtfertigen, besonders nichtigen. Unruhig, große Dürftigkeit – immer mit einem äußersten Mittel bereit. Er wuchs aus keiner Kunstschule heraus, ohne Lehrer. 12 [11] Treue preisgeben zu Gunsten von Lebensstellungen Macht Einfluß (deutscher Meister). 12 [12] das Gefährliche – Neigung zur Verstellung und List dramatisch – Treue – Kunstwerk der Zukunft Treue Lernen Treue – Abziehungen durch das Leben – Widerstand gegen Berufe (nur so weit um sich als Meister zu fühlen) Treue – Begabungen wollen einzeln. Bayreuth – Ziel. 12 [13] Für wen schaffe ich? er durchschaut seine Zuhörer mit dern Blick <des> Dramatikers. Da sieht er eifersüchtig auf Andre. Das Bild der Zuhörer, Mißtrauen gegen sie, Verzweiflung (Frage ob noch Musiker – – –) Erfolg – Stufe festhalten. Freunde Symphonisches. Wie kann einem Schaffenden wahre Liebe einwohnen? 12 [14] Gemeinsame Noth. Sagenstoffe. Er wuchs in die einfache Erhabenheit des Mythus hinein. Das lechzende Verlangen der Volksseele. Er spricht zuerst dem Sinn der Volkssage nach. 699
Er untersucht die moderne Civilisation. Endlich findet er den vorwärtsschauenden Blick, er schafft den Mythus um. Er will selbst mit helfen, die politische Veränderung herbeizuführen: großer Irrthum, er wähnt den Augenblick zur Herstellung des Volkes vor der Thür! Revolutionär zu Gunsten der Theater! Wirkung durch Schriften, nachhelfend! Die Wirkung wird immer noch als sofortige erstrebt. Auch als Künstler nimmt er darauf noch Rücksicht (Tannhäuser)!! Er propagirte seinen Glauben als Künstler (auch als Schriftsteller), was am stärksten auf ihn wirkte und ihn bewegte, das faßte er zu Kunstwerken zusammen. Tannhäuser Lohengrin. Es war eine Frage: giebt es noch andre Wagner? Er schloß von der tiefsten Wirkung, die er empfand, auf die, welche er machen werde. Kunstwerke wurden zu Fragen fühlt ihr so, wie ich fühle, so werdet ihr auch gleich bedürfen. Dabei entdeckte er das Mißverhältniß – furchtbare Vereinsamung. Er hatte keinen Wunsch mehr für den Bestand der politischen Welt. Er nahm die Musik aus. Dann, wenn eine Vielheit so leidet, wie er leidet – das wäre Volk. Dann würde sie auch gleich bedürfen. Denn auch sein Streben nach Macht war naturwüchsig, volksmäßig. Er sah sein Kunstwerk näher vor sich und glaubte auch das Volknahe. Er fand auf sich die tiefste Wirkung vom Volksglauben und vom dramatischen Gesange. Dies paarte er. Was auf ihn wirkte, werde einmal auf das Volk wirken: es werden die sein, welche eine gemeinsame Noth verbindet. Er multiplizirte sich zum Volk. Dritte Periode: die Zeit erscheint ihm nichtig, er hat sich ganz auf sich zurückgezogen, die Wirkung liegt ihm fern, er legt Partitur neben Partitur hin, entsagt der Macht: die Zukunft wird ganz fern. Treue. Schopenhauer. Er wird einsam. Es melden sich die Freunde, die Vorboten veränderter Zeiten und Sinne, Herberge gebend – er entdeckt die unvergleichliche Wirkung schon gethan zu haben. Gefahr von Seiten der Freunde auf der früheren Stufe. Er sieht in dem Kriege einen Kampf gegen die „Civilisation" und das Vertrauen auf die deutsche Tapferkeit. Er begreift: seine Kunst ist das Kunstwerk der Zukunft und eine Vorläuferin, eine Anregung zur neuen Gesellschaft. Er versteht seine Stellung zum Kommenden anders, als auf der früheren Stufe. Treue. 12 [15] Wenn eine Vielheit dieselbe Noth erlitte, wie er sie leidet – das wäre Volk, sagt er sich. Dann würden ihre gleichen Bedürfnisse auch gleich befriedigt. Sieht er nun zu, was ihn selbst in 700
seiner Noth am tiefsten tröstet und beseeligt, so findet er den Mythus und die Musik: hier empfängt er die tiefste Befriedigung, also muß er hier auch am tiefsten bedürfen, und Noth sein. Die Musik ist nun eine Ausnahmekunst, nicht dem Luxus dienstbar, sondern entstanden wie ein Trost der Niedrigen und Schlichten, er findet eine herrliche Zusammengehörigkeit beider und fühlt seine Kraft zum Drama als verbindende Kraft zwischen diesen Sphären. Sein Kunstwerk, das auf ihn jetzt so unvergleichlich wirkt, stellt er als eine Frage auf: wo sind die, auf welche es gleich wirkt? Diese werden auch gleich leiden und bedürfen, wie ich. Eine Vielheit von uns ist das Volk, das wir ersehnen. Nun erlebt er eine schreckliche Enttäuschung, obwohl er durch Schriften nachhilft; alles ist befremdet, man mißt nach alten Maßstäben, man kritisirt nach alter Weise herum, man fühlt nicht die neue Frage. Er verzweifelt, denn das Volk ist nicht da, seine Noth wird nicht empfunden, sein Kunstwerk ist eine Mittheilung an Taube und Blinde, die Aussicht auf Wirkung und Macht ist hoffnungslos. Er taumelt und geräth ins Schwanken. Die Möglichkeit eines Umsturzes der Dinge steht als Hoffnung vor ihm, vielleicht daß hinterher wieder zu pflanzen ist. – In Kürze ist er politischer Flüchtling und im Elend. Es ist die zweite große Krisis. Vereinsamt, die Zeit erscheint ihm nichtig, er hat sich ganz auf sich zurückgezogen, keine Hoffnung mehr. Er streift jetzt jede Rücksicht auf Wirkung ab, alles Verführerische und Anfragende, das Verständniß Erleichternde, und spricht nur mit sich. Sein Weltblick wendet sich in die Tiefe, er sieht das Leiden im Fundament und reinigt sich von allem Optimismus. Sehnsucht aus dem Tag in die Nacht, Tristan. Er findet die deutsche lutherische Heiterkeit wieder, die andere Völker nicht begreifen, durchgegohrne Meisterschaft der M<eister>singer. Es kommen Freunde heran; viele beinahe gefährlich, sie wollen ihn dogmatisiren usw. Er geht hindurch unberührt, es handelt sich nicht mehr um Aesthetik und Musik für ihn. Ein ungeheures Werk, der Gesammtausdruck seiner Einsicht und Aussicht, mit einem wunderbaren metaphysischen Schwanken am Schluß. Macht resignirt aus Liebe. Er will dieses Werk zeigen, das Kunstwerk der Zukunft: während das jetzt nicht die Zukunft ist, auf die er rechnet. Der Krieg, symbolisch verstanden, giebt Muth. 12 [16] Das Streben und Wollen der Macht ist jetzt unpersönlich geworden, ist rein in's Schaffen übergetreten. Seine Kunst der höchsten Vollkommenheit und Ausdrucksfähigkeit: er denkt nicht mehr an eine zu erlebende Wirkung. Er will das Werk hinterlassen, legt Partitur neben Partitur. Über Nacht kam es plötzlich anders. Der deutsche Krieg wurde von ihm eigen nachempfunden, wie sonst nicht in Deutschland. Er bekam Glauben an eins, während er gar keinen mehr in Betreff von Deutschen hatte, die deutsche Tapferkeit mit Besonnenheit und Dauer verbunden, er sah etwas seinem Schaffen Verwandtes und war hoch beglückt. Vielleicht finde ich jetzt – nicht das Volk, sondern nur so viel Freunde und Mitleidende, denen ich das Werk zeigen kann, wie es gemeint ist. Es war ihm um Begründung des Stils, der Tradition zu thun, für eine sehr ferne Zukunft. – Wenn wir „das Kunstwerk der Zukunft" jetzt sehen, so sollen wir doch immer sagen, es ist nicht diese Zeit, welche Wagner mit jener "Zukunft" gemeint hat! Was Wagner sein wird, das ist noch etwas ganz andres als er jetzt sein kann. 12 [17] Und nun trat in immer neuem Glanz der herrschende Gedanke seines Lebens vor ihn hin, fast verwandelt, aber beinahe noch mächtiger, reizvoller. Wirkung, unvergleichliche Wirkung! – 701
womit! auf wen! Nicht mehr auf das Publikum der Theater, wie es ist, nicht mehr auf den modernen Menschen überhaupt, wie er zur Kunst sich eben verhält. Auch nicht mehr mit den Mächten der bisherigen Erfolge. In diesem Zeitpunkt des entscheidenden "Nicht mehr" begriff er das Wesen des Volkes und seinen Gegensatz, die Gesellschaft des Luxus. 12 [18] In doppelter Weise erscheint die Vergangenheit verkürzt, einmal weil sie nur von Einem Sehwinkel, allerdings einem wichtigen und nothwendigen aus gesehn wird und sodann weil in der einmal so geschauten Welt vieles ausgeschieden wird, nach einem Maßstabe. Aber nicht nur die Vergangenheit wird so gleichsam durch Verkürzung überschaulicher gemacht: das ganze Leben, auch das der Gegenwart und Zukunft, erscheint in einem verkleinerten Maßstabe und kann so leichter beurtheilt werden. Der Grad, in dem die Menschen mit der Kunst umgehen, die Tiefe oder Oberflächlichkeit der Beziehungen, die Wahrheit oder Eitelkeit in diesem Verkehr, wird zum Urtheil über die Zeiten und Völker benutzt: ihr Bedürfniß nach Kunst als Zeichen ihrer Sittlichkeit und Weisheit. Man kann von einem Menschen ziemlich viel wissen, wenn man genau weiß, ob er überhaupt Kunst nöthig hat, ob bildende oder tönende, welchen Meistern er sich zuneigt usw. Nimmt der Künstler selber diese Abschätzung vor, so kann man ihm nicht verargen, wenn er hier einen Werthmesser überhaupt zu haben glaubt: in seiner Betrachtung des Lebens ist die Kunst das Sonnensystem. Menschen ohne Kunst sind für ihn undenkbar, wie Menschen ohne Raum und Zeitvorstellungen es sind. Er findet nichts, worin nicht Kunst sich ausspräche: in der Art, wie ein Mench denkt, träumt, geht, ißt, sich unterredet, schreibt, liest, kämpft, verehrt, erzieht, den Tag und das Leben eintheilt, wie er den Staat aufbaut, die Stände auseinanderhält: überall ist hier eine äußerliche Erscheinung und eine Gesinnung, aus der gehandelt wird, zu unterscheiden. In dieser äußerlichen Erscheinung, sowohl wie in dieser Gesinnung, ist etwas, was Kunst ist: ein gewisser schöpferischer Drang nach dem – – – 12 [19] 6. Wagner's Zweifel. – Ist die Welt alt, verarmt geworden? Durch Beethoven Widerlegung seines Zweifels: Unschuld. Pastorale – ewige Menschheit. Musik reicht nicht aus. Strauß. Gegen den absoluten Musiker, den einsiedlerischen Verächter der Scheinwelt. Drama keine Kunstart, kein Kunstzweig. Beseelung der inneren Phantasie. Erregung der symbolischen Bewegungsmotive. 7. Veränderliches. Unveränderliches. Das Drama als Prophezeiung eines reineren Lebens (im Gegensatz zu dem rückblickenden antiken Drama). Versuch, Wagner auch als rückblickend zu verstehen: restaurative Richtungen. Das Volk. Genius.
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8. Der zeugende Punkt in der Oper. Schillers Ahnung. Die drei Schwierigkeiten – Wortmelodie usw. Überall Herausbildung aus dem Entarteten zum Kern. Vorbildlich, es ist ein Zurückgehen scheinbar, noch mehr ein Abwerfen des Falschen Unechten Späten. 9. Reinigen vor und neben dem Schaffen. Schriftsteller. 10. Der Dichter. Mythus. Sprache. Goethe. 11. Der Musiker. 12. Die Nibelungen: der Weltverkürzer: sein Leben und Wesen in ungeheurem Reflexe. 12 [20] Ich sagte, es wäre möglich daß die erlöste Kunst zu den Menschen spräche und nicht gehört werde. David Strauß hat die Pastorale gehört und nichts gehört. 12 [21] Was Thukydides über den Staat denkt. Thukydides, Buch III cap. 84 ist echt. Es soll unklar sein, und in Stil und Gedanken den νεωτεοισµοζ zeigen, etwas Revolutionäres. Ich meine, man ist vor den Gedanken dieses Capitels erschrocken; zum Theil hat man sie auch wohl nicht verstanden. Und so läßt man sich eines der wenigen Zeugnisse entgehen, wo Thukydides von seiner innersten Gesinnung redet, wo er sagt, was an der Menschennatur ist! Der Mensch ist neidisch, ein Feind des Hervorragenden, sein Neid will schaden; so erträgt er eine Lage nicht, in der der Neid eine nicht schadende Kraft hat, den gesetzlichen Zustand. Sie wollen lieber Rache als Recht, lieber egoistischen Gewinn an Stelle einer Lage, wo man ihnen keinen Schaden thut (kein Unrecht zufügt); sie ziehen vor το χεοδαινειν µη αδιχειν (heißt: dem, daß man sie nicht schädigt, ihnen Unrecht thut) – und doch waren sie in einer Lage, wo der Neid keinen schadenden Charakter hatte. Sie waren vor einander und vor den Ausbrüchen ihrer Bösartigkeit im Neid geschützt: und nun begaben sie sich in einen schutzlosen Zustand hinein – warum? um Rache an anderen zu nehmen. Sie können eben ihre Affekte nicht beherrschen. Hier hat Thukydides seine Theorie vom Staate gegeben: und auch gesagt, was geschehen muß, sobald der Staat aufhört – gegenseitige Zerfleischung und Auslassung aller Affekte. Da 703
tritt die menschliche Natur rein hervor, durch den Staat ist sie im Zaum gehalten. Übrigens erscheint hier die πολιζ nicht als Produkt der Menschen, nicht als kluge Schutzanstalt der Egoismen gegen einander. Thukydides meint, die Menschen seien eben nicht klug genug dazu, sondern von Affekten beherrscht, momentan. Der Staat ist ihm wohl eine göttliche Institution. Die höchste Verehrung der νοµοι blickt durch. Menschen könnten nach ihrer ϕυσιζ nicht stiften! Im Staate herrscht Recht, nicht Rache, wird jeder geschützt vor Unrecht von dern anderen, und die Mißgunst hat keinen schädigenden Charakter. Trotzdem werfen sie ihn um, sie vergessen ihren eigenen Vortheil: so blind sind sie in ihrer Leidenschaft! Für δια παδουζ επιϑ υµουντεζ lese ich δια παντοζ επιϕϑ ονουντεζ -(δια παντοζ kommt sonst dreimal bei Thukydides vor, v. Register). Der Adel der Gesinnung besteht zu einem sehr großen Theil aus Gutmüthigkeit (ευηϑ εζ): Mangel an Mißtrauen, Harmlosigkeit. 12 [22] Zum Darwinismus. Je mehr ein Mensch Gemeinsinn hatte, sympathische Affektionen, um so mehr hielt er zu seinem Stamme; und der Stamm erhielt sich am besten, wo die hingebendsten Einzelnen waren. Hier erstarkte die gute tüchtige Sitte, hier wurde die Unterordnung des Individuums gelernt und dem Charakter Festigkeit gegeben und anerzogen. – Doch ist hier die Gefahr der Stabilität, die Verdummung, groß. Ungebundene, viel unsicherere und schwächere Individuen, die neues versuchen und vielerlei versuchen, sind es, an denen der Fortschritt hängt: unzählige dieser Art gehen zu Grunde ohne Wirkung, aber im Allgemeinen lockern sie auf und bringen so von Zeit zu Zeit dem stabilen Elemente eine Schwächung bei, führen an irgend einer schwachgewordenen Stelle etwas Neues ein. Dies Neue wird von dem im Ganzen intakten Gesamtwesen allmählich assimilirt. Die degenerirenden Naturen, die leichten Entartungen sind von höchster Bedeutung. Überall wo ein Fortschritt erfolgen soll, muß eine Schwächung vorhergehen. Die stärksten Naturen haben den Typus fest und halten daran. – Entartung ist immer Verstümmelung: aber selten ist eine Einbuße ohne einen Vortheil auf einer anderen Seite. Der kränkere Mensch z. B. wird ruhiger und weiser; der einäugige wird Ein stärkeres Auge haben, der Blinde wird tiefer in's Innere schauen. Nicht Kampf um's Dasein ist das wichtige Princip! Mehrung der stabilen Kraft durch Gemeingefühl im Einzelnen, Möglichkeit zu höheren Zielen zu gelangen, durch entartetende Naturen und partielle Schwächungen der stabilen Kraft. Die schwächere Natur, als die edlere wenigstens freiere, macht alles Fortschreiten möglich. Ein Volk, das irgendwo schwach wird und anbröckelt, aber im Ganzen noch stark ist: das vermag die Infektion des Neuen aufzunehmen und zu assimiliren.
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Ebenso der einzelne Mensch: das Problem der Erziehung ist, jemanden so fest und markig hinzustellen, daß er als Ganzes gar nicht mehr aus seiner Bahn gebracht werden kann. Dann aber hat der Erzieher ihm Wunden beizubringen: und wenn so der Schmerz, das Bedürfniß entstanden ist, kann auch dort etwas Neues und Edles inokulirt werden. Die Gesammtkraft wird es jetzt in sich hinein nehmen und so veredelt werden. Die Deutschen wurden nicht nur verwundet, sondern fast zum Verbluten gebracht, man nahm Sitte Religion Sprache Freiheit. Sie sind nicht zu Grunde gegangen: aber daß sie eine tief leidende Nation sind, haben sie bewiesen, dadurch daß sie die Musik erfanden; sie haben den Segen der Krankheit erfahren. – Dieser Lehre gegenüber ist der Darwinismus eine Philosophie für Fleischerburschen. Und die Stellung, die sie der Züchtung, die sie dem Weibe geben! Ist es denn wahr, daß die Weiber gerade nur für die stärksten Fleischerburschen Sinn und Neigung haben! Nicht einmal unter den Thieren ist es so. Übrigens will ich mit meiner Betrachtung bei den Menschen verbleiben und mich hüten, aus den Gesetzen über die menschliche Veredlung auf Grund der schwächeren, entarteten Naturen, Schlüsse über die thierische Entwicklung zu machen. Ob es gleich noch viel mehr erlaubt wäre, dies zu thun als aus der Bestialität und ihren Gesetzen nun auch den Menschen bestialisch zu systematisiren: wie dies Herr Häckel in Jena thut, und seines Gleichen wie D. Strauß. – 12 [23] Daß die idealeren Naturen nicht so gute Bürger sind – 12 [24] Um zu erklären, was ich unter Wagner's zusammenziehender Kraft, unter dem Wort, er sei ein Vereinfacher der Welt, verstehe, schicke ich dies voraus. Er fand zwei neue Probleme, das der Musik und das des Drama's: er fand sie dort, wo alle großen Probleme liegen, auf der Gasse, vor Jedermanns Füßen und doch allen Augen verborgen. Was bedeutet es, daß der neuerer Zeit gerade eine solche Kunst wie die der Musik ersteht? Ist dies nicht ein Widerspruch für jeden, der das Bild dieser Zeit sich vor die Seele stellt? Muß er nicht sagen: aus dieser Zeit konnte die Musik nicht entstehn: was ist dann ihre Existenz? Ein Zufall? Aber erst könnte ein einzelner Meister zufällig sein, das Erscheinen einer solchen Reihe von Leuchten und Sonnen zeigt doch wahrlich, daß nicht an Kometen-Erscheinung zu denken ist. Wagner giebt nun eine Antwort: die Existenz der Musik hängt mit der Stärke der modernen Zeit zusammen, diese aber hat ungeheure Schwächen anderer Organe mit sich gebracht: und dieser erkrankte und erschöpfte Zustand ist es, dem in der Musik ein Heilmittel erwächst. Einmal hat sie ein Verhältniß zur Sprache, als eine universal vorwortliche Sprache zu der ganz ausgeraubten entkräfteten rhetorisch und poetisch vernützten Sprache: die allgemeine Erkrankung aller Sprechenden, die Unfähigkeit, sich noch wirklich mit einander zu verständigen: wenn schon die Poesie für jeden jetzt dichtet, so denkt jetzt die Sprache für jeden, er ist der Sklave derselben und niemand hat noch Individualität in diesem ungeheuren Zwang. Man muß, durch Musik gehoben, einmal sich so fern gestellt fühlen, daß man in allem, was gesprochen wird, geschrieben wird, das typisch Gleichartige wahrnimmt: dann kommt es einem so vor, als ob alle individuelle Bildung unmöglich sei, weil sie versucht, auf dem Wort sich zu gründen; und das reißt jetzt jeden in die alten Bahnen. Zweitens fühlte Wagner die Stellung der Musik zu der jetzt sichtbaren Erscheinungswelt des modernen Lebens: sie ist bildlos und deshalb 705
antagonistisch allem Gebilde. Nun zeigt <sich> ebenfalls in allem, worin der Mensch jetzt an der Erscheinung herum bildet, eine unsägliche Erschöpfung: alles Dagewesene, alles schöner dagewesen, selbst das Häßliche ist erhabner dagewesen. Das Gehen Stehen und sich Bewegen, die Form der Geselligkeit, die Manieren der öffentlichen Sprecher, die Geberden der Jünglinge, die Künste der Frauen: alles, alles worin frühere Zeiten den Leib gebildet haben und zum Spiegel schöner oder großer Bewegungen gemacht haben, ist ganz verkommen oder späte Nachahmung: bestenfalls ist alles Renaissance und zwar Nachblüthe derselben (die französische Civilisation). Faßt man hier die Musik als den Antagonisten der Gymnastik, so ist in ihr jedenfalls ein Punkt gewonnen, von wo aus einem das moderne Leben widerlich barbarisch vorkommt. Denn der, welcher in dem rhythmischen Gange der großen Musik lebt, erkennt zuerst an sich und von da aus an allen andern, wie unfähig er für gewöhnlich ist, diesem reinen und erhöhten und doch machtvoll bewegten Innenleben der Musik etwas entgegenzustellen, was als Bild, als Erscheinung, dazu gehöre: während er gewöhnlich nur den peinlichen Eindruck bei diesem Suchen hat, daß er in ein Durcheinander von Verzerrungen und Übertreibungen hineinblicke. Nun ist der Eindruck der Musik selbst so stark, daß nicht nur der Rhythmus der Gymnastik vor ihm sich auszuweisen hat: alles, was ein rhythmisches Verhalten an sich hat, die ganze Lebensordnung von Individuen, die Politik von Völkern, das Verhalten der Handelsinteressen zu einander, der Kampf der Stände, das Widerspiel zwischen Volk und Nichtvolk – unwillkürlich wird es der mit Musik erfüllte Mensch an der Musik messen und verurtheilen: er begreift es, was es heißen will, einen Staat auf Musik zu gründen, was die Griechen nicht nur begriffen hatten, sondern auch forderten. Und zwar ist es auch nicht allein das Rhythmische; auch das Seelenvolle Ehrliche in der unpersönlichen Leidenschaft und doch das aus unerschöpflicher Tiefe aufquellende ruhige Feuer der Musik – dies alles wird ihm zum Richter seiner modernen Welt. So verurtheilt Wagner diese Welt, weil sie dem Ideal, das er nicht als Bild aber als Seele der Musik in sich trägt, nicht entspricht. Er würde sie verneinen und aufheben müssen, wenn er nur Musiker wäre. Und in der That ist es sein tiefer Gegensatz gegen alle sonstigen Musiker unserer Zeit, daß sie von sich aus nicht diese Verneinung und Aufhebung wollen; er schließt daraus, daß sie jenes Feuer eben nicht im Leibe haben und in Folge dessen keine rechten Musiker sind. Entweder verneint euch als Musiker, hört auf welche zu sein oder hebt die Welt vermöge eurer inneren Kraft aus den Angeln – so ruft er ihnen zu. Diese Verneinung kann nun verschiedenartig gedacht werden: revolutionär oder asketisch. Im ersten Falle wird der Musiker zuerst darauf sinnen, der Musik eine einflußreiche Stellung zu verschaffen, er wird ihre Verkümmerungen, ihre verächtliche Lage, ihren Mißbrauch zu leeren folgenlosen Unterhaltungen bekämpfen: indem er durch seine ernste Musik die Individuen weiht und zu Werkzeugen der umwälzenden Macht der Musik macht, wird er hoffen können, überall hin seinen Einfluß zu tragen: wer möchte z. B. zweifeln, daß eine Gesellschaft, die den wahren Geist Beethovenscher Musik in sich aufgenommen hat, unserer jetzigen Gesellschaft, in Staatsform Erziehung usw., sehr wenig ähnlich sehen würde! Zweitens kann jene Verneinung der gegenwärtigen Erscheinung leicht noch zu einer weiteren Stufe der Verneinung führen. Wer, wie Schopenhauer, in der Musik eine Welt hinter dieser Welt sieht, die noch nicht in die Form der Individuation eingegangen ist, und wer andererseits gerade den gebrechlichen tief hoffnungslosen Charakter des Lebens aus der trennenden Gewalt der Indiv ableitet, muß in der Musik die wenngleich begriffs- und bildlose Conception einer besseren Welt machen, einer unschuldigen, liebevollen, heiter-tiefsinnigen. Ganz auf diese Welt sich zurückziehend steht der Musiker dann, wie Wagner es an Beethoven geschildert hat, beinahe in der Sphäre der Heiligkeit: die unvergleich Reinheit Bewegtheit Gluth die kindliche Unmittelbarkeit, der völlige Mangel der Verstellung, die 706
Abwesenheit der Convention das ist der Musik eigen, nicht den andern Künsten, die eben der Erscheinungswelt als Abbilder zu nahe stehen. Hiermit könnte es nun erscheinen, daß ein Nebeneinander der Musik und der Erscheinungswelt eben ein Mißgebilde sein müsse, daß ihre Unverträglichkeit gerade fest stünde. Hier nun machte Wagner seinen zweiten Fund, er fand das Problem des Drama's wieder. Der Mensch, der die Seele der Musik in sich aufgenommen hat und von diesem Erfülltsein aus auf die allgemeine Natur und das Loos der Menschen zu allen Zeiten hinblickt, thut dies nicht mit Ekel, mit Haß: sondern so wie Beethoven die Natur in der Pastorale sieht, mit Liebe, mit einem alles verstehenden Mitleid. In größeren Bildern des menschlichen Wollens sieht er die Art seines eigenen Wollens, nur mit Wahn und trügerischen Zielen vor sich, so daß er das tragische Ergebniß dieses individuellen Wollens vorhersehen kann. Als Seele der Musik faßt er gerade die Liebe: und gerade das, was er am meisten in seiner Hoffnungslosigkeit des Strebens durchschaut, muß er am meisten lieben. Andererseits ist der große Musiker als Abbild des universalen Willens, in einer natürlichen Sympathie für das Individuum, das sich in der Ausdehnung seines Wollens dem universalen Willen nähert; das Feuer, das ihn durch's Leben führt, erkennt er als verwandt dem Feuer der in ihm waltenden Musik an: nur daß der Wille, der in der Musik erscheint, reiner unschuldiger und trugloser ist und bereits als unpersönlich gewordener Wille dem Eingang zur Selbstverneinung und dem Zustand der Heiligkeit sich nähert, von dem der ringende Held noch ferne ist: zwar vielleicht nicht so weit, denn gerade wegen der Heftigkeit seines Ringens kann er plötzlich einmal von der Einsicht in die Erfolglosigkeit überrascht werden. 12 [25] Dichtung als Litteratur die französische Rhetorik des Stils eine Änderung durch die bildende Kunst zu erwarten ist albern der ganze moderne Mensch durch und durch von Musik noch leer, noch nicht von ihr geformt Mangel der Musik in der Erziehung, wie Tanz verzerrtes Gebilde sich zur Orchestik verhält, so der Schein zur griechischen Erscheinung: der französische Stil zum griechischen; Turnkunst jämmerliches Stückwerk. 12 [26] Die gewohnte Leichtfertigkeit – oder ist es gar die thörichte Überhebung der modernen Menschen? – bringt es mit sich, daß den tief spürenden, der reichsten Erfahrung nachgehenden Einreden Platos gegen die Kunst jetzt kein Gehör mehr geschenkt wird; wer aber noch belehrbar ist, muß sehr bestimmt einsehen, daß das Walten einer mächtigen Kunst auch eine Menge Gefahren mit sich führt und daß gerade die größten Künstler eine Nachwirkung gehabt haben, welche den besorgteren Denkern fast bei jedem neuen Erscheinen solcher Mächte Furcht einflößen muß. Allzu leicht erscheint es so als ob die Kunst die Ziele des thätigen Lebens selber hinzustellen hätte, und mit gefährlichstem Mißverstande wird dann der Künstler als unmittelbarer Erzieher verstanden. Wird dagegen seine wundervolle Aufgabe mit Recht so begriffen, daß er für das kämpfende und zielesetzende Leben einzuweihen hat, so ist man ebenso im Recht, ihn sich auf das Schärfste vom Leben selber abgetrennt zu denken und seinen Nachwirkungen ein Strombett anzuweisen, welches nicht den Gang des Lebens durchkreuzt und bestimmt. Man würde Plato's Meinung treffen, wenn man mit einiger Härte darauf bestünde, daß es gleichgültig sei, was ein Künstler in socialer und politischer Hinsicht denke: daß es z. B. für die Athener ohne Gewicht sein mußte, ob Aeschylus sich für oder gegen die Beschränkung des Aeropag erklärte; ja ich glaube sogar, erst dadurch, daß man in dem Künstler gerade etwas Überzeitliches verehrt, wird man sich gegen das Gefährliche, was in seiner direkten Wirkung auf die Zeit liegt, 707
einigermaßen schützen können. Ich will in diesem Zusammenhange darauf aufmerksam machen, daß es überaus nahe liegt und deshalb gefährlich ist, Wagner nicht als Künstler zu verstehen oder anders ausgedrückt: aus seinen Kunstwerken bestimmte Winke über die Gestaltung des Lebens entnehmen zu wollen. Es liegt dies so nahe, weil Wagner selber in verschiedenen Perioden den Versuch gemacht hat, bestimmtere Antworten auf die Frage nach dem Zusammenhang seiner Kunst mit dem Leben zu finden. Es giebt Aufsätze von ihm, die ganz von dem magischen Lichte eines seiner Kunstwerke überströmt sind – und jedes Kunstwerk hat ein ihm eigenthümlich gefärbtes Licht. 12 [27] Liebe und Verachtung. Schluß: worin vereinfacht er die Welt? Nächstes Capitel: die historische Entwicklung der Musik. Wagner als Reiniger der Kunst, ihrer Stellung zum Leben – selbst als Schriftsteller (zu schreiben, was ich leide). 12 [28] Nach der Unterbrechung weiter. Der Vereinfacher der Welt, wie in der Philosophie. Er sieht sie unter einem einzigen aber nothwendigen Sehwinkel: wie steht es mit der Kunst? Da verkürzt er die Geschichte sehr. Er reinigt: er verscheucht die Vorstellung, daß die Welt organisch alt geworden sei. Die Quelle der Natur noch eben so frisch, der Mensch noch unausgeschöpft. Man muß nur Begriffswolken verscheuchen, falsche Beängstigungen, als ob der Mensch schon verarmt sei. Der Haß gegen die weichlichen Kunstfreunde. Das Wesen der Musik giebt ihm das Licht; sie steht im Gegensatz zu unsrer begrifflichen und litterarischen Welt (die Welt des Scheins unfruchtbar, Hillebrand mit seinen Hoffnungen lächerlich). Wagner bildet die innere Phantasie aus. Schopenhauer faßt sie als etwas Metaphysisches, Wagner fragt: giebt es ein Leben, welches der Musik einmal entsprechen wird? (Griechen gründeten ihre Staaten auf Musik) Daß es eine solche Welt geben muß, ersieht er als Dramatiker (das Drama ist keine Kunstart, kein Litteraturzweig). Er sieht Phänomene vor sich gleichsam mit drei Dimensionen – hörbar schaubar begreifbar. Wo hat er dies Phänomen zuerst gesehen? In der Oper. Schillers Ahnung. 708
Der moderne Künstler hat immer erst zu reinigen, ehe er schaffen kann – meistens wird die Reinigung zuerst eine persönliche sein. 5. (b) Wagner's Kampf im Kunstwerke. 6. Wagner in der Oper. Das Publikum. Weg zu Beethoven. Das anscheinend Reaktionäre-Romantische. Gegensatz zur Civilisation. 7. Das anscheinend Desperative. Gegensatz zur Welt der Erscheinung. So erscheint er fast als restaurativer Typus? Logische Trägheit. Fühlen Ahnen. Die Unbewußtheit, Instinktivität. – Aber alles dies ist nur als Schein zu nehmen: sein Charakter ist progressiv. 12 [29] Wagner's Kampf im Kunstwerk. Rienzi – Gegensatz zur "Ordnung", der Reformator. Holländer – das Mythische gegen das Historische. Tannhäuser Lohengrin – das Katholische gegen das Protestantische (das Romantische gegen die Aufklärung). Meistersinger – Gegensatz zur Civilisation, das Deutsche gegen das Französische. Tristan – Gegensatz zur Erscheinung. Das Metaphysische gegen das Leben. Nibelungen – freiwilliges Verzichten der bisherigen Weltmächte: Gegensätze von Weltperioden – mit Umwandlung der Richtung und der Ziele. 12 [30] Goethe nennt all sein Wirken symbolisch. So verstehe man auch den Lebensgang Wagner's symbolisch. Er beginnt in einer verdorbenen Kunst und zwar den einzigen Punkt entdeckend, wo Kraft ist. Von da aus reinigt er seine Vorstellung von dieser Kunst und sich selbst.
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12 [31] – – – Er geht nicht nur durch das Feuer, sondern auch durch den Dampf des Wissens und der Gelehrsamkeit hindurch – mit jener Treue gegen ein höheres Selbst oder, noch richtiger, durch die Treue eines höheren Selbst gegen ihn, welches ihn aus seinen schwersten Gefahren immer wieder herausführte. Dieses höhere Selbst verlangte von ihm nur Gesammtthaten seines polyphonen Wesens, und hieß ihn leiden und lernen, um jene Thaten thun zu können, es führte ihn zur Prüfung und Stärkung an immer schwereren Aufgaben vorbei. Die höheren Gefahren und Prüfungen aber nahten ihm nicht als dem persönlich Unbefriedigten und Leidenden, nicht als dem Lernenden, sie erwuchsen aus einer Verbindung von Leiden und Lernen, aus dem heftigen Triebe, dem eignen Leide, das er in immer höherer Verallgemeinerung empfand und zu dessen Verständniß er Historie und Philosophie hinzunehmen mußte, einen rettenden Gedanken entgegenzustellen: es sind die Gefahren der Absichten, durch welche der Künstler die Reinheit seines Werdens kreuzte; seine Kunst sollte diesen Absichten dienen, sie sollte mehr leisten und sofort leisten, als eine Kunst, noch dazu eine dunkel ans Licht ringende neue Kunst vermag; indem er sie der Reihe nach zum Heilmittel seiner selbst, des modernen Menschen und endlich des Lebens überhaupt bestimmte, verfiel er in die schwerste Krankheit, in welche ein Künstler verfallen kann, in die der bestimmten Absichten. Zuerst begehrte er von ihr alles das, was ihm sein persönliches Schicksal nicht bot: hier enttäuscht, verlangte er von ihr Befriedigung und Ersatz für jene ungeheuren Mängel, an denen die neuere Menschheit und jeder Einzelne in ihr leidet: auch hier enttäuscht und zur Hoffnungslosigkeit verurtheilt, ersah er in seiner Kunst die Religion, den Trost für das Dasein überhaupt. Und erst hier war das Absichtliche in seinem Wollen so in's Unbegrenzte gehoben, daß seine Kunst und alles Unabsichtliche seines Wesens sich völlig frei und ungehemmt ergehen konnte. – 12 [32] 4. Darüber nachzudenken, was Wagner ist, an allen Lebens- und Machtäußerungen seiner vielspältig-einheitlichen Natur betrachtend vorüberzugehn: das wird die Heilung und Erholung sein, welche jedermann begehren muß, der darüber, wie Wagner wurde, gedacht und gelitten hat. Ein solches wahrhaft großes, wahrhaft frei gewordenes Können und Dürfen ist das herrlichste Schauspiel von der Welt; wo eine solche Begabung erscheint, wird die Erde, für den Betrachter wenigstens, zu einem sommerlichen Garten. Er kann, von dem Glück dieses Schauspiels aus, kaum anders als selbst in jenes leidvolle Werden eine verklärende und beinahe rechtfertigende Zweckmäßigkeit hineinzulegen: zu erwägen, wie der großen Natur alles zum Heil und Gewinn werden muß, so schwere Schulen sie auch durchgeführt wird: wie sie sich von Gift nährt und gesund und stark dabei wird, wie jede Gefährlichkeit sie beherzter, jeder Sieg sie besonnener gemacht hat. – – – 12 [33] 5. Es giebt nichts Hoffnungsloseres, als von solchen complicirten und seltenen Zuständen der Seele zu Anderen zu sprechen, wenn diese nicht selber durch die Erinnerung an eigne ähnliche wenn auch vielfach schwächere Zustände und durch ein beschauliches Suchen in ihrem Innern dem Sprechenden auf halbem Wege entgegenkommen. Solche bereite Zuhörer aber vorausgesetzt, halte ich es allerdings für möglich, den ganz eigenen und einzigen 710
Eindruck einer großen Begabung allmählich so deutlich für die Empfindung auszuprägen, daß wir von der entscheidenden Sicherheit dieses Eindrucks aus unwillkürlich auf jenen Zustand zurückschließen, in welchem der Künstler sich zum Schaffen gedrängt fühlt, d. h. den Eindruck der Welt auf sich als einen Anruf seiner eigensten Kraft empfindet. Auf ein Mitwissen um diesen Zustand kommt aber alles an, und jede Beschäftigung mit Kunst kann bei dem Nichtkünstler nur dies Ziel haben, zuletzt einen Eingang zu jenen sonst verborgenen Seelen-Mysterien zu entdecken, in denen das Kunstwerk geboren wird. Der Künstler ist nur gerade als Mittheilender über diese Mysterien Künstler; er will uns durch seine Art zu sprechen und sich mitzutheilen zu Mit-Eingeweihten machen, er will mit seinem Werke auf etwas hinweisen, was vor dem Werk, hinter dem Werk ist. „Die Natur ist nach Innen zu viel reicher, gewaltiger, seliger, furchtbarer, ihr kennt sie nicht, so wie ihr gewöhnlich lebt!" ruft uns der Künstler zu, „nun folgt mir einmal und laßt das trüberleuchtete Stück Natur und Leben, welches ihr allein als wirklich zu kennen scheint, hinter euch. Ich führe euch in ein Reich, das ebenfalls wirklich ist: ihr selber sollt sagen, wenn ihr aus meiner Höhle in euren Tag zurückkommt, welches Leben wirklicher ist!" Wenn bis zu irgend einem Grade dies die Stimme jedes großen Künstlers an uns ist, so doch vor Allem die Stimme Wagner's. Das, wozu sie uns ladet, ist Rückkehr zur Natur; und in diesem Zusammenhang darf man am wenigsten fürchten, Mißverständnisse mit solch einem Worte zu erregen. Es handelt sich wahrhaftig nicht um eine bequeme Entschließung, sich einmal natürlich zu geben und in einer idyllischen Schlichtheit zu lustwandeln: so harmlos war jene Aufforderung nicht gemeint. Der Künstler weiß recht wohl, daß wir Alle, wenn er nicht den Weg uns zeigt, niemals den Eingang in die noch unbekannt gebliebene Urwelt der Natur finden werden. Denn übermächtig ist die Last, die auf uns liegt; ein Schleier aus kalten und künstlichen Begriffen und Lehrmeinungen gesponnen hält unser Auge; unser Gefühl regt sich kaum gegen die Gewohnheit der verwickeltsten und härtesten Gesetzbarkeiten oder regt sich in falschem Takte, wir haben auch die Sprache des Gefühls verlernt: so sind wir viel zu schwach und können gar nicht so weit aus eignen Kräften gehen, um die Natur zu finden. Aber auch die Hand unseres Ermahners und Befreiers ist übermächtig: er führt uns, ohne daß wir sehen, wohin: bis wir plötzlich fühlen und hören und mit allen Sinnen auf einmal wissen, wo wir stehen – in der freien Natur, und selber verwandelt zu natürlich Freien. Die Bedeutung der Musik. Befreiung der Musik. Das Improvisatorische. Wagner unterjocht. Das Demosthenische. Wagner als Dichter, als Prosaiker. Das Adstringirende.
[Dokument: Druckmanuskripte] [Sommer – Herbst 1875] 13 [1] – – – Musste die wahre Musik erklingen, weil die Menschen sie am wenigsten verdienten, aber am meisten ihrer bedurften? Man versenke sich nur einmal in das überschwängliche Wunder dieser Möglichkeit: schaut man von da aus auf das Leben zurück, so leuchtet es, so trübe und umnebelt es vorher auch erscheinen mochte; es wird selber zum Abbild und Gleichniss der Musik Beethovens und spricht in der Form der Erscheinung von Erlösung und wiedergewonnener Unschuld. "Nie hat eine Kunst der Welt etwas so Heiteres geschaffen als diese Symphonien in A-dur und F-dur, mit allen ihnen so innig verwandten Tonwerken des Meisters aus der göttlichen Zeit seiner völligen Taubheit. Die Wirkung hiervon auf den Hörer 711
ist Befreiung von aller Schuld – die Wirkung des Heiteren geht hier sofort über alle Befriedigung durch das Schöne weit hinaus. Jeder Trotz der erkenntnissstolzen Vernunft bricht sich hier sofort an dem Zauber der Überwältigung unsrer ganzen Natur; die Erkenntniss flieht mit dem Bekenntniss ihres Irrthums, und die ungeheure Freude dieses Bekenntnisses ist es, in welcher wir aus tiefster Seele aufjauchzen, so ernsthaft auch die gänzlich gefesselte Miene des Zuhörers sein Erstaunen über die Unfähigkeit unseres Sehens und Denkens gegenüber dieser wahrhaftigsten Welt uns verräth. – Aller Schmerz des Daseins bricht sich an diesem ungeheuren Behagen des Spieles mit ihm; der Weltenschöpfer Brahma lacht über sich selbst, da er die Täuschung über sich selbst erkennt; die wiedergewonnene Unschuld spielt scherzend mit dem Stachel der gesühnten Schuld, das befreite Gewissen neckt sich mit seiner ausgestandenen Qual. – Jetzt warf er den Blick auch auf die Erscheinung, die, durch sein inneres Licht beschienen, in wundervollem Reflexe sich wieder seinem Innern mittheilte. Jetzt spricht wiederum nur das Wesen der Dinge zu ihm und zeigt ihm diese in dem ruhigen Lichte der Schönheit. Jetzt versteht er den Wald, den Bach, die Wiese, den blauen Aether, die heitre Menge, das liebende Paar, den Gesang der Vögel, den Zug der Wolken, das Brausen des Sturmes, die Wonne der selig bewegten Ruhe. Da durchdringt all sein Sehen und Gestalten diese wunderbare Heiterkeit, die erst durch ihn der Musik zu eigen geworden ist. Selbst die Klage, so innig ureigen allem Tönen, beschwichtigt sich zum Lächeln: die Welt gewinnt ihre Kindesunschuld wieder. ,Mit mir seich heute im Paradiese' – wer hörte sich dieses Erlöserwort nicht zugerufen, wenn er der Pastoral-Symphonie lauschte?" 7. –––
[Dokument: Mappe loser Blätter] [Herbst 1875 bis Frühling 1876] 14 [1] 1. Wotan strebt nach Macht, wird unfrei, in Schuld und Fluch verflochten: er bedarf des Freien. 2. Muß dem Liebsten widerstreben, es vernichten – muß die treueste Liebe (und Brünnhilde) bestrafen. 3. Ihn faßt Ekel vor der Macht. 4. Die Liebe zudem herrlichen freien Siegfried kehrt ihn um, er weist ihm die Welt, verzichtet. 5. Er sieht den Fluch auch auf das Liebste loskommen und leidet schrecklich, er sehnt sich nach dem Nichtsein. 6. Erst der Tod des Freien löst die Welt und die Götter vom Fluche: der Gerechtigkeit ist Genüge gethan – der Gott kann sterben. 14 [2] 712
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Der Gott wird immer größer, je mehr er zurück tritt. Siegfried, der freie Furchtlose, entsteht aus dem Bündniß wider das Gesetz und die Sitte, seine Erzeuger gehen zu Grunde. Er, der freieste, wird durch Vergessenheit unfrei und treulos; die Freiheit des Menschen ist durch das Vergessen der Vergangenheit verwirkt: das Böse und der Fluch, durch Vergessen kommt der Fluch. Brünnhilde verliert, durch Liebe, ihr persönliches Wissen, und geräth in das tiefste Leid, aus dem sie sich nicht helfen kann. Aber aus ihrem Schicksal entnimmt ein allerhöchstes Wissen "trauernder Liebe tiefstes Leid schloß die Augen mir auf". Eine Zeit die nicht nur um Freiheit des Gedankens gekämpft. hat, sondern sich von aller Vergangenheit zu lösen gesucht, im Kampf mit der Nothwendigkeit: das wird das Volk werden, für welches das Kunstwerk der Zukunft (im Widerspruch gegen alles Vergangene erzeugt) bestimmt ist.
14 [3] Seine Schriften nicht volksthümlich. Wohl aber seine Kunst: sie überwindet den Gegensatz von Volk und Gebildeten. Das scheidet sie von aller Renaissance-Cultur (Goethe als Nachzügler, Philolog-Poet – auch "Faust"). Schon dadurch scheint er auf eine Zukunft hinzudeuten – nach Schillers Wort. 14 [4] Nur soweit er für die Sicherstellung seiner Kunst sorgt, wendet er sich an bestehende Mächte, an den Gebildeten, an das Nationale – er denkt im Bunde mit dem mächtigsten Volke, dem der Reformation, fortzuleben, dem er die Mission zuertheilt "das Meer der Revolution in das Bette des ruhig fließenden Stromes der Menschheit abzudämmen." Aber der Gedanke seines Kunstwerkes ist, wie der Gedanke jedes guten Deutschen, überdeutsch und nicht national: wie seine Reformation. 14 [5] Schillers Zuruf. Dagegen das anscheinend Reaktionäre. 14 [6] Er steht vor der Religion so unbefangen wie Aeschylus vor verschiedenen Zeusen. Wesentlich unreligiös. Zukunft einer Gesellschaft von Wagner's – insofern er ein ganz moderner Mensch ist, ist es auch Kunst der Gegenwart. 14 [7] 713
Was er sein wird? Der in eine Vergangenheit Zurückschauende und sie Deutende – diese Vergangenheit hat er vorweggenommen. Einzelne Phasen in Wotan: um die Macht – Ekel – sie fahren lassen – dem freien Menschen sie weihen. Schluß – Wagner's Worte: wo Staatsweisheit und Kunst usw. Schiller's Worte. Der Vereinfacher der Welt – der Deuter ihrer Geschichte. 14 [8] Das grosse Ereigniss. Um es ganz zu verstehen, ist der Wagnerische Blick auf sich selber nöthig – wie er wurde, was er ist, was er sein wird. I. Wie er wurde. Gefahren
Kindheit, Jugend zerfahren, ohne Naivetät
der Natur
dann gefährlichste Spaltung seines Wesens: Bedeutung der Treue.
und der
Unfrieden und Ungenügen des äusseren Lebens.
Begabungen. Gefahr des mächtigen Lerntriebes. Die Treue siegt, sein Wesen bleibt ganz. Welche Aufgabe hat er zu erfüllen? Allgemeinste Aufgabe der Kunst in der modernen Zeit. Specielle Aufgabe der Musik: Gefahren,
hinsichtlich der Sprache
in seiner
der Erscheinungswelt
Aufgabe
der unrichtigen Empfindung.
und Mission
Allgemeine Stimmung und Seelenverfassung Wagner's
gelegen.
als des schaffenden, seine Aufgabe er füllenden Künstlers (dargestellt an den Stimmungen, welche seine Kunst im Hörer hervor bringt).
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Speciellere Stimmungen in der Folge seiner Entwicklung. II. Was er ist: als Dichter Bildner Musiker und im Ganzen III. Was er sein wird. Als Künstler der Zukunft strebt er nach der Begründung einer Styl-Tradition. Seine Mittel zu diesem Zwecke: Vorbildliche Beispiele, Schriftwerke, er sucht Schutz für seine Kunstwerke bei den bestehenden Mächten. Aber er schafft allein für Menschen einer bestimmten Zukunft. Deren Wesen ist aus seinen Kunstwerken zu errathen, insofern aus der Befriedigung auf das Bedürfniss zurückzuschliessen ist. Die Motive seiner Kunst. Unvereinbarkeit derselben mit dem Character der heutigen Menschheit. Nicht sowohl Seher einer Zukunft, sondern Deuter und Verklärer einer Vergangenheit. 14 [9] Kunst-Vermögen der Mittheilung Höchste Fähigkeit sich mitzutheilen vermöge der höchsten Deutlichkeit Dichter verflochtene Leidenschaft Strom eines Aktes viel weiterer Kreis von Zuständen großer rhythmischer Sinn im Bändigen der Leidenschaft, höchste Kunsteinheit im leidenschaftlichen Menschen 715
die gefährlichen Eigenschaften Schicksal der Kunst sein Schicksal Talent der Mittheilung ohne vom Freunde unterjocht aber wohl selber dem Freunde sich mittheilend sonst durch Beispiel einzige Schwierigkeit bei dem „Gebildeten" – Schriften. Volksthümlichkeit (Faust) 14 [10] 9. Der Künstler 10. die dämonische Mittheilbarkeit 11. Das für jetzige Menschen nicht Mittheilbare: Kunstwerk der Zukunft Gedanke der Nibelungen 14 [11] – Siegfried, aus einem Bunde wider alle Sitte der freie Mensch, ohne Furcht wird unfrei, treulos, durch Vergessenheit noch in seinem Tode erlöst er die Welt vom Fluche Wotan – – –
[Dokument: Heft] [Frühling 1876?] 15 [1] Hypothetische Sätze im Deutschen. "Wenn" drückt ursprünglich einen Wunsch aus; die Sätze dieser Form "ist dies so, so wird daraus" enthalten im Vordersatz eine Frage oder einen Zweifel. Deshalb ist diese letztere Form nicht völlig mit der ersteren zu verwechseln, noch 716
weniger hat sie etwa allein Recht (wie dies W zu meinen scheint, der sie fast ausschließlich anwendet). 15 [2] Lange Perioden soll man meiden: oder, falls sie nöthig sind, rein logisch beurtheilen; ich will, daß man das logische Gerüste deutlich klappern höre: denn sie sollen zur Erleichterung des Denkens dienen; Deutlichkeit ist die erste Forderung: was geht uns (Deutsche!) Schönheit und Numerus in der Periode an! 15 [3] Es ist die rechte Zeit, mit der deutschen Sprache sich endlich artistisch zu befassen. Denn ihre Leiblichkeit ist ganz entwickelt: läßt man sie gehen, so entartet sie jählings. Man muß ihr mit Wissen und Fleiß zu Hülfe kommen und die Mühe an sie wenden, die die griechischen Rhetores an die ihre wendeten – als es auch zu spät war, noch auf eine neue Jugend zu hoffen. Jetzt stehen bis zu Luther's deutschem Stile alle Farbentöpfe zum Gebrauche da – es muß nur der rechte Maler und Kolorist hinzukommen. Es muß ein Handwerk entstehen, damit daraus einmal eine Kunst werde. Auch unsre Klassiker waren Stil-Naturalisten. 15 [4] 1. Vorbereitung und Erziehung. 2. Bauriss. 3. Baumaterial. 15 [5] Nachtrag zu David Strauss. p. 106 "man wisse ja längst, daß Gott ,allgegenwärtig' eines besonderen Sitzes nicht bedürfe" p. 49 "so bringt Schleiermacher in seiner Art wieder einen Gottmenschen heraus." p. 287 "keck umgreifende Klasse der Gesellschaft" P. 238 "auf unserm Standpunkte ist von dem sittlichen Handeln sein Reflex im Empfinden oder die Glückseligkeit von selbst so unabtrennbar, daß derselbe durch äußere Umstände nimmermehr in seinem Glückseligkeitswerthe aufgehoben werden kann." P. 49 "der christliche Kultus, dieses Gewand, für einen Gottmenschen zugeschnitten, wird schlotterig und verliert alle Haltung, sobald es einem bloßen Menschen um gelegt wird." 15 [6] Lichtenberg: "ich weiss dass berühmte Schriftsteller, die aber im Grunde seichte Köpfe waren – was sich in Deutschland leicht beisammen findet – bei allem ihren Eigendünkel von den besten Köpfen, die ich befragen konnte, für seichte Köpfe gehalten worden sind." 15 [7]
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Das allerneueste Testament vererbt seine Weisheit an die, welche "geistig arm" sind, weil sie entweder nichts oder zuviel oder nichts recht gelernt haben und schlechte Bücher z. B. nur ihre eigenen gelesen haben. 15 [8] War es nicht die Meinung des Aristoteles dass man die Producte alter Männer – weil sie nicht völlig lebensfähig sind – tödten solle? 15 [9] Otto Jahn, dem das Beethovensche Lied an die Freude nicht heiter genug erschien. 15 [10] Die Wirkungen Hegel's und Heine's auf den deutschen Stil! Letzterer zerstört das kaum fertige Werk unserer grossen Sprachkünstler, nämlich das kaum errungene Gefühl für einheitliche Farbe des Stils; er liebt die bunte Hanswurstjacke. Seine Einfälle, seine Bilder, seine Beobachtungen, seine sentiments, seine Worte passen nicht zu einander, er beherrscht als Virtuose alle Stilarten, aber benutzt diese Herrschaft nur um sie durcheinander zu werfen. Bei Hegel ist alles nichtswürdiges Grau, bei Heine electrisches Farbenspiel, das aber die Augen eben so fürchterlich angreift, als jenes Grau sie abstumpft. Hegel als Stilist ist ein factor, Heine ein Farceur. – 15 [11] Der neue Glaube kann keine Berge, wohl aber Worte versetzen. – 15 [12] Empedocles sagte den Agrigentinern: sie hiengen den Lüsten nach, als ob sie den andern Tag sterben sollten, und sie bauten so, als ob sie niemals sterben würden. Strauss baut so, als ob sein Buch morgen sterben müsste, und benimmt sich so, als ob es gar niemals sterben sollte. – 15 [13] Nicht das Straussische Buch, nur sein Erfolg ist das Ereigniss, das uns zu reden zwingt. Kein Gedanke ist darin, der werth wäre als gut und neu bemerkt zu werden. – 15 [14] Wohlgewaschene Lumpen kleiden zwar reinlich, doch jedenfalls lumpenhaft. 15 [15] Die süddeutschen Mundarten haben die einzige Vergangenheitsform längst eingebüßt. Rückert stellt Imperfect, Präsens und Perfect in verderblicher Weise neben einander, z. B. Als er nun bei der Gränze Zoll
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nicht wollt' angeben, was er führt, und seinen Kasten öffnen soll, der Zöllner hat den Fund erspürt. So ein Perfect in der Erzählung ist ganz tadelnswerth. 15 [16] Weglassung des Particips: "die Post ist durch, der Bruder ist mit, das Lied ist aus, die Sonne ist unter, das Thor ist auf, der Gast ist fort, das Geld ist weg, die Festung ist über." "Er hat ein Halstuch um, er hat die Sache weg, er hat das Räthsel heraus." 15 [17] Perfekte mit "haben" als Hülfszeitwort. Ursprünglich „er hat ein Haus gebautes", "ich habe ein Kleid gekauftes", also Apposition des Accusativs wie bei "er schießt den Hasen todt" ("todten" alt). 15 [18] Aus dem Imperfect hat sich die Conjunktivform entwickelt. Die Vorstellung des Vergangenen umgebildet zu der des Nichtmehrvorhandenen: "er lebte" enthält „er lebt nicht mehr". Nun drückt Conjunktiv die Läugnung des Nichtvorhandenseins aus, entnommen aus dem "Nichtmehrvorhandensein". Im älteren Deutsch "ich spräche" für jede Nichterfüllung in der Zeit, jetzt unterscheiden wir "ich spräche" (noch nicht erfüllt) und "ich hätte gesprochen" (nie erfüllt). "Es gienge wohl", aber es geht nicht. 15 [19] Der Conjunktiv des Präsens unterscheidet sich so vom Indikativ, daß der Indicativ ein Wissen, der Conjunktiv ein Glauben ausdrückt. Daraus die ungerade Rede entwickelt: man lehnt ein bestimmtes Wissen ab, aber spricht doch den Glauben aus, daß etwas wahr sei. Die ungerade Rede früher allein in der Form des Imperfect-Conjunctivs, und kommt so noch vor. Alt ich spräche" (conditional); neu "ich würde sprechen". Alt "er spräche" (in ungerader Rede), neu "er spreche" (Conjunctiv Präsens). – In der Schweiz sagt man „die Russen seien über den Balkan gegangen" für "sollen sein". Es ist gut und nachahmenswerth. 15 [20] 1 . Wir müssen streben, das Hülfszeitwortwesen zu beschränken! 2. Die Einschachtelung der Präpositionen zu meiden! 3. Man nehme sich mit "müssen" dürfen wollen sollen mögen können" in Acht! 4. Auch die Bildung mit "daß" ist übermäßig geworden. 5. Herstellung der Conjunctive und der Imperfecte!
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6. Der Genetiv der Sache zu conserviren, statt der überwuchernden Präpositionen z. B. den Helden seiner Thaten preisen, den Fremden seiner Herkunft fragen, den Kranken seiner Wunden heilen. Erhalten noch in "anklagen, beschuldigen, zeihen, bezichtigen, überführen, überweisen, erlösen, erlassen (der Haft), entledigen, entbinden, überheben, entsetzen, berauben, verweisen (des Landes), entblößen, entladen, entlassen, entheben, würdigen, versichern, befreien, belehren (eines Besseren, der Zukunft)". Bei "sich" sind wir viel conservativer: „sich seiner Thaten rühmen, sich langen Lebens freuen" „sich eines Mannes annehmen" "sich einer Sache bedenken, sich der Gelegenheit bedienen, des Lebens wehren, des Todes fürchten" vielleicht "sich des Verfahrens ärgern, sich der Schickung grämen, sich der Gefahr scheuen." 15 [21] Ganz recht ist beides "mich dünkt" und "mir dünkt", es friert mich" "mir friert". "ich schlage dir ins Gesicht, ich schlage dich ins Gesicht." Dativ oder Accusativ bei dünken, ekeln, schmerzen, ahnen. 15 [22] Feierlich ist jetzt der Genetiv beim Verbum „es schenkte der Böhme des perlenden Weins", aber noch ganz gewöhnlich, z. B. wo die Leute Vergnügen an Wortspielen haben und selbst deren machen. Des Brotes genießen, des Gehörten erstaunen, des Krüppels spotten, der Gefahr achten, seiner Mutter vergessen. Einer besseren Zukunft sinnen, des nahenden Unglücks erschrecken, des fröhlichsten Lebens wimmeln, des muntersten Gesanges ertönen (der Wald z. B.), eines Kindes genesen. 15 [23] Die Präposition "von" hat den Genetiv verdrängt. Nicht bei "satt, müde, voll, quitt, leer, frei, los, fähig, kundig, theilhaftig, habhaft, überdrüssig, beflissen, gewahr, bedürftig, bewußt, befugt, gedenk, verblichen, froh, werth, ansichtig". Die gemeinen Mundarten kennen den Genetiv fast gar nicht mehr.- "dem Nachbar sein Garten" (doch auch 's Nachbars sein Garten). 15 [24] Amtmann's ist Genetiv (im Sinn von Amtmannsleute). Dativ Plural überall bei Ortsnamen auf -hausen -hütten -bergen -thalen -felden -walden -linden -eichen. Baden ist "zu den Bädern", Schiffhausen "zun Schiffhäusern". So in Rothenstein, Altenburg. Zu ausgelassen. 15 [25] Aufgabe: ein schlichter Auszug aus Overbecks Buche „Christlichkeit der Theologie". Aus meiner „Geburt der Tragödie". 15 [26] Warnung vor den Zusammensetzungen wie „Forschungshülfsmittel". "Culturkampf". Ebenso vor dem Vertrauen auf die Tragkraft eines Wortes, wie z. B. "die Anschauung von der Leistungsfähigkeit der modernen Photographie in Verbindung mit Pressendruck".
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15 [27] Die verschiednen Stilarten: A. Stil des Intellekts
(unmetrisch) oder "der gefühllose Stil".
B. Stil des Willens
(entweder Prosa oder Poesie –
1. des ηϑ οζ 2. des παϑ οζ metrisch oder halbrhythmisch) oder der Stil des unreinen Denkens". Der Stil des Intellekts entsteht spät, immer auf Grundlage des Ethos-Stils. Aber zuerst meist poetisch (das Bild des Individuums bestimmt ihn, der Priester der Seher mit ηϑ οζ), später schlicht-alltäglich (nach dem Vorbild des vornehmen Mannes, der einfach und gewählt spricht). Die Ernüchterung der Denkart muß sich nun überall zeigen, ebenso der Haß gegen das unreine Denken. Die Schriftsprache entbehrt der Betonung und dadurch eines außerordentlichen Mittels, Verständniß zu erlangen. Sie muß sich also bemühen, dies zu ersetzen: hier ist ein Hauptunterschied der geschriebenen und gesprochenen Rede. Die letztere darf sich auf Betonung verlassen: die Schriftsprache muß übersichtlicher kürzer unzweideutiger sein, ihre größte Mühe ist es aber, die Leidenschaften der Betonung ungefähr nachfühlen zu lassen. Frage: wie hebt man ein Wort heraus, ohne den Ton zu Hülfe zu nehmen (da man keine Tonzeichen hat)? Zweitens: wie hebt man ein Satzglied heraus? Vielfach muß anders geschrieben als gesprochen werden. Deutlichkeit ist Vereinigung von Licht und Schatten. Lesen Vorlesen Vortragen bedingen drei Arten des Stils. Hier ist Vorlesen die Art, bei der die Stimme am kunstvollsten behandelt werden muß, da sie den Mangel von Gestikulation zu ersetzen , Lesen die Art, wo der Stil am vollkommensten sein muß, weil hier Stimme und Gestikulation als Ausdrucksmittel wegfallen. Natürliche Gattungen könnte man z.B. die Vorlese-Gattung nennen, wenn hier die Gesten wirklich überflüssig wären, also nicht ersetzt zu werden brauchten (hinter einem Vorhang lesen): bei ganz Ruhigem, wo der Körper ruhig bleiben würde, z. B. Geschichte des Herodot. Natürlich wäre die Lese-gattung, wo Modulation der Stimme und Gesten gar nicht in Betracht kämen z. B. bei Mathematik.
[Dokument: Notizbücher] [1876] 16 [1] I Aesthetik II zur Ethik und Glückseligkeitslehre 16 [2] 721
Keiner klug – Trauung – Ruine – Mädchen Glück 16 [3] Menschen, welche das Talent der Darstellung haben, sehen an den Dingen nur das Darstellbare. Sie begreifen vieles nicht. So auch die Schriftsteller und Lehrer. Diese Alle denken im Grunde immer nur an ihr Talent: ob sie sonst besser oder schlechter werden, ist ihnen gleich. Als Mensch, Musiker, Philolog, Schriftsteller, Philosoph – in allem merke ich jetzt wie es mit mir steht – gleich, überall gleich! Wäre ich ehrgeizig, so wäre es vielleicht gar nicht zum Verzweifeln: aber da ich es so wenig bin, so ist es fast zum Verzweifeln. Bei Schloss Chillon geschrieben, Abends gegen 6. 16 [4] Befreiung. Philolog. Ehe. Lebensalter. Religion. Wagner. usw. 16 [5] Leopardi – Chamfort – Larochefoucault – Vauvenargues – Coleridge – Tischgespräche. Übersetzen. Geschichte der Litteratur. Über Philologie. Buch: Die freien Lehrer. 1. Weg zur Befreiung. 2. die Schule der Erzieher. 3. die Wanderer. 4. Heil dem Tode! 16 [6] 722
Askese unter der allgemeinen Betrachtung des Selbstmords, ebenso die unegoistische Aufopferung. 16 [7] Jeder Mensch hat seine Recepte, um das Leben zu ertragen (theils es leicht zu erhalten, theils es leicht zu machen, wenn es einmal sich schwer gezeigt hat), auch der Verbrecher. Diese überall angewandte Lebenskunst ist zusammenzustellen. Zu erklären, was die Recepte der Religion eigentlich zu Stande bringen. Nicht das Leben zu erleichtern sondern leicht zu nehmen. Viele wollen es erschweren, um hinterdrein ihre höchsten Recepte (Kunst Ascese usw.) anzubieten. 16 [8] "das leichte Leben" (οεια ζωοντεζ) "Weg zur geistigen Freiheit" die Griechen Lehrer Ehe Eigenthum und Arbeit. 16 [9] Das leichte Leben, Weg zur Freiheit. Tod der alten Cultur. Lehrer. Weib und Kind. Eigenthum und Arbeit. 16 [10] Unzeitgemässe Betrachtungen. 1. Der Bildungsphilister (Falschmünzerei der Bildung). 2. Die Historie. 723
3. Der Philosoph. 4. Der Künstler. 5. Der Lehrer. 6. Weib und Kind. 7. Eigenthum und Arbeit. 8. Griechen. 9. Religion. 10. Befreiung. 11. Staat. 12. Natur. 13. Geselligkeit. 16 [11] 1. 2. 3. 4.
Natur 1883 Weib und Kind 1878 Eigenthum und Arbeit 1881 Der Lehrer 1882
5. Geselligkeit 1884 6. Die Leichtlebenden 1880 7. Griechen 1879 8. Freigeist 1877 9. Staat 1885 16 [12] Sieben unzeitgemässe Betrachtungen – 1873-78. Zu jeder Betrachtung Nachtrag in Aphorismen. Später: Nachträge zu den unzeitgemässen Betrachtungen (aphoristisch). 16 [13] Jeden Tag eine Freude machen – „Freund".
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16 [14] aus der Tugend eine Noth machen 16 [15] 1 Tag nichts essen jede Woche. Abends nur Milch und Thee. Täglich 4 Stunden unterwegs. (mit Notizbuch) Sammlung: zur deutschen Sprache. Sentenzen. Unzeitgemässe Betrachtungen
29.- 37. Lebensjahr 38.- 48. 49.- 58.
16 [16] Es giebt verschiedene Stufentreppen zur Freiheit. Kann einer auf dieser nicht hinauf (z. B. wenn sein Gemüth störrisch ist) so vielleicht auf jener. Die eine Kraft wird dann abnorm stark entwickelt, z. B. der Sinn für Unabhängigkeit, der so gut zur Freiheit führen kann wie die Abhängigkeit in Liebe. 16 [17] Das Mütterliche ist in jeder Art Liebe: aber nicht das Väterliche. 16 [18] Zeichen einer rücksichtslosen Überlegenheit von Seiten befreundeter Menschen sind sehr schmerzlich und gehen tief in's Herz. 16 [19] Consilia juventutis plus divinitatis habent. Bacon. 16 [20] Mein Styl hat eine gewisse wollüstige Gedrängtheit. 16 [21] Der Dichter muss ein Ding erst genau sehn und es nachher wieder ungenau sehen: es absichtlich verschleiern. Manche versuchen dies direkt; aber da gelingt's nicht (wie bei Schiller). Die Natur muss durch das Gewand durchleuchten. 725
16 [22] Der hinwegthut, ist ein Künstler: der hinzuthut, ein Verläumder. 16 [23] Die Etymologien bei Wagner sind ächt künstlerisch, obschon unwissenschaftlich: das ist das rechte Verhältniss zur Natur. 16 [24] delirium tremens des Asceten 16 [25] Das mächtige Nachleben des Freigeistes – er betrachtet sich als eine Lehre welche der Menschheit eingebrannt ist. Freigeist aus Selbstvertheidigung, aus Machtverlangen. 16 [26] oft Rache für Ohnmacht (Isocrates) 16 [27] Der Tiefstand der deutschen Cultur bei Straussens Buch nach dem Kriege – entsprechend der gemeinen genusssüchtigen Gesinnung – der Pegel im Strom der deutschen Cultur. 16 [28] Ein freidenkender Mensch macht die Entwicklung ganzer Generationen vorher durch. 16 [29] Menschen die wie Hillebrandt nur der öffentlichen Meinung um einige Jahre voraus sind: die ebenfalls nur eine öffentliche Meinung haben. 16 [30] Auf eine ununterbrochene Reihe guter Ahnen bis zu seinem Vater herauf kann man stolz sein: es ist eine Legitimation des eignen Selbst vor uns selbst. Aber eine einzige Unterbrechung in der Kette macht den Adel zunichte. Hast du keinen gewaltthätigen habsüchtigen ausschweifenden boshaften grausamen unter deinen Ahnen? soll man jeden fragen. – Insofern bin ich adelig im 4ten Grade: weiter zurück kann ich nicht sehen. 16 [31] Viele Männer sind über den Ehebruch ihrer Gattinnen für sich gar nicht ungehalten, vorausgesetzt, dass sie dieselben dadurch ohne Einbusse los werden.
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16 [32] Der Ungehorsam der Söhne gegen die Väter geht immer gerade so weit als möglich, d. h. der Gehorsam zeigt sich als das gerade noch erlaubte Minimum. Es steht aber ganz in der Hand der Väter, die Grenze zu ziehn, weil sie die Erziehung und damit die Gewöhnung in der Hand haben. 16 [33] Ziel: einen Leser so elastisch zu stimmen, daß er sich auf die Fussspitzen stellt. 16 [34] Freigeisterei Feenmärchen Lüsternheit heben den Menschen auf die Fussspitzen. 16 [35] Sich Zeit lassen zum Denken: das Quellwasser muß wieder zusammenlaufen. 16 [36] Die Illusion des Geschlechtstriebs hat den seltsamen Charakter periodisch unheilbar zu sein: er fängt immer wieder in seine Netze, obwohl zwischeninne Zeiträume der völligen Enttäuschung liegen. 16 [37] Wenn man kein Glück hat, soll man sich Glück anschaffen. 16 [38] Die Unthätigkeit bei den "Thätigen". Sie wissen den Grund nicht, warum sie arbeiten, sie verlieren vitam ohne Sinn: es fehlt ihnen die höhere Thätigkeit, die individuelle, sie denken als Beamte Kaufleute, aber sind unthätig als Menschen einziger Art. 16 [39] Der höhere Ehrgeiz in der vita umbratica: gründlich sich unterscheiden! 16 [40] Es ist das Unglück der Thätigen dass ihre Thätigkeit immer ein wenig unvernünftig ist: sie rollen so bewusstlos fort wie der Stein fällt. 16 [41] Vielleicht nützen wir dem allgemeinen Wohle mehr durch unser Schlechtergehen und Untergehen als wenn wir siegten. 16 [42]
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Jeder hat über jedes seine eigene Meinung, weil er ein eignes Wesen ist – doch muss er sich sehr besinnen! Die Dinge zerfallen in solche über welche ein Wissen und solche über welche Meinungen möglich sind. 16 [43] Mit der Freiheit steht es wie mit der Gesundheit: sie ist individuell. 16 [44] Der Freigeist wird nur einen Zipfel eines Ereignisses fassen, aber es nicht in seiner ganzen Breite haben wollen (z. B. Krieg -Bayreuth). 16 [45] Moderne Klöster – Stiftungen für solche Freigeister – etwas Leichtes bei unsern grossen Vermögen. 16 [46] Gespräch der Freigeister: wie mehrere einen steilen Berg erklettern, nicht mit einander kämpfend und sich den Boden streitig machend – das abscheuliche Disputiren. 16 [47] Wie steht der Freigeist zuletzt zum activen Leben? Leicht gebunden – kein Sclave seiner Handlungen. 16 [48] Der Gelehrte hat Würde verloren, er macht den hastig geniessenden activen Menschen Concurrenz. 16 [49] Zeitig sein äusserliches Ziel erreichen, ein kleines Amt, ein Vermögen, das gerade ernährt. So leben dass ein Umsturz aller Dinge uns nicht sehr erschüttern kann. 16 [50] Sonnenlicht glitzert in dem Grund und zeigt worüber die Wellen fliessen: schroffes Gestein. 16 [51] Die Schätzung des contemplativen Lebens hat abgenommen. Ehemals waren Gegensätze der Geistliche und der esprit fort: eine Art Neugeburt beider in Einer Person jetzt möglich. 16 [52]
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Es kommt darauf an, wie viel Athem ihr habt, um in dies Element tauchen zu können: habt ihr viel, so werdet ihr den Grund sehen können. 16 [53] Um eine Sache ganz zu sehen, muss der Mensch zwei Augen haben, eins der Liebe und eins des Hasses. 16 [54] Die productiven Menschen werden selten Freigeister; die Dichter bleiben religiös rückständig. Die Politiker – – – 16 [55] Das Bild des Freigeistes ist unvollendet im vorigen Jahrhundert geblieben: sie negirten zu wenig und behielten sich übrig.
[Dokument: Heft] [Sommer 1876] 17 [1] Über das Aesthetische: einiges Derbe. Das Weglassen ein Hauptmittel des Idealismus. Man darf so genau nicht zusehn, man zwingt den Zuschauer in eine große Ferne zurück, damit er von dort aus betrachte (wie bei der Dekorations-Malerei). Wie wichtig ist der Ansatz der Entfernung des Betrachters! Hier darf der schaffende Künstler nicht schwanken. Gerade hier zeigt sich, wie genau er vom stärksten Gefühle seines Zuhörers ausgehen muß. Das Metron legt Flor über die Realität; einiges künstlichere Gerede verdeckt etwas und hebt; das "Dumpfe". Die letzten Mittel, womit die Kunst wirkt, recht naiv nachzuempfinden! Ist sehr selten! Es sind ziemlich alberne Sachen, die dabei herauskommen. Ebenso ist es bei der Religion. Der große Werth des unreinen Denkens für die Kunst. Zum Nachahmen gehört Liebe und Verspottung zusammen, wie bei Archilochos. Ist wohl der fruchtbarste Zustand der menschlichen Seele! 17 [2] Zu der unbesiegbaren Nothwendigkeit des menschlichen Daseins gehört das Unlogische: daher kommt vieles Sehr Gute! Es steckt so fest in der Sprache, in der Kunst, in den Affekten, Religion, in allem, was dem Leben Werth verleiht! Naive Leute, welche die Natur des Menschen in eine logische verwandeln wollen! Es giebt wohl Grade der Annäherung, aber
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was geht da alles verloren! Von Zeit zu Zeit bedarf der Mensch wieder der Natur d. h. seiner unlogischen Urstellung zu den Dingen. Daher rühren seine besten Triebe. 17 [3] Die zwei Welten hinter einander: Siegfrieds Leben, im Hintergrunde das Götterschicksal. Höchst metaphysisch empfunden. 17 [4] Es ist den Deutschen wieder einmal so gegangen, wie nach der Reformation; ebenso haben sie jetzt Schiller und Goethe's Reformation, den hohen Geist, aus dem sie wirkten, völlig eingebüßt; alles was jetzt gelobt wird, ist ein volles Gegenstück dazu, und so hat sich bei den Ehrlichen eine Art Verachtung gegen jenen Geist ausgebildet. Es kommt durchaus darauf an, daß der Mensch groß ist; was dazu gehört, ist nicht zu schnell zu taxiren; aber das Nationale, wie es jetzt verstanden ist, fordert als Dogma geradezu die Beschränktheit. Wie fühlen sich die Schächer über Schiller hinaus! 17 [5] Zum Darwinismus. Das Allgemeingefühl mit der Menschheit. Zum Staate. Zur Religion. 17 [6] Herzliches Mitleid mit sich selbst ist die höchste Empfindung, zu der es der Mensch bringen kann. 17 [7] Genug, daß es dadurch zeitweilig zum Einschlafen gebracht wird, und daß der Mensch dann nicht mehr an sein Leiden denkt. Es ist das Beste an der Welt, daß es für ihren Wahn Schlaf und Vergessenheit giebt: alle ethischen Systeme rechnen auf diesen besten Zug an der schlechtesten Welt. 17 [8] Das Leben verlohnt sich nicht mit aller der Mühe. 17 [9] Viele Menschen fürchten nicht den Tod, aber das gar zu lange Sich-Ausspinnen des Sterbens z. B. durch Krankheit und ziehen diesem Zustande das Leben vor. 17 [10]
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Da sagt jemand: "mir soll jener Autor nicht nahe kommen; er sagt den Menschen so viel Schlechtes nach, er muß selber recht schlecht sein." Antwort: aber du selber mußt dann noch schlechter sein, denn du sagst den besten Leuten, die es giebt, den Wahr-Redenden und Sichselbst-nicht-Schonenden, Schlechtes nach und noch dazu Unwahres! 17 [11] Der kranke Mensch ist oft an seiner Seele gesünder als der gesunde Mensch. 17 [12] Religiöse Betrachtung der Welt ohne Schärfe und Tiefe des Intellekts macht die Religion zur ekelhaftesten Sache der Welt. 17 [13] Es giebt Frauen, welche wo man auch gräbt, kein Inneres haben, sondern reine Masken sind: fast gespenstische Wesen, blutsaugerisch, nie befriedigend. 17 [14] Wir fürchten die feindselige Stimmung des Nächsten, weil wir wissen, daß er durch diese Stimmung hinter unsre Heimlichkeiten kommt und uns zu verachten lernt, wie wir uns selbst verachten. 17 [15] Wie kommt es, daß wir mehr von der Verachtung Anderer als von der eignen leiden? Sie ist uns schädlicher. 17 [16] Der geniale Zustand eines Menschen ist der, wo er zu einer und derselben Sache zugleich im Zustand der Liebe und der Verspottung sich befindet. 17 [17] Der Zweck des Staates soll nie der Staat, sondern immer der Einzelne sein. 17 [18] Wer die Dinge sich für seine Vorstellung verschönern will, muß es machen, wie der Dichter, der einen Gedanken verschönern will: er spannt ihn in das Metron, und legt das Gespinst des Rhythmus über ihn: dazu muß er den Gedanken ein wenig verschlechtern, damit er in den Vers paßt. Das Verschlechtern der Erkenntniß, um dann die Dinge der Kunst zu beugen: ein Geheimniß der Lebenslustigen. 17 [19] Der feinste Kunstgriff des Christenthums war, von Liebe zu reden: wie es auch der Plato's war. Es ist etwas so Vieldeutiges Sammelndes Erinnerndes darin und die niedrigste 731
Intelligenz empfindet noch den Schimmer dieses Wortes: das älteste Weib und der vernünftigste Mann danken der Liebe die edelsten uneigennützigsten Augenblicke ihres Lebens. 17 [20] Daß die Juden das schlechteste Volk der Erde sind, stimmt damit gut überein, daß gerade unter Juden die christliche Lehre von der gänzlichen Sündhaftigkeit und Verwerflichkeit des Menschen entstanden ist – und daß sie dieselbe von sich stießen. 17 [21] Weg zur geistigen Freiheit. Stufen der Erziehung. Eltern. Verwandtschaft Nachbarn. Freunde. öffentliche Schulen Lehrer. Völker-geschichte. Natur. Mathematik. Geographie. Reisen. Das Alterthum. Die Lebensalter, Umgang mit Älteren. Der Staatsdienst. Der Menschendienst. Einordnung in religiöse Bekenntnisse. Ehe. Weiber. Kinder. Einsame. Ehelose. Erwerb. Ehre. Die Güterlosen. Die Ehrlosen. Die Presse. Die Verewigung. Umgang mit Todten. Wohlthat des Todes, Reifsein. Zu frühe Einsicht in die Ziel- und Nutzlosigkeit. 17 [22] Unzeitgemäße Betrachtungen. Ich habe zusammengebunden und gesammelt, was Individuen groß und selbstständig macht, und auch die Gesichtspunkte, auf welche hin sie sich verbünden können. Ich sehe, wir sind im Aufsteigen wir werden der Hort der ganzen Cultur in Kürze sein. Alle anderen Bewegungen sind kulturfeindlich (die socialistische ebenso als die des Großstaates, die der Geldmächte, ja die der Wissenschaften). Ich will den Menschen die Ruhe wiedergeben, ohne welche keine Cultur werden und bestehen kann. Ebenso die Schlichtheit. 17 [23] Mir liegt nur an den Motiven der Menschen: das objektive Bestehen der Erkenntniß ist mir ein Greuel. Die höchste Erkenntniß wird, wenn sich die Menschen verschlechtern, wegewischt. 17 [24] Ich sehe auf Knaben- und Jünglingsjahre mit Leidwesen zurück und fühle von Tag zu Tage mehr die Befreiung. Übergang aus Befangenheit in Unbefangenheit. 17 [25] Spannung der Empfindung beim Entstehn der ersten Unzeitgemäßen Betrachtung. Angst für den Genius und sein Werk und dabei der Anblick der Straußischen Behäbigkeit. Das Gefälschte aller geistigen Lebensmittel! Die Erschlaffung aller Erkennenden! Die wankende Moralität in Recht und Unrecht, und die unbändige Genußsucht im Gemeinen! Die verlogene Art von Glück! 732
17 [26] Ruhe Einfachheit und Größe! Auch im Styl ein Abbild dieses Strebens, als Resultat der concentrirtesten Kraft meiner Natur. "Der Weg zu dir selber." 17 [27] Wie die Erkenntniß den Willen entzünden kann, so kann die halbe Erkenntniß ihn trüben, und ungesund machen: so daß er nicht mehr Hunger und Durst in rechter Weise hat, und nicht einmal erlöst werden kann. Herstellung des Individuums, um dann wirklich zu wissen, was es verlangt! 17 [28] Der Zweck der Kindererzeugung ist, freiere Menschen, als wir sind, in die Welt zu setzen. Kein Nachdenken ist so wichtig, wie das über die Erblichkeit der Eigenschaften. 17 [29] Die Natur weist den Mann auf mehrfache Verheirathung nach einander an: zuerst ein älteres Mädchen. Übergang derselben später in's Mütterliche. „Alcestis will sterben für ihren Gatten", spendet ihm mütterliche Liebe: sie will eine zweite Verheirathung zulassen. Sie wird aus dem Hades zurückgeholt. 17 [30] Mich setzen die Menschen in Erstaunen, welche so nach ihrer Jugend zurückseufzen z. B. nach den Studentenjahren: es ist ein Zeichen, daß sie unfreier geworden sind und sich selbst damals besser befanden. Ich empfinde gerade umgekehrt und kenne nichts weniger Wünschbares als Kindheit und Jugend: ich fühle mich jetzt jünger und freier als je. 17 [31] Es geht ein Wandrer durch die Nacht Mit gutem Schritt; Und krummes Thal und lange Höhn Er nimmt sie mit. Die Nacht ist schön – Er schreitet zu und steht nicht still, Weiß nicht, wohin sein Weg noch will. –
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Da singt ein Vogel durch die Nacht. – – "Ach Vogel, was hast du gemacht? Was hemmst du meinen Sinn und Fuß Und gießest süßen Herzverdruß Auf mich, daß ich nun stehen muß Und lauschen muß, Zu deuten deinen Ton und Gruß?" – Der gute Vogel schweigt und spricht: Nein Wandrer, nein! Dich grüß ich nicht Mit dem Getön; Ich singe weil die Nacht so schön. Doch du sollst immer weiter gehn Und nimmermehr mein Lied verstehn. Geh nur von dann' Und klingt dein Schritt von fern heran Heb' ich mein Nachtlied wieder an So gut ich kann. – Leb wohl, du armer Wandersmann! – 17 [32] Der Künstler hat Untreue des Gedächtnisses nötig, um nicht die Natur abzuschreiben, sondern umzubilden. 17 [33] "Über den Dingen". Wer die Präposition „über" ganz begriffen hat, der hat den Umfang des menschlichen Stolzes und Elends begriffen. Wer über den Dingen ist, ist nicht in den Dingen – also nicht einmal in sich! Das letztere kann sein Stolz sein. 17 [34] Mißerfolg und Verachtetwerden sind gute Mittel, um frei zu werden. Man setzt seine Verachtung dagegen: ihr gebt mir nichts dazu! So bin ich nun, wie ich bin. 734
17 [35] Der Mensch macht sich, älter werdend, überflüssig. 17 [36] Ich habe mir hier und da in den Unzeitgemäßen Betrachtungen Ausfallspforten noch gelassen. 17 [37] Das Coelibat hat die katholischen Länder fast um die Kinder von Geistlichen gebracht: milde halb sich verneinende Menschen. 17 [38] Der Mensch wirft sich herum bald auf diese bald jene Seite, groß ist die Pein. 17 [39] Glitzernder Sonnenschein der Erkenntniß fällt durch den Fluß der Dinge auf deren Grund. 17 [40] In den einzelnen Geschlechtern, ebenso in einzelnen Culturperioden, strebt der Wille darnach, matt und gut zu werden und abzusterben. 17 [41] Die Schätzung des contemplativen Lebens hat abgenommen. – Deshalb ist meine Betrachtung unzeitgemäß. Ehemals waren der Geistliche und der esprit fort Gegensätze, beide innerhalb des contemplativen Lebens. 17 [42] Wie steht der Freigeist zum activen Leben? Leicht an dasselbe gebunden, kein Sklave desselben. 17 [43] Die activen Menschen verbrauchen nur die von den contemplativen gefundenen Ideen und Hülfsmittel. 17 [44] Für die Zukunft des Menschen lebt der Freigeist so daß er neue Möglichkeiten des Lebens erfindet und die alten abwägt. 17 [45] Epikurs Kanon zu benutzen.
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17 [46] Wiederherstellung der Ruhe und Stille für das Reich des Intellektes, Beseitigung des modernen Lärms. Eine Beruhigungssucht und Vertiefung muß über die Menschen kommen, wie es nie eine gab, wenn sie erst einmal der modernen Hatz müde geworden sind. 17 [47] Zu Freigeistern und zu Freunden derselben eignen sich jene entsetzlichen Menschen nicht, welche in Jedermann einen Patron und Vorgesetzten sehen oder eine Brücke zu irgend einem Vortheile und welche sich durchschmeicheln. Viel eher werden die zu Freigeistern, welche in Jedermann, auch in Freunden, Gönnern Lehrern etwas Tyrannisches sehen, welche große Wohlthaten entschieden ablehnen. 17 [48] Auch der Ehrgeizige kann zum Freigeist werden, denn er hat hier ein Mittel sich gründlich zu unterscheiden. 17 [49] Was ist das Ziel aller Sprachwissenschaft, wenn nicht einmal eine Universalsprache finden? Dann wäre der europäische Universalmensch da. Wozu dann noch das fürchterliche Sprachen lernen! 17 [50] Wer sein Geld als Freigeist gut verwenden will, soll Institute gründen nach Art der Klöster, um ein freundschaftliches Zusammenleben in größter Einfachheit für Menschen zu ermöglichen, welche mit der Welt sonst nichts mehr zu thun haben wollen. 17 [51] Die moderne Krankheit ist: ein Übermaaß von Erfahrungen. Deshalb gehe jeder zeitig mit sich heim um nicht an den Erfahrungen sich zu verlieren. 17 [52] Es ist ein böses Symptom, daß man von der Vaterlandsliebe und der Politik ein solches Aufheben macht. Es scheint daß nichts Höheres da ist, was man preisen kann. 17 [53] Die moderne Bewegtheit wird so groß, daß alle großen Ergebnisse der Cultur dabei verschwinden, es fehlt allmählich an dem ihnen gemäßen Sinne. So läuft die Civilisation in eine neue Barbarei aus. Die Menschheit darf aber nicht in diesen einzigen Strom der "Thätigen" geleitet werden. Ich hoffe auf das Gegengewicht, das beschauliche Element im russischen Bauern und im Asiaten. Dies wird irgend wann einmal in größerem Maaße den Charakter der Menschheit corrigiren. 736
17 [54] Nach dem Westen zu wird der Wahnsinn der Bewegung immer größer, so daß den Amerikanern schon alle Europäer behaglich und genießend vorkommen. Wo die beiden Ströme zusammentreffen und sich verschmelzen, kommt die Menschheit zu ihrem Ziele: die höchste Erkenntniß über den Werth des Daseins (dort nicht möglich, weil die Aktivität des Denkens zu gering, dort nicht möglich, weil diese Aktivität anders gerichtet ist). 17 [55] Ich imaginire zukünftige Denker, in denen sich die europäisch-amerikanische Rastlosigkeit mit der hundertfach vererbten asiatischen Beschaulichkeit verbindet: eine solche Combination bringt das Welträthsel zur Lösung. Einstweilen haben die betrachtenden Freigeister ihre Mission: sie heben alle die Schranken hinweg, welche einer Verschmelzung der Menschen im Wege stehen: Religionen Staaten monarchische Instinkte Reichthums- und Armutsillusionen, Gesundheits- und Rassenvorurtheile – usw. 17 [56] Jeder, der geheimnißvoll von seinen Plänen spricht, kommt uns albern und wichtigthuerisch vor. Es wird so viel nicht sein. Nicht von einer Sache sprechen wollen erscheint als unberechtigtes Selbstgefühl und gilt als pedantisch. 17 [57] Die Seelen-Unruhe, die ich verwünsche, ist vielleicht gerade der Zustand, der mich zur Produktion treibt. Die Frommen, welche völligen Frieden ersehnen, entwurzeln ihre besten Thätigkeiten. 17 [58] Der Freigeist ist "götterneidisch" auf das dumme Behagen der Menschen. νεµεσσητιχον ist der Götterneid. 17 [59] Das schlichte Aussehen der Wahrheit. 17 [60] Hemmungen nöthig, um Genius hervorzubringen. 17 [61] Zwischen drei Begabungen die mittlere Linie finden – mein Problem. 17 [62]
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Jede Liebhaberei central zu machen und einzuflechten in die vorhandenen Talente. 17 [63] Die Laster haben vielen Anlaß zur Freigeisterei gegeben. Ebenso die Furcht vor den ewigen Strafen: man schüttelte diese lästigen Gedanken weg und wurde dabei die Religion los. 17 [64] Religiöse Meinungen kann man sich leicht abgewöhnen, wenn man nur zeitig anfängt. 17 [65] Hauptfehler des heutigen Unterrichts ist, daß er stundenweise gegeben wird und alles durcheinander. 17 [66] Es leben die edlen Verräther! 17 [67] Demokratische aufrichtige Staaten haben die höchste Erziehung um jeden Preis Allen zu gewähren. 17 [68] Daß die Kunst das Wahre der Natur darstelle ist die Illusion welche sie erregt, nicht die philosophische Wirklichkeit. 17 [69] Heilige Mißgunst 17 [70] Reinlichkeit zur Reinheit steigern: vielleicht selbst zum Begriff der Schönheit bei den Griechen. 17 [71] Die allgemeinen Ansichten vererbt man durch Angewöhnung, um nun seine ganze Energie seinen persönlichen Vortheilen innerhalb des gegebenen Kreises zuzuwenden. Es schützt vor Vergeudung der persönlichen Kraft. 17 [72] Menschliches und Allzumenschliches. Wege zur Befreiung des Geistes.
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Die Erleichterung des Lebens. Weib und Kind. Staat und Gesellschaft. 17 [73] Fünf kleine Handlungen der Freiheit wirken mehr als alle Freidenkerei. 17 [74] Wir können wie die leicht lebenden Götter leben wenn wir das lebhafte Entzücken an der Wahrheit haben. 17 [75] 1. Die gebundenen Geister. 2. Die Art der höheren Entwicklung, Nothwendigkeit der Freigeisterei. 3. Entstehung des Freigeistes – Entwicklung, Nicht-Angewöhnung. 4. Theilweise Freigeister. 17 [76] Staaten Ehen usw. beruhen auf dem Glauben, nicht auf dem Wissen. Aber das ist ein pudendum: es war frech vom Christenthum, das Geheimniß zu proklamiren und den Glauben zu fordern und das Wissen abzulehnen. Überall beruht eine Religion auf dem Glauben. Der Staat ist da, also ist sein Princip im Recht. Das monarchische Princip muß wahr sein, denn die Monarchie existirt. 17 [77] Daß Christus die Welt erlöst habe, ist dreist. 17 [78] Es gehört zur Reinheit, daß man im Verlaufe des Lebens immer weniger Zuflucht zum Metaphysischen sucht. 17 [79] Das unreine Denken und der Stil. 17 [80]
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Die Kunst nach den Wirkungen und nach den Ursachen beurtheilen – zwei Aesthetiken! 17 [81] Der Asket schlecht<es> und unregelmäßiges Gehirn. Ekstasis Wollust des Intellekts. 17 [82] Die Muße und der Müssiggang gehen verloren! wieder verleumdet! 17 [83] § Wie Erfolge gemacht werden: v. geistige Freiheit. § Müssiggang. 17 [84] Es liegt vor Aller Augen, daß nach dem letzten Kriege der Deutschen und der Franzosen ungefähr jeder Deutsche um einen Grad mehr unehrlich genußgierig habsüchtig gedankenlos geworden war: die allgemeine Bewunderung vor Strauß war das Denkmal, welches man dem tiefsten Stande des Stromes der deutschen Cultur gesetzt hat: ein freier denkender altgewordener Theologe wurde der Herold des öffentlichen Behagens. 17 [85] Zum Schluß: die Freigeister sind die leichtlebenden Götter. 17 [86] Mit Religion verdirbt man sich den Kopf – gar nicht nachdenken. 17 [87] Sie sollten nicht zu sich erziehen sondern über sich hinaus. Kein großer Mann weist auf sich, sondern immer über sich. 17 [88] Da ich noch nicht das Unglück, die Last habe, zu den berühmten Männern gerechnet zu werden – aus meiner bescheidenen Obskurität heraus – – – 17 [89] Die Menschen legen den Ursachen dieselben Prädikate bei wie den Wirkungen. 17 [90]
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Charakterlosigkeit kann das Zeichen von einem Übergewicht des Geistes sein. 17 [91] Wenn alle zu Freigeistern werden, wird das Fundament schwach: eine solche Cultur fällt endlich ab oder verfliegt wie Thau und Nebel. 17 [92] Daß wir uns beim Anfang aller Laster doch noch sehr in der Nähe der Tugend befinden. 17 [93] Der Freigeist handelt wenig: daher Unsicherheit gegenüber dem Charaktervollen. Er schweift auch im Denken aus: leicht Scepsis. 17 [94] Ein Volk, welches anfängt Politik zu treiben, muß sehr reich sein, um daran nicht zu Grunde zu gehen. 17 [95] Ein urkatholisches Frankreich und ein griechisch-katholisches Rußland gehn nie in einem Joch – deshalb hat der deutsche Staatsmann die deutsche Bewegung gefördert. 17 [96] Mit denselben Mitteln, mit denen man den Kleinstaat zertrümmert hat, zertrümmert man den Großstaat. 17 [97] Freihändler sind Verbrecher Staatsmänner usw. 17 [98] Das gebundene Denken gefordert als Moralität: Katzen tödten ein Verbrechen bei den Aegyptern. Man straft die Handlung, nicht die Gesinnung: nicht um abzuschrecken, sondern das allgemeine Verderben von Seiten eines Gottes abzukaufen. 17 [99] Falsche Analogie der Schweizer Bewegung – sie verlangen den Kleinstaat. Ihre Kantone waren keine Kleinstaaten. 17 [100] Auf die reine Erkenntniß der Dinge läßt sich keine Ethik gründen: da muß man sein wie die Natur, weder gut noch böse. 741
17 [101] Ich möchte die Definition des Schuftes. Der Räuber, der Mörder, der Dieb ist es nicht. 17 [102] In der katholischen Kirche ist ein Ohr (durch die Beichte) geschaffen, in welches man sein Geheimniß, ohne Folgen, hineinsagen kann. Welche Erleichterung! Auch der Gedanke ist gut, ein Unrecht durch eine Gutthat (wenn auch Anderen erwiesen) gut zu machen. Das ist die wahre "Strafe". 17 [103] Hat einer seine Bedürfnisse befriedigt, so überkommt ihn die Langeweile; wie kann er diese beseitigen? Nur dadurch, daß er neue Leidenschaften sich Schafft, um dann auch diese zu befriedigen. Man erzeugt ein Bedürfniß, indem man sich eine Noth macht: welche durch Gewohnheit allmählich ihren peinlichen Charakter verliert und zur Lust wird. Man denke an das Tabakrauchen. 17 [104] Freie und gebundene Geister. Weib und Kind. Stände und Beschäftigungen. Erleichterung des Lebens. Menschliches und Allzumenschliches. 17 [105] Die Pflugschar. Eine Anleitung zur geistigen Befreiung. Erstes Hauptstück:
Freie und gebundene Geister.
Zweites
Die Erleichterung des Lebens.
Drittes
Stände und Beschäftigungen.
Viertes
Weib und Kind.
Fünftes
Die Gesellschaft.
Sechstes
Der Mensch mit sich allein.
Siebentes
Die Schule der Erzieher.
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[Dokument: Manuskripte] [September 1876] Die Pflugschar. 18 [1] "Willst du mir folgen, so baue mit dem Pfluge!, dann geniessen deiner Viele, dein geneusst sicherlich der Arme und der Reiche, dein geneusst der Wolf und der Aar und durchaus alle Creatur." Der Meier Helmbrecht. Wege zur geistigen Freiheit. 18 [2] 1.2. Alle öffentlichen Schulen sind auf die mittelmässigen Naturen eingerichtet, also auf Die, deren Früchte nicht sehr in Betracht kommen, wenn sie reif werden. Ihnen werden die höheren Geister und Gemüther zum Opfer gebracht, auf deren Reifwerden und Früchtetragen eigentlich Alles ankommt. Auch darin zeigen wir uns als einer Zeit angehörig, deren Cultur an den Mitteln der Cultur zu Grunde geht. Freilich die begabte Natur weiss sich zu helfen: ihre erfinderische Kraft zeigt sich namentlich darin, wie sie, trotz dem schlechten Boden, in den man sie setzt, trotz der schlechten Umgebung, der man sie anpassen will, trotz der schlechten Nahrung, mit der man sie auffüttert, sich bei Kräften zu erhalten weiss. Darin liegt aber keine Rechtfertigung für die Dummheit Derer, welche sie in diese Lage versetzen. 18 [3] 3. Loslösung von der nicht verstehenden Umgebung: – Eine tiefe Verwundung und Beleidigung entsteht, wenn Menschen, mit denen man lange vertraulich umgegangen ist und denen man vom Besten gab, das man hatte, gelegentlich Geringschätzung gegen uns merken lassen. Wer mit den Menschen vorsichtig umgeht und sie nicht verletzt, um nicht verletzt zu werden, erfährt gewöhnlich zu seinem Schrecken, dass die Menschen seine Vorsicht gar nicht gemerkt haben oder gar, dass sie sie merken und sich über sie hinwegsetzen, um ihren Spaass dabei zu haben. 18 [4] 4. Mittel, Leute von sich zu entfernen: – Man kann Niemanden mehr verdriessen und gegen sich einnehmen, als wenn man ihn zwingen will, an Dinge zu denken, welche er sich mit aller Gewalt aus dem Sinne schlagen will, z. B. Theologen an die Ehrlichkeit im Bekennen, Philologen an die erziehende Kraft des Alterthums, Staatsmänner an den Zweck des Staates, Kaufleute an den Sinn alles Gelderwerbes, Weiber an die Zu- und Hinfälligkeit ihrer Neigungen und Bündnisse. 18 [5]
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8. Es ist nützlich, mehr zu fordern: – Wer etwas erreichen will, muss sehr nachdrücklich noch mehr fordern; man bewilligt ihm dann das geringere Maass seiner Forderung und ist zufrieden damit, dass er sich zufrieden giebt. 18 [6] 12. Werth einer gedrückten Stimmung. – Menschen, welche unter einem inneren Druck leben, neigen zu Ausschweifungen, – auch des Gedankens. Grausamkeit ist häufig ein Zeichen einer unfriedlichen inneren Gesinnung, welche Betäubung begehrt; ebenso eine gewisse grausame Rücksichtslosigkeit des Denkens. 18 [7] 24. Reist man von Ort zu Ort weiter, und fragt man überall, welche Köpfe an jedem Ort die höchste Geltung haben, so findet man, wie selten überlegene Intelligenzen sind. Gerade mit den geachteten und einflussreichen Intelligenzen möchte man am Wenigsten auf die Dauer zu thun haben, denn man merkt ihnen an, dass sie nur als Anführer der vortheilhaften Ansichten diese Geltung haben, dass der Nutzen Vieler ihnen ihr Ansehen giebt. Ein Land von vielen Millionen Köpfen schrumpft bei einem solchen Blicke zusammen, und Alles, was Geltung hat, wird Einem verdächtig. Bei den Schutzzöllnern und Freihändlern handelt es sich um den Vortheil von Privatpersonen, welche sich einen Saum von Wissenschaft und Vaterlandsliebe angelogen haben. 18 [8] 27. Ohne Productivität ist das Leben unwürdig und unerträglich: gesetzt aber, ihr hättet keine Productivität oder nur eine schwache, dann denkt über Befreiung vom Leben nach, worunter ich nicht sowohl die Selbsttödtung, als jene immer völligere Befreiung von den Trugbildern des Lebens verstehe – bis ihr zuletzt wie ein überreifer Apfel vom Baume fallt. Ist der Freigeist auf der Höhe angelangt, so sind alle Motive des Willens an ihm nicht mehr wirksam, selbst wenn sein Wille noch anbeissen möchte: er kann es nicht mehr, denn er hat alle Zähne verloren. 18 [9] 31. Den Glauben an Gott, Freiheit und Unsterblichkeit soll man wie die ersten Zähne verlieren, dann wächst einem erst das rechte Gebiss. 18 [10] 32. Von der Todesfurcht zu erlösen ist vielleicht das Eine Mittel: ein ewiges Leben zu lehren; ein andres sichereres jedenfalls, Todesverlangen einzuflössen. 18 [11] 33. Religiöse Meinungen gewöhnt man uns in den ersten fünfzehn Jahren unseres Lebens an, und in den nächsten fünfzehn Jahren wieder ab, im zehnten Lebensjahr ist jetzt gewöhnlich ein Mensch am religiösesten. – Wenn es nützlich sein sollte, den Menschen zuerst an die Brust der Amme Religion zu legen und ihn die Milch des Glaubens trinken zu lassen, so dass er erst später, und allmählich, an Brod und Fleisch der Erkenntniss gewöhnt wird: so scheint 744
mir doch die Zeit zu lang, in Anbetracht der Kürze des menschlichen Lebens. Die jetzige Oekonomie würde vielleicht im Rechte sein, wenn der Mensch erst im sechzigsten Jahr in die Blüthezeit seiner Kraft und Vernunft träte. Aber thatsächlich wird er jetzt zu gleicher Zeit weise und kraftlos. – 18 [12] 38. Es ist entweder das Zeichen einer sehr ängstlichen oder sehr stolzen Gesinnung, in Jedermann, auch in Freunden, Gönnern, Lehrern, die Gefahr eines tyrannischen Übergewichtes zu sehen, und sich in Acht zu nehmen, grosse Wohlthaten zu empfangen. Aber es wird keinen Freigeist geben, der nicht diese Gesinnung hätte. Menschliches und Allzumenschliches. 18 [13] 51. Menschen, deren Umgang uns unangenehm ist, thun uns einen Gefallen, wenn sie uns einen Anlass geben, uns von ihnen zu trennen. Wir sind hinterdrein viel eher bereit, ihnen aus der Ferne Gutes zu erweisen oder zu gönnen. 18 [14] 52. Man denkt sich den moralischen Unterschied zwischen einem ehrlichen Manne und einem Spitzbuben viel zu gross; dagegen ist gewöhnlich der intellectuelle Unterschied gross. Die Gesetze gegen Diebe und Mörder sind zu Gunsten der Gebildeten und Reichen gemacht. 18 [15] 55. Es giebt viel mehr Behagen, als Unbehagen in der Welt. Practisch ist der Optimismus in der Herrschaft; – der theoretische Pessimismus entsteht aus der Betrachtung: wie schlecht und absurd der Grund unseres Behagens ist; er wundert sich über die geringe Besonnenheit und Vernunft in diesem Behagen; er würde das fortwährende Unbehagen begreiflich finden. 18 [16] 57. Die Seelenunruhe, welche die philosophischen Menschen an sich verwünschen, ist vielleicht gerade der Zustand, aus dem ihre höhere Productivität hervorquillt. Erlangten sie jenen völligen Frieden, so hätten sie wahrscheinlich ihre beste Thätigkeit entwurzelt und sich damit unnütz und überflüssig gemacht. 18 [17] 58. Jeder, der geheimnissvoll von seinem Vorhaben spricht, oder der merken lässt, dass er gar nicht davon spreche, stimmt seine Mitmenschen ironisch. 18 [18] 60. In Lastern und bösen Stimmungen sammelt oft der gute Hang in uns sein Quellwasser, um dann stärker hervorzubrechen. Wenn die Tugend geschlafen hat, wird sie frischer aufstehen. 18 [19] 745
62. Was kann das Motiv für die jetzt geforderte Abschliessung der Nationen von einander sein, während doch alles Andere auf Verschmelzung derselben hinweist? Ich glaube dynastische Interessen und kaufmännische Interessen gehen da Hand in Hand. Sodann benutzen alle liberalen Parteien die nationale Abschliessung als einen Umweg, um das sociale Leben freier zu gestalten. Während man grosse Nationalstaaten aufbaut, wird man viele kleinere Machthaber und den Einfluss einzelner bedrückender Kasten los; dabei versteht es sich von selbst, dass dieselbe Macht, welche jetzt den Kleinstaat zertrümmern muss, einstmals den Grossstaat zertrümmern muss. Ein blindes Vorurtheil ist es dagegen, es seien die Racen und die Verschiedenheit der Abstammung, was jetzt die Nationen zu Grossstaaten umbildet. 18 [20] 64. Über den Fleiss machen die Gelehrten viele schöne Worte; die Hauptsache ist, dass sie sich ohne ihren Fleiss zu Tode langweilen würden. 18 [21] 65. Das Christenthum und La Rochefoucauld sind nützlich, wenn sie die Motive des menschlichen Handelns verdächtigen: denn die Annahme von der gründlichen Ungerechtigkeit jedes Handelns, jedes Urtheilens hat großen Einfluß darauf, daß der Mensch sich von dem allzuheftigen Wollen befreie. 18 [22] 66. Junge Leute klagen oft, dass sie keine Erfahrungen gemacht haben, während sie gerade daran leiden, zu viele gemacht zu haben: es ist der Gipfel der modernen Gedankenlosigkeit. 18 [23] 67. Die Philosophen zweiten Ranges zerfallen in Nebendenker und Gegendenker, das heisst in solche, welche zu einem vorhandenen Gebäude einen Seitenflügel entsprechend dem gegebenen Grundplane ausführen (wozu die Tugend tüchtiger Baumeister ausreicht), und in solche, die in fortwährendem Widerstreben und Widersprechen so weit geführt werden, daß sie zuletzt einem vorhandenen System ein anderes entgegenstellen. Alle übrigen Philosophen sind Überdenker, Historiker dessen was gedacht ist, derer die gedacht haben: jene wenigen abgerechnet, welche für sich stehen, aus sich wachsen und allein "Denker" genannt zu werden verdienen. Diese denken Tag und Nacht und merken es gar nicht mehr, wie die welche in einer Schmiede wohnen, nicht mehr den Lärm der Ambose hören: so geht es ihnen wie Newton (der einmal gefragt wurde, wie er nur zu seinen Entdeckungen gekommen sei, und der einfach erwiderte: "dadurch daß ich immer daran dachte.") 18 [24] 68. In doppelter Weise ist das Publicum unhöflich gegen einen Schriftsteller: Es lobt das eine Werk desselben auf Unkosten eines anderen vom gleichen Autor und dann: es fordert, wenn der Autor einmal geschrieben hat, immer neue Schriften – als ob es dadurch, dass es beschenkt worden wäre, ein Übergewicht über den Geber bekommen habe. 18 [25]
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71. Zeichen einer rücksichtslosen Überlegenheit von Seiten befreundeter oder durch Dankbarkeit uns verpflichteter Personen sind sehr schmerzlich und schneiden tief in's Herz. 18 [26] 77. Man klagt über die Zuchtlosigkeit der Masse; wäre diese erwiesen, so fiele der Vorwurf schwer auf die Gebildeten zurück; die Masse ist gerade so gut und böse wie die Gebildeten sind. Sie zeigt sich in dem Maasse böse und zuchtlos, als die Gebildeten zuchtlos sich zeigen; man geht ihr als Führer voran, man mag leben wie man will; man hebt oder verdirbt sie, je nachdem man sich selber hebt oder verdirbt. 18 [27] 90. Fast jeder gute Schriftsteller schreibt nur Ein Buch. Alles Andere sind nur Vorreden, Vorversuche, Erklärungen, Nachträge dazu; ja mancher sehr gute Schriftsteller hat sein Buch nie geschrieben, zum Beispiel Lessing, dessen intellectuelle Bedeutsamkeit sich hoch über jede seiner Schriften, jeden seiner dichterischen Versuche erhebt. 18 [28] 91. Ich unterscheide grosse Schriftsteller, nämlich sprachbildende – solche, unter deren Behandlung die Sprache noch lebt oder wieder auflebt – und classische Schriftsteller. Letztere werden classisch in Hinsicht auf ihre Nachahmbarkeit und Vorbildlichkeit genannt, während die grossen Schriftsteller nicht nachzuahmen sind. Bei den classischen Schriftstellern ist die Sprache und das Wort todt; das Thier in der Muschel lebt nicht mehr, und so reihen sie Muschel an Muschel. Aber bei Goethe lebt es noch. 18 [29] 92. Wie kommt es, dass der Verliebte die Wirkung der Tragödie und jeder Kunst stärker empfindet, während doch das völlige Schweigen des Willens als der eigentliche contemplative Zustand bezeichnet wird? Es scheint vielmehr, dass der Wille gleichsam erst aufgepflügt werden muss, um den Saamen der Kunst in sich aufzunehmen. Das leichte Leben. 18 [30] 101. Jeder Mensch hat seine eigenen Recepte dafür, wie das Leben zu ertragen ist und zwar wie es leicht zu erhalten ist oder leicht zu machen ist, nachdem es sich einmal als schwer gezeigt hat. 18 [31] 104. Wenn das Leben im Verlauf der Geschichte immer schwerer empfunden werden soll, so kann man wohl fragen, ob die Erfindungsgabe der Menschen zuletzt auch für die höchsten Grade dieser Erschwerung ausreicht. 18 [32]
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112. Der Mensch, der diesen christenmässigen Trost nicht hat und dem andererseits die Philosophie nicht das Gegengeschenk der völligen Unverantwortlichkeit machte, ist schlimm daran: er kennt sich selber nur zu gut und verachtet sich, weil er sein Wesen irrthümlicher Weise sich als Schuld bemisst; desshalb sieht er auf den Mit-Menschen mit Angst, dass der nicht hinter seine Heimlichkeiten kommt. Er hält den Mit-Menschen entweder wirklich besser als sich, weil er ihn weniger kennt, oder er stellt sich, als ob er ihn für besser halte, um ihn für sich zu gewinnen und zu einem gleichen Gefühle gegen sich zu stimmen. Die Eitelkeit und Ehrsucht der Menschen ruht meistens auf dem Gefühl der eigenen Verachtung: sie wollen, dass man sich über sie täusche; sie freuen sich über jedes Urtheil des Mit-Menschen, wenn es für sie günstig lautet, selbst, wenn sie wissen, dass es falsch ist; ihr Bestreben ist, zu verhüten, dass über sie die ganze Wahrheit an's Licht komme. 18 [33] 113. Die Mittel gegen Schmerzen, welche Menschen anwenden, sind vielfach nur Betäubungen. Alle solche Mittel aber gehören einer niedrigen Stufe der Heilkunst an. Betäubungen durch Vorstellungen findet man in den Religionen und Künsten, die insofern in die Geschichte der Heilkunst gehören. Besonders verstehen sich Religionen darauf, durch Annahmen die Ursache des Leidens aus den Augen zu rücken, zum Beispiel dadurch, dass sie Aeltern, denen ein Kind gestorben ist, sagen, es sei nicht gestorben und in Hinblick auf den Leichnam hinzufügen, ihr Kind lebe sogar als ein schöneres fort. 18 [34] 115. Es ist bekannt, dass Liebe und Verehrung nicht leicht in Bezug auf dieselbe Person mit einander empfunden werden können. Das Schwerste und Seltenste wäre aber dies, daß höchste Liebe und der niedrigste Grad der Achtung sich bei einander fänden; also Verachtung als Urtheil des Kopfes und Liebe als Trieb des Herzens. Und trotzdem, dieser Zustand ist möglich und durch die Geschichte bewiesen. Der, welcher sich selbst mit der reinsten Art von Liebe lieben könnte, wäre der, welcher sich zugleich selbst verachtete, und welcher zu sich spräche: verachte Niemanden, ausgenommen dich selbst, weil du dich allein kennen kannst. Diess ist vielleicht die Stellung des Stifters der christlichen Religion zur Welt. Selbstliebe aus Erbarmen mit sich und seiner völligen Verächtlichkeit ist Kern des Christenthums ohne alle Schaale und Mythologie. Das Gefühl dieser Verächtlichkeit entspringt aus Selbsterkenntniss und diese wieder aus Rachebedürfniß. Hat jemand genug an sich gelitten, sich selbst genug verletzt durch Sündhaftigkeit aller Art, so beginnt er gegen sich das Gefühl der Rache zu fühlen. Eindringende Selbstbetrachtung und zuletzt Selbstverachtung sind die natürlichen Folgen, bei manchen Menschen selbst Askese, d. h. Rache an sich in Thätlichkeit des Widerwillens und Hasses. Auch darin, dass der Mensch sich mehr Mühe und Hast zumuthet, zeigt sich derselbe Hang zur Rache an sich. Dass bei alledem der Mensch sich noch liebt, erscheint dann wie ein Wunder, und gewöhnlich legt man eine solche geläuterte und unbegreifliche Liebe einem Gotte bei, aber der Mensch selbst ist es, der einer solchen Liebe fähig ist in einer Art von Selbstbegnadigung denn er kann nicht aufhören, sich zu lieben, da seine Liebe nie Sache des Kopfes sein kann. In diesem Zustande wird die Liebe Herr über das Gefühl der Rache, der Mensch vermag wieder zu handeln und weiter zu leben; er hält freilich dieses Handeln und alles irdische Streben nicht sehr hoch, es ist fast zwecklos, aber er kann nicht anders, als handeln; wie der Christ der ersten Zeit sich durch den Hinblick auf den Untergang der Welt tröstet und dann endlich seiner verächtlichen, zum Handeln treibenden Natur verlustig zu gehen hofft, so kann jetzt jeder Mensch wissen, dass es mit der Menschheit jedenfalls einmal vorbei sein wird und damit muss sich der Ausdruck der Ziellosigkeit auf alles menschliche Streben legen; dazu wird er immer mehr hinter die Grundirrthümer in allen 748
Bestrebungen kommen und sie an's Licht bringen; ihnen allen liegt unreines Denken zu Grunde. Er wird zum Beispiel einsehen, dass alle Aeltern ihr Kind ohne Verantwortung erzeugen und ohne Kenntniss des zu Erziehenden erziehen, sodass sie nothwendig Unrecht thun und sich an einer fremden Sphäre vergreifen. Es gehört diess eben zur Unseligkeit der Existenz, und so wird der Mensch zuletzt bei allem, was er thut, sich voller Ungenüge fühlen und das Höchste, was er erreichen kann, wird sein: Mitleid mit sich zu haben; die Liebe und das Mitleid mit sich selber sind für die höchsten Stufen der Erschwerung des Lebens aufgespart, als die stärksten Erleichterungsmittel. Weib und Kind. 18 [35] 116. Auf die verfängliche Frage, woher bist du Mensch? antworte ich: aus Vater und Mutter, dabei wollen wir einmal stehen bleiben. 18 [36] 118. Wenn ich überall eine Erniedrigung der Deutschen finde, so nehme ich als Grund an, dass seit vier Jahrzehnten ein gemeinerer Geist bei den Ehestiftungen gewaltet hat, zum Beispiel in den mittleren Klassen die reine Kuppelei um Geld und Rang; die Töchter sollen versorgt werden und die Männer wollen Vermögen oder Gunst erheirathen; dafür sieht man den Kindern auch den gemeinen Ursprung dieser Ehen an. 18 [37] 119. Das Beste an der Ehe ist die Freundschaft. Ist diese gross genug, so vermag sie selbst über das Aphrodisische mildernd hinwegzusehen und hinwegzukommen. Ohne Freundschaft macht die Ehe beide Theile gemein denkend und verachtungsvoll. 18 [38] 123. Das Beisammenleben der Ehegatten ist das Hauptmittel, um eine gute Ehe selten zu machen, denn selbst die besten Freundschaften vertragen diess nur selten. 18 [39] 124. Zu dem Rührendsten in der guten Ehe gehört das gegenseitige Mitwissen um das widerliche Geheimniss, aus welchem das neue Kind gezeugt und geboren wird. Man empfindet namentlich in der Zeugung die Erniedrigung des Geliebtesten aus Liebe. 18 [40] 125. Für die Existenz braucht kein Sohn seinem Vater dankbar zu sein, vielleicht darf er ihm sogar wegen bestimmter vererbter Eigenschaften (Hang zu Jähzorn, Wollust) zürnen. Väter haben viel zu thun, um es wieder gut zu machen, dass sie Söhne haben. 18 [41] 126. Väter, welche ihr eigenes Ungenügen recht herzlich fühlen und sich nach der Höhe des Intellektes und Herzens fortwährend hinauf sehnen, haben ein Recht, Kinder zu zeugen. 749
Einmal geben sie diesen Hang diese Sehnsucht mit, sodann ertheilen sie schon dem Kinde manchen grossen Wink über das wahrhaft Erstrebenswerthe, und für solche Winke pflegt der Erwachsene seinen Aeltern einzig wirklich dankbar zu sein. 18 [42] 130. Der Mensch ist dazu bestimmt entweder Vater oder Mutter zu sein, in irgend welchem Sinne. Ohne Productivität ist das Leben grässlich, desshalb mache ich mir aus der Jugend nichts, denn in ihr ist es nicht möglich oder nicht vernünftig, zu produciren. 18 [43] 131. Wären die Weiber so beflissen auf die Schönheit der Männer, so würden endlich der Regel nach die Männer schön und eitel sein – wie es jetzt der Regel nach die Weiber sind. Es zeigt die Schwärmerei und vielleicht die höhere Gesinnung des Mannes, dass er das Weib schön will. Es zeigt den größeren Verstand und die Nüchternheit der Weiber (vielleicht auch ihren Mangel an ästhetischem Sinne), dass die Weiber auch die hässlichen Männer annehmen; sie sehen mehr auf die Sache, das heisst hier: Schutz, Versorgung; die Männer mehr auf den schönen Schein, auf Verklärung der Existenz, selbst wenn diese dadurch mühsäliger werden sollte. 18 [44] 135. Es setzt die Liebe tief unter die Freundschaft, dass sie ausschliesslichen Besitz verlangt, während einer mehrere gute Freunde haben kann, und diese Freunde unter sich einander wieder Freund werden. 18 [45] 140. Frauen, welche ihre Söhne besonders lieben, sind meistens eitel und eingebildet. Frauen, welche sich nicht viel aus ihren Söhnen machen, haben meistens Recht damit, geben aber zu verstehen, dass von einem solchen Vater kein besseres Kind zu erwarten gewesen sei: so zeigt sich ihre Eitelkeit. Über die Griechen. 18 [46] 143. Denkt man sich die Griechen als wenig zahlreiche Stämme, auf einem reichbevölkerten Boden, wie sie das Festland im Innern mit einer Race mongolischer Abkunft bedeckt fanden, die Küste mit einem semitischen Streifen verbrämt und dazwischen Thrazier angesiedelt fanden, so sieht man die Nöthigung ein, vor Allem die Superiorität der Qualität festzuhalten und immer wieder zu erzeugen; damit übten sie ihren Zauber über die Massen aus. Das Gefühl, allein als höhere Wesen unter einer feindsäligen Überzahl es auszuhalten, zwang sie fortwährend zur höchsten geistigen Spannung. 18 [47] 146. Der platonische Sokrates ist im eigentlichen Sinne eine Carricatur; denn er ist überladen mit Eigenschaften, die nie an Einer Person zusammensein können. Plato ist nicht Dramatiker genug, um das Bild des Sokrates auch nur in einem Dialoge festzuhalten. Es ist also sogar 750
eine fliessende Carricatur. Dagegen geben die Memorabilien des Xenophon ein wirklich treues Bild, das gerade so geistreich ist, als der Gegenstand des Bildes war; man muss dieses Buch aber zu lesen verstehen. Die Philologen meinen im Grunde, dass Sokrates ihnen nichts zu sagen habe, und langweilen sich desshalb dabei. Andere Menschen fühlen, dass dieses Buch zugleich sticht und beglückt. 18 [48] 153. Die Götter machen den Menschen noch böser, wenn sie ihm nicht wohl wollen; das ist nicht nur griechisch, das ist Menschennatur. Wen Einer nicht lieben mag, von dem wünscht er im Stillen, dass er schlechter werde und so gleichsam seine Abneigung rechtfertige. Es gehört diess in die düstere Philosophie des Hasses, die noch nicht geschrieben ist. Fortsetzung von "Menschliches und Allzumenschliches." 18 [49] 154. Ein dummer Fürst, der Glück hat, ist vielleicht das glücklichste Wesen unter der Sonne, denn der Anstand des Hofes lässt ihn sich gerade so weise dünken, als er zum Glücke nöthig hat. Ein dummer Fürst, der Unglück hat, lebt immer noch erträglich, denn er kann seinen Unmuth und sein Misslingen an Anderen auslassen. Ein kluger Fürst, der Glück hat, ist gewöhnlich ein glänzendes Raubthier; ein kluger Fürst, der Unglück hat, dagegen ein sehr gereiztes Raubthier, welches man in einen Käfig sperren soll; er täuscht sich nicht über seine Fehlgriffe und das macht ihn so böse. Ein kluger Fürst, der dabei gut ist, ist meistens sehr unglücklich, denn er muss Vieles thun, für das er zu gut oder zu klug ist. 18 [50] 155. Im Grunde hält man das Streben und die Absichten eines Menschen, seien sie auch noch so gefährlich und absonderlich, für entschuldigt oder mindestens für verzeihlich, wenn er sein Leben dafür einsetzt. Die Menschen können vielleicht durch nichts so deutlich ausdrücken, wie hoch sie den Werth des Lebens nehmen. 18 [51] 156. Unser Verbrechen gegen Verbrecher besteht darin, dass wir sie wie Schufte behandeln. Ich wünschte einmal, die Definition des Schuftes zu hören. Das eigentlich Schuftige scheint für das Auge der Justiz unerkennbar zu sein und desshalb erreicht auch ihr Arm es nicht. 18 [52] 157. Der Sinn der ältesten Strafen ist nicht: vor dem Vergehen abzuschrecken, sondern erstens: ein Versuch, den Schaden wieder gut zu machen, zum Beispiel durch ein Bussgeld an die Verwandten des Erschlagenen; zweitens gehören Maassregeln hieher, welche das Gemeinwesen trifft, um sich als Ganzes vor dem Zorn einer beleidigten Gottheit zu sichern, desshalb muss der Mörder bei Homer aus seiner Heimath flüchtig werden; es liegt kein sittlicher, wohl aber ein religiöser Makel auf ihm: er gefährdet das Gemeinwesen, zu dem er gehört. Diese Gattung von Maassregeln ist bei uns überflüssig.
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18 [53] 158. Der Grundgedanke eines neuen menschlicheren Strafrechts müsste sein: ein Unrecht einmal insofern zu beseitigen, als der Schaden wieder gut gemacht werden kann; sodann die böse That durch eine Gutthat zu compensiren. Diese Gutthat brauchte nicht den Beschädigten und Beleidigten, sondern irgend jemandem erwiesen zu werden; man hat sich ja durch den Frevel selten am Individuum, sondern gewöhnlich am Gliede der menschlichen Gesellschaft vergangen, – man ist dadurch der Gesellschaft eine Wohlthat schuldig geworden. Diess ist nicht so gröblich zu verstehen, als ob ein Diebstahl durch ein Geschenk wieder gut zu machen wäre; vielmehr soll Der, welcher seinen bösen Willen gezeigt hat, nun einmal seinen guten Willen zeigen. 18 [54] 162. Man kann zweifeln, ob dem guten Menschen, den es nach Erkenntniss dürstet, dadurch genützt wird, dass er immer besser wird. Ein Wenig mehr Sünde gelegentlich macht ihn wahrscheinlich weiser. Jedermann von einiger Erfahrung wird wissen, in welchem Zustande er das tiefste verstehende Mitgefühl mit der Unsicherheit der Gesellschaft und der Ehen hatte. 18 [55] 163. Eigentlich hat der einmal bestrafte Dieb einen Anspruch auf Vergütung, insofern er durch die Justiz seinen Ruf eingebüsst hat. Was er dadurch leidet, dass er von jetzt ab als Dieb gilt, geht weit über das Abbüssen einer einmaligen Schuld hinaus. 18 [56] 164. Die katholische Kirche hat, durch die Institution der Beichte, ein Ohr geschaffen, in welches man sein Geheimniss ohne gefährliche Folgen ausplaudern kann. Diess war eine grosse Erleichterung des Lebens, denn man vergisst seine Schuld von dem Augenblick an, wo man sie weitererzählt hat, aber gewöhnlich vergessen die Anderen sie nicht. 18 [57] 165. Wer das Nichtsein wirklich höher stellt, als das Sein, hat im Verhalten zu dem Nächsten dessen Nichtsein mehr zu fördern, als dessen Sein; weil die Moralisten dieser Forderung ausbiegen wollen, erfinden sie solche Sätze, dass Jeder nur sich selber in's Nichtsein erlösen könne. 18 [58] 167. Auf die reine Erkenntniss der Dinge lässt sich keine der bisherigen Ethiken gründen; aus ihr folgt allein diess, dass man sein muss, wie die Natur, weder gut noch böse. Die Forderung, gut zu sein, entspringt aus unreinem Erkennen. 18 [59] 168. Unrecht hinterlässt mitunter in Dem, welcher es thut, eine Wunde, doch nicht häufig. Gewissensbisse sind eher die Ausnahme, als die Regel. Jemanden, der uns zuwider ist, so zu beleidigen, dass wir seinen Umgang los sind, erzeugt sogar ein seliges Aufathmen über die erlangte Freiheit. Vielleicht aber ist hier das Unrechtthun Nothwehr. 752
18 [60] 169. Der Staatsmann muss seinen Unternehmungen ein gutes Gewissen vorhängen können und braucht dazu die begeisterten Ehrlichen und noch mehr Die, welche so zu scheinen vermögen. 18 [61] 173. Wer den Trieb zur Reinlichkeit auch im Geistigen hat, wird es nur eine Zeit lang in den Religionen aushalten und sich dann in eine Metaphysik flüchten; später wird er sich von Stufe zu Stufe auch der Metaphysik entschlagen. Es ist wahrscheinlich, dass der Trieb zur Reinlichkeit im Moralischen eher einen entgegengesetzten Weg einschlagen wird; dafür ist dieser Trieb immer mit der Unreinheit des Denkens verbunden und macht dieses vielleicht immer unreinlicher. 18 [62] 176. Die Pflugschar schneidet in das harte und das weiche Erdreich, sie geht über Hohes und Tiefes hinweg und bringt es sich nah. Diess Buch ist für den Guten und den Bösen, für den Niedrigen und den Mächtigen. Der Böse, der es liest, wird besser werden, der Gute schlechter, der Geringe mächtiger, der Mächtige geringer.
[Dokument: Heft] [Oktober – Dezember 1876] Bex vom 3 October an 19 [1] 1. Philologie ist die Kunst, in einer Zeit, welche zu viel liest, lesen zu lernen und zu lehren. Allein der Philologe liest langsam und denkt über sechs Zeilen eine halbe Stunde nach. Nicht sein Resultat, sondern diese seine Gewöhnung ist sein Verdienst. 19 [2] 2. Die Geschichte der Philologie ist die Geschichte einer Gattung von fleißigen aber unbegabten Menschen. Daher die unsinnige Bekämpfung und spätere Überschätzung einiger scharfsinnigeren und reicheren Naturen, welche unter die Philologen gerathen sind. 19 [3] 3. Daß die Philologen dazu befähigt sind (mehr als z.B. die Mediciner), die Jugend zu erziehen, ist ein Vorurtheil, welches noch dazu täglich durch die Erfahrung lügen gestraft wird. Man macht es also hier, wie bei den Straßenfegern, welche auch niemand darauf hin prüft, ob sie am besten verstehen, die Straße zu fegen; genug daß sie den Willen zu diesem unsauberen Geschäft haben. Ebenso weist jeder Stand das Geschäft der Jugenderziehung von sich ab und ist zufrieden, daß die Philologen es – nicht thun.
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19 [4] 4. Das Alterthum ist in allen Hauptsachen von Künstlern Staatsmännern und Philosophen entdeckt worden, nicht von Philologen: und dies bis auf den heutigen Tag. 19 [5] 5. Daß man eine Sophokleische Tragödie an 100 Stellen falsch verstehen und an vielen verdorben Stellen einfach vorübergehen, aber doch die Tragödie besser verstehen und erklären kann als der gründlichste Philologe, das wollen die Philologen nicht glauben. Wer einen geistreichen Autor liest und am Schlusse glaubt, er habe alles verstanden, exc. – der ist glücklich. 19 [6] 6. Ich glaube Shakespeare besser zu verstehen als neuenglische Sprachlehrer, obwohl ich viele Fehler mache. Im Allgemeinen wird sogar jedermann einen alten Autor besser verstehen als der philologische Sprachlehrer: woher kommt das? – Daher daß Philologen nichts außer altgewordenen Gymnasiasten sind. 19 [7] 8. Feineren Geistern wird von solchen ein Zwang angethan, welche immer Geschichten erzählen, über die man lachen soll: wo es nicht genügt zu lächeln. 19 [8] 12. Ein Meister wird seinen Umgang unter Meistern anderer Künste wählen und unter seinen Schülern sein, aber nicht bei den Fachgenossen und überhaupt nicht bei denen, welche nur Fachleute sind, und keine Meister. 19 [9] 14. Die welche sich mit uns freuen können, stehen höher und uns näher als die welche mit uns leiden. Mitfreude macht den „Freund" (den Mitfreuenden), Mitleid den Leidensgefährten. – Eine Ethik des Mitleidens braucht eine Ergänzung durch die noch höhere Ethik der Freundschaft. 19 [10] 15. Die Menschen werden je nach ihrer Heimat Protestanten Katholiken Türken, wie einer, der in einem Weinlande geboren wird, ein Weintrinker wird. 19 [11] 17. Wer sich im Ganzen viel versagt, wird sich im Kleinen leicht Indulgenz geben. So hat es vielleicht keinen Stand gegeben, welcher unter dem Erotischen so sehr allein Ausschweifungen verstand, wie den katholischen Priesterstand, welcher der Liebe entsagte. Dafür erlaubte er sich die gelegentliche Lust.
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19 [12] 18. Man kann höchst passend reden und doch so daß alle Welt über das Gegentheil schreit. So redete Sokrates sehr passend, aber vor einem weltgeschichtlichen Forum: seine Richter urtheilten umgekehrt. – Die Meister reden sich zu ihren Hörern herab. 19 [13] 19. Wenn man keinen guten Vater hat, so soll man sich einen anschaffen. Daß ein Sohn sich einen Vater adoptirt, ist vernünftiger als das Gegentheil: weil er sehr viel genauer weiß, was er braucht. 19 [14] 20. Das Ansehen der Ärzte beruht auf der Unwissenheit der Gesunden und Kranken: und diese Unwissenheit wiederum beruht auf dem Ansehen der Ärzte. 19 [15] 21. Der beste Arzt wird nur Einen Patienten haben können; jeder Mensch ist eine Krankheitsgeschichte. 19 [16] 23. Einen Autor, der sich nicht nennt, zu errathen und zu verrathen heißt ihn so behandeln als ob man mit einem verkleideten Verbrecher oder mit einer schelmischen Schönen zu thun habe, was oft genug erlaubt sein mag,: aber es giebt Fälle, wo man seine Verschwiegenheit mindestens ebenso zu ehren hat, wie die eines incognito reisenden Fürsten. 19 [17] Die Schätzung von Eigenschaften kann nur vergleichend sein, das eigne Interesse will die höchste Schätzung. Wetteifer oder Vernichtung. 19 [18] 24. Die Illusion des Geschlechtstriebs ist ein Netz, das, wenn es zerrissen wird, sich immer von selbst wieder strickt. 19 [19] 27. Um den Vortheil einer gefährlichen Geldspekulation zu haben, muß man es wie beim kalten Bade machen – schnell hinein, schnell heraus. 19 [20] 28. Der dramatische Musiker muß nicht nur Ohren, sondern auch Augen in den Ohren haben. 19 [21] 755
32. Die Arbeiter klagen daß sie überarbeitet werden. Aber dieselbe Überarbeitung findet sich überall, bei den Kaufleuten Gelehrten Beamten Militärs: bei den reichen Klassen erscheint die Überarbeitung als innerer Trieb der allzugroßen Thätigkeit, bei den Arbeitern wird sie äußerlich erzwungen, das ist der Unterschied. Eine Milderung dieses Triebes käme indirekt auch dem Arbeiter zu Gute. Er möge nicht glauben, daß der jetzige Banquier genußreicher oder würdiger als er lebt. 19 [22] 35. Die meisten Schriftsteller schreiben schlecht weil sie uns nicht ihre Gedanken sondern das Denken der Gedanken mittheilen. Oft ist es Eitelkeit was die Periode so voll macht, es ist das begleitende Gegacker der Henne, welche uns auf das Ei aufmerksam machen will, nämlich auf irgend einen inmitten der vollen Periode stehenden kleinen Gedanken. 19 [23] 36. Der Mensch ist als Kind vom Thier am weitesten entfernt, sein Intellekt am menschlichsten. Mit dem fünfzehnten Jahre und der Pubertät tritt er dem Thiere einen Schritt näher, mit dem Besitzsinne der dreissiger Jahre (der mittleren Linie zwischen Faulheit und Begehrlichkeit) noch einen Schritt. Im sechzigsten Lebensjahr verliert sich häufig noch die Scham; dann tritt der siebzigjährige Alte ganz als entschleierte Bestie vor uns hin: man sehe nur nach Augen und Gebiß. 19 [24] 38. Der ungehorsam und Unabhängigkeit, namentlich innerliche, der Söhne gegen die Väter geht gewöhnlich gerade so weit als möglich d. h. als es der Vater irgend wie noch erträgt; woraus sich ergiebt daß es viel unangenehmer ist Vater zu sein als Sohn. 19 [25] Ironie ist unedel. 19 [26] 41. Sobald man begriffen hat, daß ein Fürst bei politischen Veränderungen seines Landes nicht mehr in Betracht kommt und nur noch für die Höflinge und das Landvolk interessant ist, soll man ihm aus dem Wege gehen, da man ihn nicht als Privatmann behandeln darf. 19 [27] 42. Der Thätige will sich durch die Kunst zerstreuen, der Künstler verlangt höchste Sammlung. Folglich müssen sie mit einander unzufrieden sein und sich in einander verbeißen. Die Kunst ist eben gar nicht für diese Thätigen da, sondern für jene, welche einen Überschuß von Muße haben und also ihren höchsten Ernst ausnahmsweise dem Künstler schenken können: für die Existenz dieser Klasse der müssigen Olympier haben jene Thätigen (seien sie Arbeiter oder Banquiers oder Beamte) mit ihrer Überarbeit zu sorgen. Ist die Existenz dieser Klasse ein Übel, so ist auch die Kunst ein Übel. Kunst die Thätigkeit der Müssigen.
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Lüste bilden die Muße der Thätigen. 19 [28] 43. In 50 Jahren versteht sich jeder kräftige Mann in Europa auf die Waffen und das militärische Manövriren, der besser Befähigte sogar auf die Taktik. Jeder der von da an Meinungen zur Herrschaft bringen wird, mag wissen, daß er ein geübtes Heer für seine Meinungen gewonnen hat. Das wird die Geschichte der Meinungen bestimmen. 19 [29] 45. Dreiviertel aller Lügen sind durch die Antithese in die Welt gekommen. 19 [30] Ton der Jugend zu laut. 19 [31] Der Eitele und der Verliebte wähnen, einer andren Person wegen eitel oder verliebt zu sein. 19 [32] 50. Der beste Autor schämt sich Schriftsteller zu sein, er ist zu reich an Gedanken und zu vornehm, als daß er sich nicht schämen sollte, seinen Reichthum anders als nur gelegentlich sehen zu lassen. 19 [33] 51. Um eine Traube und ein Talent zur Reife zu bringen, dazu gehören ebenso Regen- als Sonnentage. 19 [34] 52. Man unterschätzt den Werth einer bösen That, wenn man nicht in Anschlag bringt, wie viel Zungen sie in Bewegung setzt, wie viel Energie sie entfesselt und wie vielen Menschen sie zum Nachdenken oder zur Erhebung dient. 19 [35] 53. Die Verdunkelung von Europa kann davon abhängen ob fünf oder sechs freiere Geister sich treu bleiben oder nicht. 19 [36] 54. Niemand ist für seine Thaten verantwortlich, niemand für sein Wesen: richten ist soviel als ungerecht sein. Dies gilt auch, wenn das Individuum über sich richtet. – Der Satz ist so hell wie Sonnenlicht und doch geht hier jedermann lieber in den Schatten und die Unwahrheit: aus Furcht völlig die Sehkraft zu verlieren, also der vermeintlichen Folgen wegen.
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19 [37] 55. Moralität wird allein dadurch verbreitet, daß was den Intellekt aufhellt möglichst viel neue und höhere Möglichkeiten des Handelns kennen lehrt und damit eine Menge neuer Motive des Handelns zur Auswahl darbietet, sodann daß man Gelegenheiten giebt. Der Mensch wird von einem niederen Motiv sehr häufig nur deshalb ergriffen, weil er ein höheres nicht kannte, und er bleibt mittelmäßig und niedrig in seinen Handlungen, weil ihm keine Gelegenheit geboten wurde, seine größeren und reineren Instinkte hervorzukehren. – Viele Menschen warten ihr Lebenlang auf die Gelegenheit, auf ihre Art gut zu sein. 19 [38] 56. Bei der Wahl zwischen einer leiblichen und geistigen Nachkommenschaft, hat man zu Gunsten letzterer zu erwägen, daß man hier Vater und Mutter in Einer Person ist und daß das Kind, wenn es geboren ist, keiner Erzielung mehr, sondern nur der Einführung in die Welt bedarf. 19 [39] 59. Von zwei übeln Empfindungen kann allmählich die Philosophie erlösen: erstens von der Furcht auf dem Sterbebette, weil da nichts zu fürchten ist, zweitens von der Reue und Gewissensqual nach der That, weil jede That ganz unvermeidlich war. Hinsichtlich alles Vergangenen ist ein kalter Fatalismus die philosophische Gesinnung. Der Unmuth über eine That wird aber vielleicht nicht geringer, wenn ich einsehe, daß sie Nothwendigkeit war: es ist ein Schmerz, der sich nicht durch Vorwurf Rache usw. erleichtern kann. Denn seine ganze Natur sein esse der That zu bezichtigen ist nur eine neue Stufe derselben Unvernunft, welche uns für jede einzelne Handlung verantwortlich machen will. Weil der Unmuth da ist, so muß Verantwortlichkeit da sein, also irgendwo eine Freiheit: so kam Schopenhauer auf den Begriff der intelligiblen Freiheit. Aber die Thatsache des Unmuths beweist nicht die rationelle Vernünftigkeit dieses Unmuthes: und nur, wenn es so stünde, würde man in der Schopenhauerschen Weise fortschließen können. – Der Unmuth ist übrigens zwar jetzt da, aber kann vielleicht abgewöhnt werden. Wenn aber die schlechte ungeschickte Handlung keinen Unmuth nach sich zieht, so würde diese kalte Gesinnung, welche man sich in Hinsicht der Vergangenheit angewöhnt hätte, auch die Freude am Gethanen entwurzelt haben. Nun wird aber das Handeln der Menschen durch die Anticipation der zu erwerbenden Lust oder Unlust bestimmt: fällt diese weg, so hielte ihn keine Empfindung mehr von der schlechten Handlung zurück, und zöge ihn nichts mehr zu der guten That hin. Er würde in Hinsicht auf das Kommende ebenso kalt wie in Hinsicht auf das Vergangene. Jetzt träte die kalte Überlegung ein, ob Leben oder Nichtleben vorzuziehen sei: und der Selbstmord aus Besonnenheit wäre die Folge. In Erkenntniß oder Witterung dieses Sachverhaltes sträubt sich jeder Mensch, und auch jede Ethik gegen die Aufhebung der Freiheit: letztere mit Unrecht, da die Philosophie durchaus nicht auf die Consequenzen der Wahrheit sondern nur auf sie zu achten hat. – Dass das Leben als Ganzes keine Folge der Empfindung (Lust oder Unlust) haben soll, wird aus demselben Grunde abgewehrt (daher die Bedeutung, die dem Sterbebette zugeschrieben wird). 19 [40]
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65. „Werde der, der du bist": das ist ein Zuruf, welcher immer nur bei wenig Menschen erlaubt, aber bei den allerwenigsten dieser Wenigen überflüssig ist. 19 [41] 66. Die Ethik jeder pessimistischen Religion besteht in Ausflüchten vor dem Selbstmorde. 19 [42] 70. Und was kam ihrer Tugend zu Hülfe? Die Stimme des Gewissens? – O nein, die Stimme der Nachbarin. 19 [43] 71. Selbstgenügsame Leute zeigen mitunter sich aus Gutmüthigkeit eitel: z. B. um die Eitelkeit bestimmter Klassen nicht zu beschämen. 19 [44] 72. Der Selbstgenügsame wird eitel, wenn er die höhere Selbstgenügsamkeit eines Anderen empfindet, was aber selten vorkommt. 19 [45] 73. Es läßt keinen Schluß auf die Begabung zu, ob jemand vorwiegend eitel oder selbstgenügsam ist: das größte Genie ist mitunter eitel gleich einem jungen Mädchen und wäre im Stande sich die Haare zu färben. Diese Eitelkeit ist vielleicht die übriggebliebene und großgewachsene Gewohnheit, aus der Zeit her, wo er noch kein Recht hatte, an sich zu glauben und diesen Glauben erst von anderen Menschen in kleinen Münzen einbettelte. 19 [46] 79. Man entkommt häufig seinen Verfolgern eher dadurch daß man langsamer als daß man schneller geht; das gilt namentlich bei litterarischen Verfolgungen. 19 [47] Kotzebue – „in ihm leben weben und sind wir". Shakespeare, Zufall in der Geschichte des Theaters. Schiller ist ein besserer Theaterdichter. 19 [48] 84. Der Fromme fühlt sich dem Unfrommen überlegen: an christliche Demuth will ich glauben, wenn ich sehe daß der Fromme sich vor dem Unfrommen erniedrigt. 19 [49] Ich verändere manche Rhythmen der Periode wegen der Leser. 759
19 [50] 90. Man schenkt jemandem lieber sein ganzes Herz als sein ganzes Geld. – Wie kommt das? – Man schenkt sein Herz und hat es noch, aber das Geld hat man nicht mehr. 19 [51] 93. Kein Schriftsteller hat bis jetzt genug Geist gehabt, um rhetorisch schreiben zu dürfen. 19 [52] 96. Eine schöne Frau hat doch Etwas mit der Wahrheit gemein (was auch die Lästerer sagen mögen!): beide beglücken mehr, wenn sie begehrt, als wenn sie besessen werden. 19 [53] 99. Ein Bündniß ist fester, wenn die Verbündeten an einander glauben als von einander wissen: weshalb unter Verliebten das Bündniß fester vor der ehelichen Verbindung als nach derselben ist. 19 [54] 100. Kein Fürst, der Krieg führen wollte, war je um einen casus belli verlegen. Aber alle Motive, welche wir öffentlich zu erkennen geben, zeigen, daß wir Alle nie um einen casus belli verlegen sind. Jede Handlung wird aus Motiven gethan und aus einem angeblichen Motive. 19 [55] 103. Ein Staatsmann zertheilt die Menschen in zwei Gattungen, erstens Werkzeuge, zweitens Feinde. Eigentlich giebt es also für ihn nur Eine Gattung von Menschen: Feinde. 19 [56] 108. Entweder macht man sich mit Hülfe einer Religion das äußere Leben schwer und das innere leicht oder umgekehrt: ersteres ist der Fall beim Christenthum, letzteres beim Zugrundegehen der Religionen. Daraus ergiebt sich, daß eine Religion entsteht um das Herz zu erleichtern und zu Grunde geht, wenn sie hier nichts mehr zu erleichtern hat. 19 [57] 110. "Ein Geist ist gerade so tief als er hoch ist" sagte Jemand. Nun denkt man bei der Bezeichnung "hoher Geist" an die Kraft und Energie des Aufschwunges, Fluges, bei der Bezeichnung „tiefer Geist" an die Entferntheit des Zieles, zu welchem, der Geist seinen Weg genommen halt. Der Satz will also sagen: ein Geist kommt eben so weit als er fliegen kann. Dies ist aber nicht wahr: selten kommt ein Geist so weit, als er überhaupt fliegen konnte. Also muß der Satz lauten: selten ist ein Geist so tief als er hoch ist. 19 [58]
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111. Wenn früher die Pocken die Kraft und Gesundheit einer körperlichen Constitution auf die Probe stellten und den Menschen, welche sie nicht bestanden, tödtlich wurden: so kann man vielleicht jetzt die religiöse Infektion als eine solche Probe für die Kraft und Gesundheit der geistigen Constitution betrachten. Entweder überwindet man sie, oder man geht geistig daran zu Grunde. 19 [59] Elemente der Bildung. 1. 2. 3. 4. 5.
Irrthümer. Falsche Schlüsse. Leidenschaften. Die gebundenen Geister. Vergessenheit.
6) Der Mensch als Sache. 7. Die entartenden Naturen. 8. Die Entstehung des Wahrheitssinns. 9) Zukunft der Kultur. 19 [60] 113. Verträge europäischer Staaten gelten jetzt genau solange als der Zwang da ist, welcher sie schuf. Das ist also ein Zustand, in welchem die Gewalt (im physischen Sinn) entscheidet und zu ihrer Consequenz führt. Dies ist folgende: die Großstaaten verschlingen die Kleinstaaten, der Monstrestaat verschlingt den Großstaat – und der Monstrestaat platzt auseinander, weil ihm endlich der Gurt fehlt, der seinen Leib umspannte: die Feindseligkeit der Nachbarn. Die Zersplitterung in atomistische Staatengebilde ist die fernste noch scheinbare Perspektive der europäischen Politik. Kampf der Gesellschaft in sich trägt die Gewöhnung des Krieges fort. 19 [61] 114. Es giebt keinen Erzieher mehr; man kauft sich unter diesem Namen immer nur Leute, welche selber nicht erzogen sind. – Es giebt Lehrer, aber keine Erzieher, Stallknechte, aber keine Reiter. 19 [62] 116. Hier und da versucht eine Partei, einige Fetzen des verunreinigten Christenthums zu säubern und sich mit ihnen zu kleiden – die Wirkung ist gering: denn frischgewaschene Lumpen kleiden zwar reinlich, aber immer nur lumpenhaft. 19 [63] 117. Beim Anblick der zahllosen Kirchen, welche das Christenthum einstmals baute, muß man sich sagen: es ist gegenwärtig nicht genug Religion da, um diese Gebäude abzutragen. Ebenfalls: es fehlt jetzt an Religion, um die Religion auch nur zu vernichten. 761
19 [64] 112. Die Öffentlichen Meinungen gehen aus den privaten Faulheiten hervor. Aber was geht aus den privaten Meinungen hervor? – Die öffentlichen Leidenschaften. 19 [65] 118) wir leben in einer Cultur, welche an den Mitteln der Cultur zu Grunde geht. Aufhebung der Nationen – der europäische Mensch. Enthaltung von Politik. Beiseiteziehen der Talente. Verachtung der Presse. Religion und Kunst nur als Heilmittel. Schlichtes Leben. Geringschätzung der gesellschaftlichen Unterschiede. Höheres Tribunal für die Wissenschaften. Befreiung der Frauen. Die Freundschaften – verschlungene Kreise. Organisation der Oekonomie des Geistes. Die Institutionen folgen den Meinungen von selbst. 19 [66] Gruss an die Moralisten. Abwesenheit der Moralisten. Die Thätigen. Die welche frei werden wollen. Freigeist. Verwundung. Ohne Produktivität unmöglich – also Freigeist. Seufzer über frühere Jugend.
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Vater oder Mutter. Erzeugung des Genius. Mitte des Wegs. Dichter als Erleichterer. Aesthetik. Dichter. Schriftsteller. Philologen. Kunst – Thätige. Gesellschaft. Weib und Kind. Staat (Griechen). Religiöses. Höhere moralische Sätze (gut und Böse) (Eitelkeit). Höchste Erleichterung des Lebens. fatum tristissimum. 19 [67] Stimme der Geschichte. Alles Allgemeine voran: freigeisterhafter Rundgang: um den Menschen vom Herkömmlichen loszulösen. 1. Der Mensch mit sich allein. 2. Weib und Kind. 3. Gesellschaft. 4. Kunst – Dichter – Aesthetik. 5. Staat. 6. Religiöses. 7. Erleichterung des Lebens. 19 [68] 763
Homo liber de nulla re minus quam de morte cogitat et ejus sapientia non mortis sed vitae meditatio est. Spinoza. 19 [69] Wer schärfer denkt, mag die Bilder der Dichter nicht, es wird zuviel des Ungleichartigen zugleich mit in's Gedächtniß gebracht; wie einer der scharf hört, die Obertöne eines Tons als mißtönenden Akkord hört. 19 [70] c. 4. der Freigeist und der Philosoph. 5. innerhalb einer Cultur: Beispiele. 6. gegenwärtige Stellung. 7. Zukunft. 19 [71] Der Mitleidende fühlt sich als der Stärkere, das giebt die Lust, als bereit zum Eingreifen, wenn er nur helfen könnte. Der Schmerz wie der aesthetische ein Nachklingen. 19 [72] Themata: über die Maxime. über die Novelle. Gegen die Dichter. Der Philosoph aus Vergnügen, der wohl an die Vorgänger, nicht an die Nachfolger denkt (worin Vergnügen?). Unterschied von Freigeist und Philosoph. Thukydides als Ideal des Freigeist-Sophisten. Ursprung des Mitleides. Der Selbstmord in den Religionen. Der Kranke. Eitelkeiten der Gelehrten. 19 [73]
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Man sucht die Dinge, welche eine ähnliche Empfindung in uns hervorrufen, miteinander in Verbindung zu bringen z. B. Frühling Liebe Schönheit der Natur, Gottheit usw. Diese Verflechtung der Dinge entspricht in gar nichts der wirklichen causalen Verknüpfung. Dichter und Philosophen lieben so die Dinge zu arrangiren; Kunst und Moral kommen zusammen. 19 [74] Sie nennen die Vereinigung der deutschen Regierungen zu Einem Staate eine "große Idee". Es ist dieselbe Art von Menschen, welche eines Tages sich für die vereinigten Staaten Europas begeistern wird: es ist die noch größere Idee". 19 [75] Die Verschiedenheit der Sprachen verhindert am meisten, das zu sehen was im Grunde vor sich geht – das Verschwinden des Nationalen und die Erzeugung des europäischen Menschen. 19 [76] Alle Grundlagen der Cultur sind hinfällig geworden: also muß die Cultur zu Grunde gehen. 19 [77] Die 10 Gebote des Freigeistes. Du sollst Völker weder lieben noch hassen. Du sollst keine Politik treiben. Du sollst nicht reich und kein Bettler sein. Du sollst den Berühmten und Einflußreichen aus dem Wege gehn. Du sollst dein Weib aus einem anderen Volke als dem eignen nehmen. Du sollst deine Kinder durch deine Freunde erziehen lassen. Du sollst dich keiner Ceremonie der Kirche unterwerfen. Du sollst ein Vergehen nicht bereuen, sondern seinetwegen eine Gutthat mehr thun. Du sollst, um die Wahrheit sagen zu können, das Exil vorziehen. Du sollst die Welt gegen dich und dich gegen die Welt gewähren lassen. 19 [78] Cap. II. Der Freigeist in der Gegenwart. Cap. III. Ziele des Freigeistes: Zukunft der Menschheit. Cap. IV. Entstehung des Freigeistes. 765
19 [79] Zukunft in einigen Jahrhunderten. Ökonomie der Erde, Aussterbenlassen von schlechten Racen, Züchtung besserer, eine Sprache. Ganz neue Bedingungen für den Menschen, sogar für ein höheres Wesen? jetzt ist es der Handelsstand, welcher ein völliges Zurücksinken in die Barbarei verhindert (Telegraphie, Geographie, industr Erfindung, usw.). 19 [80] Die Wahrheit zu sagen, wenn die Unwahrheit herrscht, ist mit so viel Vergnügen gemischt, dass der Mensch ihretwegen das Exil, ja noch Schlimmeres erwählt. 19 [81] Il maudit les savants et ne voulut plus vivre qu'en bonne compagnie. Voltaire (Zadig) 19 [82] Philologen. Woher die Verdummung der Gymnasiasten? Durch das Beispiel der Lehrer, die alles verdummen, die Autoren usw. Weshalb sind die Philologen auf verdorbene Stellen so eifrig? Aus Eitelkeit: ihnen liegt nichts an den Alten, aber sehr viel an ihnen selbst. Giebt es eine geistreiche Schulausgabe? 19 [83] Weil die Menschen an der Welt so weit sie erklärlich ist nicht viel finden, was wertvoll ist, so meinen sie, das Wahre und Wichtige müsse im Unerklärlichen liegen; sie knüpfen ihre höchsten Empfindungen und Ahnungen an das Dunkle Unerklärliche an. Nun braucht in diesem unaufgehellten Reiche gar nichts Wesentliches zu liegen, es könnte leer sein: es würde für den Menschen dasselbe dabei herauskommen, wenn er nur in seiner Erkenntniß eine dunkle Stelle hätte: daraus zaubert er dann hervor was er braucht und bevölkert den dunklen Gang mit Geistern und Ahnungen. 19 [84] Wenn der Mensch sich gewöhnt, sich streng an die Wahrheit zu halten und vor allem Metaphysischen Unaufgehellten sich zu hüten, so wäre vielleicht einmal der Genuß von Dichtungen mit dem Gefühl etwas Verbotenes zu thun verbunden: es wäre eine süße Lust, aber nicht ohne Gewissensbisse hinterdrein und dabei. 19 [85] Das sogenannte metaphysische Bedürfniß beweist nichts über eine diesem Bedürfnisse entsprechende Realität: im Gegentheil, weil wir hier bedürftig sind, so hören wir die Sprache des Willens, nicht die des Intellekts und gehen irre, wenn wir dieser Sprache glauben. Ein
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Gott wäre anzunehmen, wenn er beweisbar wäre, ohne daß ein Bedürfniß ihn uns nöthig erscheinen ließe. 19 [86] Themata. Vom Freigeiste. Das Unerklärliche und das Erklärliche. Untergang der alten Kultur. Ursachen der Kunst. Der Selbstmord. Eitelkeit der Gelehrten. Die Maxime. Der Schriftsteller. Der Kranke. Die Verbesserlichkeit der Menschen. Über die Novelle. Der Umgang. Der Intellect der Weiber. Die Freundschaft. Phasen der Moral. Über die Macht. Einfachheit d<es> Guten. Die Hoffnung. Der Adel. Kampf gegen das Schicksal. Gut und Böse. Ersatz religiöser Motive.
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Versprechen. Intellect und Moralität. Langeweile – Musse. Strafe und Reue. Philologen als Lehrer. Thukydides Typus des Sophist Freisinns. 19 [87] Die Urtheile der Geschworenengerichte sind aus demselben Grunde falsch, aus dem die Censur einer Lehrerschaft über einen Schüler falsch ist: sie entstehen aus einer Vermittlung zwischen den verschieden gefällten Urtheilen: gesetzt den günstigsten Fall, einer der Geschworenen habe richtig geurtheilt, so ist das Gesamtresultat die Mitte zwischen dem richtigen und mehreren falschen Urtheilen d. h. Jedenfalls falsch. 19 [88] Ein Dichter muß keinen so bestimmten Begriff seines Publikums in der Seele haben wie der Maler eine bestimmte Entfernung vom Bilde, wenn es richtig beschaut werden soll, und eine bestimmte Sehschärfe der Beschauer verlangt. Die neueren Dichtungen werden nur theilweise von uns genossen, jeder pflückt sich, was ihm schreckt; wir stehen nicht in dem nothwendigen Verhältnisse zu diesen Kunstwerken. Die Dichter selber sind unsicher und haben bald diesen bald jenen Zuhörer im Auge; sie glauben selber nicht daran, daß man ihre ganze Intention faßt und suchen durch Einzelheiten oder durch den Stoff zu gefallen. Wie jetzt alles, was ein Erzähler gut macht, beim heutigen Publikum verloren geht: welches nur den Stoff der Erzählung will und interessirt fortgerissen überwältigt sein möchte: durch das Faktum, welches die Criminalakten z. B. am besten enthalten, nicht durch die Kunst des Erzählers. 19 [89] Vorhistorische Zeitalter werden unermeßliche Zeiträume hindurch vom Herkommen bestimmt, es geschieht nichts. In der historischen Zeit ist jedesmal das Faktum eine Lösung vom Herkommen, eine Differenz der Meinung, es ist die Freigeisterei, welche die Geschichte macht. Je schneller der Umschwung der Meinungen erfolgt, um so schneller läuft die Welt, die Chronik verwandelt sich in das Journal, und zuletzt stellt der Telegraph fest, worin in Stunden sich die Meinungen der Menschen verändert haben. 19 [90] Ein schönes Weib in der Ehe muß sehr viele gute Eigenschaften haben, um darüber hinwegzuhelfen, daß sie schön ist. 19 [91] Mittheilbarkeit der Wahrheit, der Meinungen überhaupt.
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19 [92] Was leistet eine Meinung? – fragt der Staatsmann. Ist sie eine Kraft? 19 [93] Die Menschen werden gewöhnt, eine fremde Meinung höher zu taxiren als die eigne. 19 [94] Die Frommen fragen: beglückt euch diese Meinung? – das gilt als Beweis für und gegen die Wahrheit. Wenn nun ein Irrsinniger glaubt er sei Gott und darin glücklich ist – wie es vorkommt – so ist folglich bewiesen, daß es einen Gott giebt. 19 [95] In einer Tragödie wird nothwendig die Beredsamkeit herrschen, welche in einer Zeit gerade geübt und hochgeschätzt wird. So bei den Griechen, so bei den Franzosen, so auch bei Shakespeare. Bei ihm ist der spanische Einfluß, der am Hofe Elisabeths herrschte, unverkennbar: die Überfülle der Bilder, ihre Gesuchtheit ist nicht allgemein menschlich, sondern spanisch. In der italiänischen Novelle wie in Le Sage herrscht die vornehme Redekultur des Adels und der Renaissance. – Wir haben keine höfische Beredsamkeit und auch keine öffentliche wie die Griechen: deshalb ist es mit der Rede im Drama nichts, es ist Naturalisiren. Goethe im Tasso geht auf das Vorbild der Renaissance zurück. Schiller hängt von den Franzosen ab. Wagner giebt die Kunst der Rede ganz auf. 19 [96] Der Mensch hat die Neigung, für das Herkömmliche, wenn er Gründe sucht, immer die tiefsten Gründe anzugeben. Denn er spürt die ungeheuren segensreichen Folgen, so sucht er nach einer tiefen weisheitsvollen Absicht in der Seele derer, welche das Herkommen pflanzten. – Aber es steht umgekehrt; die Entstehung Gottes, der Ehe ist flach und dumm, das Fundament des Herkommens ist intellektuell sehr niedrig anzusetzen. 19 [97] Wenn man einen Glauben umwirft, so wirft man nicht die Folgen um, welche aus ihm herausgewachsen sind. Diese leben vermöge des Herkommens weiter: das Herkommen schließt die Augen über den Verband von Glauben und Folge. Die Folge erscheint ihrer selbst wegen da zu sein. Die Folge verleugnet ihren Vater. 19 [98] Was ist die Reaktion der Meinungen? Wenn eine Meinung aufhört, interessant zu sein, so sucht man ihr einen Reiz zu verleihen, indem man sie an ihre Gegenmeinung hält. Gewöhnlich verführt aber die Gegenmeinung und macht einen neuen Bekenner: sie ist inzwischen interessanter geworden. 19 [99]
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Aristoteles meint, durch die Tragödie werde das Übermaß am Mitleide und Furchtsamkeit entladen, der Zuhörer kehre kälter nach Hause zurück. Plato meint dagegen, er sei rührseliger und ängstlicher als je. – Plato's Frage über die moralische Bedeutung der Kunst ist noch nicht wieder aufgeworfen. Der Künstler braucht die Entfesselung der Leidenschaft. Wir lassen uns die Leidenschaften, welche der athenische Komiker bei seinen Zuhörern entladen will, kaum mehr gefallen: Begierde Schmähsucht Unanständigkeiten usw. Thatsächlich ist Athen weichlich geworden. Als Ersatz der Religion kann die Kunst nicht gelten: denn für den, welcher vollendet hat, ist sie überflüssig, für den welcher im Kampf ist, kein Ersatz der Religion, sondern höchstens eine Beihülfe der Religion. – Vielleicht ist ihre Stellung so, wie sie Mainländer nimmt, eine Beihülfe der Erkenntniß, sie läßt den Frieden und den großen Erfolg der Erkenntniß von ferne wie blaue Berge sehen. Ersatz der Religion ist nicht die Kunst, sondern die Erkenntniß. 19 [100] Die Religionen drücken nicht irgend welche Wahrheiten sensu allegorico aus, sondern gar keine Wahrheiten – das ist gegen Schopenhauer einzuwenden. Der consensus gentium in Religionsansichten ist doch eher ein Gegenargument gegen die zu Grunde liegende Wahrheit. Nicht eine uralte Priesterweisheit, sondern die Furcht vor dem Unerklärlichen ist der Ursprung der Religion: was von Vernunft darin ist, ist auf Schleichwegen in sie hineingekommen. 19 [101] Das Studium der Psychologie gehörte zur antiken Rhetorik. Wie weit sind wir zurück! Die Parteipresse hat thatsächlich ein Stückchen Psychologie, auch die Diplomatie – alles als Praxis. Die neue Psychologie ist unerläßlich für den Reformator. 19 [102] Der neue Reformator nimmt die Menschen wie Thon. Durch Zeit und Institutionen ist ihnen alles anzubilden, man kann sie zu Thieren und zu Engeln machen. Es ist wenig Festes da. „Umbildung der Menschheit!" 19 [103] Es ist alles zuzugestehen, was die Religion Nützliches für den Menschen habe: direkt Glück und Trost verleihen. Wenn man die Wahrheit nicht mit dem Nutzen verschwistern kann, ist ihre Sache verloren. Weshalb sollte die Menschheit sich für die Wahrheit opfern? ja sie kann es gar nicht. Alles Wahrheitsbestreben hat bis jetzt den Nutzen im Auge: die entfernte Nützlichkeit der Mathematik war es, die der Vater an seinem studirenden Sohn achtete. Man hätte einen Menschen als blödsinnig genommen, der sich mit etwas beschäftigt, bei dem nichts herauskommt, oder gar Schaden. Man hielte den für gemeingefährlich, der den Menschen die Luft die sie athmen verdirbt. Ist die Religion nöthig, um zu leben, so ist der, welcher sie erschüttert, gemeingefährlich: ist die Lüge nöthig, so darf sie nicht erschüttert werden. Also – ist die Wahrheit möglich in Verbindung mit dem Leben? – 19 [104]
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Man sorgt für sich – und dann noch für den Sohn: die letztere Rücksicht hindert den Menschen ganz individuell und rücksichtslos zu leben. Er will Institutionen, die seinem Sohn zu Gute kommen. Daran hängt die Continuation der Menschheit: haben die Menschen keine Kinder, so fällt alles unter den Haufen. Die Sorge für das Kind sorgt für den Besitz und die gesicherte Stellung: für Eigenthum und Ordnung der Gesellschaft. Habsucht und Ehrgeiz sind die Triebe, welche vielleicht mit dieser Sorge um die Brut zusammenhängen: sie sind durch Vererbung sehr groß, auch wenn im speziellen Falle die Brut fehlt: wenn dem Streben das Ziel, der Kopf abgeschnitten ist: trotzdem bewegt der Leib sich noch. 19 [105] Ein guter Erzieher kann in den Fall kommen, den Zögling scharf zu beleidigen, nur um eine Dummheit, die er sagen will, im Keime zu ersticken. 19 [106] Der Märtyrer wider Willen und der Ehrliche der verachtet wird, als Feigling usw., während er nur so ist, wie er sein kann. 19 [107] Es ist in der Art der gebundenen Geister, irgend eine Erklärung keiner vorzuziehn; dabei ist man genügsam. Hohe Cultur verlangt, manche Dinge ruhig unerklärt stehen zu lassen: επεχω. 19 [108] Die dunkle Sache gilt als wichtiger gefährlicher als die helle. Die Angst wohnt im Innersten der menschlichen Phantasie. Die letzte Form des Religiösen besteht darin, daß man überhaupt dunkle unerklärliche Gebiete zugesteht; in diesen aber, meint man, müsse das Welträthsel stecken. 19 [109] Durch die Pfahlbauten usw. ist bewiesen, daß es einen Fortschritt der Menschheit gegeben hat. Ob aber auf Grund der letzten 4000 <Jahre> der Menschheit diese Annahme erlaubt ist, ist fraglich. Aber die Wissenschaft ist fortgeschritten: damit ist die höchste Form der bisherigen Cultur vernichtet und kann nie wieder entstehen. 19 [110] Der Instinkt ist einem Wurm gleich, dem man den Kopf abgeschnitten hat und der sich doch in der gleichen Richtung weiter bewegt. 19 [111] Die Liebe ist von Schopenhauer gar nicht erklärt. Das Geschlechtliche einmal. Dann die spezielle Neigung aus aesthetischen Miturtheilen, welche durch Vererbung sehr stark geworden sind. Der Schwarze will die Schwarze und verachtet die Weiße. Mit dem „Genius der Gattung" ist gar nichts gewonnen. 19 [112] 771
Nicht um unsterblich zu sein, nicht in Rücksicht auf die Propagation sind die Menschen verliebt: gegen Platon. Sondern des Vergnügens halber. Sie wären es, auch wenn die Weiber unfruchtbar wären; erst recht! Die griechische Päderastie nicht unnatürlich, deren causa finalis, nach Plato, sein soll, „schöne Reden zu erzeugen". 19 [113] Jeder Mensch nimmt an sich das höchste Interesse, ist aber gewohnt, das Urtheil der Anderen höher zu respektiren als das eigne: Glaube an Auktorität, angeerbt und angezogen, Fundament von Gesellschaft Sitte usw. Aus diesen beiden Prämissen ergiebt sich die Eitelkeit: der Mensch stellt seinen eigenen Werth durch das Urtheil Anderer vor sich selber fest. 19 [114] Alles Sittliche ist irgend wann einmal noch nicht „Sitte" sondern Zwang gewesen. Erst seit es Herkommen giebt, giebt es gute Handlungen. 19 [115] Unegoistische Regungen auf egoistische zurückzuführen ist methodisch geboten. Der sociale Instinkt geht auf den Einzelnen zurück, der begreift, daß er nur erhalten bleibt, wenn er sich einem Bunde einverleibt. Die Schätzung des Socialen wird dann vererbt und, da die nützlichsten Mitglieder auch die geehrtesten sind, immer fort gestärkt. Jetzt ist eine helle Flamme da, für das Vaterland alles zu leiden (auch für jede ähnliche Vereinigung z. B. die Wissenschaft). Der egoistische Zweck ist vergessen. Das "Gute" entsteht, wenn man den Ursprung vergißt. – Der elterliche Instinkt ist erst in der Gesellschaft großgezüchtet worden, man braucht Nachkommen, so nimmt man die Ehe in Schutz und ehrt sie. – Auch die unegoistische Liebe (zwischen den Geschlechtern) ist erst wohl eine erzwungene Sache, durch die Societät erzwungen. Später erst gewöhnt und vererbt und endlich wie eine ursprüngliche Regung. Zuerst geht der Trieb nur auf eine Befriedigung, ohne Rücksicht auf das andre Individuum, grausam. – Ob auch alle elterlichen Instinkte der Thiere auf Societät zurückzuführen sind? – 19 [116] Hier beginnen die "Gedanken und Entwürfe" aus Herbst und Winter 1876. 22 Dezember 1876 schrieb ich diese letzte Seite. 19 [117] Einleitung. An Goethe zu erinnern „wenn einer redet soll er positiv reden". 19 [118] Menschliches und Allzumenschliches. Gesellige Sprüche.
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19 [119] Die Sentenz als Thema der Geselligkeit. 19 [120] Die alte Cultur. 1. Das unreine Denken im Fundamente der Cultur. 2. Sittlichkeit. 3. Religion. 4. Kunst (Sprache). 5. Die Freigeister. 6. Die Frauen. 7. Die Heiligen. 8. Die Schätzung des Lebens. 9. Recht. 10. Völker. 11. Wissenschaft. 12. Verschwinden der alten Cultur.
[Dokument: Mappe loser Blätter] [Winter 1870 – 1877] 20 [1] 14. Es giebt eine doppelte Aesthetik. Die eine geht von den Wirkungen der Kunst aus und schliesst auf entsprechende Ursachen; sie steht mit diesem Verfahren unter dem Zauber der Kunst und ist selber eine Art Dichtung und Rausch: ein Hineinerklingen der Kunst in die Saiten der Wissenschaft. Die andere Aesthetik geht von den vielfach absurden und kindischen Anfängen der Kunst aus: sie vermag die thatsächlichen Wirkungen daraus nicht abzuleiten und wird desshalb versuchen, die Empfindung über die Kunst überhaupt zu ermässigen und jene Wirkungen auf alle Weise zu verdächtigen, als ob sie erlogen oder krankhaft seien. Woraus klar wird, welche Aesthetik der Kunst nützt, welche nicht und inwiefern beide keine Wissenschaft sein können. 20 [2] 773
16. In der That sind diese Folgen bedenklich. Wenn die schlechte, ungeschickte Handlung irgend wann einmal keinen Unmuth mehr nach sich zieht, so würde diese kalte Gesinnung, an die man sich in Hinsicht auf das Vergangene gewöhnt hätte, auch die Freude am Gethanen entwurzelt haben. Nun wird aber das Handeln des Menschen durch die Anticipation der zu er werbenden Lust oder Unlust bestimmt: fällt diese in Hinsicht auf sogenannte moralische Lust oder Unlust weg, so hält ihn keine Empfindung mehr von der schlechten Handlung zurück, und zöge ihn nichts mehr zu der guten That hin: es sei denn die Rücksicht auf das Nützliche oder Schädliche; die Moral wiche einer Nützlichkeitslehre. Der Mensch würde in Hinsicht auf das Kommende eben so kalt und klug werden wie in Hinsicht auf das Vergangene. Dann würde er für die kalte Ueberlegung reif sein, welchen Werth sein gegenwärtiges Leben habe, das immer noch schmerzhaft genug sein könnte, nebst der Erwägung, ob nicht vielleicht das Nichtsein dem Sein vorzuziehen sei. In Erkenntniss oder Witterung dieses Sachverhaltes, sträubt sich jeder Mensch und auch jede philosophische Ethik gegen die Aufhebung der Verantwortlichkeit: letztere mit Unrecht, da die Philosophie durchaus nicht auf die Consequenzen der Wahrheit, sondern nur auf sie selber zu achten hat. – Dass das Leben des Menschen als Ganzes keine Folge der Empfindung in Lust oder Unlust haben solle, sondern mit Vernichtung und völliger Empfindungslosigkeit schlösse, wird aus demselben Grunde gemeinhin abgelehnt: man fürchtet den Glauben an den Werth des Lebens zu schwächen und die Lust zum Selbstmorde zu ermuthigen. Der Wille zum Leben wehrt sich gegen die Schlüsse der Vernunft und versucht diese zu trüben: daher die Bedeutung, die man den letzten Augenblicken des Lebens auf dem Sterbebette beilegt, als ob da noch etwas zu fürchten oder zu hoffen wäre. 20 [3] 1. Eine Sentenz ist ein Glied aus einer Gedankenkette; sie verlangt, dass der Leser diese Kette aus eigenen Mitteln wiederherstelle: diess heisst sehr viel verlangen. Eine Sentenz ist eine Anmaassung. – Oder sie ist eine Vorsicht: wie Heraclit wusste. Eine Sentenz muss, um geniessbar zu sein, erst aufgerührt und mit anderem Stoff (Beispiel, Erfahrungen, Geschichten) versetzt werden. Das verstehen die Meisten nicht und desshalb darf man Bedenkliches unbedenklich in Sentenzen aussprechen. 20 [4] 12. In einen heftigen Affect der Liebe geräth man leichter aus einem Zustand der Verliebtheit, welche auf eine andere Person gerichtet ist, als aus dem der völligen Kälte und Freiheit des Gemüthes. 20 [5] 20. Wie viel mehr an Güte und Glück unter den Menschen gäbe es, wenn sie fürderhin das, was sie bisher Gotte gaben, einander gäben, an Zeit, Kraft, Vermögen, Ueberwindung des Herzens, Selbstlosigkeit, Liebe. Wie viel mehr? – Vielleicht nicht gar zu viel. 20 [6] 21. Mancher will sich durch Lob, Bewunderung, Neid Anderer von seinem eignen Werthe überzeugen oder überreden; daran liegt ihm viel mehr als an allem Uebrigen und er gebraucht jedes Mittel, sogar das der Selbstüberlistung und Selbstberauschung. Ja er zieht es hundertmal vor, sich lieber zu bewundern als sich zu nützen und liebt sich viel mehr als ihm vortheilhaft
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ist. An ihm ist die Eitelkeit nur das Mittel der Selbstgefälligkeit. Er will nicht sowohl hervorragen als sich hervorragend fühlen, gleichgültig ob er es ist. 20 [7] 25. Woher stammt der Neid der Götter? Es scheint, dass der Grieche nicht an ein ruhiges und stilles, sondern allein an ein übermüthiges und frevelhaftes Glück glaubte; es erbitterte ihn, den Glücklichen zu sehen. Es muss ihm wohl im Ganzen schlecht zu Muthe gewesen sein; denn seine Seele war allzu leicht beim Anblicke des Glückes verwundet. Wo es ein ausgezeichnetes Talent gab, da war die Schaar der Eifersüchtigen ausserordentlich gross. Traf jenes ein Unglück, so sagte man: es that auch Noth, er war gar zu übermüthig; und jeder hätte sich doch ebenso benommen, wenn er das gleiche Talent gelabt hätte, nämlich übermüthig; ebenso wie jeder bei Gelegenheit den Gott spielen mochte, der das Unglück auf das Talent schickt. 20 [8] 30. Die Eitelkeit hat zwei Quellen, entweder in dem Gefühl der Schwäche oder in dem der Macht. Der Mensch, sobald er seine Hülflosigkeit als Einzelner und das Maass seiner Kräfte und Besitzthümer wahrnimmt, sinnt auf Austausch mit den Nächsten. Je höher diese seine Kräfte und Besitzthümer taxieren, um so mehr kann er für sich bei diesem Austausche gewinnen. Nun kennt er von Allem, was er besitzt, die schwachen Seiten nur zu genau. Desshalb verdeckt er diese und stellt die starken glänzenden Eigenschaften an's Licht. Dies ist die eine Art der Eitelkeit; dazu gehört die andere, welche den Schein von glänzenden Eigenschaften, die in Wahrheit nicht da sind, erwecken will: beide zusammen bilden die sehende Eitelkeit (welche Verstellung ist). Der auf diese Weise eitle Mensch will Begehrlichkeit nach sich und damit höhere Taxation erzeugen. Neid entsteht, wenn einer begehrlich ist, aber keine oder kaum eine Aussicht hat, seine Begehrlichkeit durch Tausch zu befriedigen. Wir sind alle begehrlich nach fremdem Besitz. Einmal weil wir die Schwächen des eigenen Besitzes zu gut kennen und seine Vorzüge uns durch Gewöhnung reizlos geworden sind, sodann weil der Andere seinen Besitz in das günstigste Licht gestellt hat. Wir scheinen verliebter in unsern Besitz, um ihn begehrenswerther erscheinen zu lassen. Beim Tausch glaubt jeder den Andern übervortheilt und selber den höheren Gewinn zu haben. Der Tauschende hält sich für klug; die sehende Eitelkeit vermehrt im Menschen den Glauben an seine Klugheit. Der Tauschende meint, er sei der Täuschende, aber der, mit welchem er tauscht, glaubt von sich dasselbe. – Wir schätzen das Beneidetwerden, weil die Andern, welche uns nicht beneiden, sondern einen Tausch anbieten können, durch die gesteigerte Begehrlichkeit der Neidischen zu einer höheren Taxation unserer Güter gedrängt werden. – Das Gefühl der Macht, vererbt, erzeugt die blinde Eitelkeit (während jenes die sehende, nach dem Vortheile hin sehende war); die Macht discutiert und vergleicht nicht, sie hält sich für die höchste Macht, sie macht die höchsten Ansprüche; bieten andere ihre Begabungen und Kräfte mit demselben Anspruche an, so bleibt jetzt nur der Krieg übrig: durch einen Wettkampf wird über das Recht dieser Ansprüche entschieden oder durch Vernichtung des einen Mitbewerbers, mindestens seiner hervorragenden Fähigkeit. Eifersucht ist der gereizte Zustand des Mächtigen im Verhältniss zum mächtigen Mitbewerber; Neid, der hoffnungslose Zustand, ihm nicht zuvorkommen zu können: also wenn er im Kriege unterliegt. Der Neid bei sehender Eitelkeit entsteht aus ungestillter Begehrlichkeit; der Neid bei blinder Eitelkeit ist die Folge einer Niederlage. 20 [9]
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35. Die Resignation besteht darin, dass der Mensch die starke Anspannung aller Sehnen seines Denkens und Fühlens aufgiebt und sie in einen Zustand zurückversetzt, wo sein Denken und Fühlen gewohnheitsmässig und mechanisch wird. Dieses Nachlassen ist mit einer Lust verbunden und die mechanische Bewegung ist wenigstens ohne Unlust. 20 [10] 38. Man kann die grösste Begabung und geistige Erfindsamkeit unterdrücken, wenn man unersättlich im Producieren ist und dem Quellwasser keine Zeit lässt sich zu sammeln. 20 [11] 17. – – – Um das Beispiel einer übermässigen und fast verunglückten Inoculation zu nehmen: die Deutschen, ursprünglich von jener ausserordentlichen Geschlossenheit und Tüchtigkeit, welche Tacitus, der grösste Bewunderer ihrer Gesundheit, schildert, wurden durch die Inoculation der römischen Cultur nicht nur verwundet, sondern fast bis zum Verbluten gebracht: man nahm ihnen Sitte, Religion, Freiheit, Sprache, so viel man konnte; sie sind nicht zu Grunde gegangen, aber dass sie eine tief leidende Nation sind, haben sie durch ihr seelenvolles Verhalten zur Musik bewiesen. Kein Volk hat so viel wunde Stellen, wie die Deutschen, und eben desshalb haben sie eine grössere Begabung zu jeder Art von Freigeisterei. – Ich will bei dieser Betrachtung absichtlich bei dem Menschen verbleiben und mich hüten, aus den Gesetzen über die menschliche Veredelung auf Grund der schwächeren und entarteten Naturen, Schlüsse auf die thierischen Naturen und deren Gesetze zu machen. – Aus dieser ganzen Betrachtung kann der Freigeist den Beweis entnehmen, dass er auch den gebundenen Geistern nützlich ist: denn er hilft dazu, dass das Product der gebundenen Geister, ihr Staat, ihre Cultur, ihre Moral nicht erstarren und absterben; er lässt in Stamm und Aeste immer von Neuem den belebenden Saft der Verjüngung fliessen. 20 [12] 22. Es ist vielleicht das wichtigste Ziel der Menschheit, dass der Werth des Lebens gemessen und der Grund, wesshalb sie da ist, richtig bestimmt werde. Sie wartet desshalb auf die Erscheinung des höchsten Intellectes; denn nur dieser kann den Werth oder Unwerth des Lebens endgültig festsetzen. Unter welchen Umständen aber wird dieser höchste Intellect entstehen? Es scheint, dass die, welche die menschliche Wohlfahrt im Ganzen und Groben fördern, sich gegenwärtig noch ganz andere Ziele setzen, als diesen höchsten, werthbestimmenden Intellect zu zeugen. Man begehrt für möglichst viele ein Wohlleben herzustellen und versteht dieses Wohlleben noch dazu äusserlich genug. 20 [13] 4. Man liebt oft einen Ort, einen Menschen und gelt ihm fürderhin aus dem Wege; so gross ist die Neugierde des Herzens. 20 [14] 31. Man muss sehr flach sein, um aus den gewöhnlichen Gesellschaften nicht mit Gewissensbissen heimzukehren. 20 [15]
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34. Es ist practisch, im Verkehr mit Freunden und Gattinnen viel Vertrauen aber wenig Vertraulichkeit, im Verkehr mit der übrigen Welt dagegen wenig Vertrauen und viel Vertraulichkeit zu haben. 20 [16] 79. Einen Freigeist wird sein Gewissen mehr beissen, wenn er seine Ehe mit kirchlichen Ceremonien begonnen, als wenn er ein Mädchen verführt hat; obwohl letzteres tadelns- und strafenswerth, ersteres es nicht ist. 20 [17] 108. Wer seine Gesundheit lobt, der hat eine Krankheit mehr. 20 [18] Erziehung zum Freigeist. Erste Stufe:
unter der Herrschaft des persönlichen Nutzens.
Zweite Stufe: unter der Herrschaft des Herkommens. Dritte Stufe: unter der Herrschaft der Religion. Vierte Stufe: unter der Herrschaft der Kunst. Fünfte Stufe: unter der Herrschaft einer metaphysischen Philosophie. Sechste Stufe:
unter dem Gesichtspunct des allgemeinen Nutzens.
Siebente Stufe: unter der herrschenden Absicht auf Erkenntniss. Januar bis Mitte Februar Sorrent 1877 20 [19] Operette Positivismus ganz nothwendig Fatum verfeinerter Heroismus ein Staatsmann Menschenfreund 20 [20] Man liebt grobe Consequenz – Overbeck 777
20 [21] Melodie des europäischen Menschen: woraus sich ergiebt, daß noch einiges an diesem Menschen zu thun ist. Was ist jetzt,- die herrschende Melodie in Europa, l'idée fixe musicale? Eine Operettenmelodie (natürlich die Tauben ausgenommen oder W).
[Dokument: Notizbücher] [Ende 1876 – Sommer 1877] 21 [1] Gletscher Steinchen Blümchen 21 [2] Alle Schriftsteller erleben zu bewusst, zu unsicher. 21 [3] Kamm, Halsband, Ohrringe Broche – Ein Stil es ist Filigran. 21 [4] "anständige Verbrecher" "die Eitelkeit des Gelehrten" "Freundschaft" "Lob des Irrthums" "der europäische Mensch" 21 [5] Eitelkeit verträgt sich mit Selbstverachtung – höhere Warte des Selbstmordes. 21 [6] Periode der grossartigen Mot das Persönliche nicht das Unpersönliche. 21 [7] Offenheit Verstecktheit als Ausgangspuncte der Tugenden niederer Bevölkerung. Vornehm-vulgär für die höhere Kaste. 778
21 [8] Wir hören nicht gerne Handlungen erzählen, welche der Erzählende uns nicht zutraut: oder sie müssen ganz in's Erstaunliche und Ausnahmsweise gehen. 21 [9] der Freigeist die Ehe das leichte Leben psychologische Beobachtungen 21 [10] Die munteren hüpfenden Bewegungen des Wallfisches machen Freude als ob sie Spiel und Lust bedeuteten: inzwischen ist es die Qual die die Natur im Innern ihm macht. So bewundert man die Munterkeit grosser Staatsmänner. 21 [11] Menschheit, eine unordentlich fungirende Maschine mit ungeheuren Kräften. 21 [12] Auf vulkanischem Boden gedeiht alles. 21 [13] Schopenhauer zur Welt wie Blinder zur Schrift. 21 [14] Das Ahnungsvolle Intuitiv-Unlogische im deutschen Wesen ist Zeichen, dass es zurückgeblieben, noch mittelalterlich-bestimmt ist – manche Vorzüge liegen darin, wie in allen Dingen. 21 [15] Die deutsche Zukunft ist nicht die der deutschen Geldbeutel. 21 [16] Bildung des Auges wichtiger als des Ohres. 21 [17] Weg vom Freidenken geht nicht zum Freihandeln (individuell) sondern zum regierungsweisen Umgestalten der Institutionen. 779
21 [18] Säugethier Zeugethier 21 [19] elfter Finger – Fingerhut 21 [20] Es verwundet, den Hochverehrten sich zum Dank verpflichten. 21 [21] Traum von der Kröte. 21 [22] Ehrgeizige Menschen, durch Krankheit zur Unthätigkeit verurtheilt, werden sich selbst die bösesten Feinde. Der thätige Ehrgeiz ist eine Hautkrankheit der Seele, er treibt alles Schädliche nach aussen. 21 [23] Wer sich erlaubt öffentlich zu sprechen ist verpflichtet sich auch öffentlich zu widersprechen, sobald er seine Meinungen ändert. 21 [24] Es giebt nur Gründe gegen den Selbstmord individuell. Starke Medizin. Moralische Gründe gar nicht. 21 [25] Man muss nicht zu viel Recht haben wollen, aber auch nicht zu wenig. 21 [26] Der Freund der moralischste Mensch. Aristoteles. 21 [27] Auf That kommt alles an – Nutz. 21 [28] Für die jetzige, europäische Cultur ist characteristisch die langsame Berauschung und das Stillestehen an einer gewissen Grenze. 21 [29]
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Man denkt nie soviel an eine Freundin oder Geliebte, als wenn die Freundschaft oder Liebschaft im letzten Viertel steht. 21 [30] Wer an den Vergnügungen erst vorsichtig herumkostet, behält nachher kaum einen Mund voll Annehmlk<eit> übrig. 21 [31] Das Egoistische gilt als böse, in den meisten Fällen mit Unrecht; denn dass es schädigt, giebt ihm nicht diesen Character. Es will sich erhalten, Character der Nothwehr (selber Emotion der Nerven zu haben kann Bedürfniss sein). Ohne Bedürfniss schädigen und mit Absicht ist Unsinn. 21 [32] Man klagt dass socialistische Arbeiter denselben besitzsüchtigen bürgerlichen Sinn haben, sobald, sie das Ziel erreichen. Falsch: Das ist das Richtige. Die Anschauungen aus der Lage: niemand ist Schutzzöllner wenn – – – 21 [33] Alles gesellschaftliche Essen und Trinken, widerwärtig. 21 [34] Musik anhören Rauchen Essen und Trinken – von der lutherischen schwerfälligen Gemüthlichkeit aus. 21 [35] Gegen den Rausch. 21 [36] Nützlichkeit im Wesen der Moral – der Grenzbewohner als Mörder. 21 [37] Inconsequenz des Princips, mit in den Gang hineingerissen, eingewachsen, fortwachsend, mitunter dem Princip eine andere Richtung gebend. 21 [38] Glockenlaute – goldenes Licht durch die Fenster. Traum. Ursache a posteriori hineingedichtet wie bei den Augenempfindungen. 21 [39] 781
Eduard Leuchtenberg Roon Pflugschaar. 1 Sentenzen. 2 Zur Kenntniss des Menschen. 3 Allgemeine Orientirung. 4 Religion. 5 Kunst. 6 Moral. 21 [40] Liebe und Hass blödsichtig einäugig, ebenso „Wille". 21 [41] Unsern höchsten Stimmungen entsprechende Naturerklärung ist metaphysisch. 21 [42] Stelle im Tristram über Barbarei. C. Desmoulins Henker Cynismus die Hinrichtung erfrischt. 21 [43] Der Socialismus beruht auf dern Entschluss die Menschen gleich zu setzen und gerecht gegen jeden zu sein: es ist die höchste Moralität. 21 [44] Der Reiz der Wissenschaft hebt sich jetzt noch durch den Contrast. 21 [45] Wer es kann, der folge mir in der Gerechtigkeit gegen verschiedene Culturen. 21 [46] Philosophie ist die Fata Morgana welche die Lösung den ermüdeten Jüngern der Wissenschaften vorspiegelt. 782
21 [47] Inhaltsreiche Menschen haben in Bezug auf die selben Dinge Ebbe und Fluth, Zuneigung und Abneigung. Man muss jede dieser verschiedenen Strömungen – – – 21 [48] Die Wahrheit steht hier ganz auf dem Kopf, was für die Wahrheit besonders unschicklich ist. 21 [49] Leichenzug im Carneval einstmals historisch wie jetzt die anderen Wagen. 21 [50] Tristan: Auf- und Überschwung der Leidenschaft. 21 [51] Gewisse Erkenntnisse schützen sich selbst: man versteht sie nicht. 21 [52] Glaube an die Wahrheit Wer sich erniedrigt Mitleid schweigt 21 [53] Die Wissenschaft macht dem, welcher sie fördert, Lust: sehr wenig dem, welcher Resultate empfängt. Aber anders mit Kunst Religion usw. Wir müssen das Reich der Unwahrheit in uns halten: dies ist die Tragödie. 21 [54] Violette (mehr roth als blau) Tapeten Vorhänge nerven beruhigend, ein amerikanischer Arzt hat Wahnsinn damit kurirt. 21 [55] Hat man sich auch einer Religion entwöhnt, so glaubt man doch einen Satz besser bewiesen, wenn seine Stimmung uns religiös anmuthet z. B. "ein ganz sicheres Evangelium". 21 [56] A. Bedingungen der Erzieher.
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1. Beschaulichkeit 2. mehrere Culturen durchlebt 2. eine Wissenschaft. Themata: C. Erholungen – – – Centra der Cultur nöthig, sonst die Verflachung: warum die Höfe, die Universitäten, die grossen Städte es nicht sind? 21 [57] Pflüger. Richter zugl<eich> Seelsorger. Vorrede hinterdrein. 21 [58] Contrast tief leidender Betrachtung, ihrer Erfordernisse zur Tröstung und der wissenschaftlichen Cultur. 21 [59] Würdige Beurtheilung eines Metaphysikers wie Schopenhauer als Zeugniss für den Menschen (aber einen unwissenschaftlichen). 21 [60] Wenn der Mensch sofort mit Einsicht in die Wahrheit begabt wäre, die Schule des Irrtums nicht durchgemacht hätte? 21 [61] Wirkung des Feuertodes, die Grausamkeit als Kraftquelle für die Nächsten. 21 [62] Die Wahrheit einflusslos wie die gehende Sonne. 21 [63] Anfang: unsere Erzieher sind selber nicht erzogen. Schluss: Tod so lange wie möglich zu verscheuchen. Aeternität. 21 [64] Auferstehung je 300 Jahre. 784
21 [65] F. Wenn man etwas nimmt hat man es? Ja. Aber die Jungfrauschaft? 21 [66] Hat man angefangen öffentlich zu denken, so muß man sich erlauben, sich öffentlich zu widersprechen. 21 [67] Goethe's Lieblingsproblem im Wilhelm Meister. 21 [68] Separiren geistiger Phasen mit Bewusstsein, Zeichen von Cultur. 21 [69] Frauen Heirathen Trauung 21 [70] Optim Pessim nichts 21 [71] Graugrün Oberkleid und blau hell Unterkleid mit weissen Spitzen 21 [72] Die bösen Handlungen auf Irrthümern beruhend z. B. Rache auf dem Glauben an Verantwortlichkeit, ebenso Grausamkeit, soweit Triumph der Macht. 21 [73] Alle bösen Eigenschaften gehen auf den Erhaltungstrieb des Einzelnen zurück, der doch gewiss nicht böse ist. Missgunst bei Hunger, wenn ein anderer – – – 21 [74] Aus einem metaphysischen Zeitalter in ein realistisches [+] ist ein tödtlicher S<prung> Übergänge [+] 21 [75]
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Gegen Aristoteles, Geistergeschichten – durch die Kunst das Mitgefühl der Menschen gemehrt, darauf Moral, ebenso durch die Religion. 21 [76] Wie wäre der Genius der Cultur? 21 [77] Einzug der Wissenschaft in die Welt auf Schleichwegen nicht effectvoll. 21 [78] Warum zögern wir noch und betrüben uns selber durch unsere Freuden – es ist gleichgültig – aber wer uns ein schändliches [- -] geben will [– – –] sonst braucht man sich nicht zu schämen. 21 [79] Mädchen-Affe. 21 [80] Was wir lieben, daran sollen wir alle guten Seiten– – – Nun lieben wir uns selber – – – 21 [81] Entweder schätzen wir uns auf Grund eignen Urtheils oder auf Autorität. Vergleichung ein Hauptmittel zur Lust an uns. 21 [82] I Zur Geschichte der Cultur. II Menschliches, Allzumenschliches. III Sentenzen-Buch. IV Entstehung der griechischen Litteratur. V Schriftsteller und Buch. VI Philologica. 21 [83] Moralität hängt oft vom Erfolg . 786
21 [84] Schluss gelöbniss über Wissenschaft. Wenn ihr es könnt, werdet ihr müssen.
[Dokument: Notizbücher] [Frühling – Sommer 1877] 22 [1] Fenster grüner Gaze 22 [2] Den Freunden Gruss und Widmung. 22 [3] die – man verliert das Ufer, überlässt sich den Wogen. 22 [4] Roheit, welche sich als Kraft giebt – Kunst. 22 [5] So zu handeln, dass die Menschheit usw.: Da müsste man das Vortheilhafte übersehen können. Wer sagt dass überhaupt für das Ganze eine Art Handeln zuträglich sei? die Geschichte sagt das Gegentheil. Man ist dem Egoismus viel mehr verpflichtet. 22 [6] Unwissende Menschen, welche mit einer Philosophie bekannt geworden sind, haben den Eindruck, als ob sie jetzt allen anderen Wissenschaften überlegen wären und als ob sie in allem mitsprechen könnten – nichts irrthümlicher. 22 [7] Feuer Ernst und Glück, wie selten im Augen und Ausdruck eines Jünglings. 22 [8] 1. Philologie. 2. Der Stil berühmter deutscher Schriftsteller. 3. Zur Aesthetik der Musik. 4. Zur Moral. 787
5. Entstehung der griechischen Litteratur (Entstehung eines Buches darin). 6. Das Zeitalter "gegen Metaphysik". 7. Gefahren der Musik in der Zukunft. 22 [9] Jene uns verborgene Welt viel bedeutungsleerer als die bekannte. Unwillkürlich nimmt man das Gegentheil an. Aber Noth als Mutter, Irrthum als Vater haben den Glauben geschaffen. 22 [10] Vorrede über Philologie. Alles als Übung. Homer's und Hesiod's Wettkampf. Athene als Liebesgöttin. Solon's Elegie eine Sammlung. Der Prolog der Choephoren. Beispiel kunstvoller Responsion. Leben Demokrit<'s>. Sceptische Ansichten über Metrik. Conjectanea als Anhang. 22 [11] Einleitung in die Philosophie der Gegenwart. 1 Allgemeine Gesichtspuncte (Philosophen). 2 Zur Religion. 3 Zur Musik. 4 Zur Kunst. 5 Wissenschaft und Fortschritt. 22 [12] Vom Standpuncte des Nutzens ist die Erhaltung der Religion durchaus zu wünschen, Nutzen selbst im höchsten Sinn (Moralität) genommen (nämlich der vormundschaftliche Staat). Aber sie ist nicht zu erhalten, weil keine aufrichtigen Lehrer mehr da sind. 788
Also wäre das Erziehungswesen umzustürzen? nach der Absicht der katholischen Kirche? Aber alle sonstigen Vortheile des Lebens ruhen auf der Wissenschaft. Conflict nicht zu verschärfen – englische Praxis. Consequent sind die Menschen nicht. Das Aufhören dieses Glaubens entfesselt Kraft, bis jetzt durch metaphysische Tröstungen zurückgehalten. Deshalb nicht zu unterschätzen. Diese Kräfte sind den bestehenden Ordnungen feindlich. Ist Revolution nothwendig? – Zunächst ist ein kleiner Bruchtheil der europäischen Menschheit in Betracht. Den Regierungen freieste Behandlung anzurathen, nichts zu unterdrücken, vielmehr sich voranstellen in der geistigen Befreiung: je geistiger man die Masse macht, um so geordnetere Wege sucht sie. Von Seiten der Privatpersonen – Gründung eines Vereins dessen M sich aller religiösen Formen enthalten. Propaganda in der ganzen Welt. Damit Überbrückung der Nationen (Gegenstück zur katholischen Überbrückung). 22 [13] Auch Wein, auch Kunst (Feste) gehört zu diesen Tröstungen. Weg! Vereine gegen geistige Getränke sehr zu Diensten der Freigeister. 22 [14] Die nationale Idee und Kriege ausgezeichnete Gegenmittel gegen Revolution. Entflammung der religiösen Interessen (Sinn des Culturkampfs) ebenfalls. Eine zeitweilige Verrohung nicht zu scheuen (durch Übermacht von Naturwissensch Mechanik). 22 [15] Ob Lebenserfahrungen in Gestalt von Sentenzen dargestellt einen Nutzen für Andere haben, weiss ich nicht, für den welcher sie macht sind sie eine Wohlthat: sie gehören zu den Mitteln der Erleichterung des Lebens. Und von den unangenehmsten dornenreichsten Ereignissen oder Lebensstrichen kann man immer noch Sentenzen abpflücken (und einen Mundvoll Annehmlichkeit daraus haben) und sich dabei ein wenig wohl fühlen. 22 [16] Der Staat hat die Wissenschaft, nicht die Religion, die Astronomie, nicht die Astrologie zu vertreten. Letztere verbleibt dem Privatmann. 22 [17] 789
Es giebt kürzere und längere Bogen in der Culturentwicklung. Der Höhe der Aufklärung entspricht die Höhe der Gegen-Aufklärung in Schopenhauer und Wagner. Die Höhepuncte der kleinen Bogen kommen am nächsten dem grossen Bogen – Romantik. 22 [18] Unser Ziel muss sein: Eine Art der Bildungsschule für das ganze Volk – und ausserdem Fachschulen. 22 [19] Schlüssel zu der menschlichen Handlung. Ein anderer Schlüssel. 22 [20] Wie ist es möglich dass einer sich in allem verachtet (sich „sündhaft" durch und durch weiss) und doch noch liebt? Die wissenschaftliche Erklärung ist eine ganz andere als der religiöse Mensch sich giebt. Jene Liebe misst er Gotte zu: wenn er in alle möglichen Erlebnisse die Zeichen einer gütigen barmherzigen Gesinnung hineinlegt, jede getröstete Stimmung als Wirkung von dem auffasst, also alle besseren Empfindungen einem Wesen ausser sich als dem wirkenden Urheber zuschreibt, so bekommt die Liebe, mit der er sich im Grunde selber liebt, den Anschein einer göttlichen Liebe. Diese ist unverdient, schliesst der Mensch weiter, ist Gnade. Voraussetzung ist, dass der Mensch sich freiwillig fühlt und schlecht: dies nur durch eine falsche unwissenschaftliche Auslegung seiner Handlungen und Empfindungen. Er legt in den einen Theil seiner Handlungen den Begriff Sünde hinein, in den andern Theil den Begriff göttliche Gnadenwirkungen. Falsche Psychologie, Phantastik in der Ausdeutung der Motive ist Wesen, des Christenthums. 22 [21] – – – dem der Staat die Herrschaft des Teufels ist. 22 [22] Der Verleger denkt, aber der Buchdrucker lenkt. 22 [23] Oedes graues Auge frühesten Morgens, nasse scharfe Luft. 22 [24] Was ewig im Gesang soll leben, muss im Leben untergehen (Restauration-Kunstblüthe). 22 [25]
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Modif Tempos. – Man ehrt den grossen Künstler der Vergangenheit weniger durch jene unproductive Scheu, welche jede Note liegen lässt, wie er sie gestellt hat, als durch thätige Liebe und jene Versuche, ihn immer von neuem wieder zum Leben zu erwecken, im Leben zu erhalten. 22 [26] Freigeist. Psychologisches. Moral. Kunst. Religion. Metaphysik. Übergang von Religion zu Kunst mit "unreinem Denken", "unlogische Stellung zur Welt". Dann der „Dichter". Palliative. Erleichterungsmittel des Lebens. Kunst usw. 22 [27] Moral Religion Kunst zuletzt: Weise werden 22 [28] Metaphysik: einige Sprossen zurück, nur der erkennende Mensch soll immer über die Leiter hinausschauen, wir sind als volle Menschen nicht nur Erkenntniss. 22 [29] Wie der Nebel ein Gebirge niedriger erscheinen lässt, so geistige Verstimmung. 22 [30] Ich wünsche dass man esse um satt zu werden und nicht nur weil es gut schmeckt – Grund wozu Wissenschaft. 22 [31] Der Hunne Attila "Mensch Gewitterwolke". 22 [32] Es lehrt wenn nicht Bescheidenheit so doch Vorsicht. Schopenhauer Goethe. 22 [33] Erscheinung. Es liegt an unseren Irrthümern, welche in die Constitution unseres Intellects hineinreichen, dass Ding und Erscheinung sich nicht decken. 791
22 [34] Wenn ihr Augen habt zu sehen, so gebraucht auch den Mund zu sagen: "ich sah es anders" damit – – – Höhle von Salamanca. 22 [35] – wenn man dabei an die unbewussten Heilwirkungen und Ähnliches denkt – – – 22 [36] Alle Kunst weist den Gedanken an Werden ab. Alle will Improvisation scheinen, augenblickliches Wunder (Tempel als Götterwerk, Statue als Verzauberung einer Seele in Stein). So alle Musik. In gewisser Musik wird dieser beabsichtigte Effect durch Kunstmittel (Unordnung) nahe gelegt. 22 [37] Nöthig, den ganzen Positivismus in mich aufzunehmen, und doch noch Träger des Idealismus zu sein (Vorrede). 22 [38] Selbständ Leben. Buch 9. 22 [39] Musik der schönen Seele 22 [40] Verrechnung in der Anarchie 22 [41] Für jemand sterben ist ein geringer Beweis von Liebe. 22 [42] Dichter-Weisheit. 22 [43] Liebe so unparteilich wie der Regen der den Sünder bis auf die Haut unter Umständen nass macht. 22 [44] hängende Wolken der Trübsal, der Verstimmung 792
22 [45] Kindisch und schaurig und wehmutsvoll klang die Weise der Zeit mir oft: sehet nun sing ich ihr Lied? hört, ob das Glockenspiel nicht sich verwandelt in Glockenernst oder ob es klingt hoch herab wie vom Genua-Thurm Kindisch jedoch ach schaurig Schaurig und wehmutsvoll. 22 [46] Die Schule soll die grösste Freiheit im Rel lehren, das nüchternste strenge Denken. Die Unklarheit und die gewohnten Neigungen werden sehr weite Grenzen zielen. 22 [47] Geist der Jugendlichkeit, der Vorrechte, selbst zu einigen Unarten hat, – diess fehlt mir jetzt. 22 [48] Diese Schrift welche unter dem aufrührerischen Gesamttitel Unzeitgemässe Betrachtungen in vier aufeinander folgenden Theilen der Öffentlichkeit übergeben wurde und welche zwischen Ostern 1873 und August 1876 in allem Wesentlichen vollendet wurde – – – Herz erst in Unzeitgemässen Betrachtungen ausgeschüttet. Aber Wind und Wetter, welche das Leben noch mehr als unser Stern führen und die mir nicht gerade günstig <waren>, waren mir doch vielleicht darin günstig dass – – – 22 [49] – sei es auch dass dieselbe eine spottende Irreführung der deutschen Leichtgläubigkeit wäre – –– 22 [50] Jagd im Buche. Kräftiger Eber und auch zierlicher Rehe gewiss. 22 [51] 793
Der Charakter der dramatischen Musik, der deutschem Wesen ebenso fern steht wie der Charakter der Bismarckschen Politik. 22 [52] Wollen ist in jedem Falle eine Selbsttäuschung. Wir können es nur im Gegensatz zum Müssen, als freies Wollen denken: und dies ist ein Irrthum. 22 [53] – deutscher Jüngling – Ironie – Wohlgelauntheit Lachen Lächeln Wurmfrass Wichtigthun 22 [54] Wer Religion und Kunst – Goethe – – – Manfred: Eckermann Riemer – – – 22 [55] Flöte der Zeit vorblasen, dass rascher und wirbelnder ihr Tanz wird – später die grosse Ruhe, wo schauernd, wie in später Nachmitternacht alles gespenstisch scheint. Ich selbst bin in der Zeit, sie in mir – Selbsterlebtes, Selbst orgiasmus. 22 [56] Wille. Von einer Eigenschaft dieses Gefühls, zu wollen, wohin zu streben, ist uns unmittelbar gar nichts bewusst. 22 [57] Der Eine sagt: ich empfinde, aber alle Wesen empfinden, von Anfang an. Der Andere: ich kann es nie erklären, wie an einem bestimmten Puncte der historischen Entwicklung die Empfindung entstanden sein soll: also war sie immer. 22 [58] Weil ich in mir, als Letztes Unauflösbares, Empfindung antreffe, so muss dies in allen Wesen ebenfalls der Fall sein. Dass aber Empfindung bei Wesen ohne Gehirn (ohne Denken) wirklich das sei, was wir Empfindung nennen, und nicht ein bloss mechanischer Vorgang, der von uns nur als Empfindung ausgedeutet wird – dass Empfindung unter Beihülfe des Intellects zu Stande kommt. Gedächtniss Vorausbildung eigentlich ein Gehirnvorgang. 22 [59] das Jauchzen des erkenn<enden> Menschen 794
22 [60] Duell. Blut wischt ein übereiltes Wort weg, Blut giebt selbst einer zweideutigen Handlung hinterdrein die Achtung einer ehrlichen. – Selbstmord, bei Ajax um das überreizte Ehrgefühl zu befriedigen. 22 [61] Ist von Sorrento's Duft Nichts hängen blieben? Ist alles wilde, kühle Bergnatur, Kaum herbstlich sonnenwarm und ohne Lieben? So ist ein Theil von mir im Buche nur: Den bessern Theil, ihn bring ich zum Altar Für sie die Freundin Mutter Arzt mir war. 22 [62] Wir denken nicht nur innerhalb des Traumes, sondern der Traum selber ist das Resultat eines Denkens. 22 [63] Ich finde den Mangel an Gerechtigkeitssinn bei Frauen empörend. Wie sie mit ihrem dolchspitzen Verstand verdächtigen usw. 22 [64] Die früheren Schriften waren Gemälde, zu denen ich die Farben aus den Stoffen, welche ich darstellte, wie ein Chemiker nahm und wie ein Artist verbrauchte. 22 [65] Der Autor, das Mädchen, der Soldat, die Mutter ist das unegoistisch? 22 [66] Urprobleme. Sprache. Schriftsteller. Stil. Gymn.
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Erziehung. Freigeist. 22 [67] Wie es für den Menschen keine absolut menschlichen Gebärden giebt, sondern sie immer der Symbolik einer bestimmten Culturstufe, eines Volksthums, eines Standes eignen müssen, so giebt es bei keiner Kunst eine absolute Form. „Formen sprengen" bedeutet nur eine neue Symbolik zur Herrschaft bringen. Alle Form aber ist Convention oder Zwang. 22 [68] Freunde. Ihr glaubt mich allein – nun nehmt des Einsamen Gefährten auf. 22 [69] Ich habe wohl ein Recht, dieser Dichtung hier zu gedenken. Das was ich selber nicht zu sagen vermochte, was aber, wie viele Tropfen Lichtes, mir hier und da auf die Seele gefallen ist – das hat sie gesagt, die Lichttropfen weiter geworfen [-] Meine Ergänzung: und zwar wie ein zerbrochenes Stück Arm und Bein sich zu einem Ganzbilde verhält. 22 [70] Die guten Künstler sollen nicht hinhören. 22 [71] Nicht verdient – Stolz. 22 [72] – altberühmte Person Hutten Voltaire. Unter den 7 berühmten Schwaben Strauss voran Muth. 22 [73] Die gute Meinung über mich habe ich von Anderen erst gelernt und subtrahire fortwährend davon ab, mit Grübelei, wenn ich krank bin. Ein ruhiges freudiges Alleinsein mit mir, in guten Gedanken und Lachen – wie ich auch bin – 22 [74] Wann erst die Sprache als Wissenschaft galt – Schilderung der weiteren Sprach förderer. Manuscript Basel 796
22 [75] Mag Vernunft den Vernünftigen erbauen Der Künstler soll nur die Kunst verdauen Und doch hat ein Künstler dies Buch geschrieben Nicht seine Vernunft that's, es that sein Lieben. 22 [76] Wir hören wohl das Hämmern des Telegraphen aber verstehen es nicht. 22 [77] Charactere: wie sich der gemalte Schuh des Malers zum Schuh des Schuhmachers verhält, wie die Kenntniss des Malers vom Schuh zu der Kenntniss des Schuhes vom Schuhmacher, so Charactere von Dichtern entworfen zu wirklichen Characteren. 22 [78] Lipiner. Der schönste Erfolg, wenn es zwingt das Buch wegzulegen, Athem holen; Thränen tiefer Verzückung, trunkenes Schwimmen im Wohlk welcher die Augen schliessen macht, wie als ob man in die blaue Tiefe südlicher See taucht; wehmutsvolle Ergriffenheit, wenn wir vor uns selber beschämt über uns hinweg sehen. 22 [79] Wenn die Erkenntniss und immer wieder die Erkenntniss für viele andere Entbehrungen schadlos halten soll, und nun das Organ derselben der Kopf auch da noch Schmerz und Widerspruch – 22 [80] Im bairischen Walde fieng es an Basel hat was dazu gethan In Sorrent erst spann sich's gross und breit Und Rosenlaui gab ihm Luft und Freiheit Die Berge kreissten, am Anfang Mitt' und End'! Schrecklich für den, der das Sprichwort kennt!
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Dreizehn Monat bis die Mutter des Kinds genesen – Ist denn ein Elephant gewesen? Oder gar eine lächerliche Maus? – So sorgt sich der Vater. Lacht ihn nur aus! 22 [81] Jacob Burckhardt. Seit dies Buch mir erwuchs hält Sehnsucht mich und Beschämung Bis solch Gewächs dir einst hundertfach reicher erblüht. Jetzt schon kost' ich des Glücks, dass ich dem Grösseren nachgeh‘, Wenn er des goldnen Ertrags eigner Pflanzung sich freut. 22 [82] Die Form eines Kunstwerks hat immer etwas Lässliches. Der Bildhauer kann viele kleine Züge hinzuthun oder weglassen – ebenso der Klavierspieler. Man muss es so stellen, dass es wirkt: d. h. dass Leben auf Leben wirkt. Als ob jemand eine Geschichte aus seinem Leben erzählt. Einschlafen – 22 [83] Glückselige Insel Robinson 22 [84] Strauss – Wagner 22 [85] Bestätigung dass Jugend [– – –] Prometheus 22 [86] Beethoven – jener edle süsse Traum welcher aus dem Herzen in den Geist dringt und ihn in rothumflossenen Dämmerungen nach den Weiten spähen heisst: Hunger einer einsamen Seele. 22 [87] Das ausserordentliche Vergnügen welches man der Moral (bei Erzählungen) und der Kunst verdankt. 798
22 [88] Gef<esselter> Prom<etheus> als Regenbogenbrücke über den letzten Jahrtausenden schwebend, das höchste Cultur-Gedicht. 22 [89] Freundin! Der sich vermass, dich dem Glauben an's Kreuz zu entreissen, schickt dir dies Buch: doch er selbst macht vor dem Buch ein Kreuz. 22 [90] Als der Buddaismus mit seiner milden Reisesser-Moral den Kriegen entgegen arbeitete, wurde Indien aus der Geschichte der Culturmächte gestrichen. 22 [91] Der Eine hat eine undeutliche Schrift weil sein Auge schwach ist: so liest er sich selber schwer. Der andere sieht viel schärfer und liest auch dessen Handschrift besser als jener – – – 22 [92] Dem Meister und der Meisterin Entbietet Gruss mit frohem Sinn, Beglückt ob einem neuen Kind, Von Basel Friedrich Freigesinnt. Er wünscht dass sie mit Herzbewegen Auf's Kind die Hände prüfend legen Und schauen ob es Vater's Art Wer weiss? selbst mit 'nem Schnurrenbart – Und ob es wird, auf Zween und Vieren Sich tummeln in den Weltrevieren. In Bergen wollt' zum Licht es schlüpfen Gleich neugebornen Zicklein hüpfen So gleich zu suchen eignen Gang Und eigne Freude Gunst und Rang
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Oder vielleicht Einsiedlers Klaus Und Waldgethier sich wählet aus? Was ihm auf seinem Erdenwallen Beschieden sei: es will gefallen Nicht Vielen: Fünfzehn an der Zahl Den Andern werd'es Kreuz und Qual, Dass nur, zur Abwehr ärgster Tücke Des Meisters Treuaug segnend blicke! Dass nur den Weg zur ersten Reise Der Meisterin kluge Gunst ihm weise! 22 [93] Dies ist der Herbst. Die Sonne schleicht zum Berg Und steigt hinauf und ruht bei jedem Schritte. Auf müd gespannten Fäden spielt Der Wind sein Lied: Die Hoffnung flieht, Er klagt ihr nach. O Frucht des Baums, Du zitterst, fällst! Welch ein Geheimniss zeigte dir Die Nacht, Dass eis'ger Schauder deine Wange, Die purpurne, verhüllt? – Ich bin nicht schön, 800
So spricht die Sternenblume, Doch Menschen lieb' ich, Und Menschen tröst' ich, Sie sollen jetzt noch Blumen sehn, Nach mir sich bücken, Ach! und mich brechen – In ihren Augen glänzet dann Erinnerung an schönre auf Und Glück. Ich seh's und sterbe dann, Und sterbe gern. Dies ist der Herbst. – 22 [94] Um Mittag, wenn Der junge Sommer in's Gebirge steigt, Da spricht er auch, Doch sehen wir sein Sprechen nur: Sein Athem quillt wie eines Wandersmanns In Winterfrost: Es geben Eisgebirg und Tann und Quell Ihm Antwort auch, Doch sehen wir die Antwort nur. Denn schneller springt vom Fels herab Der Sturzbach wie zum Gruss Und steht als weisse Säule horchend da. Und dunkler noch und treuer blickt die Tanne 801
Als sonst sie blickt. Und zwischen Eis und todtem Graugestein Blickt plötzlich Leuchten auf: Wer deutet dir's? In todten Mannes Auge Wird wohl noch einmal Licht: Sein Kind umschlang ihn harmvoll Küsst' ihn. Da sagt des Auges Leuchten: „Ich liebe dich" Und Schneegebirg und Bach und Tann Sie sagen auch Zum Sommerknaben nur Dies Eine Wort: Wir lieben dich! Wir lieben dich! Und er – er küsst sie harmvoll, Inbrünstiger stets Und will nicht gehn: Er bläst sein Wort wie Schleier nur Von seinem Mund – ein schlimmes Wort. – Da horcht es rings Und athmet kaum: Da überläuft es schaudernd wie Ein Glitzern am Gebirg Rings die Natur: 802
Sie denkt und schweigt. – Um Mittag war's Mein Gruss ist Abschied Ich sterbe jung. – 22 [95] Wenn Denken dein Schicksal ist, so verehre dies Schicksal mit göttlichen Ehren und opfere ihm das Beste, das Liebste. So geht alle Zwietracht, alles Widerstrebende in Eintracht und Einklang zusammen. 22 [96] Schwur dessen der sich der Erkenntniss weiht. 22 [97] Ein Mensch der durch Lob und Tadel verdirbt – ein Baum der durch Sonnenschein und Regen verdirbt – beide sind schon verdorben und alles wird ihnen zum Anlass des Untergangs. 22 [98] Die Dichter werden dann um Elend und Unordnung förmlich beten lernen. 22 [99] Ich bin gewiss nicht undankbar, aber ich sehe keine Pflicht, mich mit dem Strick der Dankbarkeit zu erdrosseln. 22 [100] „das schönste Gedicht das je ein Jüngling gedichtet hat'" 22 [101] Zur Natur werden! 22 [102] Frauen welche denen Holbeins nicht nur äusserlich gleichen und vielleicht nichts wesentlich Verschiedenes in Kopf und Herzen tragen. 22 [103] Ironie gemein – ironische Kochkunst: unwissend stellen – um so schärfer unser Wissen hervortreten zu lassen.
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Gegensatz der Bescheidenheit: unwissend fühlen, wo der Andere das Wissen und Können bewundert. 22 [104] Schimpfworte hat jedermann gern, aber nie hat jemand geglaubt, dass ihm selber eins mit Recht zukomme. 22 [105] Die Klugheit gebietet, sich für das, was man gilt, auch zu geben oder vielleicht für etwas Geringeres. 22 [106] Ich habe noch nie einen bedeutenden Menschen gesehen der durch Lob verdorben worden ist. – Aber es ist ein sicherer Maassstab, wenn jemand durch Lobsprüche faul wird: er ist unbedeutend. 22 [107] Der Fehler fast jeder Philosophie ist ein Mangel an Menschen-Kenntniss, eine ungenaue psychologische Analyse. Die Moralisten fördern insofern die Erkenntniss mehr als sie sich bei den vorhandenen Analysen der menschlichen Handlungen nicht beruhigen. Um die falschen psychologischen Facta breitet der Philosoph sein Naturwissen und hüllt alles in metaphysisches Bedürfniss. 22 [108] Man wird die Menschen und die Welt viel harmloser finden. 22 [109] "Du sollst Gott über alle Dinge lieben." 22 [110] Die Entwicklung des Liedes der Oper giebt der absoluten Musik immer eine neue Zukunft (durch Vermehrung der Symbolik). 22 [111] Wie ein und dasselbe Christenthum dem Einen jene trübäugige Armsündermiene, dem Anderen ein fröhliches Wohlwollen in's Gesicht malt. 22 [112] Ein geübtes Auge, um aus der vielfach überschriebenen Handschrift der menschlichen Züge und Gebärden die Vergangenheit deutlich lesen zu können.
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22 [113] Bewusstes Empfinden ist Empfindung der Empfindung, ebenso bewusstes Urtheilen enthält das Urtheil dass geurtheilt wird. Der Intellect ohne diese Verdoppelung ist uns unbekannt, natürlich. Aber wir können seine Thätigkeit, als die viel reichere, aufzeigen. (Es ergiebt sich, dass „Empfindung" in dem ersten Stadium empfindungslos ist. Erst der Verdoppelung kommt der Name zu. Bei der Verdoppelung ist das Gedächtniss wirksam.) Fühlen ohne dass es durch das Gehirn gegangen ist: was ist das? – Lust und Schmerz reichen nur so weit als es Gehirn giebt. 22 [114] Es beliebt uns Mittelglieder zu nennen: es waren die entartenden Exemplare die sich so nicht halten konnten. 22 [115] Wenn jemand beim Anblick von Leidenden und Sterbenden hart ist, wie will man dies tadeln? 22 [116] Alles Bleibende ergreift, macht Sehnsucht – so sehr verwechseln wir das Bleibende und das Gute. 22 [117] Die Kraft wohnt in einem bestimmten Gegenstand, ist an eine Lokalität gebunden. Zerstört man den Gegenstand, so auch die Kraft oder das Leben. Der Gegenstand selbst wird "Tod" oder "Leben" genannt – "in dem Ei ist mein Tod" "hier ist dein Tod" – namentlich russisch – erinnert an die Metaphysiker welche auch die "Kraft" lostrennen vom Willen. 22 [118] "Bildungsphilister". Aber es ist nicht gut den Winden predigen dass sie uns den Staub nicht in's Gesicht blasen – sie laufen doch, wohin sie müssen. 22 [119] Nun ich seh' mehr als ihr Will 's euch erzählen 22 [120] ein blinder [-], doch in Schuh und Rock [- ]das ist, [– – –] [- -] als Ziege und Ziegenbock 22 [121] 805
Nun ist doch sonnenklar Ein Mensch hat Leib und Seele, ein Paar 22 [122] Ich weiss was Schatten ist und Licht Was Leib und Seele – ihr wisst's nicht 22 [123] Zieg an Ziege ohne Zagen Drängt an meinem Knie vorbei Leckt die Hand und scheint zu fragen Was ich blind und einsam sei. 22 [124] Da steckt wohl das Seelchen drin Er schont es auf Reisen das ist der Sinn 22 [125] Doch hinter seiner viel werthen Gestalt Hat jeder ein Bündel angeschnallt Da steckt er die Seele wohl hinein Er schont sie auf Reisen wie ich vermein' 22 [126] Wie der Leib den Schatten wirft Wirft die Seele Licht Schatten haben sie allgesamt Seele aber nicht 22 [127] Der blinde Knabe am Gebirgswege. 22 [128] 806
Ich denke ich habe durch meine Kritik von Religion Kunst Metaphysik ihren Werth gesteigert: Kraftquellen mehr als je. 22 [129] Er kommt dann heim und packt das Seelchen aus Dasselbe – – – 22 [130] Wenn ich so am Wege sitze Bis der Schatten kälter wird, Bis Ziegenherden ohne Furcht an meinem Knie vorbei 22 [131] Ich muss Heidelbeerkraut und Tann um mich und vor mir einen Gletscher haben. 22 [132] Sitz' den ganzen Tag am Wege Bis der Schatten kälter wird, Und in tieferem Gehege Abwärts zieht Herd und Hirt Alle Ziegen drängen trau Sich an meinem Knie vorbei Lecken mir die Hand dass ich blind und einsam sei 22 [133] <Sich> aller moralischen Phrase (Opfer Pflicht) entäussern, die grosse Comödie der Heuchelei gar nicht mitspielen (denn an diesen Fäden leiten Euch die, welche die Heuchelei durchschaut haben, nach ihren Zielen: weil sie Euch für zu feige und dumm halten). Wahr sein – das sei euch wieder „moralisch". 22 [134] Zwei Knaben sassen wohl im Heidelbeerkraut 807
und sahen dem grossen grünen Käfer zu, auf dessen Rücken ein Sonnentropfen glitzerte: er fiel aus kühlem Tannenschatten hinunter. 22 [135] Ecce ecce homunculus.
[Dokument: Mappe loser Blätter] [Ende 1876 – Sommer 1877] 23 [1] Die geschickten Bewegungen des Fußes beim Ausgleiten Stolpern Klettern sind nicht die Resultate eines blind wirkenden aber zweckmäßigen Intellektes, sondern einmal angelernt, wie die Bewegungen der Finger beim Klavierspiel. Jetzt wird sehr viel von dieser Fertigkeit gleich vererbt. 23 [2] Die Menschen setzen das Ähnliche hin als das Gleiche, z. B. den Priester gelegentlich als den Gott; den Theil gleich dem Ganzen z. B. in der Magie. 23 [3] Man kann nicht erklären, was die Empfindung ist: aber ich glaube, es ist nicht viel, wenn man es weiß, und gewiß steckt kein Welträthsel dahinter. 23 [4] Dieselbe Manier zu denken, welche noch jetzt die große Masse bestimmt, ja auch den gebildeten Einzelnen, falls er sich nicht sehr besinnt, hat den sämmtlichen Phänomenen der Cultur zum Fundamente gedient. Diese partie honteuse hat die ungeheuersten und herrlichsten Folgen nach sich gezogen, auch die Cultur hat ein pudendum zum Geburtsschooß, wie der Mensch.
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23 [5] Aristoteles meint, der Weise σοϕοζ sei der welcher sich nur mit dem Wichtigen Wunderbaren Göttlichen beschäftige. Da steckt der Fehler in der ganzen Richtung des Denkens. Gerade das Kleine Schwache Menschliche Unlogische Fehlerhafte wird übersehn und doch kann man nur durch sorgfältigstes Studium desselben weise werden. Der Weise hat sehr viel Stolz abzulegen, er hat nicht die Augenbrauen so hoch zu ziehn, zuletzt ist es der, welcher ein Vergnügen sich macht, das Vergnügen des Menschen zu stören. 23 [6] Ist für etwas z. B. Eigenthum Königthum die Empfindung erst erregt, so wächst sie fort, je mehr man den Ursprung vergißt. Zuletzt redet man bei solchen Dingen von „Mysterien", weil man sich einer überschwänglichen Stärke der Empfindung bewußt ist, aber genau genommen keinen rechten Grund dafür angeben kann. Ernüchterung ist auch hier von Nöthen, aber eine ungeheure Quelle der Macht versiegt freilich. 23 [7] Epikur's Stellung zum Stil ist typisch für viele Verhältnisse. Er glaubte zur Natur zurückzukehren, weil er schrieb, wie es ihm einfiel. In Wahrheit war so viel Sorge um den Ausdruck in ihm vererbt und an ihm großgezogen, daß er nur sich gehen ließ und doch nicht völlig frei und ungebunden war. Die „Natur", die er erreichte, war der durch Gewohnheit angezogene Instinkt für den Stil. Man nennt dies Naturalisiren; man spannt den Bogen etwas schlaffer z. B. Wagner im Verhalten zur Musik, zur Gesangskunst. Die Stoiker und Rousseau sind im gleichen Sinne Naturalisten: Mythologie der Natur! 23 [8] Kunst die Wissenschaft verhindernd bei den Griechen. 23 [9] Warum überhaupt einen Erhaltungstrieb annehmen? Unter zahllosen unzweckmäßigen Bildungen kamen lebensfähige, fortlebensfähige vor; es sind millionenjahrelange Anpassungen der einzelnen menschlichen Organe nöthig gewesen, bis endlich der jetzige Körper regelmäßig entstehen konnte und bis jene Thatsachen regelmäßig sich zeigen, welche man gewöhnlich dem Erhalttrieb zuschreibt. Im Grunde geht es dabei jetzt ebenso nothwendig, nach chemischen Gesetzen, zu, wie beim Wasserfalle mechanisch. Der Finger des Klavierspielers hat keinen "Trieb" die richtigen Tasten zu treffen, sondern nur die Gewohnheit. Überhaupt ist das Wort Trieb nur eine Bequemlichkeit und wird überall dort angewendet, wo regelmäßige Wirkungen an Organismen noch nicht auf ihre chemischen und mechanischen Gesetze zurückgeführt sind. 23 [10] Alle Ziele und Zwecke, die der Mensch hat, waren einmal in seinen Vorfahren auch bewußt; aber sie sind vergessen worden. Der Mensch hängt in seinen Richtungen sehr von der Vergangenheit ab: Platon αναµνησιζ. Dem Wurm ist der Kopf abgeschnitten, aber er bewegt sich in gleicher Richtung.
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23 [11] Auch dunkle Krankheiten z. B. Wahnsinn Veitstanz hat man verehrt und religiös idealisirt. Dabei sind ihre Äußerungen immer schöner und großartiger geworden. Derselbe Vorgang bei dem heftigen Affekt der Liebe, den man als Gott faßte, und so nicht nur für die Vorstellung, sondern in der Wirklichkeit idealisirte. 23 [12] Es war ein sehr glücklicher Fund Schopenhauers als er vorn "Willen zum Leben" sprach: wir wollen diesen Ausdruck uns nicht wieder nehmen lassen und seinem Urheber dafür im Namen der deutschen Sprache dankbar sein. Aber das soll uns nicht hindern einzusehen, daß der Begriff Wille zum Leben vor der Wissenschaft sich noch nicht das Bürgerrecht erobert hat, ebenso wenig als die Begriffe "Seele" „Gott" Lebenskraft usw. Auch Mainländers Reduktion dieses Begriffs auf viele individuelle "Willen zum Leben" bringt uns nicht weiter, – man erhält dadurch statt einer universalen Lebenskraft (welche zugleich als außer, über und in den Dingen gedacht werden soll!) individuale Lebenskräfte, gegen welche dasselbe einzuwenden ist wie gegen jene universale. Denn bevor der Mensch ist, ist auch sein Individualwille noch nicht: oder was sollte dieser sein? Im Leben selber aber sich äußernd – ja ist denn das Wille zum Leben? Doch mindestens Wille im Leben zu bleiben, also, um den bekannteren Ausdruck zu wählen, Erhaltungstrieb. Ist es wahr, daß, wenn der Mensch in sein Inneres blickt, er sich als Erhaltungstrieb wahrnimmt? Vielmehr nimmt er nur wahr, daß er immer fühlt, genauer daß er irgend an welchem Organe irgend welche, gewöhnlich ganz unbedeutende Lust- oder Unlustempfindungen hat: die Bewegung des Blutes des Magens der Gedärme drückt irgend wie auf die Nerven, er ist immer fühlend und immer wechselt dies Gefühl. Der Traum verräth diese innere fortwährende Wandlung des Gefühls und deutet sie phantastisch aus. Die Stellungen, die die Glieder im Schlafe einnehmen, machen eine Umstellung der Muskeln nöthig und beeinflussen die Nerven und diese wieder das Gehirn. Unser Sehnerv unser Ohr unser Getast ist immer irgend wie erregt. Aber mit dem Erhaltungstrieb hat diese Thatsache einer fortwährenden Erregtheit und Bemerkbarkeit des Gefühls nichts gemein. Der Erhaltungstrieb oder die Liebe zum Leben ist entweder etwas ganz Bewußtes oder nur ein unklares irreführendes Wort für etwas anderes: daß wir der Unlust entgehen wollen, auf alle Weise, und dagegen nach Lust streben. Diese universale Thatsache alles Beseelten ist aber jedenfalls keine erste ursprüngliche Thatsache, wie es Schopenhauer vom Willen zum Leben annimmt: – Unlust fliehen, Lust suchen setzt die Existenz der Erfahrung und diese wieder den Intellekt voraus. – Die Stärke der Wollust beweist nicht den Willen zum Leben, sondern den Willen zur Lust. Die große Angst vor dem Tode, mit der Schopenhauer ebenfalls zu Gunsten seiner Annahme vom Willen argumentirt, ist in langem Zeitraum großgezüchtet durch einzelne Religionen, welche den Tod als entscheidende Stunde ansehen; sie ist hier und da so groß geworden. Falls sie aber unabhängig davon beobachtet wird, so ist sie nicht mehr als Angst vor dem Sterben d. h. dem ungeprobten und vielleicht zu groß vorgestellten Schmerz dabei, dann vor den Verlusten, welche durch das Sterben eintreten. Es ist nicht wahr daß man das Dasein um jeden Preis will, z. B. nicht als Thiere, auf welche Schopenhauer so gern hinweist um die ungeheure Macht des allgemeinen Willens zum Leben festzustellen. 23 [13] Gelehrte wie Paul de Lagarde meinen, die Thatsachen des religiösen Bewußtseins müsse man vermöge der Wissenschaft festhalten. Aber wohl kann man sie constatiren, beschreiben, wissenschaftlich erklären: aber für das Individuum ist es dann mit ihnen vorbei. Denn der gute 810
Glaube an sie ist zerstört, wenn man begriffen hat, wie irrthümlich menschlich es in ihrem Wesen aussieht. Die Wissenschaft ist der Tod aller Religionen, vielleicht einmal auch der Künste. 23 [14] Der Weise kennt keine Sittlichkeit mehr außer der, welche ihre Gesetze aus ihm selbst nimmt; ja schon das Wort "Sittlichkeit" paßt für ihn nicht. Denn er ist völlig unsittlich geworden, insofern er keine Sitte kein Herkommen, sondern lauter neue Lebensfragen und deren Antworten anerkennt. Er bewegt sich auf unbegangenen Pfaden vorwärts, seine Kraft wächst, je mehr er wandert. Er ist einer großen Feuersbrunst gleich, die ihren eigenen Wind mit sich bringt, und von ihm gesteigert und weiter getragen wird. 23 [15] Um der Kultur seine Erkenntniß zu weihen, sind wir in dem denkbar glücklichsten Zeitpunkte: jede Freiheit der Erkenntniß ist erobert und abgerungen und doch stehen wir allen Grundempfindungen, auf denen die alte Kultur ruht, noch nahe. Es wäre möglich, daß dies letztere einige Generationen später fehlte! – 23 [16] Der Moment, in welchem die Luftschifffahrt erfunden und eingeführt wird, ist günstig für den Socialismus, denn der verändert alle Begriffe von Boden-Eigenthum. Der Mensch ist überall und nirgends, er wird entwurzelt. Man muß durch Gesellschaften sich sicherstellen, in strenger gegenseitiger Verpflichtung und Ausschließung aller Nichtverpflichteten. Sonst geht alles in die Lüfte und läßt sich anderswo nieder, wenn er nicht zahlen kann, nicht Verpflichtung halten mag. 23 [17] Menschen, die keine wissenschaftliche Cultur haben, schwatzen, wenn sie über ernste und schwere Gegenstände reden und thun es mit Anmaaßung. Sokrates behält recht. Das Wichtigthun der Menschen ist beinahe so schlimm als völlige Verrücktheit. Freilich, zum Handeln, zum Ausbau der Cultur ist dieser Eifer diese Art Wahnsinn für Meinungen sehr wesentlich. Ohne Wuth kommt nichts zu Stande. Trotzdem: da die Erkenntniß von Wahrheiten überhaupt da ist und Vergnügen gewährt, so wollen wir ihre Fahne hoch halten, wenn auch mit keiner Grimasse des Pathos. 23 [18] Selbst bei den freisinnigsten Denkern schleicht sich Mythologie ein, wenn sie von der Natur reden. Da soll die Natur das und das vorgesehen, erstrebt haben, sich freuen oder: "die menschliche Natur müßte eine Stümperei sein, wenn sie –„ Wille, Natur sind Überbleibsel des alten Götterglaubens. 23 [19] Alle die, welche Maximen machen, verfallen leicht in den Fehler, vom Menschen etwas Allgemeines auszusagen, was von Zeiten oder Classen der Gesellschaft gilt; aber dasselbe haben alle Philosophen gethan, welche über die Menschen geschrieben haben – erst die 811
Historie in Verbindung mit der Thiergeschichte läßt erkennen, wie groß der Mangel an Besonnenheit war. So verweist Schopenhauer, um zu zeigen, daß das Leben der Menschen einen moralischen metaphysischen Zweck habe, darauf, daß am Ende des Lebens man sich um seine moralischen Qualitäten bewußt werde – als ob ein solches Gefühl, wenn es jetzt wirklich allgemein existirte, irgend etwas anderes beweisen könnte als daß durch bestimmte Meinungen und Glaubenssätze die Menschen sich gewöhnt haben, in der Nähe des Todes an ihre Sünden zu denken: das heißt: eine solche Thatsache, wie sie Schopenhauer hinstellt, beweist, daß gewisse metaphysische Vorstellungen existiren und existirt haben, nicht aber daß sie wahr sind. Nun kommt dazu, daß es eine zeitlich sehr begrenzte Thatsache ist und daß z. B. im Alterthum man sehr oft, ohne an Sünden zu denken, starb. Und wenn es eine ganz allgemein, für alle Perioden der Menschheit und für jeden Menschen geltende Beobachtung wäre, es ist kein Beweis für die Wahrheit des von Schopenhauer behaupteten Satzes damit gegeben. 23 [20] Wenn Männer mit starken geistigen Bedürfnissen an die Verbindung mit Frauen denken, so überkommt sie das Gefühl als ob sie sich einem Netz näherten, welches sich immer mehr zusammenzieht, und sie argwöhnen einen immer währenden Zwang, ja zuletzt, wenn es sich um Erziehung der Kinder handelt, einen immer neu auflodernden Kampf. 23 [21] Wenn man eine Natur- und Menschenerklärung Sucht, welche unsern höchsten und stärksten Stimmungen entspricht, so wird man allein auf metaphysische stoßen. Wie es ohne alle diese erhabenen Irrthümer um die Menschen aussehen würde – ich glaube thierisch. Dächte man sich ein Thier mit dem Wissen einer strengen Naturkunde begabt, es würde damit kein Mensch werden, sondern im Wesentlichen als Thier fortleben, nur daß es in seinen vielen Mußestunden z. B. als Pferd vor der Krippe, gute Bücher läse, welche ihm es völlig begreiflich machten, daß die Wahrheit und das Thier sich gut vertragen. 23 [22] Fast bei allen Philosophen ist die Benutzung des Vorgängers und die Bekämpfung desselben nicht streng, und ungerecht. Sie haben nicht gelernt ordentlich zu lesen und zu interpretiren, die Philosophen unterschätzen die Schwierigkeit wirklich zu verstehen, was einer gesagt hat und wenden ihre Sorgfalt nicht dahin. So hat Schopenhauer ebensowohl Kant als Plato völlig mißverstanden. Auch die Künstler pflegen schlecht zu lesen, sie neigen zum allegorischen und pneumatischen Erklären. 23 [23] Ebensowohl Gott als der Teufel kann mit Fug und Recht zu dem Menschen sprechen: "Verachte nur Vernunft und Wissenschaft, – so haben wir dich unbedingt." In diesem Punkte sind sie Verbündete. Übrigens sieht man dabei daß es mit jenem "unbedingt" nicht viel auf sich hat. 23 [24] Ursprünglich sieht der Mensch alle Veränderungen in der Natur nicht als gesetzmäßig, sondern als Äußerungen des freien Willens d. h. blinder Zuneigungen Abneigungen Affekte 812
Wuth usw. an: die Natur ist Mensch, nur so viel übermächtiger und unberechenbarer, als die gewöhnlichen Menschen, ein verhüllter in seinem Zelte schlafender Tyrann; alle Dinge sind Aktion wie er, nicht nur seine Waffen Werkzeuge sind belebt gedacht. Die Sprachwissenschaft hilft beweisen, daß der Mensch die Natur vollständig verkannte und falsch benannte: wir sind aber die Erben dieser Benennungen der Dinge, der menschliche Geist ist in diesen Irrthümern aufgewachsen, durch sie genährt und mächtig geworden. 23 [25] Man wirft dem Socialismus vor, daß er die thatsächliche Ungleichheit der Menschen übersehe; aber das ist kein Vorwurf, sondern eine Charakteristik, denn der Socialismus entschließt sich, jene Ungleichheit zu übersehen und die Menschen als gleich zu behandeln d. h. zwischen allen das Verhältniß der Gerechtigkeit eintreten zu lassen, welches auf der Annahme beruht, daß alle gleich mächtig, gleich werthvoll seien; ähnlich wie das Christenthum in Hinsicht auf sündhafte Verdorbenheit und Erlösungsbedürftigkeit die Menschen als gleich nahm. Die thatsächlichen Differenzen (zwischen gutem und schlechtem Lebenswandel) erscheinen jenem zu gering, so daß man sie bei der Gesammtrechnung nicht in Anschlag bringt; so nimmt auch der Socialismus den Menschen als vorwiegend gleich, den Unterschied von gut und böse, intelligent und dumm als geringfügig oder als wandelbar: worin er übrigens in Hinsicht auf das Bild des Menschen, welches ferne Pfahlbauten-Zeiten gewähren, jedenfalls Recht hat: wir Menschen dieser Zeit sind im W<esentlichen> gleich. In jenen Entschluß, über die Differenzen hinweg zu sehen, liegt seine begeisternde Kraft. 23 [26] Immer mehr, je entwickelter der Mensch ist, nimmt er die Bewegung, die Unruhe, das Geschehen wahr. Dem weniger entwickelten scheint das Meiste fest zu sein, nicht nur Meinungen, Sitten, sondern auch Grenzen, Land und Meer Gebirge usw. Das Auge entschließt sich erst allmählich für das Bewegte. Es hat ungeheure Zeiten gebraucht, um das Gleichbleibende, scheinbar Dauernde zu fassen, das war seine erste Aufgabe, schon die Pflanze lernte vielleicht an ihr. Deshalb ist der Glaube an "Dinge" dem Menschen so unerschütterlich fest geworden, ebenso wie der an die Materie. Aber es giebt keine Dinge, sondern alles fließt – so urtheilt die Einsicht, aber der Instinkt widerspricht in jedem Augenblick. 23 [27] Schopenhauer concipirt die Welt als einen ungeheuren Menschen, dessen Handlungen wir sehen und dessen Charakter völlig unveränderlich ist: diesen können wir eben aus jenen Handlungen erschließen. Insofern ist es Pantheismus oder vielleicht Pandiabolismus, denn er hat kein Interesse, alles was er wahrnimmt in's Gute und Vollkommene umzudeuten. Aber diese ganze Unterscheidung zwischen Handlungen als Wirkungen und einem an sich seienden Charakter als Ursache ist schon am Menschen falsch, erst recht in Hinsicht auf die Welt. So etwas wie der Charakter hat an sich keine Existenz, sondern ist eine erleichternde Abstraktion. Und dies ist der Werth solcher Metaphysiker wie Schopenhauer: sie versuchen ein Weltbild: nur ist Schade, daß es die Welt in einen Menschen verwandelt: man möchte sagen, die Welt ist Schopenhauer im Großen. Das ist eben nicht wahr. 23 [28]
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Die bittersten Leiden sind die, welche keine große Erregung mit sich bringen – denn die hohe Leidenschaft, sie sei welche sie wolle, hat ihr Glück in sich – sondern jene, welche nagen, wühlen und stechen: also namentlich die, welche durch rücksichtslose Menschen, welche ihre Art von Übermacht benutzen, uns zugefügt werden: etwa mit dem erschwerenden Umstande daß sie dabei von einer intimen Vertrautheit mit uns, durch einen Verrath der Freundschaft, Gebrauch machen. Das einzige große Gefühl, mit welchem man über solche Leiden hinwegflöge, wäre Haß mit der Aussicht auf Rache, auf Vernichtung des Andern. Aber gewöhnlich sagt sich der bessere Mensch, daß der Übelthäter gar nicht so boshaft war als er uns erscheint und daß manche Verdienste für ihn sprechen: so unterdrückt er den Gedanken an Wiedervergeltung, wird aber dabei nicht froh; er ist an die Zeit gewiesen, an das Schwächerwerden aller Erinnerungen. – 23 [29] Zwei Dinge sind schädlich: der nagende Verdruß über eine Unbilde, mit seinem hundertfachen Wiederkäuen Ausspeien des Erlebten, dann matte imaginäre Rachebefriedigungen – eine wirkliche Rache und eine schnelle, wenn ihre Folgen uns auch mit Schmerz belasten, ist viel gesünder. Sodann das Leben in erotischen Vorstellungen, welche die Phantasie beschmutzen und allmählich eine Oberherrschaft gewinnen, bei welcher die Gesundheit leidet. – Die Selbsterziehung hat hier vorzubeugen: beiden Trieben muß auf die natürliche Art entsprochen werden und die Vorstellung rein erhalten werden. Die versagte Rache und die versagte Liebe machen den Menschen krank, schwach und schlecht. 23 [30] Vorsicht vor Ringen! (Ringe sind gewundene Schlangen, welche sich harmlos stellen.) diese golden gewundenen Schlangen stellen sich zwar harmlos – 23 [31] In welchem Gedichte wird soviel geweint wie in der Odyssee? – Und höchst wahrscheinlich wirkte das Gedicht auch ebenso auf die zuhörenden Griechen der älteren Zeit; jeder genoss dabei unter Tränen die Erinnerung an alles Erlittene und Verlorne. Jeder ältere Mann hatte eine Anzahl Erlebnisse mit Odysseus gemein, er fühlte dem Dulder alles nach. – Mich rührt oft das gar nicht Rührende, sondern das Einfache Schlichte Tüchtige bei Homer und ebenso in Hermann und Dorothea zu Thränen, z. B. Telemachos im ersten Gesang 23 [32] Vielleicht ist der unegoistische Trieb eine späte Entwicklung des socialen Triebes; jedenfalls nicht umgekehrt. Der sociale Trieb entsteht aus dem Zwange, welcher ausgeübt wird, sich für ein anderes Wesen zu interessiren (der Sclave für seinen Herrn, der Soldat für seinen Führer) oder aus der Furcht, mit ihrer Einsicht, dass wir zusammen wirken müssen, um nicht einzeln zu Grunde zu gehen. Diese Empfindung, vererbt, entsteht später, ohne dass das ursprüngliche Motiv mit in's Bewusstsein trete; es ist zum Bedürfniss geworden, welches nach der Gelegenheit ausschaut sich zu bethätigen. Für andere, für eine Gemeinsamkeit, für eine Sache (wie Wissenschaft) sich interessiren erscheint dann als unegoistisch, ist es aber im Grunde nicht gewesen. – 23 [33]
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Gründliche Kenner der Nordamerikaner sagen dass "die herrschende Meinung in den Vereinigten Staaten sich gegen jeden erklärt, der es unterlässt nach dem Höchsten zu streben, was für ihn erreichbar ist. Zurückbleiben aus freiem Willen gilt geradezu als Schande, als eine Art von Vergehen, gegen die Gesellschaft." 23 [34] Die Welt ohne Eros. – Man bedenke, dass, vermöge des Eros, zwei Menschen an einander gegenseitig Vergnügen haben: wie ganz anders würde diese Welt des Neides der Angst und der Zwietracht ohne diess aussehen! 23 [35] Tragische Jünglinge. – In der Neigung der Jünglinge für die Tragödie, in ihrer Manier sich trübselige Geschicke zu prophezeien, von den Menschen schlecht zu denken, ist etwas von jener Lust versteckt, welche in ihnen rege wird, wenn einer ausruft: "Wie weise ist er für sein Alter: wie kennt er schon den Lauf der Welt!" 23 [36] Es ist ein herrliches Schauspiel: aus lokalen Interessen, aus Personen, welche an die kleinsten Vaterländer geknüpft sind, aus Kunstwerken, die für einen Tag, zur Festfeier gemacht wurden, aus lauter Punkten kurzum in Raum und Zeit erwächst allmählich eine dauernde die Länder und Völker überbrückende Cultur; das Lokale bekommt universale, das Augenblickliche bekommt monumentale Bedeutung. Diesem Gange in der Geschichte muss man nachspüren; freilich stockt einem mitunter der Athem, so zersponnen ist das Garn, so dem Zerreissen nahe der Knoten, welcher das Fernste mit dem Späten verbindet! – Homer, erst für alle Hellenen, dann für die ganze hellenische Culturwelt und jetzt für jedermann – ist eine Thatsache, über die man weinen kann. 23 [37] Schopenhauer sagt mit Recht: "Die Einsicht in die strenge Nothwendigkeit der menschlichen Handlungen ist die Gränzlinie, welche die philosophischen Köpfe von den anderen scheidet." Falsch dagegen: "der letzte und wahre Aufschluß über das innere Wesen des Ganzen der Dinge muß nothwendig eng zusammenhängen mit dem über die ethische Bedeutsamkeit des menschlichen Handelns". Ebenso falsch: "zu schließen sind Alle, zu urtheilen Wenige fähig". 23 [38] Auch wenn man Martern und den Tod für seinen Glauben erduldet, beweist man nichts für die Wahrheit, sondern nur für die Stärke des Glaubens an das, was man für Wahrheit hält. (Das Christenthum freilich geht von dem unstatthaften Einfalle aus: "was stark geglaubt wird, ist wahr". "Was stark geglaubt wird, macht selig, muthig, usw.") Das Pathos der "Wahrheit" ist an sich nicht förderlich für dieselbe, insofern es dem erneuten Prüfen und Forschen entgegenwirkt. Es ist eine Art Blindheit mit ihm verbunden, ja man wird, mit diesem Pathos, zum Narren: wie dies Winkler sagt. Man muß von Zeit zu Zeit skeptische Perioden durchleben, wenn anders man ein Recht haben will sich eine wissenschaftliche Persönlichkeit zu nennen. Schopenhauer hat seine Position vielfach mit Fluchen und Verwünschungen und fast überall mit Pathos verschanzt; ohne diese Mittel würde seine Philosophie vielleicht
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weniger bekannt geworden sein (z. B. wenn er die eigentliche Perversität der Gesinnung es nennt, an keine Metaphysik zu glauben"). 23 [39] Der welcher über die inneren Motive des Menschen schreibt, hat nicht nur kalt auf sie hinzudeuten; denn so kann er seine Schlüsse nicht glaubhaft machen. Er muß die Erinnerung an diese und jene Leidenschaft, Stimmung erwecken können, und muß also ein Künstler der Darstellung sein. Dazu wiederum ist nöthig, daß er alle diese Affekte aus Erfahrung kennt; denn sonst wird er indigniren durch Kälte und den Anschein von Geringschätzung dessen, was die anderen Menschen so tief bewegt und erschüttert hat. Daher muß er die wichtigsten Stufen der Menschheit durchgemacht haben und fähig sein, sich auf sie zu stellen: er muß religiös, künstlerisch, wollüstig, ehrgeizig, böse und gut, patriotisch und kosmopolitisch, aristokratisch und plebejisch gewesen sein und die Kraft der Darstellung behalten haben. Denn bei seinem Thema ist es nicht wie bei der Mathematik, wo ganz bestimmte Mittel des Ausdrucks, Zahlen Linien da sind, welche ganz unzweideutig sind. Jedes Wort über die Motive des Menschen ist unbestimmt und andeutend, man muß aber stark anzudeuten verstehen, um ein starkes Gefühl darzustellen. 23 [40] Es giebt tröpfelnde Denker und fließende, wie sich die Quellen ebenso unterscheiden. Lichtenberg hält fleißig unter und bekommt endlich den Becher voll; aber er hat die Zeit nicht gehabt, uns den Becher voll zu reichen; seine Verwandten haben uns die Tropfen zugemessen. Da wird man leicht unbillig. An sich erweckt der fließende Denker den Anschein der vollen Kraft, aber es kann auch nur Täuschung sein. 23 [41] Nicht nur der Glaube an Gott, auch der Glaube an tugendhafte Menschen, Handlungen, die Schätzung "unegoistischer" Triebe, also auch Irrthümer auf psychologischem Gebiet haben der Menschheit vorwärts geholfen. Es ist ein großer Unterschied, ob einer die Helden Plutarchs mit Begeisterung nachahmt oder anzweifelnd analysirt. Der Glaube an das Gute hat die Menschen besser gemacht: wie eine Überzeugung vom Gegentheil die Menschen schwächer mißtrauischer usw. macht. Dies ist die Wirkung von La Rochefoucauld und vom Verfasser der psychologischen Beobachtungen: diese scharfzielenden Schützen treffen immer ins Schwarze, aber im Interesse der menschlichen Wohlfahrt möchte man wünschen, daß sie nicht diesen Sinn der Verkleinerung und Verdächtigung hätten. 23 [42] Der Reiz mancher Schriften z. B. des Tristram Shandy beruht unter anderem darauf, daß der angeerbten und angezogenen Scheu, manche Dinge nicht zu sehen, sich nicht einzugestehen, in ihnen widerstrebt wird, daß also mit einer gewissen "Keuschheit der Seele" ein schelmisches Spiel getrieben wird. Dächte man sich diese Scheu nicht mehr angeerbt, so würde jener Reiz verschwinden. Insofern ist der Werth der vorzüglichsten Schriften sehr abhängig von der ziemlich veränderlichen Constitution des inneren Menschen; die Stärkung des einen, die Schwächung des anderen Gefühls läßt diesen und jenen Schriftsteller ersten Ranges langweilig werden: wie uns z. B. die spanische Ehre und Devotion in den Dramatikern, das Mittelalterlich-Symbolische bei Dante mitunter unerträglich ist und ihren Vertretern in unserem Gefühle Schaden thut. 816
23 [43] Die außerordentliche Unsicherheit alles Unterrichtswesens hat darin ihren Grund, daß es kein gemeinsam anerkanntes Fundament mehr giebt, und daß jetzt weder Christenthum noch Alterthum noch Naturwissenschaft noch Philosophie eine überstimmende und herrschende Macht haben. Man bewegt sich schwankend zwischen sehr verschiedenen Ansprüchen: zuletzt will gar noch der Nationalstaat eine "nationale" Kultur, um damit die Unklarheit auf den Gipfel zu bringen – denn national und Kultur sind Widersprüche. Selbst an den Universitäten, den Festungen der Wissenschaft, giebt es Leute, welche über der Wissenschaft noch als höhere Mächte Religion oder Metaphysik, mit der Heimlichkeit von Verräthern, anerkennen. 23 [44] Die Lehrer ganzer Klassen setzen einen falschen Ehrgeiz hinein, ihre Schüler individuell verschieden zu behandeln. Nun ist aber im höchsten Maaße wahrscheinlich, daß der Lehrer, bei seiner geringen und einseitigen Beziehung zu den Schülern, sie nicht genau kennt und einige grobe Fehler in der Beurtheilung des einen oder andren Charakters macht (welche zudem bei jungen Leuten noch biegsam sind und nicht als vollendete Thatsache behandelt werden sollten). Der Nachtheil, welchen die Erkenntniß der Klasse, daß einige Schüler grundsätzlich immer irrthümlich behandelt werden, mit sich bringt, wiegt alle etwaigen Vortheile einer individualisirenden Erziehung auf, ja überwiegt bei weitem. Im Allgemeinen sind alle Lehrer-Urtheile über ein Individuum falsch und voreilig: und kein Beweis von wissenschaftlicher Sorgfalt und Behutsamkeit. Man versuche es nur immer mit einer Gleichsetzung und Gleichschätzung aller Schüler und nehme das Niveau ziemlich hoch, ja man behandle alles Censurengeben mit ersichtlicher Geringschätzung und beschränke sich darauf, den Gegenstand des Unterrichts interessant zu machen, so sehr daß der Lehrer es sich, vor der Klasse, anrechnet, wenn ein Schüler sich auffällig uninteressirt zeigt -: es ist ein bewährtes Recept, und läßt überdies das Gewissen des Lehrers ruhiger. – Es versteht sich übrigens von selbst, daß Klassenerziehung eben nur ein Nothbehelf ist, wenn der einzelne Mensch durchaus nicht von einem einzelnen Lehrer erzogen werden kann und somit der individuelle Charakter und die Begabung ihren eigenen Wegen überlassen werden müssen: was freilich gefahrvoll ist. Aber ist der einzelne Erzieher nicht ebenfalls eine Gefahr? – 23 [45] Verwunderung der Naiven daß der Staat die Erziehung und Schule nicht ganz unparteiisch fördert: wozu hätte er sonst sie mit aller Mühe in die Hand genommen! Das Mittel, die Geister zu beherrschen. (Anwartschaft aller Lehrer auf Stellen! so hat man sie.) 23 [46] Wir gewinnen eine neue Freude hinzu, wenn uns die metaphysischen Vorstellungen Humor machen, und die feierliche Miene, die Rührung der angeblichen Entdeckung, der geheimnißvolle Schauer wie eine alte Geistergeschichte uns anmuthet. Seien wir nicht gegen uns mißtrauisch! Wir haben doch die Resultate langer Herrschaft der Metaphysik in uns, gewisse complexe Stimmungen und Empfindungen, welche zu den höchsten Errungenschaften der menschlichen Natur gehören; diese geben wir mit jenem unschuldigen Spotte keineswegs auf. – Aber warum sollen wir nicht lachen, wenn Schopenhauer die Abneigung vor der Kröte uns metaphysisch erklären will, wenn die Eltern Gelegenheitsursachen für den Genius der Gattung werden usw.? 817
23 [47] Rée als scharfzielender Schütze zu bezeichnen welcher immer ins Schwarze trifft. 23 [48] Die moralische Selbstbeobachtung genügt jetzt keineswegs, Historie und die Kenntniß der zurückgebliebenen Völkerschaften gehört dazu, um die verwickelten Motive unseres Handelns kennen zu lernen. In ihnen spielt <sich> die ganze Geschichte der Menschheit ab, alle ihre großen Irrthümer und falschen Vorstellungen sind mit eingeflochten; weil wir diese nicht mehr theilen, suchen wir sie auch nicht mehr in den Motiven unserer Handl, aber als Stimmung Farbe Oberton erklingen sie mit darin. Man meint, wenn man die Motive des Menschen classificirt nach der nothwendigen Befriedigung seiner Ansprüche, dann habe man wirklich alle Motive aufgezählt. Aber es gab zahllose fast unglaubliche, ja verrückte Bedürfnisse, welche nicht so leicht jetzt zu errathen wären: diese alle wirken jetzt noch mit. 23 [49] Manchmal überkommt uns, etwa bei der tiefsten Erschütterung durch einen Trauerfall Treubruch Liebeswerbung, eine Empörung wenn wir die naturalistisch historische Erklärung hören. Aber solche Empfindungen beweisen nichts, sie sind wiederum nur zu erklären. Die Empfindungen sind tief geworden, aber nicht immer gewesen; und jenen höchsten Steigerungen entspricht kein realer Grund, sie sind Imaginationen. 23 [50] Wenn Genie's unangenehme, ja schlechte Eigenschaften haben, so muss man ihren guten Eigenschaften um so dankbarer sein, dass sie in solchem Boden, mit dieser Nachbarschaft, bei solchem Clima, solchem Wurmfrass doch diese Früchte zeitigten. 23 [51] Manches an dem wiederhergestellten Katholicismus wird von uns falsch beurtheilt, weil hier südländische Äusserungen der Religiosität vorliegen. Es sieht uns äusserlich, schwärmerisch unwahr-übertrieben an: aber der Protestantismus ist eben auch nur nordischen Naturen begreiflich. 23 [52] Die Musik ist erst allmählich so symbolisch geworden, die Menschen haben immer mehr gelernt, bei gewissen Wendungen und Figuren seelische Vorgänge mitzuverstehen. Von vorn herein liegen sie nicht darin. Musik ist nicht unmittelbarer Ausdruck des Willens, sondern erst in der Fülle der Kunst kann sie so erscheinen. 23 [53] Musik hat als gesammte Kunst gar keinen Charakter, sie kann heilig und gemein sein, und beides ist sie erst, wenn sie durch und durch symbolisch geworden ist. Jene sublimirten Verherrlichungen der Musik überhaupt, wie sie z. B. bei Bettina zu finden sind, sind Beschreibungen von Wirkungen gewisser Musik auf ganz bestimmte Individuen, welche alle jene sublimirten Zustände in sich haben und durch sie nun auch der Musik sich nähern. 818
23 [54] Man lobt das Unegoistische ursprünglich, weil es nützlich, das Egoistische , weil es schädlich ist. Wie aber, wenn dies ein Irrthum wäre! Wenn das Egoistische in viel höherem Grade nützlich wäre, auch den anderen Menschen, als das Unegoistische! Wie wenn man beim Tadel des Egoistischen immer nur an den dummen Egoismus gedacht hätte! Im Grunde übte man die Klugheit? – Freilich Güte, und Dummheit gehen auch zusammen, un bon homme usw. 23 [55] Nach der Novelle „am Malanger Fjord" zu urtheilen, ist Th. Mügge das einzige deutsche Erzählertalent im Scottischen Stile; er ist durchaus meisterhaft sicher. 23 [56] Lob Epicur's. – Die Weisheit ist um keinen Schritt über Epikur hinausgekommen – und oftmals viele tausend Schritt hinter ihn zurück. 23 [57] Wenn ich die Dinge nach dem Grade der Lust ordne, welche sie erregen, so steht obenan: die musikalische Improvisation in guter Stunde, dann das Anhören einzelner Sachen Wagner's und Beethovens, dann vor Mittag gute Einfälle im Spazierengehen haben, dann die Wollust usw. 23 [58] Der Genuss an der Kunst hängt von Kenntnissen (Übung) ab; auch bei der volksthümlichsten Kunst. Es giebt keine unmittelbare Wirkung auf den Hörer, ein Hinausgreifen über die Schranken des Intellects. Viele geniessen Wagnerische Musik nicht, weil sie nicht genussfähig durch höchste musikalische Bildung geworden sind. 23 [59] Menschen, welche sich in hervorragender Weise vom Ererbt-Sittlichen loslösen, "gewissen"los sind, können dies nur in der gleichen Weise werden, wie Missgeburten entstehen; das Wachsen und Sich-bilden geht ja nach der Geburt fort, in Folge der angeerbten Gewohnheiten und Kräfte. So könnte man in jenem Falle den Begriff der Missgeburt erweitern und etwa von Missgebilden reden. Gegen solche hat die übrige Menschheit dieselben Rechte wie gegen die Missgeburten und Monstra: sie darf sie vernichten, um nicht die Propagation des Zurückgebliebenen Missrathenen zu fördern. Z. B. der Mörder ist ein Missgebilde. – 23 [60] Eine gewöhnliche Erfahrung: es ging schlecht, aber viel besser als ich glaubte. 23 [61] Glück und Unglück. – Bei manchen Menschen zeigt sich das Glück ergreifender als ihr Unglück. – Wer kann heitere Musik aus einem Irrenhause heraus tönend ohne Thränen hören? 819
23 [62] Beim Gehen an einem Waldbach scheint die Melodie, die uns im Sinne liegt, hörbar zu werden, in starken zitternden Tönen; ja sie scheint mitunter dem inneren Bild der Melodie, welche wir verfolgen, vorauszulaufen um einen Ton und erlangt eine eigne Selbstständigkeit, welche aber nur Täuschung ist. 23 [63] Das Hauptelement des Ehrgeizes ist, zum Gefühl seiner Macht zu kommen. Die Freude an der Macht ist nicht darauf zurückzuführen, dass wir uns freuen, in der Meinung anderer bewundert dazustehen. Lob und Tadel, Liebe und Hass sind gleich für den Ehrsüchtigen, welcher Macht will. Furcht (negativ) und Wille zur Macht (positiv) erklären unsere starke Rücksicht auf die Meinungen der Menschen. Lust an der Macht. – Die Lust an der Macht erklärt sich aus der hundertfältig erfahrenen Unlust der Abhängigkeit, der Ohnmacht. Ist diese Erfahrung nicht da, so fehlt auch die Lust. 23 [64] Zeichen höherer Naturen. – Die metaphysischen Vorstellungen eines Menschen sind Zeugnisse für seine höhere Natur, edlere Bedürfnisse: insofern soll man immer im würdigsten Tone von ihnen reden. 23 [65] Nutzen und Nachtheil alles Märtyrerthums. – Die vielen Märtyrertode sind Kraftquellen für die Menschen geworden, nach der Seite der Überzeugungs-Hartnäckigkeit, nicht nach der Seite der strengen Wahrheitsprüfung. Die Grausamkeiten schaden der Wahrheit, aber nützen dem Willen (der sich im Glauben manifestirt). 23 [66] In wiefern tröstet es einen Unglücklichen, eine Strafe nicht verdient zu haben? Er wird zum Besten der Menschheit als Mittel benutzt, um sie abzuschrecken: aber er hatte es nicht verdient, als Mittel betrachtet zu werden? Sobald man aber einsieht, dass niemand etwas verdient, tröstet jener Gesichtspunkt auch gar nicht mehr. Übrigens sollte man sich unter allen Umständen darüber freuen, als Mittel zur Verbesserung der Menschen zu dienen. 23 [67] Übliche Form des Argwohns. – Man ist unbillig argwöhnisch gegen Bücher, deren Resultate uns missfallen – und umgekehrt. In einer Partei werden die Grundsätze des Parteikampfes niemals ernsthaft geprüft; nur die entgegenstrebenden Parteien und deren Interessen bringen eine starke Kritik hervor. 23 [68]
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Mancher trifft den Nagel, aber nicht auf den Kopf, er macht das Problem heillos schief. Es wäre besser, er hätte die Sache ganz verfehlt. 23 [69] Ablösung des Zufälligen durch das Nothwendige. – Im Stadium höherer geistiger Befreiung soll man alles Zufällig-Natürliche, mit dem man das Leben verknüpft hat, durch GewähltesNöthiges ersetzen. Wer unzureichende Freunde von früher her hat, soll sich lösen; einen neuen Vater, neue Kinder soll man sich unter Umständen wählen. 23 [70] Grosse Wirkungen falsch abgeleitet. – Grosse Wirkungen auf grosse Ursachen zurückzuführen ist ein sehr gewöhnlicher Fehlschluss. Erstens können es kleine Ursachen sein, welche aber eine lange Zeit wirken. Dann kann das Object, auf welches gewirkt wird, wie ein vergrössernder Spiegel sein: ein schlechter Dichter kann grosse Wirkung thun, weil das Publikum gerade ihm homogen ist, z. B. Uhland unter seinen schwäbischen Landsleuten. 23 [71] Suche die Einsamkeit, um Vielen oder Allen (der Vielsamkeit) am besten nützen zu können: wenn du sie anders suchst, so wird sie dich schwach krank und zu einem absterbenden Gliede machen. 23 [72] Nicht die Abwesenheit der Liebe, sondern die Abwesenheit der Freundschaft macht die unglücklichen Ehen. 23 [73] Der Ausdruck „Lohn" ist aus der Zeit her in unsere verschleppt, in welcher der Niedriggeborne Unfreie wenn man ihm überhaupt etwas gab oder gönnte sich immer beglückt begnadet fühlte, wo er wie ein Thier bald durch die Peitsche bald durch Lockungen aufgemuntert wurde, aber niemals etwas "verdiente". Wenn jener thut, was er thun muss, so ist kein Verdienst dabei: wird er trotzdem belohnt, so ist dies eine überschüssige Gnade, Güte. 23 [74] Die jetzigen Dramatiker gehen häufig von einem falschen Begriff des Dramas aus und sind Drastiker: es muß bei ihnen um jeden Preis geschrieen gelärmt geschlagen geschossen getödtet werden. Aber "Drama" bedeutet "Ereigniß" factum, im Gegensatz zum fictum. Nicht einmal die historische Ableitung des griechischen Wort-Begriffs giebt ihnen Recht. Die Geschichte des Dramas aber erst recht nicht; denn der Darstellung des Drastischen gehen die Griechen gerade aus dem Wege. 23 [75] Der ehemalige Wunderbeweis. – Wenn jemand seine Hand in glühend flüssiges Metall taucht und unversehrt herauszieht, so setzt es immer noch in Erstaunen aber ehemals meinte man gewiß ein Wunder zu sehen: der es that, glaubte selber an eine geheimnißvolle Kraft und 821
übernatürlichen Beistand. Auch der, welcher die Erklärung der Thatsache jetzt nicht weiß, meint doch, es gehe natürlich zu und es werde ihm so gut glücken wie jenem. Ehemals hätte man jede Behauptung damit beweisen können und jeder hätte einem solchen Beweise geglaubt. 23 [76] Die wissenschaftlichen Methoden entlasten die Welt von dem großen Pathos, sie zeigen, wie grundlos man sich in diese Höhe der Empfindung hineingearbeitet hat. Man lacht und wundert sich jetzt über einen Zank, der zwei Feinde und allmählich ganze Geschlechter rasend macht und zuletzt das Schicksal der Völker bestimmt, während vielleicht der Anlaß längst vergessen ist: aber ein solcher Vorgang ist das Symbol aller großen Affekte und Leidenschaften in der Welt, welche in ihrem Ursprunge immer lächerlich klein sind. Nun bleibt zunächst der Mensch verwundert vor der Höhe seines Gefühls und der Niedrigkeit des Ursprungs stehen; auf die Dauer mildert sich dieser Gegensatz, denn das beschämende Gefühl des Lächerlichen arbeitet still an dem Menschen, der hier einmal zu erkennen angefangen hat. – Es giebt anspruchsvolle Tugenden, welche ihre Höhe nur unter metaphysischen Voraussetzungen behaupten können z. B. Virginität; während sie an sich nicht viel bedeutet, als eine blasse unproduktive Halbtugend, welche überdies geneigt macht, über die Mitmenschen recht ketzerrichterisch abzuurtheilen. 23 [77] Unterscheidet man Stufen der Moralität, so würde ich als erste nennen: Unterordnung unter das Herkommen, Ehrfurcht und Pietät gegen das Herkommen und seine Träger (die Alten) als zweite Stufe. Gebundensein des Intellekts, Beschränkung seines Herumgreifens und Versuchens, Steigerung des Gefühls innerhalb des abgegrenzten Bereichs erlaubter Vorstellungen. – Dagegen die Forderung des unegoistischen unpersönlichen Handelns, worin man gewöhnlich den Ursprung der Moralität sieht, gehört den pessimistischen Religionen an, insofern diese von der Verwerflichkeit des ego, der Person ausgehen, also die metaphysische Bedeutung des „Radikal-Bösen" vorher in den Menschen gelegt haben müssen. Von der pessimistischen Religion her hat Kant sowohl das Radikal-Böse als den Glauben daß das Unegoistische das Kennzeichen des Moralischen sei. Nun existirt dies aber nur, wie Schopenhauer richtig sah, im Nachgeben gegen bestimmte Empfindungen, z. B. des Mitleidens Wohlwollens. Empfindungen kann man aber nicht fordern, anbefehlen. Die Moral hat aber immer gefordert, sie wird somit „mitleidig und wohlwollend sein" (unegoistisch sein) nicht als entscheidende Kennzeichen des „moralischen Menschen" gelten lassen: wie man ja thatsächlich oft von „unmoralischen Menschen" spricht, welche aber sehr gutmüthig und mitleidig sind. 23 [78] Die falsche Voraussetzung aller Moral ist der Irrthum, daß der Mensch frei handele und verantwortlich sei. Jedes Gesetz, jede Vorschrift (in Staat, Gesellschaft, Schule) setzt diesen Glauben voraus, wir sind so daran gewöhnt, daß wir loben und tadeln, auch nach der erworbenen Einsicht in die Unverantwortlichkeit: während wir doch die Natur nicht tadeln und loben. Unegoistische Handlungen fordern, wie es die pessimistischen Religionen thun, Liebe fordern: das setzt denselben Grundirrthum voraus. 23 [79]
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Um die Monogamie und ihre große Wucht zu erklären, soll man sich ja vor feierlichen Hypothesen hüten, wozu die erwähnte Scham vor einem Mysterium verführt. Zunächst ist an einen moralischen Ursprung gar nicht zu denken; auch die Thiere haben sie vielfach. Überall wo das Weibchen seltener ist als das Männchen oder seine Auffindung dem Männchen Mühe gemacht hat, entsteht die Begierde, den Besitz desselben gegen neue Ansprüche anderer Männchen zu vertheidigen. Das Männchen läßt das einmal erworbene Weibchen nicht wieder los, weil es weiß, wie schwer ein neues zu finden ist, wenn es dies verloren hat. Die Monogamie ist nicht freiwillige Beschränkung auf ein Weib, während man unter vielen die Auswahl hat, sondern die Behauptung eines Besitzthums in weiberarmen Verhältnissen. Deshalb ist die Eifersucht bis zu der gegenwärtigen Stärke angeschwollen und aus dem Thierreich her in überaus langen Zeiträumen auf uns vererbt. In den Menschenstaaten ist das Herkommen der Monogamie vielfach aus verschiedenen Rücksichten der Nützlichkeit sanktionirt worden, vor allem zum Wohle der möglichst fest zu organisirenden Familie. Auch wuchs die Schätzung des Weibes in derselben, so daß es von sich aus später das Verhältniß der Monogamie allen übrigen vorzog. – Wenn thatsächlich das Weib ein Besitzstück nach Art eines Haussklaven war, so stellte sich doch bei dem Zusammenleben zweier Menschen, bei gemeinsamen Freuden und Leiden, und weil das Weib auch manches verweigern konnte, in manchem dem Mann als Stellvertreter dienen konnte, eine höhere Stellung des Eheweibes ein. – Jetzt, wo die Weiber in den civilisirten Staaten thatsächlich in der Mehrheit sind, ist die Monogamie nur noch durch die allmählich übermächtig gewordene Sanktion des Herkommens geschützt; die natürliche Basis ist gar nicht mehr vorhanden. Ebendeshalb besteht hinter dem Rücken der feierlich behandelten und geheiligten Monogamie thatsächlich eine Art Polygamie. 23 [80] Wenn Schopenhauer dem Willen das Primat zuertheilt und den Intellekt hinzukommen läßt, so ist doch das ganze Gemüth, so wie es uns jetzt bekannt ist, nicht mehr zur Demonstration zu benutzen. Denn es ist durch und durch intellektual geworden (so wie unsere Tonempfindung in der Musik intellektual wurde). Ich meine: Lust und Schmerz und Begehren können wir gar nicht vom Intellekt mehr losgetrennt denken. Die Höhe Mannichfaltigkeit Zartheit des Gemüths ist durch zahllose Gedankenvorgänge großgezüchtet worden; wie die Poesie sich zur jetzigen Musik verhält, als die Lehrerin aller Symbolik, so der Gedanke zum jetzigen Gemüth. Diese Gedanken sind vielfache Irrthümer gewesen; z. B. die Stimmung der Frömmigkeit ruht ganz auf dem Irrthume. Lust und Schmerz ist wie eine Kunst ausgebildet worden, genau durch dieselben Mittel wie eine Kunst. Die eigentlichen Motive der Handlungen verhalten sich jetzt so wie die Melodien der jetzigen Musik; es ist gar nicht mehr zu sagen, wo Melodie, wo Begleitung Harmonie ist; so ist bei den Motiven der Handlungen alles künstlich gewebt, mehrere Motive bewegen sich neben einander und geben sich gegenseitig Harmonie Farbe Ausdruck Stimmung. Bei gewissen Stimmungen meinen wir wohl den Willen abgesondert vom Intellekt zu haben, es ist eine Täuschung; sie sind ein Resultat. Jede Regung ist intellektual geworden; was einer z. B. bei der Liebe empfindet, ist das Ergebniß alles Nachdenkens darüber, aller je damit verbundenen Metaphysik, aller verwandten miterklingenden Nachbarstimmungen. 23 [81] Bei dem Ursprunge der Kunst hat man nicht von aesthetischen Zuständen und dergleichen auszugehen; das sind späte Resultate, ebensowie der Künstler. Sondern der Mensch wie das Thier sucht die Lust und ist darin erfindsam. Die Moralität entsteht, wenn er das Nützliche sucht d. h. das was nicht sogleich oder gar nicht Lust gewährt, aber Schmerzlosigkeit 823
verbürgt, namentlich im Interesse Mehrerer. Das Schöne und die Kunst geht auf das direkte Erzeugen möglichst vieler und mannichfaltiger Lust zurück. Der Mensch hat die thierische Schranke einer Brunstzeit übersprungen; das zeigt ihn auf der Bahn der Lust-Erfindung. Viele Sinnenfreuden hat er von den Thieren her geerbt (der Farbenreiz bei den Pfauen, die Gesangfreude bei den Singvögeln). Der Mensch erfand die Arbeit ohne Mühe, das Spiel, die Bethätigung ohne vernünftigen Zweck. Das Schweifen der Phantasie, das Ersinnen des Unmöglichen, ja des Unsinnigen macht Freude, weil es Thätigkeit ohne Sinn und Zweck ist. Mit den Armen und Beinen sich bewegen ist ein Embryo des Kunsttriebs. Der Tanz ist Bewegung ohne Zweck; Flucht vor der Langeweile ist die Mutter der Künste. Alles Plötzliche gefällt, wenn es nicht schadet, so der Witz, das Glänzende, Starktönende (Licht Trommellärm). Denn eine Spannung löst sich, dadurch daß es aufregt und doch nicht schadet. Die Emotion an sich wird erstrebt, das Weinen, der Schrecken (in der Schauergeschichte) die Spannung. alles was aufregt, ist angenehm, also die Unlust im Gegensatz zur Langeweile als Lust empfunden. 23 [82] Wenn jemand die Wissenschaft zum Schaden der Menschheit fördert (- nämlich es giebt keine prästabilirte Harmonie zwischen der Förderung der Wissenschaft und der Menschheit) so kann man ihm sagen: willst du zu deinem Vergnügen die Menschheit deiner Erkenntniß opfern, so wollen wir dich dem allgemeinen Wohlbefinden opfern, hier heiligt der gute Zweck das Mittel. Wer die Menschheit eines Experimentes wegen vergiften wollte, würde von uns wie ein ganz gefährliches Subjekt in Banden gelegt werden; wir fordern: das Wohl der Menschheit muß der Grenzgesichtspunkt im Bereich der Forschung nach Wahrheit sein (nicht der leitende Gedanke, aber der, welcher gewisse Grenzen zieht). Freilich ist da die Inquisition in der Nähe; denn das Wohl aller war der Gesichtspunkt, nach dem man die Ketzer verfolgte. In gewissem Sinne ist also eine Inquisitions-Censur nothwendig, die Mittel freilich werden immer humaner werden. 23 [83] Eine alte Stadt, Mondschein auf den Gassen, eine einsame männliche Stimme – das wirkt als ob die Vergangenheit leibhaftig erschienen sei und zu uns reden wollte – das Heillose des Lebens, das Ziellose aller Bestrebungen, der Glanz von Strahlen darum, das tiefe Glück in allem Begehren und Vermissen: das ist ihr Thema. 23 [84] Man überschätzt an Künstlern die fortlaufende Improvisation, welche gerade bei den originellsten Künstlern nicht existirt, wohl aber bei den halb reproduktiven Nachahmern. Beethoven sucht seine Melodien in vielen Stücken, mit vielem Suchen zusammen. Aber die Künstler selbst wünschen, daß das Instinktive „Göttliche" Unbewußte in ihnen am höchsten taxirt werde und stellen den Sachverhalt nicht treu dar, wenn sie darüber sprechen. Die Phantasie (wie z. B. bei dem Schauspieler) schiebt viele Formen ohne Wahl heran, die höhere Cultur des Künstler-Geschmacks trifft die Auswahl unter diesen Geburten und tödtet die anderen ab, mit der Härte einer lykurgischen Amme. 23 [85]
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Der Vorzug unserer Cultur ist die Vergleichung. Wir bringen die verschiedensten Erzeugnisse älterer Culturen zusammen und schätzen ab; dies gut zu machen ist unsere Aufgabe. Unsre Kraft soll sich zeigen, wie wir wählen; wir sollen Richter sein. 23 [86] Zum Schluß: Vernunft und Wissenschaft, "des Menschen allerhöchste Kraft!" 23 [87] Wir nennen den moralisch, welcher in Hinsicht auf ein von ihm anerkanntes Gesetz sich unterordnet und demgemäß handelt, sei dies ein Staatsgesetz, sei es die Stimme Gottes in der Form religiöser Gebote, sei es selbst nur das Gewissen, oder die philosophische "Pflicht". Ob jemand mit Recht oder Unrecht solche Gesetze glaubt, ist gleichgültig; für die Moral ist nur wichtig, daß er nach ihnen sich richtet. – Innerhalb der verschiedenen Sphären des Egoismus ist ein Unterschied von Höher und Nieder: hier sich auf Seiten des höheren geläuterten Egoismus stellen nennen wir ebenfalls moralisch. – Gut nennen wir jetzt eine moralische Handlungsweise ohne weiteres noch nicht. Seelengüte wird dem Menschen zugesprochen, welcher nicht in Hinsicht auf ein Gesetz, sondern nach inneren Trieben gern Mitleiden Mitfreude Aufopferung usw. zeigt. Also Moralität zum Instinkt geworden, in ihrer Ausübung mit Lust verbunden, wie dies nach langer Vererbung und Gewohnheit zu geschehen pflegt: das heißt bei uns Gutsein. 23 [88] Man spricht von Milderungsgründen: sie sollen die Schuld mindern und darnach soll die Strafe geringer ausfallen. Aber geht man auf die Genesis der Schuld ein, so mildert man allmählich die Schuld weg, und dann dürfte es gar keine Strafe geben. Denn im Grunde giebt es eben, bei der Unfreiheit des Willens, keine Schuld. Läßt man die Strafe als Abschreckung gelten, so darf es keine Milderungsgründe geben, die sich auf die Entstehung der Schuld beziehen. Ist die That constatirt, so folgt die Strafe unerbittlich; der Mensch ist Mittel zum Wohle aller. Auch das Christenthum sagt: Richtet nicht! freilich mit der Rücksicht auf den persönlichen Nachtheil. Christus: "Gott soll richten". Dies ist aber ein Irrthum. 23 [89] Die Philosophen finden den Willen zum Leben namentlich dadurch bewiesen, daß sie das Schreckliche oder Nutzlose des Lebens einsehen und doch nicht zum Selbstmord greifen – aber ihre Schilderung des Lebens könnte falsch sein! – 23 [90] Wie jetzt auch die Frage der Kritik des Erkenntnißvermögens beantwortet werde, die Untersuchung ist so schwierig, die Gedankenselbstprüfung so subtil, daß ihr Resultat mit den Resultaten der bisherigen Religion Kunst und Moral gar nichts zu thun hat. Diese verdanken sie nicht solchen wissenschaftlichen Prozeduren, sondern höchst unwissenschaftlichen. Das Bedürfniß nach ihnen ist ohne alle Consequenz für die "Wahrheit", Realität ihrer Annahmen. 23 [91]
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Das gute Kunstwerk der Erzählung wird das Hauptmotiv so entfalten wie die Pflanze wächst, immer deutlicher sich vorbildend, bis endlich als neu und doch geahnt die Blüthe sich erschließt. Die Kunst des Novellisten ist namentlich die, das Thema präludiren zu lassen, es symbolisch mehrermal vorwegzunehmen, die Stimmung vorzubereiten, in welcher man den Ausbruch des Gewitters anticipirt, benachbarte Töne der Hauptmelodie erklingen zu machen und so auf jede Weise die erfindende Fähigkeit des Lesers zu erregen, als ob er ein Räthsel rathen sollte; dieses aber dann so zu lösen, daß es den Leser doch noch überrascht. – Wie der Knabe spielt, so wird der Mann arbeiten, ein Schulereigniß kann alle handelnden Personen eines politisch großen Vorgangs schon deutlich erkennen lassen. – Vielleicht ist auch eine Philosophie so darzustellen, daß man die eigentliche Behauptung erst zuletzt stellt und zwar mit ungeheurem Nachdruck. 23 [92] Es ist ein Zeichen von Größe, mit geringen Gaben hoch beglücken zu können. 23 [93] Die Philosophie großer Menschen entspricht gewöhnlich dem Lebensalter, in welchem die Conception dazu gemacht wurde. So ist für den, welcher die zwanziger Jahre Schopenhauers intim kennt, die ganze Philosophie Schopenhauers förmlich auszurechnen, zu prophezeien. 23 [94] Erzogen wird jeder Mensch, durch die Umstände, Gesellen, Eltern, Geschwister, Ereignisse der Zeit, des Ortes: aber dies ist alles Erziehung des Zufalls und vielfältig geeignet, ihn recht unglücklich zu entwickeln. Über diese Erziehung durch den Zufall ist aber die Menschheit im Ganzen noch nicht hinausgekommen: gehindert durch die metaphysische Vorstellung (an welcher selbst Lessing's scharfer Geist stumpf wurde), daß ein Gott die Erziehung der Menschheit in die Hand genommen habe und daß wir seine Wege nicht völlig begreifen können. Von nun an hat die Erziehung sich ökumenische Ziele zu stecken und den Zufall selbst im Schicksal von Völkern auszuschließen: – die Aufgabe ist so groß, daß eine ganz neue Gattung von Erziehern, ein neues Gebilde aus Ärzten Lehrern Priestern Naturforschern Künstlern der alten Kultur – – – 23 [95] Die Besonnenheit der antiken Dichter zeigt sich darin, daß sie das Gefühl von einer Stufe zur andern heben und es so sehr hoch steigern. Die Neuern versuchen es gerne mit einem Überfalle; oder: sie ziehen gleich mit aller Gewalt am Glockenstrange der Leidenschaft. Mißlingt es ihnen aber am Anfang, so sind sie auch verloren. Ein gutes Buch sollte, als Ganzes, einer Leiter der Empfindung gleichen, es müßte nur von Einer Seite her einen Zugang haben, der Leser müßte sich verwirrt fühlen, wenn er es auf eigne Faust versuchte, darin sich seinen Weg zu machen. Jedes gute Buch würde sich so selber schützen; wer schleppt gerne einen Strick mit aufgereihten Worten hinter sich drein, welche er zunächst nicht versteht? Im Gleichniß gesprochen: als man mir den standhaften Prinzen Calderon's in der Schlegelschen Übersetzung vorlas, gieng mir's so: ich zog meinen Strick eine Zeitlang und ließ ihn endlich mißmuthig fahren, machte einen neuen Versuch und zog wieder einen Faden voller Worte hinter mir, aber selten kam das erklärende erlösende Wort: Qual Verdruß, wie bei einem Bilde, auf dem alle Zeichnung verblaßt ist und Eines Vieles bedeuten kann.
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23 [96] Der Fehler der Moralisten besteht darin, daß sie um das Moralische zu erklären egoistisch und unegoistisch wie unmoralisch und moralisch einander gegenüber stellen, d.h. daß sie das letzte Ziel der moralischen Entwicklung, unsere jetzige Empfindung als Ausgangspunkt nehmen. Aber diese letzte Phase der Entwicklung ist durch zahlreiche Stufen, durch Einflüsse von Philosophie und Metaphysik, von Christenthum bedingt und durchaus nicht zu benutzen, um den Ursprung des Moralischen zu erklären. Überdies ist möglich, daß unegoistisches Handeln zwar ein uns geläufiger Begriff, aber keine wirkliche Thatsache, sondern nur eine scheinbare ist; die Ableitung des Mitleidens z. B. führt vielleicht auf den Egoismus zurück, ebenso wie es wahrscheinlich keine Thaten der Bosheit an sich, des Schädigens ohne persönlichen Grund usw. giebt. Das Reich des Moralischen ist vor allem das Reich des Sittlichen gewesen, man nannte aber den "guten Menschen" durchaus nicht zu allen Zeiten den, welcher die Sitte unegoistischer Handlungen, das Mitleiden und dergleichen hatte, sondern vielmehr den, welcher überhaupt den Sitten folgte. Ihm stand der böse Mensch, der ohne Sitte (der unsittliche) gegenüber. 23 [97] Das Mitgefühl mit dem Nächsten ist ein spätes Resultat der Cultur: wie weit muß die Phantasie entwickelt sein, um anderen wie uns selber nachzufühlen (erst wenn wir gelernt unsere eigenen nicht gegenwärtigen Schmerzen und Freuden durch die Erinnerung nachzufühlen und wie gegenwärtige zu empfinden). Vielen Antheil hat gewiß die Kunst, wenn sie uns lehrt, Mitleiden selbst mit vorgestellten Empfindungen unwirklicher Personen zu haben. 23 [98] Die gute Recension eines wissenschaftlichen Buches besteht darin, daß das aufgestellte Problem desselben besser gelöst wird; dem entsprechend wäre es, wenn die Kritik eines Kunstwerks darin bestünde, daß jemand das darzustellende Motiv des Kunstwerks besser darstellte, z. B. ein Musiker durch die That zeigte, daß ein Anderer mit seinem Thema nicht genug zu machen gewußt habe; insgleichen ein Bildhauer, ein Romanschreiber. Alle gute Kritik heißt Bessermachen; deshalb ist Bessermachen-können unerläßliche Bedingung für den Kritiker. – Nun sehe man aber die gewöhnlichen Kritiker der Kunst und Philosophie an! Sie sagen: "es gefällt uns nicht"; aber wodurch wollen sie beweisen, daß ihr Geschmack entwickelter höher steht, wenn nicht durch die That? 23 [99] Man redet von Ahnungen, als ob z. B. die Religion gewisse Erkenntnisse, wenngleich dunkel, vorausgefühlt habe. Ein solches Verhältniß zwischen Religion und Wissenschaft giebt es nicht. Das was man Ahnung nennt, ist aus ganz anderen Motiven aufgestellt als wissenschaftlichen, auf ganz anderen Methoden begründet, nicht einmal auf halbwissenschaftlicher Methode. Es ist zufällig, wenn das Eine dem Andern ähnlich sieht. Alle Religionen zusammen sollen gewisse gemeinsame Wahrheiten" dunkel enthalten, man glaubt damit einer Philosophie etwas Günstiges zu sagen, wenn man die religiöse Phantastik auf ihre Seite bringt: aber es ist umgekehrt. Wissenschaft und Religion werden sich in ihren Resultaten gar nicht ähnlich sehen können. 23 [100] 827
Es leben zu gleicher Zeit Menschen der verschiedensten Culturstufen selbst in den hochentwickelten Nationen neben einander fort. In Deutschland und der Schweiz ist alles, was von der Reformation an die Seelen beherrschte, noch irgendwo zurückgeblieben, es ist möglich, durch mehrere Jahrhunderte rückwärts zu wandern und Menschen dieser Zeiten zu sprechen. Ja, der sehr reich entwickelte Mensch (wie Goethe) lebt große Zeiträume, ganze Jahrhunderte voraus in den verschiedenen Phasen seiner Natur. 23 [101] Die Künstler sind die Advokaten der Leidenschaft, denn sie ist voller Effekt und giebt dem Künstler zehnmal mehr Gelegenheit, seine Kunst zu zeigen. So entsteht der Schein als ob die Leidenschaften etwas Herrliches, Begehrenswerthes seien, denn die Dichter nehmen die schönsten Worte in den Mund; eigentlich aber verherrlichen sie die Leidenschaft, weil sie sich am meisten verherrlichen wollen. Theilweise sind sie auch selber von leidenschaftlichem Hange und insofern ihre eignen Advokaten. Nun stellen sie aber in der Welt das Verherrlichenswerthe überhaupt fest, sie sind die geborenen Lobredner der Dinge – sie haben die Stellung des Menschen zur Leidenschaft wirklich verändert d.h. diese selbst subtilisirt, veredelt: z.B. die Liebe. Es ist ihr Verdienst. 23 [102] Frau von Staël: das Zeitalter der Einsicht hat seine Unschuld ebensowohl wie das goldene Zeitalter. 23 [103] Werth der Gewissensbisse für die geistige Befreiung. – Es ist kein Zweifel, dass zur Vermehrung der geistigen Freiheit in der Welt die Gewissenbisse wesentlich beigetragen haben. Sie reizten häufig zu einer Kritik der Vorstellungen, welche, auf Grund früherer Handlungen, so schmerzhaft wirkten; und man entdeckte, dass nicht viel daran war, ausser der Gewöhnung und der allgemeinen Meinung innerhalb der Gesellschaft, in welcher man lebte. Konnte man sich von diesen beiden losmachen, so wichen auch die Gewissensbisse. 23 [104] Künstler könnten die glücklichsten Menschen sein, denn ihnen ist es erlaubt, das Vollkommene zu erzeugen als Ganzes und sogar oft; während die Andern immer nur an kleinen Theilen eines Ganzen arbeiten. Aber die Künstler verwöhnen sich durch den Anblick des Vollkommnen Ganzen und fordern es auch sonst, sie machen höhere Ansprüche, sind neidisch, haben sich nicht gewöhnt sich zu beherrschen, sind dünkelhaft im Urtheil; und mitunter fehlen ihrem Schaffen die geniessenden und lobenden Empfänger. 23 [105] Das Pathos gehört in die Kunst. – Wer wird nicht giftig und innerlich aufgebracht, wenn er einen hört, der sein Leben gar zu pathetisch nimmt und von „Golgatha" und "Gethsemane" redet! – Wir vertragen das Pathetische nur in der Kunst; der lebende Mensch soll schlicht und nicht zu laut sein. 23 [106] 828
Das wollen was der Andre will und zwar seiner selbst wegen, nicht unsertwegen, das macht den Freund, sagt Aristoteles. Hier wird die unegoistische Handlung beschrieben; befinden wir uns gegen gewisse Personen dauernd in solcher Verfassung, so ist dies Freundschaft. Nach der jetzt üblichen Auffassung der Moralität ist das Freundesverhältniss das moralischeste, welches existirt. 23 [107] Man muss eine Zeitlang im metaphysischen Dunstkreis gelebt haben, nur um zu erfahren, wie wohl es thut in nüchterner Morgenfrische alle Dinge zu sehen und tiefen Athem in reiner Luft zu schöpfen. 23 [108] Richtig lesen. – Die Kunst richtig zu lesen ist so selten, dass fast jedermann eine Urkunde ein Gesetz einen Vertrag sich erst interpretiren lassen muss; namentlich wird durch die christlichen Prediger viel verdorben, welche fortwährend von der Kanzel herab die Bibel mit der verzweifeltsten Erklärungskunst heimsuchen und weit und breit Respect vor einer solchen künstlich spitzfindigen Manier, ja sogar Nachahmung derselben erwecken. 23 [109] Wenn die Moral auf den Gesichtspunkt des gemeinsamen Nutzens und Schadens zurückgeht, so ist es consequent das Moralische einer Handlung nicht nach den Absichten des Individuums, sondern nach der That und deren Erfolg zu bemessen. Das Seelenspalten und Nierenprüfen gehört einer Auffassung der Ethik an, bei der auf Nutzen und Schaden gar nichts ankommt. Man verlange die Handlung und kümmere sich nicht so ängstlich um die Motive (deren Verflechtung übrigens viel zu gross ist als dass man nicht bei jeder psychologischen Analysis einer Handlung immer etwas irrte). 23 [110] Geistige Übergangsclimata. – Wir haben uns freigemacht von vielen Vorstellungen – Gott ewiges Leben vergeltende jenseitige und diesseitige Gerechtigkeit, Sünde Erlöser Erlösungsbedürftigkeit -; eine Art vorübergehende Krankheit verlangt einen Ersatz an die leeren Stellen hin, die Haut schaudert etwas vor Frost, weil sie früher hier bekleidet war. Da giebt es Philosophien, welche gleichsam Übergangsclimata darstellen, für die, welche die frische Höhenluft noch nicht direct vertragen. – Vergleiche, wie die griechischen Philosophensekten als Übergangsklimata dienen: die alte Polis und deren Bildung wirkt noch in ihnen nach: wozu soll aber übergegangen werden? – es ist wohl nicht gefunden. Oder war es der Sophist, der volle Freigeist? 23 [111] Man soll gar nicht mehr hinhören, wenn Menschen über die verlorne Volksthümlichkeit klagen (in Tracht Sitten Rechtsbegriffen Dialecten Dichtungsformen usw.). Gerade um diesen Preis erhebt man sich ja zum Über-Nationalen, zu allgemeinen Zielen der Menschheit, zum gründlichen Wissen, zum Verstehen und Geniessen des Vergangnen, nicht Einheimischen. – Kurz, damit eben hört man auf, Barbar zu sein. 23 [112] 829
Das Erhabne wirkt als Reizmittel und Pfeffer auf Ermüdete, das Schöne bringt Beruhigung für die Erregten – das ist ein Hauptunterschied. Der Erregte scheut sich vor dem Erhabnen, der Ermüdete langweilt sich bei dem Schönen. Übrigens ist das Erhabne, wenn es vom Schönen disjungirt wird, identisch mit dem Hässlichen (d. h. allem Nicht-Schönen); und wie es eine Kunst der schönen Seele giebt, so auch eine Kunst der hässlichen Seele. 23 [113] Selbstverachtung. – Jene heftige Neigung zur Selbstprüfung und -Verachtung, die man bei Sündern Büssern und Heiligen wahrnimmt, ist häufig auf eine allgemeine Ermüdung ihres Lebenswillens (oder der Nerven) zurückzuführen, Regen welche sie auch die schmerzhaftesten Reizmittel anwenden. 23 [114] Erwägt man, wie die Irrthümer großer Philosophien gewöhnlich ihren Ausgangspunkt in einer falschen Erklärung bestimmter menschlicher Handlungen und Empfindungen haben, wie auf Grund einer irrthümlichen Analysis z. B. der sogenannten unegoistischen Handlungen eine falsche Ethik erbaut wird, dieser zu Gefallen dann wiederum Religion und mythologisches Unwesen zu Hülfe genommen werden und endlich die Schatten dieser trüben Geister auch in die Physik und gesamte Weltbetrachtung hineinfallen: erwägt man dies Alles, so sieht man ein, wie unbillig die gewöhnliche Unterschätzung der psychologischen Beobachtung ist: während eben die Oberflächlichkeit der psychologischen Beobachtung, also das Resultat jener Unterschätzung, dem menschlichen Denker und Urtheilen die gefährlichsten Fallstricke gelegt hat und fortwährend von Neuem legt. Woher nun diese Nichtachtung? Etwa weil auch dem leeren und eiteln Gesindel der Gesellschaft, männlichen oder weiblichen Geschlechts, gelegentlich solche Bemerkungen gelingen, weil man da in bestimmten Zeiten sich moralische Sentenzen im Carneval der geistreichen Gefallsucht als eine Art Confetti zuzuwerfen pflegte? – Aber der Unterschied ist eben außerordentlich, wenn ein streng wägender Denker den gleichen psychologischen Satz, der einmal auch in jenen Kreisen entdeckt worden ist, ausspricht und ihn mit dem Gepräge und Kopfbilde seiner Autorität versieht. Vielleicht thut jetzt, als Vorarbeit für alles zukünftige Philosophiren, nichts so noth, als Stein auf Stein, Steinchen auf Steinchen psychologische Arbeit zu häufen und tapfer jeder Mißachtung dieser Art Arbeit zu widerstreben. Zu welchen Entdeckungen wird eine spätere Generation, vermöge eines solchen Materials, kommen! – Freilich muß jener unehrliche Geist von diesem Gebiete fern gehalten werden, in dem z. B. Schleiermacher seine Schüler aufforderte, die psychologischen Thatsachen des religiösen Bewußtseins zu untersuchen: denn hier war es von vornherein auf die Erhaltung der Religion und auf das Fortbestehen der Theologie (welcher er eine neue Arbeit zuweisen wollte) abgesehen. – Wie es in der Natur keine Zwecke giebt und sie trotzdem Dinge von der höchsten Zweckmäßigkeit schafft, so wird auch die ächte Wissenschaft ohne Zwecke (Nutzen Wohlfahrt der Menschen) arbeiten, sondern ein Stück Natur werden, d. h. das Zweckmäßige (Nützliche) hier und da erreichen, ohne es gewollt zu haben. 23 [115] In den Eigenthümlichkeiten der indogermanischen Sprachen, welche sie gegen die Urmuttersprache abheben, hat man die zurückgelassenen Spuren der verlorenen Sprachen zu erkennen, welche ursprünglich die Völker hatten, die durch indogermanische Wanderstämme überfallen und besiegt wurden: und so daß die Sprache der Eroberer ebenfalls siegreich wurde
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und auf die Unterworfenen übergieng. Vielleicht im Accent und dergleichen blieb die alte Gewöhnung noch hängen und gieng auf die neu erlernte Sprache über. 23 [116] Dankbar gegen die Folgen. – Manche metaphysische und historische Hypothesen werden nur deshalb so stark vertheidigt, weil man so dankbar gegen ihre Folgen ist. 23 [117] Naturgenuss. – Bei einer Critik des Naturgenusses wird viel abzuziehn sein, was gar nicht auf aesthetische Erregung zurückgeht, z. B. bei Besteigung eines hohen Berges die Wirkung der dünnen leichten Luft, das Bewusstsein der besiegten Schwierigkeit, das Ausruhen, das geographische Interesse, die Absicht dasselbe schön zu finden was andere Leute schön fanden, der vorweggenommene Genuss, davon einmal zu erzählen. 23 [118] Es giebt Stellen im Nebensatz des Allegretto der Adur Symphonie, bei denen das Leben so angenehm hinschleicht wie die Minuten an einer Rosenhecke an Sommerabenden. 23 [119] Die Hoffnung ist der Regenbogen über den herabstürzenden jähen Bach des Lebens, hundertmal vom Gischt verschlungen und sich immer von neuem zusammensetzend, und mit zarter schöner Kühnheit ihn überspringend, dort wo er am wildesten und gefährlichsten braust. 23 [120] Unterschätzen wir auch die flacheren lustigen lachsüchtigen Weiber nicht, sie sind da zu erheitern, es ist viel zu viel Ernst in der Welt. Auch die Täuschungen auf diesem Gebiete haben ihren Honigseim. – Wenn die Frauen tüchtiger inhaltsreicher werden, so giebt es gar keine sichere Stätte für harmlose Thorheit auf der Welt mehr. Liebeshändel gehören unter die Harmlosigkeiten des Daseins. 23 [121] Ein socratisches Mittel. – Socrates hat Recht: man soll, um vom Eros nicht ganz unterjocht zu werden, sich mit den weniger schönen Weibern einlassen. 23 [122] Wenn sich einer an das Buchmachen gewöhnt hat, so zieht er seine vielleicht ganz hellen Gedanken so auseinander, daß sie schwerfällig und dunkel werden. So hat sich selbst Kant durch die Gelehrten-Manier des Büchermachens (welches ja sogar im herkömmlichen Urtheil als akademische Verpflichtung gilt) zu jener weitschweifigen Art der Mittheilung bestimmen lassen, welche bei ihm doppelt bedauerlich ist, weil es ihm (seiner akademischen Pflichten wegen) immer an Zeit gefehlt hat: er mußte während des Schreibens sich häufig erst wieder in seine Gedankenkreise eindenken. Hätte er sich begnügt, das in kürzester Form, in der Weise Hume's, mitzutheilen, was er vor dem Schreiben (vielleicht auf einem Spaziergange) in sich 831
festgestellt hatte, so wäre der ganze Streit über das richtige Verständniß Kant's, der jetzt noch fortlebt, überflüssig gewesen. 23 [123] Frühzeitige Redefertigkeit schleift sich alle Gedanken zum sofortigen wirkungsvollen Gebrauche zurecht und ist deshalb leicht ein Hinderniß tiefen Erfassens und überhaupt einer gründlichen Einkehr in sich selbst. – Deshalb pflegen demokratische Staaten die Redefertigkeit auf den Schulen. – 23 [124] Erfahrene Menschen kehren ungern zu Gegenden, zu Personen zurück, die sie einst sehr geliebt haben. Glück und Trennung sollen an ihren Enden zusammengeknüpft werden: da trägt man den Schatz mit fort. 23 [125] Während Schopenhauer von der Welt der Erscheinung aussagt, dass sie in ihren Schriftzügen das Wesen des Dinges an sich zu erkennen gebe, haben strengere Logiker jeden Zusammenhang zwischen dem Unbedingten, der metaphysischen Welt und der uns bekannten Welt geleugnet: so dass in der Erscheinung eben durchaus nicht das Ding an sich erschiene. Von beiden Seiten scheint mir übersehen, dass es verschiedne irrthümliche Grundauffassungen des Intellectes sind, welche den Grund abgeben, weshalb Ding an sich und Erscheinung in einem unausfüllbaren Gegensatz zu stehen scheinen: wir haben die Erscheinung eben mit Irrthümern so umsponnen, ja sie so mit ihnen durchwebt, dass niemand mehr die Erscheinungswelt von ihnen getrennt denken kann. Also: die üblen, von Anfang an vererbten unlogischen Gewohnheiten des Intellectes haben erst die ganze Kluft zwischen Ding an sich und Erscheinung aufgerissen; diese Kluft besteht nur insofern unser Intellect und seine Irrthümer bestehen. Schopenhauer hinwiederum hat alle characteristischen Züge unserer Welt der Erscheinung – d. h. der aus intellectuellen Irrthümern herausgesponnenen und uns angeerbten Vorstellung von der Welt – zusammengelesen und statt den Intellect als Schuldigen anzuklagen, das Wesen der Dinge als Ursache dieses thatsächlichen Weltcharacters angeschuldigt. – Mit beiden Auffassungen wird eine Entstehungsgeschichte des Denkens in entscheidender Weise fertig werden: deren Resultat vielleicht auf diesen Satz hinauslaufen dürfte: das was wir jetzt die Welt nennen, ist das Resultat einer Menge von Irrthümern welche in der gesammten Entwicklung der organischen Wesen allmählich entstanden, in einander verwachsen und uns jetzt als aufgesammelter Schatz der ganzen Vergangenheit vererbt werden. Von dieser Welt als Vorstellung vermag uns die strenge Wissenschaft thatsächlich nur in geringem Maasse zu lösen, insofern sie die Gewalt uralter Gewohnheiten nicht zu brechen vermag: aber sie kann die Geschichte der Entstehung dieser Welt als Vorstellung aufhellen. 23 [126] Es ist wahr, niemals ist in Deutschland so viel philosophirt worden wie jetzt: selbst zur Zeit der höchsten Gewalt Hegel's über die deutschen Köpfe erschienen nicht annähernd so viele philosophische Schriften wie in den letzten 15 Jahren. Aber irre ich mich? Oder habe ich Recht zu vermuthen, daß eine große Gefahr in diesem Anzeichen liegt? Die Gattung des jetzt beliebten Philosophirens ist derart, daß sie als Symptom einer über Hand nehmenden Abneigung gegen exakte strenge methodische Studien erscheint. Es ist ein vergnügliches, 832
unter Umständen geistreiches Herumwerfen der philosophischen Ideen-Fangbälle, welche jetzt fast für jedes Verständniß faßlich geworden sind; ein solches Spiel nimmt sich besser aus als das ermüdende Wälzen schwerer einzelner Probleme der Wissenschaft und giebt in der That eine gewisse Ausbildung zum geselligen und öffentlichen Effektmachen. – Ich wünschte mich zu irren. 23 [127] Wer vom Reiz der Gefahr spricht, kennt die Lust an der Emotion der Furcht an sich. 23 [128] Frauen in Colonien. – Die Achtung und Artigkeit, welche die Amerikaner den Frauen erweisen, ist vererbt aus jener Zeit, in der diese bedeutend in der Minderheit waren: sie ist eine Eigenthümlichkeit colonialer Staaten. Manches bei den Griechen erklärt sich hieraus. Ein Ausnahmefall: wo die Colonisten viele Weiber antreffen, entsteht gewöhnlich ein Sinken der Schätzung der Weiber. 23 [129] Der hochentwickelte Mensch thut die Natürlichkeiten des Daseins wie Essen Trinken usw. einfach ab, ohne viel Reden und falsche Verschönerung, welche frühere Culturstufen lieben. Ebendahin gehört auch die Geselligkeit, die Ehe; auf alle solche Dinge fällt nicht mehr jener starke Accent, welchen andere Zeiten dafür haben. Gut, es mag „formloser" sein, unschöner zum Ansehen, der religiöse Anschein ist von diesen Dingen gewichen und damit viel „Poesie". Indessen diese Einbussen werden reichlich compensirt, vor allem viel Energie gespart, Zeit gespart (wie bei unserer Kleidung) und der ganze Sinn nicht auf diese Äusserlichkeiten gerichtet. Jemand der es in etwas zur Meisterschaft bringen will, erhebt sich zu einer vornehmen Art zu sein durch sein Ziel. – Wie wir in den Künsten durch Vergeistigung eine Menge des Hässlichen mit in's Reich der Kunst hinübergetragen haben, so auch im Leben; man muss fühlen, was in diesen auf den ersten Blick unschönen Lebensformen pulsirt, welche neuen und höheren Gewalten, da erschliesst sich dem Blick eine höhere Schönheit. 23 [130] Es gehört zu den Eigenheiten des metaphysischen Philosophirens, ein Problem zu verschärfen und als unlösbar hinzustellen, es sei denn dass man ein Wunder als eine Lösung ansieht, z. B. das Wesen des Schauspielers in der Selbstentäusserung und förmlichen Verwandlung zu sehen: während das eigentliche Problem doch ist, durch welche Mittel der Täuschung es der Schauspieler dahin bringt, dass es so scheint als wäre er verwandelt. 23 [131] Der denkende Geist bei Musikern ist gewöhnlich frisch, sie sind öfter geistreich als die Gelehrten; denn sie haben in der Ausübung ihrer Kunst das Mittel, dem reflektirenden Denken beinahe völlige Ruhe, eine Art Schlafleben zu verschaffen; deshalb erhebt sich dies so lustig und morgenfrisch, wenn der Musiker aufhört Musik zu machen. – Man täuscht sich mitunter darüber, weil vielfach die Bildung des Musikers zu gering ist und er nicht genug Stoff hat, an dem er Geist zeigen könnte. Eben so steht es mit <dem> denkenden Geist der Frauen. 833
23 [132] Wer in der deutschen Sprache Sentenzen bildet, hat die Schwierigkeit, daß sie gerade am Ende nicht scharf und streng abgeschliffen werden können, sondern daß Hülfszeitwörter hinterdrein stürzen wie Schutt und Gerümpel einem rollenden Steine. – Selbst der feinste Kopf ist nicht vermögend die Kunst der Sentenzen-Schleiferei gebührend zu würdigen, wenn er nicht auf diesem Gebiete selber gewetteifert hat. Man nimmt es ohne diese praktische Belehrung für leichter als es ist, man fühlt das Gelungene nicht scharf genug heraus; deshalb haben die Leser von Sentenzen ein verhältnißmäßig geringes Vergnügen an ihnen, ebenso wie die gewöhnlichen Betrachter von Kameen. Nur im Wetteifer lernt man das Gute kennen: so sollte man, um der Lust der Erkenntniß willen, wenigstens eine Wissenschaft eine Kunst wirklich ausüben, und vielleicht einen Roman, eine philosophische Betrachtung, eine Rede von Zeit zu Zeit ausarbeiten; – durch Nachdenken über seine eignen Erfahrungen begreift man dann auch die verwandten diesen Erfahrungen angrenzenden Gebiete – und erwirkt sich den Zugang zu vielen der besten Lustempfindungen. 23 [133] Man ist auch ungerecht, wenn man die großen Männer zu groß findet und die Dinge in der Welt zu tief. Wer dem Leben die tiefste Bedeutung geben will, umspinnt die Welt mit Fabeln; wir sind alle noch tief hinein verstrickt, so freisinnig wir uns auch vorkommen mögen. Es giebt eine starke Neigung, uralt angeboren, die Abstände zu übertreiben, die Farben zu stark aufzutragen, das Glänzende als das Wahrscheinlichere zu nehmen. Die Kraft zeigt sich vornehmlich in diesem allzuscharfen Accentuiren; aber die Kraft in der Mäßigung ist die höhere, Gerechtigkeit ist schwerer als Hingebung und Liebe. – Wenn ein Mörder nicht das Böse seiner Handlung anerkennen will und sich das Recht nimmt, etwas gut zu nennen, was alle Welt böse nennt, so löst er sich aus der Entwicklung der Menschen: müssen wir ihm dies Recht zugestehn? Wenn einer sogenannte schlechte Handlungen durch Loslösung von den hergebrachten Urtheilen und Aufstellung der Unverantwortlichkeit rechtfertigte, dürfen wir sagen: „nur rein theoretisch darf er so etwas aufstellen, nicht aber praktisch darnach handeln"? Oder: "als Denker hat er Recht, aber er darf nicht Böses thun". In wie weit darf sich das Individuum lösen von seiner Vergangenheit? So weit es kann? Und wenn es einsieht, daß in dieser Vergangenheit falsche Urtheile, Rücksichten auf grobe Nützlichkeit wirkten? Daß der Heiligenschein um das Gute, der Schwefelglanz um das Böse dabei verschwindet? Wenn die stärksten Motive, aus der Ehre und Schande des Mitmenschen entnommen, nicht mehr wirken, weil er die Wahrheit diesem Urtheile entgegenstellen kann? 23 [134] Warum erdichtet man nicht ganze Geschichten von Völkern, von Revolutionen, von politischen Parteien? Weshalb rivalisirt der Dichter des Roman's nicht mit dem Historiker? Hier sehe ich eine Zukunft der Dichtkunst. 23 [135] Ehemals definirte man, weil man glaubte, daß jedem Worte Begriffe eine Summe von Prädikaten innewohne, welche man nur herauszuziehn brauche. Aber im Worte steckt nur eine sehr unsichere Andeutung von Dingen: man definirt vernünftiger Weise nur, um zu sagen, was man unter einem Worte verstanden wissen will und überläßt es jedem, sich den Sinn eines Wortes neu abzugränzen: es ist unverbindlich.
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23 [136] Die Schule der Erzieher entsteht auf Grund der Einsicht: daß unsere Erzieher selber nicht erzogen sind, daß das Bedürfniß nach ihnen immer größer, die Qualität immer geringer wird, daß die Wissenschaften durch die natürliche Zertheilung der Arbeitsgebiete bei dem Einzelnen die Barbarei kaum verhindern können, daß es kein Tribunal der Cultur giebt, welches von nationalen Interessen abgesehn die geistige Wohlfahrt des ganzen Menschengeschlechts erwägt: ein internationales Ministerium der Erziehung. 23 [137] Eine Sentenz ist im Nachtheil, wenn sie für sich steht; im Buche dagegen hat sie in der Umgebung ein Sprungbrett, von welchem man sich zu ihr erhebt. Man muß verstehen, unbedeutendere Gedanken um bedeutende herumzustellen, sie damit einzufassen, also den Edelstein mit einem Stoff von geringerem Werthe. Folgen Sentenzen hinter einander, so nimmt man unwillkürlich die eine als Folie der andern, schiebt diese zurück, um eine andere hervorzuheben, d. h. man macht sich ein Surrogat eines Buches. 23 [138] Da die Kunst immer seelenvoller wird, so bemerken die späteren Meister, daß die Kunstwerke der früheren Zeit ihnen nicht entsprechen und dies veranlaßt sie, da etwas nachzuhelfen und zu glauben daß es nur die technischen Bedingungen sind, welche damals den alten Meistern fehlten. So denkt Wagner, daß Beethoven besser d. h. seelenvoller instrumentirt haben würde, wenn die Instrumente besser gewesen wären; namentlich aber in der Modifikation des Tempo's, denkt er, daß jener, wie alle früheren, nur ungenügend in der Bezeichnung gewesen wäre. In Wahrheit ist die Seele aber noch nicht so zart bewegt, so lebendig in jedem Augenblick gewesen. Alle ältere Kunst war starr, steif; in Griechenland wie bei uns. Die Mathematik, die Symmetrie, der strenge Takt herrschten. – Soll man den modernen Musikern das Recht geben, ältere Werke mehr zu beseelen? – Ja; denn nur dadurch daß wir ihnen unsere Seele geben, leben sie noch fort. Wer die dramatische seelenvolle Musik kennt, wird Bach ganz anders vortragen, unwillkürlich. Hört er ihn anders vortragen, so versteht er ihn nicht mehr. Ist ein historischer Vortrag überhaupt möglich? 23 [139] Die Erfinder der indogermanischen Sprache waren wahrscheinlich der obersten Kaste zugehörig und benutzten die vorhandenen geringeren Sprachen. Eine hohe philosophische und dichterische Bildung sprach aus ihnen und bildete eine entsprechende Sprache; diese ist ein bewußtes Kunstprodukt; musikalisches dichterisches Genie gehörte dazu. Dann wurde es eine Dichter- und Weisensprache, verbreitete sich später über die nächsten Kasten und wanderte mit den Kriegerstämmen aus. Es war das kostbarste Vermächtniß der Heimat, das man zäh festhielt. 23 [140] Die Dichter, gemäß ihrer Natur, welche eben die von Künstlern d. h. seltsamen Ausnahmemenschen ist, verherrlichen nicht immer das, was von allen Menschen verherrlicht zu werden verdient, sondern ziehen das vor, was gerade ihnen als Künstlern gut erscheint. Ebenso greifen sie selten mit Glück an, wenn sie Satiriker sind. Cervantes hätte die Inquisition bekämpfen können, aber er zog es vor, ihre Opfer d. h. die Ketzer und Idealisten 835
aller Art auch noch lächerlich zu machen. Nach einem Leben voller Unfälle und Mißwenden hatte er doch noch Lust zu einem litterarischen Hauptangriff auf eine falsche Geschmacksrichtung der spanischen Leser; er kämpfte gegen die Ritterromane. Unvermerkt wurde dieser Angriff unter seinen Händen zur allgemeinsten Ironisirung aller höheren Bestrebungen: er machte ganz Spanien, alle Tröpfe eingeschossen, lachen und sich selber weise dünken: es ist eine Thatsache daß über kein Buch so gelacht wurde wie über den Don Quixote. Mit einem solchen Erfolge gehört er in die Decadence der spanischen Cultur, er ist ein nationales Unglück. Ich meine daß er die Menschen verachtete und sich nicht ausnahm; oder macht er sich nicht nur lustig wenn er erzählt wie man am Hofe des Herzogs mit dem Kranken Possen trieb? Sollte er wirklich nicht über den Ketzer auf dem Scheiterhaufen noch gelacht haben? Ja, er erspart seinem Helden nicht einmal jenes fürchterliche Hellwerden über seinen Zustand, am Schlusse des Lebens: wenn es nicht Grausamkeit ist, so ist es Kälte, Hartherzigkeit, welche ihn eine solche letzte Scene schaffen hieß, Verachtung gegen die Leser, welche wie er wußte auch durch diesen Schluß nicht in ihrem Gelächter gestört wurden. 23 [141] Alle urspr<ünglich> starre, peinliche Empfindung wird allmählich angenehm. Aus Zwang wird Gewohnheit, daraus Sitte, endlich Tugend mit Lust verbunden. Aber die Menschen, welche diese letzte Stufe erreicht haben, wollen nichts davon wissen, daß ihre fernen Vorfahren den Weg begonnen haben. 23 [142] Der Mensch erstrebt mitunter eine Emotion an sich, und benutzt Menschen nur als Mittel. Am stärksten in der Grausamkeit. Aber auch in der Lust am Tragischen ist etwas davon (Goethe fand diesen Sinn für das Grausame bei Schiller). In der dramatischen Kunst überhaupt will der Mensch Emotionen, z. B. des Mitleides, ohne helfen zu müssen. Man denke an Seiltänzer, Gaukler. – Die Leidenschaften gewöhnen den Menschen an sich: deshalb haben sehr leidenschaftliche Völker z. B. Griechen und Italiäner solches Vergnügen an der Kunst der Leidenschaft, der Emotion an sich; ohne diese haben sie Langeweile. 23 [143] Die Empfindung kann nicht gleich und auf einer Höhe bleiben, sie muß wachsen oder abnehmen. Die Verehrung der griechischen Polis summirte sich zu einer unendlichen Summe auf, endlich vermochte das Individuum diese Last nicht mehr zu tragen. 23 [144] Es ist nach Art der unwissenschaftlichen Menschen, irgend eine Erklärung einer Sache keiner vorzuziehn, sie wollen von der Enthaltung nichts wissen. 23 [145] Der gut befähigte Mensch erlebt mehrenmal den Zustand der Reife, insofern er verschiedene Culturen durchlebt und im Verstehen und Erfassen jeder einzelnen einmal einen Höhepunkt erreicht. und so kann ein Mensch in sich den Inhalt von ganzen Jahrhunderten vorausfühlen: weil der Gang, den er durch die verschiedenen Culturen macht, derselbe ist, welchen mehrere Generationen hinter einander machen. – So hat er auch mehrenmal den Zustand der Unreife, 836
der perfecten Blüthe, der Überreife: diese ganze Stufenleiter macht er vielleicht erst einmal als religiöser, dann wieder als künstlerischer und endlich wissenschaftlicher Mensch durch. 23 [146] Man verwundert sich immer von Neuem, wie Shakespeare im Stande gewesen sei, seine Helden jedesmal so passend, so gedankenreich reden zu lassen, so daß sie Sentenzen äußern, welche an sich bedeutend aber doch auch wiederum ihrem Charakter entsprechend lauten? Da vermuthet man wohl, um es zu erklären, daß solche Gespräche ein Mosaik von gelegentlich gefundenen Einzelsätzen seien. Dieser Vermuthung möchte ich entgegnen, daß es bei dem Dramatiker eine fortwährende Gewöhnung giebt, jede Bemerkung nur dem Charakter einer bestimmten Person gemäß, im Verhältniß zu einer Situation zu erfinden: eine Gewohnheit welche eben eine ganz andere als die unsere ist: die Bemerkung ihrer Wahrheit halber zu machen, ganz abgesehn von Person und Situation. Aber auch wir fragen uns mitunter: „was würdest du sagen, wenn du dies erlebtest?" An dieses hypothetische Reden ist der Dramatiker gewöhnt, es ist seine Natur geworden, immer unter solchen Voraussetzungen seine Gedanken zu erfinden. 23 [147] Wie alte sinnreiche religiöse Zeremonien zuletzt als abergläubische unverstandene Prozeduren übrigbleiben, so wird die Geschichte überhaupt, wenn sie nur noch gewohnheitsmäßig fortlebt, dem magischen Unsinn oder <der> carnevalistischen Verkleidung ähnlich. Die Sonne, welche bei der Verkündigung der Infallibilität auf den Papst leuchten sollte, die Taube, welche dabei fliegen sollte, erscheinen jetzt als bedenkliche Kunststückchen, welche nur auf Täuschung absehen; aber die alte Cultur ist voll davon, und die ganze Unterscheidung, wo die Täuschung beginnt, gar nicht gemacht. Jetzt bewegte sich in Neapel ein katholischer prunkhafter Leichenwagen mit Gefolge in einer der Nebengassen, während in unmittelbarer Entfernung der Carneval tobte: alle die bunten Wagen, welche die Kostüme und den Prunk früheren Culturen nachmachten. Aber auch jener Leichenzug wird irgendwann einmal ein solcher historischer Carnevalszug sein; die bunte Schale bleibt zurück und ergötzt, der Kern ist entflohn oder es hat sich wie in den Kunstgriffen der Priester zur Erweckung des Glaubens die betrügerische Absicht hinein versteckt. 23 [148] Das Alterthum ist im Ganzen das Zeitalter des Talents zur Festfreude. Die tausend Anlässe sich zu freuen waren nicht ohne Scharfsinn und großes Nachdenken ausfindig gemacht; ein guter Theil der Gehirnthätigkeit, welche jetzt auf Erfindung von Maschinen, auf Lösung der wissenschaftlichen Probleme gerichtet ist, war damals auf die Vermehrung der Freudenquellen gerichtet: die Empfindung, die Wirkung sollte in's Angenehme umgebogen werden, wir verändern die Ursachen des Leidens, wir sind prophylaktisch, jene palliativisch. – Unsere Feste werden billigerweise Cultur-Feste und im Ganzen selten. 23 [149] Wir haben ein Vergnügen an der kleinen Bosheit, weil sie uns so wenig schadet z. B. am Sarkasmus; ja wenn wir uns völlig geschützt fühlen, so dient uns selbst die große Bosheit (etwa in dem giftigen Geifer eines Pamphletes) zum Behagen; denn sie schadet uns nicht und nähert sich dadurch der Wirkung des Komischen, – das überrascht, ein wenig erschreckt und doch nicht Schaden anstiftet. 837
23 [150] Die Kunst gehört nicht zur Natur, sondern allein zum Menschen. – In der Natur giebt es keinen Ton, diese ist stumm; keine Farbe. Auch keine Gestalt, denn diese ist das Resultat einer Spiegelung der Oberfläche im Auge, aber an sich giebt es kein Oben und Unten, Innen und Außen. Könnte man anders sehen, als vermöge der Spiegelung, so würde man nicht von Gestalten reden, sondern vielleicht in's Innre sehen, so daß der Blick ein Ding allmählich durchschnitte. Die Natur, von welcher man unser Subjekt abzieht, ist etwas sehr Gleichgültiges, Uninteressantes, kein geheimnißvoller Urgrund, kein enthülltes Welträthsel; wir vermögen ja durch die Wissenschaft vielfach über die Sinnesauffassung hinaus zu kommen, z. B. den Ton als eine zitternde Bewegung zu begreifen; je mehr wir die Natur entmenschlichen, um so leerer bedeutungsloser wird sie für uns. – Die Kunst beruht ganz und gar auf der vermenschlichten Natur, auf der mit Irrthümern und Täuschungen umsponnenen und durchwebten Natur, von der keine Kunst absehen kann; <sie> erfaßt nicht das Wesen der Dinge, weil sie ganz an das Auge und das Ohr angeknüpft ist. Zum Wesen führt nur der schließende Verstand. Er belehrt uns z. B. die Materie selbst ein uraltes eingefleischtes Vorurtheil ist, daher stammend daß das Auge Spiegelflächen sieht und das menschliche Tastorgan sehr stumpf ist: wo man nämlich widerstrebende Punkte fühlt, so construirt man sich unwillkürlich widerstrebende continuirliche Ebenen (welche aber nur in unserer Vorstellung existiren), unter der angewöhnten Illusion des spiegelnden Auges, welches im Grunde eben auch nur ein grobes Tastorgan ist. Ein Ball von elektrischen Strömungen, welche an bestimmten Punkten umkehren, würde sich als etwas Materielles, als ein festes Ding anfühlen: und das chemische Atom ist ja eine solche Figur, welche von den Endpunkten verschiedener Bewegungen umschrieben wird. Wir sind jetzt gewöhnt, Bewegtes und Bewegung zu scheiden; aber wir stehen damit unter dem Eindrucke uralter Fehlschlüsse: das bewegte Ding ist erdichtet, hineinphantasirt, da unsere Organe nicht fein genug sind, überall die Bewegung wahrzunehmen und uns etwas Beharrendes vorspiegeln: während es im Grunde kein "Ding", kein Verharrendes giebt. 23 [151] Da die neue Erziehung den Menschen eine viel größere Gehirnthätigkeit zumuthet, so muß die Menschheit viel energischer nach Gesundheit ringen, um nicht eine nervös überreizte, ja verrückte Nachkommenschaft zu haben (denn sonst wäre eine Nachwelt von Verrückten und Überspannten sehr wohl möglich – wie die überreifen Individuen des späteren Athen's mitunter in das Irrsinnige hineinspielen): also durch Paarung gesunder Eltern, richtige Kräftigung der Weiber, gymnastische Übungen, die so sehr gewöhnlich und begehrt sein müssen wie das tägliche Brod, Prophylaxis der Krankheiten, rationelle Ernährung, Wohnung, überhaupt durch Kenntnisse der Anatomie usw. 23 [152] Das Christenthum sagt "es giebt keine Tugenden, sondern Sünden". Damit wird alles menschliche Handeln verleumdet und vergiftet, auch das Zutrauen auf Menschen erschüttert. Nun sekundirt ihm noch die Philosophie in der Weise La Rochefoucauld's, sie führt die gerühmten menschlichen Tugenden auf geringe und unedle Beweggründe zurück. Da ist es eine wahre Erlösung zu lernen, daß es an sich weder gute noch böse Handlungen giebt, daß in gleichem Sinne wie der Satz des Christenthums auch der entgegengesetzte des Alterthums aufgestellt werden kann "es giebt keine Sünden, sondern nur Tugenden" d. h. Handlungen nach dem Gesichtspunkte des Guten (nur daß das Urtheil über gut verschieden ist). Jeder handelt nach dem ihm Vortheilhaften, keiner ist freiwillig böse d. h. sich schädigend. Es ist 838
ein großer Fortschritt zu lernen, daß alles Moralische nichts mit dem Ding an sich zu thun hat, sondern "Meinung" ist, in das Bereich des sehr veränderlichen Intellekts gehört. Freilich: wie sich unser Ohr den Sinn für Musik geschaffen hat (der ja auch nicht an sich existirt), so haben wir als hohes Resultat der bisherigen Menschheit den moralischen Sinn. Er ist aber nicht auf logische Denkgesetze und auf strenge Naturbeobachtung gegründet, sondern wie der Sinn für die Künste auf mancherlei falsche Urtheile und Fehlschlüsse. Die Wissenschaft kann nicht umhin, dies unlogische Fundament der Moral aufzudecken, wie sie dies bei der Kunst thut. Vielleicht schwächt sie auf die Dauer diesen Sinn damit etwas ab: aber der Sinn für Wahrheit ist selber eine der höchsten und mächtigsten Effloreszenzen dieses moralischen Sinnes. Hier liegt die Compensation. 23 [153] Barbarisirende Wirkung der Abstraktion und Sublimation bei Gelegenheit des Aristotelis<mus> in der Wissenschaft. 23 [154] Wenn man an die höhere Nützlichkeit, an ökumenische Zwecke bei dem Wort Moral denkt, so ist im Handel mehr Moralität enthalten, als im Leben nach jener Kantischen Aufforderung "thue das was du willst daß dir gethan werde" oder im christlichen Wandel nach der Richtschnur des Wortes: liebe den Nächsten um Gottes willen". Der Satz Kant's ergiebt eine kleinbürgerliche Privat-Achtbarkeit der Sitte und steht im Gegensatz zu ökumenischen Zwecken: von deren Existenz er nicht einmal einen Begriff hat. Wie wenig geforderte Liebe überhaupt zu bedeuten hat, namentlich aber eine Liebe dieser indirekten Art, wie die christliche Nächstenliebe, das hat die Geschichte des Christenthums bewiesen: welche im Gegensatz zu den Folgen der buddhaistischen, reisessenden Moral durchweg gewaltsam und blutig ist. Und was heißt es überhaupt: "ich liebe den Mitmenschen um Gottes Willen!" Ist es mehr als wenn jemand sagt „ich liebe alle Polizeidiener, um der Gerechtigkeit willen" oder was ein kleines Mädchen sagte: „ich liebe Schopenhauer, weil Großvater ihn gern hat: der hat ihn gekannt"? 23 [155] Durch gewisse Ansichten über die Dinge ist das Pathos der Empfindung in die Welt gekommen, nicht durch die Dinge selbst: z. B. alles, was Faust in der ersten Scene als Ursache seiner Leiden angiebt, ist irrthümlich, nämlich auf Grund metaphysischer Erdichtungen erst so bedeutungsschwer geworden: könnte er dies einsehen, so würde das Pathos seiner Stimmung fehlen. 23 [156] (Aus der Vorrede) Nachdem ich von Jahr zu Jahr mehr gelernt habe, wie schwierig das Finden der Wahrheit ist, bin ich gegen den Glauben, die Wahrheit gefunden zu haben mißtrauisch geworden: er ist ein Haupthinderniß der Wahrheit. Wenn doch alle die, welche so groß von ihrer Überzeugung dachten, Opfer aller Art ihr brachten, ja Ehre Leib und Leben in ihrem Dienste nicht schonten, nur die Hälfte ihrer Kraft der Untersuchung gewidmet hätten, mit welchem Rechte sie an der oder jener Überzeugung hiengen, auf welchem Wege sie zu ihr gekommen seien: wie friedfertig sähe die Geschichte der Menschheit aus! Wie viel mehr des Erkannten würde es 839
geben! Alle die grausamen Scenen, die Verfolgung der Ketzer wären uns aus zwei Gründen erspart geblieben: einmal weil die Inquisitoren vor allem in sich selbst inquirirt hätten und über die Anmaaßung, die absolute Wahrheit zu vertheidigen, hinausgekommen wären; sodann weil die Ketzer selber so schlecht begründeten Sätzen, wie die Sätze aller religiösen Rechtgläubigen und Ketzer sind, keine weitere Theilnahme geschenkt hätten, nachdem sie gründlich dieselben untersucht hätten. Nun habe ich diesmal ein Thema vor mir, welches vielleicht das Wichtigste der Menschheit ist – denn was ist nicht durch Erziehung entstanden, stark geworden, gut und schlecht? – zudem läßt es sich in großem Maaßstabe erst behandeln, nachdem die Ungläubigkeit zur herrschenden Gesinnung geworden ist. Da möchte ich nun namentlich die feurigen überzeugungsdürstigen Jünglinge warnen, nicht sofort meine Lehren wie eine Richtschnur für das Leben zu betrachten, sondern als wohl zu erwägende Thesen, mit deren praktischer Einführung die Menschheit so lange warten mag, als sie sich gegen Zweifel und Gründe nicht hinreichend geschützt haben. Überdies ist mir die Weisheit nicht vom Himmel gefallen, denn ich bin kein "Genie", habe keine intuitiven Einblicke durch ein Loch im Mantel der Erscheinung. Schopenhauer mag das warnende Beispiel sein: er hat in allen Punkten, derentwegen er sich für ein "Genie" hielt, Unrecht. 23 [157] Das Leben wird leicht und angenehm durch eine rücksichtslose Befreiung des Geistes, welche versuchsweise einmal an allen den Vorstellungen rüttelt, welche das Leben so belastet, so unerträglich machen: so daß man, um die Freude dieser Entlastung zu haben, das einfachste Leben vorzieht, welches uns diese Freude ermöglicht. 23 [157] Paul Winkler 1685 „der Mensch ist so lange weise als er die Wahrheit sucht; wenn er sie aber gefunden haben will, wird er ein Narr". 23 [159] Lesern meiner früheren Schriften will ich ausdrücklich erklären, daß ich die metaphysischkünstlerischen Ansichten, welche jene im Wesentlichen beherrschen, aufgegeben habe: sie sind angenehm, aber unhaltbar. Wer sich frühzeitig erlaubt öffentlich zu sprechen, ist gewöhnlich gezwungen, sich bald darauf öffentlich zu widersprechen. 23 [160] Zum Schluß. Ich will weise werden bis zum 60. Jahre und erkenne dies als ein Ziel für Viele. Eine Menge von Wissenschaft ist der Reihe nach anzueignen und in sich zu verschmelzen. Es ist das Glück unseres Zeitalters, daß man noch eine Zeitlang in einer Religion aufwachsen kann und, in der Musik, einen ganz echten Zugang zur Kunst hat; das wird späteren Zeiten nicht mehr so gut zu Theil werden. Mit Hülfe dieser persönlichen Erfahrungen kann man ungeheure Strecken der Menschheit erst verstehen: was wichtig ist, weil alle unsere Cultur auf diesen Strecken ruht. Man muß Religion und Kunst verstehen – sonst kann man nicht weise werden. Aber man muß über sie hinaus sehen können; bleibt man darin, so versteht man sie nicht. Ebenso ist die Metaphysik eine Stufe, auf der man gestanden haben muß. Ebenso die Historie 840
und das Relativische. Man muß in großen Schritten dem Gang der Menschheit als Individuum nachgehen und über das bisherige Ziel hinauskommen. Wer weise werden will, hat ein individuelles Ziel, in welchem alles Erlebte, Glück Unglück Unrecht usw., als Mittel und Hülfe aufgeht. Überdies kommt das menschliche Leben da in die richtige Gestalt, denn der alte Mensch erreicht das Ziel seiner ganzen Natur nach am leichtesten. Das Leben verläuft auch interessant, das Thema ist sehr groß und nicht zu zeitig zu erschöpfen. – Die Erkenntniß selbst hat kein Ziel weiter. 23 [161] Die sittliche Reinheit der Menschen ist durch einige falsche Vorstellungen mehr gefördert worden als es die Wahrheit zu thun vermöchte. Daß ein Gott das Gute wolle, daß der Leib zu besiegen sei, um die Seele frei zu machen, daß Verantwortlichkeit für alle Handlungen und Gedanken existire, das hat die Menschheit hochgehoben und verfeinert. Allein schon die Aufstellung des "Guten"! 23 [162] In dem vorlitterarischen Zeitalter muß die höhere Intelligenz sich ganz anders dargestellt haben als im litterarischen: der Einzelne, durch keine schriftliche Tradition mit den früheren Weisen verbunden und an die Bedingtheit des Erkennens gemahnt, durfte sich fast für übermenschlich nehmen. Der Weise verliert immer mehr an Würde. 23 [163] Wenn Worte einmal da sind, so glauben die Menschen, es müsse ihnen etwas entsprechen z.B. Seele Gott Wille Schicksal usw. 23 [164] Das sogenannte metaphysische Bedürfniß ist eine Gegeninstanz gegen die Wahrheit irgend einer Metaphysik. Der Wille commandirt. 23 [165] Der Vortheil, den der reine Mensch seinen Mitmenschen bringt, liegt in dem Vorbild, das er giebt: dadurch entreißt er sie ihrem wilden Dämon, wenn auch nur auf Augenblicke. – Es kommt sehr viel auf die Augenblicke an. 23 [166] Die edleren Motive sind die complicirten; alle einfachen Motive stehen ziemlich niedrig. Es ist wie bei den einfachen und complicirten Organismen. Die Länge und Schwierigkeit des ganzen Wegs wirft den Schein des Großen und Hohen auf den, welcher ihn geht. 23 [167] Wenn die Menschen nicht für Götter Häuser gebaut hätten, so läge die Architektur noch in der Wiege. Die Aufgaben, welche der Mensch sich auf Grund falscher Annahmen stellte (z. B.
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Seele loslösbar vom Leibe), haben zu den höchsten Culturformen Anlaß gegeben. Die "Wahrheiten" vermögen solche Motive nicht zu geben. 23 [168] Will man über Kunst Erfahrungen machen, so mache man einige Kunstwerke, es giebt keinen anderen Weg zum aesthetischen Urtheil. Die meisten Künstler selbst sind dadurch allein nützlich, daß sie das Bewußtsein der großen Meister gewinnen, festhalten und übertreiben: also gleichsam als wärmeleitende Medien. Einige Novellen, einen Roman, eine Tragödie – das kann man machen, ohne mit seinen Hauptbeschäftigungen Schiffbruch zu leiden; auch soll man solcherlei keineswegs drucken. Überhaupt soll man lernen, mannichfach productiv zu sein: es ist das Hauptkunststück, um in vielen Dingen weise zu werden. 23 [169] Es ist eine Stufe der Cultur, das Große und Extreme zu schätzen, den großen Menschen, die stärkste Produktivität, das wärmste Herz. Aber um die Welt zu begreifen, muß man zur höheren Stufe kommen, daß das Kleine und Unscheinbare wichtiger in seinen Wirkungen ist z. B. die gebundenen Geister usw. 23 [170] Der günstigste Zeitpunkt dafür, daß ein Volk die Führerschaft in wissenschaftlichen Dingen übernimmt, ist der, in welchem genug Kraft Zähigkeit Starrheit dem Individuum vererbt werden, um ihm eine siegreiche frohe Isolation von den öffentlichen Meinungen zu ermöglichen: dieser Zeitpunkt ist jetzt wieder in England eingetreten, welches unverkennbar in Philosophie Naturwissenschaft Geschichte, auf dem Gebiete der Entdeckungen und der Culturverbreitung gegenwärtig allen Völkern vorangeht. Die wissenschaftlichen Größen verhandeln da mit einander wie Könige, welche sich zwar alle als Verwandte betrachten, aber Anerkennung ihrer Unabhängigkeit voraussetzen. In Deutschland glaubt man dagegen alles durch Erziehung Methoden Schulen zu erreichen: zum Zeichen dafür, daß es an Charakteren und bahnbrechenden Naturen mangelt, welche zu allen Zeiten für sich ihre Straße gezogen sind. Man züchtet jene nützlichen Arbeiter, welche mit einander, wie im Takte, arbeiten und denen das Pensum in jenen Zeiten schon vorgeschrieben worden ist, als Deutschland, vermöge seiner originalen Geister, die geistige Führerschaft Europa's innehatte: also um die Wende des vorigen Jahrhunderts. 23 [171] Die Mängel des Stils geben ihm bisweilen seinen Reiz. – Alexander von Humboldt's Stil. Die Gedanken haben etwas Unsicheres, soweit es sich nicht um Mittheilung von Facta handelt. Dazu ist alles in die Höhe gehoben und durch ausgewählte schöne Worte mit Glanz überzogen: die langen Perioden spannen es aus. So erzeugt dieser Stil als Ganzes eine Stimmung, einen Durst, man macht die Augen klein, weil man gar zu gern etwas Deutliches sehen möchte, alles schwimmt in anreizender Verklärung in der Ferne: wie eine jener welligen Luftspiegelungen, welche dem Müden Durstenden ein Meer eine Oase ein Wald zu sein scheinen (vor die Sinne führen). 23 [172]
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Eine neue Darstellung der Kunstlehre hat davon auszugehen, dass der Mensch sich an allen Gemüthserregungen an sich, eben als Emotionen, erfreut, auch den schmerzlichsten: er will den Rausch. Die Kunst erregt ihn spielend zu Schmerz Thränen Zorn Begierde, aber ohne die praktischen schlimmen Folgen: doch giebt es auch Menschen, welche selbst jene Folgen mit hinnehmen, nur um die Emotion zu haben (der Grausame). 23 [173] Schopenhauer hat leider in dem Begriff „intuitive Erkenntniss" die schlimmste Mystik eingeschmuggelt, als ob man vermöge derselben einen unmittelbaren Blick auf das Wesen der Welt, gleichsam durch ein Loch im Mantel der Erscheinung hätte und als ob es bevorzugte Menschen gäbe, Welche, ohne die Mühsal und Strenge der Wissenschaft, vermöge eines wunderbaren Seherauges etwas Endgültiges und Entscheidendes über die Welt mitzutheilen vermöchten. Solche Menschen giebt es nicht: und das Wunder wird auch für den Bereich der Erkenntniss fürderhin keinen Gläubigen mehr finden. 23 [174] Die ausgeschlüpfte Seidenraupe schleppt eine Zeitlang die leere Puppe noch nach sich; Gleichniss. 23 [175] Neigung und Abneigung unvernünftig. – Wenn Neigung oder Abneigung die Zähne erst eingebissen haben, so ist es schwer loszukommen, wie wenn eine Schildkröte sich in einen Stock verbissen hat. Die Liebe, der Hass und die Schildkröte sind dumm. 23 [176] Beim unegoistischen Triebe ist die Neigung zu einer Person das Entscheidende (wenn es die Lust am Mitleid nicht ist und ebensowenig die Abwehr der Unlust, welche wir beim Anblick des Leidens fühlen). Aber die Neigung macht einen solchen Vorgang doch nicht moralisch? Ist denn alles Interessirtsein für etwas ausser uns Gelegenes moralisch? – Auch alles sachliche Interesse (bei Kunst und Wissenschaft) gehört in's Bereich des Unegoistischen – aber auch des Moralischen? 23 [177] Philosophie nicht religiös aufzufassen. – Eine Philosophie mit religiösen Bedürfnissen erfassen heisst sie völlig missverstehen. Man sucht einen neuen Glauben, eine neue Autorität – wer aber Glaube und Autorität will, der hat es an den hergebrachten Religionen bequemer und sicherer. 23 [178] Es war Abend, Tannengeruch strömte heraus, man sah hindurch auf graues Gebirge, oben schimmerte der Schnee. Blauer beruhigter Himmel darüber aufgezogen. – So etwas sehen wir nie, wie es an sich ist, sondern legen immer eine zarte Seelenmembrane darüber – diese sehen wir dann. Vererbte Empfindungen, eigne Stimmungen werden bei diesen Naturdingen wach. Wir sehen etwas von uns selber – insofern ist auch diese Welt unsere Vorstellung. Wald
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Gebirge, ja das ist nicht nur Begriff, es ist unsere Erfahrung und Geschichte, ein Stück von uns. 23 [179] Aberglaube. – Menschen in grosser Erregung sind am abergläubischsten. Die Wiederherstellung der Religionen liegt in Perioden grosser Erschütterung und Unsicherheit. Wo alles weicht, greift man nach dem Strickwerk der Illusionen des jenseits. 23 [180] Das sterbende Kind. – Man giebt einem Kinde, das sterben muss, alles, was es will, Zuckerbrod – was thut es wenn es sich den Magen verdirbt? – Und sind wir nicht alle in der Lage eines solchen Kindes? – 23 [181] Eine Prozession am Frohnleichnamsfest, Kinder und alte Männer brachten mich zum Weinen. Warum? – Abends Klavierspiel heraus aus dem Irrenhause. 23 [182] Sollten nicht Viele welche ehrgeizig sind, im Grunde nur die Emotion suchen, die mit ehrgeizigen Bestrebungen verbunden ist? Man kann solche Empfindung hemmen ersticken oder gross wachsen machen; letzteres thun die Emotionsbedürftigen. Viele suchen ja sich zu ärgern – so weit geht jenes Bedürfniss der Emotion. 23 [183] Aus der Furcht erklärt sich zumeist die Rücksicht auf fremde Meinungen; ein guter Theil der Liebenswürdigkeit (des Wunsches nicht zu missfallen) gehört hierher. So wird die Güte der Menschen, mit Hülfe der Vererbung, durch die Furcht grossgezogen. 23 [184] Nutzen der z St. – Die zurückgebliebenen Standpuncte (politische sociale, oder ganze Typen bei Künstlern, Metaphysikern) sind ebenso nöthig als die fortschreitenden Bewegungen: sie erzeugen die nöthige Reibung und sind für die neuen Bestrebungen Kraftquellen. 23 [185] Glaube versetzt Berge. – Ein interessanter Aberglaube ist es, dass der Glaube Berge versetzen könne, dass ein gewisser hoher Grad von Fürwahrhalten die Dinge gemäss diesem Glauben umgestaltet, dass der Irrthum zur Wahrheit wird, wenn nur kein Gran Zweifel dabei ist: d. h. die Stärke des Glaubens ergänzt die Mängel des Erkennens; die Welt wird so, wie wir sie uns vorstellen. 23 [186]
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Liebe und Hass nicht ursprüngliche Kräfte. – Hinter dem Hassen liegt das Fürchten, hinter dem Lieben das Bedürfen. Hinter Fürchten und Bedürfniss liegt Erfahrung (Urtheilen und Gedächtniss). Der Intellekt scheint älter zu sein als die Empfindung. 23 [187] Erweiterung der Erfahrung. – Es giebt Fälle, wo Träume den Kreis unserer Erfahrung wirklich bereichern: wer wüsste, ohne Träume, wie es einem Schwebenden zu Muthe ist? 23 [188] Sehnsucht nach dem Tode. – Wie der Seekranke vom Schiff in erstem Morgengrauen nach der Küste zu späht, so sehnt man sich oft nach dem Tode – man weiss, dass man den Gang und die Richtung seines Schiffes nicht verändern kann. 23 [189] Traurigkeit und Sinnenlust. – Warum ist der Mensch im Zustand der Trauer geneigter sich sinnlichen Vergnügungen blindlings zu überlassen? Ist es das Betäubende in ihnen, was er begehrt? Oder Bedürfniss von Emotion um jeden Preis? – Sancho Pansa sagt „wenn der Mensch sich zu sehr der Traurigkeit überlässt, wird er zum Thier". 23 [190] Wenn Richard Wagner Beethoven zum Vortrag bringt, so versteht es sich von selber, daß Wagner's Seele durch Beethoven hindurch klingen wird und daß Tempo Dynamik Ausdeutung einzelner Phrasen Dramatisirung des Ganzen Wagnerisch und nicht Beethovenisch ist. Wer daran Ärgerniß nehmen will, dem ist es zu gönnen; Beethoven selbst aber würde gesagt haben "es ist ich und du, aber es klingt gut zusammen; so sollte es immer sein". Dagegen wenn die Kleinmeister Beethoven vortragen, so wird Beethoven etwas von der Seele der Kleinmeister annehmen – denn der Duft der Seele hängt sich sofort an die Musik und läßt sich nicht von ihr fortblasen. – Ich fürchte, Beethoven hätte keine Freude daran und sagte „das ist ich und nicht-ich, hol's der Teufel!" 23 [191] Der Philolog ist der, welcher lesen und schreiben kann, der Dichter der, welcher nach der deutlichen Wortableitung und gemäß der Historie "diktiren" mußte, da er nicht lesen und schreiben kann. Man kann aus diesem Gegensatz des Lese-Schriftgelehrten und des Dichters viel wichtige Dinge ableiten. 23 [192] Nicht nur in dem Verhalten des Staates, welcher straft um abzuschrecken, sondern im Verhalten jedes Einzelnen, der lobt oder tadelt, wird der Grundsatz "der Zweck heiligt das Mittel" befolgt: denn tadeln hat ebenfalls nur Sinn, als Mittel abzuschrecken und fürderhin als Motiv zu wirken; loben will antreiben, zum Nachmachen auffordern: insofern aber beides gethan wird als ob es einer geschehenen Handlung gelte, so ist die Lüge, der Schein bei allem Loben und Tadeln nicht zu vermeiden; sie sind eben das Mittel, welches vom höheren Zwecke geheiligt wird. Vorausgesetzt freilich, daß alle, sowohl die Tadelnden als die Getadelten, von der Lehre der völligen Unverantwortlichkeit und Schuldlosigkeit überzeugt 845
sind, so wirkt der Tadel nicht mehr, es sei denn daß die Gewohnheit, namentlich die der Eitelkeit und Ehrsucht stärker bliebe als alle durch Lehren beigebrachte Überzeugungen. 23 [193] Ach, wenn die Mittelmäßigen eine Ahnung hätten, wie sicher ihre Leistungen von den Oligarchen des Geistes – welche zu jeder Zeit leben – als mittelmäßig empfunden werden! Nicht der größte Erfolg bei der Masse würde sie trösten. 23 [194] Motto: Tanz der Gedanken, es führt eine der Grazien dich: o wie weidest den Sinn du mir! – Weh! Was seh' ich! Es fällt Larve und Schleier der Führerin und voran dem Reigen schreitet die grause Nothwendigkeit.
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23 [195] Und wenn der Urheber dieses Buches sich fragt, zu wessen Vortheil er seine Aufzeichnungen gemacht zu haben wünscht, so ist er unbescheiden genug, geradezu denjenigen Denker zu nennen, welcher als Verfasser jener Schrift über den Ursprung der moralischen Empfindungen ein Besitzrecht auf die angrenzenden Gebiete seines wissenschaftlichen Bezirks sich erworben hat und der seinen Untersuchungen jenen entscheidenden auch dieses Buch beherrschen<den> Gedanken vorangestellt hat. Dieser Satz, hart und schneidig gemacht unter dem Hammerschlag der historischen Erkenntniß, kann vielleicht einmal als die Axt dienen, welche dem "metaphysischen Bedürfnisse der Menschen" an die Wurzel gelegt werden soll: und in sofern würde er zu den folgenreichsten Sätzen der menschlichen Erkenntniß gehören. 23 [196] Reisebuch unterwegs zu lesen. Vorrede, – – – Menschen, welche sehr viel innerhalb eines bestimmten Berufes arbeiten, behalten ihre allgemeinen Ansichten über die Dinge der Welt fast unverändert bei: diese werden in ihren Köpfen immer härter, immer tyrannischer. Deshalb sind jene Zeiten, in welchen der Mensch genöthigt ist seine Arbeit zu verlassen, so wichtig, weil da erst neue Begriffe und Empfindungen sich wieder einmal herandrängen dürfen, und seine Kraft nicht schon durch die täglichen Ansprüche von Pflicht und Gewohnheit verbraucht ist. Wir modernen Menschen müssen alle viel unserer geistigen Gesundheit wegen reisen: und man wird immer mehr reisen, je mehr gearbeitet wird. An den Reisenden haben sich also die zu wenden, welche an der Veränderung der allgemeinen Ansichten arbeiten. Aus dieser bestimmten Rücksicht ergiebt sich aber eine bestimmte Form der Mittheilung: denn dem beflügelten und unruhigen Wesen der Reise widerstreben jene lang gesponnenen Gedankensysteme, welche nur der geduldigsten Aufmerksamkeit sich zugänglich zeigen und wochenlange Stille, abgezogenste Einsamkeit fordern. Es müssen Bücher sein, welche man 847
nicht durchliest, aber häufig aufschlägt: an irgend einem Satze bleibt man heute, an einem anderen morgen hängen und denkt einmal wieder aus Herzensgrunde nach: für und wider, hinein und drüber hinaus, wie einen der Geist treibt, so dass es einem dabei jedesmal heiter und wohl im Kopfe wird. Allmählich entsteht aus dem solchermaassen angeregten – ächten, weil nicht erzwungenen – Nachdenken eine gewisse allgemeine Umstimmung der Ansichten: und mit ihr jenes allgemeine Gefühl der geistigen Erholung, als ob der Bogen wieder mit neuer Sehne bespannt und stärker als je angezogen sei. Man hat mit Nutzen gereist. Wenn nun, nach solchen Vorbemerkungen und Angesichts dieses Buches, noch eine wesentliche Frage übrig bleibt, so bin ich es nicht, der sie beantworten kann. Die Vorrede ist des Autors Recht; des Lesers aber – die Nachrede. Friedrich Nietzsche Rosenlaui-Bad, am 26. Juli Sommersonnenwende 1877 (Mittsommerwende?) 23 [197] 1
Sylvesternacht:
das Klanggespenst meines Ohrs selbst entweicht Kalt – die Sterne funkeln O du Hohnvolle Larve des Weltalls – alte und neue Zeit – vor Neujahr.
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der Springbrunnen im Mondschein schön gelangweilt boshaft will kalt übergießen
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Morgens auf dem Schiff. Wohin? wir wagen nicht den Tod 4. Der Blinde am Wege. Die Seele giebt keinen Schein 5. Ecce homunculus – Glockenspiel 6. Alpa Alpa
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Campo Santo
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Bergkrystall
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[Dokument: Mappe loser Blätter] [Herbst 1877] 24 [1] Zur Kunstlehre. 1 Die wirklichen und angeblichen Leiden des Genius 2 Die Güte eines Kunstwerks bewiesen, wenn es ergreift? 3 Ehemals der Ernst im Ausspinnen von Formen und Symbolen; jetzt in anderem 4 Ablehnung der Inspiration; die wählende Urtheilskraft 5 Drastiker, nicht Dramatiker 6 Anstauung der produktiven Kraft: Erklärung der Improvisation 7 das Unvollständige verwendet 8 der denkende Geist der Musiker frisch, aber unausgebildet. 9 schwächere Moralität der Künstler in Hinsicht des Erkennens der Wahrheit 10 die Kunst conservirt, verknüpft frühere und jetzige Anschauungen 11 Künstler dürfen den Fortschritt leugnen. 12 die seelenvolle Musik im wiederhergestellten Katholicismus 13 wie konnte Shakespeare zu so charakteristischen Reden aller Figuren ohne Wunder? 14 unsere Eitelkeit fördert den Cultus des Genius und der Inspiration 15 der Ehrgeiz beschwingt die griechischen Künstler 16 schlechte Schriftsteller immer nöthig – Bedürfniß des unreifen Alters 17 die Kunst geht von der natürlichen Unwissenheit über den Menschen aus, sie ist nicht für Physiker und Philosophen. Die "Charaktere" nicht geschaffen 18 die Kunst übernimmt die durch die Religion erhöhten Gefühle. 19 die Kunst immer seelenvoller, falscher Schluß auf ältere Kunst 20 die Dichter verherrlichen das dem Künstler Interessante z. B. Cervantes.
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21 Werth der nicht fertig gewordenen Gedanken. 22 die Kunst, an Auge und Ohr angeknüpft, hat nichts mit dem Wesen der Dinge zu thun 23 das Verschwinden guter Manieren und die Aussicht 24 die Kunst zieht den Künstler zu älteren Anschauungen zurück. 25 die Musik ist als Erbin der Poesie so bedeutungsvoll, symbolisch 26 Überschätzung der Improvisation 27 die Kirche bereitet alle Stimmungen der Kunst vor. 28 die Künstler als Advokaten der Leidenschaften 29 leidenschaftliche Völker haben Lust an der Kunst der Leidenschaft. 30 das Hervorstechende Große überschätzt 31 Häuser für Götter – sonst Architektur in der Wiege: also der Irrthum 32 Um in der Kunst erfahren zu werden, soll man produziren 33 Plato hat Recht mit der unmoralischen Wirkung der Tragödie 34 Schopenhauer als Denker über die Leidenschaften 35 der Genieschauder vor sich. Das Stück Wahnsinn im Genie 36 die edelste Art der Schönheit 37 Musik als Austönen einer Cultur. Wagner 38 die Alten heben langsam das Gefühl, die Neueren versuchen einen überfall 39 die originellen Künstler können ganz leeres Zeug machen 40 vielleicht steht man bald zur Kunst im Verhältniß der Erinnerung 41 Ursprung der Kunst 42 unter metaphysischen Voraussetzungen hat die Kunst höheren Werth 43 Freude am Unsinn 24 [2] Einleitung: Rückschluß von Wirkung auf Ursache.
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I oder IV der Ursprung der Kunst 7 15 19 21 25 41 43 der ästhetische Zustand – Schweigen des Willens falsch. Da sind wir kalt. III der Künstler als Genius 1 4 6 13 14 26 30 35 39 IV oder I Schätzung der Kunst 2 17 16 22 29 36 37 42 V Nachtheilige Folgen der Kunst 5 9 10 20 24 28 33 VI die Zukunft der Kunst 3 8 11 23 32 38 40 34 II Anlehnung an die Religion 12 18 27 31 dazu „über die Musik" zu III: der Glaube an den Genius fälscht die Vorstellung von der Entstehung des Kunstwerks 4 6 13 26, vom Leben des Künstlers, auch beim Künstler selbst 1 35 Erklärung des Glaubens. Alles Große überschätzt. 30 unsere Eitelkeit 14 begotteter Menschen survival. Unterschied der „Originellen" doch nur relativ 39 Unterschied zwischen sachlich und unsachlich, das künstlerische Genie ist unsachlich, es will eine wirkungsvolle Gestalt der Welt – "intuitive Erkenntniß" die Welt in seinem Kopfe objektiver, reiner, deutlicher. 24 [3] Freundschaft. Weib und Kind. Erziehung. Erleichterung des Lebens. Der Fortschritt. Der Schriftsteller. Tod. Gesellschaft. Gedanken des Unmuths. Manieren. Gesundheit. Kunstgriffe. Erfahrung. Denker. Nothwendigkeit. Über seine Zeit. Jugend. Krieg. Strafe. Interessant. Reinlichkeit. Rache. Duell. Feste. Freigeist, unangenehmer Charakter. Einzelne Affekte und Zustände. Moral. Religion. Wissenschaft. Philosophie. Schriftsteller. Kunst. Staat und Societät. Entstehung der Cultur. Erleichterung des Lebens. Gedanken des einsamen Unmuths. Beruf. Gesellschaft. Freundschaft. Weib und Kind. Fragen der Erziehung. Lob. Mehr Fordern. Treue. Gerechtigkeit. Bescheidenheit. Haß. Furcht. Ehrgeiz. Liebe. Leidenschaft. Roheit. Glück Unglück. Unhöflich. Eitelkeit. Argwohn. Scham. Rechtlichkeit. Verbrecher. Verachtung. Geist. Halbwisser. Muth. Reden. Langeweile. Bosheit. Gefahr. Größe. Tod. Trost. Faulheit. Verstellung. Humanität. Allgemeiner Fortschritt. Unredlichkeit. Entartung. Hoffnung. Neid. Corruption. Polemik. Arbeit. Dankbarkeit. Tiefe Menschen. Meister. Anmaaßung. Fleiß. Tugend. Böser Wille. Schüler. Diplomaten. Tadel. Resignation. Schmeichelei. Talent. Ruf. Verdienst. Lachen. Vornehmheit. Sich Versagen. Partei. Gedächtniß. Gewöhnung. Vertrauen. Jugend. Augenblick. Adel. Macht.
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24 [4] 1 Überzeugung und Wahrheit (Glaube Berge versetzen) (Treue) 2 Verantwortlichkeit. 3 Gerechtigkeit. (Lob und Tadel privat.) 4 Mysterien (Ehe – Königthum, Zukunft) Scham 5 Cultur-Biegsamkeit. Melancholie 6 Ursprung der Moralität. Herkommen. Gewohnheit. Wohlwollen. Verkehr mit Menschen. 7 Ascese und Heiligkeit. 8 Sündenbewusstsein. 24 [5] Metaphys Politik Presse Partei Gesellschaft Erziehung Schule Unterricht Cultur Moral Musik Jünglinge Umgebung Verkehr Autor Kunst. Genie. 24 [6] Die politische Krankheit einer Nation ist gewöhnlich die Ursache ihrer geistigen Verjüngung und Macht. 24 [7] Die Eltern sind nicht, wie der metaphysische Philosoph will, die GelegenUrs der Kinder – vielmehr sind die Kinder die Gelegenheitswirkungen der Eltern; diese wollen im Grunde Lust und gelegentlich kommen sie dabei zu Kindern. 24 [8]
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Damit Held – Drache. 24 [9] Alle kleinen Dichter glauben, der gesunde Menschenverstand sei wohlfeil, und sie hätten ihn, sobald sie ihn nur haben wollten. – Und sie ahnen nicht, daß sie ebendeshalb kleine Dichter bleiben müssen, weil sie ihn nie haben werden. 24 [10] Epilog. – Ich grüße euch Alle, meine Leser, die ihr nicht absichtlich mit falschen und schiefen Augen in dies Buch seht, ihr, die ihr mehr an ihm zu erkennen vermögt als eine Narrenhütte, in welcher ein Zerr- und Fratzenbild geistiger Freiheit zur Anbetung aufgehängt ist. Ihr wißt, was ich gab und wie ich gab; was ich konnte und wie viel mehr ich wollte – nämlich ein elektrisches Band über ein Jahrhundert hin zu spannen, aus einem Sterbezimmer heraus bis in die Geburtskammer neuer Freiheiten des Geistes. Mögt ihr nun für alles Gute und Schlimme, was ich sagte und that, eine schöne Wiedervergeltung üben! Es sind solche unter euch, welche Kleines mit Grossem und Gewolltes mit Gekonntem vergelten sollten: – mit welcher Empfindung ich an Jeden von diesen denke, soll hier am Ende des Buches als rhythmischer Gruß ausgesprochen werden: Seit dies Buch mir erwuchs, quält Sehnsucht mich und Beschämung, Bis solch Gewächs dir einst reicher und schöner erblüht. Jetzt schon kost' ich des Glücks, dass ich dem Größeren nachgeh', Wenn er des goldnen Ertrags eigener Ernten sich freut.
[Dokument: Mappe loser Blätter] [Herbst 1877] 25 [1] Socialismus. Erstens: Man täuscht sich als Zuschauer über die Leiden und Entbehrungen der niederen Schichten des Volkes, weil man unwillkürlich nach dem Maasse der eigenen Empfindung misst, wie als ob man selber mit seinem höchst reizbaren und leidensfähigen Gehirn in die Lage jener versetzt werde. In Wahrheit nehmen die Leiden und Entbehrungen mit dem Wachsthume der Cultur des Individuums zu; die niederen Schichten sind die stumpfesten; ihre Lage verbessern heisst: sie leidensfähiger machen. Zweitens: Fasst man nicht das Wohlbefinden des Einzelnen in's Auge, sondern die Ziele der Menschheit, so fragt es sich sehr, ob in jenen geordneten Zuständen, welche der Socialismus fordert, ähnliche grosse Resultate der Menschheit sich ergeben können, wie die ungeordneten Zustände der Vergangenheit sie ergeben haben. Wahrscheinlich wächst der grosse Mensch
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und das grosse Werk nur in der Freiheit der Wildniss auf. Andere Ziele als grosse Menschen und grosse Werke hat die Menschheit nicht. Drittens: Weil sehr viele harte und grobe Arbeit gethan werden muss, so müssen auch Menschen erhalten werden, welche sich derselben unterziehen, so weit nämlich Maschinen diese Arbeit nicht ersparen können. Dringt in die Arbeiterclasse das Bedürfniss und die Verfeinerung höherer Bildung, so kann sie jene Arbeit nicht mehr thun, ohne unverhältnissmässig sehr zu leiden. Ein soweit entwickelter Arbeiter strebt nach Musse und verlangt nicht Erleichterung der Arbeit, sondern Befreiung von derselben, das heisst: er will sie jemand Anderem aufbürden. Man könnte vielleicht an eine Befriedigung seiner Wünsche und an eine massenhafte Einführung barbarischer Völkerschaften aus Asien und Africa denken, so dass die civilisirte Welt fortwährend die uncivilisirte Welt sich dienstbar machte, und auf diese Weise Nicht-Cultur geradezu als Verpflichtung zum Frohndienste betrachtet würde. In der That ist in den Staaten Europa's die Cultur des Arbeiters und des Arbeitgebers oft so nahegerückt, dass die noch längere Zumuthung aufreibender mechanischer Arbeit das Gefühl der Empörung hervorruft. Viertens: Hat man begriffen, wie der Sinn der Billigkeit und Gerechtigkeit entstanden ist, so muss man den Socialisten widersprechen, wenn sie die Gerechtigkeit zu ihrem Princip machen. Im Naturzustande gilt der Satz nicht: „was dem Einen recht ist, ist dem Andern billig", sondern da entscheidet die Macht. Insofern die Socialisten den völligen Umsturz der Gesellschaft wollen, appelliren sie an die Macht. Erst wenn die Vertreter der Zukunftsordnung denen der alten Ordnungen im Kampfe gegenüberstehen und beide Mächte sich gleich oder ähnlich stark finden, dann sind Verträge möglich, und auf Grund der Verträge entsteht nachher eine Gerechtigkeit. – Menschenrechte giebt es nicht. Fünftens: Wenn ein niedriger Arbeiter zu dem reichen Fabrikanten sagt: „Sie verdienen Ihr Glück nicht", so hat er recht, aber seine Folgerungen daraus sind falsch: Niemand verdient sein Glück, Niemand sein Unglück. Sechstens: Nicht durch Veränderung der Institutionen wird das Glück auf der Erde vermehrt, sondern dadurch, dass man das finstere, schwächliche, grüblerische, gallichte Temperament aussterben macht. Die äussere Lage thut wenig hinzu oder hinweg. Insofern die Socialisten meistens jene übele Art von Temperament haben, verringern sie unter allen Umständen das Glück auf der Erde, selbst wenn es ihnen gelingen sollte, neue Ordnungen zu stiften. Siebentens: Nur innerhalb des Herkommens, der festen Sitte, der Beschränkung giebt es Wohlbehagen auf der Welt; die Socialisten sind mit allen Mächten verbündet, welche das Herkommen, die Sitte, die Beschränkung zerstören; neue constitutive Fähigkeiten sind bei ihnen noch nicht sichtbar geworden. Achtens: Das Beste, was der Socialismus mit sich bringt, ist die Erregung, die er den weitesten Kreisen mittheilt: er unterhält die Menschen und bringt in die niedersten Schichten eine Art von praktisch-philosophischem Gespräch. Insofern ist er eine Kraftquelle des Geistes. 25 [2] Vorrede.
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Wenn es schon dem Autor begegnet, dass er, vor sein eigenes Buch hingestellt, demselben mit Befremdung in's Gesicht sieht und ihm die Frage über die Lippen läuft: bin ich's? bin ich's nicht? – um wie viel mehr müssen die Leser seiner früheren Schriften eine solche Empfindung haben, zumal wenn sie den Autor derselben nicht persönlich kennen und er ihnen nur als Geist und Charakter jener Schriften vor der Seele steht. Diesen Lesern, den mir allezeit gegenwärtigen, treuen, unerschrockenen Anspornern und Vertheidigern meines höhern Selbst – bin ich demnach eine Erklärung schuldig, nicht darüber was das Buch ist, sondern was es für sie, für mich bedeutet: die selbe Erklärung, welche ich mir gebe, wenn ich, wie gesagt, mitunter dem eigenen Kinde mit Verwunderung in die Augen sehe und es bald ein wenig unheimlich, bald allzu harmlos finde. Jeder von uns, den ausgeprägteren Menschen dieses Zeitalters, trägt jene innere freigeisterische Erregtheit mit sich herum, welche in einem, allen früheren Zeiten unzugänglichen Grade uns gegen den leisesten Druck irgend einer Autorität empfindlich und widerspänstig macht. Es ist ein Zufall, dass Keiner von uns bis jetzt ganz und gar zum Typus des Freigeistes der Gegenwart geworden ist, während wir den Ansatz zu ihm und den gleichsam vorgezeichneten Abriss seines Wesens wie mit Augen an uns Allen wahrnehmen. Während nun der Verfasser dieses Buches seit geraumer Zeit jenen grossen typischen Menschen nachspürte, welche aus diesem Zeitalter heraus und über dasselbe hinauswachsen, um einmal die Stützen einer zukünftigen Cultur zu sein, entgieng ihm jener Mangel eines wesentlichen Typus nicht; er suchte sich dadurch zu helfen, dass er das Bild des Freigeistes der Gegenwart nach jenen inneren Fingerzeigen zu sehen und allmählich zu malen versuchte. Indem er auf die Stunden sorgsam Acht gab, in welchen jener Geist aus ihm redete, indem er das Gesetz der Stunden, den inneren Zusammenhang jener Geisterreden fand, wurde ihm aus einem Geiste eine Person, aus einer Person beinahe eine Gestalt. Zuletzt gewann er es nicht mehr über sich, dieselbe, als den Typus des Freigeistes der Gegenwart, öffentlich nur zu malen; das Verwegenere gefiel ihm, den Geist reden zu lassen, ja ihm ein Buch unterzuschieben. Möge der Hörer dieser Reden mit Vertrauen seine Nähe fühlen, möge er empfinden, wie jene fast nervöse freigeisterische Erregbarkeit, jener Widerwille gegen die letzten Reste von Zwang und anbefohlener Mässigung an eine gefestete, milde und fast frohsinnige Seele angeknüpft ist, bei der Niemand nöthig hat, gegen Tücken und plötzliche Ausbrüche auf der Hut zu sein! Namentlich fehlt diesem freien Gesellen der knurrende Ton und die Verbissenheit, die Eigenschaften alter Hunde und Menschen, welche lange an der Kette gelegen haben; der moderne Freigeist ist nicht wie seine Vorfahren aus dem Kampfe geboren, vielmehr aus dem Frieden der Auflösung, in welche er alle geistigen Mächte der alten gebundenen Welt eingegangen sieht. Nachdem dieser grösste Umschwung in der Geschichte eingetreten ist, kann seine Seele ohne Neid und fast bedürfnisslos sein, er erstrebt für sich nicht Vieles, nicht viel mehr; ihm genügt als der wünschenswertheste Zustand jenes freie furchtlose Schweben über Menschen, Sitten, Gesetzen und den herkömmlichen Schätzungen der Dinge. Die Freude an diesem Zustande theilt er gerne mit; wer mehr von ihm will, den weist er, ein wenig Spott auf der Lippe, mit wohlwollendem Kopfschütteln, hin zu seinem Bruder, dem freien Menschen der That: mit dessen "Freiheit" es freilich eine eigene Bewandtniss hat, über welche manche Geschichte zu erzählen wäre. – Nachdem solchermaassen der Autor – fast hätte ich gesagt: der Dichter – den Prolog zu Gunsten seines Stückes und Helden gesprochen, mag Dieser selbst auftreten und sein monologisches Spiel beginnen. Ob Trauerspiel? Ob Komödie, ob Tragikomödie? Vielleicht fehlt das Wort, welches hier zur Bezeichnung völlig ausreichte: so möge ein Vers uns zu Hülfe kommen und den Zuhörer vorbereiten: Spiel der Gedanken, es führt 855
eine der Grazien dich: O wie weidest den Sinn du mir! – Weh! Was seh' ich? Es fällt Larve und Schleier der Führerin, und voran dem Reigen schreitet die grause Nothwendigkeit. 25 [3] I Philosophie der Cultur. II Zur Geschichte der moralischen Empfindungen. III Das religiöse Leben. IV Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller. V Von den ersten und letzten Dingen. VI Der Mensch im Verkehr. VII Weib und Kind. VIII Ein Blick auf den Staat. IX Der Mensch mit sich allein.
[Dokument: Druckmanuskripte] [Winter 1877-78] 26 [1] Verkleinerungssucht als nützlich. Nicht wenige Menschen haben, um ihre Selbstachtung und eine gewisse Tüchtigkeit im Handeln aufrecht zu erhalten, durchaus nöthig, alle ihnen bekannten Menschen in ihrer Vorstellung herabzusetzen und zu verkleinern. Indem wir alle den Vortheil jener Tüchtigkeit haben, müssen wir das nothwendige Werkzeug dazu, den Neid und die Verkleinerungssucht, wohl oder übel gutheissen.
[Dokument: Notizbücher] [Frühling – Sommer 1878] 856
27 [1] Hesiod's Kunst mittel der Fabula. Museninspiration, der Prozeß. 27 [2] Über ganz leere Ereignisse wie das Attentat, wird Lärm gemacht. Die Presse ist der permanente falsche Lärm. 27 [3] Ich sagte als Student „Wagner ist Romantik, nicht Kunst der Mitte und Fülle, sondern des letzten Viertels: bald wird es Nacht sein." Mit dieser Einsicht war ich W, ich konnte nicht anders, aber ich kannte es besser. 27 [4] Der starke freie Mensch ist Nicht-Künstler. (Gegen Wagner.) 27 [5] Ob Wagner im Stande ist, über sich selbst Zeugniß abzulegen?? 27 [6] Die Energie der griechischen Musik im Unisono-Gesang. Ihre feinere Entwicklung in Ton und Rhythmus – wodurch Harmonie uns schadet. 27 [7] 8 Puncte, über die ich mich zu entscheiden habe. 27 [8] Zur überhandnehmen<den> Frömmigkeit: Treitschke und die Franzosen auch: "Gott müssen alle Dinge zum besten dienen". 27 [9] Leidenschaften – Schluss: Überzeugung. Letztes Stück: Allein mit sich selbst. Anfang: Und so vorwärts, auf der Weisheit. Schluss davon: Genua. 27 [10] Von den Leidenschaften. Religion. 857
Im Verkehre. Weib und Kind. Künstler und Schriftsteller. Zukunft der Bildung. (Phase isoliren) Der Mensch mit sich allein. 27 [11] Wir stehen der Musik zu nahe, wir deuten nur hin, spätere Zeiten werden unsere Schriften über Musik gar nicht verstehen. 27 [12] Ich weiss es, dass die Unabhängigkeit des Denkens auf der Erde vermehrt ist und dass wer gegen mich sich erklärt – v. Emerson Goethe p. 9. 27 [13] Was ist Frivolität? Ich verstehe sie nicht. Und doch ist Wagner im Widerspruch zu ihr erwachsen. 27 [14] Der Tadel eines Werks mit grossem Genuss verbunden. Überdiess mit Nutzen (selten für den Urheber), weil er die Bewunderer nöthigt, sich Gründe zugeben. 27 [15] Lebendige Steinform die Holzform nachahmend – als Gleichniss für Rede- und Schreibstil (Lesestil). Die assyrischen Säulen mit den Voluten des ionischen Capitells – nach den Abbildungen. Die aegyptische Säule proto dorisch. Thron von Amyklä und des Zeus in Olympia in Thiere aufgelöst – assyrisch. Behandlung des Haares in der älteren griechischen Kunst ist assyrisch. Trefflich wo die Ceremonie aufhört, wie man sich gehen lassen darf. Thierbildung bei den Assyrern. Gegensatz der Handhabung der riesigen Massen und Roheit des Materials bei den Cyclopenbauten. 858
"Aesthetisch zu uns sprechen" können. Widerwillen gegen Runde und Wölbung. Alt-Gr voll Wälder – die Halle uralt um die Oblonge, ist das prius. 27 [16] – – – wie in der grössten Stadt am allerungestörtesten, so vor der ganzen Publicität unsere Freundesunterhaltung: es hört uns niemand zu, der nur anfängt zu lauschen. – Aber wir sind recht wenige. 27 [17] Menschen die vergebens versuchen, aus sich ein Princip zu machen (wie Wagner). 27 [18] Die Dramatiker entlehnen – ihr Hauptvermögen – künstlerische Gedanken aus dem Epos (Wagner auch noch aus der klassischen Musik). 27 [19] Dramatiker sind constructive Genies, nicht auffindende und originale wie die Epiker. Drama steht tiefer als Epos – roheres Publikum – democratisch. 27 [20] Ich freue mich, dass die Natur nicht romantisch ist: die Unwahrheit ist allein menschlich: sich so weit als möglich von ihr lösen heisst erkennen, den Menschen in die Natur und ihre Wahrheit zurückübersetzen. Was liegt mir da an der Kunst! – Aber kräftige Luft, Schutz vor der Sonne und der Nässe, Abwesenheit der Menschen – das ist meine Natur. 27 [21] Ich sehe die Leidenden, die in die Höhenluft des Engadin sich begeben. Auch ich sende die Patienten in meine Höhenluft – welcher Art ist ihre Krankheit? 27 [22] Der Wanderer an die Freunde von F. N. 27 [23] Die Liebe für Wagner's Kunst in Bausch und Bogen ist genau so ungerecht als die Abneigung in Bausch und Bogen. 27 [24] 859
Seiner Musik fehlt, was seinen Schriften fehlt – Dialectik. Dagegen Kunst der Amplification sehr gross. Seine Werke erscheinen wie gehäufte Massen grosser Einfälle; man wünscht einen grösseren Künstler herbei, sie zu behandeln. Immer auf den extremsten Ausdruck bedacht – bei jedem Wort; aber das Superlativische schwächt ab. Eifersucht gegen alle Perioden des Maasses: er verdächtigt die Schönheit, die Grazie, er spricht dem "Deutschen" nur seine Tugenden zu und versteht auch alle seine Mängel darunter. 27 [25] Es ist wirklich die Kunst der Gegenwart: ein ästhetischeres Zeitalter würde sie ablehnen. Feinere Menschen lehnen sie auch jetzt ab. Vergröberung alles Ästhetischen. – Gegen Goethe's Ideal gehalten, tief zurückstehend. Der moralische Contrast dieser hingebenden glühend-treuen Naturen Wagner's wirkt als Stachel, als Reizmittel: selbst diese Empfindung ist zur Wirkung benutzt. 27 [26] Ich nannte "sittlichste Musik" die Stelle, wo es am ekstatischsten zugeht. Charakteristisch! 27 [27] Wagner gegen die Klugen, die Kalten, die Zufriednen – hier seine Grösse – unzeitgemäss – gegen die Frivolen und Eleganten, – aber auch gegen die Gerechten, Mässigen, an der Welt Sich-freuenden (wie Goethe), gegen die Milden, Anmuthigen, wissenschaftlichen Menschen – hier seine Kehrseite. 27 [28] Epische Motive für die innere Phantasie: viele Scenen wirken viel schwächer in der Versinnlichung (der Riesenwurm und Wotan). 27 [29] Wagner kann mit seiner Musik nicht erzählen, nicht beweisen, sondern überfallen, umwerfen, quälen, spannen, entsetzen – was seiner Ausbildung fehlt, hat er in sein Princip genommen. Die Stimmung ersetzt die Composition: er geht zu direkt zu Wege. 27 [30] An unkünstlerische Menschen sich wendend, mit allen Hülfsmitteln soll gewirkt werden, nicht auf Kunstwirkung, sondern auf Nervenwirkung ganz allgemein ist es abgesehen. 27 [31]
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Nach einem Thema ist Wagner immer in Verlegenheit, wie weiter. Deshalb lange Vorbereitung – Spannung. Eigene Verschlagenheit, seine Schwächen als Tugenden umzudeuten. So das Improvisatorische. 27 [32] Was aus unserer Zeit drückt Wagner aus? Das Nebeneinander von Roheit und zartester Schwäche, Naturtrieb-Verwilderung und nervöser Über-Empfindsamkeit, Sucht nach Emotion aus Ermüdung und Lust an der Ermüdung. – Dies verstehen die Wagnerianer. 27 [33] Ich vergleiche mit Wagner's Musik, die als Rede wirken will, die Relief-Sculptur, die als Malerei wirken will. Die höchsten Stilgesetze sind verletzt, das Edelste kann nicht mehr erreicht werden. 27 [34] Das grösste Pathos erreichte ich, als ich den Schopenhauerschen Menschen entwarf: den zerstörenden Genius, gegen alles Werdende. Als Gegenbedürfniss brauchte ich den aufbauenden metaphysischen Künstler, der einen schön träumen macht in solchem unheimlichen Tagewerk. Unzufriedenheit am tragischen Denken gesteigert. Gegenmittel: pessimistische Kritik des Denkens und der Lust am Denken. Kritik des Genius. 1. Phase: Strauss. Unbefriedigung. Dagegen Lust am Kampf. 2. Phase: Versuch die Augen zu schliessen gegen die Erkenntniss der Historie. 3. Phase: Lust der Zerstörung. 4. Phase: Lust der Betäubung. 27 [35] Rhythmus nicht von Tanz aus in die Poesie der Griechen gekommen. Der Tanz und die Poesie unabhängig. Also: muss Musik und Tanz lange Zeit unabhängig gewesen sein. 27 [36] Mächtige schwarze Tannen gegen Berge und Frühlingsgrün sich abhebend – Sonne auf langen baumlosen Streifen im Walde am Abend – man erwartet den heitersten Tanz. 27 [37] Mein Irrthum über Wagner ist nicht einmal individuell, sehr Viele sagten, mein Bild sei das richtige. Es gehört zu den mächtigen Wirkungen solcher Naturen, den Maler zu täuschen. Aber gegen die Gerechtigkeit vergeht man sich ebenso durch Gunst als durch Abgunst. 861
27 [38] Bei Wagner ehrgeizigste Combination aller Mittel zur stärksten Wirkung: während die älteren Musiker still die einzelnen Arten fortbildeten. 27 [39] Formbild<ende> Macht des Militärs übersehen. 27 [40] Wenn die Natur nicht von euch zur Komödie gemacht worden wäre, so würdet ihr nicht an Gott glauben – das theatralische Maschinenwesen, die Coulissen und Überraschungen – – – 27 [41] Das psychologische Gesetz in der Entwicklung der Leidenschaft (Handlung Rede Gebärde) und der musikalischen Symphonie decken sich nicht: die Wagnerische Behauptung kann als widerlegt gelten, durch seine Kunst. – Alles Grosse ist da, wo die Musik dominirt, oder dort, wo die Dramatik dominirt – also nicht im Parallelismus. 27 [42] Mir schien es nach dem Kriege dass Macht Pflicht sei und eine Verschuldung in sich enthalte. Ich sah in Wagner den Gegner der Zeit, auch in dem, wo diese Zeit Größe hat und wo ich selber in mir Kraft fühlte. Eine Kaltwasserkur schien mir nöthig. Ich knüpfte an die Verdächtigung des Menschen an, an seine Verächtlichkeit, die ich früher benützte, um mich in jenen übermüthigen metaphysischen Traum zu heben. Ich kannte den Menschen gut genug, aber ich hatte ihn falsch gemessen und beurtheilt: der Grund zum Verwerfen fehlte. 27 [43] Der lebendige Schopenhauer hat mit den Metaphysikern nichts zu thun. Er ist Voltairianer im Wesentlichen, das 4. <Buch> ihm fremd. 27 [44] Mein Gemälde Wagner's ging über ihn hinaus, ich hatte ein ideales Monstrum geschildert, welches aber vielleicht im Stande ist, Künstler zu entzünden. Der wirkliche Wagner, das wirkliche Bayreuth war mir wie der schlechte allerletzte Abzug eines Kupferstichs auf geringem Papier. Mein Bedürfniß, wirkliche Menschen und deren Motive zu sehen, war durch diese beschämende Erfahrung ungemein angereizt. 27 [45] Wagner erinnert an die Lava, die ihren eigenen Lauf durch Erstarrung hindert und plötzlich sich durch Blöcke gehemmt fühlt, die sie selbst bildet. Kein Allegro con fuoco bei ihm.
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27 [46] Anmuth und Innigkeit gesellt sind auch deutsch. 27 [47] Seine Seele singt nicht, sie spricht, aber so wie die höchste Leidenschaft spricht. Natürlich ist bei ihm der Ton Rhythmus Gebärdenfall der Rede; die Musik ist dagegen nie ganz natürlich, eine Art erlernter Sprache mit mässigem Vorrath von Worten und einer anderen Syntax. 27 [48] Aber hinterdrein wurde mir der Blick für die tausend Quellen in der Wüste geöffnet. Jene Periode sehr nützlich gegen eine vorzeitige Altklugheit. 27 [49] Jetzt tagte mir das Alterthum und Goethes Einsicht der grossen Kunst: und jetzt erst konnte ich den schlichten Blick für das wirkliche Menschenleben gewinnen: ich hatte die Gegenmittel dazu, dass kein vergiftender Pessimismus draus wurde. Schopenhauer wurde "historisch", nicht als Menschenkenner. 27 [50] Armut an Melodie und in der Melodie bei Wagner. Die Melodie ist ein Ganzes mit vielen schönen Proportionen. Spiegelbild der geordneten Seele. Er strebt darnach: hat er eine Melodie, so erdrückt er sie fast in seiner Umarmung. 27 [51] Unsere Jugend empörte sich gegen die Nüchternheit der Zeit. Sie warf sich auf den Cultus des Excesses, der Leidenschaft, der Ekstase, der schwärzesten herbsten Auffassung der Welt. 27 [52] Wagner kämpft gegen die „Frivolität" in sich, zu der ihm, dem Unvornehmen (gegen Goethe), die Freude an der Welt wurde. V v 27 [53] Wagner ahmt sich vielfach selber nach – Manier. Deshalb ist er auch am schnellsten unter Musikern nachgeahmt worden. Es ist leicht. 27 [54] Wagner hat nicht die Kraft, den Menschen im Umgange frei und gross zu machen: er ist nicht sicher, sondern argwöhnisch und anmaassend. Seine Kunst wirkt so auf Künstler; sie ist neidisch gegen Rivalen. 27 [55] 863
Widerspruch der Roheit im Handeln und der Überzartheit im Empfinden. 27 [56] Unklarheit der letzten Ziele, unantike Verschwommenheit. 27 [57] Die Kunst der Orchester-Farben, mit feinstem Ohre den Franzosen, Berlioz, abgehört (frühzeitig). 27 [58] Tannhäuser und Lohengrin keine gute Musik. Das Ergreifende Rührende wird aber durchaus nicht von der reinsten und höchsten Kunst am sichersten erreicht. Vergröberung. 27 [59] Es fehlt die natürliche Vornehmheit, die Bach und Beethoven , die schöne Seele (selbst Mendelssohn) – eine Stufe tiefer. 27 [60] Auch in der Musik giebt es eine Logik und eine Rhetorik als Stilgegensätze. Wagner wird Rhetor, wenn er ein Thema behandelt. 27 [61] Tiefgehendes Misstrauen gegen seine musikalische Erfindung in der Dialectik. Er maskirt auf alle Weise den Mangel. 27 [62] Darstellung der Geburt der Tragödie – schwebende Wolkenguirlanden, weiss bei Nachthimmel, durch welche Sterne hindurchschimmern – undeutlich allzudeutlich geisterhaft erhelltes Thal. 27 [63] Auf der Brücke – nach einer Zusammenkunft mit Freunden – Einsamkeit. 27 [64] Auf Bergpässen wohnend. 27 [65] Im Böhmerwald erhob ich mich über die Phase. 27 [66] 864
„Bildungsphilister" und historische Krankheit fiengen an mich zu beflügeln. 27 [67] Bei Schopenhauer. Zuerst im Grossen ihn festhaltend gegen das Einzelne, später im Einzelnen gegen das Ganze. 27 [68] Wagner's „musikalischer Euphuismus" (Liszt) 27 [69] Rheintöchtermusik – Herbstschönheit 27 [70] Problem: der Musiker, dem der Sinn für Rhythmus abgeht. Hebräischer Rhythmus (Parallelismus), überreife des rhythmischen Gefühls, auf primitive Stufen zurückgreifend. Mitte der Kunst vorüber. 27 [71] Hätten wir die griechischen subjectiven Kräfte, welche "Originalität". Aber keine Ausbildung im Engen, Beschränkten. 27 [72] Entwicklung des Schmucks der Rede. 27 [73] "Zum Lohn für die feinste innere Mässigung bekommen" Burckhardt. 27 [74] Es giebt etwas, das im höchsten Grade das Misstrauen gegen Wagner wachruft: das ist Wagner's Misstrauen. Das wühlt so stark dass ich zweimal zweifelte ob Musiker– – – 27 [75] Plato's Neid. Er will Sokrates für sich in Beschlag nehmen. Er durchdringt ihn mit sich, meint ihn zu verschönern, χαλοζ Σωχοατηζ allen Sokratikern zu entziehn, sich als fort lebenden zu bezeichnen. Aber er stellt ihn ganz unhistorisch dar, auf die gefährlichste Kante (wie Wagner es mit Beethoven und Shakespeare macht). 27 [76] 865
Die Griechen ohne Sünd<en>gefühl. Orest der Verbrecher ehrwürdig. Wahnsinn, kein Erlösungsbedürfniß. 27 [77] Wagner hat in seinen Schriften nicht Grösse Ruhe sondern Anmaassung – Warum: – 27 [78] Stelle Taine's über die Semiten. – Übrigens habe ich den Leser irregeführt: die Stelle gilt gar nicht Wagner – sollte Wagner ein Semite sein? Jetzt verstehen wir seine Abneigung gegen die Juden. 27 [79] Ich war verliebt in die Kunst mit wahrer Leidenschaft und sah zuletzt in allem Seienden nichts als Kunst – im Alter, wo sonst vernünftigermaassen andere Leidenschaften die Seele ausfüllen. 27 [80] Der Schopenhauersche Mensch trieb mich zur Skepsis gegen alles Verehrte Hochgehaltene, bisher Vertheidigte (auch gegen Griechen Schopenhauer Wagner) Genie Heilige – Pessimismus der Erkenntniss. Bei diesem Umweg kam ich auf die Höhe, mit den frischesten Winden. – Die Schrift über Bayreuth war nur eine Pause, ein Zurücksinken, Ausruhen. Dort ging mir die Unnöthigkeit von Bayreuth für mich auf. 27 [81] Wer seine Zeit angreift, kann nur sich angreifen: was kann er denn sehen wenn nicht sich? So kann man in Andern auch nur sich verherrlichen. Selbstvernichtung Selbstvergötterung Selbstverachtung – das ist unser Richten Lieben Hassen. 27 [82] Ich hatte die Lust an den Illusionen satt. Selbst in der Natur verdross es mich, einen Berg als ein Gemüths-factum zu sehen. – Endlich sah ich ein, dass auch unsre Lust an der Wahrheit auf der Lust der Illusion ruht. 27 [83] Wagner kämpft gegen das Monumentale, aber glaubt an das allgemein Menschliche! Stil-Tradition – hier will er monumentalisiren – wo es am wenigsten erlaubt ist – im tempo! – 27 [84] Ich habe das Talent nicht, treu zu sein und, was schlimmer ist, nicht einmal die Eitelkeit, es zu scheinen. 27 [85] 866
Aller Genuss besteht darin, wie fein das Urtheils-Vermögen ist. Jede Kritik eines Meisters eröffnet uns den Zugang zu andern Meistern. Tausend Quellen in der Wüste. 27 [86] Wozu sind Wagner's Thorheiten und Ausschweifungen, und die seiner Partei nutz? Oder sind sie nützlich zu machen? Er trägt eine lärmende Glocke durch sie mit herum. Ich wünsche ihn nicht anders. 27 [87] Ich bin gegen die Sonderentwicklung des religiösen Gefühls, weil seine Kraft anderen Entwicklungen zu Gute kommen soll. Jetzt wird es so verzettelt – rechte Freude macht es doch nicht. 27 [88] Freunde – wir wollen uns nicht zu Gespenstern werden. – Qual nach einer Zusammenkunft. 27 [89] Wagner rennt der einen Verrücktheit nach, die Zeit einer andern; beide im selben Tempo, ebenso blind und unbillig. 27 [90] Alle „Ideen" Wagner's werden sofort zur harten Manier, er wird durch sie tyrannisirt. Wie sich nur ein solcher Mann so tyrannisiren lassen kann! Z. B. durch seinen Judenhass. Er macht seine Themata wie seine "Ideen" todt durch eine wüthende Lust an der Wiederholung. Das Problem der übergrossen Breite und Länge – er plagt uns durch sein Entzücken. 27 [91] Ich kann Glocken läuten (Schrift über Richard Wagner). 27 [92] Alles Ausgezeichnete hat mittlere Natur. Richard Wagner ist Musik für überreife Musikperiode. 27 [93] Beethoven hat es besser gemacht als Schiller. Bach besser als Klopstock. Mozart besser als Wieland. Wagner besser als Kleist. 27 [94] Bei Wagner's Verwerfung der Formen fällt einem Eckermann ein: "es ist keine Kunst geistreich zu sein, wenn man vor nichts Respekt hat". 27 [95] 867
Freunde. – Nichts verbindet uns, aber wir haben Freude an einander, bis zu dem Grade, dass der Eine des Anderen Richtung fördert, selbst wenn sie schnurstracks der seinen entgegenläuft. 27 [96] Musik freilich nicht monumental. Poesie viel mehr (des Gedankens wegen). 27 [97] Ein Refrain (Sorrent) wird von uns von einer falschen Folie aus empfunden: so mit aller vergangnen Musik.
[Dokument: Notizbücher] [Frühling – Sommer 1878] Memorabilia. 28 [1] Herbst – Schmerz – Stoppel – Pechnelken Astern. Ganz ähnlich beim angeblichen Brand des Louvre – Cultur-Herbstgefühl. Nie ein tieferer Schmerz. 28 [2] Perennirendes Misstrauen gegen sogenannte moralische Handlungen. Der Mensch handelt wie er sich am wohlsten fühlt. 15. Ausnahmsweise trotziges selbstverachtendes Höhenluftgefühl der Moralität. 28 [3] 14. Splügen. Symbol Hin und Her der Generationen. Mitte zwischen Nord und Süd, Sommer und Winter. Die Burg im Sonnenschein zu Mittag. Wald Abend Monument Historie geschrieben. 28 [4] 13. Ich habe keinen Menschen mit Überzeugungen kennen gelernt, der mir nicht, wegen dieser Überzeugungen, bald Ironie erregt hätte. 28 [5] Im Jahr 1877 wusste ich von der Zukunft gar nichts zu verlangen. Selbst Gesundheit nicht – denn diese ist ein Mittel – was hätte ich mit diesem Mittel erreichen wollen? 28 [6]
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Windlücke. Steine als Zeugen der Vorzeit. Krumme Hufe Mondschein Schlittschuh. "Was ich des Tags verdient auf m<einer> Leyer, das geht des Ab<end>s w in den Wind". Glückliche Tage des Lebens! 28 [7] Als Kind Gott im Glanze gesehn. – Erste philosophische Schrift über die Entstehung des Teufels (Gott denkt sich selbst, dies kann er nur durch Vorstellung seines Gegensatzes). Schwermüth Nachmittag – Gottesdienst in der Capelle zu Pforta, ferne Orgeltöne. Als Verwandter von Pfarrern früher Einblick in geistige und seelische Beschränktheit Tüchtigkeit Hochmuth Decorum. 28 [8] Sieben Jahre – Verlust der Kindheit empfunden. Aber mit 20 Jahren bei Bonn am Einfluss der Lippe (?) mich als Kind gefühlt. 28 [9] Dämonion – warnende Stimme des Vaters. 28 [10] Thurm bei Sorrent auf dem Berge Hausaffe evviva evviva il cuor di Maria evviva il Dio que tanto l'ama. 28 [11] Apologie des Socrates mit innerer Bewegung gelesen und erklärt. Lust an den Memorabilien, die ich besser zu verstehen glaube als die Philologen. 28 [12] Ich irre mich instinctiv über die Intellectualität der Menschen, über ihr objectives Interesse, das ich immer dem meinen gleich setze. Ich behandle sie darin sehr vornehm. 28 [13] Die Haushälterin der Pfarrei Einsiedel. – Zeugniss über den frühen Ernst. Christus als Knabe unter den Schriftgelehrten. 28 [14]
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Spaziergang nach Gohlis als Ritschl den Philologen in mir festgestellt hatte, frühe warme Sonne im Februar. Pfannkuchen. 28 [15] Eine Haupteigenschaft: ein verfeinerter Heroismus (den ich übrigens auch bei Epikur anerkenne). In meinem Buche giebt es kein Wort gegen Todesfurcht. Ich habe wenig davon. 28 [16] Mein Wesen enthüllt sich – ob es sich entwickelt? Von Kindheit an überladen mit fremdem Character und fremdem Wissen. Ich entdecke mich selbst. 28 [17] Mitromania. – Warten auf das Erscheinen des ersten Sonnenstrahls – ihn endlich sehen und – ihn verhöhnen und sich auslöschen. 28 [18] Wissen Erstarrung – Handeln Epilepsie unfreiwillig. 12. Wie vom Curare-Pfeil der Erkenntniss angeschossen bin ich: alles sehend. 28 [19] Von Reisenden: Die Einen wissen aus Wenigem Viel, die Meisten aus Vielem Wenig zu machen. II. Gesehen (bereist) werden; sehen; erleben; einleben; herausleben – fünf Stufen; wenige kommen zur obersten. 28 [20] 10. Es ist das Geheimniss aller Erfolgreichen, ihre Fehler wie Tugenden zu behandeln. So Wagner. 28 [21] Unsere Leiden für die Anderen nützlich machen wie Staat den Tod des Verbrechers. 28 [22] Mithras – Hoffnung Mithraswahnsinn! 28 [23]
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Verwundet hat mich der mich erweckt. 28 [24] Grotta di Matrimonio, idyllisches Bild des unbewussten Lebens. 28 [25] Tiberius: Wahnsinn des Handeln-Könnens. Gegenstück: Wahnsinn des Wissen-Könnens. 28 [26] 8. Man hat mich nicht beleidigt: trotzdem trenne ich mich von den Menschen. Keine Rache. 28 [27] 7. Verfeinerter Heroismus mit Augenschliessen über sich selbst, an mir bemerkt. Vielleicht schliessen Andre bei ihren Thätigkeiten die Augen. 28 [28] Mutter – Natur – Vergangenheit – morden – Orestes – die Ehrfurcht vor dem grossen Verbrecher. Er ist geheiligt. Cultus der Erinyen (als fruchtbar). 28 [29] 6. Kleine Kraft nöthig einen Kahn hinauszustossen. Byron Edinburger Kritik. Später die Verleumdung. 28 [30] 5. Seine Krankheit an den Pflug spannen. 28 [31] 4. Durch kein Leiden sich zum Glauben an den δερυτεοοζ πλουζ bringen lassen. Leiden als Strafe und Prüfung (Zukunft) ablehnen. 28 [32] Morgens im Winter in einem dampfenden Pferdestall. 28 [33] 3. In Sorrent hob ich die Moosschicht von 9 Jahren. Von Todten träumen. 871
28 [34] Das Leben als Fest auszudenken von Mitromanie aus. 28 [35] Christus soll die Welt erlöst haben? Es muss ihm wohl missrathen sein. 28 [36] Auf seine Fehler säen. 28 [37] Faust-Problem überwunden, mit der Metaphysik. 28 [38] Dem Einzelnen kühne Willkür des Lebens zu vindiciren. Jetzt erst! 28 [39] Kunst der Erinnerung, Bezwingung der bösen bitteren Elemente. Kampf gegen Krankheit Verdruss Langeweile. 2. Mithras tödtet den Stier, an dem Schlange und Scorpion hängen. 28 [40] Die antike Weltbetrachtung wieder gewinnen! Wirklich die Moira über allem, die Götter Repräsentanten wirklicher Mächte! Antik werden! 28 [41] Ich brauche die Salbbüchsen und Medicinflaschen aller antiken Philosophen. 28 [42] Kröten-Traum. 28 [43] Neu-Alterthum. 28 [44] Das Grosse zu lieben, auch wenn es uns demüthigt. – Warum sollte der Künstler nicht vor der Wahrheit knien, der Führer einer geistigen Bewegung sich beschämt vor der Gerechtigkeit niederwerfen und sagen „ich weiss es, Göttin, meine Sache ist nicht deine Sache, vergieb, aber ich kann nicht anders."
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28 [45] Wirkung meiner Schriften: dagegen sehr skeptisch. Ich sah Parteien. „Ich will warten, bis Wagner eine Schrift anerkennt, die gegen ihn gerichtet ist" sagte ich. 28 [46] Bei Ungenügen stellt sich leicht Geist-Vergiftung ein: so bei den Zielen der Bayreuther Blätter. 28 [47] Den höchsten Formensinn, auf der einfachsten Grundform das Complicirteste folgerichtig entwickeln – finde ich bei Chopin. 28 [48] Bei der deutschen Musik werden moralische Factoren zu hoch angerechnet – 28 [49] Schamloses sich Hineindrängen – das kann wirklich Mitleid sein: aber ich wünsche Mitleid mit Intellect: dem Schopenh, das schon intelligent sein soll, misstraue ich völlig. 28 [50] Naturfehler des Musikers. Biographien 28 [51] Das Orchester in Bayreuth zu tief, schon von der Mitte aus musste man die musikalische Richtigkeit auf Treu und Glauben hinnehmen. 28 [52] Wagner hat den Sinn der Laien, die eine Erklärung aus einer Ursache für besser halten. So die Juden: Eine Schuld, So Ein Erlöser. So vereinfacht er das Deutsche, die Cultur. Falsch, aber kräftig. 28 [53] Liszt, der Repräsentant aller Musiker, kein Musiker: der Fürst, nicht der Staatsmann. Hundert Musiker-Seelen zusammen, aber nicht genug eigene Person, um eignen Schatten zu haben. Wenn man eine eigene leibhafte Persönlichkeit haben will, so muss man sich nicht sträuben, auch einen Schatten zu haben. 28 [54]
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Ich habe öfters das Glück gehabt, die gute Saite eines Menschen zu treffen und ganze Tage lang ihren Ton zu geniessen; andre, auf meine Empfehlung, lernten sie kennen und fanden unerträgliche eingebildete kindische Gesellen – es waren dieselben, die mich einen wahren Schatz von Seelengüte bescheidenen Muthes und Vertrauens blicken liessen. 28 [55] „Hintersinnen" d. h. man denkt nichts anderes mehr als wie es gegangen ist und nicht hätte gehen sollen. 28 [56] Gegen das Briefschreiben unter Freunden. Sobald man Briefe schreibt, beginnt man schon zu irren. 28 [57] Ich habe gesagt, „man könne sehr viel über die Entstehung des Kunstwerks aus Wagner's Schriften lernen". Nämlich die tiefe Ungerechtigkeit, Selbstlust und Überschätzung, die Verachtung der Kritik usw. 28 [58] Was mich gegen die Frauen gelegentlich ungeduldig macht, ist, dass sie das Gute ja Ausgezeichnete verleugnen und verunglimpfen, wenn es nicht auf den Namen getauft ist, welcher ihnen als der höchste gilt. Die daraus folgende elende Vergeudung von Geist, um das Gute schlecht und das Unbedeutende zu etwas Ungemeinem Vielbedeutendem zu machen. 28 [59] Unter dem scheinheiligen Name des Mitleidens die niederträchtigsten Verleumdungen hinter dem Rücken aussprengen. 28 [60] Unter Nußbaum wie unter Verwandten, ganz heimisch.
[Dokument: Notizbücher] [Sommer 1878] 29 [1] Was Goethe bei H. Kleist empfand, war sein Gefühl des Tragischen, von dem er sich abwandte: es war die unheilbare Seite der Natur. Er selbst war conciliant und heilbar. Das Tragische hat mit unheilbaren, die Kom<ödie> mit heilbaren Leiden zu thun. 29 [2]
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Seine Fehler als Tugenden auszudeuten versteht niemand besser als Wagner. Eine tiefe Verschlagenheit seines Künstler-Sinnes zeigt sich hier. Alle Künstler haben etwas davon, die Frauen auch. 29 [3] Man muss von einer Phase des Lebens zu scheiden verstehen, wie die Sonne mit grösstem Glanze, auch wenn man nicht wieder aufgehen will – 29 [4] Die Wahrheit soll wie die Sonne nicht zu hell sein: sonst flüchten die Menschen in die Nacht und machen es dunkel. 29 [5] Getränke und Luxus sind für die Gedanken-Armen, welche Empfindungen haben wollen. Deshalb entarten die Künstler so leicht. 29 [6] Wer einen falschen Weg einschlägt, merkt es, w misstrauisch, die Kehle wird fast erdrosselt. 29 [7] Wenn man nicht das Leben für eine gute Sache hält, die erhalten werden muss, so fehlt all unseren Bestrebungen der Wissenschaft der Sinn (der Nutzen) selbst, wozu Wahrheit? 29 [8] Dühring, um positiv zu werden, wird unwissenschaftlich (Ethik). 29 [9] Den grössten Unterschied macht es, ob man für das Minuten-Glück oder das Zeiten-Glück von seinem Temperamente vorgerichtet ist. Leicht verwechselt man und strebt nach falschen Zielen (in Kunst und Philosophie). Es verdirbt das Temperament und die Begabung auch. 29 [10] Vom Standpunkt des intellectualen Gewissens zerfallen die Menschen in gute, solche welche den guten Willen haben, sich belehren zu lassen – und solche welche diesen Willen nicht haben – die bösen. 29 [11] Ich glaubte mich Wunder wie fern vom Philosophen und gieng in Nebel und Sehnsucht vorwärts. Plötzlich – 29 [12] 875
Kontur-Phantom. Zu jeder Krümmung den vollendenden Kreis ziehen. 29 [13] Wer Huldigungen annimmt ist ein Lügner oder ganz über sich blind. 29 [14] Metaph macht das Denken unnatürlich, unfruchtbar (es wächst nicht zusammen) endlich gedankenleer. 29 [15] Motive einer tragischen Weltbetrachtung: der Kampf der Nichtsiegenden verherrlicht. Die Misslingenden sind in der Mehrzahl. Das Schreckliche erschüttert stärker. Lust an der Paradoxie, die Nacht dem Tage, den Tod dem Leben vorzuziehen. Trag<ödie> und Kom<ödie> geben eine Carikatur des Lebens, nicht ein Abbild. "Pathologisch". Goethe gegen das Tragische – warum es aufsuchen? – Conciliante Natur. 29 [16] So begabte Wesen, wie ich sie mir als Genies vorstellte, haben nie existirt. 29 [17] Der ungeheure Eindruck, den die Lehre von der Vergänglichkeit auf die Alten macht! (Horaz und Antonin) 29 [18] „Die Griechen haben das Bedeutende gross, das Unbedeutende (z. B. Panta Attribut) klein." 29 [19] Es ist nichts um ein Genie, wenn es uns nicht so hoch hebt und so weit frei macht, daß wir seiner nicht mehr bedürfen. Befreien und sich vom Befreiten verachten lassen – ist das Loos der Führer der Menschheit, kein trauriges – sie jubeln darüber, daß ihr Weg fortgesetzt wird. 29 [20] Die schlichte und blasse Rose, die auf den Berghängen wächst, rührt uns mehr als der vollste Farbenglanz der Gartenblumen. 29 [21]
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Warum fehlten die Gelehrten in Bayreuth? Sie hatten es nicht nöthig. Das hätte ich ihnen früher zum Vorwurf gemacht. Jetzt – 29 [22] Wir brauchen unsere Feinde noch gar nicht zu lieben, wir brauchen es nur zu glauben, dass wir sie lieben – das ist die Feinheit des Christenthums, und erklärt seinen populären Erfolg. Selbst glauben ist nicht recht nöthig, es aber recht oft sagen und bekennen. 29 [23] Wiederschöpfung des Porträts aus Ahnung, Angesichts der Werke. („Richard Wagner": wie das Werk das Bild des Lebenden verzaubert – es giebt Idealbildung.) 29 [24] Am Abend abwärts, wenn die Gluth der Sonne durch die fetten Blätter der Kastanien blickt. 29 [25] Das der Natur Folgen irrthümlich bei Montaigne III 354. 29 [26] Liv. 41, c. 20: Persei „nulli fortunae adhaerebat animus, per omnia genera vitae errans, uti nec sibi nec aliis qui homo esset satis constaret". Montaigne III 362. 29 [27] In Jung-Stilling die Stelle über das Vergnügen in der christlichen Moral. 29 [28] Der Mensch will nicht nur, daß seine Art zu leben angenehm oder nützlich sei: sie soll auch ein Verdienst sein und zwar um so mehr ihm klar ist, daß die Annehmlichkeit nicht groß ist. Er will sich durch die Ehre schadlos halten. 29 [29] Mein Kind, lebe so dass du dich vor dir selber nicht zu schämen brauchst; sage dein Wort so, dass jeder dir nachsagen muss, man könne sich auf dich verlassen; und vergiss nicht, dass Freude machen selber Freude macht. Lerne bei Zeiten, dass in allen Stücken der Hunger die Speisen würzt und fliehe die Bequemlichkeit weil sie das Leben fade macht. Du sollst etwas Grosses einst thun: dazu musst du erst etwas Grosses werden. 29 [30] Jener Geruch aus Weizenfeldern, der dem Honig nahe kommt. 29 [31]
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Titel: der neue Umblick von F. N. 29 [32] Die Barockkunst trägt die Kunst der Höhe mit sich herum und verbreitet sie – ein Verdienst! 29 [33] Wagner's Kunst für Gelehrte, die nicht Philosophen zu werden wagen – Missbehagen über sich, gewöhnlich dumpfe Betäubung – von Zeit zu Zeit im Gegentheile baden. 29 [34] Meine moralischen Beobachtungen gehen über die Mitte hinaus – ein Phänomen der noch nicht hergestellten Gesundheit. 29 [35] Erziehung. 2 Haupt-Epochen. – 1) Schleier zuziehen. 2) Schleier-Aufheben. Fühlt man sich hinterdrein wohl, so war es die rechte Zeit. 29 [36] Anscheinende Kunst für Alle (bei Wagner) weil gröbere und feinere Mittel zugleich. Doch sehr an bestimmte musikalisch-aesthetische Erziehung gebunden – namentlich moralische Gleichgültigkeit. 29 [37] Die Zeit wo Bücher und Gespräche von Gedanken überladen sind, ist nicht die des Gedankenreichthums. Wenn letzterer da ist, zwingt er zur Ordnung und Schlichtheit im Haushalt. Junge Leute lieben das überladene, weil es den Schein bei den Armen (die die Mehrzahl sind) erweckt. 29 [38] Da Meister nicht geboren werden – nicht einmal Stümper. 29 [39] Wer auf Kunst der Inspiration rechnet, muss aus verwandten Gebieten viel zu Hülfe nehmen, um seine Kunst durchzusetzen, ewig ergreifen, erschüttern, der Besinnung und <des> Urtheils berauben, an die tiefsten Nöthe und Erfahrungen erinnern. 29 [40] Wer dem Verstand nicht zu trauen wagt, sucht ihn zu verdächtigen. Die Gefühls-Menschen. 878
29 [41] Ironie -Lüge über das was man weiss, als ob man es nicht wüsste. Zum Wohl Anderer (Stellung der Metaphysik in der Erziehung?). 29 [42] Drei Typen der göttlichen Jugend Apollo Hermes Dionysos – erstaunlich das auszubilden, welcher Muth! 29 [43] Jung werden der Götter in der anschauenden Phantasie der Künstler. 29 [44] „Schönheit zweiter Classe" sinnliche Lustigkeit neben dem hoch Idealen. Schade wenn's nicht dargestellt worden wäre. Neue Gebiete, nicht hochedel, doch noch ideal. Nicht göttlich. 29 [45] Warum sollte man nicht metaphysisch spielen dürfen? und ganz enorme Kraft des Schaffens darauf verwenden? 29 [46] Wagnerianer wollen nichts an sich ändern, leben im Verdruss über Fades Conventionelles Brutales – die Kunst soll zeitweilig magisch sie darüber hinausheben. Willensschwäche. 29 [47] Wagner's Kunst nicht mehr nöthig haben oder noch nöthig haben – 29 [48] Ungeheure Antriebe sind in ihr – sie treibt über sich hinaus. 29 [49] Warum lässt man Metaphysik und Religion nicht als Spiel der Erwachsenen gelten? 29 [50] Dadurch dass man den Ernst weggiebt für Metaphysik und Religion, hat man ihn nicht mehr für's Leben und seine Aufgabe. 29 [51]
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Wagner's Kunst für solche welche sich eines wesentlichen Fehlers in ihrer Lebens-Führung bewusst sind: entweder eine grosse Natur durch niedrige Thätigkeit eingeklemmt zu haben oder durch Müssiggang vergeudet oder durch Conventions-Ehen usw. Weltflüchtig ist hier = Ich-flüchtig. 29 [52] „Die Götter Griechenlands" eine Etappe auf dem Wege der Enttäuschung: zuletzt Freiheit von Metaphysik. 29 [53] An Gott glauben ist so wie ehemals an Gespenster glauben. (Lichtenberg?) 29 [54] Das Kind will sein Mährchen nicht aufgeben. 29 [55] Wenn das Leben nicht den höchsten Werth hat (Metaphysik), ist es darum gleich zum niedrigsten Preise loszuschlagen? Warum sagen dies die Menschen? Kindlicher Trotz? – Als ob wir nicht immer ein Stück Schätzung von Kindheit an verlernen müssten! 29 [56] Es ist nicht auszurechnen, wie schwer es ist, über das litterarische Empfinden hinaus zu kommen. Man kann sich täuschen bei Andern, weil deren litterarische Bildung nur zu gering oder eine andere ist.
[Dokument: Notizbücher] [Sommer 1878] 30 [1] Mein Fehler war der, dass ich nach Bayreuth mit einem Ideal kam: so musste ich denn die bitterste Enttäuschung erleben. Die Überfülle des Hässlichen Verzerrten Überwürzten stiess mich heftig zurück. 30 [2] Über die Ursachen der Dichtkunst Vorurtheile über die Dichter. Aphorismen.
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30 [3] Ich sah den Sinn für social Gedankenkreise in den höheren Ständen sich verbreitend: und ich mußte sagen, mit Goethe, „man schien nicht zu fühlen, was alles erst zu verlieren sei, um zu irgend einer Art zweideutigen Gewinns zu gelangen". 30 [4] Goethe: „das Sehnsüchtige, das in mir lag, das ich in früheren Zeiten vielleicht zu sehr gehegt und bei fortschreitendem Leben kräftig zu bekämpfen trachtete, wollte dem Manne nicht mehr ziemen, und er suchte deshalb die volle endliche Befriedigung." Schluß? 30 [5] Goethe: „das Schöne ist, wenn wir das gesetzmäßig Lebendige in seiner größten Thätigkeit und Vollkommenheit schauen, wodurch wir zur Reproduktion gereizt uns gleichfalls lebendig und in höchste Thätigkeit versetzt fühlen." 30 [6] Die Mitte das Beste (in Wahl der Probleme, des Ausdrucks, in der Kunst). Kräftige Äst. Kein Barockstil. 30 [7] Montaigne: "wer einmal ein rechter Thor gewesen, wird niemals wieder recht weise werden". Das ist, um sich hinter den Ohren zu krauen. 30 [8] Milton bei Taine I, 656. „Die Wahrheit, die zuerst Schande bringt." 30 [9] Schopenhauer's Wirkung 1. 2. 3. 4. 5. 6.
in den Händen der Ultramontanen – protestantischen und katholischen; reinlichste Wissenschaft mit Spiritismus beschmutzt; Geistergeschichten; Wundergläubige wie Fr W; Philosophie des Unbewussten; Genius und Inspiration bei Wagner, sodaß alles Erkannte abgelehnt wird; die" Intuition" und der „Instinkt"; 7. Ausbeutung des „Willens" praktisch als unbezwinglich, durch Dichter als Effektmittel; 8. der grobe Irrthum, daß das Mitleid den Intellekt vertrete, auf die Bühne mit einer wahrhaft spanischen Gläubigkeit gebracht; 9. Königthum als überweltlich; 10. die Wissenschaft über die Achsel angesehen: in ihr selbst greift die Metaphysik um sich; 11. Gwinner's Biographie, Schopenhauer als Vorhalle zum Christenthum.
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Allgemeines Frommwerden, der leibhafte Voltärianisch gesinnte Schopenhauer, dem sein viertes Buch unverständlich würde, wird bei Seite geschoben. Mein Mißtrauen gegen das System von Anfang an. Die Person trat hervor, er typisch als Philosoph und Förderer der Kultur. Am Vergänglichen seiner Lehre, an dem, was sein Leben nicht ausprägte, knüpfte aber die allgemeine Verehrung an – im Gegensatz zu mir. Die Erzeugung des Philosophen galt mir als einzige Nachwirkung – aber mich selbst hemmte der Aberglaube vom Genius. Augenschließen. 30 [10] Nach Demosthenes muß die Rede sculpta „ausgemeißelt" sein. Demosthenes studirte den Thukydides hinsichtlich Stils. 30 [11] "Enthaltsamkeit der alten Schriftsteller in der Anwendung der staunenerregenden Mittel des Ausdrucks, die ihnen zu Gebote standen." 30 [12] Die Anhäufung von mehr als 2 kurzen Sylben möglichst vermieden – das rhythmische Gesetz des Demosthenes. 30 [13] Schluß einer Rede wie einer Tragödie möglichst ruhig und würdevoll – ist athenisch. Wir lieben die finales anders. 30 [14] Nutz-Bildung Zier-Bildung. 30 [15] Da ich Wagner mit Demosthenes verglichen habe, muß ich auch den Gegensatz hervorheben. Brougham bei Blass, 188, 196 – p.173. 30 [16] Den größten rednerischen Improvisator Demades schätzte man über Demosthenes. Nach Theophrast ist jener „Athens würdig", dieser „über Athen hinaus". 30 [17] „Ein Mensch, der aus Worten und zwar aus bitteren und künstlichen besteht", sagte Aeschines von Demosthenes. 882
30 [18] Pallas Athene Über Nutz- und Zierwirkungen der Urtheilskraft. 30 [19] Wagner, dessen schriftstellerische Vorbilder und Versuche (Anfänge) in jene Zeit gehören, deren allgemeinen Fehler ein Franzose so bezeichnet – au delà <de> sa force. 30 [20] Zier-Künste Zier- und Lust-Bildung der gesteigerte Prachtsinn. 30 [21] Ewige Baukunst der Römer. Brücke im spanischen Alcantara. 30 [22] „Gedankenbild" für Phantasieb. 30 [23] Ein, Dramatiker spielt, wenn er von sich redet, eine Rolle; es ist unvermeidlich. Wagner, der von Bach und Beethoven redet, redet als der, als welcher er gelten möchte. Aber er überredet nur die überzeugten, seine Mimik und sein eigentliches Wesen streiten gar zu ingrimmig gegen einander. 30 [24] Nachtheil der Metaphysik: sie macht gegen die richtige Ordnung dieses Lebens gleichgültig – insofern gegen Moralität. Ist pessimistisch immer, weil sie kein hiesiges Glück erstrebt. 30 [25] In Betreff der griechischen Dichter wurden wir angeleitet, uns selber zu betrügen. Wollte doch jeder sagen: dies mag ich nicht, jenes gilt mir nichts, dort empfinde ich wider die herkömmliche Abschätzung – so hätte man mehr Achtung vor Philologen als ehrlichen Leuten, selbst wenn sie in Gefahr kämen dass ihr klassischer Geschmack angezweifelt würde. 30 [26] Griechischer Dithyrambus ist Barockstil der Dichtkunst. 883
30 [27] Gegen unsere Freude am Übermaß der Metaphern, seltenen Worten usw. – Euripides-Lob. 30 [28] Was wird aus einer Kunst, die an ihr Ende gekommen ist? Sie selbst stirbt ab – die von ihr gegebene Wirkung kommt anderen Gebieten zu Gute, ebenso die nunmehr, bei ihrem Ende, freiwerdende nicht verwendete Energie. Wo also z. B.? 30 [29] Weg zur Weisheit Kräftigung Mässigung (Schön als Proportion) Befreiung. 30 [30] Auf dieselbe Weise, auf die jetzt bewusst wir uns stärken mit Hülfe des Geistes, so durch Analogie der Schluss nach rückwärts. 30 [31] Wellen – an ruhigem Sommertage am Ufer schlürfen – Epicur's Garten-Glück. 30 [32] Dramata die religiöse Thatsache, Ursprung im Tempelkult. Falscher Begriff vom Mythus – die Griechen halten ihn für Historie. Dagegen erfinden die Dichter sehr ungenirt. 30 [33] Goethe: „man darf oft dem Irrthum nicht schaden, um der Wahrheit nicht zu schaden." 30 [34] Goethe definirt die Pflicht „wo man liebt, was man sich selbst befiehlt." Gewöhnlich „wo man sich befiehlt, was man liebt." 30 [35] Der rhythmische Sinn zeigt sich zuerst im Grossen: Gegenüberstellung von Kola (Hexameter und Hexameter). Hebräische Rhythmik darauf stehen geblieben. Ebenso die Periodik der Prosa. Allmählich wird das Zeitgefühl feiner, am Schlusse zuerst. 884
30 [36] "Ipsum viventem quidem relictum, sed sola posteritatis cura et abruptis vitae blandimentis." Tac. hist. II 54. 30 [37] Der weiss noch nichts von der Bosheit, der nicht erlebt hat, wie die niederträchtigste Verleumdung und der giftigste Neid sich als Mitleid geberden. 30 [38] Da alle Glück wollen, die Eigenschaften Affecte sehr verschieden und kaum veränderlich <sind>: so muss man alle Anfänge geistreich benutzen. Ethik für Geistreiche. 30 [39] Wahrscheinlich: die Herrschaft der Sachverständigen und die Einbildung der Masse, durch jene selber zu herrschen. 30 [40] Wer etwas vollbringt, das über den Gesichts- und Gefühlskreis der Bekannten hinausliegt: – Neid und Hass als Mitleid -Partei betrachtet das Werk als Entartung Erkrankung Verführung. Lange Gesichter. 30 [41] Statt ins Leben überzuströmen, fördert die Wagnerische Kunst bei den Wagnerianern nur die Tendenzen (z. B. religiöse nationale). 30 [42] Wir gleichen den lebenden Tieren auf dem Schild des Hephäst – aesthet Phänom<ene> aber grausam! 30 [43] Man muss den Muth haben, in der Kunst zu lieben, was uns wirklich zusagt und es sich eingestehen, selbst wenn es ein schlechter Geschmack ist. So kann man vorwärts kommen. 30 [44] Umgekehrte Moral, z.B. im Tristan, wo der Ehebrecher den Vorwurf macht: ganz anders bei den Griechen. 30 [45] Viel zu viel Musik zum Wagnerischen Drama. 30 [46] 885
Novelle: des Todes wegen moriendi perdere causas. Ein Selbstmörder, der beim Suchen nach dem Tode – – – 30 [47] Man bildet sich ein bei einem Buche, der Grundton sei das Erste, was man aus ihm heraushöre – aber es hört einer gewöhnlich etwas hinein, was er so nennt. 30 [48] Cap. VII. Erziehung. Deutschland in seiner Action-Reaction zeigt sich barbarisch. 30 [49] Auf moralisches „Verdienst" dringt am meisten der seinen Erfolg nicht sichtbar machen kann – der Unfreie Gedrückte. 30 [50] Wagner's Kunst auf Kurzsichtige berechnet – allzugrosse Nähe nöthig (Miniatur), zugleich aber fernsichtig. Aber kein normales Auge. 30 [51] Damals glaubte ich daß die Welt vom aesthetischen Standpunkt aus ein Schauspiel und als solches von ihrem Dichter gemeint sei, daß sie aber als moralisches Phänomen ein Betrug sei: weshalb ich zu dem Schlusse kam, daß nur als aesthetisches Phänomen die Welt sich rechtfertigen lasse. 30 [52] Wenn ich auf den Gesammtklang der älteren griechischen Philosophen hinhorchte, so meinte ich Töne zu vernehmen, welche ich von der griechischen Kunst, und namentlich von der Tragödie gewohnt war zu hören. In wie weit dies an den Griechen, in wie weit aber auch nur an meinen Ohren, den Ohren eines sehr kunstbedürftigen Menschen, lag – das kann ich auch jetzt noch nicht mit Bestimmheit aussprechen. 30 [53] 1 Der Einzelne und die Vielen 2 Fortleben der Kunst 3 Neu-Alterthum 4 Quellen der Kraft 5 Bild einer nahen Zukunft
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6 Besitz 7 Erziehung. 30 [54] Polen das einzige Land abendländisch-römischer Cultur, das nie eine Renaissance erlebt hat. Reformation der Kirche ohne Reform des gesammten Geisteslebens, deshalb ohne dauernde Wurzeln zu schlagen. Jesuitismus – adelige Freiheit richten es zu Grunde. Genau so wäre es den Deutschen ohne Erasmus und der Humanisten Wirkung gegangen. 30 [55] Die Griechen waren fertig, als ein Homer ihnen Kunstwerke zeigte – er konnte auf das Verstehen langer überschaulicher Compositionen rechnen – da muß ein Volk weit sein! Man denke an die Germanen mit ihren Augenblicks-Effekten der Edda! Was Homer konnte, componiren, sieht man an dem Wetteifer Hesiods, der auch componirt. 30 [56] Ich wünsche dass billig denkende Menschen dieses Buch als eine Art Sühne dafür gelten lassen, dass ich früher einer gefährlichen Aesthetik Vorschub leistete: deren Bemühen war, alle aesthetischen Phänomene zu „Wundern" zu machen – – ich habe dadurch Schaden angestiftet, unter den Anhängern Wagner's und vielleicht bei Wagner selbst, der alles gelten lässt, was seiner Kunst höhern Rang verleiht, wie begründet und wie unbegründet es auch sein mag. Vielleicht habe ich ihn durch meine Zustimmung seit seiner Schrift über „die Bestimmung der Oper" zu grösserer Bestimmtheit verleitet und in seine Schriften und Wirken Unhaltbares hineingebracht. Dies bedaure ich sehr. 30 [57] Die Dichter-Erfindung kann zum Mythus werden, wenn sie verbreitet Glauben findet: – wie usus und abusus eines Wortes schwankend ist. 30 [58] Mit der Harmonie der Lust, in der das menschliche Wesen schwimmt, steht es wirklich wie mit der Harmonie der Sphären: wir hören sie nicht mehr, wenn wir darin leben. 30 [59] Analysis des Erhabnen. 30 [60] Meine Art, Historisches zu berichten, ist eigentlich, eigene Erlebnisse bei Gelegenheit vergangener Zeiten und Menschen zu erzählen. Nichts Zusammenhängendes – einzelnes ist mir aufgegangen, anderes nicht. Unsere Litterarhistoriker sind langweilig, weil sie sich zwingen, über alles zu reden und zu urtheilen, auch wo sie nichts erlebt haben.
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30 [61] Was wirkt noch? Princip der Maler und Musiker und Dichter: sie fragen sich selber zuerst, aus der Zeit wo sie nicht productiv waren. 30 [62] Die Angst dass man den Wagnerischen Figuren nicht glaubt, dass sie leben: sie gebärden sich deshalb so toll. 30 [63] Man macht Fehler gegen eine vorgenommene Lebensweise, weil unsere Stimmung im Augenblick des Vorsatzes und dem der Ausführung eine ganz verschiedene ist. 30 [64] Mit dem Zerrbild hebt die Kunst an. Daß etwas bedeutet, erfreut. Daß das Bedeutende verspottet belacht wird, erfreut mehr. Das Belachen als erstes Zeichen des höheren seelischen Lebens (wie in der bildenden Kunst). 30 [65] „Wo die Kunst aber sich in ihren Mitteln einschränkt, muss sie in ihrem Wesen mächtig sein." Jacob Burckhardt. 30 [66] Die griechische Prosa – absichtliche Beschränkung der Mittel. Warum? Das Einfache am Ende des Höhenwegs. Complicirtes zuerst und zuletzt. 30 [67] Ich habe dabei das Loos der Idealisten gezogen, welchen der Gegenstand, aus dem sie so viel gemacht haben, dadurch verleidet wird – ideales Monstrum: der wirkliche Wagner schrumpft zusammen. 30 [68] Wie wurmstichig und durchlöchert das Menschenleben sei, wie ganz und gar auf Betrug und Verstellung aufgebaut, wie alles Erhebende, wie die Illusionen, alle Lust am Leben dem Irrthum verdankt werden – und wie in so fern der Ursprung einer solchen Welt nicht in einem moralischen Wesen, vielleicht aber in einem Künstler-Schöpfer zu suchen sei, wobei ich meinte daß einem solchen Wesen durchaus keine Verehrung im Sinne der christlichen (welche den Gott der Güte und Liebe aufstellt) gebühre, und sogar die Andeutung nicht scheute, ob dem deutschen Wesen diese Vorstellung, wie sie gewaltsam inokulirt, auch gewaltsam wieder entrissen werden konnte. Dabei meinte ich in Wagner's Kunst den Weg zu einem deutschen Heidenthum entdeckt zu haben, mindestens eine Brücke zu einer spezifisch unchristlichen Welt- und Menschenbetrachtung. „Die Götter sind schlecht und wissend: sie verdienen den Untergang, der Mensch ist gut und dumm – er hat eine schönere Zukunft und
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erreicht sie, wenn jene erst in ihre endliche Dämmerung eingegangen sind", – so werde ich damals mein Glaubensbekenntniß formulirt haben, während ich jetzt – – – 30 [69] Das was erst herkömmlich ist, wird nicht nur mit Pietät, sondern auch mit Vernunft und Gründen nachträglich überhäuft und gleichsam durchsickert. So sieht zuletzt eine Sache sehr vernünftig aus (vieles an ihr ist zurechtgeschoben und verschönt). Dies täuscht über ihre Herkunft. 30 [70] National ist das Nachwirken einer vergangenen Cultur in einer ganz veränderten, auf anderen Grundlagen gestützten Cultur. Also das logisch Widerspruchsvolle im Leben eines Volkes. 30 [71] Wir müssen der falschen Nachahmung Wagner's widerstreben. Wenn er, um den Parcival schaffen zu können, genöthigt ist, aus der religiösen Quelle her neue Kräfte zu pumpen, so ist dies kein Vorbild sondern eine Gefahr. 30 [72] Es giebt Leser, welche den etwas hochtrabenden und unsicheren Gang und Klang meiner früheren Schriften dem vorziehen, was ich gegenwärtig anstrebe – möglichste Bestimmtheit der Bezeichnung und Geschmeidigkeit aller Bewegung, vorsichtigste Mäßigung im Gebrauch aller pathetischen und ironischen Kunstmittel. Mögen jene Leser, welche sich ihren Geschmack nicht verkümmern lassen wollen, an diesen hier mitgetheilten Arbeiten etwas Willkommenes zum Ersatz dafür erhalten, daß ich ihnen den Verdruß machte, meinen Geschmack in diesen Dingen zu verändern. Sind wir uns doch allmählich in so vielen und großen Bestrebungen so unähnlich, so fremd geworden, daß ich bei dieser Gelegenheit, wo ich noch einmal zu ihnen reden muß, nur von der harmlosesten aller Differenzen, der StilDifferenz, reden möchte. 30 [73] Wagner hat kein rechtes Vertrauen zur Musik: er zieht verwandte Empfindungen heran, um ihr den Character des Grossen zu geben. Er stimmt sich selber an Anderen, er lässt seinen Zuhörern erst berauschende Getränke geben, um sie glauben zu machen, die Musik habe sie berauscht. 30 [74] „Die kindliche Kunst frevelt am Schwersten." Gruppe vor der Statue, Statue vor der Herme usw. „Man kennt eben die Schwierigkeiten noch nicht." Jacob Burckhardt. 30 [75] Teppich – Heimat des unendlich viel sich Wiederholenden. Auf Vasen und ehernen Geräten finden wir ihn wieder. Da alles klein ist und zahllos, konnte nicht auf Seelenausdruck, sondern nur auf Gebärde gesehen werden. 889
30 [76] Heilsamste Erscheinung ist Brahms, in dessen Musik mehr deutsches Blut fliesst als in der Wagners – womit ich viel Gutes, jedoch keineswegs allein Gutes gesagt haben möchte. 30 [77] Ich will es nur gestehen: ich hatte gehofft, durch die Kunst könne den Deutschen das abgestandene Christenthum völlig verleidet werden – deutsche Mythologie als abschwächend, gewöhnend an Polytheismus usw. Welcher Schrecken über restaurative Strömungen!! 30 [78] Wie einer, der auf immer Abschied nimmt, auch den weniger beachteten Bekannten mit wärmerem Gefühle entgegentritt und die Hand reicht, so fühle ich mich gewissen Arbeiten früherer Jahre gerade jetzt gewogener, wo ich mich von den Ufern, an die ich damals mein Schiff lenkte, unaufhaltsam entferne. 30 [79] Uralt Porträt-Ähnlichkeit in Mycenä – später diese Spur verlassen. Thierwelt besser als Mensch – nicht symbolisch gebunden. 30 [80] Es ist schwer, im Einzelnen Wagner angreifen und nicht Recht zu behalten; seine Kunstart Leben Character, seine Meinungen, seine Neigungen und Abneigungen, alles hat wunde Stellen. Aber als Ganzes ist die Erscheinung jedem Angriff gewachsen. 30 [81] Plato's Abwendung von der Kunst symbolisch-typisch am Schluss. 30 [82] Wenn Wagner hierüber anders denken sollte: nun, so wollen wir bessere Wagnerianer sein als Wagner. 30 [83] Entwicklung des Sophocles verstehe ich durch und durch – der Widerwille gegen den Pomp und Prunkeffect. 30 [84] Das Lächeln der Ausdruck des Lebens, des Momentanen (selbst wenn sie sterben, Aegineten). 30 [85] 890
Die höchste Aufgabe am Schluss, Wagner und Schopenhauer öffentlich zu danken und sie gleichsam gegen sich Partei nehmen zu machen. 30 [86] Der thrazische Pessimismus v Herodot, der Geborene wird bewehklagt. 30 [87] Diejenigen Schriftsteller, welche mit Vernunft wider die Vernunft schreiben, mögen zusehen, dass sie sich nicht selbst zum Ekel werden. 30 [88] Der reiche Stil folgt auf den grossen. Städte Künstler und Schulen wetteifern. Körper lange vor Seelenausdruck ausgebildet. Schenkel viel früher als Brust. 30 [89] Das Nützliche steht höher als das Angenehme (Schöne), weil es indirekt und auf die Dauer Angenehmes erstrebt, und nicht Augenblickliches, oder auch die Basis für das Angenehme (z. B. als Gesundheit) zu schaffen sucht. Die Kunst des Schönen ist entweder nur auf den Augenblick berechnet oder fällt mit dem Nützlichem zusammen; das Nützliche ist nie sich selber Zweck, sondern das Wohlgefühl des Angenehmen ist es. 30 [90] Man wird es Wagner nie vergessen dürfen dass er in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in seiner Weise – die freilich nicht gerade die Weise guter und einsichtiger Menschen ist – die Kunst als eine wichtige und grossartige Sache ins Gedächtniss brachte. 30 [91] Schreck, bis zu welchem Grade ich selbst an Wagner's Stil Vergnügen haben konnte, der so nachlässig ist, dass er eines solchen Künstlers nicht würdig ist. Wagner's Stil. Die allzuzeitige Gewöhnung über die wichtigsten Gegenstände ohne genügende Kenntnisse mitzureden hat ihn so unbestimmt und unfassbar gemacht: dazu der Ehrgeiz, es den witzigen Feuilletonisten gleich zu thun – und zuletzt die Anmaassung, die sich gern mit Nachlässigkeit paart: „siehe, alles war sehr gut". 30 [92] Das Schönste am Hunger ist, dass er einem Appetit macht. 30 [93] 891
Vorrede. Stellung des Weisen zur Kunst. Die Griechen feiner als wir: der Weise, der Mann des Geschmacks. Nicht nur Hunger thut noth (vielmehr darf dieser nicht zu arg sein) – „Liebe" sagen die Schwärmer: – sondern Geschmack. Ja Geschmack setzt schon Appetit voraus – sonst schmeckt uns nichts. Kritik ist die Lust am Guten, mit Vermehrung der Lust durch Erkenntniss des Missrathenen. Woher die zahllosen Kritiker, wenn nicht Vergnügen dabei? Insofern nützt selbst das Schlechte, indem es zur Vernichtung auffordert und Lust dabei erweckt. Auch Lust zum Bessermachen. 30 [94] Emerson, p. 328 (Essays) „das Auge des abrundenden Geistes". 30 [95] Vorrede. Dieses Buch hätte ich überschreiben können: aus der Seele der Künstler und Schriftsteller; in der That ist es eine Forsetzung des fünften Hauptstücks, welches jenen Titel trägt. 30 [96] Vorrede. Ich kenne kein Mittel, um etwas Gutes zu erkennen, als selber etwas Gutes zu machen. Dies giebt uns Flügel, mit denen sich zu manchem entlegenen Neste, in dem Gutes sitzt, fliegen lässt. 30 [97] Schopenhauer Optimist, wenn er sagt (Parerga, II p. 598) „Es giebt 2 Geschichten: die politische und die der Litteratur und Kunst. Jene ist die des Willens, diese die des Intellekts. Daher ist jene durchweg beängstigend, ja schrecklich – – die andre dagegen ist überall erfreulich und heiter. " Oho! Ho! 30 [98] Wie sehr wir auch die Moralität zersetzen – unsre eigene, im ganzen Wesen eingenistet, kann dabei nicht zersetzt werden. Unsre Art, wahr und unwahr zu sein, bleibt undiskutirbar. „Der Ton des Suchens ist einer und der Ton des Habens ist ein anderer." 30 [99] Ich habe die Besorgniss dass Wagner's Wirkungen zuletzt in den Strom einmünden, der jenseits der Berge entspringt und der auch über Berge zu fliessen versteht. 30 [100] Schopenhauer, Parerga II 630: „ mancher Mensch einen wenigstens 10fach höhern Grad von Dasein hat, als der andere – zehn Mal so sehr da ist" – der Weise ist dann das allerrealste Wesen. 30 [101] 892
Vergleich mit der Symphonie III Act Tristan, „Geburt der Tragödie" – undeutlich und hochtrabend, wie ich damals nach Wagner's Vorbilde mich auszudrücken liebte – 30 [102] Im vierten Jahrhundert wird die Welt der inneren Erregung entdeckt – Scopas, Praxiteles, Ausdruck. (Noch nicht Phidias. Gesetze der Strenge.) 30 [103] Emerson p. 331 Essays „das Leben der Wahrheit ist kalt und insofern traurig, aber es ist nicht der Sklave usw." 30 [104] „Gross sein ist missverstanden werden." 30 [105] Schiller's Idealität zu characterisiren (aus Körner's Briefen am besten). 30 [106] Fries in Phigalia von höchster Leidenschaftlichkeit. 30 [107] Die selbe Summe von Talent und Fleiss, die den Classiker macht, macht, eine Spanne Zeit zu spät, den Barockkünstler. 30 [108] Man verlangt von ihm dass er zum guten Spiele eine böse Miene mache. 30 [109] Wagner hat den Gang unterbrochen, unheilvoll, nicht wieder die Bahn zu gewinnen. Mir schwebte eine sich mit dem Drama deckende Symphonie vor. Vom Liede aus sich erweiternd. Aber die Oper, der Effekt, das Undeutsche zog Wagner anderswohin. Alle nur denkbaren Kunstmittel in der höchsten Steigerung. 30 [110] Völlige Abwesenheit der Moral bei Wagner's Helden. Er hat jenen wundervollen Einfall, der einzig in der Kunst ist: der Vorwurf des Sünders an den Schuldlosen gerichtet: „o König" – Tristan an Marke. 30 [111] 893
Man höre den zweiten Akt der Götterdämmerung ohne Drama: es ist verworrene Musik, wild wie ein schlechter Traum und so entsetzlich deutlich, als ob sie vor Tauben noch deutlich werden wollte. Dies Reden, ohne etwas zu sagen: ist beängstigend. Das Drama ist die reine Erlösung. – Ist das ein Lob, daß diese Musik allein unerträglich ist (von einzelnen, absichtlich isolirten Stellen abgesehen) als Ganzes? – Genug, diese Musik ist ohne Drama eine fortwährende Verleugnung aller höchsten Stilgesetze der älteren Musik: wer sich völlig an sie gewöhnt, verliert das Gefühl für diese Gesetze. Hat aber das Drama durch diesen Zusatz gewonnen? Es ist eine symbolische Interpretation hinzugetreten, eine Art philologischen Commentars, welcher die immer freie Phantasie des Verstehens mit Bann belegt – tyrannisch! Musik ist die Sprache des Erklärers, der aber fortwährend redet und uns keine Zeit läßt; überdies in einer schweren Sprache, die wieder eine Erklärung fordert. Wer einzeln sich erst die Dichtung (Sprache!) eingelernt hat, dann sie mit dem Auge in Aktion verwandelt hat, dann die Musik-Symbolik herausgesucht und verstanden hat und ganz sich hineinlebt, ja in alles Dreies sich verliebt hat – der hat dann einen ungemeinen Genuß. Aber wie anspruchsvoll! Aber es ist unmöglich, außer für kurze Augenblicke – weil zu angreifend, diese zehnfache Gesammtaufmerksamkeit von Auge Ohr Verstand Gefühl, höchste Thätigkeit des Aufnehmens, ohne jede produktive Gegenwirkung! – Dies thun die Wenigsten: woher doch die Wirkung auf so viele? Weil man intermittirt mit der Aufmerksamkeit, ganze Strecken stumpf ist, weil man bald auf die Musik, bald auf das Drama, bald auf die Scene allein Acht giebt – also das Werk zerlegt. – Damit ist über die Gattung der Stab gebrochen: nicht das Drama, sondern ein Augenblick ist das Resultat oder eine willkürliche Auswahl. Der Schöpfer einer neuen Gattung hat Acht hier zu geben! Nicht die Künste immer nebeneinander – sondern die Mäßigung der Alten, welche der menschlichen Natur gemäß ist. 30 [112] Mehrere Wege der Musik stehen noch offen (oder standen noch offen, ohne Wagner's Einfluss). Organische Gebilde als Symphonie mit einem Gegenstück als Drama (oder Mimus ohne Worte?) und dann absolute Musik, welche die Gesetze des organischen Bildens wiedergewinnt und Wagner nur benützt als Vorbereitung. Oder Wagner überbieten: dramatische Chormusik. – Dithyrambus. Wirkung des Unisono. Musik aus geschlossenen Räumen in's Gebirge und Waldgehege. 30 [113] Allmähliches Aufgeben vom Verband der Nation Verband der Partei Verband der Freundschaft der Consistenz der Handlungen. 30 [114] Einsicht in die Ungerechtigkeit des Idealismus, darin dass ich mich für meine getäuschten Erwartungen an Wagner rächte.
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30 [115] Wagner, der in seinen Prosaschriften mehr bewundert als verstanden werden will. 30 [116] Im Frühling grasbewachsener Weg im Walde – Unterholz und Gebüsch, dann höhere Bäume – Gefühl der wonnigen Freiheit. 30 [117] Wagners's Natur macht zum Dichter, man erfindet eine noch höhere Natur. Eine seiner herrlichsten Wirkungen, welche gegen ihn zuletzt sich wendet. So muss jeder Mensch sich über sich erheben, die Einsicht über sein Können sich erheben: der Mensch wird zu einer Stufenfolge von Alpenthälern, immer höher hinauf. 30 [118] Es entschlüpfen ihm kurze Stellen guter Musik: fast immer im Widerspruch zum Drama. 30 [119] Fürsten und Adlige, deren äusserliche Stellung zum Gedanken der Feste sehr hübsch durch eine kleine Fabel bezeichnet wird. Der höchstgestellte Gast usw. 30 [120] Betäubung oder Rausch-Wirkung gerade aller Wagnerischen Kunst. Dagegen will ich die Stellen nennen, wo Wagner höher steht, wo reines Glück ihm entströmt. 30 [121] Einzelne Töne von einer unglaubwürdigen Natürlichkeit wünsche ich nie wieder zu hören; ja sie auch nur vergessen zu können – Materna. 30 [122] Wagner's Musik interessirt immer durch irgend etwas: und so kann bald die Empfindung, bald der Verstand ausruhen. Diese gesammte Ausspannung und Erregung unseres Wesens ist es, wofür wir so dankbar sind. Man ist schliesslich geneigt, ihm seine Fehler und Mängel zum Lobe zu rechnen, weil sie uns selber productiv machen. 30 [123] Wagner, dessen Ehrgeiz noch grösser ist als seine Begabung, hat in zahllosen Fällen gewagt, was über seine Kraft geht – aber es erweckt fast Schauer, jemanden so unablässig gegen das Unbesiegbare – das Fatum in ihm selber – anstürmen zu sehen. 30 [124]
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Eine Kunst, welche die Harmonie des Daseins verleugnet, und sie hinter die Welt verlegt. Alle diese Hinterweltler und Metaphysiker. 30 [125] Die Kritik der Moralität ist eine hohe Stufe der Moralität – aber verschmolzen sind Eitelkeit Ehrgeiz Lust am Siege damit, wie bei aller Kritik. 30 [126] Unser Denken soll kräftig duften wie ein Kornfeld an Sommer-Abenden. 30 [127] Goldstaub abblasen. 30 [128] Über Wagner wie über Schopenhauer kann man unbefangen reden, auch bei ihren Lebzeiten – ihre Größe wird, was man auch gezwungen ist, in die andere Wagschale zu legen, immer siegreich bleiben. Um so mehr ist gegen ihre Gefährlichkeit in der Wirkung zu warnen. 30 [129] Das Wogende Wallende Schwankende im Ganzen der Wagnerischen Musik. 30 [130] Ich rathe jedem, sich vor gleichen Pfaden (Wagner und Schopenhauer) nicht zu fürchten. Das ganz eigentlich unphilosophische Gefühl, die Reue, ist mir ganz fremd geworden. 30 [131] Mir ist zu Muthe, als ob ich von einer Krankheit genesen; ich denke mit unaussprechlicher Süssigkeit an Mozart's Requiem. Einfache Speisen schmecken mir wieder. 30 [132] Dionysus erster Gott der Thraker, ihr Zeus, wie Wotan. 30 [133] Mendelssohn, an dem sie die Kraft des element<aren> Erschütterns (beiläufig gesagt: das Talent des Juden des alten Testaments) vermissen, ohne an dem, was er hat, Freiheit im Gesetz und edle Affecte unter der Schranke der Schönheit, einen Ersatz zu finden. 30 [134] Schopenhauer verherrlicht im Grunde doch den Willen (das Allmächtige, dem alles dient). Wagner verklärt die Leidenschaft als Mutter alles Grossen und selbst Weisen.
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Wirkung auf die Jugend. 30 [135] Dies alles hat sich Wagner oft genug im heimlichen Zwiegespräch selber eingestanden: ich wollte er thäte es auch öffentlich. Denn worin besteht die Grösse eines Characters, als darin dass er, zu Gunsten der Wahrheit, im Stande ist, auch gegen sich Partei zu ergreifen? 30 [136] Tiefsinn an eine unklare aber hochtrabende Wendung Wagner's („zum Raum wird hier die Zeit") verwendet. „Auge Wotans" rührend, Mundwinkel des Philologen zucken – aber Unwille über feinere Köpfe, aus denen nur der Parteisinn redet und welche die Nachlässigkeit wohl merken. 30 [137] Die Naturgesetze der Kunst-Entwicklung sind eigentlich die Folgen psychologischer Dinge, Eitelkeit Ehrgeiz usw. 30 [138] Barockstil – es muß gesagt werden. Den Gang der inneren Entwicklung Wagner's zu finden sehr schwer – auf seine eigene Beschreibung innerer Erlebnisse ist nichts zu geben. Er schreibt Parteischriften für Anhänger. 30 [139] Untergang der letzten Kunst erleben wir – Bayreuth überzeugte mich davon – 30 [140] Die Verhäßlichung der menschlichen Seele erfolgt ebenso nothwendig wie der Barockstil auf den klassischen – in ganzen Zeitaltem. 30 [141] Die Wagnerischen Götter, von denen keiner „etwas taugt". 30 [142] Man muß nur etwas Gutes und Neues vollbringen: dann erlebt man an seinen Freunden, was es heißt: zum guten Spiele eine böse Miene machen. 30 [143] Schiller's Satz „gegen das Vortreffliche keine Rettung als Liebe" recht wagnerisch. Tiefe Eifersucht gegen alles Große, dem er eine Seite abgewinnen kann – Haß gegen das, wo er nicht heran kann (Renaissance, französische und griechische Kunst des Stils). 897
30 [144] Der Irrthum hat die Dichter zu Dichtern gemacht. Der Irrthum hat die Schätzung der Dichter so hoch gemacht. Der Irrthum liess dann wieder die Philosophen sich höher erheben. 30 [145] Bei Wagner blinde Verleugnung des Guten (wie Brahms), bei der Partei (Fr (W) sehende Verleugnung (Lipiner Rée). 30 [146] Was ist Partei, was Frivolität? Von letzterer aus verstand ich Wagner nicht. 30 [147] Anwandlungen der Schönheit: Rheintöchterscene, gebrochene Lichter, Farbenüberschwang wie bei der Herbstsonne, Buntheit der Natur; glühendes Roth Purpur, melancholisches Gelb und Grün fliessen durcheinander. 30 [148] Vernunft- und Welt-flüchtige Bestrebungen. 30 [149] Wer wollte Wagner auf den Gipfel seiner Eitelkeit folgen, den er immer dort erreicht, wenn er vom „deutschen Wesen" redet – übrigens der Gipfel seiner Unklugheit: denn wenn Friedrich's des Grossen Gerechtigkeit, Goethe's Vornehmheit und Neidlosigkeit, Beethoven's edle Resignation, Bach's dürftig verklärtes Innenleben, wenn Schaffen ohne Rücksicht auf Glanz und Erfolg, ohne Neid die eigentlich deutschen Eigenschaften sind, sollte Wagner nicht fast beweisen wollen, dass er kein Deutscher sei? 30 [150] „C'est la rage de vouloir penser et sentir au delà de sa force." Doudan. – Die Wagnerianer. 30 [151] Die griechischen Künstler verwandten ihre Kraft auf die Bändigung, jetzt auf die Entfesselung – stärkster Gegensatz! Willens-Bändiger, Willens-Entfesseler. 30 [152] Milton: „es ist fast einerlei, ob man einen Menschen oder ein gutes Buch tödtet." Gegen die Partei. 30 [153]
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Furchtbare Wildheit, das Zerknirschte Vernichtete, der Freudenschrei, die Plötzlichkeit, kurz die Eigenschaften, welche den Semiten innewohnen – ich glaube, semitische Rassen kommen der Wagnerischen Kunst verständnissvoller entgegen als die arische. 30 [154] Zur Vorrede. Ich möchte meinen Lesern den Rath geben: das Kennzeichen, dass sie in die Empfindung des Verfassers eingedrungen sind – – – aber hier lässt sich nichts erzwingen. Eine Reise begünstigt. 30 [155] Das creatürliche Leben, das wild geniesst, an sich reisst, an seinem Übermaasse satt wird und nach Verwandlung begehrt – gleich bei Schopenhauer und Wagner. Zeit entsprechend bei Beiden: keine Lüge und Convention, keine Sitte und Sittlichkeit mehr thatsächlich – ungeheures Eingeständniss, dass der wildeste Egoismus da ist – Ehrlichkeit – Berauschung, nicht Milderung. 30 [156] Ein Zeichen von der Gesundheit der Alten, dass auch ihre Moral-Philosophie diesseits der Grenze des Glücks blieb. Unsere Wahrheits-Forschung ist ein Excess: diess muss man einsehen. 30 [157] Weder so heftig am Leben leiden, noch so matt und emotionsbedürftig, dass uns Wagner's Kunst nothwendig als Medicin wäre. – Dies ist der Hauptgrund der Gegnerschaft, nicht unlautere Motive: man kann etwas, wozu uns kein Bedürfniss treibt, was wir nicht brauchen, nicht so hoch schätzen. 30 [158] Zeit – elementarische, nicht durch Schönheit verklärte Sinnlichkeit (wie die der Renaissance und der Griechen), Wüstheit und Kaltsinn sind die Voraussetzungen gegen welche Wagner und Schopenhauer kämpfen, auf welche sie wirken – der Boden ihrer Kunst. Brand der Begierde, Kälte des Herzens – Wagner will Brand des Herzens, neben dem Brand der Begierde, Schopenhauer will Kühle der Begierde neben der Kühle des Herzens (der Schopenhauer des Lebens, nicht der der Philosophie). 30 [159] Goethe – „Byron's Kühnheit Keckheit und Grandiosität, ist das nicht alles bildend? Wir müssen uns hüten, es stets im entschieden Reinen und Sittlichen suchen zu wollen. Alles Große bildet, sobald wir es gewahr werden." Dies auf Wagner's Kunst anzuwenden. 30 [160]
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Voltaire, nach Goethe „die allgemeine Quelle des Lichts". 30 [161] Keller, Burckhardt zu erwähnen: vieles Deutsche erhält sich jetzt besser in der Schweiz, man findet es hier deutlicher erhalten. 30 [162] Aberglaube vom Besitz – er macht nicht freier, sondern sklavischer, braucht viel Zeit, Nachdenken, macht Sorge, verbindet mit Andern, denen man nicht gleichstehen mag, weil man sie braucht; bindet fester an den Ort, an den Staat. – Der Bettler ist freilich abhängiger, – aber wenig Bedürfnisse, ein kleiner dazu ausreichender Erwerb und viel freie Zeit. Für die welche freilich keinen Gebrauch von der freien Zeit machen können, ist das Streben nach Besitz, wie das nach Ehren Orden usw., eine Unterhaltung. Der Reichthum ist oft das Resultat geistiger Inferiorität: er aber erregt Neid, weil durch ihn die Inferiorität <sich> mit Bildung maskiren kann. Insofern ist die geistige Ohnmacht der Menschen die indirekte Quelle von der unmoralischen Begehrlichkeit der Andern. – Dies, eine Betrachtung nach dem Kriege. Die Bildung als Maske, der Reichthum als Folge der innerlichen wirklichen Unbildung und Roheit. 30 [163] Nichts ist schädlicher einer guten Einsicht in die Cultur, als den Genius und sonst nichts gelten zu lassen. Das ist eine subversive Denkart, bei der alles Arbeiten für die Cultur aufhören muss. 30 [164] Nach dem Kriege missfiel mir der Luxus, die Franzosenverachtung, das Nationale – so wie Wagner an die Franzosen, Goethe an Franzosen und Griechen. Wie weit zurück gegen Goethe – ekelhafte Sinnlichkeit. 30 [165] Die Dichtkunst ist älter bei den Griechen als die anderen Künste: sie also muss das Volk an den Sinn für Maass gewöhnt haben; ihnen mussten dann die anderen Künstler folgen. Aber was mässigte die Dichter? 30 [166] Plan. Einsicht in die Gefährdung der Cultur. Krieg. Tiefster Schmerz, Brand des Louvre. Schwächung des Culturbegriffs (das Nationale), Bildungsphilister. Historische Krankheit. Wie bekommt der Einzelne gegen die Epidemie Halt?
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1) Schopenhauer's Metaphysik, überhistorisch; heldenhafter Denker. Standpunct fast religiös. 2) Wagner's Vertheidigung seiner Kunst gegen den Zeitgeschmack. Daraus neue Gefahren das Metaphysische treibt zur Verachtung des Wirklichen: insofern zuletzt culturfeindlich und fast gefährlicher. Überschätzung des Genius. Die Cultur der Musik lehnt die Wissenschaft, die Kritik ab; vieles Beschränkte aus Wagner's Wesen kommt hinzu. Roheit neben überreizter Sensibilität. Das Deuteln und Symbolisiren nimmt überhand bei den Wagnerianern. Ich entfremdete mich der Kunst, Dichtung (lernte das Alterthum mißverstehen) und der Natur, verlor fast mein gutes Temperament. Dabei das schlechte Gewissen des Metaphysikers. Bedeutung von Bayreuth für mich. Flucht. Kaltwasser-Bad. Die Kunst, die Natur, die Milde kommt wieder. Zweck der Mittheilung Freunde. 30 [167] Das Undeutsche an Wagner: es fehlt die deutsche Anmuth und Grazie eines Beethoven Mozart Weber, das flüssige heitere Feuer (allegro con brio) Beethovens Webers, der ausgelassene Humor ohne Verzerrung. Mangel an Bescheidenheit, die lärmende Glocke. Hang zum Luxus. Kein guter Beamter wie Bach. Gegen Nebenbuhler nicht Goethisch ruhig. 30 [168] Neben einer Moral der Gnade steht eine Kunst der Gnade (Inspiration). Beschreibung! 30 [169] Damals glaubte ich das Christenthum im Verschwinden zu sehen, Wagner sandte ihm auch einige böse Worte nach – dumpfer Aberglaube – jetzt – jenseits der Berge. 30 [170]
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Die grosse Oper aus französischen und italiänischen Anfängen. Spontini, als er die Vestalin schuf, hatte wohl noch keine Note eig<entlich> deutscher Musik gehört. Tannhäuser und Lohengrin – für sie hat es noch keinen Beethoven, allerdings einen Weber gegeben. Bellini Spontini Auber gaben den dramatischen Effect von Berlioz lernte er die Orchestersprache; von Weber das romantische Colorit. – 30 [171] Was sich alles als Kraft, Inspiration, Gefühls-Überfluss geben möchte – Kunstmittel der Schwäche (der überreizten Künstler) um zu täuschen. 30 [172] Der Luxus der Mittel der Farben der Ansprüche des Symbolischen. Das Erhabne als das Unbegreifliche Unausschöpfliche in Bezug auf Grösse. Appell an alles andere Grosse. 30 [173] Ich zweifle nicht dass dieselben Dinge, in einen dicken süssen Brei eingehüllt, williger geschluckt werden. – Wahrheiten über Wagner. 30 [174] Diese wilden Thiere mit Anwandelungen eines sublimirten Zart- und Tiefsinns – haben nichts mit uns zu thun. Dagegen z. B. Philoctet. 30 [175] Wotan – die Welt vernichten, weil man Verdruss hat. Brünnhilde – die Welt vernichten lassen, weil man liebt. 30 [176] Wotan, wüthender Ekel – mag die Welt zu Grunde gehen. Brünnhilde liebt – mag die Welt zu Grunde gehen. Siegfried liebt – was schiert ihn das Mittel des Betrugs. Ebenso Wotan. Wie ist mir dies alles zuwider! 30 [177] Wie Meister Erwin von Steinbach von seinen französischen Mustern und Meistern abhängig ist, frei und sie überragend, so Wagner von den Franzosen und Italiänern. 30 [178] Der Gewölbebau wahrscheinlich von den Diadochen auf die Römer übergegangen, wahrscheinlich.
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30 [179] Macht und Pracht, Wille der Römer. 30 [180] Gegensatz – Horaz unter lauter ewigen festgewordenen Dingen – wir unter lauter ganz kurzen: jedes Geschlecht soll sein eignes Feld bestellen. 30 [181] Römer Schöpfer aller Rundformen, nicht nur Ausbildner mit Genialität. 30 [182] Bei Goethe ist der grösste Theil der Kunst in sein Wesen übergegangen. Anders unsere Theaterkünstler, die im Leben unkünstlerisch und nur Theater-Mitleiden – – – Theater Tasso's. 30 [183] Die Wirkungen der Wagnerischen Rhetorik sind so heftig, dass unser Verstand hinterdrein Rache übt – es ist wie beim Taschenspieler. Man kritisirt Wagner's Mittel der Wirkung strenger. Im Grunde ist es ein Verdruss darüber, dass Wagner nicht feinere Mittel nöthig fand um uns zu fangen. 30 [184] Wie Musik im Freien bei windigem kaltem Wetter. 30 [185] Die Freude über Rée’s psychologische Beobachtungen eine der allergrössten. Woher? so empfand ich, die Motive der Menschen sind nicht viel werth. Wie Socrates von den weisen Menschen, so ich von den moralischen. Damals machte ich Ausnahmen; um diese recht hoch zu stellen, stellte ich jene so tief (und missverstand dabei gewiss den Autor). 30 [186] Das vorige Jahrhundert hatte weniger Historie, wußte aber mehr damit anzufangen. 30 [187] Wie kann man nur solchen Genuß an der Trivialität haben, daß Selbstliebe die Motive aller unserer Handlungen abgiebt! 1) Weil ich lange nichts davon wußte (metaphysische Periode) 2) weil der Satz sehr oft erprobt werden kann und unseren Scharfsinn anregt und so uns Freude macht 3) weil man sich in Gemeinschaft mit allen Erfahrenen und Weisen aller Zeiten fühlt: es ist eine Sprache der Ehrlichen, selbst unter den Schlechten 4) weil es die Sprache von Männern und nicht von schwärmerischen Jünglingen ist (Schopenhauer fand seine Jugendphilosophie namentlich das 4te Buch sich ganz fremd –) 5) weil es antreibt, es auf unsere Art mit dem Leben aufzunehmen, und falsche Maßstäbe abweist; es ermuthigt. 903
30 [188] Rückschritt gegen das vorige Jahrhundert in Ethik – Helvetius. Von da abwärts Rousseau Kant Schopenhauer Hegel. 30 [189] Die Heftigkeit der erregten Empfindung und die Länge der Zeitdauer stehen im Widerspruch. Dies ist ein Punct, worin der Autor selber keine entscheidende Stimme hat: er hat sich langsam an sein Werk gewöhnt und es in langer Zeit geschaffen: er kann sich gar nicht unbefangen auf den Standpunct des Aufnehmenden versetzen. Schiller machte denselben Fehler. Auch im Alterthum wurde viel zurecht geschnitten. 30 [190] Dies sah ich ein, mit Betrübniss, manches sogar mit plötzlichem Erschrecken. Endlich aber fühlte ich dass ich, gegen mich und meine Vorliebe Partei ergreifend, den Zuspruch und Trost der Wahrheit vernehme – ein viel grösseres Glück kam dadurch über mich, als das war, welchem ich jetzt freiwillig den Rücken wandte. 30 [191] Wagner's Nibelungen-Ring sind strengste Lesedramen, auf die innere Phantasie rechnend. Hohes Kunstgenre, auch bei den Griechen. 30 [192] Widerspruch im vorausgesetzten Zuhörer. Höchst künstlerisch als Empfänger und völlig unproductiv! Die Musik tyrannisirt die Empfindung durch allzupeinliche Ausführung des Symbolischen, die Bühne tyrannisirt das Auge. Etwas Sclavenhaft-Unterthäniges und doch ganz Feuer und Flamme zugleich bei dieser Kunst – deshalb eine Parteizucht sonder Gleichen nöthig. Deshalb Judenthum usw. als Hetzpeitsche.
[Dokument: Notizbücher] [Sommer 1878] 31 [1] Theopomp ganz Eifersucht auch gegen Plato als größten Litterator. 31 [2] Gründe, warum uns die griechische Litteratur nicht fremd erscheint? 1) Gymn verwöhnt 2) Handwerkszeug der Philologie
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3) wir haben zuviel Nachahmung 31 [3] Cap sittlicher Einfluß der Dichter Redner Schriftst<eller> Cap Prosa und Poesie 31 [4] Thucydides vollkommener Ausfluss der sophistischen Bildung. 31 [5] Einleitung. Man soll nichts über die Litteraturen lesen also auch nichts über sie schreiben. So will ich sagen, wie man lesen soll. Aufgabe der Philologie. – Warnen vor dem gew<öhnlichen> Lesen. 31 [6] Am wenigsten stimme ich dem bei, welcher mit Dekorat Scene Maschinerie zu Bayreuth unzufrieden war. Viel zu viel Fleiss und Erfindung darauf verwandt, die Phantasie in Fesseln zu schlagen, bei Stoffen die ihren epischen Ursprung nicht verleugnen. Aber der Naturalismus der Gebärde, des Gesanges, im Vergleich zum Orchester!! Was für geschraubte erkünstelte verdorbene Töne, was für eine falsche Natur hörte man da! 31 [7] Die Kunst des modernen Staatsmanns, das gute Gewissen der Völker beim Ausbruch eines Krieges zu erwecken – den Glauben an den Sieg der guten Sache. 31 [8] Freude am Romantischen aufgeben, dazu am Elementarischen. 31 [9] Freunde, wir haben Freude an einander als an frischen Gewächsen der Natur und Rücksicht gegen einander: so wachsen wir wie Bäume neben einander auf, und gerade deshalb straff aufwärts und gerade, weil wir durch einander uns ziehn.
[Dokument: Notizbücher] [Herbst 1878] 32 [1]
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Ihr gleicht dem Grundton – – – 32 [2] Es macht auch unter den großen Menschen einen Unterschied, ob sie beim Aufwärtssteigen nach einem hohen Ziel immer höhere oder immer niedere Ansprüche an ihre Kräfte stellen. Aber es ist für den Fernstehenden schwer zu erkennen, weil ihm das von jenen Erreichte unter allen Umständen unerreichbar ist: trotzdem kann ein Höchster immer noch sein Ideal verleugnen. 32 [3] Den Stilen in der Kunst entsprechen Seelen: Barockseele zu zeichnen. Die hohe Seele, die feinere Seele, die vornehme Seele. 32 [4] Die feineren Obscuranten – Lipiner. 32 [5] Wenn ein Künstler die Menschen erschüttern erheben umwandeln will, so kann er sich doch dazu als Künstler unehrlicher Mittel bedienen: sein heiliger Zweck heiligt in diesem Fall durchaus nicht. Denn sein Zweck gehört vor das moralische, seine Mittel vor das aesthetische Gericht. 32 [6] Um uns herum eine Art Mythenbildung. Ursache: wir sind nicht ganz ehrlich, die schönen Worte gehen mit uns durch. 32 [7] Ein Mann, den ein Enthusiast schildert und der ihm sagt „wie gut Sie mich kennen!", erregt meinen tiefsten Widerwillen. 32 [8] Der größte Theil unseres Wesens ist uns unbekannt. Trotzdem lieben wir uns, reden als von etwas ganz Bekanntem, auf Grund von ein wenig Gedächtniß. Wir haben ein Phantom vom „Ich" im Kopfe, das uns vielfach bestimmt. Es soll Consequenz der Entwicklung bekommen. Das ist die Privat-Cultur-That – wir wollen Einheit erzeugen (aber meinen, sie sei nur zu entdecken!). 32 [9] Ein Roman. Ein Band Gedichte. Eine Historie. 906
Eine Philologie. 32 [10] Die Menschen können den Ton des Versprechens und den Ton der Erfüllung nicht zusammen hören: denn sie haben sich aus dem Versprechen etwas heraus gehört, was nicht darin war. – So ich: ich versprach Wahrheits-Härte – freilich mit manchem phantastischen Ausdrucke: und nun habe ich diesen unschuldigen Kindern ihren Milchtopf umgestoßen. 32 [11] Das Feierliche ist mir zuwider geworden: was sind wir! 32 [12] Freunde als abgetragene Kleider. 32 [13] Emerson p. 201 die „Überseele" ist das eigentlich höchste Cultur-Resultat, ein Phantasma an dem alle Guten und Großen gearbeitet haben. 32 [14] „Muß man nicht entmenscht sein?" Wer hat die Ironie verstanden? 32 [15] Emerson meint, „der Werth des Lebens läge in den unergründlichen Fähigkeiten desselben: in der Thatsache, daß ich niemals weiß, wenn ich mich zu einem neuen Individuum wende, was mir widerfahren mag." Das ist die Stimmung des Wanderers. p. 311 bei Emerson wichtig, die Angst vor der sogenannten Wissenschaft – der Schöpfer geht durch eine Thür hinein bei jedem Individuum. 32 [16] Hast du eine große Freude an etwas gehabt? so nimm Abschied, nie kommt es zum zweiten Male. 32 [17] Wohlgefühl nach vollbrachtem Tagewerk – das fehlt den Pessimisten und Kunst-Schwärmern. 32 [18] „In der Natur ist alles zum Nutzen, alles schön." Aber zu allerletzt, von Oben gesehen, beim Menschen auch. Schönheit ist da, nur das Auge fehlt, sie zu sehen. Wenigstens jene NaturSchönheit, welche zugleich Nützlichkeit ist. 32 [19]
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Pinien welche horchen und den Eindruck der südlichen Stille und Mittagsruhe noch vertiefen. 32 [20] Das Abweisen eines Buches sagt häufig, dass wir hier nichts erleben können, weil uns die Vorbereitung und die Sinne fehlen. Auch bei Menschen. Alles Negiren zeigt unseren Mangel an Fruchtbarkeit und an Organen auf diesem Gebiete: wären wir wie der Boden, wir liessen nichts umkommen. Wir haben Fühlhörner zu vielen Menschen in uns – aber nicht zu allen. 32 [21] Geschichte will das Befremden überwinden, der Mensch sträubt sich gegen die Vergangenheit, alles soll „Ich" „Biographie" und" „Alt-Bekannt" sein. 32 [22] „Veredelung des Luxus, nicht Abschaffung" erstreben die Künstler – klagen die Idealisten. Aber das was man Abschaffung nennt (Verflüchtigung Sublimirung ist es) geschieht doch auf jenem Wege. Das Überflüssige ist die Voraussetzung alles Schönen. 32 [23] „Man muß zu Fuß zu Markt tragen, was man mit Mühe erarbeitet hat" E<merson>. 32 [24] Die ungefähr einartige Entwicklung der Vernunft und des Gefühls ist das Ziel der Cultur (als Grundlage des Verstehens, des gemeinsamen Helfens und Förderns). Darin liegt die Bedeutung solcher organisirenden Weltmächte wie Romanum imperium, Christenthum, vor allem Wissenschaft. Im Allgemeinen und Kleinen herrscht das Missverstehen vor: daher der excentrische Egoismus, nicht aus Schlechtigkeit. – Eine grosse Einbusse ist mit dieser nivellirenden Cultur verknüpft. „Geschichte" ist die Erzählung von den Mitteln, den Leitungs Verkehrswegen zur Einartigwerdung. 32 [25] Dichter und phantastische Weise träumen daß die Natur (Thiere und Pflanzen) ohne Wissenschaft und Methode einfach aus Liebe und Intuition verstanden werde. Ganz so stehen noch die Metaphysiker zum Menschen. 32 [26] Was wollen wir mit Wohlstand Gesundheit? – Freude und Behagen. Nun, die Quellen dazu liegen im Geiste und Gemüthe. <Mit> Wohlstand und Gesundheit suchen wir eine Art von Schlamm zu beseitigen, welcher sich dem Ausfließen entgegenstellt. – Kampf der Mittel zur Freude – wenn Kunst und Wahrheitssinn streiten. Aber dieser Kampf kann selbst zu einer Quelle der Freude werden. Zuletzt ist die Entwicklung des Menschen die Freude aller Freuden.
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[Dokument: Notizbücher] [Herbst 1878] 33 [1] „Treppen-Glück" – Knaben auf Eis, eine Windlaterne in der Mondnacht am Bach. 33 [2] Gegen Sokrates kann man jetzt einwenden daß es mit der menschlichen Tugend nichts ist, aber sehr viel mit der menschlichen Weisheit. 33 [3] Künstler meinen, die angenehmen Momente, ein Überwallen des Herzens, seien das Ziel der Welt: sie betrachten sich als Festredner der glücklichen Momente. 33 [4] Daß Künstler kein Gefühl für geistiges Eigenthum haben, verriethen sie ehedem in der Kunst selber: jetzt am meisten, wenn sie sich als Denker und Schriftsteller vorführen. 33 [5] Weshalb sind alle Musiker schlechte Schriftsteller, ohne Gehör für den Rhythmus, ohne Strenge der Gedankenfügung? Die Musik erschlafft das Denken und überfeinert das Ohr. Das unbestimmte Symbolisiren – sich daran genügen lassen. 33 [6] Die Jugend setzt auf den ihre Hoffnung, der sich immer zu stark ausdrückt, der Mann auf den, dessen Worte immer hinter seinem Vollbringen zurückbleiben. 33 [7] Politik – Partei – Ehrlich 33 [8] Zum Schluss – „Giebt es ein größeres Glück als die Seele zu prüfen – ein Leben ohne Prüfen: ον βιωτοζ." 33 [9] Was ist denn Europa? – Griechische Cultur aus thrakischen phönizischen Elementen gewachsen, Hellenismus Philhellenismus der Römer, ihr Weltreich christlich, das Christenthum Träger antiker Elemente, von diesen Elementen gehen endlich die wissenschaftlichen Keime auf, aus dem Philhellenismus wird ein Philosophenthum: so weit 909
an die Wissenschaft geglaubt, geht jetzt Europa. Das Römerthum wurde ausgeschieden, das Christenthum abgeblaßt. Wir sind nicht weiter als Epikur: aber seine Herrschaft ist unendlich verbreiteter – Hellenisirung in vierfacher Vergröberung und Verungründlichung. 33 [10] Also weil Sittengesetz und Recht von Menschen gemacht sind, glaubt ihr euch darüber hinweg setzen zu können: nur von Menschen, sagt ihr – wißt ihr nicht, daß, wenn ihr derartig das Menschenwerk verachtet, ihr euch selbst und all eure beabsichtigten Menschenwerke als verächtlich bezeichnet? Ihr sollt klug sein und es höher ehren als wenn es „ein Werk Gottes" wäre – denn was geht euch ein Gott an! Aber das Werk eurer Väter und Urväter – – – 33 [11] NB. Die wahre Maja. – Halt- und gehaltlose Werthe. 33 [12] Chinesische Arbeiter, um Asien zu europäisiren.
[Dokument: Notizbücher] [Herbst 1878] 34 [1] Es giebt gewiß viel feinere Köpfe, stärkere und edlere Herzen als ich habe: aber sie frommen mir nur soweit als ich ihnen gleich komme und wir uns helfen können. Was dann übrig bleibt, könnte, für mich, von mir aus gesehen, fehlen: die Welt bliebe immer noch ganz als meine Welt. 34 [2] Auch der Enthus schwere Frage. 34 [3] Krankheit der geistigen Constitution merkt man nicht – um so mehr aber die – – – 34 [4] Stammelnde Dichter, Redner denen der Athem versagt und die Stimme bricht, Musiker ohne rhythmische Seele, die Weisen mit einem Wermuthgeschmack von Narrheit – diese Unvollkommenheiten der Natur gleichsam Folterer, welche die verstocktesten Menschen zur Antwort bringen: ja wir brauchen die Kunst. 34 [5] Wir thun was wir können. 910
34 [6] Aus Ignoranz greift der Anfänger wie die Kunst in ihren Anfängen nach den höchsten Zielen – irreführend. 34 [7] Die Einfachheit ist eine kurze Ebene in den Höhen der Kunst – weder am Anfang noch am Ende. 34 [8] Man kann wenig sogleich haben, aber man kann alles haben, wenn man nur Zeit hat. Zeit ist das Capital, welches alle Tugenden und Talente in der Welt zu Zinsen trägt. 34 [9] Es giebt eine schleichende kaum eingestehbare Unzüchtigkeit, welche am gründlichsten erschöpft, z. B. in Kunst, beim Nachdenken, beim Fragen. 34 [10] Homer kein Held der Schlacht, Sophokles kein duldender und verfolgter Einsiedler, die Sänger der Treue und Hingebung sind unbarmherzige Selbstlinge, die kalten Moralisten wie Helvetius sind herzensgute Menschenfreunde ohne Klugheit – das Talent will den Charakter suppliren; es ist ein gläsernes Auge für den der es trägt, nicht aber für die welche es sehen. 34 [11] Beginnende Herrschaft der Schriftsteller. 34 [12] Buch anonym, Zeitung unterschrieben. 34 [13] Dichter als Apologeten Enthusiasten oder Verhehler ohne Charakter machen Diebe aus Freunden. Schluß von Werk auf Gesinnung unzulässig. 34 [14] Wenn einer auch alle Wolfs- Fuchs- und Löwengänge der Erkenntnißtheorie durchgemacht hat – der erste beste Neuling, der in diesen Gängen sich herumdreht, ist impertinent, wenn wir die Sonne untergehen lassen und die Erde stille stehen. 34 [15] An der Art wie das Genie bewundert, erkennt man leicht, ob es einem wilden Baume ungebändigter Selbstsucht aufgepropft ist – in diesem Falle bewundert es an den Großen früherer Zeiten sehr prunkvoll die eigenen Glanzseiten vereinzelt, es dreht nur jene Seiten an's 911
Licht, es wirft einen Schatten auf die anderen – oder aber: ob es einem veredelten Baume als ebenbürtig erwuchs: dann liebt es das, was mehr und anders ist als bei ihm: wie Goethe. 34 [16] Wie vergänglich Philosoph sind, erkennt man an ihrer vergänglich-machenden Kraft. Schiller, seiner Zeit frisch und lebenskräftig – jetzt schon historisch zu empfinden: die Glasur des deutschen Idealismus. So alle Dichtung mit den Tüpfeln des verstand- und weltflüchtigen deutschen Pessimismus, heute. 34 [17] Wer jetzt in Wissenschaft und Kunst absolute Metaphysik oder selbst skeptische Metaphysik vertritt, geht über den Berg und fördert Rom. 34 [18] Jener Abschied, wo man endlich sich trennt, weil die Empfindung das Urtheil nicht mehr zusammen gehen wollen, bringt uns einer Person am nächsten und wir schlagen gewaltsam gegen die Mauer, welche die Natur zwischen ihr und uns errichtet hat. 34 [19] Künstler wähnt, er habe durch seine großen Geschenke sich die Seele gekauft: aber er hat sie nur umfängl gemacht um noch größere Geschenke von anderen Seiten her aufzunehmen und den angebotenen Kaufpreis als viel zu gering zu achten. 34 [20] Nie mit jemandem umgehen, der nicht zu hören versteht, sondern sich und seine Einfälle vorführt, indem er so das Gespräch zu führen meint. Es ist das Merkzeichen eines großen Egoisten, sei er noch so begabt. Auch der welcher sich zur Aufmerksamkeit zwingt, ist ebenso egoist nur höflicher. 34 [21] Der Dichter läßt seinen Geist für sein Herz gelten, der Denker trägt unvermerkt sein Herz in seinen Geist; ersterer als Schauspieler. 34 [22] Sommerluft der Seele – scha Glück – Februar.
[Dokument: Notizbücher] [Herbst 1878] 35 [1] 912
Vernachläss der Arbeiter – – – 35 [2] Paris die einzige Stadt – – – 35 [3] Zu barock" – – – 35 [4] Manches darf der Mann der Männer wegen nicht zurückhalten: aber mit Schmerz gedenkt er der Jünglinge, welche seine Aufrichtigkeit verwirren, vom guten Wege ablenken könnte: je mehr sie bis jetzt gewohnt waren, auf die Worte ihres leitenden Lehrers zu hören. Da bleibt ihm, um ihre Erziehung nicht stören, nur übrig, sich gründlich und hart von ihnen zu entfernen und den Zügel seines Einflusses auf sie ihnen selber zuzuwerfen. Mögen sie wider ihn sich selber treu bleiben! So bleiben sie ihm treu, ohne es zu wissen. 35 [5] Für manche Naturen mag es gut sein, ihren Leidenschaften von Zeit zu Zeit ein Fest zu geben. 35 [6] – – – anmuthige Größe dieses ersten Seelen-Gärtners aller Zeiten wieder entdeckt – – – 35 [7] – – – vorausgesetzt daß er in heiterer Bescheidenheit zu schwatzen versteht aus diesem Gefühl einer saturnalischen Ungebundenheit. Die Zuhörer – – –
[Dokument: Mappe loser Blätter] [Herbst 1878] 36 [1] Der Darwinist. – St. Augustinus sagte: ego sum veritas et vita, dixit Dominus; non dixit: ego sum consuetudo! – Schade darum: so ist er nicht die Wahrheit und weiß nicht, was das Leben ist. 36 [2] Noch eine Eule nach Athen. – Daß Wissenschaft und Nationalgefühl Widersprüche sind, weiß man, mögen auch politische Falschmünzer gelegentlich dies Wissen verleugnen: und endlich! wird auch der Tag kommen, wo man begreift, daß alle höhere Cultur nur zu ihrem Schaden sich jetzt noch mit nationalen Zaunpfählen umstecken kann. Es war nicht immer so: aber das Rad hat sich gedreht und dreht sich fort. 913
36 [3] Siegel und Zeugniss. „die Reinlichkeit des Geistes hat auch die Reinlichkeit der Leidenschaft zur Folge; darum liebt ein großer und reinlicher Geist mit Wärme und sieht doch deutlich, was er liebt. – Es giebt zwei Arten des Geistes, den geometrischen und denjenigen, welchen man den feinen Geist nennen könnte. Jener hat langsame, harte, unbeugsame Ansichten; dieser hat eine Geschwindigkeit des Gedankens, welche sich an die Liebenswürdigkeiten des geliebten Gegenstandes sogleich anschmiegt. Von den Augen geht er zum Herzen und an der äußeren Bewegung erkennt er, was im Inneren vorgeht" – Nach Pascal. 36 [4] Wieland daß ich mich entsinnen kann, das Wort deutsch jemals ehrenhalber nennen gehört zu haben". Werke Ausgabe von 1840 XXXI, 247. 36 [5] Der Gedanke ist nicht nur die Geburt des menschlichen Wollens, sondern wird auch vom Menschen als menschenhaftwollende Person behandelt. Der Kopf verweilt vor einer Menschenwelt – – –
[Dokument: Notizbücher] [November 1878] 37 [1] Was hat man davon, wenn man etwas aller Welt und doch nicht sich zu Danke macht! 37 [2] Trotz im Keime des Gedankens, oder Liebe. 37 [3] Fastenfreude, „Pflicht"-Freude – verfehlt.
[Dokument: Druckmanuskripte] [November – Dezember 1878] 38 [1]
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Unerwartete Belehrung. – Erst ein Leben voller Schmerzen und Entsagungen lehrt uns, wie das Dasein ganz mit Honigseim durchtränkt ist: weshalb die Askese nicht selten aus einem verschmitzten Epikureismus gewählt sein mag. – Die „Pessimisten" sind kluge Leute mit verdorbenem Magen: sie rächen sich mit dem Kopf für ihre schlechte Verdauung. 38 [2] Die überfeinen Unglücklichen, wie Leopardi, welche für ihren Schmerz stolz am ganzen Dasein Rache nehmen, bemerken nicht, wie der göttliche Kuppler des Daseins dabei über sie lacht: eben jetzt trinken sie wieder aus seinem Mischkrug; denn ihre Rache, ihr Stolz, ihr Hang zu denken, was sie leiden, ihre Kunst, es zu sagen – ist das nicht alles wieder – Honigseim?
[Dokument: Notizbücher] [1878 – Juli 1879] 39 [1] Litterat. Character fälschlich aus Werken erschlossen. Diese aber nach dem künstl<erisch> Wirkungsvollsten. Auch der Künstler irrt sich leicht über sich. Aber allmählich verändert sich sein Wesen nach seinen Lieblingsgebilden. 39 [2] Winckelmann Goethe ist von der Cultur aufgesaugt: deshalb erscheint es leer für uns. 39 [3] Lust am Zwange, immer neues Sich-binden bei den Griechen. Homer unter dem Zwange alter Technik. 39 [4] Metrischer Zwang. Naturfehler des Epos, der einzelnen Gattungen. 39 [5] Thracier machen den Übergang zur Wissenschaft am ersten: Democrit Protagoras Thukydides.
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39 [6] Ansätze zu neuen Gattungen, absterbend. Abgelehnte Themata, Auswahl. 39 [7] Vergröberung der Kunst im Drama. 39 [8] Zu lesende Bücher: Taine, Frankreich v der Revolution. Lenormant, Phoenizien usw. Gutschmid, neue Beiträge zur Assyriologie. Duncker, Geschichte, erster Band. Doehler, Hadrian usw. (Halle). Reumont, Cosimo. Reumont, Geschichte Toscana's. Stern, Milton und <seine> Zeit. Villari, Machiavell übersetzt Mangold. Petrarca, Geiger. Baudissin, Studien. Schack, spanisches Theater. – über den Islam? E. Schérer, études litteraires. Ambros III Band (Renaissance bis Palestrina). Peschel, Völkerkunde. Renan usw. 39 [9] Aus zwei Augen sehen – διζ το χαλον. 916
39 [10] Ein gewähltes Wort will seinen Hofstaat von Worten um sich und sein Arom (Parfum). 39 [11] Zeitalter des Erkennens um der Seele Ruhe und Freude zu geben.
[Dokument: Notizbücher] [Juni – Juli 1879] 40 [1] Octobermensch. Bauern im Schwarzwald. 40 [2] Nur fehlt mir ein Menschlein. 40 [3] Ich schließe: Beschränkung seiner Bedürfnisse. In diesen aber muß Jeder zusehen, Fachkenner zu werden (z.B. in Betreff seiner Speisung, Kleidung, Wohnung, Heizung, Clima usw.). Sein Leben auf so viel oder wenig Fundamente stellen als man ausreichend beurtheilen kann – so fördert man die allgemeine Moralität, d.h. man zwingt jeden Handwerker, uns ehrlich zu behandeln, weil wir Kenner sind. Ein Bedürfniß, worin wir nicht Kenner werden wollen, müssen wir uns verbieten: dies ist die neue Moralität. Kennerschaft hinsichtlich der Personen, welche wir gebrauchen, ist das erste Surrogat. Also Menschenkunde, dort, wo unsere Sachkunde aufhört. Also: eine ganz andere Art von Wissen zu erwerben, auf Grund unserer Bedürfnisse. 40 [4] Die Maschine controlirt furchtbar, daß alles zur rechten Zeit und recht geschieht. Der Arbeiter gehorcht dem blinden Despoten, er ist mehr als sein Sklave. Die Maschine erzieht nicht den Willen zur Selbstbeherrschung. Sie weckt Reaktionsgelüste gegen den Despotismus – die Ausschweifung, den Unsinn, den Rausch. Die Maschine ruft Saturnalien hervor. 40 [5] Die Unfreiheit der Gesinnung und Person wird durch den revolutionären Hang bewiesen. Die Freiheit durch Zufriedenheit, Sich-einpassen und persönliches Bessermachen. 40 [6]
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Gegen die Schädlichkeit der Maschine, Heilmittel 1) Häufiger Wechsel der Funktionen an derselben Maschine und an verschiedenen Maschinen. 2) Verständniß des Gesamtbaus und seiner Fehler und Verbesserungsfähigkeit (der demokratische Staat, der seine Beamten oft wechselt) 40 [7] Bei einem weniger gewaltsamen Charakter des socialen Lebens verlieren die letzten Entscheidungen (über sogenannte ewige Fragen) ihre Wichtigkeit. Man bedenke, wie selten schon jetzt ein Mensch etwas mit ihnen zu thun hat. 40 [8] Mein größter Schmerz. 40 [9] Mir wurde Angst beim Anblick der Unsicherheit des modernen Culturhorizonts. Etwas verschämt lobte ich die Culturen unter Glocke und Sturzglas. Endlich ermannte ich mich und warf mich in das freie Weltmeer. 40 [10] Sentimentale Stimmungen (über die Vergänglichkeit aller Freude, oder melodisches Seufzen nach Befreiung aus dem Gefängniß) immer als Ausdruck deprimirter Nerventhätigkeit. Der größte Theil der Musikfreude gehört hieher. – Es giebt Culturen der aufsteigenden Nerventhätigkeit und solche der absteigenden; ebenso Philosophien, Dichtungen. Nur die Ermüdung (des Denkens) namentlich in einer zeitweiligen Hoffnungsarmut führt sie in den Wagnerischen Dunstkreis. 40 [11] Das „Lied an die Freude" (22. Mai 1872) eine meiner höchsten Stimmungen. Erst jetzt fühle ich mich in dieser Bahn. „Froh wie seine Sonnen fliegen, wandelt Brüder eure Bahn -". Was für ein gedrücktes und falsches „Fest" war das von 1876. Und jetzt qualmt aus den Bayreuther Blättern alles gegen das Lied an die Freude. 40 [12] Wie auf unseren Theatern Helden mit Lindwürmern kämpfen und wir an ihr Heldenthum glauben sollen, trotzdem wir sehen – also sehen und doch glauben – so auch bei ganz B. 40 [13] Musik-sentiment. 918
Zu beschreiben. Nachtwach, schlafsehnsüchtig – hell röthlich braun. 40 [14] Je vollkommner die Maschine, desto mehr Moralität macht sie nöthig. (Beil Flinte usw.) 40 [15] Je feiner der Geist, desto mehr leidet der Mensch beim Übermaß der Begierden. Insofern bringt geistige Verfeinerung auch dasselbe hervor was die Moralität der gebundenen Geister. 40 [16] Die Lehre von den nächsten Dingen. Eintheilung des Tags, Ziel des Tags (Perioden). Speisung. Umgang. Natur. Einsamkeit. Schlaf. Broderwerb. Erziehung (eigne und fremde). Benutzung der Stimmung und Witterung. Gesundheit. Zurückgezogenheit von der Politik. Unnatürliche Verschiebung: die Krankheit (als heilsam) der Tod (als Segen) das Unglück (als Wohlthat) Kampf gegen den Schmerz. Die Kampfmittel werden wieder zu Schmerzen (im Kämpfen liegt die Übertreibung, das auf-die-Spitze-treiben). Natur als Schmerz, Religion als Schmerz, Gesellschaft als Schmerz, Cultur als Schmerz, Wissen als Schmerz. Also: Kampf gegen den Kampf! 919
Heilung der Seele. Sorge. Langeweile. Begierde. Schwäche. Wildheit, Rache. Entbehrung. Verlust. Krankheit. Freude. Dreifaltigkeit der Freude 1) als Erhebung 2) als Erhellung
4) dreieinig.
3) als Ruhe 40 [17] Wir schätzen die Dinge nach der Mühe ab, die das Herstellen oder Fangen derselben uns gemacht hat. Daher "Werth". Dies wird auf die Wahrheit übertragen und giebt lächerliche Resultate. 40 [18] Gegen die philosoph-relig Kuppler 40 [19] Der Lehrer ist, durch Verbreitung der Selbst-Erziehung, auf die höchsten Ansprüche zu steigern, in seinen mittleren Formen zu vernichten. Die Schule zu ersetzen durch lernbegierige Freundschafts-Vereine. 40 [20] Das unstäte Reiseleben der Gebildeten ist ein Beweis, daß sie sich aufsuchen müssen und daß so wenig Gebildete an einem Ort leben. Zehn gereifte und mannigfache Vertreter des Geistes bannen sich fest durch den gemeinsamen Zauber ihres Zusammenlebens. – Das Natur – suchen ist ein Surrogat bei dem Mangel an guter Gesellschaft. Lieber allein als schlecht gepaart. Man flieht nicht sowohl vor sich selbst als vor seinem Umgange, wenn man regelmäßig alle Sommer den Ort verläßt. 920
Anwurzelung ist aber nothwendig für das Bestehen aller gemeinsamen Institutionen. Man wird Reisender „Wanderer", wenn man nirgends heimisch ist. Also: das moderne Kloster. 40 [21] Metaphysik und Philosophie sind Versuche, sich gewaltsam der fruchtbarsten Gebiete zu bemächtigen: sie gehen immer eher zu Grunde, weil Wälder entwurzeln über die Kräfte des Einzelnen geht. 40 [22] Gegen die geheuchelte Verachtung der nächsten Dinge und deren wirkliche Vernachlässigung (rohe Auffassung). 40 [23] Die nächsten und die fernsten Dinge. 40 [24] Wann ich geweint habe: 1) Commune 2) Gedicht Rosenlaui 3) Bauern Schwarzwald 4) Traum 5) Adresse aus Wien Geburtstag 40 [25] Der Faden, auf dem die Gedanken manches Denkers laufen, ist so fein, daß wir ihn nicht sehen und daß wir vermeinen, jener fliege oder schwebe oder treibe die Kunst der beflügelten Dichter. Aber wie die Spinne oft an einem zarten Fädchen herab läuft – 40 [26] Jetzt müssen wir unsere Zurückgezogenheit rechtfertigen: universal – 40 [27] Wie erzeugt man Menschen mit gutem Temperament?
[Dokument: Notizbücher] [Juli 1879] 921
41 [1] Ein Philosoph, der des Längeren einmal in der genannten Weise gelobt wurde, schrieb während dem mit seinem Stab in den Sand: „Eheu, Triviam deam fortassis amplexus sim?" 41 [2] Das anziehendste Buch der griechischen Litteratur: Mem Socr. 41 [3] Man erstrebt Unabhängigkeit (Freiheit) um der Macht willen, nicht umgekehrt. 41 [4] Der überwache allzuglänzende Blick und die zitternde Hand – Tristan. 41 [5] Durch die Zwecke wird das Leben ganz unsinnig und unwahr. Man arbeitet, um sich zu nähren? Man nährt sich, um zu leben? Man lebt, um Kinder (oder Werke) zu hinterlassen. Diese ebenso – usw. und zuletzt salto mortale. Vielmehr ist im Arbeiten Essen usw. immer auch das Ende da: mit dem Zweck knüpfen wir 2 Enden aneinander. Ich esse um zu essen und um zu leben d. h. um wieder zu essen. Die Handlung will wiederholt werden, weil sie angenehm ist. Alles Angenehme ist das Ende. Sind die Pflanzen da, um von den Thieren verspeist zu werden? Es giebt keinen Zweck. Wir täuschen uns. – Ich tauche die Feder ein um – – – 41 [6] Climata hat man erwogen, aber Tag und Nacht überhaupt usw. 41 [7] Auch dem Frömmsten ist sein tägliches Mittagsessen wichtiger als das Abendmahl. 41 [8] In den Gewerben ahmen wir die Natur nach und wiederum sind wir ergötzt, wie es scheint, daß die Natur uns nachgeahmt hat, wie in dem kleinen Stiel der Alpenrosenblüthe, der aus gelber und rother Seide geflochten scheint. 41 [9] Socialisten hülfen zum Siege der Demokratie. 41 [10] Νεµεσσαν ungeziemende Gleichsetzung. 922
41 [11] Wenn der Gleiche dem Gleichen Hülfe erweist, ist es kein Mitleid, sondern Pflicht – die Gleichsetzung hergestellt. Wenn der Starke dem Schwachen hilft, ohne Vortheil – erbarmt er sich –? 41 [12] Stufen: den Ruf mehren 1) mit sofortigem Nutzen im Auge 2) ohne dies, aber als Capital 3) gegen den sofortigen Nutzen in Hinsicht auf kommenden 4) gegen und ohne "Eitelkeit"'. 41 [13] Alle kleinen Dinge sind einst groß gewesen. 41 [14] "Die Fremde statt zu kommen, reiste wieder ab". 41 [15] Das Gehirn im Wachsen. Nur die jüngsten Theile haben ein begleitendes Bewußtsein. Die älteren arbeiten ohne diese Laterne der Controle. Das Ziel: der Mensch eine große unbewußte Zweckthätigkeit, wie die Natur der Pflanze. 41 [16] Mädchen die wie Turteltauben lachen. 41 [17] Zur Zeit der lauen Februarwinde, wenn die kleinen übereisten Gewässer unter den Füßen der Kinder knistern. 41 [18] Ein Rädergleis voll Wasser. 41 [19] Ein Mittagsläuten vom Dorfthurm, bei dem Frömmigkeit und Hunger zugleich wachwerden. 41 [20] 923
Wie die Sonne in einem Tannenwald, warme Wohlgerüche und reine Kühle des Windhauchs. 41 [21] Mücken bewölkter Himmel und feuchtwarme Luft – meine Feinde. Felsen Wind Nadelhölzer Heidegräser und viel Luft – meine Freunde. 41 [22] „Sphynx, Temistocles, Mythe, Paradoxe, Sophismus, Styl, Literatur usw." 41 [23] Carey 512. Concurrenz – ihre Nützlichkeit, obwohl grundböse. – Geht gegen das Gleichgewicht – aber die andere Gruppe hat den Vortheil des Kampfes. Der Dritte, der den Esel fortführt. Sind aber Engländer, so ist der Dritte selber der Esel, der fortgeführt wird. 41 [24] Schläfrig und zufrieden wie die Sonne in den Gassen einer kleinen Stadt am Feiertage. 41 [25] Terzen – Oktaven: Melodie Kindheit – lernen – erste Magie überall wo Wehmuth, wird ein Verlust empfunden, aber ein halbes Wiederfinden damaliger Empfindung. "Alpenglühen der Empfindung" wenn die Sonne hinunter ist Sonntag-Nachmittag-Einsam ebenso zu erklären. Das Kind hat die großen Entzückungen an den einfachen Dingen voraus. 41 [26] Der Empfindsame sehr fromm – ein Schuft. 41 [27] Soldat Kugel Dämmerung 41 [28] Eine gew Albernheit in den Begleitungsfiguren der rhythmischen Cadenzen hebt diese Wirkung nicht auf, mitunter scheint sie dieselbe sogar zu verst<ärken>. 41 [29] 924
Bei der Nähe des Gewitters, wenn das graue Gebirge furchtbar und tückisch blickt. 41 [30] Durch Jean Paul ist Carlyle zu Grunde gerichtet und zum schlechtesten Schriftsteller Englands geworden: und durch Carlyle wieder hat sich Emerson, der reichste Amerikaner, zu jener geschmacklosen Verschwendung verführen lassen, welche Gedanken und Bilder händevoll zum Fenster hinauswirft. 41 [31] Schluss: Werden wir, was wir noch nicht sind: gute Nachbarn der nächsten Dinge. 41 [32] Die Trostmittel des Christenthums sind bald eine Antiquität; ein Oel, das sich verrochen hat. Dann treten die Trostmittel der antiken Philosophie wieder hervor, in neuem Glanze – und unsere neue Trostmittelgattung kommt hinzu, die historische. 41 [33] Die meisten Menschen bäumen sich wider den Tröstenden eine Zeitlang auf und übertreiben die Tiefe und Unbändigkeit ihres Schmerzes, in Worten und Wehklagen. Sie finden es unerträglich, daß der Tröstende anzunehmen scheint, er werde leichter mit diesen Unfällen Verlusten usw. fertig werden: sie deuten ihm an, dies könne nur darin seinen Grund haben, daß er nicht tief genug empfindet und in der Fähigkeit tief zu empfinden unter ihnen stehe. In Wahrheit empfinden sie kein Haarbreit tiefer als jener empfinden würde, oft weniger. Sie setzen also seiner vermeinten Überlegenheit den Schmerz zu besiegen, eine andere entgegen. 41 [34] Der klassische Geschmack – nichts begünstigen, was die Kraft der Zeit nicht zu reinem und mustergültigem Ausdruck zu bringen vermöchte, also ein Gefühl der der Zeit eigenthümlichen Kraft und Aufgabe. 41 [35] In Ansichten über Kunst wenigstens wollen wir uns die Leidenschaftlichkeit und Roheit verbitten: auch das blinde Parteiwesen. 41 [36] Der Häßliche und Unansehnliche ist der Mode gram, weil sie nicht an ihn denkt. Er muß sich verkleiden. 41 [37] Nicht das ist das Kunststück, ein Fest zu veranstalten, sondern solche zu finden welche sich an ihm freuen. Meistens ist ein Fest ein Schauspiel ohne Zuschauer, ein Tisch voller Speisen ohne Gäste. Wer mitspielt, Fürsten und Soldaten, haben ihre Pflichten und Ermüdungen dabei, und die Neugierde des Gassenjungen ist die einzige lebendige Zuthat. 925
41 [38] Backwerk Zucker eine Mahlzeit, eine Treppe. 41 [39] Gegen die Küche des prix fait – des Hotels. 41 [40] Die strahlende gelbe Wiese, und über ihr dunkle braungrüne Waldzüge, über ihnen aber, in gewaltiger Steigerung derselben Berglinien, die Hochgebirgskronen, bläulich grau und schneeweiß schimmernd. 41 [41] Das Große an den Alten ist ihr universaler Trieb, ihr Auge und Schätzungen für alles, ihr geringer nationaler Accent (Griechen und Römer). 41 [42] Zur Beendigung des Kampfes ums Dasein entsteht die Gemeinschaft. Das Gleichgewicht, ihr Gesichtspunkt. 41 [43] Die Gemeinheit entsteht erst in der Gemeinschaft. Thukydides: ϕϑ ονεον gegen das Glänzende, zu schwärzen – also bei Gleichen. 41 [44] Natur muß ich allein haben, um sie mir nahe zu bringen. Im Verkehre mit Menschen macht sie mich ungeduldig: und wird mir immer fremder. Menschen berauschen mich: für die Natur muß ich ganz mein Gleichgewicht gefunden haben. 41 [45] Die Menschen verkehren zu viel und büßen dabei sich ein. Wer wenig hat, dem wird durch Gesellschaft auch noch das W<enige> gen w h. 41 [46] Wer nicht bei Zeiten lernt, 2 Stunden des Tags allein sein zu können, ohne Geschäft und Pflicht und (die ekelhaften Halbbeschäftigungen des Dampfblasens und schluckweiseTrinkens) – der – – – 41 [47] Vielleicht sind die Götter noch Kinder und behandeln die Menschheit als Spielwerk und sind grausam ohne Wissen und zerstören in Unschuld. Werden sie älter –
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Vielleicht kümmern sich die Götter nicht um uns, wie wir nicht um den Bau der Ameisen, obwohl – 41 [48] Gründe an Stelle der Gewohnheiten, Absichten an Stelle der Triebe, Erkenntnisse an Stelle des Glaubens, geistigseelische Freudigkeit an Stelle häufiger Einzel-Genüsse, Gleichgewicht aller Bewegungen und die Lust an dieser Harmonie an Stelle der Aufregungen und Berauschungen – und später alles wieder unbewußt werdend! 41 [49] Dieser Dialog ist nicht von mir. Er wurde mir eines Tages übersandt, mit der einzigen Bemerkung, daß ich ihn lesen und weitergeben dürfe. Das Erstere that ich, das Andere thue ich. 41 [50] – – – vom Heil der Seele würde keine Rede sein, der Staat würde nicht soviel Noth abzuhelfen haben und kein solches Kopfzerbrechen machen. 41 [51] Gegen Wagner bekommt man leicht zu sehr Recht. 41 [52] Wenn die Schätzung z. B. des Uneigennützigen erst festgestellt wurde (ob auch irrthümlich – ), so wächst sie. 41 [53] Die verschiedenen Arten der Phantasie haben eine verschiedene Kraft zu vergrößern. Phantasie die Furcht sehr groß machend – daher spekulirt auf sie zu allererst der Mächtigsein-wollende. 41 [54] Etwas das wir wissen, Scheint uns sehr dadurch im Werthe gestiegen. Eine Zeitlang – 41 [55] Ein Gang am Hafen von Neapel macht den Geist frei und bringt ihn den Alten näher. Fruchtbarkeit Heiterkeit und die Pest oder Kriege – 41 [56] Die Mittler-Moral. Übertragung der MM und ebenso der Gleichgewichts-Moral auf die Seele.
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41 [57] Gnade ursprünglich ein Zeichen der Verachtung. 41 [58] Die Uneigennützigkeit kommt in Ruf durch den Mittler, wenn der Haß zwischen zwei wüthet. In Wahrheit ist der M nicht uneigennützig. 41 [59] Ein Ding, dem ein Begriff genau entspricht, wäre ohne Herkunft. Plato's Irrthum von den ewigen Ideen. 41 [60] Es ist viel Charakter nöthig, die Sache des guten Geschmacks und der Vernunft aufrecht zu erhalten, wenn die großen Talente sich alle auf die entgegengesetzte Seite stellen. 41 [61] Die größte Absicht der Kunst sollte nicht durch die Schwachen vertreten werden. 41 [62] – nach der biblischen Moral, nach der dem, der wenig hat, auch noch das Wenige genommen wird, das er hat. 41 [63] Unsere Schwarzseherei, unsere Sentimentalität in Tragödie und Lyrik ist Ermüdung des Kopfes, bei Völkern und Einzelnen. Nervenschwäche. 41 [64] Ein langer Geschmack im Munde. 41 [65] Unsere Aufgabe, alles Angeerbte Herkömmliche Unbewußt-Gewordene zu inventarisiren und zu revidiren, auf Ursprung und Zweckmäßigkeit zu prüfen, vieles zu verwerfen, vieles leben zu lassen. 41 [66] Der Seidenwurm, dem man das Spinnen nicht verbieten soll. 41 [67]
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Das Ideale bei Schiller Humboldt – eine falsche Antike wie die Canova's, etwas zu glasirt, weich, durchaus der harten und häßlichen Wahrheit nicht in's Angesicht zu sehen wagend, tugendstolz, vornehmen Tones, affektvoller Gebärde, aber kein Leben, kein ächtes Blut. 41 [68] Ich muß weinen, wenn ich Goethes Worte auf Schiller "und hinter ihm im wesenlosen Scheine usw." lese. Warum? 41 [69] <Wanderer> – Dies ist mir zu flach. Schatten – Soll denn ein Schatten selbst immer tief sein! Denke doch, wie dünn er ist. Wanderer – Ich wußte bisher nicht, daß die Dicken mehr Vorrecht auf Tiefe haben als die Dünnen. 41 [70] Anekdote vom Cardinal und dem Nachtstuhl. 41 [71] geläufig im Herzen lesen, aber liebst es, zu buchstabiren, und mitunter kommt das rechte Wort heraus. 41 [72] Der Wanderer und sein Schatten. Ein Geschwätz unterwegs. 41 [73] Rivarol. Fontenelle. Beyle's Briefe. Mérimée ganz. 41 [74] Wenn 1 mal fast = 0mal, 10mal = 100mal. 41 [75] Jeden Tag eine Stunde: Gesundheitslehre.
[Dokument: Notizbücher] [Juli – August 1879] 929
42 [1] Curiosa unserer modernen Schriftsteller, welche einem Kenner der alten Sprachen wie Schmutzflecken anmuthen. Kringel
(Ge-ringel)
Kraut
(Ge-reutetes)?
Kleben
(ge-leben)?
die Parado<xie>
zu Laut- und Geschlechts-Curiosa. 42 [2] Ein Stück Zucker in Thee aufgelöst und ein gleiches, im Mund gehalten, während man den Thee trinkt, geben ein verschiedenes Gefühl von Süße. 42 [3] Die Willensfreien, eine wundervolle Illusion, wodurch der Mensch sich zu einem höheren Wesen gemacht hat; der höchste Adel, am Guten wie am Schlechten bemerkbar. Doch schon thierisch. Wer sich darüber erhebt, erhebt sich über das Thier und wird eine bewußte Pflanze. Der willensfreie Akt wäre das Wunder, der Bruch der Natur-Kette. Die Menschen wären die Wunderthäter. Das Bewußtsein um ein Motiv bringt die Täuschung mit sich – der Intellekt der uranfängliche und einzige Lügner. 42 [4] Plato und Rousseau über Cultur in Einem Gegensatz: Plato meint, unter Naturmenschen (Wilden) würden wir auch noch den athenischen Verbrecher umarmen (als Culturwesen). Er hat Recht gegen Rousseau. 42 [5] Die Größe oder Kleinheit der menschlichen Kraft entscheidend bei der Constitution seiner Empfindung. Er wird erst böse und wild, wenn Mächte, die der seinen ähnlich oder unter ihm sind, ihm gegenüber treten. Gegen Gewitter ist er ohne Vorwurf. Das Unrecht der Fürsten erträgt man leichter. Am schlimmsten ist der Nachbar daran. Wo der Mensch sich nicht unterwirft, da wird er selber Tyrann. 42 [6] Der Türkenfatalismus ist der, welcher die individuelle Unfreiheit des handelnden Menschen als gleich der intellektuellen setzt und letztere herab stimmt zur individuellen. (Denn Blinde, deren Triebe dem Befehle gehorchen, Ein Motiv nur sehen zu wollen –)
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42 [7] 1) Rache des Mächtigen gegen den Mächtigen, womöglich Vernichtung. Schonung, um sich an der Qual zu weiden. 2) Gleiche Vergeltung (um die Folgen der Rache zu schwächen). 3) Der Mächtige gegen den Unterworfenen. Das Oberhaupt Strafen verhängend (ähnlicher Gesichtspunkt wie die Gemeinde, oft persönliches Rachegelüst über den Vortheil des Oberhaupts siegend). Je größer die Gefahr, um so mehr sieht er nach, um so strenger drakonischer straft er und jedenfalls launenhafter. 4) Abschreckung und zugleich Schonung des Individuums (vom Standpunkte der Gemeinde, die es nicht verlieren will). Grade des Schmerzes als Aequivalent der Vergehungen. Je brauchbarer einer ist, um so milder wird er bestraft. Wird an ein ewiges Leben geglaubt, und das irdische Leben niedrig geschätzt, so ist die Schonung nicht so nöthig, also die Grausamkeit größer. Unschädlich machen, aber doch möglichst nützlich erhalten (deshalb auch den Leib schonen) – wird Vernichtung nöthig, dann eher zu grausam, weil damit die größte Abschreckung, also der größte Nutzen erreicht wird. 5) Göttliche Strafen, als äquivalent weltlicher Gerechtigkeit (also Schicksalsschläge). Dadurch große Milderung. Die Priester kündigen diese Strafen an; der Rachedürstige wartet – viel gewonnen! 6) Die Gewissenspein als Äquivalent. Gefahr ewiger Verdammniß. Christlicher Standpunkt. 42 [8] Die Rache des Niederen am Höheren geht immer auf das Äußerste aus, Vernichtung: weil sie so allein den Rückschlag beseitigen kann. 42 [9] Strafgelder, Schaden wieder gut machen – etwas Anderes. Möglichst viel Nutzen erweisen, nachdem man Schaden gethan hat. An dem Schmerz beim Bezahlen wird nicht gedacht. Gemeinde-Vortheil, Pfändung, Einziehung des Vermögens usw. Daraus eine Abschätzung der Vergehen nach Geld. (Schadenersatz, Ausgangspunkt.) 42 [10] Der heilige Neid und der heilige Zorn. 42 [11] (Jeder der immer zu geben hat hat was Schamloses) 931
42 [12] Melodien, die nicht fröhlich zu Ende laufen, sondern wie wasserscheue Hunde mit eingeklemmten Schwänzen plötzlich stehen bleiben. – 42 [13] Gemälde, wo der Färber sagen will, was der Zeichner nicht sagen kann. 42 [14] Der Ansatz zum Menschen sehr oft vergeblich gemacht, bei der geringen Fruchtbarkeit Einmal ein ganz günstiges Zusammentreffen! 42 [15] Wir bedürfen Nahrung: aber die Bedürfnisse unseres Geschmacks sind andre, erst Zwang, dann Gewöhnung, dann Lust, welche wiederholt zu werden wünscht (Bedürfniß). Ganz wie beim moralischen Sinn, der auch so verschieden ist wie der gustus, aber der Zweck, dem er dient, ist fast derselbe (Erhaltung des Menschen durch und gegen die Menschen). Der moralische Sinn ist ein Geschmack, mit bestimmten Bedürfnissen und Abneigungen: die Gründe der Entstehung jedes einzelnen Bedürfnisses sind vergessen, er wirkt als Geschmack, nicht als Vernunft. Der Geschmack ist ein angepaßter und auswählender Hunger. Ebenso die Moral. (Ein Hunger, der auf bestimmte Weise befriedigt werden will, nicht chemisch. –) So wollen wir, vermöge des moralischen Sinns, uns auch nicht auf jede Weise durch und gegen die Menschen erhalten. 42 [16] Bei körperlicher oder geistiger Vollarbeit ist der Geschlechtstrieb gering. Eine mäßige Arbeitsamkeit in Einer Hinsicht förderlich. 42 [17] Via Appia – endlich alles ruht – die Erde einst ein schwebender Grabhügel. 42 [18] Man wandelt nicht ungestraft fortwährend unter Bildern. 42 [19] Socialismus – das höchste Gebot: du sollst nicht besitzen. 42 [20] So lange Nothwehr und Abschreckung (Mensch als Mittel) innerh der Gesellschaft, so lange werden die Kriege nicht aufhören. Man vergißt den verhärtenden Einfluß aller 932
strafenden Justiz: die Verachtung der Haß auf die Verbrecher. Stehende Heere sind ein Abschreckungsmittel – 42 [21] Rache 1) Verhinderung der Fortsetzung (Schutz –?) 2) der uns schädliche Mensch soll unschädlich gemacht werden (Versöhnung?), 3) Neid über den Sieg oder das Übergewicht des Gegners, 4) im Schwarzsehen nie übertreiben, in der Angst vor dem, was noch kommen kann ebenfalls – wir messen zu hoch. 5) Herstellung unseres Ansehens. 42 [22] Die sittliche Belehrung welche am leichtesten vergessen wurde, müßte am schwersten gestraft werden, als Wink. 42 [23] Es ist erbärmlich wenig, wenn eine Musik, Stimmung hat. Ein Instrument soll Stimmung haben: dann aber etwas Schönes verlauten lassen: ebenso ein Mensch und eine Schrift. 42 [24] Wechsel und Kreislauf, darnach unterscheiden sich die Menschen (Milch täglich, dann schmeckt sie anders – man genießt aus einem Gegensatz). 42 [25] Der Willensstarke 1) er sieht das Ziel deutlich. 2) Er traut sich die Kraft zu, zu den Mitteln mindestens. 3) Er hört auf sich mehr als auf andere. 4) Er ermüdet nicht leicht, und in der Ermüdung erblassen seine Ziele nicht. Er ist ein geübter Bergsteiger. 5) Er erschrickt nicht sehr und oft. Also: diese Art Freiheit des Willens, die man an ihm rühmt, ist Bestimmtheit und Stärke des Wollens, nebst Geübtheit und Schwäche der Phantasie, sowie Herrschaft oder Herrschsucht und Selbstgefühl. Man redet von Freiheit weil diese gewöhnlich mit Kraft und Herrschaft verbunden ist. 42 [26] Rache sehr complicirt! 42 [27] Gleichgewicht. Das Gefühl der Willensfreiheit entsteht aus dem Schwanken und Stillestehen der Wage, bei Gleichgewicht der Motive. 933
42 [28] Grade der Freiheit. Wenn er neue Motive den alten (Gewohn oder vererbten Motiven) vorzieht, bewußte den triebähnl Motiven – – – 42 [29] Sie haben das Gebiet der pudenda so ausgedehnt, daß ein Gespräch über Verdauung, ja über Zahnbürsten schon für unzart gilt: und die Feineren denken folglich auch nicht über solche Dinge nach. 42 [30] Hauptfrage bei jedem Menschen einzeln zu beantworten: sind deine Gefühle mehr werth oder deine Gründe (Vernunft)? Dies hängt von der Vererbung und Übung ab. (Gute Eltern aber dumm!) 42 [31] Wir wollen uns so freuen, daß unsere Freude den Anderen nützlich ist. 42 [32] Möglichst viel Freude an sich haben. Aber heißt das nicht die Selbstgefälligen ermuthigen? – Sind sie so schädlich? Und die Gefahr der Enttäuschung!! Heißt es die ermuthigen, welche nur eine eingebildete Gesundheit haben? 42 [33] Selbst-Entdeckung Selbst-Abschätzung Selbst-Veränderung 42 [34] Würde des Verbrechers. Wenn der König das Recht hat, Gnade zu üben, so hat der Verbrecher das Recht, sie zurückzuweisen. 42 [35] Gegen das Sprechen bei Tisch. 42 [36] An den sogenannten großen Mahlzeiten, zu denen sich auch noch in diesem Zeitalter die Menschen einladen, nimm nie Theil. 42 [37]
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Minderungen der Heeresmacht – ein Unsinn! Aber das Schwert zerbrechen! Sowohl das Schwert der Gerechtigkeit als des Krieges! Die kostbarste, siegreichste Waffe! 42 [38] Armeen der Nothwehr? – Aber Nothwehr der Selbsterhaltung wegen. Wie viele AngriffsKriege werden der Selbsterhaltung wegen geführt! (Um einem Angriff zuvorzukommen, um das Volk abzulenken usw.) Der Eroberer sucht zuletzt auch nur seine Selbsterhaltung, als das Wesen, welches er ist: er muß erobern: „Eure Nothwehr rechtfertigt jeden Krieg. Zerbrecht das Schwert und sagt: wir wollen lieber alles leiden, ja zu Grunde gehen als die Feindschaft in der Gesellschaft aufrecht zu erhalten." Ebenso steht es mit der strafenden Gerechtigkeit. Kein Staat giebt jetzt zu, das Heer aus Eroberungs-Absichten zu erhalten. So heißt dies: den Nachbar der Eroberungs-Gelüste und der Heuchelei zeihen. Dies ist eine feindselige Gesinnung. 42 [39] Falsch gerichteter Ehrgeiz z. B. Trinken bei jungen Leuten, während Feinheit des Gehirns – – – 42 [40] Control-Reise eines Bäckers über Stadtgebäck. 42 [41] Die zarteren Naturen, welchen auch die härtesten Bissen des Lebens unwillkürlich in Milch eingebrockt werden, wären zu glücklich, wenn sie ihr Gutes einsähen: und so plagt sie ein geheimer Neid auf die Gewaltsameren Kräftigeren und gar zu gern heucheln sie deren Tugenden, d. h. deren zurückgebliebenes Menschenthum: was sich vor dem Unbefangenen so ausnimmt, als wenn das Lamm im Wolfskleide unter Lämmern Schrecken machen will. Das ist nun freilich eine Nachahmung zum Lachen, denn ihre Vorbilder, die sie beneiden, verstehen es, unter Wölfen selber Schrecken zu machen: und dazu gehört sich freilich nicht nur ein Wolfsfell, sondern ein Wolfsgebiß und eine Wolfsseele – und noch mehr. 42 [42] Daß das Heute nicht das Morgen um seine Pflicht bestehle! 42 [43] An den Tagesstunden, wo der Geist seinen Fluthstand hat, wer wird da nach einem Buche greifen! Da wollen wir unsre eigenen Bootsmänner und Lootsen sein. 42 [44] Selbst bei den Worten "Kirschen und Johannisbeeren" Rührung – Melodie. 935
42 [45] Eckermann das beste Prosawerk unserer Litteratur, der höchste Punkt der deutschen Humanität erreicht. 42 [46] Erdenrund, Erdenring – απειοεσιη. 42 [47] Die Zunge stolperte, das Herz wußte nichts davon. 42 [48] Socr Mem keine beglückenden curiosa, sondern einfältige Nachbarlichkeit. 42 [49] Der See und das Hochgebirge. Ein Greis der einen Spiegel in der Hand hält (am Abend, wenn die Sonne zu tief steht, um in den See zu scheinen, scheint das Hochgebirge in ihn hinein: es ist als ob ein Greis – – – 42 [50] Es kommt der Tag, wo das Volk der siegreichsten Heere die Abschaffung des Heers beschließt. 42 [51] Man hält den Verbrecher so lange im Gefängniß bis – „seine Strafzeit abgelaufen". Absurd! Bis er der Gesellschaft nicht mehr feindlich gesinnt ist! Bis er auch für seine Strafe kein Rachegefühl mehr hat! Ihn dann noch länger zu halten wäre 1) Grausamkeit 2) Vergeudung von Kraft, die im Dienste der Gesellschaft wirken könnte 3) Gefahr, ihn rachedurstig zu machen, da er die überflüssige Härte empfindet, also moralische Verschlechterung. 42 [52] In der Welt der Kunstwerke giebt es keinen Fortschritt, über die Jahrtausende weg. Aber in der Moral wohl: weil in der Erkenntniß und Wissenschaft. 42 [53] Der Verbrecher beim Einfangen zart, wie ein Kranker zu behandeln. Die Polizei ganz andere Menschen! 42 [54] Verantwortlich sein d.h. die Motive, aus denen man handelte, wissen und angeben können. Aber wissen wir von irgend einer Handlung alle Motive? Ihre verhältnißmäßige Stärke und Art? 936
42 [55] Der schöne Ernst – schwarze Seide, mit rothen Fäden gleichmäßig durchsponnen, ein gedämpftes Leuchten. 42 [56] Gegen die strafende Gerechtigkeit. Ein Versuch zur Milderung der Sitten. 42 [57] Paulus – welcher eine jener großen Immoralitäten ist, an denen die Bibel reicher ist als man denkt. 42 [58] Voraussetzung, daß die Handlungen des Zwangs nicht gestraft werden. Nur die absichtlichen Handlungen – aber nicht alle absichtlichen Handlungen! Wo jemand absichtlich handelt: weil oder damit – da ist der Zwang der Motivation. Motive darf man nicht strafen. Aber da ist kein Zwang: es giebt andere Motive: warum folgt er diesen nicht?" Eben warum nicht?! Sie wiegen ihm nicht gleich jenen!" Warum nicht – Fehler des Urtheils? Des Charakters? Überall wäre da Zwang. – Also: sie wiegen ihm gleich jenen, die Wage ist im Gleichgewicht. „Jetzt springt der freie Wille hervor". Aber wenn es ganz gleich ist, so oder so zu handeln, so ist da (in dieser Vollendung des Urtheils) auch ein Zwang. Unstrafbar! Also: wie ihr euch dreht, ihr straft wider eure Voraussetzungen. Ihr straft den Gezwungenen. 42 [59] „Aber die Gesellschaft geht da zu Grunde!" So gesteht, daß Strafe Nothwehr ist. Aber mißbraucht die Moral-Worte nicht, redet nicht von Gerechtigkeit. Da sind eben die kleinlichen Abstufungen der Strafen unsinnig, bei Nothwehr. Individuelle Zumessung nöthig! – Aber das giebt Willkür! 42 [60] „Er hat die Wahl zwischen Gutem und Bösem! – " 42 [61] Lehrer an Stelle der Richter. – Wider die strafende Gerechtigkeit. An deren Stelle kann nur die belehrende treten (welche die Vernunft verbessert und die Gewohnheiten eben dadurch – das Motiv-schaffende!). „Dem Kinde einen Schlag! es wird die Handlung nicht wieder thun". Hier ist also der Schlag eine Erinnerung an die Belehrung: der Schmerz als stärkster Erreger des Gedächtnisses. Daraus ergäbe sich die allergrößte Milderung aller Strafen: und möglichste Gleichsetzung derselben! Nur als mnemotechnische Mittel! Da genügt wenig! (Das Lob beseitigt!) 42 [62] 937
Wird die Strafe darnach bemessen, ne iterum peccet, so ist das Maaß individuell verschieden. Die Absicht ist, das Motiv stark genug einzuprägen, einzuschneiden: und da kommt es auf den Stoff an, in welchem geschnitten wird. – Nun aber haben wir kein individuelles Strafmaaß. Also ist die individuelle Besserung nicht die Absicht. Sondern es ist die verdiente Strafe, nach der Theorie des freien Willens: nämlich in Bezug auf den freien Willen werden Alle als gleich angesetzt: weil es ein Wunderakt ist, ohne Vorgeschichte, gar nicht individuell. Wegen dieser Gleichheit kann auch die Strafe gleich für alle Menschen sein. – Die Differerz gegen andere Strafen bezieht sich auf den Inhalt der Schuld, nicht auf den Schuldigen? Aber dann sollte auch die Strafe eine sein für alle Verbrechen. 42 [63] Die Gleichsetzung der Strafen setzt die Gleichsetzung der Verbrechen voraus. Aber es giebt in Bezug auf Motive keine Gleichheit – und geht man bis zur Freiheit des Willens zurück, so ist nicht abzusehen, warum es verschiedene Strafen geben sollten – es müßte nur Eine geben. Aber die Motive strafen wäre unmoralisch – weil man den Unfreien nicht strafen will. Also scheint man in Bezug auf jene Freiheit Unterschiede zu machen – eine größere oder kleinere Freiheit des Willens je nach dem größeren oder kleineren Vergehen. Etwas ganz Unsinniges Unlogisches! Da dann die Freiheit eben keine absolute wäre, d. h. Gewichte da wären, welche die Wagschale nach dieser oder jener Seite sinken machten. Die Gradation der Freiheiten wäre soviel als Unfreiheit annehmen. 42 [64] διζ ηβησαζ: Hesiod als Heros bekam die ηβη und lebte dann nicht im Hades, sondern mit den anderen Heroen. Es gab ein doppeltes Fortleben: 1) im Hades διζ παιδεζ, eigentlich potenzirtes Greisenalter, 2) im Elysium διζ ηβησαζ. 42 [65] Wir machen nur verantwortlich, wenn jem seine Vernunft anwenden konnte d. h. wenn er Gründe hatte und angeben kann. Strafen wir ihn, so strafen wir, daß er die schlechten Gründe den besseren vorzog: also die absichtliche Verleugnung seiner Vernunft. Wenn er die besseren Gründe nicht gesehen hätte (aus Dummheit), so dürfte man nicht strafen. Er hätte dann einem Zwange gefolgt, er hätte keine Wahl gehabt. Ebenso wenn man annimmt, daß er zwar das Bessere sielt, aber vermöge eines inneren Zwangs das Andere thut, so ist er nicht zu strafen: er ist unfrei (wie die Mutter die ihr Kind erdrückt). "Er folgt dem bösen Hang" – aber wenn er frei sein soll, dann aus absoluter Willkür. Wie kann einer absichtlich unvernünftiger sein als er sein muß! Dies nennt man „freien Willen": also das Belieben der schlechten Gründe als Motive – rein als unmotivirtes Sinken der Wage, als Wunder. (Oder es ist das „radikal Böse" usw.) In Wahrheit: er wählt das Schlechtere weil 1) sein Sinn für den Gemeinde-Vortheil zu schwach vererbt ist 2) weil seine Phantasie zu schwach ist, den zukünftigen Vortheil und das kommende Anpreisen sich so vorzustellen, daß es den Reiz des Gegenwärtigen überwindet. Er muß in beiden Fällen. Also: das Wunder wird in beiden Fällen entweder gestraft oder gelobt. Das isolirte Faktum. 42 [66]
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Man bestraft eigentlich die Freiheit des Willens – weil man Gebundenheit durch Gesetz und Moral verlangt? Aber da wäre nichts zu loben, nichts moralisches – auch diese Welt muß gänzlich willkürlich, grundlos sein. 42 [67] Via Appia. Gedanken über den Tod. 42 [68] Als Atheist, habe ich nie das Tischgebet in Pf gesprochen und bin von den Lehrern nie zum Wochen-Inspektor gemacht worden. Takt! 42 [69] „Das Libell der Mytus der Sophismus" – fehlerhafte Anwendung oder Schreibung fremdländischer Worte. 42 [70] Geschichte der Criminalstrafen.
[Dokument: Manuskripte] [Juli – August 1879] St. Moritzer Gedanken-Gänge. 1879 43 [1] Beyle's Briefe („Stendhal") zu lesen: er hat auf Prosper Mérimée den stärksten Einfluß gehabt. 43 [2] Wer am Ausdruck „milchgrüner See" Anstoß nimmt, liest mit dem Gaumen und nicht mit den Augen. 43 [3] Vorgestern gegen Abend war ich ganz in Claude Lorrain'sche Entzückungen untergetaucht und brach endlich in langes heftiges Weinen aus. Daß ich dies noch erleben durfte! Ich hatte nicht gewußt, daß die Erde dies zeige und meinte, die guten Maler hätten es erfunden. Das Heroisch-Idyllische ist jetzt die Entdeckung meiner Seele: und alles Bukolische der Alten ist 939
mit einem Schlage jetzt vor mir entschleiert und offenbar geworden – bis jetzt begriff ich nichts davon. 43 [4] Das jus talionis ist, als Privatstrafrecht, eine höhere Stufe der Moral, es ist nur auf Wiedervergeltung aus. Das Gemeinde-strafrecht enthält einen Überschuß – es stehen sich eben der Einzelne und die Gemeinde gegenüber, der Zustand der Gleichheit fehlt. 43 [5] Unverdaulichkeit des Verbrechens
[Dokument: Notizbücher] [August 1879] 44 [1] Weißt du, daß jeder von den Eigenschaften der Menschen und Dinge, denen du jetzt deine schönsten Worte giebst, ohne Weiteres annimmt, es seien deine Eigenschaften. 44 [2] Schubert verhält sich zu Beethoven wie die naive Dichtung zur sentimentalischen. Schubertartige Musik ist der Gegenstand der Beethovenschen Musikempfindung. 44 [3] Die moralische Verkehrtheit hat darin ihren Anschein von Radikal-Bösem, daß der Mensch heute intellektueller ist als morgen, aber auch umgekehrt. Er ist etwas verschiedenes: aber man nimmt den Intellekt als fest. 44 [4] Gesetzt, jemand hat Herzeleid durch einen boshaften anonymen Brief: die gewöhnliche Kur ist die, seine Empfindung entladen, indem man einem Anderen Herzeleid macht. Diese alberne Art uralter Homöopathie müssen wir verlernen: es ist klar, daß wenn er sofort auch einen anonymen Brief schreibt, womit er jemandem eine Wohlthat und Artigkeit erweist, er seine Wiedergenesung auch erlangt. 44 [5] Einem Unglücklichen, der einen Trost will, muß man entweder zeigen, daß alle Menschen unglücklich sind: das ist eine Wiederherstellung seiner Ehre, insofern sein Unglück dann ihn doch nicht unter das Niveau herabdrückt: wie er geglaubt hat. Oder man muß zeigen, daß sein Unglück ihn unter den Menschen auszeichne. 44 [6] 940
Man soll da, wo etwas gethan werden muß, nicht von Gesetz reden, sondern nur da, wo etwas gethan werden soll. Gegen die sogenannten Naturgesetze und namentlich die ökonomischen usw. 44 [7] „Eitelkeit" ein Quellengebiet, aus dem die mächtigsten Ströme der Moralität hervorgebrochen sind. 44 [8] Sobald wir uns verstimmt oder gallsüchtig fühlen, sofort den Geldbeutel heraus oder die Brieffeder oder den nächsten Armen oder das erste beste Kind, und etwas verschenken, womöglich mit wohlwollendem Gesicht: wenn es aber nicht geht, dann auch mit verbissenen Zähnen. 44 [9] Poesien welche, wenn man sie in Prosa übersetzen will, verdunsten. 44 [10] Mit so zarter und verschämter Haut daß das Blut ganz von ferne aus durchzublicken wagt. 44 [11] Plato's Ansichten – er kannte die verbotenen Eingänge aller Heiligthümer. 44 [12] Walter Scott, 2 Novellen = das Beste. Die 3 vollkommenen Erzähler. 44 [13] Jean Paul im Verkehr mit den d<eutschen> Schr z. B. S war mehr als ein k G. 44 [14] Seine Rigorosität im Laokoon hatte Eine gewichtige Gegnerschaft: die guten Dichter. Auch soll man ihm nicht vergessen, daß er die unsterbliche Lächerlichkeit – – – 44 [15] Kein Parteimensch versteht die Treue gegen sich selber. 44 [16]
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Den großen Werth der neuen Institutionen angeben – Schutzwehr und Bollw<erk> gegen das Räuber- und Ausbeuterthum in Geist und Geld.
[Dokument: Manuskripte] [August 1879] 45 [1] „Jene sonnigen langmüthigen Octobertage, an denen unser gemäßigtes Klima zu seiner Seligkeit und Fülle kommt." 45 [2] „In der sommerlichen Nachmittagsstille, wenn die Wanduhr vernehmlicher spricht und die fernen Thurmglocken einen tieferen Klang haben." 45 [3] „jene fahle Gesichtsfarbe des Hochthals, wenn es eben vom Winter zu genesen beginnt und der Schnee abgethaut ist." 45 [4] „jetzt liegt alles so hell, so stille da: ist dies die Stille des Lebensmüden, die Helle des Weisen? Man weiß es nicht. Der Wind läuft inzwischen an den Berghalden hin und bläst die Spätsommerweise: bald schweigt er wieder ganz: das Gesicht der Natur macht ihm bange? das verblichene regungslose? Man weiß es nicht; es ist alles ungewiß wie die ersten Träume eines Wanderers, der den ganzen Tag gegangen ist." 45 [5] „Durch ein Dorf muß man am Nachmittage des Sonnabends gehen, wenn man die wahre Feiertags-Ruhe in den Gesichtern der Bauern sehen will: da haben sie noch den ganzen Ruhetag unangebrochen vor sich und sind fleißig im Ordnen und Säubern zu Ehren desselben, mit einer Art Vorgenuß, welchem der Genuß nicht gleich kommt. Der Sonntag selber ist doch schon der Vor-Montag." 45 [6] Der Einsame sagt: jetzt lebt meine Uhr in den blauen Tag hinein. Früher war sie moralisch und ein Pflichten-Wegweiser.
[Dokument: Druckmanuskripte] [September – Oktober 1879]
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46 [1] Gaudii maxima pars est oblivio. Dolor de se ipso meditatur. 46 [2] Aegrotantium est sanitatem, medicorum aegritudinem cogitare. Qui vero mederi vult et ipse aegrotat, utramque cogitat. 46 [3] Kurzer Sommer. – Manchen Naturen ist nur ein Augenblick Sommerzeit beschieden: sie hatten einen späten Frühling und sollen einen langen Herbst haben. Es sind die geistigern Geschöpfe.
[Dokument: Notizbücher] [September – November 1879] 47 [1] „Er hat einen starken Willen sein Intellekt sein Urtheil und Phantasie ist sehr gleich in versch Zeiten, sagt dieselben Dinge oder so nahe und reizvoll – es hat nichts mit dem freien Willen zu thun: er ist unabhängig von Anderen, also frei (als abhängig von sich). Der Unfreie Schwache ist von sich nicht genug abhängig, daher sehr von Anderen abhängig. 47 [2] Narren, die wir sind! An solche Dinge zu denken, wo Europa in zwei militärische über und über in Erz starrende Gruppen auseinandertritt (hier und dort) anscheinend, um damit die gesammt-europäischen Kriege zu verhüten, mit dem vermutlichen Erfolge aber, daß – 47 [3] Für das Volk ein Maulkorb-Christenthum! – So sagen viele Gebildete, die sich nicht zum Volk rechnen, unter sich: denn laut dürfen sie es nicht sagen, die Angst vor dem Volke ist ihr Maulkorb. 47 [4] Wenn ein griechischer K<ünstler> sich seine Zuhörer oder Zuschauer vor die Seele stellte, so dachte er nicht an die Frauen (weder an die Mädchen, wie deutsche Romanschriftsteller, noch an die jungen Frauen, wie alle französischen Romanschriftsteller, noch an die alten, wie die englischen Romanschriftsteller), auch dachte er nicht an das „Volk", an die große Masse, welche arbeitend und schwitzend die Straßen und Werkstätten seiner Vaterstadt füllte: ich meine die Sklaven; er vergaß ganz die Bauern ringsumher so wie die Fremden und zeitweilig Angesiedelten seines Heimwesens: sondern allein jene Hunderte oder Tausende von regierenden Männern standen vor ihm, die eigentliche Bürgerschaft seines Ortes, also eine sehr kleine Minderheit der Einwohnerschaft, ausgezeichnet durch eine gleiche Erziehung und 943
ähnliche Ansprüche in allen Dingen. Der Blick auf eine so feste und gleichartige Größe gab allen seinen Schriften eine sichere "Culturperspektive": etwas, das heutzutage z. B. allen fehlt, die an den Zeitungen arbeiten. 47 [5] Der große Grund-Fehler Schopenhauer's liegt darin, nicht gesehen zu haben, daß das Begehren (der „Wille") nur eine Art des Erkennens und gar nichts weiter ist. 47 [6] Der Genuß der Eitelkeit ist der Genuß eines Mittels zu einem Zwecke, den man selber vergessen hat. 47 [7] O über diesen erhabenen halbblödsinnigen Ernst! Giebt es denn kein Fältchen um dein Auge? Kannst du nicht einen Gedanken auf die Fingerspitzen nehmen und ihn emporschnellen? Hat dein Mund nur diesen einen verkniffenen verdrießlichen Zug? Giebt es keine Gelegenheit, die Achseln emporzuwerfen? Ich wollte, du pfiffest einmal und benähmest dich wie in schlechter Gesellschaft, als daß du so achtbar und unausstehlich sittsam mit deinem Autor zusammensitzest. Ein Autor hat immer seinen Worten Bewegung mitzutheilen. Hier ist ein Leser; er merkt nicht, daß ich ihn beobachte. Er ist mir von ehemals her bekannt – ein gescheuter Kopf: es schadet nicht, von ihm gelesen zu werden. – Aber er ist ja ganz verwandelt: bin ich es, der ihn verwandelt hat? Kommata, Frage- und Ausrufezeichen, und der Leser sollte seinen Körper dazu geben und zeigen, daß das Bewegende auch bewegt. Da ist er. Er ist ganz verwandelt. Moral: man soll gutlesen lernen; man soll gutlesen lehren. Die Moral ist: man soll nicht für seine Leser schreiben. Sie meinen, man soll nicht schreiben. Womöglich für sich – – – Beachten Sie wie schnell er liest, wie er die Seiten umschlägt – genau nach der gleichen Sekundenzahl Seite für Seite. Nehmen Sie die Uhr zur Hand. Es sind lauter einzelne wohlüberdenkbare Gedanken schwerere leichtere – und er hat für alle Einen Genuß! Er liest sie durch, der Unglückliche, als ob man je Gedanken-Sammlungen durchlesen dürfte! 47 [8] Daß die dramatische Person (auch wenn das Thema der Gegenwart gehört) singt, ist erlaubt, das ist unsere Art Kothurn des Gefühls.
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47 [9] In wiefern kann das Gefühl der Überlegenheit oder gar der Herrschaft Freude machen? Nicht an sich und ursprünglich, sondern nur als der Born vieler Güter und das Hinderniß vieler Übel – also als Mittel, das eigentlich nur im Vorgenießen des Zieles selber Freude machen könnte. Aber, um so häufiger, ist die Macht allmählich das Mittel zum Zweck geworden und wird um seiner selber willen begehrt: als etwas Begehrtes macht es Freude, sobald es erlangt wird: namentlich im Hinblick auf die, welche nicht an's gl<eiche> Ziel kamen. 47 [10] Man wird gegen all das Lästige und Langweilige, was die Herrschaft der Demokratie mit sich bringt (und bringen wird –), geduldiger und milder gestimmt, wenn man sie als eine jahrhundertelange sehr nothwendige „Quarantäne" betrachtet, welche die Gesellschaft innerhalb ihres eignen Gebietes – – – um die neue „Einschleppung", das neue Um-sichgreifen des Despotischen, Gewaltthätigen, Autokratischen zu verhindern. 47 [11] Gewählte Cultur – – – 47 [12] Blindschleichen. – Aber vielleicht thut es euren Augen wohl, daß ihr in euren dunklen Zimmern wohnt – wer hätte ein Recht, euch drob zu schelten! 47 [13] Richard Wagner sucht die Musik zu den Empfindungen, welche er beim (inneren) Anblick dramatischer Scenen hat. Nach dieser Musik zu schließen, ist er der ideale Zuschauer des Dramas. 47 [14] "Ich denke einen langen Schlaf zu thun." 47 [15] Schwangerschaft Larochef und Rée Cultur-Ansiedelungen gegen das Nomade – Wundt „Aberglaube in der Wissenschaft" – halbasiatische Barbaren – umnebelter Sumpf – Retorte 945
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Teil III: Fragmente 1880 – 1882 Die Fragmente von Anfang 1880 bis Sommer 1882 bestehen aus 9 Heften bzw. Manuskripten, 7 Notizbücher, 2 Mappen mit losen Blättern und ein Exemplar von R. W. Emerson Essays übers. von G. Fabricius, Hannover 1858.
Fragmente Anfang 1880 bis Sommer 1882 [Dokument: Notizbuch] [Anfang 1880] Vom Aberglauben. Vom Loben und Tadeln. Von der zulässigen Lüge. 1 [2] Schätzung des Mitleids (von Seiten derer ausgehend, die bemitleidet werden?) Monogamie 1 [3] Befinden die Menschen sich schlecht in Folge ihrer Unmoralität oder ihrer Moralität? – Oder in Folge von Beiden und vielen anderen Dingen? 1 [4] Wie soll man handeln? So daß der Einzelne möglichst erhalten bleibt? Oder so daß die Rasse möglichst erhalten bleibt? Oder so daß eine andere Rasse möglichst erhalten bleibt? (Moralität der Thiere) Oder so daß das Leben überhaupt erhalten bleibt? Oder so daß die höchsten Gattungen des Lebens erhalten bleiben? Die Interessen dieser verschiedenen Sphären gehen auseinander. Aber was sind höchste Gattungen? Giebt die – Höhe des Intellekts oder die Güte oder die Kraft den Ausschlag? In Bezug auf diese allgemeinsten Maaßstäbe für das Handeln gab es kein Nachdenken, geschweige denn Übereinstimmung. 1 [5] Was Freundlichkeit und Wohlwollen betrifft, steht Europa nicht auf der Höhe: es zeugt gegen das Christenthum. 1 [6] Das universale Glück zu erstreben ist eine Unverschämtheit, und Albernheit. 1 [7] Der schlechte der kranke der nicht erzogene Mensch ist ein Resultat, dem man die Fortdauer und die Wirksamkeit beschneiden muß. 947
1 [8] Die schädlichste Tendenz ist die, immer an Andere zu denken (für sie thätig sein ist fast eben so schlimm als gegen sie, es ist eine Vergewaltigung ihrer Sphäre. Welche Brutalität ist die gewöhnliche Erziehung, der Eingriff der Eltern in die Sphäre der Kinder! 1 [9] Die Moralität (ebenso wie die Dichtkunst) ist am stärksten bei Naturvölkern (ihre Gebundenheit durch die Sitten) Bei den höchst cultivirten Nationen sind die Sitten meist das Rückständigste, oft Lächerliche, hier ist der ausgezeichnete Mensch immer unmoralisch. 1 [10] Gesetzt, es wird mehr geschätzt, für Andere sich zu opfern, so thut man es: aber weil es geschätzt wird. Instruktiv! 1 [11] Teufelsanbetung Spencer p. 31 1 [12] Erziehung Fortsetzung der Zeugung. Das ganze Leben ist Anpassung des Neuen an das Alte. 1 [13] Napoleons präsentables Motiv: „ich will Allen überlegen sein". Wahres Motiv: „ich will Allen überlegen erscheinen". 1 [14] Das größte Problem der kommenden Zeit ist die Abschaffung der moralischen Begriffe und die Reinigung unserer Vorstellungen von den eingeschlichenen und oft uns schwer erkennbaren moralischen Formen und Farben. 1 [15] Der „Mörder", den wir verurtheilen, ist ein Phantom: „der Mensch der eines Mordes fähig ist". Aber das sind wir Alle. 1 [16] An dem Gleich-sein-wollen verkümmert die Fähigkeit der Freude. 1 [17] Die Barbarei im Christenthum. 2) Überreste der Teufelsanbetung usw.
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1 [18] Wenn man ein so außerordentliches Wohlgefallen an seinen Werken hat und ihretwegen sich selber überhebt, so setzt man sich in der Rangordnung der Geister herab: denn es liegt nun nicht mehr viel daran, was man über andere Werke und Menschen urtheilt. Man hat die große Feuer-Probe der Gerechtigkeit nicht bestanden und darf nicht mehr auf dem Richterstuhl sitzen wollen. 1 [19] Wenn es nicht verboten ist: "du sollst nicht morden!" – in ganzen Perioden hat das innere Gefühl nichts gegen den Mord einzuwenden. 1 [20] Wer die Pein erfahren hat, Wahrheit zu sagen trotz seiner Freundschaften und Verehrungen, scheut sich gewiß vor neuen. 1 [21] Es giebt ganz gescheute Menschen, welche meinen, wenn sie gegen eine Sache hartnäckig die Augen verschließen, dieselbe sei nicht mehr auf der Welt. 1 [22] Giebt es etwas Wichtigeres und Wirksameres, als jeden Menschen seiner Bekanntschaft als einen schwierigen Prozeß anzusehen, vermöge dessen sich eine spezifische Art Wohlsein durchsetzen möchte: erst wenn dies Wohlsein erreicht ist, ist, das, Gleichgewicht zwischen ihm und uns Allen hergestellt; von da an theilt er von seiner Freude mit und drängt sich doch nicht in die Sphäre der Anderen, er steht als kräftiger Baum unter anderen Bäumen, in der Freiheit des Waldes. 1 [23] NB. Dunkle und abergläubische Menschen glauben 1) – – – 2) – – – 3) – – – im Gegensatz zu den aufgeklärten 1 [24] Das Mitleid ohne Intelligenz ist eine der unangenehmsten und störendsten Erscheinungen: von sich aus ist leider das Mitleid durchaus nicht hellsichtig, wie Schopenhauer will. 1 [25] Keine lauere und flauere Empfindung wäre möglich als wenn alle Menschen sich einander eins oder auch nur gleich wähnten. Die schwungvollste Empfindung, die der amour-passion, besteht gerade im Gefühl der größten Verschiedenheit. 1 [26] Dadurch daß das Christenthum entwurzelt ist, wächst unsere Jugend ohne Erziehung. 949
1 [27] Die Gesellschaft muß immer mehr Wahrheit ertragen lernen. 1 [28] Menschen die vor Gift und Eifersucht gegen Menschen beißen möchten, predigen Wohlwollen gegen die Thiere 1 [29] Eine neue Cultur – die soll man nicht verschauspielern! 1 [30] Gerade jetzt wo die bejammernswerthe Comödie die Kunst mit dem Christenthum zu versöhnen wieder aufgeführt, an Schopenhauer zu erinnern! ihm sehr zu Ehren, daß er nie – 1 [31] Das Bedürfniß, sich über alle Sachen auszusprechen, die uns quälen – ließ Gott dem Christen immer gegenwärtig erscheinen; für die gröberen phantasieärmeren Naturen schuf die Kirche seinen Vertreter, den Beichtvater. Warum will man sich aussprechen? Weil eine Lust dabei ist, eine Vergewaltigung des Anderen, dem wir unser Leid zu hören, mitzuempfinden, mitzutragen geben Gott als Sündenbock muß auch Beichtvater sein. 1 [32] Ich kenne einen, der sich durch den kleinen Windhauch seiner "Freiheit" so verwöhnt hat, daß die Vorstellung zu einer Partei zu gehören, ihm Angstschweiß macht – selbst wenn es seine eigne Partei wäre! 1 [33] Unsere Aufgabe ist die Cultur zu reinigen, den neuen Trieben Luft und Licht zu schaffen und im Glauben, daß nach Überwindung der Gegensätze sehr viel Kraft mehr da ist. 1 [34] Ob ein Mensch zum Nutzen der Gesellschaft zu tödten sei? Der Mörder stört die Sicherheit, der Freigeist gefährdet die Seele für alle Ewigkeit. Die Murrköpfe stören das Behagen 1 [35] Die unmoralischen Handlungen machen die moralische Lebensweise bestimmter roher Culturen aus. – Sie sind auch noch in unseren Organen vorhanden. Wir morden, stehlen, lügen, verstellen uns usw. selbst im Höchsten. 1 [36]
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Unsere späteren Werthschätzungen bilden sich nach Analogie der angelernten, wie ein angefangenes Haus ausgebaut wird – d. h. – – – 1 [37] So lange euch diese Sätze noch irgendwie paradox klingen, habt ihr sie nicht verstanden: sie müssen euch überflüssig und allzuklar erscheinen. Man kann nicht leicht genug darüber nachdenken. 1 [38] Freie Geister versuchen andere Arten des Lebens, unschätzbar! die moralischen Menschen würden die Welt verdorren lassen. Die Versuchs-Stationen der Menschheit 1 [39] Es wird erstaunlich viel Schmerz auf den Versuchsstatonen neuer Lebensweisen und Nützlichkeiten umsonst erlitten – es hilft nichts: möge es nur Andern helfen! daß sie erkennen, was hier für ein verfehltes Experiment gemacht wurde. 1 [40] Nach Gewohnheit zu handeln ist sich selber nachahmen das Nächste und Leichteste – ohne daß die Motive der ehemaligen Handlungen wieder wirken. 1 [41] Der erfinderische G<eist> muß Zeit haben und darf sich nicht zu sehr an Regelmäßigkeit gewöhnen. 1 [42] Unabhängig von gewissen körperlichen und geistigen Zuständen sollten wir Gott aus dem Teufel kennen, denn auch die göttlichen Zustände ("Gott wirkt in uns" der Teufel wüthet in ihm usw.) – 1 [43] Moralität als Hinderniß der Erfindungen. Der Erfindsame, der zu faul ist, erfindet die Maschine und das Thier; der Ehrsüchtige die Staaten, der Versteller das Schauspiel usw. – Der vernünftige Mensch lebt von den Errungenschaften der Erfindsamen. Sittlich ist die vernünftige Handlung thun, deren Zwecke und Mittel gebilligt werden. Nur sittlich: da verarmt die Menschheit und wird nichts erfunden. 1 [44] Wo Erregungen noth thun, da ist das zwecklose Überströmen der Kraft nicht mehr da; dies will man also herstellen – aber überströmen? 951
1 [45] Man ist thätig, weil alles was lebt sich bewegen muß – nicht um der Freude willen, also ohne Zweck: obschon Freude dabei ist. Diese Bewegung ist nicht Nachahmung der zweckmäßigen Bewegungen, es ist anders. 1 [46] Gesetzt, es würde durch die Wissenschaft sehr vielen zufriedenen Vorstellungen und mancher angenehmen Faulheit ein Ende gemacht, so wirkt sie ungesund. Aber dagegen ist zu rechnen, daß sie sehr viele Unzufriedenheit beseitigt und namentlich die schrecklichen Vorstellungen aller bösen Philosophien und Religionen, daß wir durch und durch böse sind und harten Bußen entgegengehen. 1 [47] Die Handlungen der Gewohnheit hat man nur in Hinsicht auf ihren gemeinen Nutzen sittlich, also mit dem höchsten menschlichen Prädikat, nennen können – in sich sind sie sehr arm und fast "unter-thierisch". 1 [48] Eine Sache beschreiben 1 [49] Die unmoralischen Menschen sind die, welche freie Bewegung haben ohne Zwecke, oder die alten Bahnen gehen mit anderen Zwecken. 1 [50] Bisher hat von den 2 Hauptmotiven die Furcht vor dem Schmerz ganz übermächtig mehr gewirkt als das Trachten nach Freude. Man kannte gar zu wenig Freuden und gar zu viele Gefahren. – Hier zeigt sich im Ganzen die Zurückgebliebenheit des Menschen, je nachdem die Motive der Furcht gröber verfeinert oder erblaßt und von den Motiven der Freude überleuchtet sind. 1 [51] Ein zufälliges Zusammentreffen zweier Worte oder eines Wortes und eines Schauspiels ist der Ursprung eines neuen Gedankens. 1 [52] Menschen, welche viel Zufälliges haben und gerne herumschweifen, andere welche nur auf den bekannten Wegen nach Zwecken gehen. 1 [53]
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Das Genie wie ein blinder Seekrebs, der fortwährend nach allen Seiten tastet und gelegentlich etwas fängt: er tastet aber nicht, um zu fangen, sondern weil seine Glieder sich tummeln müssen. 1 [54] Die Handlungen mit einem unerwarteten Erfolg, zu einem anderen Zwecke unternommen – z. B. ein Thier das seine Eier bewacht, als Nahrung und plötzlich Wesen seines Gleichen vor sich sieht. 1 [55] Wer sich auf prachtvolle moralische Attitüden versteht, den rechne man unter die Hanswürste Kapuziner Seiltänzer Feuerfresser und andere Künstler, die für die arbeitende Masse da sind, diese hat solche Lust am Unwahrscheinlichen und Verrückten; ich habe die besten Menschen in ihren besten Handlungen immer etwas beschämt und kurzathmig gefunden. Es giebt schon eine Art moralische Augen zu machen, wodurch der ganze Kerl verdächtig wird. Die Tugend ohne Scham vor sich selber ist nichts als eine List. 1 [56] Veränderung der Werthschätzung z. B. Verachtung gegen die Abergläubischen und ihre Gegenstände. 1 [57] Das Gute, das Ausgezeichnete thun, ohne Lob dafür zu erwarten, zu stolz sein, Lob dafür anzunehmen, und einen geringschätzigen Blick für den Allzudreisten, welcher trotzdem lobt, bereit halten, und an diese männliche Praxis jedermann aus seiner Umgebung gewöhnen; das Gelobtwerden aber den weibischen und künstlerischen Naturen gestehen und es da auch gelten lassen, weil diese Naturen ihr Bestes nicht aus Stolz, sondern aus Gründen der Eitelkeit thun. – Das ist das Rechte! Wenn wir es nur in Stunden der vollen Kraft ebenso als das Rechte empfänden, so ist dies gewiß kein Einwand dagegen. Für den Kranken und Müden mag etwas Lob als Würze oder Betäubung nöthig sein. – Zwischen gerechtem und ungerechtem Lobe mache ich hier keinen Unterschied und ebensowenig zwischen gerechtem und ungerechtem Tadel: letzteren sollen wir nicht nur gelten lassen, sondern herausfordern und ermuthigen; vermöge umfänglichen und jederzeit erklingenden Tadelns, sei dieses gerecht oder ungerecht, erheben wir uns über uns selber, denn wir sehen damit uns so, wie wir erscheinen, und zwar in unbestochenen Augen. 1 [58] Man lernt die präsentablen Motive. 1 [59] Ein ganz bewußter Egoismus würde jener Freuden entbehren, welche durch eingebildete Motive entstehen oder dadurch weil wir nur Ein Motiv von den vielen sehen wollen. 1 [60]
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"Alle Menschen sind Sünder" ist eine solche Übertreibung, wie "alle Menschen sind Irre", auf welche Ärzte gerathen könnten. Hier sind die Grad-Unterschiede außer Acht gelassen, und das Wort und die Empfindung, welche der abnorme äußerste Grad erweckt hat, sind auf das ganze verwandte Seelenleben der mittleren und niederen Grade mit übertragen. Man hat die Menschheit schrecklich gemacht, dadurch daß man eine Abnormität in ihr Wesen verlegte. 1 [61] Die erfinderischen und die zweckthätigen Naturen – Gegensatz. 1 [62] Zu begreifen, wie wenig Werth die sittlichen Handlungen haben, wie wenig Unwerth die unmoralischen – wie groß dagegen die intellektuelle Verschiedenheit in ihnen ist – diese Aufklärung über die Motive der Handlungen zu bekommen, bringt das höchste Erstaunen hervor. 1 [63] Grundsatz: in der gesamten Geschichte der Menschheit bisher kein Zweck, keine vernünftige geheime Leitung, kein Instinkt, sondern Zufall, Zufall, Zufall – und mancher günstige. Diese sind ins Licht zu setzen. Wir dürfen kein falsches Vertrauen haben und am allerwenigsten uns weiter auf den Zufall verlassen. Derselbe ist in den meisten Fällen ein sinnloser Zerstörer. 1 [64] Wenn ein Volk auf bestimmten moralischen Urtheilen stehen bleibt, so wird es dadurch beschränkt, verknöchert, isolirt, alt und geht endlich daran zu Grunde. 1 [65] Moralische Urtheile werden am sichersten von Leuten ausgesprochen, die nie gedacht haben, und am unsichersten von denen, welche die Menschen kennen. Es ist nichts zu loben und zu tadeln. 1 [66] Willkürliche Handlungen – das ist eigentlich ein negativer Begriff – Handlungen welche nicht unwillkürlich, nicht automatisch, ohne Zwecke verlaufen. Das Positive, was man dabei empfindet, ist ein Irrthum. "Unwillkürlich" das ist eigentlich der positive Begriff. Streng genommen, sind willkürliche Handlungen zwei unwillkürliche, welche zeitlich aneinander schließen, eine Gehirnbewegung, welcher eine Muskelbewegung nachfolgt, ohne ihre Wirkung zu sein. 1 [67] Die größte Mannigfaltigkeit der menschlichen Existenz-Bedingungen aufrecht erhalten und nicht mit einem moralischen Codex die Menschen uniformiren – dies ist das allgemeinste Mittel, den günstigen Zufall vorzubereiten. – Bisher hat sich die Menschheit keinen Zweck gesetzt, welchen sie als Ganzes erreichen will – vielleicht geschieht es einmal. Einstweilen, da der Zweck fehlt, sind auch keine Mittel dazu erkenntlich. Inzwischen ist die möglichst große 954
Masse solcher Individuen herzustellen welche individuelles Wohlbefinden haben was sich gegenseitig bedingt – das allgemeinste 1 [68] Die Moral ist die Gesetzgebung solcher, welche sich klüger wußten als ihre Umgebung und für sie mit dachten. Man machte die oft schweren Anforderungen unwidersprechlich, dadurch daß man den Willen der Gottheit dazu gewann. 1 [69] Es giebt also keine tadelnswürdigen Handlungen, sondern Lob und Tadel trifft nur Menschen, nicht Dinge. 1 [70] Alles, was lebt, bewegt sich; diese Thätigkeit ist nicht um bestimmter Zwecke willen da, es ist eben das Leben selber. Die Menschheit als Ganzes ist in ihren Bewegungen ohne Zwecke und Ziele, es ist darin von vornherein kein Wille: wohl aber wäre es nicht unmöglich, daß der Mensch einmal einen Zweck hineinlegte: so wie gewisse ursprünglich zwecklose Bewegungen der Thiere zum Dienst ihrer Ernährung verwandt werden. 1 [71] Bei Siegesfesten geht die siegreiche Armee fast zu Grunde, der Sieger streicht den Tag schwarz an und erholt sich ein Jahr lang nicht von dieser Strapatze – aber die Straßenjungen aller Geschlechter und Lebensalter sind glücklich. Doch muß man zugeben daß es billige Mittel , sie glücklich und zwar sehr viel Glückliche zu machen. 1 [72] Das Christenthum gieng in dem Grade bei dem alten Testament in die Schule, als es sich bemühte eine Weltreligion zu werden. Das weltflüchtige Christenthum brauchte das alte Testament nicht. 1 [73] In unseren Schulen wird die jüdische Geschichte als die heilige vorgetragen: Abraham ist uns mehr als irgend eine Person der griechischen oder deutschen Geschichte: und von dem, was wir bei Davids Psalmen empfinden, ist das, was das Leben Pindars oder Petrarca's in uns erregt, so verschieden wie die Heimat von der Fremde. Dieser Zug zu Erzeugnissen einer asiatischen, sehr fernen und sehr absonderlichen Rasse ist vielleicht inmitten der Verworrenheit unserer modernen Cultur eine der wenigen sicheren Erscheinungen, welche noch über dem Gegensatz von Bildung und Unbildung erhaben stehen: die stärkste sittliche Nachwirkung des Christenthums, welches sich nicht an Völker sondern an Menschen wendete und deshalb gar kein Arg dabei hatte, den Menschen der indogermanischen Rasse das Religionsbuch eines semitischen Volkes in die Hand zu geben. Erwägt man aber welche Anstrengungen das nicht semitische Europa gemacht hat, um diese fremdartige kleine jüdische Welt sich recht nahe ans Herz zu legen, sich über nichts darin mehr zu wundern, sondern sich nur über sich selbst und seine Befremdung zu wundern – so hat vielleicht in nichts Europa sich so sehr selbst überwunden wie in dieser Aneignung der jüdischen 955
Litteratur. Das jetzige europäische Gefühl für die Bibel ist der größte Sieg über die Beschränktheit der Rasse und über den Dünkel daß für Jeden eigentlich nur das werthvoll sei, was sein Großvater und dessen Großvater gesagt und gethan haben. Dieses Gefühl ist so mächtig, daß wer sich jetzt frei und erkennend zur Geschichte der Juden stellen will, erst viele Mühe nöthig hat, um aus der allzugroßen Nähe und Vertraulichkeit herauszukommen und das jüdische wieder als fremdartig zu empfinden. Denn Europa hat sich selber zu einem guten Theil in die Bibel hineinlegen und im Ganzen und Großen etwas Ähnliches thun müssen, wie die Puritaner Englands, welche ihre Sentenzen, ihre Gewohnheiten, ihre Zeitgenossen, ihre Kriege, ihre kleinen und großen Schicksale in dem jüdischen Bude aufgezeichnet (prophezeit) fanden. – Was aber sagt der Europäer, welcher nach dem Vorzug der altjüdischen Litteratur vor allen anderen alten Litteraturen gefragt wird: "Es ist mehr Moral darin ". Das heißt aber: es ist mehr von der Moral darin, welche jetzt in Europa anerkannt wird: und dies heißt wiederum nichts anderes als: Europa hat die jüdische Moralität angenommen und hält diese für eine bessere, höhere, der gegenwärtigen Gesittung und Erkenntniß angemessenere als die arabische, griechische, indische, chinesische. – Was ist der Charakter dieser Moralität? Sind die Europäer wirklich vermöge dieses moralischen Charakters die ersten und herrschenden Menschen des Erdballs? Aber wonach bemißt man den Rang der verschiedenen Moralitäten? Zudem wollen es die Nicht-Europäer wie die Chinesen gar nicht Wort haben, daß die Europäer sich durch Moralität vor ihnen auszeichneten. Es gehört vielleicht mit zum Wesen der jüdischen Moralität, daß sie sich für die erste und höchste hält: es ist vielleicht eine Einbildung. Ja man kann fragen: giebt es überhaupt eine Rangordnung der Moralität<en?> Giebt es einen Kanon, der über allen waltet, das Sittliche definirt ohne Rücksicht auf Volk, Zeit, Umstände, Erkenntnißgrad? Oder ist eine Ingredienz aller Moralen, der Grad von Anpassung an die Erkenntniß, vielleicht das, was eine Rangordnung der Moralen ermöglicht? 1 [74] Wie viel Glück ist bei der Aufopferung für eine geliebte Sekte, usw. (man freut sich selbst mißachtet, gekränkt zu werden – wie kommt es? 1 [75] Die schädliche Seite der Religion ist oft hervorgehoben <worden>, ich möchte die schädliche Seite der Moral zum ersten Male zeigen und dem Irrthum entgegnen, daß sie den Sinnen von Nützlichkeit ist. 1 [76] Den angeblichen Causalitäten in Gebieten, wo in Wahrheit es nur ein Hintereinander giebt, danken viele Illusionen über die Moral ihre Entstehung. 1 [77] Die Wissenschaft zu verwünschen, weil ihre Art bisweilen wehe thut, wäre so klug als das Feuer zu verwünschen weil ein Kind oder eine Mücke sich daran verbrannt hat. In der That verbrennen sich jetzt nur Mücken und Kinder an der Wissenschaft – ich meine die Schwärmer. 1 [78]
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Das Urtheil sehr arbeitsamer und thätiger Zeitalter über den Werth des Lebens klingt wie fast desperat: man dachte über das Leben nach, wenn man nicht mehr arbeiten konnte und müde war. Die Griechen dachten besser vom Leben, dafür waren sie das Volk der Muße: sie arbeiteten eigentlich zur Erholung vom Müßiggang, und ihr Nachdenken kam aus frischer Kraft. 1 [79] "In den Augen liegt die Seele": die gewöhnliche Art der Bewegungen und der Muskelcontraktionen herum verräth, wozu die Augen zumeist gebraucht werden. Denker haben einen vollen klaren oder durchdringenden Blick; das Auge des Ängstlichen scheut sich ganz hinzusehen; der Neidische streift von der Seite und will etwas erhaschen. Auch wenn wir gar nicht im Dienste dieser Empfindungen sehen wollen, so zeigt die Stellung des Auges doch die Gewöhnung an. 1 [80] Die erfinderischen Menschen leben ganz anders als die Thätigen; sie brauchen Zeit, damit sich die zwecklose ungereregelte Thätigkeit einstellt, Versuche, neue Bahnen, sie tasten mehr als daß sie nur die bekannten Wege gehen, wie die nützlich-Thätigen. 1 [81] Einstmals muß die Kunst der Künstler ganz in das Festebedürfniß der Menschen aufgehen: der einsiedlerische und sein Werk ausstellende Künstler wird verschwunden sein: sie stehen dann in der ersten Reihe derer, welche in Bezug auf Freuden und Feste erfinderisch sind. 1 [82] Schopenhauer, der letzte der die ethische Bedeut des Daseins vertritt: er fügt seine triftigen Trümpfe bei, ohne welche er uns nichts schenkt und welche in den Augen der einen Gattung seiner Leser seine Glaubwürdigkeit ebenso verstärken als sie dieselbe in den Augen einer anderen Gattung verringern. 1 [83] Einige zeigen Geist, Andere beweisen ihn, noch andere zeigen ihn, aber beweisen ihn nicht, die Vielen aber thun keines von Beiden, und glauben beides zu thun. 1 [84] Die ärmliche Handvoll Wissen, womit die heutige Erziehung den Gebildeten abfindet, scheint diesen engen und pfäffischen Köpfen schon zu viel, sie bekommen Angst, es möchte der Kunst ein Abbruch geschehen, und dieselbe sich nicht mehr so dünkelhaft gebärden dürfen, wie es jetzt wohl geschieht. – Die Nothstände welche bei jenen seltenen Menschen entstehen, in denen die Wissenschaft ein gewaltiges Feuer ist, dürften solche Köpfe wahrlich nicht im Munde führen 1 [85]
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Wir finden die Schwäche der Furcht verächtlich bei dem welcher weiß, daß ihm Wein schädlich ist und trotzdem Wein trinkt. 1 [86] Die Moral hat die Erkenntniß gehemmt insofern sie das Bedürfniß danach hemmt, sie gab Regeln zum Handeln und erweckte den Glauben, daß die Erkenntniß nicht nöthig sei, um auf das zweckmäßigste Handeln zu kommen. 1 [87] Manche Philosophen entsprechen vergangenen Zuständen, manche gegenwärtigen, manche zukünftigen und manche unwirklichen. 1 [88] Das Individuum stand in manchen Epochen höher, war häufiger. Es sind die böseren Zeiten, es wurde mehr sichtbar, man wagte mehr, man schadete mehr, aber log weniger. 1 [89] Die Einbildung über die Schätzung (allgemeine Werthschätzung) und ebenso falsche Schätzung sind der Ursprung vieler unegoistischer Handlungen. 1 [90] Moralität, eine asiatische Erfindung. Wir hängen von Asien ab. 1 [91] Den Zufall benützen und erkennen heißt Genie. Das Zweckmäßige und Bekannte benützen – Moralität? 1 [92] So nützlich und unangenehm wie ein eingeöltes Schlüsselloch 1 [93] Die Ängstlichkeit vergiftet die Seele. 1 [94] Man sollte keine neuen Wege gehen, <wenn> unser Herz nicht noch kühner ist als unser Kopf: sonst frißt – – – 1 [95] Niemand ist einer grausameren Rache fähig als jene dichterischen und empfindlichen Seelen ohne Stolz, die fortwährend im Verborgenen leiden und aus Furcht ruhig und sanft erscheinen – ich denke z. B. an Racine. 958
1 [96] Das ganze vergangene Zeitalter ist das der Furcht. Man lernt die Dinge wie sie in anderen Köpfen sind, man lernt, wie sie geschätzt werden, man thut dasselbe in Betreff der Mittel. Man ängstigt sich, abzuweichen, aufzufallen. Unsere Fertigkeiten sind das, was Anderen nutzt und Freude macht. – Unsere größte Freude ist Anderen zu gefallen, unsere beständige Furcht ist, ihnen nicht gefallen zu können. – Dies hat die einsiedlerische Thierheit gebändigt. 1 [97] Wer eine herrschende Leidenschaft hat, der empfindet bei der Ausnahmehandlung einen Gewissenbiß z. B. der Jude (bei Stendhal) der verliebt ist und Geld für ein Armband von seinem Geschäft bei Seite legt, oder Napoleon nach einer generösen Handlung, der Diplomat, der einmal ehrlich gewesen ist usw. 1 [98] Spencer setzt immer "Gleichheit der Menschen" voraus. 1 [99] Auch im Handeln giebt es solche erfinderischen, stets versuchenden Menschen, welche den Zufall aus sich nicht bannen mögen (Napoleon). 1 [100] Die angelernten Werthschätzungen verringern die Freude und in Folge die Lebensfähigkeit. Zeiten der "Gleichheit" sind matt und lassen vor der Zukunft erschrecken. Die Freude an fremden Urtheilen über uns ist jetzt beinahe die mächtigste aller Freuden. 1 [101] Was ist Gewohnheit? – Übung. 1 [102] "Es merkt doch niemand" – aber es pflanzt niemand das was du thust in dir aus, sodann wächst deine Gewohnheit des Verheimlichens und Für-sich-Behaltens, man sieht dir endlich Beides doch an. 1 [103] Das Bischen Wissenschaft, das jetzt auf der Erde ist, macht ihnen schon angst und bange so daß Unkenrufe laut werden. Und diese schändliche wissenschaftliche Erziehung! 1 [104] Die verborgenen d. h. die häufigsten Handlungen zwingen uns zuletzt zu unseren sichtbaren seltenen, ohne daß wir an Zwang denken.
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1 [105] Bei den Christen herrschen noch alle jene Vorstellungen wie bei den Wilden – cfr. Spencer p. 52 und Roskoff. 1 [106] Spencer verwechselt die Systeme der Moral "Wie soll gehandelt werden?" mit der Entstehung der Moral. Der Mangel der Einsicht in die Causalität ist für letztere wichtig. 1 [107] Überall wo es eine furchteinflößende Macht giebt, die befiehlt und gebietet, entsteht Moralität d. h. die Gewohnheit zu thun und zu lassen, wie jene Macht will, der das Wohlgefühl auf dem Fuße folgt, der Gefahr entronnen zu sein: während im umgekehrten Falle das Gewissen sich regt, die Stimme der Furcht vor dem Kommenden, des Verdrusses über das Gethane usw. Es giebt persönliche Mächte, wie Fürsten, Generale, Vorgesetzte, dann Abstrakte wie Staat Gesellschaft, endlich imaginirte Wesen, wie Gott, die Tugend, der kategorische Imperativ usw. 1 [108] Tragische Hanswürste 1 [109] Es giebt bei jeder Handlung 1) das wirkliche Motiv das verschwiegen wird 2) das präsentable eingeständliche Motiv. Letzteres geht von uns aus, von unserer Freude, unserem Individuum, wir stellen uns individuell damit. Ersteres aber hat die Rücksicht auf das, was die Andern denken, wir handeln, wie jeder handelt, wir präsentiren uns als Individuen, aber handeln als Gattungswesen. Komisch! Z. B. ich suche ein Amt 2) "ich bin es mir schuldig, mich nützlich zu machen" 1) „Ich will meines Amtes wegen von den Andern respektirt werden". 1 [110] Die Erzeugung einer Nachkommenschaft ist nicht altruistisch. Das einzelne Thier folgt dabei einer Lust, an der es oft zu Grunde geht. Die Aufopferung für die Brut ist Aufopferung für das Eigen-Nächste, für das Erzeugniß usw., absurd noch nicht Altruismus. 1 [111] Dieselben Dinge werden immer wieder gethan, aber die Menschen umspinnen sie mit immer neuen Gedanken (Werthschätzungen) 1 [112] Motive und den Mechanismus zu unterscheiden – und dabei ist der Ausdruck Motiv irreführend, sie setzen nicht in Bewegung – sondern wenn sie in Bewegung sind, tritt die Bewegung des Mechanismus ein. 1 [113] 960
Das Unglück des Frevlers, d. h. er hat Furcht vor schlimmen Folgen oder Ekel und Übersättigung usw., nicht Gewissensnoth. 1 [114] Man soll auch die kleinste Berührung mit Menschen benützen, um seinen gerechten und wohlwollenden Sinn zu üben. 1 [115] Wenn wir in einen bestimmten physiologischen Zustand treten, dann tritt uns das ins Gedächtniß, was das letzte Mal, als wir in ihm waren, von uns gedacht wurde. Es muß eine Auslösung im Gehirn für jeden Zustand geben. 1 [116] Es giebt Menschen welche ihre nicht eben landläufigen Gedanken nicht anders mitzutheilen wissen als indem sie dabei an aller Welt ihren Ärger auslassen. Das heißt doch seine Meinungen etwas zu theuer auf den Markt bringen. Giebt es aber oft solche Käuze, so entsteht ein Vorurtheil gegen alle nicht landläufigen Meinungen, wie als ob Zank, Verdruß, Verleumdung Verbitterung Niedertracht ihre nothwendigen Begleiter sein müßten. 1 [117] Handlungen der Gewohnheit („sittlich" unter Umständen genannt) sind Mechanismen ohne Bewußtsein, so wenig moralisch wie die Themen einer aufgezogenen Spieluhr. Weder „frei" noch mit „bewußter Aufopferung", noch "für Andere" – aber angenehm und nützlich und deshalb mit den höchsten Prädikater bezeichnet. 1 [118] Vor jedem Einzelnen sind wir voll 100 Rücksichten: aber wenn man schreibt, so verstehe ich nicht, warum man da nicht bis an den äußersten Rand seiner Ehrlichkeit vortritt. Das ist ja die Erholung! 1 [119] Um die Moral haben sich im Ganzen immer nur die sehr moralischen Menschen bekümmert, meistens in der Absicht, sie zu steigern. Was Wunder, daß eigentlich die unmoralischen und durchschnittlichen Menschen dabei fast unbekannt geblieben sind. Die moralischen Menschen haben über sie phantasirt und vielfach ihre Phantasien den Leuten in den Kopf gesetzt. 1 [120] Versuche einer außermoralischen Weltbetrachtung früher zu leicht von mir versucht – eine aesthetische (die Verehrung des Genies -) 1 [121] Wer so thut, ist abergläubisch usw.
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Wer so thut, ist abergläubisch Wer alles das thut, ist ein Christ. 1 [122] Schopenhauer's Theorie ist unpsychologisch. Sehr leidende oder sorgende Menschen sind ohne Mitleid. Wenn wir alles vergangene Elend wiederkäuen, welches die Menschheit erlitten hat, so werden wir krank und schwach. Man muß den Blick abwenden. Nur glückliche Menschen sind zur Historie geeignet. 1 [123] Falscher Begriff des Genie's in jetziger Zeit: man verehrt den wilden Intellekt und verachtet den gezähmten d. h. man ist der Moralität müde. Die Consequenz der Moralität ist der Sand. Kritik der bisherigen Moralität, dadurch daß man ihre Resultate in der Zukunft aufzeigt. Nothwendigkeit antimoralischer Theorien. 1 [124] Es giebt Musik, welche sosehr den Eindruck sichtbarer Dinge nachahmt, daß man sie allen denen empfehlen kann, welche Ohren haben, um zu sehen. 1 [125] Wollen d.h. ich stelle mir den Erfolg einer Handlung vor dieser Erfolg hat diesen oder jenen Werth für mich diese Werthschätzung hat diese oder jene Ursachen der Erfolg bedingt diese oder jene Aktion (als Mittel, die mir meiner Erfahrung bekannt und noch viele andre welche mir nicht bewußt sein können. Also was will ich Absicht: warum will ich Motiv: was treibt mich zu dieser Schätzung? Die Absicht geht auf etwas das für uns Werth hat. Wie erreiche ich das Ziel? Das Motiv ist die Ursache der Werthschätzung 1 [126]