Malcolm Bosse
Feuer am Himmel
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Malcolm Bosse
Feuer am Himmel
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In »Feuer am Himmel« führt Malcolm Bosse die großartige Asiensaga weiter, die er mit dem internationalen Bestseller »Warlord« begonnen hat. ISBN: 3-547-71460-5 Original: Fire in Heaven Deutsch von Ulrike von Puttkamer und Christian Spiel Verlag: Marion von Schröder Erscheinungsjahr: 1. Auflage 1986
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch In »Feuer am Himmel« führt Malcolm Bosse die großartige Asiensaga weiter, die er mit dem internationalen Bestseller »Warlord« begonnen hat. 1948: Der glühende Wunsch der Völker Asiens, frei und unabhängig zu sein, führt zu tiefgreifenden Veränderungen im ganzen Fernen Osten. Gandhi, der »Vater Indiens«, wird ermordet. In China zeichnet sich der Sieg Maos ab. 1948: Philip Embree, einst als Missionar ausgebildet, dann Bandit, Offizier unter dem Warlord Tang und im Zweiten Weltkrieg an der Front in Burma und China, sucht in Indien Sühne und Vergessen. Er hat den Mann verraten, der ihm vertraute – Tang –, die Frau verlassen, die er liebte – Vera –, den Freund und Kriegsgefährten Harry im Stich gelassen, als der ihn brauchte. 1948: Embrees Stieftocher Sonja, neunzehn Jahre alt, Tochter von Vera Rogatschewa und General Tang, in Bangkok aufgewachsen, hat sich dem revolutionären Kampf verschrieben. Ihre Mutter Vera ist geschäftlich erfolgreich, sieht sich aber in ihrem Privatleben gescheitert: Eine Liebesaffäre geht zu Ende, und Sonja ist eines Tages verschollen – gerade als Philip nach Jahren der Trennung zu Vera zurückkehrt. Das Schicksal verschlägt Sonja und ihren jungen Geliebten Chamlong, der in Bangkok von der Polizei gesucht wird, und später auch Philip und Vera nach China, wo der Bürgerkrieg tobt. »Das Buch«, sagte der Autor, »handelt von der Suche nach den eigenen Wurzeln und neuen Wegen – bei den asiatischen wie bei den europäischen Hauptgestalten des Romans.« Ein Roman, der die Weite und Vielfalt Asiens einfängt,
ein dramatisches Epos von Krieg und Frieden, von Kampf und kostbarem Glück.
Für Herman Gollob und für Marie-Claude und Malcolm-Scott
So ging ich denn in die zerbrochne Welt Dem Bild vom Miteinander in der Liebe auf der Spur Ein Echo kurz im Wind (weiß nicht wohin verhallt) Zu halten jeden Pakt der Not, wenn auch Momente nur. Hart Crane Selbst der Weise handelt im Einklang mit seinem Wesen. Alles, was lebt, folgt der eigenen Natur. Was kann da Beschränkung bewirken? Bhagavadgita Der Ruf der Wildgänse bringt nichts Neues. Der Heimweg ist zu weit für meine Träume. Die Trauer über die Trennung ist wie Frühlingsgras: Wohin ich auch gehe, es wächst und wächst. Li Yu
ERSTER TEIL 1
A
us dem Schlamm des Teichs hebt sich ein graues Ungetüm, schiebt sich langsam das Ufer herauf. Das Mädchen steht nahe am Teich und rührt sich nicht – selbst als das Ding auf kurzen, stumpfen Beinen auf sie zuklettert. Hinter dem Ding und dem Teich erscheint ein weißes Gesicht im Eingang einer Hütte; aus dem Schatten dort winkt heftig ein Arm, aber sie bewegt sich nicht; sie will oder kann sich nicht bewegen. Während vier Füße im Schlamm nach Halt krallen und das graue Ding voranschieben, wird es immer länger. Sein Körper endet in einem dicken, schuppigen Schwanz, sein graues Maul, dicht über dem Boden, öffnet sich und zeigt lange, gelbe Zähne. Aber sie bewegt sich nicht, auch dann nicht, als der knorrige Schwanz wild um sich schlägt. Aus der Bambushütte schreit und winkt jemand, aber sie rührt sich nicht – sie will oder kann sich nicht rühren. Das große, schlammige Ding ist jetzt nahe genug, daß sie es als Krokodil erkennt. Es stellt sich auf die Hinterbeine wie ein Mensch und schlurft auf sie zu. Sie bewegt sich immer noch nicht, obwohl sie den schrecklichen Gestank aus dem weit aufgerissenen Maul riechen kann, eine Schwade aus Sumpftiefe und Tod, und bei alldem – dies wird ihr als erstaunlichste Einzelheit in Erinnerung bleiben – stellt die grausige Kreatur ein einzelnes rundes und sanftes Auge zur Schau. 5
Sie fühlt ihre eigenen Augen hinter geschlossenen Lidern zittern, spürt, daß sie zu Bewußtsein kommt. Ihr Herz klopft, und sie schmeckt Schweiß auf den Lippen. Aber anstatt sich völlig aus dem Schlaf zu befreien, treibt sie weiter in dem verletzlichen Bereich zwischen Schlafen und Wachen. Endlich taucht sie aus dem einen Bild in das Erlebnis eines anderen. Dies aber ist kein Traum, sondern eine Erinnerung, die seit langem zu ihrem Leben gehört. Sie beobachtet zwei Frauen zusammen im Bett, eine dunkel und die andere hellhäutig. Sie sieht die verschlungenen Glieder aneinander entlanggleiten wie die miteinander verknäulten Schlangen, die sie einst in einem Nest am Kanal sah. Ein Strahl Sonnenlicht dringt durch die Schlafzimmerjalousie und streift die beiden nackten Körper. Sie bewegen sich unaufhörlich unter dem Strahl, wie von einer goldenen Rute sanft gepeitscht. Die hellhäutige Frau stützt sich auf die Ellenbogen, und ihr Haar fällt wie ein Zelt über die dunkle Gefährtin. Sie küssen sich, geben sanfte Laute der Lust von sich und wissen nichts von der Anwesenheit einer Dritten im Türrahmen. Sonja sitzt bolzengerade im Bett, hellwach. Ihr Herz klopft, obwohl ihr das Bild der zwei Frauen inzwischen vertraut ist – gemildert der Schock durch wiederholtes Erinnern: Die hellhäutige Frau war ihre Mutter. Mit einem Seufzer wischt sich das Mädchen den Schweiß von der Oberlippe. Was immer zwischen der hübschen Siamesin und ihrer Mutter vor sich ging, Sonja schämt sich deswegen nicht. Dieser Entschluß, sich nicht zu schämen, ist ebenfalls vertraut, dabei wünscht sich Sonja wieder einmal wie schon oft eine Möglichkeit, über 6
das zu sprechen, was geschehen ist, es jemandem zu erklären. Oft ist sie in Versuchung, sich einer Mitschülerin anzuvertrauen. »Bist du meine Freundin? Also gut, dann erzähle ich dir etwas Seltsames. Eines Nachmittags kam ich nach Hause von irgendwo – ich weiß nicht mehr, von wo – und ging hinauf, und als ich gerade in mein eigenes Zimmer wollte, sah ich die Tür zu Mutters Schlafzimmer offenstehn …« Hatte sie erst einmal begonnen, würde sie es ohne Scham erzählen, und sollte ihre Vertraute das geringste Anzeichen von Mißbilligung oder Verachtung oder ähnlichem zeigen, nun, dann würde Sonja noch mehr erklären, in den vornehmsten Ausdrücken, die sie finden konnte. »Schade, aber siehst du, du verstehst es nicht richtig. Im russischen Bürgerkrieg ist meine Mutter Tausende von Kilometern durch Sibirien gelaufen, als sie noch so jung war wie wir jetzt. Stell dir das vor, neunzehn, mitten im Krieg, zu Fuß durch endlosen Schnee! Unterwegs verlor sie ihre ganze Familie: Mutter und Vater, Brüder und Schwestern, Tanten und Onkel, einfach alle. Sie ist fast erfroren. Die Menschen starben um sie herum zu Tausenden an Typhus. Aber sie kam bis Schanghai und verkaufte Obst auf der Straße, um zu überleben. Sie lernte Chinesisch und fand eine Stellung als Übersetzerin vom Russischen ins Chinesische. Dann ist sie einem chinesischen General begegnet und hat sich in ihn verliebt, einen großen Mann, wirklich, der sie allem zum Trotz geheiratet hat. Ich bin seine Tochter, und als seine Feinde ihn ermordeten, brachte meine Mutter mich hierher und zog mich groß, und so richte ich nicht über meine Mutter, was immer sie tut, denn ich bin stolz auf sie. Und denk nur nicht, daß ich die einzige bin, die stolz auf sie ist! Mein Stiefvater, ehe er in den Krieg zog – er hat sie geliebt wie 7
ich, das kannst du mir glauben, wirklich geliebt, und dieser Tage wird er zu ihr zurückkehren. Eine Menge Leute lieben meine Mutter.« Sonja hat diese trotzige Rede schon oft allein in ihrem Zimmer geübt, und in ihrer Phantasie stimmt dann die Vertraute, von so viel Logik und Leidenschaft völlig eingeschüchtert, jedesmal zu, daß es keinen Anlaß zur Scham gibt. Nur hat Sonja diese Rede in Wirklichkeit noch nie an jemanden gerichtet. Sie weiß nicht, warum. Vielleicht würde keines der Mädchen Verständnis aufbringen. Es ist nicht gerade natürlich, oder – Frau mit Frau? Man sprach zwar über solche Dinge auf den Gängen der Klosterschule, und es gab übrigens Gerüchte über ein paar der Mädchen und viel Gekicher, besonders unter den Siamesinnen. Aber niemand deutete jemals an, eine Mutter könnte so etwas machen. Oder vielleicht hat sie es nie jemandem erzählt, weil die Fakten nicht ganz klar sind. Das heißt, war da wirklich so viel Sonnenlicht gewesen? Es scheint, daß der Sonnenschein jedesmal stärker wird, wenn sie an jenen Nachmittag denkt. Und ihre Mutter und das siamesische Mädchen scheinen sich immer leidenschaftlicher zu berühren. Die Einzelheiten ihrer Berührungen werden lebhafter: Brust, Hüfte, Schoß … Sonja fährt sich mit der Hand durch ihre kurzen Haare; sie sind feucht, obwohl es jetzt die kühle Jahreszeit in Bangkok ist. Sie schwitzt, schon ehe die Sonne aufgeht. Merkwürdig ist auch, daß sie nie genau weiß, wie alt sie an jenem Tag war, als sie die offene Tür bemerkte. Zehn? Philip war noch nicht in den Krieg gezogen; er wohnte noch im Haus, als sie zehn war, also muß sie älter gewesen sein. Früher meinte sie sogar, sie sei erst acht oder neun gewesen damals, bis ihr einfiel, daß sie sich jedesmal in der Erinnerung an diesen Nachmittag klein 8
fühlt. Ihr wurde klar, daß die Erinnerung täuschen kann, daß sie sich im nachhinein vielleicht nur so klein vorkam, weil sie damals so unbeachtet und verloren in der Tür stand. Der Geruch von Holzkohlenrauch dringt durch das Fliegengitter des Fensters. Die Köchin unten wird Reis kochen. Zeit, aufzustehen. Zwölf? Oder sogar dreizehn? Wo war sie an jenem Tag gewesen? Sie war heimgekommen, und oben stand die Schlafzimmertür gegenüber von ihrem eigenen Zimmer offen. Aus irgendeinem Grund hatte sie keinen Lärm gemacht. Warum nicht? Vielleicht ließen die Geräusche von dort her vermuten, es geschehe etwas Seltsames. Hatte die Tür einen Spalt offengestanden, oder hatte sie ein wenig nachgeholfen? Hatte sie kühn in der Öffnung gestanden und hingeschaut oder nur zur Tür hineingespäht? Und wie lang hatte sie zugesehen? Das ist wichtig. Beinahe lebenswichtig. Eine Minute? Fünf? Mit einem Seufzer legt sich das Mädchen wieder hin und rollt auf den Bauch. Früher konnte sie vom Bett aus eine junge Kokospalme im Fenster betrachten, die ihr die offenen Wedel wie starke, grüne Arme einladend entgegenstreckte. Doch dann befahl Mutter, den Baum zu fällen, weil er für den Garten zu groß wurde. Sonja protestierte dagegen, denn die Kokospalme ist Mutters astrologischer Baum, und es bringt Unglück, wenn man seinen Glücksbaum fällt. Mutter ließ sich nicht beirren. »Was du an meiner Mutter nicht verstehst, ist folgendes«, fährt Sonja nun in ihrer Phantasierede fort. »Mutter ist in Rußland fast wie eine Prinzessin erzogen worden, und deshalb ist sie gewohnt, zu tun, was sie will. Wenn sie also etwas machen will, also mit jemand – ich meine, einer Frau –, wie komme ich dann dazu, etwas dran auszusetzen?« Sollte aber die Vertraute fragen: »Hast du 9
Angst vor deiner Mutter?«, dann würde sie ohne Zögern antworten: »Ich habe vor niemand Angst –« Hier könnte sie den Namen einer Vertrauten einführen: Pranee oder Lamai oder Hilga vielleicht, die Tochter des deutschen Botschafters, die mehr von der Liebe spricht als alle anderen Mädchen. »Ich fürchte mich vor niemand, Hilga. Mein Vater hat sich gegen sämtliche Warlords von China gestellt. Er hat keine Angst gehabt. Weder vor Tschiang Kai-schek noch vor sonst irgend jemand.« In Wahrheit hat Mutter ihr dringend geraten, zu dieser Zeit der rassischen Spannungen zwischen den Chinesen und Siamesen nicht in der Schule von ihrem Vater zu sprechen. Aber heute morgen geht ihr die leidenschaftliche Rede unablässig durch den Kopf. »Die Warlords mußten ihn töten, weil er an Gerechtigkeit glaubte, und er hat meiner Mutter alles über Gerechtigkeit und Mut erklärt, und sie hat es dann mir erklärt. Er sagte zu ihr: ›Fürchte dich nicht.‹ Er sagte: ›Tu, was du für richtig hältst.‹« Kaum eine Minute hatte sie die beiden beobachtet – so war es wohl in Wahrheit. Und dann war sie hinuntergeschlichen, um nicht ertappt zu werden, und hatte gewartet, bis die beiden herunterkamen. War die Frau hübsch? Sie weiß es nicht mehr. Sie hatte neben Mutter am Tor gestanden und der Frau zum Abschied gewinkt. Hat sie nie wiedergesehen, aber war sie hübsch? Sonjas Unfähigkeit, sich genau zu erinnern, was an jenem merkwürdigen Nachmittag geschah, ist der Hauptgrund, weshalb sie jetzt Tagebuch führt. Sie tut es seit ihrem fünfzehnten Geburtstag, fest entschlossen, nie mehr zu vergessen, was in ihrem Leben geschieht. In einer kleinen Sandelholzschatulle verschlossen, liegen vier kleine golden gebundene Bücher, mit Bambusstielen auf die Einbände gezeichnet. Im Brahma Jati, dem astrologischen System der Siamesen, ist Gold ihr Element, ihre 10
Glückspflanze Bambus, ihr Symbol der Königliche Drache, denn sie ist im Mai geboren. Es ist jetzt Anfang Januar, der zweite Monat des Jahres 1948 nach dem alten siamesischen Kalender, und Anfang Mai wird ein fünftes Tagebuch voller Geheimnisse abgeschlossen sein. Möglich, daß der Eintrag von heute der bedeutungsvollste sein wird, den sie je geschrieben hat. Der Gedanke daran treibt sie aus dem Bett. In seinem Gedicht Swasdi Raksa – sie hat es kürzlich wieder gelesen – sagt Suthorn Bhu, wenn man beim Aufstehen nach Süden schaut, wird einen jemand lieben. Sonja wendet sich nach Süden und reißt mit einer einzigen entschlossenen Bewegung ihr Baumwollnachthemd über den Kopf. Sie nimmt eine Pyjamahose und eine sackartige Bluse vom Fuß des Betts und zieht sich beides mit derselben zielstrebigen Heftigkeit an. Sie bewegt sich jetzt schnell. »Wer hastig läuft, der fällt; drum eile nur mit Weil!« Letzte Woche hat sie als Aufgabe für die Universität »Romeo und Julia« auf englisch gelesen. Sonja findet das Stück so schön und wahr, daß sie sich viel davon eingeprägt hat. »Wer hastig läuft …« Das ist eine Warnung, die ihre Wangen erröten läßt, während sie rasch aus dem Schlafzimmer geht. Vielleicht meinte Shakespeare es als Warnung, aber sicher stand er auf der Seite von Romeo und Julia. Er meinte doch bestimmt damit: Besser für den Augenblick lieben, als weise und langsam leben. Auf der Hälfte der Treppe fällt ihr noch eine Zeile ein: »Der Mensch ist echt wie Gold.« Ah, ist er es wirklich? Wird er es sein? Auf dem Weg zum Flur im Erdgeschoß überkommt sie ein wenig Furcht. 11
Sie beschließt, nicht an ihn zu denken. Die Luft hier ist fast kühl, man scheint sie schmecken zu können wie eine Frucht. Sie bleibt stehen und atmet tief, um ihre Lungen mit dem Duft des Morgens zu füllen. Dann stößt sie die Tür auf. Vor ihr liegt ein wilder Garten, ein einziger grüner Dschungel: schattige Payombäume mit weißlichgelben Blüten, orangefarbene Jampa, Pikulzwergbäume. Sie sind feucht vom Tau, so ursprünglich frisch, daß es Sonja vorkommt, als wären sie soeben erst aus dem Boden geschossen. Chamlong. Immerhin ist es das erstemal seit dem Aufwachen, daß sie sich gestattet, seinen Namen zu nennen. Sie flüstert ihn. Sie sagt ihn noch einmal, mutig und laut diesmal: »Chamlong!« Der Klang erschreckt sie; er scheint durch den Morgen zu dröhnen und wiederzuklingen. Es ist, als hätte ihre Mutter die Sandelholzschatulle geöffnet, eines der geheimen Tagebücher herausgezogen und daraus mit so lauter Stimme vorgelesen, daß es deutlich über den Kanal und durch die Halle des Nachbartempels zu hören war, wo die Mönche gerade singen. »Chamlong«, sagt sie und fühlt, wie ihr die Hitze ins Gesicht steigt. Mit dem gesprochenen Namen konkurriert das schrille Geschnatter eines Tokehs irgendwo im Garten. Der Laut dieser Eidechse in der Dämmerung bedeutet Glück. Sie beantwortet die Stimme des Tokehs mit grimmigem Lächeln. Glück, das ist es, was sie heute braucht. Die Kehrfrau ist heute morgen bereits im Klosetthäuschen gewesen. Sonja kann die Lauge aus dem Loch riechen, das in den Holzboden geschnitten ist. Eine andere Echse, diesmal ein brauner Gecko, blickt mit nachdenklich geneigtem Kopf von der Holzdecke auf das 12
Mädchen herunter. Sie erwidert seinen Blick, während sie sich über das Loch hockt. Sie denkt an das brutale Maul, das sanfte Auge des Krokodils in ihrem Traum. Die Einzelheiten des Traums haben ihre Macht verloren, aber der Zeitabstand erlaubt ihr, über seine Bedeutung nachzudenken. Sie träumt selten von Tieren. Einmal flog sie vergnügt mit einem Rudel fliegender Eichhörnchen über Bangkok, und einmal in einem schrecklichen Alptraum verwandelte sie sich in ein kobraähnliches Geschöpf, das von einem wütenden Mungo angegriffen und geschüttelt wurde, bis sie schreiend erwachte. Aber das Krokodil? Es rief weder Freude noch Schrecken hervor. Sie hatte einfach nur dagestanden, in Erwartung erstarrt, während es aus dem schlierigen Teich kroch und auf sie zu kam. Der Tag hat merkwürdig begonnen. Was aber zu ihren Erwartungen paßt, findet sie. Sie schaut noch einmal zu dem Gecko hinauf, den seine Haftzehen flach an der Decke festhalten, und fragt sich, ob er vielleicht dasselbe fühlt, was sie empfunden hat, als sie das Krokodil beobachtete. Aber was hatte sie denn eigentlich empfunden? Etwas … zwischen Freude und Schrecken. Etwas Neutrales, ein Warten. Vielleicht bloße Neugier. Sie spült sich jetzt mit einer Kelle Wasser ab, aus einem irdenen Krug geschöpft, und trocknet sich mit ihrem Handtuch, das neben der Tür hängt. An einer Bougainvillea und ein paar großen roten Flamboyanten vorbei tritt Sonja aus dem Garten auf eine Backsteinterrasse, die auf den trüben Kanal blickt. Hier entscheidet sich für sie meist der Erfolg oder Mißerfolg eines Tages, auf dieser Terrasse in der Morgendämmerung, denn hier spielt sie Tai Chi Chuan. Wenn sie ihr Gemüt beruhigen und die langsame, 13
schwierige Übung etwa fünfzehn Minuten durchführen kann, ohne die Konzentration zu verlieren, wird es höchstwahrscheinlich ein guter Tag. Sonja starrt auf die grünen chinesischen Fliesen in der Mitte der Terrasse auf der Suche nach einem geistigen Punkt, von dem aus sie beginnen kann, als das Knacken von Zweigen sie erschreckt. Sie hebt den Kopf und sieht gerade noch ihre Mutter zwischen den Tamarinden. Nur einen Moment lang erblickt Sonja kurzes, schwarzes Haar, ein türkisfarbenes Kleid: Mutter auf dem Weg zur Huldigung im Geisterhaus. Außer Mutter würde wohl niemand in ganz Bangkok westlich gekleidet Räucherstäbchen und Blumen zu einem siamesischen Geisterhaus tragen! Sonja lächelt. Vor einiger Zeit noch hätte Mutter jetzt hier mit ihr auf der Terrasse zusammen sicher Tai Chi Chuan gespielt. Mutter lehrte sie die Übung, so wie Vater sie vor Jahren in China einst Mutter beigebracht hatte. Bis vor ein paar Monaten hatte das morgendliche Tai Chi sie vereint. Bei solchen Gelegenheiten zitierte Mutter oft Vater auf chinesisch. Sie zitierte ihn immer chinesisch, und das liebte Sonja an ihr. »›Wenn man Tai Chi richtig machen will‹, sagte er zu mir, ›muß man die Nadel in der Baumwolle fühlen.‹« Mutter lachte dann. »Leichter gesagt als getan.« Und wie eine Gelehrte erklärte sie: »Tai Chi ist ein Essay über Yin und Yang. Yang fest, Yin leer. Yang vorwärts, Yin rückwärts. Dein Vater sagte: ›Tai Chi ist eine Art zu fühlen, daß es nichts gibt ohne das Gegenstück dazu!‹« Mutters Mann war so echt wie Gold gewesen. Yang männlich, Yin weiblich. »Mein Mann ist echt wie Gold.« 14
Mutter spricht jetzt mit Vater. Sonja starrt in den Dunst über dem Kanal. Sie kann sich nicht auf die Übung konzentrieren. Sie muß daran denken, wie Mutter sich weigerte, Tai Chi zu spielen; sie habe zuviel zu tun, leider. Aber in den letzten Monaten hat Sonja ebenfalls bemerkt, mit Bedauern bemerkt, daß Mutter den General kaum noch erwähnt oder von seiner Sanftheit und Kraft und Einsicht spricht. Mutters Erinnerung war es, besonders am Ende des morgendlichen Tai Chi, die sie beide in ihrer Liebe zu ihm verband. Es war ihre Zeit zusammen, nur sie drei, ehe sie und Mutter mit Philip beim Frühstück zu einem anderen Trio zusammenkamen – angenehm, aber keineswegs magisch! Sie kann sich nicht konzentrieren, heute nicht. Sie hat die Übung bereits nach ein paar Positionen verpatzt. Sinnlos, weiterzumachen. Sie wird es also heute morgen aufgeben, wieder in ihr Zimmer gehen und sich vor dem Frühstück waschen. Vielleicht schreibt sie in ihr Tagebuch, ehe dieser bedeutendste aller Tage tatsächlich beginnt. Anstatt die Innentreppe zu benutzen, die Mutter letztes Jahr hat installieren lassen (eine Neuerung, die die Nachbarschaft schockierte), nimmt Sonja die alte Außenstiege zum ersten Stock hinauf. Auf halbem Weg sieht sie über den Garten hin auf die Lehmstraße vor dem Haus. Dort kommt eine Gruppe Mönche in safrangelben Gewändern angestapft; ihre großen Eisentöpfe tragen sie in beiden Händen. Bei ihrem Anblick kehrt Sonja um und geht wieder hinunter; sie rennt zur Hintertür und trifft dort die Köchin an, die mit Essen auf die Mönche wartet. Sie straft Sonja mit einem Stirnrunzeln – am liebsten hätte sie das Verdienst, die Mönche zu speisen, für sich allein behalten. 15
Sonja schenkt der Köchin ein wai – sie legt die Hände hoch vor ihrer Nase zusammen –, ein Zeichen von Respekt, das die alte Frau meist entwaffnet. So auch jetzt. Old Cook nickt, lächelt ein bißchen und schleppt ihren Messingkessel voll dampfendem Reis zum Eingang. Ein Mönch mittleren Alters kommt zuerst heran, er schiebt seinen Almosentopf grob vor. Die alte Frau füllt ein paar Löffelvoll hinein; er schüttelt den Kopf, damit sie nicht zuviel hineintut – andere Leute wollen sich auch noch verdient machen, indem sie ihm zu essen geben. Die Köchin greift nach einem Tuch und gibt daraus noch etwas Schweinebraten mit eingelegtem Knoblauch in seinen Topf, ein gekochtes, gesalzenes Ei und ein Stück gesalzenen Fisch, in Bananenblatt gewickelt. Dann macht sie im Knien ein wai, die Hände in Höhe der Stirn zusammengelegt. Ohne das wai zu würdigen, geht er weiter, und ein neuer Mönch erscheint am Tor. Er ist jung und sieht gut aus, bemerkt Sonja. Für einen Siamesen ist er groß, so groß wie sie, und muskulös. »Ich bin dran«, sagt sie rasch zu der Köchin und nimmt ihr den Löffel ab. Ungefähr in meinem Alter, denkt sich Sonja, während sie einen großen Löffel Reis in seinen vorgestreckten Almosentopf füllt. Sie kann sich nicht vorstellen, daß er schon lange als bhikkhu lebt – vielleicht erst ein paar Monate. Vielleicht wird er nach ein oder zwei Jahren, nachdem er seinen Eltern Ehre gemacht hat, das Kloster verlassen und ein anderes Leben führen. Was für ein Leben wohl? Ihre Blicke begegnen sich, während der Reis vom Löffel in den Topf fällt. Er hält ihn weit vom Körper weg, da er den geringsten körperlichen Kontakt mit ihr vermeiden will, doch seine Augen blicken hell, neugierig. Mit dem zweiten Löffel wünscht sich Sonja Glück in der Liebe. Das ist der Brauch. 16
»Dein Name?« fragt der junge Mönch sanft. Sie weiß natürlich, daß er ihren Namen wissen will, um sie in seinen Gebeten heute zu erwähnen. Oder etwa nicht? Die Frage färbt ihre Wangen. »Sanuk.« Sie nennt ihm ihren Kosenamen. Einen Moment schaut der junge Mönch sie an. Sonja findet ihre Fassung wieder und gibt ihm ein wai, eines von nur mäßigem Respekt – Hände in Kinnhöhe zusammengelegt –, aber mit einem Lächeln. Ach, der Bursche ist bestimmt neu im Kloster! Sie bemerkt, daß er nicht umhin kann, zurückzulächeln. »Ich hab’s gesehn«, murmelt Cook, als der Mönch gegangen ist. »Man sagt, gute und schlechte Taten folgen einem wie der Schatten dem Körper.« »Dann haben du und ich heute morgen beide Verdienst erworben.« Sonja zieht der alten Frau ein Gesicht und geht zur Außentreppe zurück. Armer junger Kerl, denkt sie. Soll 227 Regeln befolgen, nach dem Mittag nichts essen, den ganzen Tag singen, nicht an Frauen denken. Sie kichert bei diesem Gedanken. Wieder in ihrem Zimmer, nimmt sie einen Schlüssel aus einer Schublade, um die Sandelholzschatulle zu öffnen, die auf ihrer Kommode steht. Im oberen Einsatz der Schatulle liegen ein Holzkreuz und vier Bücher. Das Kreuz hat Sanuk vor ein paar Jahren aus zwei Stöckchen zusammengebunden, es sollte das Kreuz sein, das ein englischer Soldat aus Holzstückchen gemacht und auf dem Alten Markt in Rouen Jeanne d’Arc gegeben hatte, als sie auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Sanuk träumt immer noch von der Jungfrau, von ihrem glänzenden 17
Aufstieg und tragischen Fall im Frankreich des fünfzehnten Jahrhunderts. Die vier Bücher bei dem Kreuz sind Sanuks bereits vollgeschriebene Tagebücher. Sie blättert die Seiten durch. Wieviel sie schon geschrieben hat! Aus dem französischen Schreibtisch, den Mutter ihr letztes Jahr gekauft hat (sie findet, er paßt nicht zu ihren Batikbildern von Szenen aus dem Hinduepos Ramakien, zu den siamesischen Tanzpuppen in Brokat und Simili und dem ranad ek, einem klassischen Xylophon, das sie nie spielen gelernt hat, nachdem Philip es ihr zum zehnten Geburtstag geschenkt hatte), nimmt Sonja das laufende Tagebuch. In goldenen Buchstaben, deren Enden sich über den ganzen Einband ranken, trägt es das Wort SANUK. Mutter hat ihr vor ein paar Jahren den Kosenamen Sanuk gegeben. Dieses Wort hat mehrere Bedeutungen: Spaß, Wohlbefinden, ein sorgloses Gemüt, Lebensfreude. Siamesen lachen oft, wenn sie den Kosenamen zum erstenmal hören; sie lieben das Wort, aber sind erstaunt, es als Namen gebraucht zu hören. Sanuk: ja, das ist will sie sein. Und Mutter wollte es auch für sie. Jedesmal war die Hoffnung auf Glück spürbar, wenn Mutter »Sanuk!« aussprach. Aber heutzutage ist »Sanuk!« selten zu hören. Mutter ist neuerdings formell geworden. »Ach, Sonja, es wird dir gefallen, in Amerika oder Europa zu studieren.« Heutzutage heißt es immer nur »Sonja«. Der Name einer russischen Großmutter, die sie nie gekannt hat. Ein kalter Name, eine flache Landschaft, eine weiße See. Hier in Bangkok ist eine grüne Welt, die Freude verspricht. Erwartet Mutter wirklich, daß sie Sanuk zugunsten von Sonja aufgibt? Mutter dagegen hat ein Leben mai sanuk für sich gewählt, eine farblose Welt von Arbeit und Geld – außer wenn Wanna in der Nähe ist, wenn die reizende, junge Siamesin, eine Angestellte des Antiquitätengeschäfts, auf Mutters winterlich-russisches 18
Gesicht ein Lächeln, ein Erröten, einen warmen Schimmer zaubert. Sanuk öffnet die Schließe ihres Tagebuchs mit einem Schlüssel, der an einer Silberkette um ihren Hals hängt. Sie schlägt die Einträge der letzten Woche auf, alle in Englisch (die früheren Tagebücher sind in Thaischrift) und mit einigen orthographischen Mängeln. Dienstag. Sah ihn am Wat Phra Keo. Gingen in die gedeckte Galerie, als wollten wir die RamakienWandbilder anschaun, damit die Leute nicht glotzen. Sie glotzten sowieso, denn Chamlong rudert mit den Armen, wenn er von Politik spricht. Ich höre ihn gern von Politik sprechen, weil er so entschlossen ist. Er hat mich auch dafür interessiert, was in Siam passiert ist, seit der junge König starb. Es ist anderthalb Jahre her, seit das passiert ist und noch weiß niemand, warum man ihn erschossen im Bett gefunden hat. Chamlong sagt, wichtig ist, wie die Armee unter Feldmarschall Phibun den Tod des Königs für politische Zwecke benutzt hat. Chamlong sagt Armee und Feldmarschall Phibun benutzten es als Vorwand um Premierminister Pridi anzugreifen, den Chamlong mag, weil Premierminister Pridi während dem Krieg den Untergrund geleitet hat – das Free Thai Movement. Aber Chamlong sagt Marschall Phibun wollte die Macht wieder und gab Pridi die Schuld am Tod des Königs und daß Pridi deshalb seinen Posten verlor und das Land verließ. Chamlong sagt Phibun haßt Chinesen und wird ihnen in diesem Land alles mögliche antun. Chamlong sagt bei der nächsten allgemeinen Wahl wird Khuang Aphaiwong gewinnen, aber das wird nur heißen, Phibun wird die Regierung leiten, weil Khuang sich vor Phibun und vor der Armee fürchtet und tun wird, was sie sagen. Dann wird Phibun eines Tages Khuang stürzen und offiziell die 19
Macht ergreifen. Ich fragte, woher er das weiß, und Chamlong sagte, nur so. Ich sagte an der Universität mögen sie Phibun auch wenn er im Krieg mit Japan gearbeitet hat. Ich sagte an der Universität sagen sie Phibun und seine Freunde werden Wohlstand bringen. Chamlong lachte. Er sagte waren das Siamesen die ihn mögen? und als ich sagte ja, lachte er wieder. Du wirst keine Chinesen finden, die ihn mögen, sagte Chamlong. Er sagte was wir tun müssen ist über das Schicksal der Chinesen in Siam nachdenken. Ich fragte sind es nur chinesische Kommunisten die Phibun haßt? Chamlong sagte Phibun haßt alle Chinesen weil Chinesen das meiste Geld haben und Geschäfte und alles im Land. Er sagte wir beide sind eigentlich Chinesen, denn wenn man chinesisches Blut hat, gehört man für immer zum Reich der Mitte. Er hat hellere Haut und schmälere Augen als siamesische Jungen und ist größer, so groß wie ich. Er sieht gut aus. Er hat versprochen, mir Push Hands beizubringen, eine Technik für zwei Spieler bei Tai Chi Chuan. Kann er Push Hands wirklich? Sogar seine Schwester sagte mir, vertrau ihm nicht. Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Er hat wieder mit Frauen angegeben. Wie er sie in Tanzsälen wie The Cathay und The Silver Palm trifft. Ich sollte mich über ihn ärgern, aber irgendwie tu ich es nicht. Ich habe Romeo und Julia gelesen, eine wunderbare Liebesgeschichte. Da steht »Des Sommers warmer Hauch kann diese Knospe der Liebe wohl zur schönen Blum’ entfalten, bis wir das nächste Mal uns wiedersehn.«. Mittwoch. Langer Tag in der Universität. Ich bin nicht wirklich eine gute Künstlerin. Pranee ist viel besser, ebenso Lamai. Aber gerade jetzt macht es mir Freude und so mache ich es. Es ist aber nicht fair, daß Mädchen nicht in die Politik gehn können. Ich würde für die chinesische 20
Sache in Siam kämpfen; Lamai und ich haben heute viel über das und andere Dinge gesprochen. Ihr kleiner Bruder wird zum Novizen im Rain Retreet bestimmt. Sie werden ihm den Kopf rasieren und ihn schwören lassen, daß er sich weder auf die Liebe noch auf den Alkohol einläßt. Lamai sagt er ist dreizehn und wird die ganzen drei Monate der Regenzeit bei den Mönchen wohnen. Sie werden das Sukhwan-Ritual machen und das Khwan in seinem Körper versiegeln, indem sie Baumwollfäden um seine Handgelenke knoten. Sonst könnte die freie Seele fliehen, wenn sie erschrickt. Lamai hat mir den Unterschied zwischen Khwan und der anderen Seele, Winyan, der Ich-Seele erklärt. Die freie Seele lebt ewig, aber die Ich-Seele lebt nur solange wie das jetzige Leben. Donnerstag. Hab ihn wieder am selben Ort getroffen. Lange gesprochen. Nie so ein Gespräch gehabt. Er bat mich, mit ihm wohin zu gehn. Zuerst habe ich nicht verstanden, aber dann ja. Als Antwort lachte ich. Er war zornig und ging weg. Freitag. Ging zum Wat um die gleiche Zeit, hoffte, er würde auch kommen und er kam. Wieder gesprochen über das, was er vorschlägt. Es war schrecklich. Wir stritten und gingen zwischen den Tempelgebäuden herum. Die Sonne glühte auf das ganze Glas und Porzellan und Gold, bis uns beiden schwindlig wurde. Wenigstens mir, und er sah so aus. Er sagte, er weiß, wo wir zusammen hingehn können. Ich sagte nein zu ihm, ganz zornig. Aber irgendwie vor dem Weggehn haben wir ausgemacht, uns hier nächsten Montag zu treffen und zu reden. Samstag. Nichts geschah. Langweiliger Tag. Mutter lange im Laden gearbeitet. Mit Cook gestritten, mit Ah Ngee gestritten, es war schrecklich. Mutter sagte wieder, ich muß in Europa oder Amerika auf die Universität gehen. Ich habe nichts dagegen gesagt, weil es nichts 21
nützt. Aber ich werde nicht gehen. Wenn ich irgendwohin gehe, dann nach China, ins Land meines Vaters. Sonntag. Ich muß diese schönen Worte aus Romeo und Julia aufschreiben, die mich an meinen liebsten Vater erinnert haben. Und stirbt er einst, Nimm ihn, zerteil in kleine Sterne ihn; Er wird des Himmels Antlitz so verschönen, Daß alle Welt sich in die Nacht verliebt Und niemand mehr der eitlen Sonne huldigt. Was ich vorhabe, ist leichtsinnig, dumm. Ich darf meine Zukunft nicht an diesen Jungen wegwerfen, den ich kaum kenne und der mit seinen widerlichen Frauen angibt. Trotzdem gefällt er mir einfach wunderbar. Er ist bißchen größer als ich und sieht gut aus und hat echt Mut, glaube ich. Ich will leben. Meine Eltern haben gelebt, also warum nicht ich? Sanuk nimmt eine Feder und schreibt unter »Montag«: Diesen Morgen merkwürdigen Traum von Krokodil. Es hat mich nicht erschreckt. Sehr merkwürdig. Und dann sah ich sie in meinem Traum. Wann ist es wirklich passiert? Ich weiß nicht. Aber es ist passiert, und ich weiß, es ist passiert. Sanuk wendet sich vom geöffneten Tagebuch ab und starrt aus dem Fenster, wo einst die Kokospalme ihre Wedel einladend ausstreckte. Dann schreibt sie weiter: Vielleicht passiert es jetzt manchmal, wenn ich aus dem Haus bin. Vielleicht Mutter und Wanna. Ich glaube sie 22
machen es. Wanna ist eine sehr schöne Frau. Und Mutter kann tun, was sie will. Das Leben ist nicht immer gut zu ihr gewesen und überhaupt sollten Menschen tun, was sie wollen. Sanuk hält inne, legt die Feder hin. Sie wird an diesem Eintrag später weiterschreiben. Sie holt ein kleines Tablett voller goldener Fingerschützer, die sich an den Spitzen zu glänzenden, kleinen Knäufen hochbiegen. Sie steckt einen Schützer auf jeden Finger, der damit doppelt so lang wird, läuft im Zimmer herum und bewegt ihre Hände in sinnlichen Gesten, imitiert die Posen einer siamesischen Tänzerin. Sie wollte immer tanzen, aber sie ist zu groß, und so sieht sie nur zu, wenn ihre Mitschülerinnen auftreten. Eine von ihnen ist Chamlongs Schwester, eine reinrassige Chinesin, die ihn ihr eines Tages vorstellte mit den Worten »Mein Bruder, der mich haßt, weil ich wie eine Siamesin tanze, dabei ist er selbst ein halber Siamese«. Mit einem tiefen Seufzer der Ungeduld angesichts ihrer Darstellungskunst zieht Sanuk die Fingerschützer aus, dann Übungshose und Bluse. In einer Nische ist ein Bad mit Zementboden. An der Wand hängt ein hoher Spiegel, in den Sanuk mit tiefem Interesse starrt. Ihre Haut ist fast so hell wie die einer Europäerin; sie könnte eine »Farang« sein. Mutter hat einmal behauptet, im Ausland würde man sie für eine Europäerin halten. Und es stimmt, daß keins der siamesischen Mädchen eine Haut hat wie sie. Natürlich, Mutters Haut scheint oft so weiß wie eine Eischale. Auch Chamlongs Haut ist hell, besonders für jemanden von chinesisch-thailändischer Abstammung. Sie schaut angestrengt in den Spiegel. Ihr Haar ist kurz 23
geschnitten, fast wie bei einem Jungen. So ist es geblieben, seit sie es einmal als Herausforderung vor ein paar Mitschülerinnen stutzte. Es waren alles Siamesinnen, die ihr Haar bis auf die Hüften trugen und mit absolutem Entsetzen zusahen, wie sie die langen Zöpfe abschnitt. »Jeanne d’Arc hat ihr Haar auch so getragen«, erklärte sie den erschrockenen Zuschauerinnen. Jetzt ist es sogar kürzer als Mutters Frisur. Im Morgenlicht, das durch ein kleines Fenster scheint, schimmert Sanuks Haar fast purpurn. Sie wirft den Kopf hin und her, damit das Sonnenlicht noch mehr Schimmer hervorrufen kann. Das Haar gefällt ihr, aber ihre Schultern sind zu ausgeprägt, zu breit, wie bei einem Jungen; und dann betrachtet sie mit kritischem Blick ihre Brüste. Sie kommen ihr zu groß vor. Sanuk hat stets die schmalen Hüften, die dünnen Arme der Siamesinnen, ihre langen Hälse und kecken, kleinen Brüste bewundert. Mit ihnen verglichen, fühlt sie sich dick und schwer, erdgebunden, plump. Aber während sie sich heute morgen so entschlossen prüft, kommt Sanuk zu dem Schluß, daß ihr Körper … nun ja, ganz in Ordnung ist. Ihre Beine zumindest haben eine hübsche Länge. Siamesische Beine sind so kurz und wirken deshalb oft knollig. Sie blickt von oben auf ihre Füße hinunter und schweift mit dem Blick rasch über die Kurve ihres Körpers. Ihr Blick verharrt bei dem dunklen Fleck in der Mitte; ihr Schoß erscheint ihr einen Augenblick wie ein fremdes Geheimnis. Zögernd legt sie beide Handflächen auf ihren Bauch. Die Haut fühlt sich wärmer an, als sie wirkt. Ein kleiner Druck der Fingerspitzen läßt sie die sanfte Spannkraft ihres Fleisches fühlen. Es fühlt sich gut an. Auch für Chamlong würde es sich gut anfühlen, denkt sie und nimmt ihre Hände weg. Doch im nächsten Moment streicht sie über ihr Schamhaar, sanft, mit einer Fingerspitze. Sie zögert 24
wieder, läßt den Finger dort, eingenistet in eher widerspenstiges Haar. Aber ihm würde es gefallen. Die Vorstellung, wie jemand in ihren Körper dringt, ist seltsam, so seltsam, wie es ihr vorkam, als Mutter ihr »die Natur« erklärte – etwa ein halbes Jahr, nachdem Mitschülerinnen ihr ihre eigenen, bizarren Versionen geliefert hatten. Wenn sie an diesen Akt mit einem Mann denkt, fragt sie sich: Warum er in mir? Irgendwie erscheint der Vorgang ihr unangenehm, vielleicht erschreckend. Ja, erschreckend. Schließlich dringt er in ihren Körper ein und entlädt etwas von sich selbst. Sie kann sich das männliche Teil, das dieses tut, nicht recht vorstellen. Natürlich hat sie die komischen kleinen Anhängsel gesehen, die an Jungen pendeln, wenn sie nackt in den Kanal tauchen, aber sie kann sich nicht denken, wie solch ein harmloses Ding sich an der geheimsten Region ihres Körpers vergreifen soll. Natürlich wird das groß, was Männer haben, aber wie groß? Sie hat Affen gesehen, wie sie in den Bäumen an sich herumspielten, schamlos, und Grimassen dabei schnitten. Aber sie hat das, was sie tun, nie ernst genommen. Wie konnte sie auch? Sie muß lächeln bei der Vorstellung: Unverschämte Gibbons mit ihren wild gewordenen, roten Stänglein! Was sie fürchtet, ist – die Intimität des Vorgangs, die absolute körperliche Nähe. Dabei wundert sie sich immer über die Erregung, das Verlangen geradezu, das schon bloße Gedanken daran in ihr wecken. Da ist noch eine Frage. Was passiert dem khwan, der ewigen Seele, im Augenblick der Vereinigung? Vielleicht fühlt sich der khwan belästigt durch dies Eindringen in seine Intimsphäre. Die unerhörte Vorstellung, ihre unsterbliche Seele durch den Liebesakt zu behelligen, kommt ihr sehr komisch vor. Sie hält die Hand vor den Mund und kichert belustigt. 25
Jetzt ergreift sie den großen Bambusschöpfer, taucht ihn in den Krug und gießt sich den vollen Behälter mit kühlem Wasser über den Körper. Dann seift sie sich mit einem der großen, parfümierten Stücke ab, die Mutter aus Singapur importiert. Für den Augenblick ist das erotische Gefühl für ihren Körper verschwunden. Sie wäscht sich auch die Haare; sie weiß, daß sie in der geringen Luftfeuchtigkeit der Wintersaison von Bangkok rasch trocknen werden. Dann frottiert sie ihren Körper mit einem großen Badetuch, bis die Haut kitzelt und rosige Flecken überall auf dem hellbraunen Schimmer ihrer Schultern, auf Armen und Bauch erscheinen. Wieder betrachtet sie die Erscheinung im Spiegel. Sie ist ein Kind des Drachen. Man sagt von Menschen dieses Symbols, daß sie oft Geburtsmale an ihren Geschlechtsteilen haben – als Zeichen ihres leidenschaftlichen Wesens. Vor etwa einem Jahr hat Sanuk eine leichte Verfärbung der Haut um ihren Nabel entdeckt. Sie hat beschlossen, daß der Nabel als Geschlechtsteil gilt, also muß in ihrem Fall die Vorhersage stimmen. Und sie weiß noch mehr. Zum Beispiel weiß sie, daß Venus und die Sonne zusammen die Hände der Drachenmenschen beherrschen – Ergebnis: Sie genießen Sinnliches, hassen aber manuelle Arbeit. Merkur und der Mond herrschen über die Füße – Ergebnis: Sie reisen gern, erweisen sich aber oft als unbeständig in der Liebe. Mutter lacht natürlich über die Astrologie, aber viele von Sanuks Freunden bestehen darauf, daß sie in ihrem Leben schon eine Rolle gespielt hat. Sie rennt ins Schlafzimmer zurück und sucht nach einem geeigneten Anzug für diesen Tag. Ein hellblauer pahom und ein rötlich-karierter pasin gefallen ihr, aber eine Bluse und ein Sarong in diesem Stil wirken für Chamlongs Geschmack sicher zu siamesisch. Schließlich wählt sie 26
einen hellgelben cheongsam mit Stehkragen und geschlitztem Rock, wie sie dieser Tage in Chinatown Mode sind. Es ist ein Seidengewand, das sich ihren Hüften eng anschmiegt. Ein siamesisches Mädchen sagte einmal mit unbeschwert-fatalistischem Lächeln zu ihr: »Es hat keinen Zweck, sich für Jungen anzuziehn. Es ist ihnen egal, was ein Mädchen anhat, sie interessiert nur, was es ausziehn wird. So sind die Boys nun mal. Wart’s ab. Du wirst schon sehn.« Sanuk kämmt ihr Haar energisch mit einem Perlmuttkamm aus Chiang Mai. Es ist ihr Lieblingskamm, und die Nordsiamesen behaupten, er brächte dem Benutzer Glück. Sieht sie so chinesisch aus, wie sie es hofft? Was ihr an ihr selbst am besten gefällt, sind ihre Augen. Sie wirken schmal wie bei einer Chinesin. Nichts an ihrer Form weist darauf hin, daß sie halb farang ist. Die Augen ihrer Mutter sind rund und groß und offen, ganz anders. Und doch, während sie noch einen Moment in den Spiegel starrt, wünscht sich Sanuk eine andere Augenfarbe, nicht braun, sondern grün, den Farbton der Tamarindenblätter, wie sie durchs Fenster zu sehen sind, so grün wie die meergrünen Augen ihrer Mutter. »Frühstück!« Vom unteren Stockwerk steigt Ah Pings Stimme auf wie körniger Rauch. »Frühstück!« Jeden Morgen überbringt die alte Stimme dieselbe Ankündigung. Sanuk kann sich die Besitzerin vorstellen: die gebeugte, kleine Gestalt im schwarzen Pyjama, wie sie am Fuß der Treppe steht; das weiße Haar zum Knoten zurückgesteckt, dicke gefleckte Säcke unter wäßrigen Augen. Seit Jahren dient diese Frau aus der 27
südchinesischen Gegend von Teochiu Sanuks Mutter. »Frühstück!« Seit sie sich erinnern kann, seit ihrer frühesten Kindheit in Singapur, mußte sie sich von Ah Ping zu irgend etwas rufen lassen. Vor dem Spiegel bilden Sanuks Lippen perfekt synchron die nächsten Worte, die von unten kommen. »Kommst du wohl runter, faules Mädchen?« Immer dieselben Worte. Sanuk erlaubt sich noch einen letzten Blick in den Spiegel: Ein chinesisches Mädchen? »Muß ich«, fängt die alte Stimme wieder an, »muß ich kommen und dich holen, oder kommst du wohl runter, faules Mädchen?« Beim dritten Wort hat Sanuk aufgeholt und imitiert flüsternd nicht nur das Ende von Ah Pings Satz, sondern auch den verdrossenen Ton. Zusammen enden sie – »kommst du wohl runter, faules Mädchen?« Alles in Ordnung, denkt Sonja mit einem zufriedenen Seufzer. Sie geht hinunter.
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h Ping wartet am Fuß der Treppe. »Sind die Krämpfe vorbei?« Sanuk nickt unter dem prüfenden Blick der wäßrigen Augen. »Es ist zu eng.« »Cheongsams sollen so sitzen.« Ah Ping schüttelt den Kopf. »Zu eng.« Sie befingert das Kleid, zieht es grob von Sanuks Hüften weg. »Nächstes Mal habe ich neue Medizin, die du versuchen kannst.« Mit einem vagen Lächeln schiebt sich Sanuk an der alten Frau vorbei. Sie weiß, was das für eine Art Medizin wäre: irgendein gräßliches Gebräu aus eingelegten, tierischen Innereien. Lieber hätte sie Unterleibskrämpfe einen ganzen Monat lang, als Ah Pings Medizin zu nehmen. Und außerdem gibt es keine Erleichterung für sie: Sie ist zu monatlichen Schmerzen verdammt. Unterwegs zum Eßzimmer, das auf den Garten blickt, bleibt sie bei einem Vogelkäfig stehen und wünscht dem Mynah einen fröhlichen guten Morgen. Taksakan, wie Sanuk den Vogel nach einem schurkischen Gott getauft hat, legt seinen schwarzen Kopf auf die Seite und plustert sein braunes Gefieder, bleibt aber stumm. Er ist zu alt, um neue Wörter zu lernen; sein Wortschatz besteht aus einem einzigen: »Choei« – Paß auf dich auf. Das unvergitterte Eßzimmer, auf einer Seite geöffnet, geht auf den Kanal hinaus. Ihre Mutter schenkt ihr von ihrem Platz an einem Ende des langen Tisches ein strahlendes Lächeln. Türkis ist eine gute Farbe für so eine 29
unglaublich weiße Haut, denkt das Mädchen, beugt sich zur ihrer Mutter hinunter und gibt ihr einen Kuß auf die Wange. Mit einem Seitenblick sieht Sanuk, wie Nipa, die alte siamesische Dienerin, sie mit Abscheu beobachtet. Obwohl Nipa schon seit Jahren mit angesehen hat, wie Mutter und Tochter ihre Gefühle auf diese westliche Art zeigen, kann sie sich nicht daran gewöhnen – sie sollten die Nasen an den Wangen reiben wie kultivierte Leute. Als Sanuk sich von ihr entfernt, fragt Mutter sanft: »Krämpfe vorbei, Schätzchen?« »Für diesen Monat, ja.« Sanuk setzt sich neben sie. »Armer Schatz.« Sanuk macht eine lässige Handbewegung, als wolle sie den Gedanken an Schmerz aus ihrer beider Köpfe verscheuchen. Nie in ihrem Leben wird sie sich das Jammern angewöhnen. Mutter schaut von der Papaya auf, die sie gerade schält. »Gehst du zum Unterricht heute?« »Nein. Aber ich gehe mit ein paar anderen Leuten an den Fluß zum Zeichnen.« »Mit wem?« Sanuk zuckt die Achseln. »Pranee, Lamai, Sopita. Ich weiß nicht genau, wer noch.« »In dem Cheongsam?« »Natürlich.« »Ist er nicht zu eng? Ich hab’ dich noch gar nicht in dem siamesischen ruan-ton gesehn, den wir gekauft haben.« Mutter greift nach der Bangkok Times neben ihrem Teller. »Du siehst so hübsch darin aus.« »Der ist auch hübsch«, bemerkt Sonja ausweichend. »Er wäre bequemer als ein Cheongsam, wenn du Flußufer rauf- und runterkletterst.« 30
Sanuk denkt daran, daß sie den ruan-ton gekauft haben, ehe sie Chamlong traf: einen braunen Rock mit roten Querstreifen und eine rote Jacke mit sehr weit geschnittenen Dreiviertelärmeln und fünf Knöpfen. Aber er sieht schrecklich siamesisch aus; er würde Chamlong nicht gefallen. »Ich zieh’ ihn morgen an«, verspricht Sanuk. Mutter läßt nachdenklich die Zeitung sinken. »Ich will nur, daß du es bequem hast.« »Ich weiß.« Und mit einer Aufwallung von Wärme weiß Sanuk dies wirklich. Aber genauso weiß sie, daß die Liebe in ihrem Verhältnis zueinander manchmal nicht genügt – nicht an einem Tag wie heute. Was sie gerade jetzt noch mehr braucht, ist Aufrichtigkeit. Wenn sie nur sagen könnte: »Mutter, ich bin eine Frau wie du, und das bedeutet …« Aber Mutter hat eine Hornbrille aufgesetzt, die an einer schwarzen Schnur um ihren Hals hing. Damit starrt sie auf die Bangkok Times. Sanuk haßt diese Brille. Sie läßt ihre Mutter alt erscheinen. Wenn Mutter sie immer tragen würde, wäre die Wirkung vielleicht weniger auffällig und damit weniger unangenehm. Aber so, wenn sie sie mit einem Ruck zum Lesen auf die Nase setzt, wird ihre Abhängigkeit von etwas, was ältere Leute benutzen, deutlich. »Diese Kokospalme«, fängt Sanuk an, ohne zu überlegen. »Es bringt Unglück, einen Glücksbaum abzusägen, Mutter.« Sanuk sagt das auf thai, während sie bisher Mandarin gesprochen haben. »Bring dich nicht in Gefahr.« »Ich dachte, wir hätten die Sache mit dem Baum erledigt. Laß uns englisch sprechen«, schlägt Mutter in 31
korrektem, aber mit starkem Akzent behaftetem Englisch vor. »Wir müssen es beide üben.« »Du meinst, ich brauche die Übung«, antwortet Sanuk auf thai. »Du hättest den Baum nicht fällen lassen sollen.« »Ich glaube nicht an Glück oder Unglück. Ich bin zu alt, um daran zu glauben«, fügt sie mit einem Lächeln hinzu. »Bitte, Sonja, laß uns englisch sprechen.« »Wenn man in einem Land lebt, sollte man dann nicht die Sprache dieses Landes sprechen?« Sanuk hat wieder auf thai geantwortet. »Thai ist nicht wie Englisch und Französisch, Schatz. Mit den beiden Sprachen kommst du überall durch. Verstehst du?« In Mutters Stimme schwingt angestrengte Geduld. Aber das Mädchen möchte heute keinen Streit. Sie möchte ihre Mutter vielmehr besänftigen, als wolle sie etwas gutmachen, was sie noch gar nicht angestellt hat. »Ich weiß, du willst, daß ich etwas lerne, damit es mir später gutgeht im Leben.« Sie hat sich in fehlerlosem Englisch ausgedrückt. Entzückt streicht ihre Mutter ihr über die Hand. »Sanuk«, sagt sie leise und benutzt den Kosenamen heute zum erstenmal. »Wenn wir uns nur verstehn, dann wird auch alles andere gut.« Das Mädchen lächelt verlegen. Sie möchte sagen: »Wir können uns nicht verstehn, wenn ich dir nicht sage, was ich denke. Aber ich kann dir nicht sagen, was ich denke, wenn ich weiß, daß du es nicht ausstehen kannst und mich dann daran hinderst, das zu tun, wovon ich überzeugt bin, daß ich es einfach tun muß, um ich selbst zu sein, um eine Frau zu sein …« Mutter wendet sich wieder der Zeitung zu. Um den qualvollen Gedankengang zu unterbrechen, tut 32
Sanuk etwas – sie greift nach der Obstschale. Das bringt Nipa augenblicklich an ihre Seite. »Nimm etwas gekochten Reis und gesalzenen Fisch, junge Miss«, empfiehlt Nipa in befehlendem Ton. Sanuk starrt wütend die alte Bedienerin an, die genau weiß, daß sie gekochten Reis und gesalzenen Fisch zum Frühstück haßt. Cook hat Nipa befohlen, Sanuk Essen aufzudrängen. Das ist klar. Cook möchte in der Nachbarschaft an Ansehen gewinnen, indem sie ihre junge Herrin mästet. Sanuk schenkt der Dienerin ein listiges Lächeln. »Bitte bring mir eine kleine Schüssel Kokosnußpudding.« Dann schält sie eine Mango und schneidet sie in kleine, goldene Stücke. Sie beißt in die süß-saure Frucht und beobachtet dabei, wie Mutter zurückhaltend ein Stückchen eingelegte grüne Banane kaut. Mutter achtet auf ihr Gewicht – und wirkt doch dicker als ein Jahr zuvor. Eines Tages werde ich aussehen wie sie. Der Gedanke ist nicht unangenehm. Mutter ist schließlich immer noch eine gutaussehende Frau. Allerdings kann man graue Strähnen in dem kurzen schwarzen Haar erkennen, ein Netz aus feinen Linien in den Winkeln der grünen Augen, und die Taille wird stärker. Ich werde lange jung bleiben, schwört sich Sanuk mit Nachdruck, und nimmt mit einem Grinsen eine Portion Pudding von Nipa entgegen, die mit einem Stirnrunzeln reagiert. Die Exilrussin und der chinesische General: Auch sie waren einmal jung, denkt Sanuk traurig. »Erzähl mir noch mal, wie ihr euch begegnet seid.« Sie lehnt sich vor, beide Ellbogen auf dem Tisch, wie in Erwartung einer langen Geschichte. Mutter senkt die Zeitung. »Wem begegnet?« 33
»Wem?« Sanuk lacht verächtlich. »Erzähl mir noch mal, wie du meinen Vater getroffen hast.« »Wie kommst du denn darauf?« Sanuk schenkt ihr ein ermutigendes Lächeln. »Bitte. Erzähl mir genau, wie es war. Ich kann es immer wieder hören.« »Das weiß ich wohl.« »Hast du denn was dagegen?« Sie sprechen jetzt thai. »Nein, natürlich nicht.« Mutter zögert, schiebt die Brille von der Nase und läßt sie um ihren Hals baumeln. »Wir trafen uns bei einer Gartenparty.« »In Schanghai«, souffliert Sanuk. »Du warst Übersetzerin.« Mutter beginnt geduldig, den Verteidigungskommissar für die Provinz Süd-Schantung zu beschreiben. Ein Mann um die Vierzig – »Nicht groß, aber muskulös«, springt Sanuk ein. »Entschuldige. Sprich weiter.« »Sein Haar war kurz geschoren. Er hatte eine sehr militärische Haltung. Aber das ganz Besondere waren seine Augen.« Mutter stützt das Kinn in beide Hände und schaut durchs Eßzimmer in den Garten hinaus. »Sanfte Augen. Oder traurig. Es war schwer zu sagen, wenn man ihn ansah –« Und Sanuk läßt sich von den Einzelheiten der Erinnerung überspülen wie von einer steigenden Flut. Sie stellt sich vor, wie die beiden Liebenden heiraten und nach Küfu zurückkehren; ihre Seligkeit dort in der Tempel- und Wohnanlage des Konfuzius und seiner Nachfahren; ihr gemeinsames Interesse an Kunst und Poesie; wie er sie Schwarzer Jade nannte nach der Heldin in einer chinesischen Liebesgeschichte; die große Schlacht, die Vater focht, und Mutters Pflege der Verwundeten; wie die 34
Intrigen der Warlords die beiden schließlich trennten; sein Tod bei einem Attentat am Fuß eines heiligen Berges … »Am Tag, nachdem wir uns kennengelernt hatten, kaufte er mir dann den Teller mit dem Weidenmuster.« »Den, der jetzt im Geisterhaus ist.« »Den, der jetzt im Geisterhaus ist.« Mutter schüttelt sanft mißbilligend den Kopf. »Du bist wie ein Kind, das immer dieselbe Einschlafgeschichte verlangt. Genug jetzt. Iß deinen Pudding, wenn du den ganzen Tag am Fluß sein willst.« »Und du hast Philip getroffen.« »Ja, Philip.« Mutter nimmt die Zeitung und hält sie vor ihrem Gesicht hoch. »War er wirklich in Vaters Armee? Es klingt immer so seltsam. Ich meine, ein junger Amerikaner in einer chinesischen Armee.« Die Zeitung senkt sich so weit, daß Sanuk sehen kann, wie der Blick ihrer Mutter im Erinnern plötzlich leer wird. »Alles war merkwürdig damals. 1927 kamen solche Dinge vor. Damals hatten wir, glaube ich, alle das Gefühl, alles sei möglich. Mange ton Pudding.« Sanuk beginnt zu essen. Ein paar Minuten später senkt Mutter die Zeitung wieder und sagt mit einem Seufzer: »Also, sie denken daran, den Namen des Landes wieder in Thailand zurückzuändern. Siam … Thailand … Siam … Thailand …« »Phibuns Werk«, sagt Sanuk entschieden. Mutter zuckt die Achseln. Sanuk hat diese typische Reaktion ihrer Mutter auf politische Dinge schon erwartet. »General Pao ist ein schrecklicher Mann«, fährt Sanuk 35
fort. »Pao?« »Der Polizeichef. Das mußt du doch wissen, Mutter. Er ist noch schlimmer als Phibun.« »Das solltest du lieber nicht laut sagen. Und wer will schon wissen, ob jemand schlimmer ist als irgend jemand anders?« Sanuk haßt es, wenn Mutter in dieser Art vage wird; um ihre Aufmerksamkeit festzuhalten, erklärt das Mädchen so laut, daß Nipa in der Tür erscheint: »Phibun und Pao machen schreckliche Sachen mit den Chinesen. Sie haben die Einwanderungsquote für Chinesen auf zweihundert pro Jahr herabgesetzt, Mutter. Vor einem Jahr waren es noch zehntausend.« »Na, ich kann mir denken, daß diese Politik bei den Siamesen populär ist.« »Das klingt ja, als ob dich das gar nichts angeht. Überhaupt nichts«, sagt das Mädchen vorwurfsvoll. »Schatz.« Mutters Kinnlinie spannt sich. »Ich habe genug von Politik zu spüren bekommen. In Rußland. In China. Und hier während der japanischen Besetzung. Glaubst du, ich interessiere mich noch für siamesische Politik?« »Aber der Name eines Landes ist wichtig. Siam oder Thailand. Menschen müssen wissen, wer sie sind. Zum Beispiel, was bist du, Mutter? Siamesin oder Thailänderin?« »Ich bin Russin«, kommt prompt als Antwort. »Siehst du? Das ist es, wovon ich immer spreche«, sagt Sanuk triumphierend. »Du weißt, was du bist, aber was bin ich?« »Eigentlich, mein Schatz, bist du Siamesin.« 36
»Ich bin halb Chinesin und halb Russin.« »Ja, aber dein Paß –« »Deiner ist auch siamesisch, nur bist du Russin!« »Qu’est-ce qui te fait penser ainsi? Dein Interesse an Politik in letzter Zeit ist mir schon aufgefallen.« »Ich versuche herauszufinden, wer ich bin.« »Du bist meine Tochter. Du lebst in Siam – oder Thailand –, was immer es ist. Und du hast einen gültigen Paß von diesem Land.« »Das ist nicht genug.« Mutter lehnt sich mit ernstem Gesicht vor. »Jedesmal, wenn du willst, daß ich von deinem Vater spreche, zögere ich. Weißt du, warum? Weil es gewöhnlich genau dazu führt – daß du dir Sorgen machst, wohin du eigentlich gehörst. Tatsache ist, du gehörst zu mir. Oder zumindest weißt du, wenn du eine Zeitlang ins Ausland gehst, daß du hier ein Zuhause hast. Vertrau mir, Sonja-Schatz.« Sanuk starrt auf ihren Teller. Es stimmt, daß sie jedesmal, wenn sie an den Vater denkt, darüber rätselt, wo sie hingehört. In diesem Augenblick kommt Nipa mit einem Stoß Post herein und legt ihn neben Mutters Teller. Während Sanuk in der Zeitung blättert, beginnt Mutter, die Briefe zu lesen. Plötzlich bemerkt Sanuk, wie Mutter einen der Briefe so fest ergreift, daß ihre Handknöchel weiß werden. »Was ist los?« »Warte. Einen Moment. Ich –« Sie dreht das Blatt um und liest angespannt, blickt dann verwundert auf. »Denk dir – er kommt vielleicht zurück, Sonja.« Mutters Stimme hat einen sanft verblüfften Ton. »Ich glaube, er könnte zurückkommen. Philip, meine ich.« »Philip?« 37
»Er schreibt hier, er möchte uns sehn.« Mutter faltet den Brief langsam zusammen. »Er will wissen, ob er kommen kann.« »Natürlich kann er.« Mutter lächelt. »Möchtest du ihn hier haben?« »Philip? Natürlich.« »Er war wirklich immer gut zu dir. Auf seine Art«, setzt sie hinzu, als erwäge sie den Gedanken zum erstenmal. »Aber warum jetzt zurückkommen? Der Krieg ist schon zwei Jahre vorbei. Wann hat er zuletzt geschrieben?« »Zu meinem Geburtstag, letztes Jahr.« »Richtig. Er hat dir eine Puppe geschickt.« Mutter seufzt. »Als ob du noch ein Kind wärst.« »Und einen Brief, wie gut ihm Indien gefällt.« »Ich kann mich an nichts erinnern. Und davor?« Sanuk weiß es auch nicht mehr. »Ich verstehe nicht, weshalb er zurückkommen möchte«, sagt Mutter nachdenklich. »Wir hören einmal im Jahr von ihm, und jetzt plötzlich das.« »Laß ihn zurückkommen.« Um ihre Mutter zu überzeugen, setzt Sanuk hinzu: »Vielleicht fühlt er sich nicht gut. Vielleicht ist er müde.« An Müdigkeit vor allem erinnert sie sich bei Philip Embree, dem Stiefvater, dessen Namen sie trägt: ein blonder untersetzter, müde aussehender Mann mit einer häßlichen Narbe quer über die Stirn. Er wirkte wie ein Mann, der müde ist von zu vielem Denken, müde vom Alleinsein mit seinen Gedanken, müde, weil es nichts für ihn zu tun gab, das ihn wirklich interessiert hätte. Und doch konnte er plötzlich lebendig werden. Das waren gute Zeiten. Er nahm sie dann auf eine Bootsfahrt durch die Kanäle oder zum Phra Mane, der Königswiese, zum Drachensteigen mit. Aus 38
diesen guten Zeiten erinnert sie sich vor allem an seine fortlaufenden Geschichten von Lotosblüte und Bill. Lotosblüte war eine chinesische Prinzessin, und Bill war ein Wasserbüffel. Die beiden waren dicke Freunde, sie reisten durch China und Siam und bestanden Abenteuer mit Drachen und bösen Zauberern. Abgesehen von Lotosblüte und Bill, vom Bonbonlutschen auf einem Boot am Kanalufer, während Philip den Händler bezahlt, sieht sie ihn in ihrer Erinnerung wie einen müden Schatten durch das Haus wandern. Mutter liest den Brief noch einmal. »Er gibt keine Begründung für seine Rückkehr. Er möchte uns nur sehn.« In der Vergangenheit hat Mutter ihn gewiß nicht ermutigt, zurückzukommen – sie hat seine Briefe mit knappen Mitteilungen im Telegrammstil beantwortet. Als letztes Jahr der Brief aus Indien mit der Puppe ankam, lachte Mutter verächtlich: »Schau dir diese Puppe an. Denkt er, du bist immer noch ein Baby? Typisch Philip – immer in den Wolken.« Sanuk hat die Puppe noch; mit der Goldkrone über dem hölzernen Gesicht und den riesigen, gemalten Augen soll sie wohl irgendeine Göttin sein; Sanuk hat vor, ihm nächstesmal, wenn sie sich photographieren läßt, einen Abzug zu schicken. »Ich verstehe es einfach nicht«, sagt Mutter. »Vielleicht«, meint Sonja, »hat er gefunden, was er in Indien gesucht hat.« Mutter spitzt den Mund. »Ja, aber was – das habe ich mich immer gefragt.« »Er hat es doch in seinen Briefen erklärt«, erinnert sie Sanuk. »Er hat gesagt, er sucht nach dem Sinn seines Lebens.« »Das weißt du also noch.« »Ich weiß, daß er einmal in chinesisch geschrieben hat. 39
Ist der hier auch in chinesisch?« Mutter legt den gefalteten Brief unter den Stoß. »Nein. En Anglais. Möchtest du Philip wirklich hier haben?« »Natürlich. Ich denke, daß es ihm im Krieg schrecklich schlecht gegangen ist.« »Oui, je crois que c’est vrai.« Mutter öffnet den Mund, als wolle sie fortfahren, zögert aber. »Du liebst ihn doch noch, oder, Mutter?« Sanuk hört, wie Hoffnung in ihrer Stimme aufsteigt. »Il compte beaucoup pour moi.« »Ich weiß, er bedeutet dir etwas. Das wollte ich ja auch nur sagen. Ich habe nicht gemeint lieben, wie du Vater geliebt hast.« »Sonja. Du hast einen Mangoflecken auf deinem Kleid.« Das Mädchen sieht nach und entdeckt dicht über ihrer linken Brust einen orangenfarbenen Obstfleck. »Pourrais-tu faire attention à la manière dont tu manges.« »Ich bin doch kein Kind mehr!« Ihre Blicke begegnen sich. Mutter blinzelt und schaut weg. »Du hast ja recht, Schatz. Entschuldige.« Sie nimmt die Brille ab und putzt die Gläser mit einer Serviette. »Weißt du, meine Mutter hat dasselbe mit mir gemacht, und wenn du je Mutter wirst, wirst du wahrscheinlich dein Kind auch kritisieren, lang, nachdem du das Recht dazu verloren hast, wegen der Art, wie er oder sie sich anzieht und ißt –« »Und denkt.« »Nein, Sonja, ich kritisiere nicht deine Gedanken.« »Warum spielst du nicht mehr Tai Chi?« Mutter setzt die Brille wieder auf. »Morgens ist immer 40
so viel zu tun …« Sie nimmt den nächsten Brief vom Stoß, öffnet ihn und liest aufmerksam. »Na, was für ein Tag.« Was für ein Tag, wiederholt Sanuk innerlich. »Das ist ein Bewerbungsformular. Für die Stanford University in Amerika.« »Ich dachte, dir wäre lieber, wenn ich nach Europa ginge.« »Das hab’ ich nie gesagt.« »Aber ich hab’ doch die Bewerbung für die Sorbonne ausgefüllt.« »Und wenn die Formulare von Grenoble und Montpellier und London und Vassar und die andern kommen, die ich angefordert habe, wirst du sie auch ausfüllen.« Sanuk seufzt erschöpft. »Wo du hingehst, hängt auch davon ab, welche Universität dich annimmt. Du kannst jetzt genügend Englisch und Französisch, aber mit deiner Orthographie hapert es noch in beiden Sprachen.« Nipa betritt das Eßzimmer und beugt sich ausdrucksvoll über den halb aufgegessenen Kokosnußpudding. Sanuk fragt boshaft: »Hast du etwas Elefantenfleisch?« Das Gesicht der alten Frau bewölkt sich. »Du willst doch kein Elefantenfleisch!« »Genau das möchte ich.« Sie beobachtet mit unterdrückter Belustigung, wie die alte Frau murrend die Puddingschüssel hinausträgt. Nipa hat ihr einmal gesagt, daß eine Frau, die Elefantenfleisch ißt, bald schwanger wird. Das würde mich nicht schrecken, denkt Sanuk. Auf den Fluren der Silpakorn-Universität sprechen die Mädchen von der Rhythmusmethode. Sie versteht zwar, wie sie funktioniert, aber wenn etwas schiefgehen sollte, 41
würde Chamlong schon das Richtige tun – er würde sie heiraten. Er hat ihr schon so oft gesagt, daß er sie liebt, und sollte er sich weigern, sie zu heiraten, falls etwas schiefging, dann würde sie schon für sich sorgen wie dieses Mädchen in der Schule letztes Jahr, jedenfalls gab es da so ein Gerücht – »Sonja?« Sie wendet sich der Mutter zu, die sie lächelnd betrachtet. »Quelle concentration! Ich hoffe, du hast morgen früh etwas davon übrig.« »Warum?« »Weil wir uns dann hinsetzen und diese Bewerbung ausfüllen.« Sanuk nickt, schwört sich aber dabei, daß sie weder nach Amerika noch nach Europa gehen wird, ehe sie nicht in China gewesen ist. »Na! Da bist du ja! Guten Morgen!« Sanuk wendet sich vom Garten ab, ihrer Mutter zu. Sie weiß ohnehin, wer gerade soviel Lebhaftigkeit auf dem Gesicht der Mutter und einen solchen Ausbruch von Willkommen hervorgezaubert hat. »Guten Morgen, Wanna«, sagt das Mädchen, ohne sich umzudrehen. Eine auffallend hübsche Siamesin begrüßt die beiden jeweils mit einem respektvollen wai. Sanuk erwidert den Gruß gleichgültig, ganz im Gegensatz zu ihrer Mutter, deren verräterische weiße Haut ein Erröten preisgibt, während sie ernsthaft zurückgrüßt. Die hübsche, junge Frau, vielleicht sechs oder sieben Jahre älter als Sanuk, lehnt den angebotenen Tee ab, setzt sich aber auf einen Rattanstuhl mit Blick auf den Garten. 42
Sie trägt einen siamesischen ruanton, Rock und Jacke in einem sanften Kastanienbraun. Der Effekt ist auffallend und zugleich zurückhaltend, so, wie es Mutter liebt, und sie spricht es auch aus. »Danke. Nahng Vera« – die hübsche Siamesin wendet sich ihr zu –, »ich habe die Fakturen mitgebracht. Vielleicht können wir sie erledigen, ehe wir zum Laden fahren. Ein paar sind dringend …« Mutter nickt feierlich; ihr Gesicht hat wieder eine normale Farbe angenommen. »Hast du den Fahrplan geprüft?« »Fahrt ihr wohin?« »Ich dachte, ich hätte es dir schon gesagt.« Mutter nimmt die Brille ab, sie baumelt vor ihrem üppigen Busen. »In ein paar Tagen fahren Wanna und ich nach Chiang Mai hinauf. Pakhoon sagt, er hat ein paar Schan-Bronzen gefunden.« »Was er nicht hat.« Mutter lächelt. »Wahrscheinlich hast du recht. Aber eines Tages wird er etwas zu bieten haben. Dann haben sich diese Fahrten gelohnt.« »Nahng Vera«, sagt die junge Siamesin, »wir können vom Hauptbahnhof entweder um acht Uhr dreißig oder um zwölf abfahren. Ich schlage acht Uhr dreißig vor. Mittags kommen wir in die Hitze.« »Ich habe von einem Krokodil geträumt, Mutter.« Sanuk klatscht die Zeitung auf den Tisch und sieht befriedigt, wie beide Frauen, die sich angesehen haben, ihre Blicke ihr zuwenden. »Ein ziemlicher Alptraum«, bemerkt Mutter. »Es war eigentlich kein Alptraum.« Sanuk beabsichtigt, beim Thema zu bleiben. »Das wäre es gewesen, wenn ich 43
mich gefürchtet hätte. Hab’ ich aber nicht. Aber du hattest Angst, glaube ich.« »Ich?« »Du warst auch in dem Traum. Ich kann mich nicht an alles erinnern, aber jenseits des Teichs war eine Bambushütte, und du hast in der Tür gestanden und mir zugeschrien und Zeichen gemacht.« »Ich kann mir vorstellen, daß das meine Rolle in deinen Träumen ist«, sagt Mutter mit einem zweifelnden Lächeln. »Warnen und nörgeln.« In Wannas Gegenwart spricht sie jetzt nur thai. »Sanuk?« Zögernd wendet sich das Mädchen Wanna zu. »Du solltest Chalawan lesen. Es ist die Geschichte von einer Prinzessin, die von einem Krokodil geliebt wird.« »Ich hab’ sie schon gelesen.« »Sehr unterhaltend. Sehr komisch.« Wanna lacht. Es ist das bekannte siamesische Lachen: sanft, sorglos, oberflächlich. Sanuk hört es täglich zahllose Male in den Korridoren der Schule. »Ich gehe jetzt.« Sanuk steht auf. Mit geöffneten Armen sagt Mutter: »Komm, gib mir einen Kuß«, und drückt sie an sich. Sanuk fühlt warme Lippen auf den ihren und wünscht, sie könnte jetzt den Ausdruck auf Wannas Gesicht sehen. »Den ganzen Tag unterwegs?« Mutter läßt sie los. »Es wird sicher spät.« Sie beobachtet, wie Wanna den Raum verläßt. »Wir wollen den Fluß bei Sonnenuntergang zeichnen.« »So spät?« »Zum Abendessen bin ich wieder da. Für den größten 44
Teil des Wegs werde ich mir mit Lamai ein Boot nehmen.« »Sanuk«, sagt Mutter und benutzt den Kosenamen heute zum zweitenmal. »Liebes.« Sie zögert. »Sobald du im Ausland bist und siehst, wie es dort ist, wirst du verstehn, weshalb ich es mir für dich so wünsche.« »Ich verstehe es jetzt schon. Du möchtest, daß ich eine gute Ausbildung bekomme.« Sanuk macht eine allumfassende Handbewegung. »Und die Welt sehe, aus der du kommst.« »Ist das so schlimm?« fragt Mutter mit einem Lächeln. »Natürlich nicht. Ich möchte es sehen.« Sanuk würde gern hinzufügen: »Nachdem ich zuerst Vaters Welt gesehen habe.« Wanna ist mit einer Mappe zurückgekommen, und Sanuk fragt sie: »Wanna, hast du Phra Ahbai gelesen?« Die hübsche Frau lächelt strahlend – die siamesische Art, Verlegenheit zu zeigen; offensichtlich kennt sie es nicht. Befriedigt erklärt Sanuk, daß Phra Ahbai ein romantisches Gedicht von Suthorn Bhu ist. »Es handelt von einem Prinzen und der Tochter eines mächtigen Riesen.« Obwohl ihre eigene Bosheit sie erschüttert, fügt sie hinzu: »Es ist nicht sehr komisch, aber es ist eins der bedeutendsten Gedichte in deiner Sprache.« Wanna verabschiedet sich mit einem wai. Sanuk wird niemals klar, ob die Frau sie haßt oder ihr nur gleichgültig gegenübersteht. Wahrscheinlich gleichgültig, wie die Siamesen eben sind. Sie dreht sich um, um das Zimmer zu verlassen, und blickt auf ihre Mutter zurück, die sie mit einem verletzten 45
Ausdruck betrachtet. Im Vorbeigehen winkt Sanuk dem Mynah zu. Taksakan kreischt los: »Choei!« Sanuk lacht, aber dann sieht sie Nipa mit etwas, was in Bananenblätter eingewickelt ist. »Choei«, murmelt die Frau. »Ein guter Rat.« »Das hast du ihm doch beigebracht.« »Wenn dieser Vogel überhaupt spricht, dann um so besser, wenn es Choei ist. Hier.« Nipa drückt ihr das Päckchen in die Hand. »Gai yang zum Mittagessen.« Sanuk nimmt es kopfschüttelnd entgegen. Die zwei alten Frauen werden nicht nachgeben, bis sie fett wie ein Schwein ist. Das würde Chamlong nicht gefallen. Vorbei am Garten und der Terrasse erreicht sie die Stufen einer Anlegestelle und winkt einem sich nähernden Boot zu. Es ist zu mieten, deshalb betritt sie es vorsichtig in der Mitte und sagt dem Ruderer ihr Ziel. Die Sonne ist heiß auf dem Wasser; der Widerschein blendet sie, aber auf den Kanälen mag Sanuk keinen Hut tragen. Es gibt zu viel zu sehen, auch nach Jahren täglicher Gewöhnung. Sie möchte, daß die Sonne auf ihr Gesicht herunterbrennt, der Gestank des Kanals durch ihre Nüstern treibt, das lärmende Leben an den Ufern ihr direkt entgegenkommt. Während der Ruderer langsam, aber stetig auf den Kanal hinaus steuert, hält sich Sanuk am Bootsrand fest und sieht sich um. Durch Verschmutzung wirkt das Wasser dunkel und schmierig wie Öl, aber ein paar Jungen schwimmen darin herum und tauchen von Pfahlhäusern am Ufer hinein. Graue Blechdächer überall. Tonnenförmige Hausboote, blechgedeckt, reiten wie fette Würmer auf dem Kanal, bilden Hindernisse für den Verkehr. Manchmal kann sie am Ufer entlang einen Blick auf Felder zwischen den Gebäuden erhaschen, zwischen den breiten Straßen und den wimmelnden Kanälen gibt es in 46
Bangkok immer noch viel bestelltes Land. Lotus überall, manchmal rosa und manchmal wie weiße Tauben, die auf dem Wasser nisten. Sie erblickt Frauen hinter Fenstern, die so riesig sind, daß die Brise vom Fluß ungehindert durch die Pfahlbauten weht. Auf hölzernen Veranden hängen Frauen Wäsche auf, spülen Aluminiumtöpfe, schöpfen Wasser aus großen Krügen. Die Bewegung auf dem Kanal erfüllt Sanuk mit Freude.
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ie Knaben aus der Schul’ eilt Liebe hin zum Lieben.« Shakespeare muß alles gewußt haben, denkt sie. Der Kanal ist hier voller Winterabfälle, das ölige Wasser stinkt, der Wasserspiegel ist niedrig. Und es wird schlimmer werden, wie sie weiß, bis die Monsunregen die Kanäle überschwemmen und sie auffrischen. »Der Mensch ist echt wie Gold.« Der Satz ist zum Refrain geworden. Sanuk hat ihn sich auf ihre Weise zu eigen gemacht. Jetzt schützt sie ihre Augen vor der blendenden Sonne, während sie die hoch über den Hütten am Ufer aufragenden grauen Mauern des Hauptquartiers der Armee betrachtet. Chamlong sagt, die Wohnungen der Generäle im Innern liegen an Tamarindenalleen. Er weiß solche Sachen. Er sagt, im Polizeipräsidium halten sie politische Gefangene in Bambuskäfigen fest. »Mein Mann ist echt wie Gold.« Zwischen den Hütten am Kanalufer sieht sie zwei Soldaten stehen. Als sie schon ein gutes Stück weiter ist, kann sie noch ihre prüfenden Männerblicke fühlen. Am Ende des Kanals schlüpft das Boot durch eine schmale Fahrrinne in die Weite des Flusses Chao Phya hinaus. Andere Boote, unterwegs zu schwimmenden Märkten, sind mit Obst und Gemüse beladen. Häufig werden sie von siamesischen Mädchen gerudert, die viel jünger sind als sie selbst, mit kaum erkennbaren braunen Gesichtern unter breiten, konischen Hüten. »… eilt Liebe hin zum Lieben«, murmelt sie leise, während der Bootsführer sich das Ostufer entlang durch 48
Wassertaxis und rua rew manövriert, die den riesigen Reis- und Sandbarkassen die Mitte der Fahrbahn überlassen. Leuchtendweiße Türme und goldene Spitzen kommen jetzt auf sie zu, der betörende erste Blick auf Wat Phra Keo, das Kloster des Smaragdbuddhas. Ihr Herz schlägt schneller – nicht angesichts von soviel Schönheit, sondern in der Erwartung, Chamlong dort zu treffen. Das Boot schiebt sich in eine Anlegestelle, Sanuk bezahlt den Bootsmann, gibt ihm das Päckchen mit gai yang als Geschenk und steigt aus. Nach wenigen Schritten gelangt sie in eine überfüllte Gasse, die vom Fluß hinaufführt. Längs des Weges sind Läden, die meisten verkaufen religiöse Artikel, denn nebenan ist das alte Kloster Wat Mahathat, wo die Mönche, wie sie gehört hat, sich nicht nur in Meditation, sondern auch im Gebrauch von Schwarzer Magie üben. Mädchen in der Schule haben ihr das erzählt. Woher wissen sie so etwas? So, wie Chamlong von Gefängniskäfigen und siamesischen Generälen weiß? Spontan ändert Sanuk ihre unmittelbare Absicht und geht eine winzige Gasse hinunter. Den ganzen Lehmweg entlang bieten überdachte Stände auf Regalen Medaillons aus Terrakotta feil. Kunden beugen sich darüber, um die Amulette zu prüfen, während die Händler sie genau beobachten. Sonja mischt sich unter sie; sie will etwas finden, was sie vor Lügen schützt. Schließlich trägt jedes siamesische Mädchen ein glückbringendes Amulett. Aber wie soll sie das richtige aussuchen? Denn wenn es nicht das richtige ist, wird sie überhaupt keinen Schutz genießen, sagt man. Mehr noch: Wenn sie das falsche wählt, wird sie noch eher auf die Lügen junger Männer hereinfallen als bisher schon. Sanuk geht langsam die Reihe der Stände entlang, sie hofft, daß ein Amulett sie besonders fesseln wird. Sie 49
bückt sich, befühlt das Abbild des Gottes Ganesha und fragt sich, wogegen seine schützende Kraft gerichtet ist. Krankheit? Unfall? »Was gefunden?« Sanuk dreht sich zum lächelnden Gesicht des Händlers um – ein dunkles, schnauzbärtiges Gesicht mit einer schmalen Nase und großen Augen, darüber ein schwarzes Tuch, zu einem schlampigen Turban gewunden. Sie erwidert sein Lächeln, zieht aber die Hand von dem Ganesha zurück. »Das ist ein indischer Gott, Ganesha, der Gott der Weisheit.« »Ich weiß.« Sanuk will ihm zeigen, daß sie kein Narr ist. Aber er läßt das Amulett vor ihrem Kinn baumeln. »Indische Götter sind sehr beliebt, sehr stark. Wozu brauchst du einen?« Sein Lächeln wird breiter. »Für die Liebe?« Sanuk betrachtet ihn widerstrebend. Der Händler – vielleicht ein Tamile? – beugt sich verschwörerisch zu ihr. »Kein Grund zur Sorge oder Verlegenheit. So ein hübsches Mädchen und Sorgen?« Seine Hände gleiten rasch über die Auslage und halten bei einem Brett inne. Mit geschürzten Lippen, als dächte er tief über etwas nach, nimmt er etwas und hält es Sanuk entgegen. »Das ist, was du brauchst. Los, schau. Schau es dir genau an!« Das kleine Terrakottaamulett stellt eine Frau dar, die mit untergeschlagenen Beinen auf einer Lotusblüte sitzt und eine Mandoline hält. »Die Göttin der Liebe«, erklärt er ihr. Sanuk versucht, es zurückzugeben, aber der Händler zieht sich hinter seinen Stand zurück und hebt die Hände. »Gehört dir! Ist richtig für dich. Mit der Göttin der Liebe um den Hals bist du sicher. Weißt du, was ich meine? Es ist für dich«, sagt er energisch. »Fünfundzwanzig Baht.« 50
»Zwanzig«, versucht Sanuk zu handeln. Der Händler rollt mit den Augen. »Na, gut. Dreiundzwanzig Baht. Hier. Sie beschützt dich bestimmt.« »Wie heißt sie?« Sonja gibt ihm das Geld aus einem kleinen Beutel, den sie ans Handgelenk gebunden trägt. Dabei hat sich der Händler bereits einem neuen Kunden am anderen Ende seines Stands zugewandt. Sonja tritt zurück, schaut das kleine Amulett genau an und kommt sich dumm vor, weil sie dem Aberglauben erlegen ist. Trotzdem bleibt sie bei einem Stand weiter vorn stehen, der Gold- und Silberketten verkauft. In wenigen Minuten hat sie eine billige, versilberte Kette gekauft. Sie befestigt das Amulett daran und legt es sich um den Hals. Ein paar Jahre zuvor trug sie eine andere Kette, an der ein kleines Elfenbeinkreuz hing. Das war zu der Zeit, als sie die Geschichte von Jeanne d’Arc las. Einmal murmelte Sanuk mit Blick in den Spiegel laut: »Finalement elle se décida à obéir à ses ›voix‹.« Den Stimmen der heiligen Katharina oder heiligen Margarethe konnte sie nicht lauschen, also hörte sie auf ihre eigene Stimme, die ihr sagte, die Kirche des fünfzehnten Jahrhunderts habe schändlich gehandelt, als sie die Jungfrau gräßlich sterben ließ. Als Protest hörte Sanuk auf, das Kreuz zu tragen – die ausländischen Lehrer an der Klosterschule (die siamesischen hielten sich heraus) und ihre Mutter konnten reden und drohen, soviel sie wollten, Sanuk blieb dabei. Keine Kreuze mehr, erklärte sie. Sie behielt nur das eine, das sie selbst aus Zweigen gemacht hatte, und das lag wohlversteckt in der verschlossenen Schatulle. Natürlich ist dieses Amulett ein dummer Kauf, sagt sie sich jetzt. Ein Talisman wird sie nicht schützen, oder? 51
Möglicherweise will sie auch gar keinen Schutz. Was sie wirklich will, ist leben. Wenn Leben Risiko bedeutet, ist sie zum Risiko bereit. Bis zu ihrer Verabredung am Phra-Keo-Tempel ist noch Zeit, also sollte sie vielleicht doch noch zur Universität gehen. Sanuk tritt aus der staubigen Gasse ins weite Oval des Phra Mane. Nach der Enge der Läden und Menschenmengen liegt der weite, leere Raum der Königswiese blendend in der Sonne da. An Wochenenden ist hier fast alles mit improvisierten Ständen vollgestellt. Bauern bringen ihre Produkte hierher, und Tausende kommen, um einzukaufen. Sie war oft und gern mit Mutter hier, aber jetzt kommt es selten vor, daß Mutter sich für solche Sachen Zeit nimmt. Heute sieht man auf dem dürren Gras nur Knäuel von Kindern, die versuchen, ihre kleinen Fledermäuse und Drachen in die unbewegte Luft zu bringen. Vor März oder April, wenn der Wind den Monsun ankündigt, wird es ihnen kaum gelingen. Philip hat ihr einmal einen Schlangendrachen gekauft, und sie gingen mit Mutter hierher, um ihn fliegen zu lassen; sie bekamen ihn keine drei Meter in die Luft und lachten zusammen wie verrückt. Sanuk lächelte in Erinnerung. Sie sehnt sich nach den Aprilwinden, auch wenn sie glühend heiß sein werden. Dieses Jahr will sie unbedingt bei den Wettkämpfen im Drachensteigen zuschauen. Wenn Philip bis dahin zurück ist, will sie ihn mitnehmen. Vielleicht gehen sie alle drei hin, um den Trubel zu erleben: die Händler, die Musikkapellen, die Teilnehmer, wie sie mit ihren Drachen kämpfen. Ein paar der Männer beteiligen sich seit vielen Jahren. Einen lernte sie gelegentlich kennen, einen alten Bauern aus Lopburi. Er führte ein Dutzend Gehilfen an, die einen riesigen, männlichen Drachen in Form eines Sterns im Zaum hielten. Der Bauer zeigte ihr, wie der 52
kleine Haken an seinem großen Drachen den kleinen, weiblichen einfängt und auf das männliche Gebiet herüberzerrt. Er war ein netter Mann. Aber letztes Jahr, als sie mit ein paar Mitschülerinnen hier war, wurden sie rot bei den rohen sexuellen Witzen, die die Jungen über männliche und weibliche Drachen rissen. Und dann spielte eine Kapelle ein Klagelied als Ausdruck der Trauer drüber, daß ein Mann allein mit einem weiblichen Drachen das ganze Team eines männlichen Favoriten ausmanövriert hatte, so daß er den Auftrieb verlor und zu Boden krachte. Sanuk und die Mädchen erhoben ein Triumphgeschrei, aber wenn ein weiblicher Drachen von einem der großen männlichen eingefangen wurde, stimmte niemand ein Trauerlied über ihre Niederlage an. Es ist eine Männerwelt, denkt sie. Sanuk betritt das Universitätsgelände und schaut auf die grauen Gebäude mit ihren Kolonnaden, ihren Bögen und Zwillingsfenstern. Drinnen in den Arbeitsräumen zeichnen Studenten nach Gipsabgüssen oder modellieren in Ton. Was hat sie mit diesen kichernden Mädchen gemein und den Jungen, für die sanuk bedeutet, jemandem ein Insekt in den Kragen zu schmuggeln? Sie fühlt sich ihnen überlegen. Ihr eigenes Leben scheint auf große Ereignisse zuzusteuern. Zum Glück sieht sie am Ende einer Ziegelmauer Lamai allein auf einer Steinbank sitzen, über ein Buch gebeugt. Das ist geradezu ein Omen an diesem bedeutenden Tag: Von allen möglichen Begegnungen die eine, auf die es wirklich ankommt. Sanuk ruft »hallo« und läuft hin. Das kleine, herzförmige Gesicht hebt sich blinzelnd vom Buch. Lamai rückt zur Seite, um Platz zu machen. »Du bist ja ganz außer Atem. Ist was passiert?« Sie fordert Sanuk auf, sich zu setzen. 53
»Nichts. Vielleicht passiert auch nie etwas.« Um ihre geheimnisvollen Worte zu unterstreichen, zieht Sanuk die Kette mit dem Amulett heraus. »Schau dir meine indische Göttin der Liebe an.« »Wo hast du das her?« Lamai berührt das kleine Stück Terrakotta. »Vom Amulettmarkt.« »Wieviel?« Sanuk weiß, daß Lamai gut im Handeln ist. »Fünfzehn Baht«, lügt sie. Das Mädchen prüft genauer und nickt. »Fünfzehn, das geht«, urteilt sie. Lamai läßt das Amulett los. »Wozu brauchst du einen Liebestalisman?« »Den braucht doch jeder«, antwortet Sanuk obenhin. Lamai blickt stirnrunzelnd auf ihr Buch hinunter. »Na?« Sanuk betrachtet sie genau. »Komm schon. Stimmt was nicht?« Lamai schaut sie von der Seite an. »Ich werde heiraten.« »Machst du Witze?« »Wenn der Regen aufhört, werde ich heiraten.« »In ein paar Monaten!« Lamai legt das Buch weg; ihre eine Hand zupft nervös an den Knöpfen ihrer Bluse. Ihre schmalen, knabenhaften Hüften und ihre Taille haben in dem blauen Sarong, den sie trägt, viel Platz. In sachlichem Ton erzähl sie Sanuk, daß der Junge bei seinem Vater arbeitet, der eine große Reismühle besitzt. Seine Eltern sind Freunde ihrer Eltern. Sie und der Junge kennen sich seit dem fünften Lebensjahr. »Sie wohnen in einem Haus am Kanal, unserem gegenüber. Ich kann sein Zimmer von meinem aus sehn.« 54
»Du hast nie von ihm gesprochen«, bemerkt Sanuk vorwurfsvoll. »Es ist mir nie wichtig vorgekommen.« Sanuk ist bestürzt, sie glaubt ihr. »Also liebst du ihn nicht.« »Ich habe ihn mein Leben lang gekannt. Natürlich liebe ich ihn.« Lamai dreht sich um, ihre Augen blitzen auf. »Ich muß ihn nicht heiraten. Ich habe ja gesagt, weil ich eben wollte.« »Aber warum?« »Zuerst einmal, weil dann unsere Eltern glücklich sind. Und weil er mich mag. Das weiß ich. Und weil, wenn ich ihn heirate –« Ihre Stimme wird schleppend, als sei es schwierig, den Gedanken zu vollenden. Sanuk wartet ab, noch nicht imstande zu glauben, daß ihre gute Freundin in ein paar Monaten verheiratet sein wird. Sie kann es sich von fast jedem anderen Mädchen vorstellen, besonders von den Siamesinnen, die unentwegt vom Heiraten reden, aber Lamai hat seit der Klosterschule stets erklärt, daß sie einmal im Archäologischen Museum arbeiten will. »Weil, wenn ich ihn heirate«, beginnt Lamai von neuem, »weil er versprochen hat, daß ich dann fertig studieren kann.« »Versprochen«, wiederholt Sanuk. Sie ist auf siamesischen Hochzeiten gewesen. Am Morgen trägt sich das Paar in das amtliche Register ein. Ein Priester segnet das Hochzeitshaus und spricht die fünf buddhistischen Gebote. Leute kommen, um das Paar mit seinen verzierten Kronen zu bewundern, die durch eine Blumengirlande verbunden sind. Im Sitzen lehnen sich Braut und 55
Bräutigam vor, die Ellbogen auf ein Kissen gestützt, und falten die Hände, über die die Gäste Wasser aus einer Muschelschale gießen. So ist das: heiraten. Ihr ist arg, daß ihre Freundin bald so eine Krone tragen will, verbunden mit der eines Jungen, den sie nicht liebt. »Versprochen also«, sagt Sanuk noch einmal. »Er war immer nett zu mir.« »Aber du bist dir nicht sicher.« »Kann irgendwer sicher sein über irgendwas? Nimm das Leben, wie es ist«, sagt Lamai und dann: »Mai pen rai.« Es macht nichts. Das fatalistische Achselzucken, das bedeutet, daß alles vergänglich ist. Die siamesische Antwort auf alles. Sanuk denkt, daß sie das wohl hundertmal am Tag zu hören bekommt: Mai pen rai. Diese Vorstellung trennt sie, halb Russin, halb Chinesin, von Lamai, der Siamesin. Sie sitzen schweigend da. Sanuk empfindet Zorn, Hilflosigkeit. »Du solltest warten«, erklärt sie unvermittelt. »Dann findet er jemand anders. Und ich würde auch jemand anders finden müssen, und der würde dann vielleicht meine berufliche Laufbahn nicht wünschen.« Lamai sieht Sanuk fest ins Gesicht. »Du weißt doch, viele Männer denken immer noch, wir sind im vorigen Jahrhundert. Sie sind noch nicht über die Zeiten hinweg, als eine Königin ertrinken konnte, weil die Diener die königliche Person nicht berühren durften.« Sanuk lacht. Gut gelaunte Worte von Lamai! »Dein khwan ist in Sicherheit.« Sie berührt den Arm der Freundin. »Er wird nicht erschrecken, von dir läuft er bestimmt nicht weg, du Liebe. Er hat ein gutes Zuhause.« Sanuk steht auf, die Turmuhr sagt ihr, daß es fast Zeit für ihre Verabredung am Wat Phra Keo ist. 56
»Kommst du heute nicht zeichnen?« fragt Lamai. »Ich dachte, du und Pranee –« »Nein. Ich habe Sachen zu erledigen.« »Mit der Göttin der Liebe?« Lamai lacht, runzelt aber gleich wieder die Stirn, als werde ihr bewußt, was das bedeuten könnte. Sanuk macht sich auf den Weg. Als sie Lamais Stimme hört, dreht sie sich noch einmal um. »Sanuk! Sei vorsichtig! Sei bloß vorsichtig. Heute abend auf dem Heimweg lass’ ich einen Vogel für dich frei.« »Laß ihn für dich selber frei.« Sanuk winkt ihr zu und lacht. »Du bist es doch, die heiratet. Du hast es doch nötig!« Auf dem kurzen Weg zum Tempeltor fühlt Sanuk, wie sich ihre Stimmung hebt. Ihre betrübte Reaktion auf Lamais Heirat verwandelt sich in die Unbeschwertheit eines Menschen, der gerade dem unangenehmen Schicksal eines Freundes entronnen ist. Ausgelassen und zuversichtlich betritt sie das Tempelgelände. Gleich hinter dem Tor, im Schatten des Überhangs einer Arkade, bleibt sie stehen und schaut hinaus auf den sonnenbeschienenen Glanz der Mosaiken und goldenen Turmspitzen, die sich ins unendliche Blau erheben. Vor ihr liegt die heiligste Stätte im Wat: der Bot, der den Smaragdbuddha beherbergt; überall entlang der Balustrade und am Eingang sind Gläubige versammelt, die langstielige Blumen und Räucherstäbchen tragen. Sanuk betritt die überdachte Galerie, die den Gebäudekomplex umgibt. Heute hält sie sich nicht vor den Wandgemälden an der Außenwand auf, mit den Szenen aus dem Ramakien, sondern wirft nur einen flüchtigen Blick auf eins ihrer Lieblingsbilder: die Entführung von Sita durch den Dämonenprinzen Taksakan in seinem Himmelswagen. 57
Sie fürchtet, zu spät zu kommen. Als sie das geschlossene Nordtor der Galerie erreicht, ist Chamlong nicht da. Sie schaut sich um, beißt sich auf die Lippen und berührt das Amulett an ihrem Hals. Sie geht an den Rand der Galerie und sieht den vorüberziehenden Besuchern mit ihren Gaben für den Buddha nach. Die geschnörkelten Ornamente an den Enden der Dachbalken des Bot scheinen sich im grellen Sonnenlicht wie Würmer zu winden. Die Dachziegel reflektieren die grelle Sonne wie winzige Explosionen von Licht. Sie darf nicht länger hinsehen, sonst wird ihr schwindlig. Sie läuft auf und ab. Ein Narr war sie, herzukommen, und was für einer! Dann sieht sie ihn, wie er das andere Ende der Galerie entlangschlendert. Er wird von einem jungen Mann begleitet, der sich eine Hand an die Wange hält, als habe er Schmerzen. Doch ihre ganze Aufmerksamkeit gilt Chamlong, der ein schlichtes weißes Hemd und westlich geschnittene, schwarze Hosen trägt. Wie immer trägt er mai pen rai zur Schau – modische Nachlässigkeit. Hauptsache, er ist gekommen … Die beiden jungen Männer beschleunigen nicht ihren Schritt, als sie Sanuk sehen. Chamlong spaziert dahin, Hand in Hand mit seinem Kameraden, wie es bei den Siamesen üblich ist, und sein Gesicht zeigt gewollte Gleichgültigkeit. Typisch Chamlong! Sanuk geht ihnen nicht einen Schritt entgegen. Erst, als sie fast bei ihr sind und Chamlong lächelt, tritt sie einen Schritt vor. »Schon lange da?« Chamlong läßt die Hand seines Begleiters los. »Ich bin gerade gekommen«, lügt Sanuk. Sie kann den 58
Blick nicht von Chamlong wenden, sie vergleicht ihn mit dem Bild, das sie mit sich herumgetragen hat, seit sie sich zuletzt vor zwei Tagen trafen. Seine Augen stehen dicht beieinander, was ihm ein hochmütiges Aussehen gibt; sein ganzes Gesicht, Nase und Mund geradlinig, scheint vereinfacht, nur wesentliche Linien wie bei den Gesichtern, die Sanuk von alten siamesischen Malereien kennt. Nichts Weiches; er hat ein ziemlich vorspringendes Kinn, dazu kleine Ohren, ein Gesicht ohne Rundungen. Sanuk bemerkt tiefe Linien an den Mundwinkeln, als sei die Haut zu straff gespannt. Mit Erleichterung und gleichzeitig mit Enttäuschung stellt sie fest, daß er sich mit dem Chamlong ihrer Phantasie nicht vergleichen kann. Sie sagen nichts, und ihr fällt auf, daß die Jungen vermeiden, sie direkt anzusehen. Sie tun, als seien sie an den Wandmalereien interessiert. Chamlongs Begleiter, die Hand an der Wange, sagt laut: »Ich hasse sie! Sie sind mit chemischen Farben gemalt, sie sind nicht natürlich. Die Perspektive ist westlich!« Chamlong lacht den anderen Jungen aus. »Das hat er gelesen. So macht er das. Er liest etwas und macht es sich zu eigen.« Der Junge zuckt einlenkend die Achseln. »Das ist Somchai«, sagt Chamlong dann. Das Mädchen starrt Somchai ins Gesicht, er starrt zurück. Er ist kleiner als sie und Chamlong. »Was ist mit seiner Backe los?« fragt sie. »Nicht mit seiner Backe«, erwidert Chamlong. »Sein Zahn. Erzähl ihr davon.« Somchai grinst so breit, daß sie Blut in seinem Mund sehen kann. »Ich war heute früh beim Zahnarzt.« 59
»Einem kantonesischen Zahnarzt«, ergänzt Chamlong. »Ich habe ihm gesagt, daß er diesen Leuten nicht trauen soll. Er hätte einen Zahnarzt aus Teochiu nehmen sollen.« Somchai runzelt die Stirn. »In meiner Gegend gibt es keinen.« »Los, erzähl’s ihr«, sagt Chamlong. »Dieser kantonesische Zahnarzt hat mich auf einen Hocker gesetzt und mir die Instrumente aus einer Keksbüchse zu halten gegeben. Der Schemel war gegen die Wand gedrückt, und das war gut so, denn als er anfing, den Zahn abzusägen –« Sanuk verzieht das Gesicht und hebt die Hände. »Hör auf!« »Nur weiter«, sagt Chamlong seelenruhig. »Mein Kopf ging vor und zurück, während er mit so einer Art kleiner Säge sägte –« »Hör auf damit! Ich will’s nicht hören!« »Als er ihn bis zum Zahnfleisch abgesägt hatte –« Sanuk hält sich die Ohren zu, ihr wütender Blick gilt nicht Somchai, sondern Chamlong, der gerade zu lachen anfängt, es sich dann aber anders überlegt. »Ich gehe jetzt ein bißchen herum«, verkündet sie und wendet sich ab. Gefolgt von den beiden, geht sie die Galerie hinunter. »Ich möchte die Kinnorn sehen«, erklärt sie. Somchai antwortet mit einem ärgerlichen, enttäuschten Stöhnen. »Ich mag siamesische Tempel nicht«, stellt er fest. »Alles Gute ist von uns Chinesen kopiert. Alles Schlechte ist von ihnen.« »Ich möchte aber die Kinnorn sehen«, wiederholt Sanuk. »Es ist zu heiß«, jammert Somchai. 60
Sanuk erwartet eine Reaktion von Chamlong, aber es kommt offenbar keine. Erst ärgert sie sich darüber, dann freut sie sich. Vielleicht schämt er sich, weil er ihr die widerlichen Details von Somchais Zahnbehandlung aufgedrängt hat. Sie wendet sich an den Jungen, dessen Gesicht immer noch schmerzverzerrt ist. »Ist Chamlong wirklich dein Freund?« »Warum?« »Ich weiß nicht. Um sein Freund zu sein, müßtest du Geduld haben.« »Ja, wieso?« »Zuerst einmal«, spricht Sanuk weiter, ein wenig rachsüchtig, »denkt er, daß er alles kann.« »Was denn zum Beispiel?« Sanuk lächelt ihm listig zu. »Er denkt, er kann Arm-anArm-Tai-Chi spielen.« »Der?« Somchai grinst; ein feiner Streifen Blut erscheint zwischen seinen Lippen. »Er kriegt ja nicht einmal einen Drachen in die Luft. Und dann will er das können?« Chamlong brüllt: »Ich zeig’s dir!« Und auf der Stelle, hier auf dem Kopfsteinpflaster nicht weit vom Eingang zum Bot, wo die Gläubigen mit ihren Gaben für den Buddha Schlange stehen, spielen die beiden Jungen »Push Hands«. Sie stehen sich nahe gegenüber, berühren Ellbogen und Unterarme mit den Handrücken, lassen ihre Arme unaufhörlich kreisen, bis Chamlong plötzlich gegen Somchais Ellbogen stößt – sanft, wie es scheint –, aber mit so viel gelenkter Kraft, daß der andere das Gleichgewicht verliert und fast fällt. »Vorsicht«, warnt Sanuk, als ein uniformierter Wächter auf sie zukommt. Rasch schießt das Trio die Treppe hinauf zur Plattform und verschwindet aus dem Blickfeld des 61
Wächters. Sie gehen zu einem der Kinnorn hinüber – der vergoldeten Statue einer mythischen Kreatur, halb Vogel, halb Frau. »Die Kinnorn leben in einem Zauberwald am Himalaja«, murmelt Somchai und hält sich wieder die Wange. »Siehst du, was ich meine«, spottet Chamlong. »Er liest etwas und muß es der ganzen Welt erzählen.« »Was tun sie dort im Wald?« fragt Sanuk. »Noch mehr Kinnorn machen«, sagt Somchai mit einem Feixen, das eher ein lüsternes Grinsen ist. Ein gräßlicher Junge, mit seinem verquälten Gesicht, seinem blutigen Mund – und jetzt dieses Grinsen. Sie wünschte, sie hätte nicht den engen Cheongsam angezogen. Mitten in ihre trüben Überlegungen hinein hört sie etwas Wundervolles: Chamlong sagt seinem Freund, er soll sie später am Eingang des Geländes treffen. »Wollt ihr zum Buddha beten, ihr beide?« antwortet Somchai sarkastisch. »Tut das nur. Macht euch mal verdient.« Er stolziert von dannen. Und schon geht Sanuk neben Chamlong die Terrassentreppe zum Bot hinunter. »Wohin gehn wir?« fragt sie zitternd. »Du weißt doch.« »Aber warum hast du ihn mitgebracht?« Chamlong runzelt die Stirn, als sei er enttäuscht, daß sie so etwas fragt. »Du siehst doch, wie es ihm geht. Ich konnte ihn nicht im Stich lassen, als ich ihn so sah, oder? Außerdem sind wir im selben Fußballteam.« »Ich hab’ nicht gewußt, daß du Fußball spielst.« Jungen, die Fußball spielen, haben auf Sanuk immer schon Eindruck gemacht. »Spielst du für eine Mannschaft?« 62
»Natürlich spiele ich für eine Mannschaft. Ich spiele für die Bangkok Friendship Society«, sagt Chamlong mit einem stolzen Lächeln. Sanuk hat von diesem Verein schon gehört – ein chinesischer Spielklub, wo Männer hingehen, um zu trinken und ihr Geld loszuwerden. Die beiden ziehen ihre Schuhe aus und betreten den Tempel, wo der kleine Buddha aus grünem Jaspis, für die Trockenzeit in massives Gold gehüllt, hoch über den Anbetenden auf einem Stufenpodest sitzt. Der Wechsel aus der glühenden Mittagshitze in dieses dunkle Schiff, von Weihrauch geschwängert und nur von Kerzen erleuchtet, würde schon genügen, um Sanuk in eine kontemplative Stimmung zu versetzen, ganz zu schweigen vom Tempel selbst. Noch nie hat sie einen buddhistischen Tempel ohne Ehrfurcht betreten – wenn es ihr dann auch, auf dem Boden sitzend, die Fußspitzen respektvoll vom Götterbild wegweisend, stets gelingt, sich heimlich zu bekreuzigen und einen Rosenkranz zu beten. Sanuk hat die lieblichen Gesichter siamesischer Buddhas schon immer unwiderstehlich gefunden. Sie hat noch einen weiteren, eher persönlichen Grund für stilles Staunen: Chamlong hält sein Versprechen; er hat sie in den Tempel des Smaragdbuddhas geführt, wie er versprochen hat. Sie wirft einen Seitenblick auf ihn und fragt sich, ob seine geschlossenen Augen und gepreßten Lippen wirklich bedeuten, daß er sich ihr weiht. Die Vorstellung ist einfach wundervoll, daß hier, in Gegenwart des Smaragdenen Buddha, wo einem Lügner ewige Verdammung droht, dieser junge Mann sagt: »Ich liebe diese Frau und gelobe, sie immer zu lieben.« Chamlong hat geschworen, daß er das heute tun wird. Sanuk wird klar, daß sie Blumen oder wenigstens einen Räucherstab für den Buddha hätte mitbringen sollen. Sie 63
hat für vieles zu danken, nicht zuletzt dafür, daß ihre Periode gestern zu Ende ging. Sie hätte den Bot sonst nicht betreten, auch nicht mit Chamlong, um Zeuge zu sein, wie er sein Versprechen erfüllt. Neunter Tag des Monats. Günstig, denkt Sanuk, als sie mit Chamlong den Tempel verläßt. Eine Zeitlang wandeln sie schweigend, ernst auf ihre eigenen Gedanken konzentriert. Endlich bleibt Chamlong stehen und erklärt: »Ich hab’s getan.« »Wirklich?« »Hast du es mir nicht angesehn?« »Deine Augen waren geschlossen. Das stimmt.« »Ich habe meine – was ich gefühlt habe – beschworen, vor dem Buddha.« »Du hast es also getan.« Fast hätte sie noch gesagt: »Ich bin stolz darauf«, als ihr etwas einfällt. »Aber du glaubst doch gar nicht an Buddha. Wie kann dein Versprechen da irgend etwas bedeuten?« »Glaubst du denn, ein Versprechen bedeutet mir gar nichts?« »Ja, aber – du hast mir gesagt, du glaubst nicht an Gott, an solche Sachen. Was kann dann ein Versprechen vor dem Smaragdbuddha bedeuten?« Die Strenge ihrer eigenen Logik mißfällt ihr, deshalb setzt sie rasch hinzu: »Jedenfalls hast du es getan.« »Ja, eben! Ich hab’ es für dich getan. Und ich würde es auch wieder tun.« Seit sein Freund fort ist, scheint Chamlong mitteilsamer zu sein. Sanuk lächelt ihn an. »Ich bin froh darüber.« Mit gesenkten Köpfen, wie tief in Gedanken, schlendern sie weiter. Schließlich dreht sich Chamlong um, sein 64
Gesicht ist so verzerrt vor innerer Bewegung, daß Sanuk Angst bekommt. »Dann kommst du also heute mit mir?« Sanuk schaut auf das Pflaster, dann auf ihn und sagt: »Das habe ich nicht gesagt.« »Aber du kommst?« »Wann?« »Heute. Heute, wie wir gesagt haben.« »So was habe ich nie gesagt.« Sanuk wendet sich entschieden ab, als könne sie ihn einfach dadurch beeinflussen, daß sie sich völlig ihrer Umgebung widmet. Sie fragt sich, ob er wohl geht und aufgibt oder aber bleibt und widerspricht. In Wahrheit hat sie nämlich – jetzt gesteht sie es sich ein – eine Art Versprechen gegeben: Wenn er vor dem Smaragdenen Buddha schwört, daß er sie liebt, werde sie vielleicht mit ihm gehen, wohin immer er sagt. Zu ihrer Erleichterung widerspricht Chamlong nicht. Ohne ein Wort kehren sie zum Haupteingang zurück, wo sie Somchai vorfinden, der dort auf dem Marmorrand der Galerie sitzt und sich mit der Hand die Wange hält. Als sie näher kommen, steht Somchai auf und brüllt ohne Vorwarnung einen alten siamesischen Spruch, der bei Betrunkenen an den Spieltischen beliebt ist: »Eine Frau ist wie die Hinterbeine von einem Elefanten!« Ohne Zögern brüllt Sanuk durch die stille Tempelluft zurück: »Ein erwachsener Mann ist ein Kind; eine Frau ist eine Mutter, die für ihn sorgen muß!« Sie wünschte, daß Ah Ping, von der sie das chinesische Sprichwort einst gelernt hat, hier wäre, um mit ihr zusammen zu genießen, wie das Gesicht ihres Gegners sich vorübergehend verdüstert.
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V
om Geländer des Wassertaxis aus sehen sie hinter Somchai her, wie er über den schwimmenden Anlegeplatz eilig im Strudel der Menge verschwindet. Sie fragt sich, ob es an den Zahnschmerzen gelegen hat, daß er sie so haßt. Oder vielleicht wollte er Chamlong für sich allein. Die Art, wie er Chamlongs Hand nahm, als sie den Tempel verließen und zum Fluß hinunter wanderten, brachte sie auf den Gedanken, ob seine Gefühle für Chamlong wohl über Freundschaft hinausgingen. Zwar ist es nichts Besonderes, wenn zwei Jungen oder zwei Mädchen sich an der Hand halten, aber bei Somchai ist es irgendwie anders. Er wand sein Handgelenk um das von Chamlong, als suche er mehr Kontakt. Sie macht sich ihre eigene Eifersucht klar, aber das hindert sie nicht, Somchai ihrerseits zu hassen. Chamlong hat anscheinend das Interesse des Jungen an ihm nicht bemerkt, oder er findet es zumindest nicht unnatürlich. Aber was würde er wohl denken, wenn sie ihm davon erzählte, wie sie damals von der Schlafzimmertür aus ihre Mutter mit einer anderen Frau beobachtet hat – doch das sagt sie ihm natürlich nicht. Sanuk betrachtet ihn scheu. Die Brise vom Wasser her zaust sein widerspenstiges, schwarzes Haar; es ist länger als ihr eigenes. Er hockt da und beachtet sie nicht, während das überfüllte Boot sich am Ufer entlangschleppt. Sie bemerkt Schweiß auf seiner Oberlippe – es sieht aus wie ein Schnurrbart. Sie könnte ihn wegwischen, die Nässe an ihrem Finger spüren, die sanfte Feuchtigkeit seiner Lippen am Ballen ihres Zeigefingers. Was für eine Idee! Zumindest würde sie gern seine Hand halten wie 66
Somchai. Aber das würde auf dem vollen Boot einen Aufruhr verursachen. Zwei alte Frauen betrachten sie ohnehin schon finster, bloß weil sie in Gesellschaft eines Jungen ist. Sie starrt sie kurz an, als wollte sie sagen: »Wißt ihr nicht, in welchem Jahr wir leben?« Spontan greift sie hin und wühlt in Chamlongs ohnehin zerzaustem Haar. Er zuckt erschrocken zurück und schaut sich peinlich berührt um, ob jemand etwas bemerkt hat. Lachend sagt Sonja: »Siehst du, wozu ich imstande bin? Ich habe deinen Kopf berührt. Schau dir die alten Frauen an. Sie denken, ich habe deinen khwan erschreckt, so daß er wegläuft.« Chamlong lächelt nicht, er hält Abstand. Sanuk bleibt bei ihrem Unfug. »Hättest du Angst, wenn ich deinen Kopf noch mal anfassen würde?« Chamlong lächelt verächtlich, hält aber weiter Abstand. »Ich wette, du fürchtest, dem khwan ist erschrocken, weil ich die Stelle berührt habe, wo er wohnt. Du hast Angst, daß er weggelaufen ist und wegbleibt, bis du ihn mit Gebeten zurücklockst.« Sanuk schenkt dem empörten Publikum ein grimmiges Lächeln. »Du wirst jetzt Pech haben. Hol den khwan lieber schnell zurück. Schnell!« Endlich lächelt er – und sie ist bei aller kühnen Unverschämtheit erleichtert. »Wo hast du diese verrückten Ideen her?« fragt er und tritt wieder neben sie, unter den wütenden Blicken der alten Frauen. »Das sind doch siamesische Ideen, oder? Deine Mutter muß dir die Gefahren des Kopfanfassens erklärt haben.« Sanuk weiß von Chamlongs eigener, chinesischer Schwester, daß Chamlong der Sohn der siamesischen Konkubine seines Vaters ist. Sie will ihm auf diese Weise 67
sagen, daß solche Dinge keine Rolle spielen. Chamlong zuckt die Achseln. »Sie glaubt solche Sachen. Ich nicht.« »Das weiß ich. Du glaubst nicht, daß du in die Hölle kommst, wenn du im Angesicht des Smaragdbuddhas lügst.« Als seine dunklen Augen schmal werden, setzt sie schnell hinzu: »Hör zu, ich mache nur Spaß. Laß dir einen merkwürdigen Traum erzählen, den ich heute morgen hatte.« Aber da legt das Wassertaxi an. Die Anlegestelle befindet sich genau gegenüber des Wat Arun auf dem Thonburi-Ufer des Flusses. Die Leute sagen, der Wat Arun sei majestätisch, aber Sanuk hat den Tempel nie gemocht. Sie steigt hinter Chamlong aus dem Boot und blickt zurück auf die Skulpturen von Göttern, Affen und Dämonen, die auf den hohen Mauern des Wat Arun wimmeln. Chamlong geht voraus, sie versucht, ihm mit schnellen Schritten zu folgen. »Findest du den Wat Arun schön? Ich finde den Tempel häßlich.« »Ich habe nie darüber nachgedacht. Er steht einfach da.« Er lächelt sie an. »Ich bin kein College-Junge.« Das gefällt ihr an ihm. Chamlong ist weltmännisch, auch wenn er für seinen Vater in einem Gemischtwarenladen arbeitet. Chamlong ist auch ein Revolutionär – behauptet er jedenfalls –, und diese Vorstellung erregt sie. Sie ist auf dem Weg ins Herz von Chinatown mit einem Revolutionär, unter dem Zeichen des Tigers geboren. Sanuk hat seine astrologischen Zeichen aus dem Brahma Jati gelernt. Jupiter ist in seinem Herzen, das gibt ihm Stolz und Mut. Saturn und der Mond sind in seinen Füßen, also reist er gern, so wie sie auch. Liebe bedeutet ihm viel, und der Brahma Jati läßt vermuten, daß auch er ein 68
besonderes Mal an einer intimen Körperstelle hat … Die Verrücktheit eines solchen Gedankens stimmt sie einen Augenblick froh; sie lächelt in jedes Gesicht, das ihr begegnet. Dann versucht sie, um ihre Albernheit wieder gutzumachen, ernsthaft über den Jungen nachzudenken. Er scheint ihr ehrgeizig zu sein und auf der Suche nach Gerechtigkeit. Wie alle unter dem Tiger Geborenen wird er es im Leben leider nicht leicht haben. Plötzlich verängstigt, zupft Sanuk am kurzen Ärmel seines Hemds. »Wo gehen wir hin?« Anstelle einer Antwort beschleunigt Chamlong den Schritt in eine Menschenmenge hinein, die ständig dichter wird, während sie sich einem offenen Markt nähern. Sie folgt Chamlong durch den Trubel der Lehmgassen, weicht dem Fischwasser aus, das an Ladeneingängen ausgeleert wird. In seiner Hast, vorwärtszukommen – wohin bloß? –, stößt Chamlong mit einem Fischhändler zusammen, der gerade Barschfilets am Haken einer Metallstange abwiegt, die er in der Hand hält. Das herunterhängende Zünglein gleitet die Stange hinunter, fast stößt es den Barsch aus der Waage. Wütend schüttelt der Fischhändler die Faust gegen Chamlong, der ihm mit einer spöttischen tiefen Verbeugung antwortet. Sanuk lacht, seine Dreistigkeit gefällt ihr. Sie möchte seine Hand ergreifen, wagt es aber nicht, auch nicht hier in der Menge, wo es niemand bemerken würde. Frösche hüpfen hilflos in Netzen herum; lebende Barsche mit zuckenden Kiemen liegen auf runden Bambustabletts; Metzger, um die sich Hausfrauen drängen, schneiden Innereien von Schweinen klein. Die Luft, von Geschrei zerschnitten, vom Holzkohlenrauch vernebelt, stinkt nach sterbenden Tieren; inmitten von soviel Gerüchen und Bewegung braucht sie ein wenig Trost und ergreift nun doch seine Hand. 69
Zuerst werden seine Finger in den ihren steif. Er dreht sich um, ihre Blicke begegnen sich, dann löst sich die Spannung in der geschlossenen Wärme ihrer Hände. Sanuk, plötzlich schwindlig vor Freude, läßt sich von ihm aus dem Marktgedränge in einen stilleren Teil von Chinatown führen. »Willst du mir nicht sagen, wo wir hingehen?« fragt sie. »Dorthin!« Und er läßt ihre Hand los. Zwischen kleinen Restaurants steht ein ganz kleiner Tempel, dessen Inneres, von einer einzigen elektrischen Birne erleuchtet, in Rot, der Glücksfarbe, ausgekleidet ist. Chamlong geht am Tempeleingang vorbei zum Restaurant daneben, wo Würste und geräuchertes Geflügel von den ungedeckten Tischen hängen. Auf einem der Tische sind Lotteriescheine in Bündeln unter Glas ausgelegt. Chamlong winkt einen kleinen Jungen herbei, der sofort angerannt kommt und im Laufen seinen Hut, eine Melonenschale, festhält, damit sie ihm nicht vom Kopf fällt. »Gib mir fünf, nein, sechs Tickets«, sagt Chamlong zu ihm. »Fünf ist die bessere Glückszahl«, wirft Sanuk ein. Chamlong nimmt sechs. Also ist er nur stehengeblieben, um Lotterielose zu kaufen. Aber sie irrt sich. Chamlong zahlt für die Scheine und führt sie von der Straße in den hinteren Teil des Restaurants. Ein Mann, der an einem entfernten Tisch Zeitung liest, schaut auf und lächelt kaum erkennbar. »Hab’ ich mich verspätet, Chin Yin-nan? Das tut mir aber leid«, sagt Chamlong mit einer Unbekümmertheit, die darauf schließen läßt, daß er absichtlich zu spät 70
gekommen ist. Er zieht einen Stuhl heran und setzt sich neben den Mann, der fragend Sanuk anstarrt. »Denk dir nichts wegen ihr«, sagt Chamlong und lädt sie ebenfalls ein, sich zu setzen. Er wirft einen Blick über die leeren Tische und zu dem alten Mann, der in einem Sessel hinter der Theke schläft, den Kopf gegen die Wand gelehnt. »Hör zu«, sagt Chamlong, beugt sich vor und spricht leiser. »Sie ist nicht wie andere Mädchen.« Sanuk möchte ihn augenblicklich dafür umarmen, daß er sie verteidigt. Chin starrt sie mit kalten, prüfenden Blicken an. »Sie ist aus Schantung, weißt du«, fügt Chamlong hinzu. »Mein Vater ist dort geboren«, erklärt Sanuk rasch. Mit schmalem Gesicht, ebenso schmalen und intelligenten Augen hat Chin sich ihr zugewandt und schaut sie genau an, ohne eine Gemütsregung zu zeigen. »Und deine Mutter?« »Das Mädchen ist in Ordnung, Chin Yin-nan.« Sanuk gönnt Chamlong keinen Blick, während er sie in Schutz nimmt, sondern starrt Chin Yin-nan unverwandt an. Chin Yin-nan ist älter als Chamlong, vielleicht schon dreißig, und hat ein typisch südchinesisches Gesicht: stupsnäsig, bohnenäugig, die Haut fast dunkel wie die eines Siamesen. »Meine Mutter ist Russin.« »Woher in Schantung war dein Vater?« »Tsinan. Und dann Küfu.« Fast hätte Sanuk noch gesagt, daß ihr Vater ein berühmter General war, aber Chin hätte ihr vielleicht nicht geglaubt. Außerdem wissen die Nanyang-Chinesen von Südostasien wenig über die Geschichte des Festlandes. Sogar Chamlong bei aller vorgeblichen Liebe zur Revolution und seinem Interesse am Krieg hatte nichts von General Tang Schan-teh gehört. 71
Sie braucht sich aber nicht weiter zu verteidigen; sie gerät in Vergessenheit, während die beiden Männer sich zueinander beugen und im Flüsterton von Politik sprechen. Chamlong hat ihr alles mögliche erzählt: von den Siamesenbanden wie den Schwarzen Elefanten und den Tusks und Jüngern Buddhas im Sold der Regierung, die sie dafür bezahlt, daß sie überall in Bangkok antichinesische Anschläge anbringen; von der bevorstehenden Konfrontation zwischen der Regierung und der chinesischen Bevölkerung auf der Straße; daß die Chinesen in diesem Land kämpfen müßten, um zu überleben. Sanuk hat sich stets gefragt, ob er die Gefahr nicht übertreibt, wenn er ihr so schreckliche Aussichten ausmalt: Die siamesische Regierung habe vor, den Ankauf von Land durch Chinesen weiter zu beschränken; das Handelsministerium plane eine Revision der Regelungen des Reishandels, damit nur noch siamesische Firmen Reis mahlen und sortieren können; siamesische Händler würden den ganzen Fleisch- und Tabakmarkt beherrschen; Premierminister Phibun werde die chinesischen Kaufleute ausbluten und dann Kulis aus ihnen machen. Jetzt sprechen die Männer vom Erziehungswesen in Bangkok. In Zukunft wird die chinesische Sprache aus dem Unterricht verbannt. Das Unterrichtsministerium wird die Eröffnung neuer chinesischer Schulen unterbinden und die alten polizeilich inspizieren. Das bedeutet schlicht, daß die Regierung erniedrigende Razzien in chinesischen Schulen durchführen wird. Chamlong schaut sie immer wieder an. Bin ich ihm wichtig? fragt sie sich, während sie der Unterhaltung zu folgen versucht. Es geht jetzt um die Schließung des Mahachon, eines kommunistischen Verlags in Bangkok. Einmal hat sie mit angehört, wie Mutter beim Dinner mit Ausländern über den Verlag sprach. Ein britischer Bankier 72
erklärte: »Mahachon ist eine Kraft der Anarchie in diesem Land. Weiß Gott, Siam braucht zu seinen anderen Problemen nicht auch noch rote Propaganda.« Und jetzt sagt Chin, daß die Regierung den Verlag geschlossen hat und sein Chefredakteur sich vermutlich in Polizeigewahrsam befindet. Chamlong bestellt bei einem anderen kleinen Jungen mit einem schwarzen Käppchen Tee und bittersüße Reiskuchen. Chin erklärt, daß der Chuan Min Pao noch erscheint, eine Zeitung, die zwar nicht kommunistisch, aber doch zumindest gegen die Kuomintang sei. Der Premierminister wird sie nicht schließen, weil ihm die Politik in China gleichgültig ist, der chinesische Bürgerkrieg ist für ihn ausschließlich Sache der Chinesen. Phibun interessiert nur, was die Chinesen hier in Siam treiben. Das ist Politik, denkt Sanuk; das ist die Realität. Bewundernd blickt sie auf die beiden Männer, stolz auf ihren Chamlong. Chin besteht darauf, ihn auf chinesisch Ho Jin-shi zu nennen, den Goldenen Drachen. Ihr »Mann, so echt wie Gold«, ist der Goldene Drache. »Wo ist dein Freund?« fragt ihn Chin plötzlich. »Somchai fühlt sich heute nicht gut. Er ist nach Hause gegangen. Er hat einen bösen Zahn.« Chamlong grinst und macht eine Gebärde, als säge er an seinem Mund. »Mir geht’s auch nicht besonders gut«, sagt Chin. »Hab’ was Falsches gegessen.« »Somchai sollten wir besser vergessen«, sagt Chamlong. »Wieso das?« »Somchai will keinen chinesischen Namen verwenden. Nicht einmal mir gegenüber. Er ist nur so lange Chinese, 73
bis er es beweisen muß. Wenn es Schwierigkeiten gibt, wird er wieder zum Siamesen. Wie sagt unser altes Sprichwort? ›Tausend Freunde werden mit dir essen, aber kaum einer will mit dir sterben.‹« Sanuk hält zurück, was sie weiß: Das Sprichwort ist nicht chinesisch, sondern siamesisch. Ihre Begleiter diskutieren inzwischen über Expremierminister Pridi, von dem es heißt, er sei nach China geflohen, wo er hofft, seine politischen Kräfte neu zu gruppieren, um eines Tages die Macht in Siam zurückzugewinnen. »Wir brauchen ihn jetzt!« ruft Chamlong laut und schlägt so auf den Tisch, daß der alte Mann hinter der Theke aufwacht. Chin sagt kalt: »Sei vorsichtig. Wo Pridi ist, geht dich nichts an. Sprich nicht von ihm, erwähne nicht seinen Namen. Und verteidige ihn nicht in der Öffentlichkeit. Wir wollen nicht, daß du im Gefängnis landest. Verstanden?« Chamlong nickt mürrisch. Sanuk findet, daß sie Chin Yin-nan nicht mag. Gerade hat er Chamlong zurechtgewiesen, nur weil er leidenschaftliche Teilnahme am Schicksal eines prochinesischen Patrioten gezeigt hat. Abrupt fragt sie Chin Yin-nan nach seinem astrologischen Symbol. Ihre plötzliche Einmischung erstaunt ihn, aber er sagt ihr doch, daß er ein Pferd ist. Sie hätte sich das denken können. Das Pferd hat ein schlechtes Naturell; diese Menschen können ihre Schwächen nicht zugeben und übernehmen sich ständig. Sie hassen das Reisen. Und an der Liebe sind sie nicht interessiert. Während sie über die Bedeutung von Chins Symbol grübelt, haben die Männer ihr Gespräch wiederaufgenommen. Es geht jetzt um Chamlongs Vetter, 74
jemand, der aus Kanton kommt. Sie stückelt ein paar Informationen zusammen: Dieser Vetter ist ein Journalist, der hier politische Flugblätter schreiben soll, sobald die Druckmaschinen von Mahachon wieder aufgestellt sind. Chamlong wird ihn verstecken, bis die kommunistische Partei eine ständige Bleibe für ihn findet. Chamlongs Vetter will sich vorsichtig in die Welt von Bangkok einschleusen; deshalb ist Chamlong so wichtig – sein Vetter wird ihm vertrauen. Politik. Intrige. Gefahr. Heute, denkt Sanuk stolzgeschwellt, bin ich Zeuge einer Zusammenkunft zwischen Männern, die gegen die Unterdrückung kämpfen. Sie lächelt Chamlong zu – Ho Jin-shi, Goldener Drache. »Sei vorsichtig bei deinem Vater«, sagt Chin. »Keine Sorge.« »Ich mach’ mir aber Sorgen. Wenn er alles herausfindet, wer weiß, was er dann tut? Wie bist du heute von der Arbeit freigekommen?« »Ich habe ihm gesagt, daß ich den Warenbestand von einem Schiff im Hafen prüfen muß. Ich bin aber schon seit einer Woche nach der Arbeit hingeschlichen und habe die Inventur Stück für Stück gemacht, also bin ich heute frei. Keine Sorge, mit meinem Vater werde ich schon fertig.« »Also gut«, sagt Chin mit einem Seufzer. »Aber wenn du Dummheiten machst und die Polizei eingeschaltet wird, können wir dir nicht helfen.« »Ich weiß das.« Chamlong wirft Sanuk einen stolzen Blick zu. »Ich würde nicht darum bitten.« Chin rülpst. »Es müssen die Shrimps von gestern abend sein.« Chamlong steht auf, gibt Sanuk einen Wink und wirft 75
einen Baht für Tee und Kuchen auf den Tisch. »Mach dir keine Sorgen wegen mir. Auch nicht um meinen Vetter. Wenn er kommt, weiß ich, was ich zu tun habe. Bei einem Besuch vor ein paar Jahren hat er mir mal gesagt: ›Kleiner Vetter, du bist mir der Liebste aus der Familie. Dein Vater und mein Vater und alle übrigen behandeln dich ungerecht, weil sie mit ihrer kapitalistischen Mentalität auf Menschen herabschaun, die kämpfen.‹ Er hat zu mir gesagt –« »Genug jetzt.« Chin sieht sich ängstlich um, obwohl die anderen Tische leer sind. »Sprich nicht wieder von ihm.« »Keine Sorge. Ich würde seinen Namen bis zum Tod bei mir behalten, wenn es sein muß.« Chamlong lächelt, als hätte er gerade vor seinen Folterknechten damit geprahlt. Von seinen Worten hingerissen, muß Sanuk wieder an die anderen Worte denken: »Der Mensch ist echt wie Gold.« »Chin Yin-nan war Soldat in der thailändischen Freiheitsbewegung«, sagt Chamlong im Weggehen. »Mein Stiefvater war im Krieg. Er war ein Held in Burma.« Sie weiß nicht, ob das wahr ist, aber die Worte klingen gut. »Ach, dieser Farang«, sagt Chamlong verächtlich. »Ich glaube, er kommt nach Siam zurück. Wenn ja, dann mußt du ihn kennenlernen. Als Soldat könnte er uns helfen.« Chamlong bleibt stehen. »Wir wollen keine Farangs dabei haben.« Er starrt die Straße hinunter. Plötzlich wendet er sich ihr zu, und Sanuk sieht, daß seine Lippen beben. »Nun?« fragt er. 76
Sie versteht nicht, wonach er fragt. Oder eher: Sie versteht, aber fürchtet sich zu antworten. »Ich weiß nicht recht«, sagt Sanuk lahm. Chamlong steuert vom Trubel auf der Straße weg auf eine Passage zu. »Ich habe mein Versprechen gehalten.« Sanuk fingert an ihrem Amulett herum. »Nicht heute.« »Ich habe mein Versprechen gehalten«, beharrt er eigensinnig. »Aber nicht heute. Ich muß … es mir überlegen.« Sie starrt auf ihre schmutzigen Schuhe. »Mein Versprechen war mir ernst.« Sanuk blickt auf und erschrickt über sein verletztes Gesicht. »Ich weiß, daß du es ernst gemeint hast.« »Fühlst du auch so?« »Ja. Genauso.« »Gut, dann laß es uns heute entscheiden.« Sanuk schaut sich um. »Was willst du, was ich tun soll?« »Komm mit mir.« »Aber – kennst du ein Hotel? Ich meine, weißt du, wie man –« Sie will und kann ihn einfach nicht ansehen. »Du meinst, ich weiß nicht, wie man ein Zimmer nimmt?« Seine Stimme wird plötzlich männlicher. »Man sagt einem Krokodil nicht, wie es schwimmen soll.« Er hat schon früher mit Frauen geprahlt, und sie möchte ihm glauben, sie möchte, daß er ein Mann mit Erfahrung ist. Sie spürt, wie sie vor Unsicherheit zittert. »Heute früh hab’ ich von einem Krokodil geträumt. Es hat mir keine Angst gemacht.« »Komm doch. Komm mit. Du bist heute von zu Hause losgekommen und ich auch. Ich hab’s versprochen, und ich hab’ getan, was ich versprochen hab’. Komm jetzt mit 77
mir, wie du gesagt hast.« »Das hab’ ich nie gesagt.« Aber als er weitergeht, holt sie ihn ein und fällt in den gleichen schnellen, entschlossenen Schritt. Sie überlegt nicht, sie läßt keine Gedanken zu. Wie die Siamesen sagen: Mai pen rai. Sie braucht sich nicht zu sorgen. Es gibt keinen Grund zur Angst, und wenn doch, dann muß sie tapfer sein. Ihre Mutter sagt immer: »Was deinen Vater in jenen schrecklichen Zeiten von anderen Männern unterschieden hat, war seine Unabhängigkeit. Die hatte er von seinem eigenen Vater. Dein Vater hat einmal zu mir gesagt: ›Mein Vater hat daran geglaubt, daß ein Mann auf seine eigene Weise atmen muß.‹ Das war damals ein gefährlicher Gedanke, denn die Menschen waren sich ihrer nicht sicher. Das macht der Krieg mit den Menschen – zerstört ihr Selbstvertrauen. Aber dein Vater war nicht aufzuhalten. Er ging seinen eigenen Weg. Er hat auf seine eigene Weise geatmet.« Auch eine Frau sollte auf ihre eigene Weise atmen, denkt Sanuk. Sie muß den Mut beweisen, der einer Tochter des Generals Tang Schan-teh würdig ist. Sie stehen vor einem dreistöckigen Gebäude in irgendeiner Nebengasse der Chareon Krung Road, wo alle Schilder in Chinesisch sind. In den letzten paar Tagen hat sie sich vorgestellt, wie sie mit Chamlong ein Hotel betritt – allerdings ein großes Hotel, so wie das Oriental, mit dem Namen groß aus vergoldetem Stuck und zusätzlich in Neonbuchstaben. Dies hier dagegen ist trostlos und schäbig – eins der berüchtigten Hotels, die von den Mädchen in der Schule kichernd so bezeichnet werden wie von den amerikanischen Soldaten in Bangkok nach dem Krieg: 78
»Short-time« – Stundenhotel. Auch Chamlong blickt stirnrunzelnd auf den schmalen Eingang, den blätternden blauen Putz. Sein Selbstvertrauen scheint zu schwinden, während sie dastehen. Sie ist drauf und dran, sich umzudrehen und wegzurennen, als er wie aus einem zornigen Entschluß heraus fast verzweifelt nach ihrem Arm greift und sie auf die Tür zuschiebt. Seine Entschlossenheit erleichtert sie. Sie geht willig mit. Sie hört, wie der Portier im Jammerton das Geld im voraus verlangt. Sie weiß nicht, wie lange sie gewartet hat, bis sie wie von fern Chamlongs Stimme hört, als er sie bittet, mitzukommen. Sanuk wagt keinen Blick zurück zum Tresen mehr, sie folgt der schlanken Gestalt des jungen Mannes eine wackelige Treppe hinauf. Chamlong hält in der einen Hand den Zimmerschlüssel, der an einem fußlangen Holz befestigt ist, in der andern ein paar Handtücher. Sie denkt an Hotels in Penang, Kuala Lumpur oder Singapur, wo sie mit Mutter gewesen ist. Die Handtücher waren immer auf den Zimmern, wenn sie ankamen. Hier gibt sie der Portier am Tresen aus, und das berührt sie peinlich. Die ganze Situation erscheint Sanuk so erniedrigend, daß sie beinahe kehrtmacht und die Treppe hinunterrennt, aber sie steigt weiter hinauf, langsam immer weiter. Oben in dem jämmerlichen Flur kommt ihnen eine alte Frau entgegengewatschelt – Sanuk erschrickt einen Moment, weil sie Ah Ping so ähnlich sieht. »Essen, Sir? Drinks?« Auf ihrer Bluse sind Flecken, ihren schwarzen Pyjama hält eine Schnur um die fette Taille zusammen. Sanuk schaut in die Augen der Frau, trübe, blicklose, feuchte Augen. »Drink? Was wünscht der Herr?« insistiert die Frau und läuft Chamlong den Flur hinunter nach. 79
Chamlong dreht sich rasch um und drückt ihr mit verzweifelter Miene ein paar Baht in die Hand. »Da. Geh weg. Geh bloß weg.« Chamlong fummelt mit dem langen Stück Holz, die alte Frau schaut zu und hat offenbar nicht die Absicht, zu gehen. Endlich gelingt es Chamlong, aufzuschließen, und er öffnet die Tür. »Sir, ich bringe Ihnen und dem Mädchen gern eine Flasche Mekong-Whisky.« Sanuk folgt Chamlong ins Zimmer, dreht sich um und wirft die Tür vor dem alkoholgedunsenen Gesicht der Frau zu. Das Zimmer ist fast leer bis auf ein Bett ohne Kissen, nur mit einem angegrauten Baumwolltuch bedeckt, einen Stuhl mit steifer Lehne und eine alte, hüfthohe Kommode. Ein ausgefranster Wandschirm aus Pergament verdeckt irgend etwas in der Ecke. Sanuk blickt dahinter und sieht einen offenen Abfluß – die Toilette –, einen großen Krug mit Wasser und einen schadhaften Spiegel, in dem ihr düsteres Gesicht wie aus Meerestiefen aufsteigt. Als sie sich wieder umwendet, sitzt Chamlong auf dem Bett, die Hände im Schoß verkrampft. So, wie er dasitzt, mit niedergeschlagen gebeugtem Rücken und gesenktem Kopf, überkommt eine bestürzte Sanuk die Ahnung, daß er nie zuvor in einem »Short-time«-Hotel gewesen ist. Ein starkes Mitgefühl für Chamlong erfaßt sie und bringt sie dazu, sich still neben ihn zu setzen. Sie schweigen beide, und auf einmal hört sie den Lärm von der Straße unten, klingelnde Glöckchen, Schreie der Händler, klappernde Töpfe, das ferne Röhren des motorisierten Verkehrs auf der Chareon Krung Road. Mutters Antiquitätengeschäft ist kaum einen Kilometer 80
von hier. Sie brauchte nur aufzustehen, denkt Sanuk, und zur Tür hinaus an der betrunkenen Amah vorbei die Treppe hinunter und vorbei an dem sanft dreinblickenden Portier zu gehen. Sie könnte einen Samlor herbeirufen und innerhalb weniger Minuten den Eingang von »Siamese Arts Oriental« erreichen. Sie sieht Mutter vor sich mit ihrer Brille, wie sie lächelnd von einem großen Kontobuch aufsieht. »Ich möchte hier nicht bleiben«, sagt sie leise und entschieden. Chamlong antwortet nicht, scheint nicht zu hören. »Ich will hier nicht bleiben.« Aber sie verläßt seine Seite nicht. Dann fühlt sie etwas – eine Wärme – auf ihrer Hand, die auf dem Bett liegt. Sie sieht hinunter auf Chamlongs Hand, die ihre Hand bedeckt. Sie spürt, wie die Wärme seiner Finger sich durch ihre Haut stiehlt; die Wärme scheint bis auf die Knochen vorzudringen. Sie weiß nicht, was sie von seiner Berührung halten soll. Diese Nähe erschreckt sie. Gleichzeitig fühlt sie sich besser. Er ist da, wirklich da, neben ihr. Sie sind zusammen. Sanuk schöpft Luft, zieht ihre Hand unter seiner weg und deutet zur Tür. »Ich glaube, die alte Frau ist da draußen und lauscht. Geh und sieh nach.« Während Chamlong gehorsam aufsteht und zur Türe wandert, wo er das Auge ans Schlüsselloch hält, fragt sich Sanuk, was sie jetzt machen soll. Viel Zeit zum Nachdenken bleibt ihr nicht, denn Chamlong schüttelt den Kopf und setzt sich wieder genau dorthin, wo er vorher saß – in derselben gebeugten Haltung nimmt er wieder ihre Hand, als spende sie ihm Trost. »Mein Vater sagt«, beginnt er so leise, daß sie ihn kaum verstehen kann, »›bring ihnen bei, wie man ißt, aber sonst bring ihnen nichts bei – dann gehören sie dir‹. Er meint seine eigenen Leute, er meint die Chinesen. Das ist mein 81
Vater. Ich will aber nicht wie mein Vater sein. Außer dem Namen bedeute ich ihm nichts. Ich habe ihm gesagt, daß ich etwas lernen möchte, aber er hat gelacht. ›Arbeite‹, hat er gesagt. ›Deshalb bist du hier bei mir.‹ Er wollte nie etwas für mich.« Chamlong betrachtet sie von der Seite. »Bis sein Sohn ›Nummer eins‹ starb, hat er nie an mich gedacht. Aber als Eins starb, blieben ihm nur drei Töchter und ich – sein Sohn von einer Siamesin, die er seit fünf Jahren nicht gesehen hatte. Er kam zu uns und sagte zu meiner Mutter: ›Mein Junge ist tot, also gib mir Chamlong. Ich werde ihn wie meinen eigenen Sohn großziehn.‹ Sie konnte sich nicht weigern – was hätte sie auch machen sollen? Also gab er ihr Geld für mich. Ich arbeite für ihn. Jetzt bin ich seine Nummer Eins, aber ich hasse ihn. Ich will nicht der Sohn meines Vaters sein. Ich will – ich weiß nicht, was ich will.« Er wendet sich ihr zu und nimmt ihre beiden Hände in die seinen. »Es war mir ernst heute mit dem, was ich im Wat Phra Keo zum Buddha gesagt habe. Ich hab’ ihm gesagt: ›Dieses Mädchen ist meine khwan fa. Sie ist meine tee rahk.‹« Bis zu diesem Augenblick haben sie chinesisch gesprochen, aber khwan fa und tee rahk hat Chamlong in thai gesagt, mit einer sanften Stimme, so, wie er wohl mit seiner Mutter gesprochen hat, stellt sich Sanuk vor, mit einer Siamesin, die ihm beibrachte, wie man etwas Schönes sagt, »meine Geliebte, meine Liebste«. Sanuk lehnt sich gegen ihn, Kopf an Kopf. Er läßt ihre Hände los, aber nur, damit er Sanuk fest in die Arme nehmen kann. Sie fühlt das Zittern in seinen gespannten Muskeln. Eine Zeitlang bleiben sie so; so lange, bis ihr Herzschlag sich genügend beruhigt hat, daß sie wieder denken kann – eine Entscheidung treffen kann. »Du hast dein Versprechen gehalten.« Sie entzieht sich ihm und sieht 82
ihm prüfend ins Gesicht. »Geh hinter den Wandschirm. Geh. Komm wieder, wenn ich rufe. Geh«, sagt sie und gibt ihm einen sanften Stoß. Als er hinter dem Wandschirm verschwindet, fühlt Sanuk eine Beklemmung in der Brust. Sie steht auf und atmet tief, ehe sie den gelben Cheongsam abstreift. Sie legt sich hin. Noch ist sie nicht bereit, ihn zu rufen. Nicht, bevor sie sich ruhig fühlt, ehe ihr klarer geworden ist, was jetzt vor sich geht. Die eine Hand am Amulett, streicht sie mit der andern ihre nackte Hüfte entlang, hinauf zur Wölbung ihrer Brust. Ihr Atem ist regelmäßiger geworden. Das Amulett erwärmt sich in ihrer Hand, ihre Atemzüge werden noch ruhiger. Jetzt ist es gut, sagt sie sich. Sie bemüht sich um eine feste Stimme und ruft laut: »Komm her.« Sie spürt, wie er hinter dem Wandschirm hervortritt. Er ist stehengeblieben, um sie zu betrachten. Langsam läßt sie das Amulett los und legt beide Arme neben ihren Körper. Auch er ist nackt. Ihr Blick ruht auf seinen Lenden, auf den Bällen, die sich da rund und stramm und glänzend unter das Mann-Ding schmiegen, das nun aus einem seidigen Gewirr von Haaren ragt. Während er einen Schritt vortritt, kommt ihr das schwingende Glied wie eine Waffe vor, wie etwas zum Fürchten. Er ist so nackt, denkt sie, so bloß. Die Angst des Augenblicks weicht der Neugier. Er steht neben dem Bett, über ihr, der Anblick ihrer Nacktheit läßt sein Glied steifer werden. Ohne Aufforderung, ohne zu denken greift sie hin, einen Finger sanft hinter der Spitze, an deren Spalt ein Tropfen Flüssigkeit wie eine Glasperle erscheint. Ihre Finger schließen sich um ihn – denn das ist Chamlong, im Augenblick ist er nichts als das – und bewegen sich in der ungelernten Bewegung der Liebe, auf und ab, bis sie in 83
ihren Fingerspitzen warmes Leben spürt, eine starke, pulsierende Bewegung wie von Muskeln, als er unter ihrer Liebkosung noch wächst. Sie ist ganz bereit, sich vorzubeugen und sein Gewebe auf ihrer Zunge zu fühlen, aber Chamlong entzieht sich ihr auf einmal voller Ungeduld, er will selbst aktiv werden. Er kriecht auf das Bett und legt Sanuk mit sanftem, aber festem Druck auf den Rücken. Er legt sich auf ihre Mitte, schiebt mit beiden Händen ihre Schenkel auseinander – die nur darauf gewartet haben – und stößt tief hinein. Sie fühlt, wie er eindringt. Das ist es, worüber sie in ihrem Bett in den heißen mondhellen Nächten von Bangkok nachgedacht hat, etwas, was sie leidenschaftslos betrachtet hat, als ginge es ganz einfach um den Inbegriff des Lebens selbst. Sie hatte versucht, sich vorzustellen, wie das Ding in ihrem Körper verschwindet, und gleichzeitig, wie es sich anfühlen würde. Trotzdem ist sie auf die Wirklichkeit nicht vorbereitet, auf das ungeduldige Einrammen, auf den Schmerz und die Überraschung dabei. Nach ein paar Augenblicken merkt sie, daß Chamlong sich über sie gekauert hat, auf beide Ellenbogen gestützt, den Kopf an ihre rechte Wange gelegt. Warum die rechte? denkt sie, und gleichzeitig wird ihr der stetige Rhythmus bewußt, mit dem sein Körper gegen ihren eigenen schlägt. Nun soll sie sich wohl diesem Trommelschlag anpassen, aber die Bewegungen seines Körpers werden unsteter, schneller. Sein Körper ist wie eine Maschine, die in Schwung kommt. Sie beschleunigt sich, bis Sanuk nicht mehr mitkommt, nur daliegt und den Rhythmus sich selbst überläßt. Dann, plötzlich, fühlt sie, wie ihr Körper sich selbständig macht, seinen eigenen Rhythmus sucht. Es scheint – endlich –, als habe sie ihn gefunden, als wachse zwischen ihren Schenkeln ein schnell schlagendes Herz, dessen Puls neue Lust durch 84
ihre Lenden jagt. Aber gerade, als die Spannung sich unfehlbar zur Ekstase steigert, als eben ihre Befriedigung sich dem Gefühl nähert, das sie stets beim Anblick von etwas hat, was sich füllt – wie wenn Wasser an den Rand eines Glases steigt –, gibt Chamlong über ihr einen kleinen Schrei von sich, wie im Schmerz. Sein ganzer Körper wird steif und reglos. Dann scheint er plötzlich in sich zusammenzufallen, und seine Schultern, an denen Sanuk sich die ganze Zeit unwillkürlich festgehalten hat, werden langsam weich, fast fraulich unter ihren sich anklammernden Fingern. Sein Atem an ihrem Ohr geht stoßweise; Sanuk fühlt, wie seine Lippen über ihre Wange streifen. Er entzieht sich ihr jetzt mit einer einzigen raschen Bewegung – etwas so Physisches und Entschiedenes, daß ihr zumute ist, als hätte er bei diesem Versuch, seinen Körper von ihrem zu befreien, ein Stück von ihr selbst losgerissen. Plötzlich ist sie verlassen, viel ferner von ihm als vor der Umarmung. Und doch hat sie ein Gefühl des Triumphs. Sie überwindet ihre Scheu (was leichter wird, als Chamlong sich neben sie wirft, einen Arm übers Gesicht gelegt und heftig keuchend) und läßt einen Finger über ihren Bauch zu ihrem Schoß hinuntergleiten, wo es sich feucht und klebrig anfühlt. Sie hat es also getan: Sie ist von einer Welt in eine andere getreten. Der junge Mann neben ihr, der ihr dabei geholfen hat, ist ihr wahrer, ihr treuer Freund, und sie betrachtet ihn mit tiefer Zuneigung. Erst später, mindestens einen ganzen Tag später, wird sie sich fragen: Liebt er mich? Und wenn die Frage kommt, wird sie sich mit unseliger Lebendigkeit an den trübsinnigen Ausdruck in seinem Gesicht erinnern, als er sich ihr entzog, und über dessen Bedeutung brüten. 85
Aber nicht jetzt, nicht hier und jetzt in diesem Stundenhotel. Sie erhebt sich zögernd, voller Zweifel, wie er wohl reagiert, wenn sie sich von seiner Seite entfernt. Aber Chamlong bleibt mit einem Arm über dem Gesicht liegen. Sie wendet sich von ihm ab, geht hinter den Wandschirm und begießt sich mit Wasser aus dem Krug. Hat ihr Aussehen sich verändert? Natürlich. Es muß so sein. Sie sagt zu der Vertrauten ihrer Phantasie: »Ich habe keine Angst gehabt. Nur ein bißchen. Und ich bin glücklich.« Wenn das Mädchen sie weiter ausfragt, wird sie noch sagen: »Es hat mir gefallen, übrigens. Es war wunderbar. Er ist wunderbar zu mir. Wo? In einem Hotel. Ich kann dir nicht genau sagen, wo, es ist ein Geheimnis, aber es war ein richtig schönes Hotel. Du würdest es kennen, wenn ich es dir sagen würde –« Muß sie weinen? Sie fühlt eine tiefe Erschöpfung; ihr ganzer Körper fühlt sich ausgerenkt und zittrig. Hinter dem Schirm hervor sieht sie mit Erleichterung, daß Chamlong sich das Leintuch um die Hüften gewunden hat. Er sitzt auf dem Bett, vorgebeugt mit zusammengefalteten Händen, wie von einem wichtigen Gedanken gepackt. Sie bittet ihn um ihr Kleid. Chamlong kommt sofort zum Schirm gelaufen und reicht ihr den gelben Cheongsam hinüber. Als sie voll bekleidet ins Zimmer tritt, findet sie ihn in derselben Haltung tiefer Gedankenverlorenheit. Aber als er sich umdreht und ihr entgegensieht, lächelt er freundlich. Freundlich, schüchtern, ernst vielleicht. Geht es Männern so danach? Nun verschwindet er hinter dem Schirm und zieht sich an, während jetzt sie mit gefalteten Händen auf dem Bett sitzt. Sie weiß jetzt, warum er so dagesessen hat. Wie sie auch hat er über das Befremdende 86
von allem nachgedacht – dieses Zimmer, ihre Körper, Nacktheit, die Einfachheit von alledem: etwas in etwas, ein und aus. Sonst nichts. Erstaunlich. Er kommt zu ihr. Ohne einander zu berühren, sitzen sie auf dem Bett, schweigend, während der Nachmittagslärm auf der Straße lauter wird. Chamlong wendet sich ihr zu und sagt leise und scheu: »Was denkst du?« »Ich denke – ich fühl’ mich wohl.« »Ich auch. Du bist –« er sucht nach Worten – »anders. Als andere Mädchen«, setzt er hinzu. »Warst du schon mit anderen Mädchen hier?« »Ich war nie mit jemand hier. Ich meine, nicht in diesem Hotel.« »Aber mit Mädchen anderswo?« Er hebt abweisend die Hand. »Niemand, den ich so mochte wie dich.« Er beugt sich ungeschickt vor, küßt sie auf die Wange, und Sanuk weiß mit intuitiver Sicherheit, daß er kein Mann von Erfahrung ist. Das verrät seine Ungeschicktheit, sein Bedürfnis, sich hinter dem Wandschirm anzuziehen, wie sie es getan hat. Sie ist jetzt froh über seine Unschuld. Oder der Umstand ist ihr jetzt nicht mehr wichtig. Und sie haben endlich miteinander gesprochen, nachdem Sanuk sich hinter dem Schirm verzweifelt eine Zeitlang gefragt hat, ob sie wohl je wieder in der Lage sein würden, miteinander zu sprechen. »Ich möchte von den anderen Mädchen nichts hören«, bemerkt sie jetzt. »Ich werde sie nie erwähnen.« Sanuk fühlt, wie ein Gefühl der Macht in ihr aufsteigt. Irgendwie hat Chamlongs Stimme ihr diese Macht 87
übertragen. Sie prüft dieses seltsame, neue Gefühl und sagt energisch: »Erzähl mir nie etwas von ihnen.« »Nie. Versprochen.« »Ich hasse dieses Hotel.« »Ich auch.« »Ich hasse die alte Frau und den Portier und alles. Ich hasse die Handtücher.« »Nächstes Mal –«, beginnt er mit einem bekümmerten Stirnrunzeln. Er fürchtet, es könne kein »nächstes Mal« geben, begreift sie, und das Machtgefühl durchrieselt sie wieder. »Ja«, sagt sie ruhig. »Nächstes Mal?« Sie sagt es mit Genuß und sieht, wie er erleichtert lächelt, weil sie es gesagt hat. »Nächstes Mal finde ich ein besseres Hotel. Bestimmt.« »Das wäre schön.« Sie nimmt seine Hand, steht auf und zieht ihn mit. »Wir müssen gehn.« Der Glanz der Sonne hat nachgelassen, als sie auf die Straße treten. Das Licht des Spätnachmittags ist gedämpft, wie unter Wasser. Sanuk geht dicht an Chamlongs Seite und bemerkt ein Schachspiel bei der Mauer gegenüber vom Hotel. Männer stehen drum herum und beobachten die Spieler. »Das möchte ich sehn.« Sanuk geht hinüber, sie zweifelt nicht, daß er ihr folgt. Nachdem sie ein paar Minuten zugeschaut haben, fragt sie: »Wer wird gewinnen?« »Der Mann rechts. Wenn ich Zeit hätte, würde ich auf ihn setzen.« »Wettest du auf viel?« Er lacht jetzt ganz entspannt. »Auf alles.« Fast hätte sie gesagt: »Würdest du wetten, daß ich dich liebe?« 88
Aber das könnte zu weit gehen, auch für den Mann, der eben erst mit ihr ins Bett gegangen ist. Ihr Handrücken streift an Chamlongs vorbei. Freude durchdringt sie beim Anblick der Wäsche über der Straße: Langärmelige samfoo-Jacken flattern an Stangen aus Fenstern im ersten Stock wie Vögel ohne Kopf im Flug. Wunderbar. Wieder berührt sie seine Hand. Alles bedeutet ihr etwas: das Schachspiel, die Wäsche, der alte Mann, der Zigaretten aus dem Deckel eines Holzkistchens verkauft, die in schwimmendem Fett ausgebackenen Ecken Bohnenquark, zum Verkauf an einem Eimerhenkel aufgereiht. Fasziniert beobachtet sie einen wandernden Scherenschleifer mit seinem zerbeulten Panamahut, wie er ein Brett auf Rädern schiebt, auf das ein Schleifstein geschraubt ist. Und im Innern eines kleinen Ladens kann sie eine alte Frau sehen, die einem Schreiber gegenübersitzt und ihm diktiert – vielleicht, daß sie zu ihrer Familie in China zurückkehrt. Wunderbar. Alles ist aufregend und wunderbar. Menschen haben gemacht, was wir gerade gemacht haben, denkt sie und sieht Chamlong von der Seite an. Sie haben gemacht, was wir gemacht haben, damit dann all die Menschen hier auf die Welt kamen. Das ist es also, sagt sie sich. Das ist die Liebe. Das ist, was Liebe bedeutet. »Wo gehn wir jetzt hin?« fragt sie. »Wir sollten etwas essen.« »Wunderbar!« Sie folgt ihm zu einer Garküche, wo ein kräftiger Mann und sein kleiner Junge auf aufgebockten Brettern servieren. Sanuk und Chamlong sitzen dicht nebeneinander auf Hockern und essen Hokkien mee. Gierig fällt sie über die Brühe mit Shrimps und Nudeln her; als die Schale leer ist, scheint ihr Appetit eher noch 89
gewachsen zu sein. Sie bestellen on chien, doch als auch der letzte Rest saftiger Austern mit Omelett verputzt ist, wollen sie noch mehr – und landen bei drei Portionen poh piah, müssen aber bei der letzten Frühlingsrolle aufgeben. »Und ich gehe heim zu einem kompletten Abendessen«, erklärt Sanuk lachend. »Wie kann man bloß soviel essen?« Sie lächeln sich an, und Sanuk hat das Gefühl, daß sie sich an diesem Tag noch nie so nahe waren wie jetzt. Langsam gehen sie auf die Chareon Krung Road zu. Sanuk bemerkt einen kleinen Tempel, neben dem eine Frau mit einem Dutzend Vogelkäfigen steht. Sie hat sich hier postiert, weil Leute, die aus dem Tempel kommen, sich vielleicht Verdienst erwerben wollen, indem sie einem Vogel die Freiheit schenken. »Warte«, sagt Sanuk. Sie bleibt stehen, um die Vögel in den kleinen Bambuskäfigen zu betrachten, zumeist Finken. »Ich möchte zwei freilassen.« Sie will gerade ihren Lederbeutel öffnen, da schiebt er ihre Hand weg. »Ich kaufe sie.« Zusammen suchen sie die Vögel aus. Sanuk sieht einen, der rosarot ist bis auf den weißen Bauch, die weißen Flügel und den braungestreiften Schwanz. »Den da.« Die Frau öffnet den Käfig und hält den Bambusrahmen hoch, bis schwirrend ein kleiner Vogel herausfliegt. »Und den da.« Chamlong deutet auf ein grau- und braungestreiftes Weibchen. Als er die Vögel bezahlt hat, sagt Sanuk erneut: »Warte. Eine Freundin von mir heiratet. Für ihr Glück –« Diesmal greift sie in ihren Beutel, nimmt Geld heraus und befreit noch ein Weibchen für Lamai. Am Hauptkanal winkt sie einem Samlor. Chamlong sagt 90
nichts, bis das Dreirad sie fast erreicht hat. Erst dann fragt er mit einer Stimme, die vor Spannung ganz dünn ist, ob sie sich morgen treffen können. Er macht sich etwas aus mir, denkt Sanuk und sagt ihm, er solle mittags am Eingang der Silpakorn University auf sie warten. »Warum gerade da?« fragt er. »Na, gut.« Ist er enttäuscht? fragt sie sich. Wäre ihm ein Hotel als Treffpunkt lieber? Oder liegt es daran, daß er mich an der Universität treffen soll, wo er selbst nicht hingehen kann? Liebe ist nicht so einfach. Von ihrem Sitz aus sieht sie ihn in der Menge stehen. Wohin können wir gehen? Ob er wohl einen besseren Ort findet, wie er versprochen hat? Hält er sein Versprechen überhaupt? Können wir das … was wir heute gemacht haben … noch oft tun? Mit einem Gefühl tiefer Befriedigung sieht sie, wie er zum Abschied winkt. So echt wie Gold …
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V
era Rogatschewa-Embree steht in der Dämmerung vor dem Sal Phrapum, dem Geisterhaus auf ihrem Anwesen. Das hölzerne Gebäude von der Größe eines Puppenhauses steht auf einer Plattform, die in Augenhöhe auf einem Pfosten ruht. Nach siamesischer Anschauung sollte das Sal Phrapum so angebracht sein, daß die Menschen, die ihm Reverenz erweisen, seine Bewohner direkt vor sich haben: all die Pferde und Elefanten und menschlichen Figuren, die sich in den kleinen, weißen Räumen, im Säulengang und im Vestibül drängen. Wie gewöhnlich bringt Vera Blumen und einen Räucherstab als tägliche Opfergabe. Still betrachtet sie im Morgendunst die Gottheiten oder was immer die Versammlung sein soll – die Siamesen haben ihr nie erklärt, was das Sal Phrapum darstellt, nur, daß die Phi darin wohnen – die Geister der Gegend – und einige davon die Geister von Menschen sein könnten, die früher hier gelebt haben, oder launische Wesen, die kommen und gehen, wie der Geist, den Cook ihr einst beschrieb: ein Geschöpf mit einem Mund, klein wie ein Nadelöhr, und der seltsamen Gewohnheit, damit zu pfeifen, während es auf der Brust eines Menschen sitzt. Vera hat den Aberglauben, der zur Tradition des Sal Phrapum gehört, längst hinter sich gelassen; sie hat das Geisterhaus einfach als ihren eigenen Schrein akzeptiert, als sei sie wieder das kleine Mädchen von damals in Petersburg, glücklich inmitten von Ikonen, die ihre Familie seit Generationen erworben und angebetet hat. In eine Ecke des Geisterhauses hat sie sogar eine winzige Gipsfigur der Heiligen Jungfrau gestellt. In Wahrheit aber 92
scheint es Vera, als habe sie Rußland endlich ganz abgetan, ganz und gar, sogar den Alptraum ihres Trecks durch Sibirien – auch wenn sie, alter Gewohnheit folgend, immer noch erklärt: »Ich bin Russin.« In Wirklichkeit ist sie eine Farang, eine der vielen Ausländerinnen und Ausländer, die das Schicksal entwurzelt und hier in diese feucht-heiße »Stadt der Engel« verpflanzt hat. Sie legt die Blumen nieder und zündet den Weihrauch in Verehrung des Herrn des Ortes an, der auf geheimnisvolle Weise nicht nur das Schicksal von Grund und Boden hier regiert, sondern auch derer, die darauf leben. Chao Thi muß sich wohl fühlen, sonst bringt er Unglück über den Haushalt. Um ihn zu besänftigen und zu ehren, hat Vera das Sal Phrapum von einem der besten Erbauer von Geisterhäusern in Bangkok errichten lassen; es steht vom Haupthaus genügend weit entfernt, damit keine Schatten darüber fallen und seine Bewohner stören. Vera steckt ihre Hand in den winzigen Eingang und ordnet zwei kleine Puppen neu, einen Jungen und ein Mädchen, indem sie sie einander etwas näher bringt. Sie hat keine Ahnung, wen die beiden menschlichen Figürchen darstellen, es gibt die verschiedensten Auslegungen. Vera stellt sich unter ihnen gern den General und sich selbst vor, geht allerdings nicht so weit, zu diesem »Geist« zu sprechen – wie Sonja immer wieder behauptet, die absolut überzeugt davon ist, daß ihre Mutter jeden Morgen vor dem Geisterhaus steht und mit ihrem verstorbenen Mann spricht. Vera blickt über den Rasen und durch ein paar Büsche auf die Terrasse aus chinesischen Fliesen – schon seit drei Tagen hat Sonja dort nicht mehr ihr morgendliches Tai Chi gespielt. Vera ist beunruhigt, den Platz leer zu sehen, ohne die hochgewachsene, schöne Tochter in den ruhigen Positionen einer Übung, die sie von einem Toten übernommen haben, den sie beide lieben. 93
Drei Tage kein Tai Chi. Hat Sonja Sorgen? Ah Ping hat sich über das Verhalten des Mädchens, über die geschlossene Zimmertür beklagt. Vera wendet sich dem Geisterhaus wieder zu. Sie hat es so bemessen lassen, daß ein chinesischer Porzellanteller der famille rose hineinpaßt, aber nicht herausgenommen werden kann. Der Teller mit dem Weidenmuster war ein Geschenk des Generals. In jenem schicksalhaften Sommer 1927 hatten sie ihn zusammen in einem Kalligraphieladen in Schanghai entdeckt. Sie kannte die volkstümliche Geschichte seines Musters: Es beschrieb das tragische Schicksal unglücklich Liebender. Sie und Schan-teh waren damals noch kein Liebespaar. Tage später, als es soweit war, schenkte er ihr den Teller und gab ihr eine politische Erklärung der Abbildung als Darstellung des Versuchs chinesischer Patrioten, ihre Mandschuunterdrücker zu stürzen. Während Schan-teh die esoterische Lehre eines Geheimbundes ausbreitete, begriff Vera, welche außerordentliche Richtung ihr Verhältnis einschlug: Dieser Mann opferte seine Ehre der Liebe. Erst später sollte sie die ganze Wahrheit erkennen: Schan-teh sah in dieser Enthüllung keinen großen Vertrauensbruch, weil er nie ganz an die Dogmen des Geheimbunds geglaubt hatte, dem er als junger Mann beigetreten war. In seinen Augen hatte sich die Gesellschaft von anfänglicher Verteidigung chinesischer Werte zu einer Organisation entwickelt, die fast so tyrannisch war wie die Herrschaft der Mandschu. General Schan-teh hätte die Ehre nie der Liebe geopfert. In Gedanken an Schan-teh kommt ihr die gemeinsame Tochter in den Sinn. Seit Sonja von der bevorstehenden Heirat ihrer Freundin Lamai erfahren hat, wirkt sie niedergeschlagen. Beim Essen ist sie zerstreut, dann wieder lacht sie und wird rot und wirkt wie ein Mensch, der vor großen Ereignissen steht. 94
Vera pocht auf den Rumpf des kleinen Gipselefanten, das bringt Glück. In einer seiner vielen Inkarnationen war Buddha ein Elefant, also könnte der Elefant im Geisterhaus den Großen Buddha darstellen. Ihre siamesischen Freunde sind sich da nicht sicher, und, was Vera erheitert, die Frage ist ihnen auch gleichgültig. Sie wendet sich einem kleinen Hain zu, der von lauter Bäumen – Tamarinden, Mangos und Jackbaum – bestanden ist, die in siamesischen Gärten als Glücksbringer gelten. Auf einer Seite hat sie allerdings in einem Akt der Rebellion gegen die Tradition ein paar Jasminbäume angepflanzt. Rosa, weiße und gelbe Blüten häufen sich auf den zarten Zweigen, ein Kontrast zwischen Üppigkeit und Strenge. Siamesen vermeiden Jasmin in einem Privatgarten, für sie ein Baum der Trauer, da die thailändische Bezeichnung lanthom dem Wort für Qual, rathom, ähnelt. Gerade darum hat König Chulalongkorn einen ganzen Jasminhain um das Denkmal seiner verstorbenen Frau gesetzt, die bei einer Bootsfahrt ertrank, weil ihr Gefolge nicht wagte, ihre königliche Person zu berühren. Gerade hat sie das Frühstück beendet und mit Cook das Menü für den Abend besprochen. Obwohl Cook diese Unternehmung haßt, hat Vera sie zum Bahnhof geschickt, wo auf einem Markt die besten malaiischen Bananen von Bangkok verkauft werden. Vielleicht ist es für Vera der mühsamste Teil des Tages, wenn sie sich allmorgendlich nach dem Frühstück als Herrin des Hauses mit Cook wegen des Essens beraten muß. Essen. Es irritiert sie, wieviel Bedeutung es im vergangenen Jahr in ihrem Leben gewonnen hat. Sie ißt Obst oder Fisch 95
und muß dabei an die üppigen, sahnigen Speisen Rußlands denken. Die dünnen Suppen und Fischgerichte von Siam können ihren Hunger nicht stillen. Ihr russischer Gaumen braucht die schweren Mahlzeiten des Winters. Sonja allerdings macht sich mit dem Eifer einer Eingeborenen über das siamesische Essen her. Hunger hat sie nie gekannt, sowenig wie den Traum von Schwarzbrot und dicker Rübensuppe oder die Angst, nie wieder einen aufs äußerste angespannten Magen beruhigen zu können. Vera hält sich in ihrem Schlafzimmer auf, kurz bevor sie sich auf den Weg zum Laden macht. Sie steht am Fenster und schaut auf ihren Besitz hinunter. Es scheint, daß ihr in letzter Zeit nichts soviel Befriedigung gibt wie dieses Haus, das sie vor dem Krieg gebaut hat. Es ist ein elegantes Haus für hiesige Verhältnisse, ein Haus, auf das sie stolz sein kann. Ein Teil ihrer Befriedigung rührt von der Genauigkeit im Detail her. So stammt zum Beispiel jedes Stück Holz aus dem gleichen Wald, damit die Geister, die im Holz wohnen, keinen Streit ins Haus bringen. Sie hat darauf bestanden, daß die Zimmerleute die Astknoten in den tragenden Balken zählen und daß kein Balken mit zwei, vier oder sechs Knoten verwendet werden dürfe. Solch ein Balken könnte gefährlich für das Haus werden. Sie hielt sich an die gegebenen Zeiten für den Bau, ließ den Boden überprüfen und veranstaltete kostspielige Rituale mit Erdwahrsagern und buddhistischen Priestern. Die ganze Nachbarschaft wurde befriedigt Zeuge, wie man Weihrauch verbrannte und Trommeln schlug und Mantras rezitierte, damit ihr Haus angesehen und sicher sei. Vielleicht konnte nur ein Außenseiter den Bräuchen eines Landes so exakt und ohne Fehl Respekt erweisen. Vera hat sich diesem Stück Land und dem Haus darauf ganz hingegeben. Als verwaiste Wanderin hat sie nun 96
ihren eigenen Platz, und so soll es bleiben. Die Wände sind mit Teak verkleidet, und das Haus steht überall den Vögeln offen, die sich über die chinesischen Geländer schwingen und im Innern herumschießen, ehe sie wieder ins Freie fliegen. Als Mobiliar hat sie kleine Porzellanhocker angeschafft, blaßgrüne Vasen aus Chiang Mai, chinesische Truhen mit Intarsien und sogar eine Khmertrommel, mit der man bei Dürre den Regen herbeitrommelt. Zum Erstaunen ihrer Nachbarn hat sie einen elektrischen Lüster installiert, zur allgemeinen Befriedigung jedoch auf Telefon verzichtet. Von dem Geld abgesehen, das sie für Sonjas Ausbildung spart, hat Vera die Gewinne aus ihrem Antiquitätenladen in dieses Haus gesteckt. Mit großer Mühe widersteht sie jetzt der Versuchung, nach unten zu gehen und von Cook einen Imbiß zu verlangen: Schweinebraten und Sahnegemüse, soviel sie nur essen kann. Sie sitzt vor dem Toilettentisch und betrachtet sich im Spiegel. In letzter Zeit hat sie schlecht geschlafen – das lag natürlich an Wanna – und hat deshalb dunkle Ringe unter den Augen wie große Kummerflecken. Letzte Nacht träumte ihr, ein Blitz von Weiß sei plötzlich in ihrem Haar erschienen, der immer größer wurde, als sie versuchte, ihn auszurotten. Vera beugt sich dicht zum Spiegel – Falten sind noch nicht viele da, jedenfalls nicht für ihr Alter. Sie kann die runde Zahl nicht aussprechen, auf die ihr Leben zusteuert: fünfzig. Ein seltsames Wort, fern, unpersönlich, und doch wird es in ein paar Jahren ganz intim mit ihrem Leben zu tun haben, o ja. Etwas auf dem Toilettentisch zieht ihre Aufmerksamkeit auf sich: Philips Brief aus Indien, in dem er um Zuflucht bittet. Nein, vielleicht nicht gerade Zuflucht. 97
Warum möchte dieser Mann wohl plötzlich in ihr Leben zurückkehren? Vielleicht hat Indien ihm keine Abenteuer mehr zu bieten. Sie erinnert sich an ein paar seiner seltsameren Briefe – die sie vor Sonja verborgen hat –, zusammenhanglose und rührende Wanderungen durch seine beschädigte Psyche, wirre Anspielungen auf einen Toten, Harry, einen Freund, den er nicht gerettet, den er also wohl verraten hat. Wenn das stimmt, dann verrät Philip noch immer Menschen. 1927 verriet Philip den General: Er desertierte von der Schantungarmee und flüchtete mit Vera nach Hongkong; und dann, 1939 – angefeuert durch die Versenkung eines amerikanischen Kanonenboots bei Nanking durch die Japaner –, ließ er Vera ebenfalls im Stich. Marschierte aus dem Haus in einer Aufwallung von patriotischer oder visionärer Glut oder aus tiefster Unzufriedenheit heraus über sein allzu ruhiges Leben und lief weg, entschlossen, sich Stilwells »China Gang« anzuschließen. Und so hat er schließlich diesen Burschen, diesen Harry, verraten, und das wohl, soweit man den chaotischen Briefen trauen kann, wiederum durch Weglaufen. Er meint es nicht so, aber jeder, der ihm in den Weg kommt, muß darunter leiden. Philip Embree hat Böses nie mit Absicht getan, sondern einfach durch Unterlassung oder Gleichgültigkeit oder – und das ist das Schlimmste – durch einen komplizierten und verzerrten Ablauf von Schlußfolgerungen. Wenn er spontan handelte, war es am besten; sowie er plante und versuchte, sich den allgemeinen Werten und Verhaltensmustern anzupassen, verlor er, was er wirklich besaß: Energie, Impuls, Leidenschaft. So ist ihr Mann, Philip Embree, der jetzt »nach Hause kommen« möchte, wie er den abwegigen Wunsch nennt, wieder ihr Leben zu teilen. Und was macht Wanna hinter ihrem Rücken? Geht es 98
um einen Mann, vielleicht? Ein hartes Klopfen an der Tür – fordernd und vertraut: so klopft Ah Ping. Ohne auf Erlaubnis zu warten, tritt die kleine Dienerin aus Teochiu ein; ihre Augen über den Tränensäcken blitzen. »Mistress, sie hat es wieder gemacht.« Unwillkürlich lächelt Vera das zornige Gesicht der Alten an. »Das Frühstück verweigert?« »Sie geht nicht aus dem Zimmer. Sie antwortet nicht einmal!« »Ich spreche mit ihr.« »Außerdem schreibt sie in dieses Buch. Jetzt gerade.« »In ein Buch?« »Jeden Tag. Jeden Tag schreibt sie etwas.« »Schaust du hinein, Ah Ping?« »Nichts drin, was ich wissen müßte«, spottet die alte Frau. »Es liegt in der Sandelholzschatulle.« Vera möchte keine weiteren Fragen stellen. Ihre eigene Mutter hat einst eines ihrer Tagebücher entdeckt und den Verschluß aufgebrochen. Vera, damals sechzehn, konnte ihrer Mutter diesen Verrat nie ganz verzeihen, deshalb möchte sie jetzt nicht ebenso handeln. »Ich werde mit ihr über das Frühstück sprechen.« Und mit einem Blick in die ernsten, alten Augen: »Und daß sie grob zu dir war.« »Möchten Sie das Buch sehn? Ich kann es holen.« »Auf keinen Fall. Verstehst du? Rühr das Buch nicht noch mal an, Ah Ping.« Die Zurechtweisung verhärtet Ah Pings fleckiges Gesicht. »Sie sind die Herrin hier im Haus.« Das sagt Ah Ping immer, wenn sie meint, Vera ihrerseits habe eine 99
Zurechtweisung verdient. Die alte Dienerin dreht sich um und marschiert hinaus. Vera erhebt sich mit einem Seufzer und geht ebenfalls. Am Ende des getäfelten Korridors ist die geschlossene Tür von Sonjas Zimmer. Seltsam, aber Vera fühlt zum erstenmal, wie bedrohlich diese Tür sein kann. Was soll sie dem Mädchen sagen? Was gibt es da zu sagen außer, sie möge bitte höflich sein zu einer alten Frau, die ihnen über achtzehn Jahre lang treu geblieben ist? Vera zögert, ehe sie anklopft. Wie soll sie heute ihre Tochter ansprechen? Sonja? Zweifellos wird sie mehr erreichen, wenn sie den Kosenamen »Sanuk« benutzt. Während sie nach dem Türknauf greift, fällt ihr der Tag wieder ein, als sie diesen Namen zum erstenmal benutzte: Das Mädchen war im Garten und lachte einen Affen aus, der von einem Baum auf sie herabschaute. Auf dem Gesicht des Mädchens war eine so rückhaltlose Liebe zum Leben, daß Vera spontan das Thaiwort für Freude ausrief. Das war vor fünf oder sechs Jahren. Heute ist Sonja eine junge Frau, die bald in die Welt hinausgeht. »Sanuk!« ruft sie und zieht die Hand vom Knauf zurück. Die Antwort hinter der Teaktür kommt kühl, dünn und fern. »Komm herein, Mutter.« Das Zimmer des Mädchens ist von Sonne durchflutet. Batikbilder schimmern an den Wänden; das klassische Xylophon, das Philip ihr geschenkt hat, steht unbenutzt in der Ecke, und siamesische Tanzpuppen mit ihren Similisteinchen, die im Licht glitzern, sitzen in einer Reihe auf der Bank. Vera wirft einen schnellen Blick auf die Sandelholzschatulle oben auf der Kommode. »Ich habe dich heute morgen gar nicht Tai Chi spielen sehen.« Vera setzt sich auf die Bettkante. 100
Sanuk hat die Pyjamahose und die Bluse an, die sie meist für ihr morgendliches Tai Chi trägt. Sie sitzt mit dem Rücken an die Wand gelehnt, ein offenes Buch in ihrem Schoß, und hält einen Stift in der Hand. »Mir war nicht danach zumute.« Langsam schließt Sanuk das Buch und drückt es sich mit einer schützenden Gebärde an die Hüfte. »Die Tage davor auch nicht.« Sanuk lächelt verkrampft. »Macht das was?« »Eigentlich nicht.« Vera möchte beiläufig wirken, aber sie hört, wie ihre Stimme zittert. Warum wohl? »Nein, es ist nicht wichtig. Es ist nur wegen Ah Ping. Sie ärgert sich, weil du nicht zum Frühstück herunterkommst.« »Ich esse später.« »Und sie findet dich grob. Als sie heute früh rief, hast du nicht einmal geantwortet.« »Ich war beschäftigt, Mutter.« »Hast du an Lamais Heirat gedacht?« »Nein, natürlich nicht. Warum auch?« Die Abwehrhaltung des Mädchens macht Vera argwöhnisch. »Ich könnte mir vorstellen,« sagt sie ruhig, »daß ein Mädchen in deinem Alter über die Heirat einer Freundin nachdenkt.« »Aber so was wünsche ich mir nicht für mich selbst.« »Das weiß ich. Das habe ich nicht gemeint.« »Warst du nicht fast dreißig, als du Vater geheiratet hast?« »Siebenundzwanzig.« Schon vor langem hatte sie beschlossen, dem Mädchen nie zu sagen, daß sie und der General nicht geheiratet hatten. In seiner Position von 101
Rang konnte ein Chinese keine Frau aus dem Westen heiraten. Sonja nickt nachdenklich. »Bevor ich dreißig bin, möchte ich überhaupt nicht daran denken. Ich will leben.« »Es gibt Leute, die heiraten und leben trotzdem«, sagt Vera in dem Versuch, die Stimmung zu lockern. Aber das Mädchen ist offensichtlich entschlossen, ernst zu bleiben. Zeit, das Thema zu wechseln, denkt Vera. In Wahrheit fühlt sie sich nie unbefangen, wenn sie miteinander von Liebe und Ehe sprechen – und von Sexualität. Vera hat sich oft gefragt, ob ihre Zurückhaltung bei diesen Themen etwas mit ihrer eigenen ängstlich verborgenen Vergangenheit zu tun hat: Ehemalige Huren – so hatte sie damals in Schanghai gehört – fürchten meist den einen Zungenschlag, der alles verrät. »Es tut mir leid«, sagt das Mädchen. »Was denn?« »Daß ich so muffig war.« »Wieso?« »Ich war böse auf Ah Ping. Ich mochte nicht, wie sie mich angeschrien hat. Ich bin kein Kind mehr. Und als du dann kamst, hab’ ich mich irgendwie – ungut gefühlt.« Vera setzt sich näher zu ihrer Tochter. »Wenn Menschen etwas beschäftigt, sind sie manchmal schwierig.« »Du glaubst, daß mich was beschäftigt?« »Ich finde, du warst ein bißchen schwierig in letzter Zeit. Neulich zum Beispiel warst du grob zu Wanna.« »Du meinst, als ich zu ihr sagte, sie müsse Phra Ahbai lesen. Sie müßte eigentlich wissen, daß Suthorn Bhu ein großer Dichter ist.« Vera zögert. Schon seit einiger Zeit hat sie bemerkt, daß das Mädchen die hübsche Siamesin nicht leiden kann. 102
Ganz verständlich, wenn man jung ist, denkt sie. Verständlich, wenn man unerprobt ist und nicht weiß, ob man auch hübsch ist. »Wanna ist eine sehr sanfte Person. Merk dir das bitte. Und sie mag dich.« »Sie mag mich nicht. Und ich traue ihr nicht.« »Trauen?« Seltsames Wort. Sanuk zuckt die Achseln. Eines Tages, denkt Vera, erkläre ich ihr vielleicht, was Sanftheit für jemand bedeutet, der Jahre der Brutalität und Gewalt hinter sich hat. Aber nicht jetzt, noch nicht. Eines Tages gestehe ich ihr vielleicht, daß ich Frauen liebe wegen ihrer Zärtlichkeit. Aber jetzt noch nicht, solange dieses Mädchen die Liebe zwischen Mann und Frau nur aus romantischen Jugendträumen kennt. »Ich will dir sagen, was mich beschäftigt.« Sonja schaut plötzlich auf und beugt sich vor. »Ich denke die ganze Zeit an Politik.« »Ach, darum geht es?« Vera versucht, auch das leichtzunehmen, aber der gespannte Ausdruck in dem Gesicht ihrer Tochter verlangt eine andere Reaktion. Sie hält ihre Miene im Zaum. »Und was beschäftigt dich an der Politik?« »Was die Regierung mit den Chinesen macht. Menschen werden sterben, Mutter.« »Woher weißt du das?« »Jeder weiß das.« »Sprecht ihr in der Schule über solche Sachen?« »Natürlich. Phibun und seine Bande von Offizieren wollen die Chinesen klein halten. So bleiben sie an der Macht. Alles ist jetzt antichinesisch – der Fleischmarkt, der Tabakhandel.« Wie schön ihre Augen sind, wenn sie erregt ist, denkt 103
Vera. »Die Polizei heuert Männer an, damit sie in Chinatown Plakate kleben. Schluß mit der chinesischen Einwanderung. Schließt chinesische Schulen. Die Schwarzen Elefanten, die Tusks – diese ganzen Banden –, die tun es mit Phibuns Zustimmung. Auf seinen Befehl, Mutter. Es gibt bestimmt Unruhen.« »Das hat doch nichts mit dir zu tun.« »Das hat alles mit mir zu tun. Ich bin Chinesin.« »Daß du Halbchinesin bist, heißt noch lange nicht, daß dich Unruhen was angehn.« »Doch, mein Vater würde sagen, halb Chinese ist ganz Chinese.« »Reden so die Chinesen an der Universität?« Vera bemerkt das Zögern in Sonjas Blick. Die Vorsicht ist wieder da. »Ein paar. Die chinesischen Studenten.« »Und du sitzt hier mit solchen Ideen herum, während du unten auf der Terrasse sein könntest und tun, was deinem Vater wirklich gefallen würde?« Sonja senkt den Kopf. Vera begreift, daß die Logik dieser Bemerkung sie getroffen hat. Da sie nicht länger hämisch oder aggressiv sein möchte, erhebt sich Vera und geht zur Tür. Dort dreht sie sich noch einmal um: »Ich habe deine Bewerbung für Stanford durchgesehn. Eine Menge Wörter sind falsch geschrieben. Du wirst sie doch verbessern?« Sonja nickt gleichgültig, doch Vera möchte ihre Tochter nicht so zurücklassen. Die Unterhaltung sollte in einem besseren Ton enden. Mit der Qual der Liebe wird Vera klar, daß ihre Tochter erwachsen wird, irgendwie aus dem Blickfeld gerät, auf undefinierbare Weise entschwindet. Vera räuspert sich befangen. »Gehst du heute zur Universität?« 104
»Ja, später. Dann geh’ ich einkaufen mit Lamai.« »Heut’ gibt es eine von deinen Leibspeisen zum Abendbrot. Ich sag’ dir aber nicht, was. Eine Überraschung.« Vera beobachtet, wie die Hand des Mädchens sich auf das Tagebuch in ihrem Schoß zubewegt. Sobald die Tür zu ist, denkt Vera, wird sie es nehmen und weiterkritzeln – vielleicht irgendeinen romantischen Unsinn über Jeanne d’Arc und Ehre und Gerechtigkeit in Siam – und dabei träumen, sie sei ein Krieger wie ihr Vater. »Mutter. Mir fehlt nichts.« »Hoffentlich.« »Fast alles, was ich weiß, habe ich von dir!« In einem Anfall von Zärtlichkeit umarmt Sanuk ihre Mutter. »Ich bin dir so dankbar.« Vera weicht leicht zurück, lacht kurz auf und schaut in die glänzenden Augen des Mädchens. »Für was?« »Ach, für so viel. Na, vielleicht für Französisch.« Sie schneidet ein Gesicht. »Vielleicht bringt es mich in deine amerikanische Universität.« Jetzt möchte Vera sich gegen den leichten Ton verwahren. Sonjas Bemerkung ist ihr wichtig. »Möchtest du denn dorthin? Wenigstens ein bißchen?« Wieder der scheue Blick, das Ausweichen. »Ich muß es mir noch überlegen.« »Sicher.« Vera spürt, daß der erlesene Moment wirklicher Nähe vorüber ist. Sie kann jetzt gehen. Dieser Augenblick der Nähe zu Sanuk war das, was sie sich gewünscht hatte. Und Sanuk hatte es begriffen. Sie wird erwachsen, alles mögliche wird ihr jetzt bewußt. Französisch zum Beispiel. Vor langer Zeit, im Jahre 1920, als die Franzosen Baron Wrangel bei seinem 105
Versuch, eine weißrussische Regierung zu gründen, im Stich ließen, hatte Vera geschworen, diese Sprache – die Sprache des Verrats – nie wieder zu sprechen. Und sie hielt den Schwur fünfzehn Jahre lang. Doch als eines Tages ein Kunde in ihrem Laden Französisch sprach, begriff sie plötzlich, daß sie Sonja diese wichtige Sprache nicht vorenthalten sollte, und antwortete ihm spontan in Französisch. Dann geschah etwas Seltsames. Sie konnte nicht aufhören, die Sprache ihrer Petersburger Kindheit, das Französisch der russischen Aristokratie, zu sprechen. Sie lief dem erschrockenen Kunden auf die Straße nach, rief ihm Kinderreime in Französisch nach, Bruchstücke von Liedern … Mitten im Flur bleibt Vera abrupt stehen. Könnte es ein Junge sein? Ist ihre Tochter etwa verliebt? Das würde die Launenhaftigkeit, die Mattigkeit, den argwöhnischen Blick erklären. Dabei hat Sonja bisher kein Interesse an Männern gezeigt, wenn man von der harmlosen Angelegenheit letztes Jahr absieht: Als der Film »Vom Winde verweht« zum erstenmal in Bangkok gezeigt wurde, schwärmte sie hinterher noch tagelang von Clark Gable. Nein, noch nicht, noch keine Männer. Gott, nein, noch nicht. Entschlossen geht Vera weiter, sie verwirft den Gedanken. Noch nicht. Das Mädchen ist zu unerfahren wie alle Mädchen ihrer Gesellschaftsschicht in Siam. Sie hätte genausogut im Kloster aufwachsen können wie in einer Mädchenschule in Bangkok. Nein, nicht das. Keine Männer. Noch nicht. In ihr Zimmer zurückgekehrt, geht Vera mit sich selbst ins Gericht. Ihr wird jetzt erst klar, daß sie zwar vor einem Jahr Ah Ping ermahnte, vom General nicht mehr mit der für ältere Chinesen typischen, übertriebenen Art von 106
Verehrung zu sprechen, sich selbst aber diesen Fehler immer durchgehen ließ. In Sanuks Kindheit hatten beide, Ah Ping und Vera, dem Mädchen Geschichten erzählt, wahre und erfundene, von dem großen General, der des Mädchens Vater war. Es schien eigentlich harmlos, daß sie als Mutter ihrem Kind die Erinnerung an den toten Vater erhalten wollte. Mit einem anderen Mann verheiratet, hatte Vera ihre glücklichsten Momente mit Sonja und Ah Ping verbracht. Die drei malten sich dann den General aus, zu Pferd an der Spitze einer Armee – der Retter Chinas, am Ende von bösen Feinden ergriffen. Wie oft saßen sie so beieinander, tief bewegt von den Szenen ihrer Phantasie. »Wir sind uns auf einem Gartenfest begegnet«, pflegte Vera zu sagen, unzählige Male im Lauf der Kindheit ihrer Tochter, und Ah Ping nickte dann zustimmend. »Der französische oder der amerikanische Generalkonsul hatte mich eingeladen – ich weiß nicht mehr, welcher. Doch –« Auch das gehörte zur Erzählung, die langsam wiederkehrende Erinnerung. »Es war der französische Generalkonsul. Ich hatte ein paar Übersetzungen für ihn gemacht. Da erschien dein Vater auf dem Rasen, die Uniform strotzend von Orden. Alle drehten sich nach ihm um, so eindrucksvoll war er. Er war gar nicht besonders groß, aber seine Augen! Sie sahen alles – schwarz und beweglich –, und die Art, wie er sich hielt, erinnerte mich an die Wachsoldaten meiner Jugend. Wir begegneten uns in einem Garten in Schanghai, und von jenem ersten Augenblick an war ich verloren, Sonja.« Die Wahrheit sah ganz anders aus. Vera hatte den General zum erstenmal in seinem Hauptquartier in Küfu getroffen. Ihr deutscher Liebhaber, ein Waffenhändler, hatte sie dorthin mitgenommen, denn sie sollte den General umgarnen, zur Förderung des Waffenverkaufs an 107
ihn. Sie sollte dabei alle Mittel einsetzen, die ihr zu Gebote standen. Ihre Willfährigkeit kam allerdings nicht zum Zug, denn der General verließ Küfu, auf der Jagd nach Banditen. Später begegneten sie sich dann in Schanghai, aber nicht auf einem Fest des französischen Generalkonsuls – sie kannte ihn gar nicht. Und so, durch das Verdrehen von dieser und jener Tatsache, hatte sie für das Mädchen aus ihrem Leben mit General Tang eine Legende gemacht. Schan-teh hatte einmal von der chinesischen Neigung, Erfahrung zu ebendiesem Zweck umzuwandeln, gesprochen: »Wir Chinesen vergöttern Menschen, die ein bedeutendes Leben geführt haben. Wir verehren sie wie Gottheiten. Auf diese Weise sind Götter und Menschen gleich lebendig.« Genauso hatte Vera für ihre Tochter eine Art chinesischer Gottheit aus ihm gemacht. Aber was passend für ihre Kindheit schien, erwies sich in Sonjas Jugend irgendwie als falsch. Sie wollte von den alten Geschichten nicht lassen und bettelte um ihre Wiederholung. Das Mädchen wünschte sich – geradezu verzweifelt offenbar – einen Helden in ihrem Leben. Zu jener Zeit war Philip in den Krieg gezogen. Als Heldenbild war er ohnehin nicht geeignet. Als Vera endlich begriff, daß Sonjas Sehnsucht zu einer Zwangsvorstellung geworden war und das Mädchen von einem toten Vater träumte, der die überragende Bedeutung eines mythischen Helden angenommen hatte, da war es zu spät. Sicher half es auch kaum, daß Vera die Erzählungen von General Tang mit denen aus ihrer russischen Vergangenheit verbunden hatte. Die Erinnerungen an ihre eigene Jugend waren für Vera zu einer Quelle aristokratischer Werte geworden: Ehre, Wahrheit, Schönheit zogen aus den Nebeln des alten Rußland in den Schutz ihres Gartens in Bangkok ein. 108
Und wie war es damals in Wirklichkeit? In Wirklichkeit mußten die Aristokraten ihrer Heimat vor dem bolschewistischen Pöbel fliehen, in den ausweglosen Winter Sibiriens und in den Tod. In Wirklichkeit wurde General Tang Schan-teh in der Nähe des Berges T’aischan von unbekannten Attentätern ermordet. Zumindest berichtete das eine Zeitung in Hongkong, als Vera zusammen mit Philip vor den Kriegswirren in China zu der Kronkolonie floh. Fünf Zeilen in einer englischsprachigen Zeitung: Warlord von Schantung ermordet am Berg T’ai. Veras Blick fällt auf den Umschlag: Philips Brief, noch nicht beantwortet. Was kann sie ihm sagen? Komm nur? Bleib weg? Was haben sie gemeinsam außer dem Wissen, daß sie beide denselben Mann betrogen haben? Philip. Sonja. Auch Wanna, die sicher ihren eigenen Verrat begeht. Vera trägt eine blaue Baumwollbluse mit einem runden, weißen Kragen. Sie beugt sich zum Spiegel und kneift die Augen zusammen, um zu sehen, ob über dem Kragen irgendwelche Halsfalten erscheinen. Ja, tatsächlich. Warum muß einem das Alter so schreckliche Dinge antun? Es ist nicht fair. Vera findet sich ziemlich kindisch, und das amüsiert sie wieder. Trotzdem: Was außer ihrer Schönheit hat sie durch so viele Ereignisse, so viele Jahre hindurch am Leben erhalten? Das Wissen darum hat sie erwärmt. Ihre Schönheit, das einzige, woran sie sich festgehalten hat. Sie hat ihr geholfen, mit Würde zu überleben. Und jetzt kommt vielleicht das Ende. Eines Tages wird sie aufwachen, und nichts wird davon geblieben sein. Ein schrecklicher Gedanke. Bemerkt Wanna die leichten, aber schrecklichen Anzeichen des Alters? Kein 109
Grund, das anzunehmen. Und doch versucht Vera oft, sie bei Blicken von morbider Neugier zu ertappen. Sie leckt sich nachdenklich die Lippen. Sie sind immer noch gut: voll, natürlich gebogen, vollsaftig. Ja, auch das: vollsaftig. Es wird noch ein paar Jahre dauern, bis sich niemand mehr, weder Mann noch Frau, nach ihr umdreht. Seltsam, aber genau das gleiche hat sie mit zwanzig gedacht – daß sie nur noch ein paar Jahre hat. Vera sieht sich bei diesem Gedanken im Spiegel lächeln. Das Lächeln ist immer noch da. Vielleicht bleibt es ihr bis zum Ende. Und sonst, Mai pen rai. Macht auch nichts. Unbewußt greift sie nach dem zerknitterten Brief. Armer Philip. Und Sonja schreibt gerade romantische Geheimnisse an ihren Vater in ein Tagebuch. Und Wanna? Wo ist sie jetzt, in diesem Augenblick? Verläßt sie das Bett eines Mannes, war es eine Lüge, daß sie ihre Tante in Lopburi besuchen muß? Vera neigt den Kopf, befeuchtet ihre Lippen, zwinkert rasch mit den Augen, damit sie einen feuchten Schimmer bekommen. Ein wenig Schönheit wird ihr noch eine Weile erhalten bleiben.
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iamese Arts Oriental – düster betrachtet sie die englische Schrift, die in roten Buchstaben über den Eingang zu dem Schindelgebäude gemalt ist, ihrem Laden nahe am Fluß in der New Road. Wenn die Regierung wieder einmal im nationalistischen Eifer beschließt, Siam in Thailand abzuändern, wird sie Geld für eine neue Schrift ausgeben müssen. Das bedeutet die Regierung für Vera: ein Ärgernis. Auch während des Krieges war es ähnlich; immerhin wurde sie als Thaibürgerin nicht wie die Engländer, Franzosen und Amerikaner in Bangkok von den Japanern eingesperrt. Für Vera war das sogar eine Zeit geschäftlicher Erfolge. Nachdem sie anfänglich ein paar hohen japanischen Offizieren thailändische Antiquitäten zum Geschenk gemacht hatte, verkaufte sie laufend an ihre Stabsleute. In knapp vier Jahren setzte sie zahllose Fälschungen ab, die es im Land überreichlich gab, und zwar zu Preisen, die für junge Offiziere erschwinglich waren. Nebenan vor seinem winzigen Laden steht ein untersetzter, dicker, dunkelhäutiger Mann in ausgebeulter Hose und weitem Hemd. Er grinst, sie runzelt die Stirn. Er ist ein Inder aus Bombay, ein Geldwechsler, der sich mit jedem zweifelhaften Geschäft befaßt, das Besucher aus dem Ausland ihm antragen. Jahrelang hat sie seine Freundschaft gepflegt in der Hoffnung, daß er ihr eines Tages sein Grundstück – eine günstige Ecklage – verkaufen werde, damit sie ihren eigenen Laden dahin erweitern kann. Vor sechs Monaten hat sie ihm ein hervorragendes Angebot gemacht, auf das er (ihr 111
freundliches Lächeln gegen seins) reagiert hat, indem er den doppelten Preis verlangte. Jetzt sprechen sie nicht mehr miteinander. Veras Zorn richtet sich weniger gegen ihn als gegen sich selbst; wie dumm von ihr zu denken, ein kokettes Lächeln könne einem Mann den Kopf verdrehen, der einen Opiumkauf oder eine Sexshow für jeden arrangiert, der des Weges kommt. Sie öffnet die Tür zu ihrem Laden und fühlt die Kühle des dämmerigen Innern. Ein magerer, kleiner Mann, kaum größer als ein Kind, erhebt sich von einem Pult am Ende des engen Raumes: Prakit Chaidee, ihr Gehilfe. Er arbeitet für sie, seit sie ihr kleines Häufchen Ersparnisse auf den Laden gesetzt hat. Prakit Chaidee hat sie auch mit Professor Dhanit Yupho von der Silpakorn-Universität bekannt gemacht, der zu ihrem Berater wurde (gegen eine Beteiligung) beim Sammeln bescheidener alter Stücke, die sich möglicherweise als wertvolle Antiquitäten verkaufen lassen, und von dem sie dabei viel über thailändische Kunst gelernt hat. Prakit Chaidee teilt ihr in sanftem, rhythmischem Thai mit, daß ein königlicher Prinz ein Radiogerät aus Singapur wünscht. Er zieht ein Stück Papier hervor, auf dem Marke, Modell und andere Einzelheiten stehen. Sie wird das Radio von ihrem Agenten in Singapur besorgen lassen und es dem Prinzen zu einem nominellen Preis verkaufen. Das wird ihren Ruf verstärken, daß sie Waren im Ausland sehr billig einkauft – und ihren Laden vor Belästigung durch die Behörden schützen. Ihr Büro hat nur ein Fenster, ein ernster Nachteil, wenn die Hitze im April über Bangkok herfällt, und doch schätzt Vera einen so klar definierten Raum – man kann sich dort besser konzentrieren. Jetzt schaltet sie die Lampe mit dem grünen Schirm über ihrem Schreibtisch an. Da liegt ein Stoß Rechnungen und Korrespondenz. Auf der hinteren 112
rechten Ecke des Tisches sitzt eine kleine Figur, die Vera berührt, ehe sie mit irgend etwas anderem beginnt. Es ist ein wan nang kwak aus einer Wurzelknolle in Gestalt einer knienden jungen Frau, die linke Hand auf der Hüfte und die rechte in einer lockenden Geste erhoben. Es ist ein Glücksbringer, wie ihn siamesische Händler anbieten, vor allem die Frauen auf den Märkten im Freien. Vor ein paar Jahren (und auf Prakit Chaidees sanften Vorschlag hm, als die Geschäfte verdächtig flau gingen) hatte sie eine Wurzelknolle auf dem Wochenendmarkt am Phra-Mane-Platz gekauft, die sie dann von einem einheimischen Schnitzer in die richtige Form bringen und von einem buddhistischen Priester gegen Bezahlung weihen ließ – einhundertundachtmal sprach er Namo Buddhaya. Jetzt hat die Figur die magische Kraft, Kunden in den Laden zu ziehen, und tatsächlich gehen die Geschäfte in Veras Laden seither besser als zuvor. Jeden Morgen – auch heute – intoniert sie leise das Mantra, das der Priester diesem besonderen wan nang kwak beigegeben hat. »Om. Herr der blauen Berge, bring mir Glück, svaha svahom!« Vera weiß nicht genau, was das bedeutet – der Priester hat sie gewarnt, ein Verstehen des Mantras könne seine Macht zerstören –, und sie würde sich nicht wundern, wenn der schlaue Alte sie dazu verführt hätte, jeden Morgen sinnloses Kauderwelsch zu wiederholen, aber sie spricht die Worte so oder so und legt dem wan nang kwak jeden Mittag vor zwölf eine Blume zu Füßen. Nachdem sie das Ritual befolgt hat, setzt sich Vera und ruft nach Prakit Chaidee. Als sein kleines Gesicht in der Tür erscheint, fragt sie nach Wanna. Das Mädchen ist noch nicht gekommen. »Vielleicht ist sie zum Hauptbahnhof gegangen«, meint Prakit Chaidee, »um Fahrkarten für ihre Reise zu buchen.« 113
»Vielleicht.« Und vielleicht liegt Wanna auch noch im Bett eines Mannes, den sie gestern getroffen hat, denkt sie. »Mister Thompson ist heute morgen vorbeigekommen. Er wohnt im Oriental.« »Ja, ich weiß, wer Mister Thompson ist.« »Er wäre dankbar, wenn Sie ihn heute morgen aufsuchen würden. Er sagt, es ist dringend.« Prakit Chaidee tritt vor, legt ein paar Briefe auf den Rand des Tischs und tritt wieder zurück. »Und das hier.« Prakit Chaidee ist mindestens zehn Jahre älter als Vera. Urgroßvater und gelegentlicher Opiumraucher, sieht er kaum älter als dreißig aus. Er trägt ein paar Amulette um den Hals und auf dem linken Unterarm eine flammenförmige Tätowierung. Wenn seine siamesische Magie einen Menschen jung erhält, vielleicht sollte sie dann auch Amulette tragen und beide Arme tätowieren lassen. Aber wahrscheinlich nützt der Zauber bei einer Farang nichts. Vera macht den obersten Brief auf. Er ist von Professor Silpa Bhirasri, Dekan der Universität der schönen Künste, der sie einlädt, Mitglied eines Bürgerkomitees zur Erhaltung thailändischer Kunst zu werden. Außer ihr ist unter den acht Mitgliedern nur ein weiterer Ausländer vorgesehen – ein italienischer Archäologe. Vera weiß wohl, daß diese Einladung einen verschleierten Appell darstellt: Sie möge sich an Projekten finanziell beteiligen, die dann höchstwahrscheinlich mit lässiger Untüchtigkeit behandelt werden. Aber eine Ehre bedeutet sie auf jeden Fall, und ihr Sitz in einem solchen Komitee steigert das Ansehen ihres Ladens. Der nächste Brief ist von Pakhoon Chirachanchai, ihrem Agenten in Chiang Mai. Er wartet ungeduldig darauf, daß sie in den Norden kommt, denn ohne Zweifel, so erklärt 114
Pakhoon, seien die Schan-Bronzen, die er gefunden hat, echt. Außerdem ginge es um ein ganz hervorragendes Kunstwerk – eine Steinskulptur aus Phayao, eine Buddhafigur aus der späten Lan-Na-Periode. Vera hat ihre Zweifel. Pakhoon ist von allem begeistert, was er findet. Und doch, wenn es wahr wäre – Vera blickt in die sonnenbeschienenen Stäubchen in dem kleinen Zimmer und gibt sich Phantasien von Reichtum und Müßiggang hin: eine Reise nach Europa mit Sonja, ein Besuch der Universitäten dort und in Amerika, die in Frage kommen für Sonja; eine neue Garderobe für beide; eine Dachreparatur; vielleicht sogar ein Diamantring, wie ihn ihre Mutter trug. Vera selbst hat ihn ihr 1919 in einer Winternacht von dem erfrorenen schlanken aristokratischen Finger gezogen und später als Bestechung benutzt, um die Reste der Familie auf einen Güterwagen zu bekommen zur Flucht aus Tomsk. Beim Verlassen des Büros fragt Vera, ohne zu überlegen: »Ist sie schon da?« Prakit braucht nicht zu fragen, wer »sie« ist, verschont aber Vera mit einem wissenden Lächeln. »Vielleicht ist sie auf dem Bahnhof aufgehalten worden. Heutzutage muß man um die Buchungen kämpfen.« »Ja«, sagt Vera, »vielleicht«, und eilt den schmalen Ladengang entlang, hinaus in die Morgensonne. Mai pen rai. Von ihrem Laden in der New Road ist es nur ein kurzer Weg an einem Kanal entlang (der jetzt in der Trockenheit schwarz und stinkend daliegt) bis zu dem weitläufigen ehemaligen Palast, der heute das Hotel Oriental ist. Das alte, weiße Oriental ist ihr Lieblingshotel in Bangkok, auch wenn das Trocadero mit seinen Eisenbalkons und das 115
Pacific mit seinen Spiegeln beide neuer sind. Das Oriental bewahrt den Stil der Hotels, die sie in ihrer russischen Kindheit gekannt hat, auch der Hotels später in Schanghai, als Männer sie in den Speisesälen an der Hanking Road vorzeigten. Als sie am Empfang nach Mr. Thompson fragt, schickt sie der siamesische Portier, der weiße Handschuhe trägt, zu einer Suite oben im ersten Stock. Dringend? überlegt Vera, während sie die mit rotem Teppich belegten Stufen hinaufsteigt. Sie hat Mr. Thompson erst einmal gesehen, und das war vor vielleicht einem Jahr in einer Hotelhalle, als er sie für eine Touristin hielt. Drei oder vier Stoffmuster über die Schulter seines Jacketts drapiert, war Thompson auf sie zugekommen und hatte mit einem ziemlich einfältigen Lächeln gefragt, ob sie am Kauf eines wundervollen Stücks siamesischen Stoffs interessiert sei. Seitdem war sie ihm gelegentlich wieder begegnet – er wohnt im Hotel und arbeitet von dort aus. Es heißt, er habe während des Krieges zum amerikanischen militärischen Geheimdienst gehört, sei eine Art Held und sei in Siam geblieben, weil ihm nichts Besseres einfiel. Er ist beliebt, soweit Vera weiß. Man sagt, er habe Ehrgeiz, für sich persönlich und für Siam. Kein uninteressanter Ruf. Seine Suite ist am Ende eines langen Korridors. Als sie klopft, geht fast sofort die Tür auf, und ein mittelgroßer Mann steht vor ihr. Er ist eher rundlich, sein Gesicht dabei lang und kantig mit einer beginnenden Stirnglatze, seine braunen Augen blicken überrascht. Er begrüßt sie überschwenglich, als seien sie alte Freunde, aber von einem Amerikaner ist das nicht anders zu erwarten. »Tee?« fragt Thompson, als sie sich an einem Teaktisch gegenübersitzen. 116
Sie sollte ablehnen, denn Tee bedeutet auch Süßigkeiten; statt dessen lächelt sie, was er folgerichtig als Ja interpretiert. Vera ist beeindruckt. Als sie damals Thompson in der Halle traf, einen eher rührend wirkenden Händler mit seinen Seidenbahnen, hatte sie ihm nicht viel zugetraut. Aber hier, in diesem großen Raum mit Chintzvorhängen an einem Fenster auf den Chao Phya, erscheint er ihr viel angenehmer, vielleicht sogar als jemand Besonderes. Vera ist jetzt wirklich neugierig. Sie hört daher aufmerksam zu, als der junge Amerikaner unverblümt von Geschäften zu sprechen beginnt: »Ich will Ihre Zeit nicht vergeuden, Madam. Ich weiß, wie kostbar sie ist. Ich habe einen Vorschlag, den Sie vielleicht in Betracht ziehen könnten.« Nach dem Krieg, berichtet er ihr, habe er sich in Siam niedergelassen und begonnen, sich für die einheimischen Seiden zu interessieren. Die Weber, ausschließlich Moslems, arbeiteten damals an handbetriebenen Bambuswebstühlen in einem ghettoähnlichen Bezirk, Bangkrua genannt. Sie machten Sarongs in kariertem oder Brokatmuster; sie waren hervorragend gewebt, das Problem war nur, daß die verwendeten Pflanzenfarben beim Waschen schnell verblaßten. Zudem waren diese Seiden für den Geschmack siamesischer Städter zu traditionell – ihnen gefielen die gedämpften Farben europäischer Textilien besser. Die Webkunst der Moslems war im Aussterben begriffen. Jim Thompson hat inzwischen eine Zigarette bis an seine tabakbraunen Fingerspitzen hinuntergeraucht und die nächste angezündet. Vera nimmt noch einen Keks und sieht bedrückt, daß sie bereits die Hälfte des Gebäcks aufgegessen hat. Was die Weber brauchten, fährt Thompson fort, waren 117
waschechte Farben und eine verbesserte Herstellungstechnik. Er ließ einen der Weber ein paar typische Bahnen seiner Bangkrua-Seide weben, packte sie in einen Koffer und flog nach New York. Dort traf er die Herausgeberin von Vogue, und sie war von Muster und Farben begeistert. Sie bestand darauf, daß alle ihre Mitarbeiter an diesem Abend vor Redaktionsschluß in ihrem Büro vorbeikamen und sich die Seiden ansahen. Sie ließ Valentina, die Kleiderdesignerin, ein Ensemble aus dem Material entwerfen. Es wurde zugeschneidert und für Vogue photographiert. Auf diese Resonanz hin war Thompson sicher, daß es einen potentiellen Markt gab, also trieb er nach seiner Rückkehr nach Bangkok genug Geld auf, um Farben in hoher Schweizer Qualität für die Weber zu kaufen. Während er ihr berichtet, wie er das National Museum nach Beispielen von alten Mustern für den Handdruck durchforscht hat, vertilgt Vera das letzte Stück Gebäck. Nervös springt der junge Amerikaner auf, nimmt einen Schwung Papiere von einem Schreibtisch nebenan und wirft sie auf den Tisch. Es sind seine eigenen Entwürfe, doch wartet er gar nicht ab, daß Vera sie durchsieht, sondern fährt mit weit ausholenden Armbewegungen in seiner Geschichte fort. Er hatte erfahren, daß die Laoten längs der Nordostgrenze besonders geschickt in der Zucht und Verarbeitung von Seidenraupen seien. Auf einer Erkundungsreise in den Norden heuerte er einen Laoten an, der sich inzwischen als unschätzbar erwiesen hat. Die technischen Probleme sind gelöst. Thompson spricht über Vertrieb und Finanzen. Bisher hat er als Zwischenhändler die Seiden der Weber von Bangkrua verkauft, und zwar über ein selbständiges Einzelhandelsgeschäft, aber der Besitzer, ein Chinese, ist unzuverlässig. Vera nippt an ihrem Zitronentee. Seine 118
Bereitschaft zum Risiko gefällt ihr. Vergangenes Jahr hat sie selbst mit der Idee gespielt, eine Seladonfirma zu gründen, um die siamesische Kunst der Steingutfabrikation wiederzubeleben. Nun berichtet er ihr von der Finanzierung seines Unternehmens – offensichtlich der Anlaß zu diesem Treffen. Er erzählt von einem Kalifornier, der kürzlich zu Besuch war und ihn darin bestärkt hat, eine Aktiengesellschaft zu gründen. Für den Anfang braucht er fünfundzwanzigtausend US-Dollar, die durch den Verkauf von fünfhundert Aktien zu je fünfzig Dollar aufgebracht werden sollen. Wenn die Aktionäre zunächst nur die Hälfte ihrer Beteiligung einsetzen würden, könne der Ausgleich später vielleicht aus dem Gewinn erfolgen. »Soviel Vertrauen habe ich in die Sache«, erklärt Thompson und zündet die nächste Zigarette an. Das Zimmer ist von beißendem, blauem Rauch erfüllt. »Es geht mir auch nicht um das Geld allein. Ich möchte etwas für Siam tun.« Das ist ein stolzes Wort, aber es paßt zu der Art der meisten Amerikaner, die sie kennengelernt hat, und bei diesem Mann scheint es sich mit seiner Überzeugung zu decken, mit seinem Wesen, einfach wie er ist: naiv, voller Energie, nicht kleinzukriegen. Er kann nicht älter als dreißig sein. Plötzlich fühlt sie sich alt. »Der Weber wird erst bezahlt, nachdem die Seide verkauft ist«, fährt Thompson fort. »Aber sobald wir können, werden wir die Seide sofort bar bezahlen. Wir wollen uns auf eine Heimindustrie beschränken. Diese Leute würden die unpersönliche Routine einer Fabrik ablehnen – das Resultat wäre schlechtere Seide und viel Elend. Natürlich versuche ich, sie zum Gebrauch von Schiffchen mit zwei Tritten zu überreden. Sie könnten damit viel schneller arbeiten. Was meinen Sie?« 119
Thompson holt Luft und lehnt sich zurück. »Ich denke, ich bin sehr interessiert.« »Das habe ich mir gedacht, Madam, nach dem, was ich von Ihnen gehört habe. Deshalb habe ich es auch dringend gemacht.« »Wie viele Aktien sind noch da?« Thompson verlagert sein Gewicht nach vorn, die Ellbogen auf den Knien. »Ich will offen sein. Um es legal zu machen, müssen die Siamesen 51 Prozent bekommen. Das ist schon fast gesichert. Ich halte neunzig Anteile, Barrie auch. Das bedeutet, daß fünfundsechzig noch frei sind. Ich habe ein paar Interessenten an der Hand –« »Wie viele kann ich haben?« Thompson starrt sie an, offensichtlich erstaunt. »Sagen wir fünfzig?« Vera lehnt sich im Sessel zurück. Dies wäre eine finanzielle Verpflichtung, die sie unter dem Gesichtspunkt ihrer übrigen Verpflichtungen betrachten muß: Sonjas Ausbildung, Reparaturen am Haus, laufende Schulden, die Führung ihres eigenen Geschäfts. Aber Thompson hat ihre Phantasie in Schwung gebracht. Seit Jahren hat sie die leuchtenden Muster siamesischer Seiden gesehen – kariert von Männern und als Brokat von Frauen getragen –, gewöhnlich bei besonderen Anlässen wie Hochzeiten. Jedesmal hat sie sich flüchtig gedacht: Welche Schönheit! Und heute ist dieser rundliche Amerikaner, der Kette raucht und seine Ware auf der Schulter durch die Hotelhalle trägt, erschienen mit der Energie und dem Weitblick für die Erzeugung von mehr solcher Schönheit – und für die Chance, ein Vermögen damit zu machen. Vera läßt alle Vorsicht beiseite und erklärt mit einem Kopfnicken: »Ich nehme die fünfzig.«
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Vera ist kaum wieder in ihrem Büro, da verliert sie schon den Mut. Es war verrückt, das Geld zu garantieren, verrückt, absolut verrückt, die Papiere spontan zu unterschreiben, an Ort und Stelle. Sie hat sich einem Vorhaben verpflichtet, das schiefgehen könnte, noch ehe es richtig angefangen hat; zumindest ist es ein äußerst spekulatives Wagnis, besonders riskant zu einer Zeit, da ihre finanzielle Verantwortung groß ist. Die Geschäfte gehen gut, aber in Bangkok, wie ihr die Reiseagenten sagen, ist der Zustrom von Touristen unberechenbar – nur wenige Leute haben eine Vorstellung von diesem fremden Land. Warum hat sie die Vorsicht in den Wind geschlagen? Eine sexuelle Komponente spielte bei ihrer Dummheit sicher keine Rolle. Der Mann hatte in dieser Hinsicht keinerlei Anziehungskraft für sie, eher könnte der Mangel an Attraktivität sie anfällig gemacht haben: Thompson wirkte so harmlos. Und diese Begeisterung! Als er sie zur Tür brachte, hatte er ausgerufen: »Die Weber von Bangkrua werden bald alle einen Fez tragen. Kapiert? Wer einen Fez trägt, hat eine Pilgerfahrt nach Mekka gemacht. Ich möchte auf jedem Kopf in Bangkrua einen Fez sehen. Ich möchte sie alle glücklich sehen!« Vera sitzt am Schreibtisch, die Ellbogen aufgestützt, den Blick auf die gekritzelte Anschrift von Philips Brief gerichtet, und fühlt die Panik finanzieller Unsicherheit – ein altbekanntes Gefühl. Sie hat sie in Schanghai gespürt zu den Zeiten, als sie in einem Bordell arbeitete und es ihr gelang, durch sexuelle Anstrengung einen kleinen Schatz zusammenzutragen – antike Stücke, klein genug, um in ein Köfferchen zu passen. In Hongkong hat sie die Unsicherheit wieder gespürt, als Philip bei einer Exportfirma kaum genug verdiente, um sie beide und dann auch Sonja durchzubringen. Nach und nach verkaufte sie 121
den Inhalt des Köfferchens, bis sie endlich mit derselben abrupten Entschlossenheit wie heute den Rest ihres Schatzes für ein kleines Antiquitätengeschäft in Singapur riskierte. Ein paar Jahre harter Arbeit brachten die Mittel, mit Philip und dem Kind nach Bangkok zu gehen, wo ein zweiter Laden rasch florierte. Sie nimmt den Umschlag und zieht Philips Brief heraus, um ihn nochmals zu lesen. Ein Satz erregt ihre Aufmerksamkeit: »Wenn ich die Chance dazu bekomme, glaube mir, Vera, werde ich dir beweisen, daß ich mich geändert habe.« Geändert? Kann er sich ändern? Das Einmalige, das Gefährliche, die Gratwanderung treiben ihn an. Leben in der Balance ist Tod für Philip Embree. Dabei war er immer großzügig, wenn er irgend konnte. Während seiner ganzen langen Abwesenheit schickte er immer wieder Schecks, an hastige, nichtssagende Mitteilungen geheftet mit einem kurzen »Love, Philip«. Ist es ihm in Indien gutgegangen? Es läßt sich schwer sagen. Soweit sie weiß, spricht er nie von Geld, denkt wahrscheinlich nie darüber nach. Aber falls er etwas gespart hat, kann man sich darauf verlassen, daß er es teilen wird in dem naiven Glauben, daß ein Geldgeschenk die Vergangenheit auslöschen kann. Und doch ist ein Geldgeschenk etwas von Bedeutung – Sie erinnert sich einer Äußerung von Thompson. Nachdem die Papiere unterschrieben waren, hatte der Mann sie in seinem Jubel noch eine Weile festgehalten und von allem geredet, was ihm einfiel: Politik zum Beispiel. Er gab große Erklärungen ab: Feldmarschall Phibun habe zwar während des Krieges mit den Japanern zusammengearbeitet, aber seine heutige antikommunistische Politik sei gut für Siam. Die Vereinigten Staaten würden ihn deswegen unterstützen. Und dann sprach er es aus. Er sagte – was waren seine 122
genauen Worte? –: »Ich höre, Sie sprechen chinesisch und Ihr Mann auch.« Und sie hatte gesagt: »Woher wissen Sie das?« Er schien bestürzt, als hätte er nicht aufgepaßt und etwas gesagt, was er nicht hätte sagen sollen. »Woher? Ich weiß nicht. Es ist doch bekannt, oder?« In der Konfusion und Panik, die ihrer Kühnheit gefolgt waren, hatte Vera dann diesen seltsamen Dialog vergessen Erst jetzt, als sie an Philip schreiben will, fallen ihr die Worte wieder ein. Es ist keineswegs allgemein bekannt, daß Philip Elmbree Chinesisch kann. Ebensowenig, daß sie verheiratet ist. Viele Leute in Siam gehen davon aus, daß sie Witwe ist – und Vera hat es dabei belassen. Als sie und Philip zum erstenmal nach Bangkok kamen, kannten sie kaum jemand, und Philip ging kurze Zeit darauf wieder weg; keiner von Veras heutigen Bekannten ist ihm je begegnet. Thompson muß also andere Informationsquellen haben. Sie denkt an Geschichten von seinen Kriegserlebnissen und an Gerüchte, er sei immer noch bei einer jener mysteriösen amerikanischen Dienststellen beschäftigt. Vera nimmt die Feder wieder zur Hand. Na gut, wenn sie Thompson nächstes Mal trifft, wird sie der Sache nachgehen. »Was wissen Sie über meinen Mann?« wird sie fragen. »Wieso wissen Sie es?« Und mit einem Lachen: »Sind Sie einer von diesen exotischen Spionen, Jim?« (Seit er ihr Geld hat, nennt sie ihn Jim.) »Wenn mein Mann nach Bangkok kommt, dann lassen Sie ihn da bitte raus. Er liebt Untergrund und Gefahr über alles. Versprochen?« Sie wird es in leichtem Ton sagen, aber völlig ernst. Verdammter Philip. Ihn wiederzuhaben würde ihr Leben unnötig komplizieren. Wie würde er auf ihre 123
körperlichen Veränderungen reagieren, auf ihr Altern? Schlafen würde sie auf keinen Fall mit ihm, das steht fest. Doch etwas Gutes könnte auch aus seiner Rückkehr entstehen: sein Einfluß auf Sonja. Ein Mann im Haus könnte die Stärke der Gefühle des Mädchens für ihren verstorbenen heroischen Vater neutralisieren. Mit gerunzelter Stirn greift Vera erneut zur Feder, die sie wieder hingelegt hat. »Lieber Philip: Dein Brief war ein Schock für mich –«, mehr hat sie nicht geschrieben, als sie spürt, daß jemand in der Tür steht. Sie schaut auf, und da ist Wanna, das süße Gesicht ganz konzentriert. »Wie lange stehst du da schon?« »Ich habe nur beobachtet, wie ernst du aussiehst, wenn du schreibst.« Beobachtet, wie alt ich wirke. »Wo warst du?« fragt Vera und wundert sich über den spitzen, eher flehenden Ton in ihrer Stimme, die zornig klingen sollte. »Auf dem Bahnhof.« Wanna stößt einen übertriebenen Seufzer aus. »Ich glaube, ganz Bangkok versucht zur Zeit, Fahrkarten zu buchen.« »Prakit sagt, alles ist schrecklich überfüllt.« Vera möchte friedlich wirken, ihr kleiner Ausbruch von Besorgnis tut ihr jetzt leid. »Hat den ganzen Morgen gedauert.« Glatter, schwarzer Pony über einer breiten Stirn, bräunliche Haut, geblähte Nüstern, breite Backenknochen, die Augen weit auseinander, sehr weit, hohe, gebogene Augenbrauen, schmales Kinn. Das ist das Reizendste an ihr – das schmale Kinn –, denkt Vera. Mit strahlendem Lächeln steht sie auf und sagt zu dem Mädchen: »Komm, laß uns was essen gehen. Ich bin schon ganz verhungert!«
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ie Furcht erhebt sich aus dem Nicht-Selbst, hat er heute morgen in den »Upanischaden« gelesen. Philip Embree geht über den Rasen auf die weißen, dem römischen Stil nachempfundenen Säulen zu und sieht einen Baum, der sich unter seltsam schwarzem Laub zu biegen scheint. Im Näherkommen erweisen sich die Blätter als Hunderte von Krähen, groß wie Bomben. Hie und da explodieren sie in den Mittagshimmel mit gewichtigem Flügelschlag. Er tritt näher, um ihre Rückkehr aus der Luft zu beobachten. Was tun sie alle auf einem Baum? Sie schießen durch das Laub, jeder Zweig senkt sich unter ihnen bei der Landung bis zum Stamm. Embree sieht lächelnd zu, wie sie versuchen, sich auf den dünnen Ästen niederzulassen – wie Drei-Zentner-Männer auf einer Latrine. Er stellt sich an den Fuß des Baumes und betrachtet ihre starken, grauen Hälse, ihre gebogenen Schnäbel und das metallisch-schwarze Gefieder, die Haarbüschel auf ihren Köpfen, die ihnen ein verrücktes, zorniges Aussehen verleihen. Fürchten sie das Nicht-Selbst, das Fremde? Das ist so eine der merkwürdigen Fragen, die er nicht leiden kann. Aber während er unter dem Baum steht, stellen sich ähnliche ein. Zum Beispiel diese Krähe da. Embree ist, als spräche er zu jemand. Aber Harry ist es nicht. Er stellt sich vor, wie er zu einem der englischsprechenden Angestellten der Firma sagt: »Schauen Sie sich diesen häßlichen Kerl da an – kann er sich von seinem Nachbarn, der neben ihm daherstolziert, unterscheiden? Wie weit weiß er wirklich, daß er anders als die anderen Krähen ist? Weiß er, wenn das Leben ihn 125
hereingelegt hat? Macht er sich selber Vorwürfe, wenn etwas schiefgeht, oder den anderen Vögeln? Gibt er dem ›Großen Vogel im Himmel‹ oder dem unpersönlichen ›Schicksal‹ oder dem ›absoluten Nichts‹ die Schuld, wenn er betrogen wird und leidet? Oder ist er außerstande, überhaupt Vorwürfe zu machen?« Keine guten Fragen, lauter schlechte Fragen. Embree kennt die Anzeichen von bevorstehendem Unheil in seinem Innern: seltsame Zwangsvorstellungen, eine verdrehte Betrachtungsweise, die Wucht schrecklicher Erinnerungen. Er wendet sich ab und geht auf den Club zu. Er nimmt den Gurkhahelm auf den Stufen ab und durchquert rasch das Marmorfoyer. Drei Männer in weißen Segeltuchhosen, alle sehr groß, mit Tennisschlägern und Frottiertüchern, gehen an ihm vorbei. Philip Embree mit seiner Größe von etwa einsfünfundsiebzig neidet ihnen ihre englische Länge, ihre unerschütterliche Haltung. Die Kolonialherrschaft hat ihnen das anerzogen, und ihr Selbstvertrauen hat ihre Fähigkeit zu herrschen überdauert. Nichts hat sich im Adyar Club verändert, denkt er, als er vor dem Anschlagbrett mit den Hinweisen auf Picknicks, Teepartys und Meetings stehenbleibt. Nichts hat Stil und Gangart im Club verändert: weder Gandhi noch Patel noch Nehru, weder die Kongreßpartei noch der 15. August 1947 oder all die zwölf Millionen Menschen auf dem Weg quer durch Indien, von denen eine halbe Million unterwegs starb, und auch nicht die Verschleppung Tausender hilfloser Frauen, das Zerstückeln von Babys in religiösem oder anderem Wahn – Ein schlechtes Zeichen, daß er sich ständig mit den Massakern nach der Unabhängigkeit und den Briten beschäftigt. Seine eigene Geschichte sagt nämlich etwas anderes über seine wahren Gefühle aus. Er hat mit den 126
Briten in Burma gekämpft und bewundert ihre Tapferkeit. Und er ist sich keineswegs sicher, ob ihre Niederlage in Indien sich zugunsten Indiens auswirken wird, das jetzt seit einem halben Jahr unabhängig ist. Eine vage Furcht. Ausgelöst vielleicht durch die Upanischaden. Vielleicht auch durch seinen Entschluß, Indien zu verlassen – falls er wirklich entschlossen ist. Oder vielleicht durch die öde Beschäftigung in seinem Büro. Vielleicht ruft auch nur die Tatsache, daß er lebt, diese Unruhe hervor. Der letzte Gedanke gefällt ihm. Embree betritt die getäfelte Bar. Er soll sich hier mit Frazer treffen und teilt das dem turbantragenden Barmixer mit. Nachdem er einen Gimlet bestellt hat (der auf Frazers Clubrechnung geht), wendet er sich von der Bar einem offenen Durchgang zu, durch den er einen Teil der Veranda sehen kann. Diener lassen die Jalousien gegen die Mittagssonne halb herunter. Jenseits dieser Bambusvorhänge hat er einen hübschen Blick auf den weiten Rasen, ein braunes Stück Flußband, riesige Regenbäume. Indien ist schön, denkt er. Ich habe es hier zu nichts gebracht, aber wenigstens habe ich seine Schönheit gesehen. Neben ihm an der Bar stehen zwei Männer und brechen über ihrem Gin in Gelächter aus. Embree wendet sich ihnen zu: zwei bullige Männer, ähnlich wie er gekleidet, im leichten Leinenanzug, Sporthemd – und mit Krawatte; in der Bar des Clubs wird das verlangt. Ihre Gesichter sind sonnengerötet, fast purpurn und erinnern an Fleisch, das im Begriff ist zu verderben. »Die Furcht erhebt sich aus dem, was fremd ist.« Quatsch. So denken kleine Rekruten. Er hat diesen Gedanken auf jungen Gesichtern gesehen, fremd im Dschungel, ein Gedanke, der unerfahrene Soldaten so beherrschte, daß sie über Drähte stolperten, nicht in 127
Deckung gingen, vergaßen, ihre Pillen gegen Malaria zu nehmen. Offenbar hat er während dieser negativen Gedanken die beiden Männer angestarrt, denn sie betrachten ihn mit dumpfer Neugier, bis er wegschaut. Mit lauter Stimme, als wollten sie etwas von ihm, beginnen sie eine Diskussion über Gandhi, von dem der Hindu schreibt, er habe ein neues Fasten begonnen. »Mein Mali kam gestern zu mir –« Einer der Briten schaut über die Schulter seines Begleiters auf Embree. »Er behauptete, Old Bapu habe sich geweigert, die Howrah Bridge zu benutzen, als er in Kalkutta war. Statt dessen ging er über den Hooghli River.« Der andere lacht grölend und bedeutet dem Barmann, eine neue Runde zu servieren. »Und wo Bapu hintrat, sagt mein Mali, sprossen Lilien aus dem Wasser und trieben auf der Strömung.« Der Mann macht mit seiner großen Hand eine übertriebene Wellenbewegung. »Füllten den Gestank von Kalkutta mit ihrem Duft.« Sein Begleiter lacht schallend. »Das alles hat der Mali gesagt? Ungeheuer clever von ihm. Und was haben Sie geantwortet?« »Ich hätte fast gesagt: ›Nichts gegen euren Bapu, aber unser Bursche wandelte nicht nur auf Wasser, er hat eine Menge Menschen mit Brot und Fisch versorgt.‹« Sie grinsen beide, und als Embree sie nicht weiter beachtet, schwindet auch ihr Interesse an ihm. Empfindlich, denkt Embree. Briten sind dieser Tage empfindlich in bezug auf Gandhi und die ganze Sache mit der Unabhängigkeit. Aber die Erwähnung Christi bringt etwas in seinem Gedächtnis zum Klingen. Er hat einmal mehr oder weniger dasselbe zu jemandem gesagt, aber zu 128
wem und wann? Er bestellt noch einen Gimlet und geht auf die Veranda hinaus. Dort an einem Tisch dreht er seinen Rattanstuhl dem Rasen zu, den Regenbäumen und dem Fluß. Über ihm rattert ein Ventilator. Neuerdings dürfen Frauen sich auf der Veranda zum Lunch treffen. An einem Tisch nebenan sitzen ein paar Damen mit breitrandigen Hüten und in Baumwollkleidern und schlürfen große Drinks mit Eiswürfeln und Zitronenscheiben. Sie reden über Personal. Jenseits des weiten Rasens wird auf dem Boden des Clubs ein Backsteingebäude errichtet. Der Aufseher hockt am Bauplatz, von einem riesigen, schwarzen Schirm gegen die Sonne geschützt, wahrend eine insektenartige Prozession dunkelhäutiger Frauen, aufgeschichtete Ziegel auf den Köpfen, eine Bambusleiter hinaufsteigt und oben darauf wartet, daß die Maurer die Backsteine auf das Gerüst verteilen. Embree trinkt und denkt an das ungeheure Gewicht, mit dem die heißen Ziegel auf den Schädeln der Frauen lasten. Ein negativer Gedanke. Aber wenigstens anständig. Eine Dame am nächsten Tisch beschreibt, was ihrer schwedischen Nachbarin passiert ist. Als Ingrid Anderson aus Bangalore zurückkam, fand sie folgendes vor: die Wasserpumpe der Villa kaputt, der Gaszylinder undicht, kein Klo, das funktionierte, die Köchin betrunken, eine Ayah mit einem blauen Auge, das ihr angeblich die Köchin verpaßt hatte, und einen Träger, der nicht mehr mit dem Wärter sprach, der seinerseits die Köchin keines Wortes mehr würdigte. Bangalore. Embree muß an seine eigene Reise dorthin vor kurzem denken, als Meile um Meile die Landschaft am Fenster des Abteils vorbeiglitt. Er hat die Eisenbahn immer gemocht, 129
obwohl er in der Jugend von chinesischen Banditen aus einem Zug nach Peking entführt wurde. Schwer, sich nach zwanzig Jahren diesen Zug zu vergegenwärtigen. Vergeblich verweilt er beim verschwommenen Gesicht des einen Banditen, der ihn mit dem Gewehrkolben aus dem Abteil getrieben hatte. An den Zug von Bangalore dagegen erinnert er sich genau. Krähen überall auf den Feldern. Nichts als Krähen. Dörfer mit Heuhaufen und Schreinen aus weißem Kalk. Krähen und Schreine. Die ganze Zeit. Und plötzlich fällt ihm wieder ein, was sich damals im Lager der chinesischen Banditen abspielte: Auf die Frage des mongolischen Führers nach den angeblichen Zauberkräften von Jesus nahm ein jugendlicher Philip Embree für »unseren Burschen« die Macht in Anspruch, einer ganzen Menschenmenge zu essen zu geben. Eben ist noch eine Dame hinzugekommen und schildert ihre besonderen Probleme mit Indien. Letzte Woche war sie nach Hause gekommen und fand ihren Koch auf dem Boden ausgestreckt; ein Ameisenzug marschierte über sein Gesicht. Zuerst war sie entsetzt und dachte, er sei tot, aber sein Schnarchen verriet, daß er bloß betrunken war. Als sie ihn wachrüttelte, drohte er, er werde sie umbringen, sobald er die Gelegenheit dazu habe. Natürlich warf sie ihn sofort hinaus. Daraufhin drohte er prompt, er werde wiederkommen und ihre ganze Familie umbringen. Seitdem muß sie rund um die Uhr einen Wächter bezahlen. Die anderen Damen zeigen ihr Mitgefühl. An alldem sei die Unabhängigkeit schuld, stellt eine fest – diese Leute seien einfach außer Rand und Band. Die Furcht erhebt sich aus dem, was anders ist. Aber da das Andersartige überall ist, wo du nicht selbst bist, lebst du in ständiger Furcht. Ist es das? Wirklich? Ist es das? Guter Gott, nein, denkt er. Es muß einen anderen Weg geben, aber ein anderer Weg 130
bedeutet, daß du das Nicht-Selbst in dir selbst finden mußt. Aber deswegen meditierst du doch jeden Morgen, du Idiot. Er trinkt. Da draußen im gleißenden Mittagslicht laden dunkle Frauen weiter Ziegel auf und ab. Er sieht zu, wie eine Frau eine Stoffbahn auf ihrem Kopf faltet, dann rasch das Ende kreisförmig windet, eine flache Krone, auf die sie ein Metalltablett legt. Langsam lädt eine andere Frau Ziegel auf das Tablett. Embree zählt mit: eins … zwei … drei … acht Steine. Ob er so viele tragen könnte? Ein paar nackte Kinder hocken nahe der Baustelle und warten geduldig darauf, daß ihre Mütter zu arbeiten aufhören, die Mittagsmahlzeit kochen, ihnen zu essen geben. Am Tisch nebenan sprechen sie von Magengeschwüren und Drogensucht bei ihrer Dienerschaft und von der alarmierenden Häufigkeit von Elephantiasis bei Südindern. »Die Unabhängigkeit hat die Spitäler ruiniert«, erklärt eine Dame mit schottischem Akzent. »Das hat ja auch niemand anders erwartet, oder? Freunde, die vor der Unabhängigkeit draußen waren, haben mich schon gewarnt, daß ich es schlimmer finden würde, als sie es seinerzeit hatten.« Embree sucht in seinem Leinenjackett, zieht ein zerknittertes Stück liniertes Papier heraus und liest noch einmal den Brief. Mein lieber Philip: Dein Brief war ein Schock für mich – aber ein angenehmer. Ich bin gerade in Eile, der Laden verlangt mehr Einsatz als je zuvor, aber laß mich für Sonja und mich sagen, daß Du uns zu Hause willkommen bist, wann immer Du kommen willst. Das war immer so. Deinem 131
Brief nach denkst Du also ernsthaft daran, zurückzukommen. Dann tu es auch. So einfach ist das. Und entschuldige Dich nie mehr für Deine Abwesenheit. Wie Sonja sagt, bist Du durch ein schreckliches Martyrium gegangen. Du bist nicht der erste Mann, der nach einem Krieg erst Zeit brauchte, um sich über seine Gefühle klarzuwerden. Also komm heim. Love, V. Was für eine bewundernswerte Frau. Der Brief seiner Frau ist vernünftig, tolerant, großzügig. Doch der Ton ist eher kühl. Wirkt beinahe gleichgültig nach wiederholtem Lesen. Letzten Endes ist ihre Einstellung zurückhaltend, ihr Willkommen genügt nur der Form. Und so sollte es auch sein. Schließlich ist er vor zwei Jahren ausgemustert worden; in dieser ganzen Zeit hat er nie versucht, mit Vera in Bangkok wieder zusammenzukommen. Ein Wunder, daß sie bereit ist, ihn zurückzunehmen. Und Sonja verteidigt ihn! Als er wegging, war sie ein schlaksiges Kind, aber heute, fast neun Jahre später, muß sie eine junge Frau sein, eine hübsche junge Frau. Ob sie die dramatischen Gesichtszüge ihrer Mutter hat? Die ausdrucksvollen Augen des chinesischen Vaters? »Ein Träger hat mir hundert Rupien aus der Handtasche gestohlen«, sagt eine der Damen gerade. Die Gruppe der Bauarbeiter da drüben hat die Arbeit eingestellt. Arbeiterinnen hocken um einen großen Eisentopf, in dem der Reis kocht. An ihre Mütter gedrängt, sitzen die Kinder da, und ihre Haut glänzt in der Sonne wie Schokolade. Die Frau am Tisch nebenan erzählt mit Gusto die Geschichte von dem Träger, der ihr die Rupien gestohlen hat: Die Polizei holte ihn ab, und später sagte ein Offizier 132
zu ihr, der Kerl habe noch nicht gestanden, würde das aber nach einer anständigen Tracht Prügel tun. Inzwischen hatte sich die Familie des Trägers außerhalb ihres Grundstücks versammelt, heulend und flehend – eine Ehefrau, zwei Kinder, die gerade laufen können, und zwei auf dem Arm, fünf größere Kinder, eine Schwiegermutter, ein Bruder und drei Schwestern, alle möglichen Vettern, Neffen, Tanten und Onkel. Alle zusammen machten sie einen Lärm, der in der ganzen Nachbarschaft zu hören war. Als sie die Polizei rief und bat, die Anklage gegen einen Mann mit so vielen Verpflichtungen zurückzuziehen, sagte man ihr, er habe eben gestanden; er werde fünf Jahre kriegen. »Die Polizei wollte ihre Macht unter Beweis stellen, sonst nichts«, erklärt eine der Damen. »Was Sie wollten, meine Liebe, spielte keine Rolle. So ist es mit der Unabhängigkeit eben.« Embree nimmt noch einen Schluck von seinem Gimlet und genießt den erfrischenden Geschmack von Gin und Limone. Indien gewöhnt sich an Menschen. So muß es auch sein, sagt er sich. Optimismus. Wenn du ausharrst, wird Indien dich eines Tages annehmen. So würde es ihm gehen, hat einmal jemand behauptet, und dann kam es auch so. Nicht irgend jemand. Es war Harry. Harry sagte zu ihm, er werde lernen, Indien zu lieben, wie er noch nie ein Land geliebt habe – über alle Vernunft, mit dem blinden Vertrauen eines Mannes, der eine Frau liebt. Embree trinkt seinen Gimlet aus und bestellt bei einem Boy einen neuen. Drei Gimlets in der Mittagsstunde von Madras sind tollkühn, aber er muß einen Weg durch diese grellen, bösen indischen Minuten finden, durch sie 133
hindurch und fort von den Erinnerungen. Ein großer Mann mit runden Schultern schiebt sich jetzt in Embrees Blickfeld. »Mister Embree? Entschuldigen Sie meine Verspätung.« Embree erhebt sich zum Händedruck. »Mister Frazer.« Die Hand ist fest, das Lächeln offiziell, das Haar von grauen Strähnen durchsetzt. Als sie Platz nehmen, rückt Frazer den Stuhl so, daß die Sonne seinen Kopf von hinten bescheint und damit sein Gesicht im Schatten liegt. Ein typischer Diplomat. Nicht negativ sein, sagt sich Embree. Trotzdem fühlt er sich unbehaglich, während sie Höflichkeiten austauschen. Während der Boy Frazers Bestellung aufnimmt, fällt Embree etwas ein: In Burma banden sich die Japaner in Bäumen entlang des Weges einer alliierten Kolonne fest; sie machten sich die Sonne zunutze und wählten ihre Position so, daß die Augen sich nähernder Kundschafter geblendet wurden. Embree blinzelt ein paarmal, als könne er sich damit befreien – von Burma, vom Krieg, von Harry, von allem. »Also.« Frazer legt beide Hände auf den Tisch – mit der Entschiedenheit eines Schulmeisters, der den Unterricht beginnen will. »Ein Vergnügen, Sie zu treffen. Irgendwie haben wir uns bisher verpaßt. Ich bin noch nicht lange in Madras auf Posten, deshalb kenne ich noch nicht alle unsere Staatsangehörigen. Sind Sie Mitglied im Madras Club, Mister Embree?« »Ich bin nie beigetreten.« »Vielleicht darf ich für Sie bürgen?« Solch unerbetene Protektion lenkt Embrees vermehrte Aufmerksamkeit auf seinen Gastgeber. Er betrachtet 134
Frazer jetzt genau: Schmales, fahles Gesicht, Hornbrille, das zurückweichende Stirnhaar grau durchsetzt. Aussehen eines Professors oder Hausarztes. Dabei unter den richtigen Umständen vielleicht ein gefährlicher Mann. »Das mindeste, was ich für jemand tun kann«, spricht Frazer leichthin weiter, »der 1942 bei Yengangyang gekämpft hat.« Er lehnt sich zurück und kneift seine Augen zusammen, um Erinnerung bemüht. »Sie waren Verbindungsoffizier bei der Fünften chinesischen Armee. Unter – wer war’s noch – Sun Lijen.« »Nein. Sun Li-jen hatte die Achtunddreißigste Division«, korrigiert ihn Embree gerade, als Frazers Drink kommt. Frazer nippt nachdenklich und stellt dann das Glas auf das Tablett des Boys zurück. »Ich habe einen Bitteren bestellt, nicht einen Süßen.« »Waren Sie in Burma, Frazer?« »Bin nie hingekommen. Bei Yengangyang haben Sie die Kriegsverdienstmedaille bekommen.« »Ja, die KVM oder ›kannst verrecken, Mann‹ haben wir’s genannt.« »Und sehr viel später, glaube ich, haben Sie den Kriegsverdienstorden bekommen.« Die Kronen von Frazers tabakgebräunten Zähnen werden sichtbar. Embree faßt dies Zähnezeigen als beherrschtes Lächeln auf. »Sie haben ein ganz nettes Dossier über mich.« »Mache ich Sie unsicher?« »Im Gegenteil. Es macht mir Spaß.« Embree toastet ihm zu. Es ist wirklich so, sagt er sich: Zu bestimmten Zeiten solltest du zuviel trinken, so wie eben jetzt einem Konsul der Vereinigten Staaten gegenüber, der deinen Lebenslauf 135
offensichtlich auswendig gelernt hat. »Ich bin froh, daß es Ihnen Spaß macht«, sagt Frazer. »Mir auch. Militärgeschichte ist ein kleines Hobby von mir. Ich beneide jemand, der Bill Slim, Joe Stilwell, Orde Wingate kennt. Was hielten Sie von Wingate?« Embree denkt an den kleinen Briten mit dem schwarzen Bart und den dämonischen Augen, mit seinem Verfolgungswahn und seinem unerschütterlichen Sendungsbewußtsein, das viele vernünftige Männer so in seine verrückten Pläne verwickelte, daß sie auf seinen Befehl ohne Zögern in den Tod gegangen wären – und es oft auch taten, dort im Dschungel. Einmal, bei dem Schlamassel von China, Burma und Indien, als Embree beim Kommando Einhunderteins war, empfingen sie eine Funkbotschaft von Brigadier Wingate: Alles, was dir vor die Hände kommt, es zu tun mit deiner Kraft, das tu. Ein Zitat aus dem Prediger Salomo, das Embree seit seiner Kindheit begleitet hat, ihn später in der Phantasie verfolgt, sein Urteil beeinträchtigt und ihn zum Helden wie zum Verräter gemacht hat. Wie eigenartig, daß der fremde britische General in einem kritischen Augenblick gerade dieses Bibelzitat gewählt hat. Aber von alledem sagt Embree dem amerikanischen Konsul nichts. Statt dessen beschreibt er Wingates Gewohnheit, riesige Mengen Zwiebeln zu essen und in splitternacktem Zustand Interviews zu geben. »Ich würde gern mehr von Ihren Erfahrungen im Krieg dort hören. Wer war der beste General Ihrer Meinung nach? Stilwell?« »Nicht Stilwell. Er konnte seine Gefühle nicht beherrschen.« »Hatten Sie einen Zusammenstoß mit ihm?« 136
»Natürlich. Das steht doch in Ihren Unterlagen. Deshalb ging ich ja zum Sonderkommando. Sun Li-jen war der beste Militär, dem ich im Krieg begegnet bin. Er war auch der zweitbeste General im Feld, den ich je gekannt habe.« »Und der beste?« Embree macht eine wegwerfende Handbewegung. »Jemand, den ich vor langer Zeit gekannt habe.« »In China?« »Ja. Ein Warlord.« »Und der schlechteste?« Der Konsul zieht eine Pfeife und einen Tabaksbeutel aus seinem Jackett. Er läßt nicht locker, denkt Embree. »Das ist leicht. Tschiang Kai-schek.« Frazer hört auf, Tabak in den Pfeifenkopf zu stopfen. Er zieht die Augenbrauen hoch. »Das interessiert mich enorm. Warum?« Embree leert sein Glas. »Er konnte nicht delegieren. Er führte das Frontkommando von seinem Hauptquartier aus. Er erließ Regimentsbefehle für Burma, während er zweitausend Meilen entfernt in Tschungking war. Bis seine Befehle übermittelt wurden, waren sie sinnlos. Tschiang ist der schlechteste. Absolut.« »Wer war der chinesische Warlord, von dem Sie so bewundernd gesprochen haben?« »Er ist tot.« Jenseits des sonnenbeschienenen Rasens sind die Arbeiterinnen wieder zu ihrem Ziegelhaufen zurückgekehrt und arbeiten – wie ein Zug Ameisen. »War er Kommunist?« »Nein. Er ist nun mal tot.« »Wann haben Sie ihn gekannt?« »1927. Es wundert mich, daß das im Dossier fehlt.« 137
Frazer pafft kräftig. »Warum machen wir nicht Nägel mit Köpfen.« Embree zählt wie ein Schulmeister – was Frazer vermutlich gefällt – jeden Punkt an den Fingern auf. »Theologiestudium an der Yale-Universität. 1927 China, um als Missionar zu arbeiten. Aus dem Zug von mongolischen Banditen entführt.« Mit einem kaum merklichen Achselzucken läßt er die Hand sinken. »Eins führte zum andern, ich wurde sozusagen befreit. Dann schloß ich mich den Befreiern an, der Verteidigungsarmee von Süd-Schantung. Ich war in der Kavallerie von General Tang Schan-teh.« »Tut mir leid, nie von ihm gehört.« »Das hätten Sie bestimmt, wäre er am Leben geblieben.« Der Boy kommt mit den Speisekarten. Die Vorkehrungen für einen faden britischen Lunch beschäftigen die Männer eine Weile. Als der Boy gegangen ist, zündet Frazer seine Pfeife wieder an. »Höchst ungewöhnlich«, murmelt er. »Entführungen waren damals nichts Ungewöhnliches. Hat es nicht amerikanische Filme darüber gegeben?« »Ein amerikanischer Missionar in der Armee eines chinesischen Warlords. Ich nenne das höchst ungewöhnlich. Ich meine, das kommt nicht oft vor.« »Und ist nicht leicht zu verstehen.« »Ja, eben. Ein Missionar, die Armee eines Warlords.« »Ein Mann, der behauptet, so etwas gemacht zu haben, könnte unzuverlässig sein oder lügen.« Frazer zieht stark an seiner Pfeife und enthält sich jeden Kommentars. »Ich werde damit fertig«, sagt Embree, »indem ich mir vorstelle, ich wäre ein Hund.« Frazer lacht laut auf. 138
»Nein, wirklich. Man steckt einen Welpen in einen Käfig und läßt ihn drin, bis er ausgewachsen ist. Solange er im Käfig ist, lernt er die Kommandos – ›Sitz‹, ›Platz‹, ›Bei Fuß‹, wissen Sie. Aber es kommt der Moment, wenn Sie die Käfigtür weit aufmachen. Sie geben die gewohnten Befehle – ›Sitz‹, ›Platz‹, ›Bei Fuß‹. Und was macht der Hund?« »Ausreißen,« Frazer zieht grinsend an seiner Pfeife. »Nichts wie ausreißen. Aber trotzdem haben Sie etwas Ungewöhnliches getan.« »Heute weiß ich das. Damals wußte ich nur, daß ich mich von einem ungewöhnlichen Vater befreien mußte.« »Wahrhaftig – wenn er Sie dazu brachte, so etwas zu machen!« »Er war zehn Jahre als Feldprediger hier in Indien. Haben Sie das in den Akten?« Frazer lächelt. »Ich fürchte, nein.« »Er leitete eine Mission in Bihar. Ich war dort, nachdem die Japse uns aus Burma rausgeworfen hatten. Ich habe die Mission aufgesucht, aber die Inder hatten sie in ein Dorfspital verwandelt.« »Das hätte Ihrem Vater nicht gefallen.« »Sie verstehen also. Er war ein Mann mit einer einzigen Idee. Und alles mußte sich ihr fügen. Meine Mutter, meine Schwester, ich selber, seine Gemeinde, jeder, den er kannte, und alles, was er tat, mußte mit seiner Idee von Gott konform gehen.« »Furchtbar. Haben Sie sich mit ihm ausgesöhnt?« »Ich habe seit zwanzig Jahren keine Verbindung mit meinem Vater. Ich weiß nicht einmal, ob er noch lebt.« Embree seufzt. »Aber ich habe meine Schuld an ihn abgezahlt.« 139
»Was heißt das?« »Ich kam hierher, um Gott zu finden. Wirklich. Genau deswegen kam ich hierher. Um zu sehen, um was er eigentlich all diese Jahre so einen Wirbel gemacht hatte.« »Und haben Sie Gott gefunden?« »Nun, ich habe es versucht. Ich habe eine Menge über Indien gelernt«, sagt Embree ausweichend. Das Essen kommt, ein Anlaß, das Thema zu wechseln. Sie sprechen jetzt von dem Gerücht einer bevorstehenden Dürre. Jenseits der Clubveranda zittert die Luft von Madras im Licht der Mittagssonne. Draußen gehen die dunklen Frauen mit ihren Ziegeln zum Gerüst, dann wieder zurück durch die Totenstille, die die Hitze begleitet. Am Tisch nebenan diskutieren die Damen jetzt über Mode in England. »Sie wissen sicher, daß Gandhi wieder begonnen hat zu fasten«, sagt Frazer und legt seine Gabel hin, als wolle er sich gänzlich auf ein Thema von Bedeutung konzentrieren. »Niemand glaubt, daß das die Dinge in Delhi verändern wird. Die Leute nennen ihn Mohammed Gandhi. Ich finde, seine eigenen Hindu gehen schlecht mit ihm um.« »Vor zwei Jahren in Kalkutta nannten sie ihn Dschinnahs Sklave, aber die Stadt hat er gewonnen.« »Haben Sie ihn jemals gesehen?« »Einmal«, sagt Embree. »Während der Aufstände in Kalkutta. Ich ging nicht auf die Straße, weil sie Kerosinbomben warfen. Als ein Tumult vor meinem Hotel entstand, ging ich, um nachzuschaun. Und da kam Bapuji in seinem dhoti die Straße heraufgerannt, mit einem Gefolge von Moslems, die kaum Schritt halten konnten. Eins war interessant –«, auch Embree legte jetzt seine Gabel hin. »Ich konnte sehen, wie sich die Muskeln seiner Schenkel bewegten. Der Mann wirkt schmal, gewiß, aber 140
so, wie ein Läufer schmal ist.« »Interessant. Was denken Sie über China?« Frazer zündet seine Pfeife an und blickt geradeaus durch das aufflammende Feuer und den aufsteigenden Rauch. »Haben Sie sich in den letzten paar Jahren auf dem laufenden gehalten?« »Nicht richtig. Was ich weiß, entnehme ich der Lektüre des Hindu.« »Der gute, alte zuverlässige Hindu.« »Ich weiß, daß Marshall umsonst versucht hat, die Roten und die Kuomintang zu versöhnen. Und daß die Kämpfe weitergehen.« Und nach kurzem Nachdenken: »Hat nicht Truman vor einiger Zeit neue Richtlinien erlassen? Hände weg von China? Sollen sie doch ihr Durcheinander selbst in Ordnung bringen?« »Im Dezember 1946. Dann rief er Marshall zurück, und das Durcheinander wurde schlimmer. Dieses vergangene Jahr war schwierig für die Chinesen«, bemerkt Frazer. »So sind fast alle Jahre für die Chinesen.« »Reisaufstände brachen in den Städten aus. Studenten demonstrierten gegen die Korruption. Wir hoben unser Embargo gegen Lieferung von Kriegsmaterial an die Kuomintang auf.« »Nach der Hände-weg-Erklärung von Truman. Ich verstehe. Ich denke mir, daß das den Roten gefallen hat.« Frazer übergeht den Sarkasmus. »Tschiang Kai-schek ordnete allgemeine Mobilmachung zum Krieg gegen die kommunistische Rebellion an.« »Und die Kämpfe?« »Letzten Sommer haben die Roten eine begrenzte Offensive nördlich des Yangtse gestartet.« »Jetzt, wo Sie es erwähnen, fällt es mir wieder ein.« 141
»Die Roten haben in der zweiten Hälfte 1947 Erfolg gehabt. Gewinne in Schansi, Hopei, Honan. Jetzt ist die Mandschurei in Reichweite.« Frazer zieht die Schultern hoch, was einen Anflug von Ekel oder auch Verzweiflung bedeuten mag. »Tschiang Kai-schek sollte die Mandschurei besser halten, sonst ist er seinen Stahl und seinen Weizen los.« Frazer ruft den Clubboy herbei. »Kaffee oder Tee?« Embree schüttelt den Kopf. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, noch einen Gimlet. Ich finde, heute ist mein Tag zum Trinken.« Als der Boy weg ist, sagt Frazer: »Ihre Einschätzung von Tschiang Kai-schek ist nicht gerade ermutigend.« »Ach, machen Sie sich nichts draus. Wissen Sie, ich sprach von der Zeit vor fünf Jahren. Man kann keine allgemeinen Feststellungen über irgend etwas in China treffen, nicht einmal über Generäle. Um überhaupt etwas zu wissen, muß man dort sein.« »Ganz meine Meinung.« Frazer schweigt lange, er scheint sich weitere Fragen zu überlegen. Soll er, beschließt Embree. Der Mann macht nur seinen Job. Und dieser Lunch war ein Scherz. Heute nachmittag hat er frei, die Exportfirma hat wegen des Fests in Mylapore geschlossen. Embree merkt, wie er lächelt, als der Boy Kaffeekanne und Tassen heranschleppt und, was das wichtigste ist, einen neuen, eiskalten Gimlet. Embree erhebt sein Glas: »Auf China. Der Beste soll Sieger sein.« »Sind Sie wirklich so neutral, Mister Embree?« »Das nehme ich doch an.« »Halten Sie es nicht für wichtig, wer gewinnt – Nationalisten oder Kommunisten?« 142
»Ich bin politisch neutral. Mir ist wirklich alles egal, solange es dem chinesischen Volk gut bekommt.« »Aber ohne Politik geht doch nichts! Oder sagen wir: Wer wird dem chinesischen Volk wohl eher helfen?« »Ich glaube nicht, daß ihnen überhaupt jemand wirklich helfen kann.« »Aber von den beiden Parteien –« »Ich weiß nicht.« Frazer zündet seine Pfeife wieder an. Embree lächelt: Er hat einen ehemaligen Professor vor sich, der zum G 2, zur Feindaufklärung, gegangen ist. »Wir haben uns gedacht«, fährt Frazer fort, »daß wir da draußen gerade jetzt eine neutrale Ansicht brauchten. Zur Beurteilung. Vielleicht haben unsere Leute sich zu schnell auf eine Seite geschlagen.« Embree trinkt. »Wenn man von einem Amerikaner sagen kann, daß er sich in chinesischen Dingen auskennt, dann trifft das bestimmt auf Sie zu. Sie sprechen die Sprache –« »Mein Mandarin ist verrostet. Etwas Dialekt. Nicht allzuviel Chinesisch.« »Genug immerhin, daß Sie schon als Übersetzer davon gelebt haben.« »Was ich heute über China weiß, lese ich im Hindu.« »Mister Embree, vielleicht setzen wir ja auf das falsche Pferd. Wären Sie nicht interessiert, einzureisen und sich für uns umzusehen? Soviel ich weiß, ist Ihr Job hier in Madras nicht dringender Natur.« »Soll das heißen, daß Sie mir einen Job anbieten?« »In der Tat.« »Schmeichelhaft.« Ja, wirklich, denkt Embree. Er ist 143
nicht mehr jung, hat einen schäbigen Job, eine Frau nur auf dem Papier, keinen Glauben, auf den er sich stützen könnte. Trotz alledem ist dieser Mensch nicht nur bereit, ihm Drinks zu bezahlen, sondern riskiert auch noch eine kostspielige Reise – und all das im Dienst seines Landes. Schmeichelhaft. »Tut mir leid. Ich kann einfach nicht annehmen.« Der amerikanische Konsul klopft die Asche seiner Pfeife in seiner Kaffeetasse aus, eine rasche Geste der Enttäuschung. »Ich habe eine Frau und eine Stieftochter. Ich habe sie seit 1939 nicht gesehn. Aber das wissen Sie wahrscheinlich. Während des Kriegs hatte ich nie Urlaub, und danach kam ich hierher.« Embree macht eine Pause. »Ich möchte jetzt nach Hause. Nach Bangkok.« »Das kann ich verstehen. Sie fühlen sich Ihrer Familie verpflichtet.« »So seltsam das scheinen mag. Ich habe diese ganze Zeit gebraucht, um zu begreifen, wo mein Leben hingehört. Jetzt habe ich Verpflichtungen in Bangkok.« »Vielleicht könnten Sie Ihre Familienschuld abtragen und gleichzeitig Ihrem Land dienen.« »Und wie soll das vor sich gehen?« »Wir wissen, daß Ihre russische Frau ebenfalls Chinesisch spricht. Sie hat in China gelebt. Sie könnten zusammen reisen.« »Auf welcher Basis?« »Als Sprachforscher reisen. Als Gelehrte. Es gibt immer noch ein paar in China.« Ist das ein spontaner Einfall oder sorgfältig vorbereitet? Auf jeden Fall scheint der Plan bis zu einem gewissen Punkt durchführbar – dem Punkt nämlich, daß Vera immer 144
gesagt hat, sie werde nie wieder ihren Fuß auf chinesischen Boden setzen. Frazer braucht das allerdings nicht zu wissen. »Natürlich«, fährt Frazer fort, »würde sie nicht ins Landesinnere mitreisen.« »Wohin müßte ich denn gehn? Sie haben mir doch keinen Spaziergang durch Schanghai und Peking angeboten.« Embree betrachtet die letzten Spuren von Gin und Limone in seinem leeren Glas. »Die Wahrheit ist, Frazer: Sie würde nicht mitkommen, und ich würde auch nicht versuchen, sie zu überreden. Meine Frau hat genug vom Krieg. Danke, ich fühle mich geschmeichelt. Aber es kommt für mich jetzt überhaupt nicht in Frage, nach China zu gehn.«
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er Lunch ist rasch beendet. Benommen vom Alkohol, staunt Embree über die Geschwindigkeit, mit der Frazer sich davonmacht. Er selbst erhebt sich unsicher und begibt sich am Tisch der Damen vorbei in die Bar, wo er einen weiteren Gimlet auf Kosten des Konsuls bestellt. Vielleicht wird das nächste Glas ihm das Wohlbehagen zurückbringen, das er während des Mittagessens empfand. Es hat gutgetan, vielleicht besser, als er zugeben möchte, sich an die Vergangenheit zu erinnern und darüber zu sprechen. Wie seltsam. Da hat er zu einem Fremden ganz locker über seine Jugend als gescheiterter Missionar gesprochen. Vera aber hat er nie etwas davon erzählt. Nie. Die ganzen Jahre über hat er es geheimgehalten. Sie denkt nach wie vor, er sei als Sprachstudent nach China gekommen. Seit 1927 hat er die Täuschung durchgehalten. Doch die Lüge entstand nicht ohne Grund. Nein. Vera hätte ihn fast ebenso wegen seines Verrats an Gott gehaßt, wie dafür, daß er den General verraten hat. Embree trinkt und stellt mit der Genugtuung eines Sünders, der nicht allein dasteht, fest, daß die Briten, denen er anfangs zugehört hat, ebenfalls zum Alkohol zurückgekehrt sind. Embree grinst in ihre Richtung, und sie – wie er unter dem Einfluß ihres Mittagsgins – reagieren ähnlich. »Gute Tageszeit für einen Schluck Gin, nicht«, sagt einer. »Ich wollte gerade meinem Freund so eine Geschichte erzählen. Vielleicht kennen Sie sie noch nicht.« »Sicher nicht.« Embree rutscht näher. 146
»Also: Ein Swami fragte einmal einen Brahmanen, was er sich wünschte, wenn seine Frau das nächste Mal niederkäme – Sohn oder Tochter? Zur Abwechslung wollte der Brahmane eine Tochter, weil er bereits Söhne hatte, die ihm später sein Begräbnis bestreiten konnten. ›Eine Tochter wünschst du dir also‹, sagte der Swami. ›Du wirst Zwillinge bekommen.‹ – ›Nein, ich will keine Zwillinge, wenn es Töchter werden‹, sagte der Brahmane. ›Also gut‹, sagte der Swami, ›du sollst haben, was du dir wünschst; überlaß das nur mir.‹ Als die Frau des Brahmanen das nächste Mal gebar, waren es Zwillingsmädchen, aber tot geboren. Der Brahmane beklagte sich beim Swami. ›Du hast mich reingelegt. Sie waren beide tot.‹ – ›Ach ja?‹ sagte der Swami. ›Dein Wunsch ist doch erfüllt worden – keine Zwillingstöchter.‹« Der andere Mann schlägt sich voller Begeisterung aufs Knie, aber Embree gefällt die Geschichte nicht. Er überlegt, was er ihnen erzählen könnte. Er hat plötzlich das Bedürfnis, die beiden zurechtzuweisen. Sie kommen ihm wie Feinde vor, er weiß selbst nicht warum. »Also gut, Gentlemen«, beginnt er und schwenkt seinen Gimlet. »Hören Sie gut zu. Da hat es mal einen Hindu gegeben, der von einem Tiger verfolgt wurde. Er kletterte auf einen Baum und kroch bis ans Ende von einem Ast, der über einem ausgetrockneten Brunnen hing. Mäuse fingen an, den Ast hinter ihm anzunagen, während unter ihm der Tiger darauf wartete, daß er herunterfiel.« Die beiden Zuhörer beugen sich vor, Fältchen des Vergnügens auf ihren grinsenden Gesichtern. »Auf dem Grund des trockenen Brunnens, in den der arme verdammte Hindu starrte, war ein Schlangennest. Er konnte sich also mit einem Sprung in den Brunnen nicht in Sicherheit bringen. 147
Er kroch ganz bis ans Ende des Astes und bog ihn mit seinem Gewicht tief hinunter, bis er einen Grashalm sah, der in einer Ritze des Brunnens wuchs. Er bog sich hinunter und senkte sein Gesicht tief, so tief, daß er einen Tropfen Honig von dem Grashalm ablecken konnte.« Embree trinkt seinen Gimlet aus und signalisiert damit, daß die Geschichte zu Ende ist. »Was zum Teufel bedeutet das?« fragt einer der Männer im mürrischen Ton des Mißtrauens. »Es bedeutet, daß der Hindu jeden Augenblick zu genießen weiß, den das Leben ihm bietet. Es ist die unverdiente Freude der Verzweiflung.« Sie schauen düster drein. »Na ja«, sagt der andere, »aber was soll das Ganze? Ich nehme an, irgendeine amerikanische Idee vom mystischen Osten wahrscheinlich.« »So etwas muß es wohl sein, Gentlemen.« Embree wendet sich ab und geht weg, unsicher, ob als Gewinner oder Verlierer. Natürlich könnte er wieder zurückgehen. »Kennen Sie die von dem Missionar?« Er kennt gar keine solche Geschichte, aber er könnte ja einfach loslegen. »Da war so ein englischer Missionar. Sie kennen den Typ – rotes Gesicht, feuchte Augen, versoffener Hundesohn, der immer fetter wird, so wie Sie beide.« Wer ihn wohl zuerst schlagen würde? Vermutlich der Feiste. Aber er geht weiter. Es ist ihm jetzt egal. Er denkt an den Hindu, der in einer ausweglosen Situation einen Tropfen Honig genießt. Die Geschichte, die er damals in Burma von Harry gehört hat, als Harry noch Harry war, zieht ihn in das Schattenreich, wo die Upanischaden ihr finsteres Werk fortsetzen. Ehe er heute morgen zur Meditation in den Hof ging, 148
hatte er den Abschnitt über die Furcht gelesen. Und das Fremde, das Nicht-Selbst, war hinter seinen geschlossenen Lidern während der langen dunklen Reise der Meditation zugegen, da er im halben Lotussitz sich selbst suchte – oder Gott, wie jeden Morgen. Heute jedoch, dank der Upanischaden, suchte er nicht, sondern wurde selbst zum Ziel – das Nicht-Selbst verfolgte ihn. Und es ist ihm immer noch auf den Fersen, während er den Club verläßt. Aber das wird er nicht zulassen, beschließt Embree. Er sucht sich jetzt eine Rikscha, und dann sieht er sich auf dem Fest in Mylapore nach seinem eigenen Tropfen Honig um. Auf dem Weg über den Rasen vor dem Adyar Club sieht er den Baum, auf den sich vorher die Krähen niederließen. Der Baum ist leer. Furcht. Vor dem Unbekannten. Angst vor dem nächsten Leben vielleicht. Oder vor Vera. Vor Vera? Angst, betrunken in den Sumpf seiner fernen Vergangenheit zu stolpern, das ist es schon eher. Und Angst vor Harry, vor dieser Erinnerung. Auf nach Mylapore. Kühe und Menschen schieben sich in den Verkehrsstrom, der sich durch Mylapore wälzt, vorbei an Läden, die Werkzeug, Essen, Schmuck und sogar Seelenheil feilbieten, denn bei näherem Hinsehen gleichen einige winzigen Tempeln mit ihren fußhohen Lingams, den Phallussymbolen, mit den Statuetten von Murugan, Shakti oder Venketesvara im Schatten von Nischen, fettig von geschmolzenem Kampfer und Kumkumpuder. Rikschas, Fahrräder und ein paar Autos sind zum KapaleshwaraTempel unterwegs. Viele Fahrzeuge, die sich in dieser Richtung bewegen, sind allerdings Jutkas, Bretter auf Rädern, von Ochsen gezogen und mit Bauern vom Land 149
beladen. Embree steigt aus der Rikscha und schwankt in den Menschenstrom hinein, der die Luft des Nachmittags mit Geschrei und Gelächter füllt. »Sah! Sah!« Jemand versucht, mit einem militärischen »Sir« seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken – er ahmt die Gurkhas nach, die unnachahmlich sind. Embree bewegt sich entschlossen weiter, er blickt auf die aufgewühlte Erde unter seinen Lederschuhen und all die Füße in Sandalen, unterwegs zum gleichmäßigen Trommelklang, dorthin, wo hinter dem großen Tempel unter einem provisorischen Dach aus Matten der riesige Wagen des Gottes Schiwa steht. Embree läßt sich von der Menge auf den Tempel zutreiben, der wie eine abgesägte Pyramide aussieht: Er schabt den Himmel beiseite mit dem wilden Anblick gemeißelter Gottheiten, die hoch oben in der wolkenlosen Hitze vor Ziegelfassaden zu pulsieren scheinen. Embree starrt auf die Skulpturen, und für einen Augenblick sieht er in ihnen Menschen, die fröhlich tanzen, und dann wieder Insekten, die auf einer Wand herumkriechen. Er ist betrunken, und zwar sehr, und er weiß es auch. Wie sahen die Inder diese Götter? Als tanzende Insekten? Negativ. Schon wieder diese negativen Gedanken. Ein hölzerner Wagen, mindestens fünfzehn Meter hoch, steht neben der Tempelmauer an einer Zementrampe. Er möchte die Rampe hinaufklettern und die Höhe des Wagens erreichen, aber die Menge dort läßt niemand vorbei. Embree brüllt: »Shri Sivaramamurti! Shri Sivaramamurti!« Er schwenkt die Arme und wirft sich mit dem Eigensinn des Betrunkenen gegen die Rampe, entschlossen, dorthin zu gelangen. Ein weißer Mann, der einen bedeutenden Namen brüllt, 150
genügt, um die Menge auseinanderweichen zu lassen – schon stolpert er die Schräge hinauf. »Aufpassen, aufpassen, Mister Embree!« Ein hagerer, alter Mann hastet die Rampe herunter, ihm entgegen. »Gott sei Dank, daß Sie gekommen sind. Ich wollte gerade jemand schicken, um Sie zu suchen. Kommen Sie, achten Sie auf Ihre Füße –« Embree erhebt seine Hände mit den Handflächen aneinander zum Gruß: Mister Sivaramamurti grüßt ebenfalls. »Ich wollte Sie heute unbedingt sehn. Bald bringen Sie den Gott. Kommen Sie bitte, aber Vorsicht! Ich bin entzückt. Die ganze Wedanta-Gesellschaft von Madras ist hier. Die werden Sie auch unbedingt sehen wollen.« Sie überwinden jetzt den letzten Teil der Schräge bis zu einer Plattform in gleicher Höhe mit dem Wagen, dem Säulen und ein kleines Haus aufgesetzt sind. Über der ganzen Angelegenheit spannt sich ein hölzerner Schirm. Arbeiter hämmern Stützen ein, und Dekorateure drapieren Blumenkränze an den geschnitzten Seiten des riesigen Wagens, um die Schultern von hölzernen Dämonen, die von den Ecken des Fuhrwerks dräuen. »Ich bin seit halb drei heute morgen auf«, erklärt Mister Sivaramamurti und rollt mit den Augen, blutunterlaufen vom grellen Licht und Mangel an Schlaf. Seine Zähne sind vom Betelkauen schwarz gefärbt. Seine Haut, straff über dem kleinen Schädel, wirkt im Gesicht verknittert wie Pergament. Embree fragt sich, wie es dem gebrechlichen, alten Kerl gelungen ist, sich in dem Gedränge auf den Füßen zu halten. Einen Augenblick kann er sich den Mann als Kind vorstellen. Sicher hat Sivaramamurti sich einst ebenso wie die kleinen Jungen da unten der Gefahr ausgesetzt, zu 151
Boden getreten zu werden – alles nur um des Vergnügens willen, Gott über ein paar Morgen zertrampelter Stadt paradieren zu lassen. »Wir haben Sie in letzter Zeit vermißt, Mister Embree.« »Ich war in Bangalore, in Kalkutta und Benares.« »Ach, Benares!« Der Name einer heiligen Stadt entzückt Sivaramamurti an diesem religiösen Feiertag. »Mein Freund« – er betrachtet Embree mit einem Lächeln von Kopf bis Fuß – »Sie haben etwas zugenommen.« Embree weiß, daß die Bemerkung ein Kompliment ist, und lächelt entgegenkommend. Er hat wirklich ein paar Pfund mehr als erwünscht und dreißig mehr als bei seiner Rückkehr aus Burma. »Sie sehen auch sehr gesund aus, Sir«, sagt er zu Sivaramamurti und artikuliert die Worte sorgfältig, damit der Alkohol sie nicht verzerrt. »Ich bin schrecklich entzückt, Sie zu sehn, guter Freund. Wir wollten Sie alle unbedingt sehn. Subramanian, Ramakrishnan, Vasudevan. Das Gerücht ist doch falsch, nicht? Sie verlassen doch Madras nicht etwa?« Embree atmet den Tumult der Festlichkeiten ein und kann kaum glauben, daß er so etwas jemals erwogen haben soll. »Vielleicht reise ich ab, doch. Zumindest ist es möglich.« »Und wohin?« »Siam. Wenn ich gehe. Es ist aber unwahrscheinlich.« »Wir werden das nicht zulassen«, erklärt Sivaramamurti schrill. »Wir werden Sie von da drüben zurückholen, und zwar sofort. Sie gehören zu uns, Sir!« Embree lächelt befriedigt. Seine Gedanken entfernen sich für einen Augenblick von der Menge, von seinem Freund, von dem Kompliment. Er erfindet Sätze für einen Phantasiebrief: »Meine liebste Vera: Obwohl Du nur zu 152
großzügig warst mit Deinem Entschluß, mich wiederaufzunehmen, glaube ich, daß wir alle drei – Du, Sonja und ich – glücklicher wären, wenn Du Deine Geschäfte in Bangkok verkaufen würdest und hierherkämst. Ihr beide, Du und Sonja, wärt von Indien sicher begeistert.« Sivaramamurti ergreift ihn wieder am Arm. »Ich glaube, der Gott kommt.« Unterhalb der Rampe, innerhalb des eingezäunten Gebiets, entsteht Bewegung. Am Hintereingang des Tempels, verborgen von Plattformen mit weiteren Gottheiten unter geflochtenen Dächern ist Geschrei zu hören. Durch all die Gimlets ist Embree versucht, sich gehenzulassen, aber er darf keinen verdammten Narren aus sich machen. Ein Drink oder zwei, warum nicht, aber Sivaramamurti und die anderen von der WedantaGesellschaft würden an Trunkenheit Anstoß nehmen. »Ah, der Gott kommt!« ruft Sivaramamurti. Ein Zittern geht durch die Menge auf der Plattform, und einen Augenblick lang ist Embree überzeugt, daß gleich jemand in die Menschenmasse fünfzehn Meter tiefer stürzen wird – der papierdünne Sivaramamurti wahrscheinlich –, aber bevor ein Unheil geschehen kann, wird die Bronzestatue des Schiwa die Rampe hinaufgeschleppt, von ihrem Palankin, der Sänfte, gehoben und in dem Gehäuse des Wagens plaziert. Dekorateure stürzen herbei und ordnen die Brokatrobe und die Goldkrone des Idols – es ist etwa zwei Fuß hoch und trägt auf der metallenen Stirn das Zeichen des Schiwa, des Herrn der Welt. »Laßt mich durch, laßt mich durch«, schimpft Mister Sivaramamurti und scheucht die Arbeiter mit den Händen weg. »Kommen Sie, Mister Embree, sehen Sie sich das an. Finden Sie das Gold nicht schön? Ich schon. Das sind Diamanten auf der Robe und Rubine.« 153
Embree schaut den kostbaren Gott an, der winzig wirkt unter seiner Krone, wie verloren in Hüllen von Brokat. Er zeigt die gebührende Ehrfurcht. Er ist schon zu lange in Indien, als daß er den Stolz auf die Pracht der Idole verachten würde. Und doch fragt er sich beim Anblick des unverhohlen heidnischen Abbilds wie jeden Tag hier in Indien, was wohl sein Vater angesichts solcher Götzenanbetung gelitten haben muß – sein Vater, der nicht die Phantasie besaß, hinter einer billigen Schaustellung ein Maß an Hingabe zu erkennen. »Was denken Sie, Sir? Ist es nicht prächtig?« »Ja.« Embree hebt die Hände zum Gebet und verbeugt sich vor dem Idol. »Schön und würdevoll.« »Ich bin entzückt, das von Ihnen zu hören.« Mehr Zeit bleibt nicht zum Austausch von Worten, denn Leute drängen sich um Sivaramamurti. Als Verantwortlicher für den Festwagen hat er im Augenblick mehr Macht, als ein Mann erhoffen oder ausüben kann. Embree tritt zurück und überläßt seinen Freund der Verantwortung. Der Gin hindert ihn daran, die Lobreden zustande zu bringen, die Sivaramamurti erwartet. Doch ganz von dem Problem in Anspruch genommen, wie man den Wagen von der Plattform der Rampe löst, hat der alte Mann ihn inzwischen vergessen, also mischt sich Embree in die Menge, die sich jetzt die Schräge hinunterbewegt. Es wird immer lauter; einige Männer mühen sich ab, den Wagen an zwei ungeheuren Trossen von der Rampe zu ziehen. Schwer und kreischend gerät der Wagen endlich in Bewegung. Seine dicken Holzräder, vier Meter hoch, beginnen, sich langsam zu drehen, und die Menge schreit beim Anblick der ersten Bewegung noch lauter in die Nachmittagshitze. Eine Trommel schlägt einen langsamen 154
Rhythmus, später begleitet von einer wimmernden Flöte. Embree fühlt, wie tief in seinem Innern Erregung aufsteigt. Seine Kehle füllt sich mit einem Schrei, ein weiterer Ton in einem ungeheuren Aufschrei, der Flöte und Trommel erstickt. Die großen Trossen winden und spannen sich mit der Dehnbarkeit dünner Drähte. Die Menschen schauen auf, können aber nichts von Schiwa in seinem Säulenhaus sehen, weder seine beweglichen Arme und Beine noch seine Brokatgewänder oder den kostbaren Schmuck. Der Wagen kriecht weiter vorwärts, die Männer an den Trossen treten jetzt in kleine Feuer, die von den Anbetern im Vollzug des puja schon vorher auf der Straße angezündet wurden. Es ist gefährlich, es ist aufregend, und Embree stolpert mit in dem Empfinden, daß alles unter dem wolkenlosen Himmel eine Einheit bildet. Er gibt sich den willkürlichen Bewegungen der Menge hin. Aus der ersten Reihe gestoßen, schließt er sich den Zuschauern weiter hinten an. Entlang der Prozession Schiwas stoßen und schieben sich seine Anbeter vor Panik, sie könnten den verborgenen Gott in seinem Schmuck versäumen, doch hier hinten, wo Embree jetzt mitläuft, wird still gebetet. Hier in der Ruhe am Rand, wie gebannt im Strudel eines Stroms, findet Embree zu sich selbst. Er ist allein, als starrte er in einem Spiegel in das betrunkene Gesicht von jemand, der so verzweifelt wie alle andern hier an Gott glauben möchte. Und so denkt er an seinen toten Freund Harry. Verdammt, Harry, ist es das, was du gemeint hast? Ist das alles? Du mit deinem Gedärm, das dir heraushängt wie eine Kette roter Würste, ist es das, was du versucht hast, mir zu sagen? Oder ist da mehr? Fragen, die sich Embree an jedem einzelnen Tag seiner zwei Jahre hier in Indien schon gestellt hat. 155
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mbree besteigt eine klapprige Tonga, und während Mylapore hinter ihm entschwindet, brandet der Lärm von dort immer noch an seine Ohren. Er hegt einen stillen, trunkenen Zorn gegen sich selbst, denn es ist eigentlich vollkommen klar, daß seine religiöse Ekstase auf dem Fest vorgetäuscht war. Er hatte sich beobachtet, wie er als ein Mann posierte, der fast Gottes ansichtig wird – ein Geck, der von der Seite in den Spiegel schaut. Nur wenige Menschen sind auf der Straße. Ihre Nachbarn sind zweifellos in Mylapore und laufen hinter den riesigen Rädern von Schiwas Wagen her. Aus der Ferne, wo sie Blumen werfen, etwas essen oder kaufen und sich um einen besseren Blick auf die Ereignisse drängeln, hört er immer noch ihre Freudenlaute. Er hat seit jeher ein gutes Gedächtnis. Seine Schwester Mary sagte immer, das sei das einzige, was er wirklich besitze, aber wo ist Mary jetzt? Lebendig in den Armen eines reichen Geliebten? Totgesoffen in den Straßen von New York? Bei Mary ist beides möglich, doch er, Schuft, der er ist, hat sich seit zwei Jahrzehnten nicht bemüht, die Wahrheit herauszufinden, obwohl er Mary immer geliebt hat. Der Selbstvorwurf, ein Stück Ehrlichkeit, hebt seine Stimmung. Er ruft dem Wallah ein neues Ziel zu. Anstatt heimzufahren, wird er seinen Weg nach Süden richten, in die Nähe der Greenways Road am Rand der Stadt, wo er so etwas wie Freunde hat. Seine Lektüre fällt ihm wieder ein: »Schiwa-Mahesvara, Herr des Universums, Gestalt und Gestaltlosigkeit, Kosmischer Tänzer, Der Glückliche. Seine drei Augen sind Sonne, Mond und Feuer. Sein Atem 156
ist Luft, sein Körper Erde. Er ist die Seligkeit.« Embree sieht Kinder, die in einer Ziegelei schuften – die einzigen Menschen, die anscheinend an diesem Feiertagnachmittag arbeiten. Gut zehn Kinder tragen Ziegellasten auf ihren Köpfen wie zuvor die Frauen, die er vom Club aus sah. Junge Augen unter Eisenkörben blicken sich trübe auf dem Arbeitsplatz nach dem Aufseher der Kinderkolonne um. Und das Gesicht eines der kleinen Mädchen in seiner bebenden Zartheit ist wie Lotus am Morgen; ihre Augen, die aus starrer Kopfhaltung den Weg suchen, sind so schön, daß sie einen Mann, daß sie Philip Embree zum Weinen bringen können, nüchtern oder betrunken. Er möchte das zumindest glauben. Es gibt zuviel Negatives über Indien. Er kann doch nicht von hier weggehen, nicht von diesem unheimlichen Ort der Schönheit, wo die Furcht stets aus einem selbst wie aus allem anderen, dem Nicht-Selbst, entsteht. Er wird endgültig an Vera schreiben und sie überreden, den Laden in Bangkok zu verkaufen und mit Sonja zu ihm zu kommen. Er wird sich eine neue Stelle suchen, hart arbeiten, etwas leisten. Oder er wird morgen wieder nüchtern sein und ihr einen Brief tiefster Dankbarkeit schreiben, daß er zu ihr zurückkehren darf. Eins von beidem. Mit dem gleiches Ergebnis? Embree öffnet gerade die Augen, als ein Bettler neben der Tonga auftaucht. Der Mann hat ein Bein grotesk hinter den Nacken verrenkt, die Wade am Ohr, und hüpft auf dem anderen vorwärts. Erschrocken, bestürzt starrt Embree auf das verfärbte, schimmernde Fleisch des unbeweglichen Schenkels. Embree sucht in seinen Taschen, findet ein paar Annas und wirft sie nach hinten in den Staub, wo der Mann hopsend Schritt zu halten 157
sucht. Mit einem Lächeln legt der Mann die Hand scherzhaft wie zum militärischen Gruß an die Stirn; dann läßt er sich einfach auf die Straße fallen und sammelt die Münzen im Liegen auf, das kranke Bein am Rücken wie einen mißratenen Prügel. Gestern hat Embree im Hindu gelesen, daß die Lebenserwartung in Indien dreiunddreißig Jahre beträgt. Die Lebensspanne Christi. Heute ist ein schlechter Tag – hat mit den Upanischaden schlecht begonnen und wurde nicht besser. Auch beim Lunch war es nur scheinbar gut, als er eine Menge Ansichten an einen Mann verschwendete, der ihn nur benützen wollte. Wenn er überlegt, war der Tag überhaupt nicht gut, nicht einmal in Gegenwart des guten, alten Sivaramamurti, der ihn angefleht hat, in diesem herrlichen, unheimlichen Land zu bleiben. »Da!« ruft Embree und deutet auf einen kleinen baufälligen Laden an der Straße neben einem Teestand. Über dem Eingang hängt schief ein Brett; der Nagel an der einen Ecke fehlt. Blaue Buchstaben verkünden in Englisch: Vorräte und Lebensmittel und besondere Delikatessen. Hier gehöre ich hin, denkt Embree. Im Eingang zögert er. Das einzige Licht im Laden stammt von einem Flecken Sonne hier in der Tür. Es gibt drei Tische, ein paar Stühle und dahinter eine hölzerne Theke. Zwei Männer in dhotis, mit nacktem Oberkörper, sitzen an einem Tisch, auf dem nur ihre Hände liegen. Am Ende des kleinen Raums teilt sich ein Vorhang, und ein Mann tritt ein. Er trägt eine Pyjamahose, ein loses, grobes Hemd, hat einen dicken, ergrauten Schnurrbart quer im Gesicht, einen großen Messingring durch ein Ohr und einen schäbigen, schwarzen Filzhut auf dem Kopf. 158
Das ist Balakrishnan, der Besitzer des Ladens, den man nie ohne Ohrring und Filzhut sieht. Jedesmal, wenn Embree nach der Bedeutung des einzelnen Ohrrings fragt, antwortet Balakrishnan nur mit einem glucksenden: »Ach, guter Freund!« Kaum hat er Embree entdeckt, da winkt er ihn schon durch den Vorhang in einen kleinen Hinterraum, von einer Öllampe erleuchtet. Hier sitzen zwei weitere Männer an einem Tisch. Sie haben Glasbecher mit Tee vor sich. »Tee? Kaffee?« fragt Balakrishnan mit einem Lächeln. »Ich weiß, brahmanischen Kaffee, nicht?« Er dreht sich heftig zu einem mageren Kind um, das in der Ecke sitzt. »Geh, geh, geh – Kaffee!« Er weist auf einen zweiten Tisch, auf dem der heutige Hindu aufgeschlagen liegt, zeigt auf die Zeitung. »Dürre.« Sie setzen sich, und er fährt fort: »Kein Wasser letztes Jahr, kein Wasser dieses Jahr. Kein Monsun. Haben Sie’s schon gelesen?« Ein paar Minuten lang referiert Balakrishnan über schwerwiegende Folgen der Trockenheit, als sei von einem Weißen nicht zu erwarten, daß er daran denkt: Hunger wird sich im ganzen Staat Madras ausbreiten. »Hier, Sir, Kaffee.« Und in Tamil zu dem Kind, das das Tablett bringt: »Misch ihn.« Das Kind hält zwei Messingbecher in seinen kleinen Händen und gießt heiße Milch von dem einen Behälter in den andern mit dem Kaffee. Es hält die Becher auf Armlänge auseinander und schüttet die Flüssigkeit hin und her – es wirkt wie eine geschmeidige Schlange –, bis die Mischung so schaumig und kühl ist, daß man sie trinken kann. Der Junge reicht Embree den Becher mit einer Verbeugung. Balakrishnan strahlt vor Stolz. »Gopol, mein 159
Jüngster.« Er beugt sich vor und sieht zu, wie Embree trinkt »Was wünschen Sie heute, mein Freund? Ich habe jemand für Sie.« Embree denkt an den letzten »Jemand«, den Balakrishnan ihm vermittelt hat: Sie roch nach scharfem Paprika, hüllte Embree in ihr fettes, butterweiches Fleisch und rieb ihren goldenen Nasenring an seiner Wange. Er hatte ihr fünf Rupien gegeben, um nicht zu ihr nach Hause gehen zu müssen. »Niemand heute, danke, Balakrishnan.« »Also rauchen, ja?« »Ja, rauchen.« Balakrishnan ruft Gopol herbei und flüstert. Offenbar ist das bhang irgendwo außerhalb des Ladens verborgen. Vielleicht zahlt der alte Knabe der Ortspolizei zur Zeit nicht genug. Embree bemerkt, daß die beiden Männer an dem anderen Tisch ihn beobachten. »Ihre Freunde?« fragt er. »Sie sind Kommunisten«, erklärt Balakrishnan im gleichen Ton des Stolzes, mit dem er seinen jüngsten Sohn vorgestellt hat. Embree erinnert sich, wie der amerikanische Diplomat ihn nach seiner Meinung über die heutigen Kommunisten – die chinesische Variante – gefragt hat. Ihm ist völlig egal, was diese Männer sind, solange sie ihn nicht beim Rauchen stören – und das sagt er Balakrishnan auch. »Nein, keine Sorge, Sir. Sie haben schon«, erklärt der Ladenbesitzer mit einem zufriedenen Grinsen. Und Embree sieht es ihnen an: Der nach innen fixierte Blick, die erweiterten Pupillen. Das bhang von Südindien ist ebenso stark wie der Kaffee. Während sie auf die Rückkehr des Jungen warten, erklärt Balakrishnan weiter, die Kommunisten, die nicht Englisch 160
sprächen, würden an der Konferenz des Kommunistischen Weltbunds der Gewerkschaften teilnehmen, die im kommenden Februar in Kalkutta zusammentritt. »Gute Freunde von Ihnen?« fragt Embree, gerade als Gopol durch eine Hintertür hereingerannt kommt. Balakrishnan zuckt die Achseln. Guter alter Balakrishnan, denkt Embree. Da haben wir einen Mann, der sich durch Ideologie nicht daran hindern läßt, Geld zu machen. »Sagen Sie Ihren Freunden, sie können sich zu mir setzen, wenn sie wollen. Es würde mir eine Ehre sein.« Embree wartet ab, bis der Ladenbesitzer die Einladung übersetzt hat, und sagt dann noch: »Ich habe gelernt, Männer von Überzeugung zu respektieren. Nein, übersetzen Sie das nicht.« Du bist betrunken, sagt sich Embree. Wirst sentimental. Die Männer nicken und sind mit seiner Einladung einverstanden. Aus der einen Schublade eines kleinen Kästchens nimmt Gopol Toke-Paper, aus einer anderen dreiflächig geformte Pillen. Er zerdrückt die kleinen bhang-Pyramiden auf drei Blättchen Papier und dreht jedes mit ein paar gewandten Handbewegungen, leckt und verklebt die Ränder und verteilt die Tokes an die drei Raucher. Der Ladenbesitzer zündet einen Strohhalm an der Öllampe an und reicht ihn herum, er redet und redet. »Vielleicht werden die Toten von der Dürre nicht auf den Straßen von Madras liegen – sie werden weggeräumt. Aber auf den Dörfern, glauben Sie mir, werden Menschen sterben, wo man hinschaut.« Er übersetzt sein Englisch in Tamil, die Männer nicken beiläufig zur Zustimmung und ziehen an ihren Haschischstengeln. Embree inhaliert und spürt, wie es rauh in seine Lungen dringt: Dies ist vijaya, Weib des Todes genannt, und es 161
wird nicht lange dauern, bis es sich bemerkbar macht. Während der Ladenbesitzer immer mehr Schrecken zu der bevorstehenden Dürre und Hungersnot hinzuerfindet, lehnt sich Embree zurück und erwartet das vijaya. Noch wirkt der Gin, und das befähigt ihn, sich bereits zeitweilig von seiner Umgebung zu lösen. In China war Opium der Weg dazu, doch er hat es nie genommen. In seiner Jugend lehnte er den Gebrauch von Opiaten ab, vielleicht hingen ihm damals noch ein paar Bruchstücke seiner christlichen Erziehung an. »Er soll mir bitte noch einen drehn«, sagt Embree mit einer Kopfbewegung zu der Ecke, wo Kerzenlicht eine dunkle Wange des kleinen Gopol beleuchtet. Seufzend hört Embree zu, wie die Männer selbstgerecht über die Brutalität der Moslems bramabarsieren. Er versteht zwar kein Tamil, aber er weiß es trotzdem; er erkennt es an ihren Gesichtern – mal empört, mal rechtschaffen. Da fällt ihm etwas aus China wieder ein, etwas Unglaubliches. Es geschah in Küfu, dem Geburtsort von Konfuzius, wo General Tang seine Armee biwakieren ließ. Damals war Vera beim General zu Gast – Gast ist gut, sie war Tangs Konkubine. An jenem Tag sah er Vera auf einem Hengst heransprengen, auf dem besten Pferd im Stall des Generals. Im Angesicht der chinesischen Kavallerie, in der Nähe des Marktplatzes, schlug sie einen Mann brutal mit der Reitpeitsche zu Boden. Er war ein Sowjetagent, den die Komintern dem Hauptquartier des Generals als Beobachter zugeteilt hatte. Vielleicht enttäuscht über die chinesische Gleichgültigkeit seiner Mission gegenüber, hatte der rote Russe zum Opium gegriffen. So kauerte er, hilflos in seinem Rausch, zwischen den trampelnden Pferdehufen, während die Reitpeitsche wieder und wieder niedersauste, geschwungen von einer Frau, aus Rußland wie er, die 162
durch endlose, eisige Meilen ihrer Heimat geflohen war. Sie hatte erlebt, wie ihre ganze Familie umkam bei dem Versuch, Menschen zu entkommen, die wie dieser Mann überzeugt waren, daß Leute wie sie nicht verdienten zu leben. An diesem bestimmten Tag im Jahr 1927 rächte sich Vera Rogataschewa am Kommunismus – unterstützt von einem Hengst und ein paar Pillen Opium. Und von mir, denkt Embree. Damals habe ich mich in sie verliebt. »Und Sie, Sir, was denken Sie darüber?« Embree blinzelt Balakrishnan an. »Was ich denke – worüber?« »Daß Moslems in Lahore arme Sikhs ermorden.« Embree lehnt sich zurück. Er lächelt und schluckt zufrieden. »Ja, mein Freund, ich will Ihnen von den Sikhs erzählen, den armen Kerlen, der Minderheit da oben im Punjab«, beginnt er. »Übersetzen Sie für meine beiden anderen Freunde, ja? Ich möchte jetzt, daß ihr alle erfahrt, was ich von einem Subadar eines Gurkharegiments gehört habe, das letzten Sommer dort für Frieden sorgen sollte.« Und Embree berichtet. Jedesmal, wenn Balakrishnan übersetzt, was er sagt, starrt er auf die Maserung des Tischs, wo ein Gesicht aus dem Holz auftaucht. Er erklärt, wie bewundernswert systematisch die armen Sikhs vorgingen. Unter dem Befehl der Anführer in blauen Turbanen griffen sie die Moslembezirke einer Stadt in Gruppen zu je achthundert Mann an. Die erste Welle, mit Gewehren und leichten Maschinengewehren bewaffnet, kümmerte sich um Heckenschützen, die womöglich auf den Dächern lauerten. Die zweite warf Granaten in die Häuser der Moslems. Die dritte Welle legte Brände, indem sie in brennende Lumpen getauchte Speere in offene Fenster schleuderten. Die vierte Welle, mit Speeren und 163
Schwertern und Äxten bewaffnet, tötete Männer und Kinder und schleppte die Frauen weg. »Das haben die armen Sikhs getan«, schließt Embree und nimmt einen tiefen Zug vijaya. »Ein Beispiel für Gleichberechtigung in der Gewalttätigkeit.« Er bemerkt, daß die Männer am anderen Tisch ihn düster anblicken, und fühlt, wie sich seine Mundwinkel zu einem freundlichen Lächeln dehnen. »Sind meine Kameraden zornig, Balakrishnan?« Auch der Ladenbesitzer macht ein ernstes Gesicht. »Wissen Sie, Sir, die Männer denken, daß Sie die Moslems und ihre Laune der Natur verteidigen.« »Laune der Natur?« »Mohandas Gandhi. Sie hoffen, daß diese Laune der Natur diesmal beim Fasten stirbt.« »Ach, tatsächlich?« Embree schüttelt den Kopf, zieht stark, als könnte der Rauch seinen Kopf klären wie mit einem Hammerschlag. Aber er weiß, daß er nur blöde grinst, als er feststellt: »Und Bapu hat einmal gesagt, sein Wunsch sei, jede Träne aus jedem Auge zu wischen.« Wie sentimental, so etwas zu sagen. So redet ein Betrunkener. Aber er ist froh, daß er es gesagt hat. Balakrishnan, der nicht mitgeraucht hat, schiebt seinen schäbigen Filzhut zurück. »Und?« sagt Embree. »Wollen Sie nicht übersetzen, was Bapuji gesagt hat?« »Sie mögen diese Laune der Natur nicht. Sie sind Delegierte der Versammlung in Kalkutta, Sir.« Embree starrt die beiden Männer unverwandt an. Sie sind nichts als zwei Männer, die ihm gegenübersitzen und in dem heißen Raum bhang rauchen, trotzdem irritieren sie ihn irgendwie. Vielleicht, weil Embree weiß, daß er sie 164
ebenfalls stört. »Frag sie, was sie im Krieg gemacht haben. Irgendwas sagt mir, daß sie Soldaten waren.« »Ja, Sir, das stimmt!« sagt Balakrishnan laut und winkt dann energisch Gopol, er soll noch eine Zigarette drehen. »Sie waren Soldaten bei der INA.« Embree lacht und schlägt mit beiden Händen auf den Tisch. Das ist es also: Die indische Nationalarmee. Da haben sie ihre Arroganz her – von der alten INA, diesem Renegatenpack von Patrioten und politischen Dissidenten, die sich den Japanern anschlossen und mit ihnen versuchten, durch Burma in Indien einzudringen. Wenn er sich sehr bemüht, kann er immer noch ihren Sammelruf hören: Chalo Delhi! Er trägt ihnen ihren Kampf um die Freiheit nicht nach. Soweit er überhaupt auf Politik reagiert, dann mit Haß gegen Unterdrückung und einem Hurra auf die Unabhängigkeit. Gräßlich vereinfacht, aber seine eigene Haltung. Was er an diesen Männern nicht ausstehen kann, ist nicht ihre Politik, sondern ihr militärisches Verhalten. Er verachtet schlechte Soldaten wie diese und ähnliche Männer. Und als Soldat, als Veteran, befeuert von Gin und bhang zu einer Pose extravaganter Rechtschaffenheit, wird Embree jetzt zu ihnen sprechen – verdammt noch mal, wenn er nicht entschlossen ist, es ihnen zu geben. »Chalo Delhi!« ruft er sarkastisch. »Waren die bei Imphal dabei?« fragt er Balakrishnan. Imphal. Embree selbst war nicht dort, aber Freunde sind bei Imphal umgekommen, in den malariaverseuchten Tälern, von japanischer Artillerie in Stücke gerissen, den Würmern und Geiern überlassen. »Bei Imphal?« wiederholt er, ehe Balakrishnan die Frage übersetzen kann. »Waren sie bei Imphal dabei, verdammt?« Balakrishnan beeilt sich zu fragen und wendet sich 165
wieder Embree zu. »Nein. Nicht bei Imphal gewesen.« »Bei Imphal gegen das britische Vierte Corps – hört mal her – hat die Erste Division der INA überhaupt nichts getan. Überhaupt nichts. Die Japaner dagegen schon. Übersetz das!« Embree beugt sich leicht nach vorn und bemerkt mit sanftem Interesse, daß drei weitere Männer den Raum betreten haben. Er blickt flüchtig auf Gopol und wundert sich, weshalb die Augen des Jungen ganz groß und rund geworden sind. Arme und Beine an den Körper gepreßt, sitzt er ängstlich da. Embree fällt auf, daß Balakrishnan nicht weiterspricht. »Haben Sie alles übersetzt?« Der Ladenbesitzer nickt unglücklich. »Ich möchte das bloß klarstellen«, sagt Embree. »Ich meine, wenn man genug Männer sterben gesehn hat, weiß man, daß es für sie keine andere Vergütung für den Verlust ihres Lebens gibt als die Wahrheit – daß jemand berichtet, wie es wirklich war. Wenn Indien schon Lob verteilen will, dann gehört es dem Gurkha, okay? Er wird seinen kukri nicht ziehn, ohne daß Blut fließt. Wenn er sein Messer zieht, schneidet er sich in den eigenen Finger, bevor er es wieder wegsteckt. So ist der Gurkha. Niemand macht einen besseren Einmannangriff auf Bunker, Maschinengewehrnester, sogar Panzer. Niemand auf Gottes weiter Welt. Übersetz das.« Die Männer sitzen teilnahmslos da, während Balakrishnan zu ihnen spricht. Embree fühlt aller Blicke auf sich gerichtet. Es macht ihm allerdings nichts aus, weil er gerade an seine Axt denkt. Hat er lange nicht getan. 1927 hat er sie bekommen, in China hat er damit getötet. Ließ sie 1939 in Bangkok zurück, als er nach Kunming ging, um sich Stilwell anzuschließen. Brauchte die Axt damals nicht. Hatte nicht vor, lange wegzubleiben. Wußte nicht, daß sechs Jahre Krieg zwischen ihn und Bangkok 166
geraten würden, dann zwei Jahre hier in Indien auf der Jagd nach Gott. Balakrishnan ist mit der Übersetzung fertig. »Die Japse waren auch verdammt zäh«, sagt Embree. »Von hundert mußte man fünfundneunzig töten. Die letzten fünf brachten sich selber um. Jedenfalls fand man nie verwundete Japaner in Feldlazaretten. Ihre Kameraden brachten sie um, damit sie nicht durch Gefangenschaft entehrt würden. Starben in den Bunkern mit ihren Mädchen – mit ihren burmesischen, japanischen, malaiischen und siamesischen Mädchen. Wer mit ihnen ging, starb mit ihnen. Wir wollen das klarstellen, denn binnen kurzem werden es alle vergessen haben: Diese Japaner konnten kämpfen. Sie schleusten sich ein, lagen im Hinterhalt, bauten Straßensperren. Mit einem Fahrrad und einem Bajonett brachten sie mehr zustande als andere Soldaten mit Panzern und Kanonen. Die Briten hielten sich an die Straßen, aber die Japse, wißt ihr, hielten sie mit Straßensperren auf und schlüpften durch den Dschungel – schon allein dafür, wie sie sich durch diesen Dschungel bewegten, hätten sie Tapferkeitsmedaillen verdient, bloß gab es bei den Japsen gar keine Tapferkeitsmedaillen – Tapferkeit war für sie selbstverständlich. Nur mitzumachen hieß schon tapfer sein. Es gab Dumdumfliegen und winzige Büffelfliegen, die durch die Moskitonetze drangen. Und die Blutegel, die ganz kleinen, die Büffelegel und die verdammten Elefantenegel, über zwanzig Zentimeter lang. Die Kleinen krochen durch die Ösen unserer Schnürstiefel und blähten ihre scheißdreckigen Wenigkeiten an unseren Füßen auf, bis wir kaum die Stiefel herunterbekamen. Auf dem Pfad konnte man Blutegel sehn, die ihre ekligen Köpfe von den Zweigen hoben, bereit, sich fallen zu lassen. Brannte sie ab oder nahm ein Heilmittel der Bergstämme aus Ätzkalk, 167
Tabaksaft und – was noch? Kerosin. Ja, Kerosin. Wenn man sie nicht beachtet, dann machen sie diese Art Geschwür, wißt ihr, das sich wie ein Korkenzieher durch den ganzen Körper bohren kann. Ja, wirklich. Ayo Gurkhali! Das war der Schlachtruf, weißt du noch, Harry. Wir müssen uns verziehen. Männer schnitten sich in den Finger und waren in ein paar Tagen tot. Leute starben an einer gewöhnlichen Erkältung, du lieber Gott. Sie starben an Erschöpfung. Sie starben an – an einer Leere. Aber wir verzogen uns. Er hatte bestimmt hohes Fieber, aber ich schöpfte Wasser mit meinem Helm und goß es ihm über den Kopf und sagte zu ihm: ›Weiter, Harry, wir müssen hier raus.‹ So war das. Ayo Gurkhali! Jedesmal, wenn ich heute einen Hund sehe – das ist wahr, Balakrishnan –, möchte ich ihn erschießen. Ich sehe noch vor mir, wie sie die Straße entlang an weggeschossenen Armen und Beinen zerren. Hungrige, gierige Hundebiester. Sie fraßen sich an Leichen voll, bis sie ihre fetten Ärsche vor einem vorwärtskriechenden Panzer nicht mehr hochkriegen konnten. Ja – was wollte ich gerade sagen?« Embree schaut von dem Gesicht auf, das er angestarrt hat, scharf in die Maserung des Tischs eingeschnitten. Die Männer starren ihn aus fünf dunklen Gesichtern an. Er weiß nicht, was ihr Gesichtsausdruck bedeutet. Fröhlich sehen sie jedenfalls nicht drein, findet er. Bin ich paranoid oder bekifft? »Balakrishnan«, sagt er laut, als er merkt, daß der Ladenbesitzer nicht mehr übersetzt – er kann nicht alles mitbekommen haben. Hat wahrscheinlich längst aufgehört. Macht nichts, macht auch nichts. Gute Männer starben bei Imphal. Auch gute Inder gaben ihr Leben bei Imphal – Gurkhas, Sikhs, Nagas, Bengalen, Pathanen, Marathas und andere, auch Männer hier aus Madras. Aber diese fünf hier wünschen mir den Tod. 168
Embree spürt, daß er aufsteht; dann fixiert sich sein Blick auf die Maserung des Tischs. Aber das Gesicht, auf das er ganz und gar konzentriert war, ist jetzt nicht mehr da. Unter ihm sind Beine, aber sie sind tot; sie sind da, aber er fühlt sie nicht. Er spricht mit Balakrishnan und bittet um die Rechnung. Dann richtet er sich zu seiner vollen Höhe auf und starrt die fünf Männer an, die zurückstarren. »Gentlemen«, sagt er mit der ganzen Würde, die er aufbringen kann, »ich meine, was ich sage. Ich freue mich, daß Sie Ihre Unabhängigkeit bekommen haben. Und es ist mir gleich, wenn Indien kommunistisch wird. Preis für Reis auf das Doppelte, für Tuch auf das Dreifache gestiegen, kein Zucker, stimmt’s? Ihr seid sauer. Also auf zu den Roten. Ich weiß, die Briten haben euch verweigert –« Embree hält ein, er hat große Mühe, Worte auszusprechen, die ihm in den Sinn kommen, wie Fische aus der Tiefe heraufschwimmen. »Sie haben euch die Freiheit verweigert und euch statt dessen gezwungen, für die britische Freiheit zu kämpfen. Ich verstehe schon das elend Paradoxe daran. Wer nicht? Aber die Briten haben euch den Wert der Freiheit gelehrt, und den haben sie euch hinterlassen, so wie Eisenbahn und Postverkehr. Und jetzt gehört die Freiheit euch, ihr könnt damit machen, was ihr wollt. Ich werde an eurer Seite kämpfen, wenn irgendwer versucht, sie dem gesegneten Indien wieder wegzunehmen.« Embree hält inne und haut dann auf den Tisch. »Was ich gesagt habe, was ich sagen wollte, war: Erzählt mir nichts von der indischen Nationalarmee. Das war gar keine richtige Armee. Das waren ein paar Politische als Anführer von Männern, die nicht in japanischen Gefangenenlagern verrotten wollten. Das waren Inder aus Siam und Malaya, die nie an die Propaganda über ein neues Asien unter japanischer 169
Herrschaft glaubten, aber sich dachten, die Japse würden vielleicht sowieso alles beherrschen. Jedenfalls dadurch, daß sie sich Bose und den anderen hirnverbrannten Radikalen anschlossen, kamen sie wenigstens aus den Lagern heraus, wo ihre britischen Offiziere starben wie die Fliegen. INA war keine Armee. Es war ein Mob, der so zu tun versuchte, als sei er eine. Balakrishnan?« Aus dem Rauch tauchen der schäbige Filzhut, der Messingohrring und darunter das dunkle, verschwitzte Gesicht von Balakrishnan auf, der verzweifelt zu lächeln versucht, während er Embree einen Fetzen Papier hinhält. »Hier, Sir, Sie wünschen es so.« Ohne auf die Rechnung zu blicken, sucht Embree in seinem Jackett nach Geld. Rupienscheine flattern heraus. Embree zählt ein paar ab und gibt sie Balakrishnan, ohne ihn anzusehen. Dann sagt Embree zu den fünf sitzenden Männern gelassen und befriedigt von der Klarheit seiner Aussprache: »Ihr verdammten Narren, Mahatma Gandhi ist eure wirkliche Nationalarmee.« »Sir.« Er dreht sich um und schaut in das verkniffene, verschwitzte Gesicht von Balakrishnan, der das Geld weggesteckt hat. »Sir, bitte bleiben Sie höflich. Diese Männer sind Delegierte der Versammlung.« Embree schiebt den Rest des Geldes in sein Jackett, er fühlt sich plötzlich bedroht. Sie hassen ihn. Sie hassen ihn nicht, weil er ein Weißer ist, weil er Geld hat, weil er sie und ihre militärische Laufbahn beleidigt hat – sie hassen ihn wegen seiner politischen Einstellung, ausgerechnet. Sie hassen ihn, weil er für Gandhi ist. »Glaubt ihr denn nicht, daß ich weiß, wie man tötet?« fragt er mit einem bitteren Lächeln. »Töten gehört zu den Dingen, die ich gut kann. Und erinnern kann ich mich 170
auch gut. Balakrishnan, goodbye.« Er dreht sich um, taucht gebeugt durch den Vorhang und geht durch den vorderen Raum. Draußen schlingert er eine Weile vor sich hin, bis ihm klar wird, daß es fast Nacht ist. »Wir müssen hier raus, Harry«, sagt er laut vor sich hin und lacht.
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m letzten Tageslicht ertönt raschelndes Flügelschlagen. Die Furcht erhebt sich … Embree blickt über die Schulter und sieht nichts als zwei Männer auf einem Fahrrad, von denen einer ein langes Eisenrohr trägt. Vor ihm kommen ein paar Menschen die Straße entlang, Bauern auf dem Heimweg tauchen aus Feldern und kleinen Wäldchen auf. Die Beleuchtung hat sich verändert. Goldene Pünktchen erscheinen im Innern der Läden und Hütten am Straßenrand, wo die Lampen angezündet werden. Weiter vorn ist gar kein Licht; dort führt die Straße aufs Land hinaus. Bald gibt es dann aber ein anderes, stärkeres Licht – den großen, zunehmenden Mond. Von irgendwoher ertönt das Wimmern einer einsamen Flöte. Embree bleibt stehen und neigt den Kopf, um zu lauschen. Das wird er in seinem Brief an Vera schreiben: »Der Klang einer einzelnen Flöte auf einer Dorfstraße, während die Nacht hereinbricht.« So etwas könnte sie vielleicht dazu bewegen, hierherzukommen. So ist Vera – sie läßt sich von der Schönheit der Dinge überwältigen. Eine Realistin, die keiner Blume widerstehen kann. »Ayo Gurkhali!« ruft er und lacht. Er hat denen da drinnen die Wahrheit gesagt. Es ist, als werde ein Segen erteilt, wenn die Wahrheit gesprochen wird; das hat Vater immer gesagt. Nur sah er die Wahrheit so, wie er sie sah. Embree spricht laut, um sich selbst Gesellschaft zu leisten. »Hallo, Vera, mein Liebes. Lange nicht gesehn, altes Mädchen. Wenn ich dir schreibe – na, so oft tu ich das ja nicht, oder? –, dann sage ich dir nicht wirklich, was ich mache. Was ich mache, ist eine Suche nach dem Gott 172
meines Vaters quer über die Landkarte von ganz Indien. Du hast nie etwas von Vater erfahren. Er war Missionar. So war das, mein Schatz. Und ich auch. Jawohl. Ein Missionar. Schwer zu glauben? Ich glaub’ es selbst kaum.« So wird er sich zu seiner religiösen Vergangenheit bekennen, wird ihr aber nicht erzählen, was er dem General angetan hat. Sie denkt, er sei bloß mit ihr davongelaufen, und das sei alles. Was sie nicht weiß, ist ein kleiner Umstand – vielleicht unbedeutend im kosmischen Plan der Dinge, aber auch wieder nicht so unwichtig: Er hat versucht, den General ermorden zu lassen. Das kann er ihr allerdings nicht sagen. Niemals. Embree brummt nervös vor sich hin. Unter dem Mond zieht manches auf der Straße an ihm vorbei: Flecken von gespenstischem Weiß, Lendenschurze. Weiter vorn sieht man wieder ein paar goldene Pünktchen – Öllampen, ein kleines Dorf wahrscheinlich. Wo bin ich? fragt sich Embree. Er ist ziemlich weit über die Ränder von Madras hinausgewandert, zu weit, als daß er eine Tonga auftreiben könnte. Er sollte umkehren, aber er will nicht umkehren. Denn das hier ist wirklich Indien: die schweigende Straße, der süße Duft von den Feldern, wo die Gerüche, die ein schöner Tag erhitzt hat, aufsteigen; das mittlerweile weit entfernte Wimmern einer einsamen Flöte; der große Mond, der auf das flache, warme, bittere Land scheint, überall von hohen Palmen mit ihren Wedeln gesäumt, Wedeln wie eine Dornenkrone, ach. Indien. Es pulsiert tief in seinem Herzen. Was Indien ist – Embree versucht, klar zu denken –, was Indien ist, ist … ein Zustand. Das ist also von seiner Suche nach Vaters Gott geblieben. Nur die Erde unter einem ungeheuren Himmel und Menschen, die auf einer dunklen Straße gehen. 173
Weiter vorn sieht er ein paar geduckte Behausungen, die ein Dorf ankündigen. Ein paar Spuren von Licht locken ihn weiter, aber als Embree eben die letzten paar stolpernden Schritte ins Dorf hinein machen will, bleibt er plötzlich stehen. Regungslos. Aus einem Bereich hinter den ehernen Pforten von vijaya und Gin stößt sein Instinkt endlich bis zu ihm vor. Embree spürt, wie sich die Haare auf seinen Armen aufrichten, spürt das leichte Schwindelgefühl, das der Gewalthandlung vorausgeht. Er dreht den Kopf, noch ehe er die verräterischen Geräusche gehört hat, und sieht in diesem einen Augenblick ein paar Flecken gespenstisches Weiß und verfolgt im nächsten die Richtung von etwas, was auf sein Gesicht niedersaust. Dieser zweite Augenblick war es, entscheidet er später, der ihn befähigt hat, sich etwas zu ducken und damit die volle Wucht der Latte oder Keule oder was zum Teufel es war, mit der Schulter aufzufangen anstatt mit dem Kopf und so sein Leben zu retten, zum Guten oder Schlechten. Durch das milde Morgenlicht schaut er in das träge Auge einer Kuh. Er bewegt den Kopf – die Bewegung sendet einen stechenden Schmerz durch Schulter und Rücken – und sieht einen Kreis nackter Kinder: schwarze Haare, tiefliegende Augen, dünne Beine, aufgeblähte Bäuche. »Oje, oje, oje«, murmelt Embree, »jetzt ist es passiert.« Er bewegt den Kopf erneut, und wieder spürt er den durchdringenden Schmerz. Er sieht einen abgemagerten Hund mit einem Rücken krumm wie ein Bogen, ein Trio zerrupfter Hennen, ein kleines Schwein, das in etwas herumwühlt, auf dem Fliegen wimmeln. Er riecht Urin, Bananen, Unrat. Embree beißt sich auf die Lippen und richtet sich schmerzhaft auf einem Ellbogen auf. 174
Ländliches Indien, in der Tat. Lebendig. Irgendwo auf dem Land in Indien. Irgendein Gerinnsel sammelt sich unter seinem Kinn. Embree braucht ein paar Sekunden, um zu erkennen, daß er sabbert. Er schließt abrupt den Mund und bekommt voll den Geschmack von schalem Alkohol und ätzendem Rauch ab. Schwer zu sagen, ob der Kopf oder die Schulter schlimmer schmerzt. Trotzdem gelangt er durch eine weitere große Anstrengung in eine sitzende Stellung. Er bemerkt, daß seine Taschen nach außen gestülpt sind. Er ist also ausgeraubt worden. Ehe er allerdings weiter darüber nachdenkt, findet er, es sei Zeit, auf die Füße zu kommen. Embree zieht seine Beine unter sich, und während er den Versuch vorbereitet, hört er den Laut – sein eigenes, unaufhörliches Stöhnen –, weswegen ihn die Kinder verwundert und erschrocken anstarren. Und da steht er, fühlt sich groß und linkisch. Der Schulterschmerz hält jetzt an, also besteht die Möglichkeit, daß etwas gebrochen ist. Egal. Lauf jetzt. Schon nach ein paar Schritten greift er mit einer Hand nach dem Stroh eines niedrigen Dachs. Wolken von grünen und blauen Fliegen stehen über etwas – einem Hund. Sie sammeln sich aufgeregt über dem räudigen, alten Fell und schwärmen um eine frische Wunde am linken Hinterschenkel. Embree starrt hin. Der Hund steht so da, als habe er Angst, sich zu setzen, weil er dann vielleicht nicht mehr aufstehen kann. Du und ich, denkt Embree. Er lächelt den Hund an, der das Lächeln als Zeichen von Feindseligkeit auffaßt; er fletscht die Zähne und haut ab mit einer Geschwindigkeit, die sein Alter und seinen Zustand Lügen straft. Will immer noch leben. Genau wie ich. 175
Embree empfindet den Wunsch nach Leben mit äußerster Klarheit, aber die Übelkeit siegt, und er beugt sich vor, um das ganze Gestern zu erbrechen: das Essen, den Gin, den Joint, die Angeberei und das Selbstmitleid und die Furcht … Er blinzelt verzweifelt, um bei Bewußtsein zu bleiben, er starrt in das Erbrochene. Plötzlich sieht er inmitten der Brocken halbverdauten Essens und schleimiger Galle etwas, was sich bewegt. Ein kleines, schwarzes Kügelchen schiebt sich durch den Unrat, sechs Beine pflügen sich langsam voran. Ein Käfer, den der Schwall überrascht hat, folgt unerschüttert seinem Weg, arbeitet sich entschlossen durch die Pfütze. Embree lehnt sich an die Wand der Hütte, atmet tief ein und beobachtet weiter, wie das Insekt über die Straße trudelt, vorbei an den Füßen seiner kindlichen Zuschauer. Woher hat das Ding so viel Willenskraft? Vielleicht ist es verantwortlich für eine schwirrende Masse von Käferkindern oder ein krankes Weib. In seinem kleinen, schwarzen Herzen treibt den Käfer ein winziger Puls durch die Katastrophe hindurch zu seiner Insektenpflicht. Verdammt noch mal. Er geht nach Hause. Und das werde ich auch an Vera schreiben. Nein, das nicht. Weiter weg sieht Embree hinter einem Feld das Wasserreservoir des Dorfes, einen runden Teich, durch die Zeit ohne Regen fast ausgetrocknet. Sein ausgedörrtes Ufer wirkt wie die faltige Haut der Elefanten, die er in Burma gesehen hat. An einem Ende des Teichs steht ein großes Terrakottapferd mit modellierter Schabracke und Zaumzeug mit Glöckchen. Ein Kudarai. Er hat sie überall im Süden gesehen: Reitpferde der Generäle des Gottes Aiyanar, die mit ihren Horden vom Himmel herabgaloppieren und die Dörfer um Mitternacht gegen böse Geister verteidigen. Nicht zufällig, wie Embree weiß, 176
ist das Pferd nahe am Wasserreservoir aufgestellt: Der Himmel stehe dem wandernden Dämonen bei, der davon zu trinken versucht! Es paßt zu diesem merkwürdigen Tag, denkt er, ein Kudarai zu sehen. Einmal habe ich auf einem Pferd geschlafen, erinnert sich Embree dumpf. Er hatte sich beigebracht, auf einem Pferd zu schlafen wie die mongolischen Reiter, deren Nachkommen ihn in China gefangengenommen hatten. Jetzt steht der Kudarai am Rand eines Reservoirs, dessen kostbarer Inhalt nur durch Wolkenbrüche, durch Gewitter, durch anhaltende Regenfälle bewahrt werden kann – sicherlich nicht durch die himmlischen Heerscharen. Aber was ist, wenn das Terrakottapferd und sein Reiter wirklich jede Nacht Dämonen zum Teufel jagen? Dies ist Indien, wie es auf dem Land ist. Vielleicht gelten andere Regeln. Regeln vielleicht, die sein Vater nicht begreifen würde, geschweige denn befolgen. Und ich bin hier, denkt er. Und ich denke nach, was es bedeutet, hier zu sein. Das ist positives Denken. Er sieht ein paar Leute, die vor ihren Hütten stehen und ihn beobachten. Plötzlich fühlt Embree sich schwach und gleitet an der Hüttenwand hinunter, an die er sich gelehnt hat. Ein scharfer Schmerz durchzuckt seinen Rücken. Mit gespreizten Beinen lächelt er die trübsinnigen Kinder an, deren Wache sich ein paar zahnlose, alte Frauen angeschlossen haben, ihre chadars wie kleine Zelte über die Köpfe gezogen, so daß nur ihre scharfen Nasen und offenen Münder zu sehen sind. Es gefällt ihm hier. Hier fühlt er sich leer, so leer wie die Münder der Alten. Wenn es je eine Zeit für ihn gab, um zu meditieren, dann jetzt. Es gab andere Zeiten in seinem Leben, wenn Meditation Wunder hätte wirken können. Immer dann, wenn er etwas verloren hatte. 177
Wie damals, als diese Banditen ihn 1927 im Zug nach Peking gefangengenommen hatten; er ließ seinen Paß zurück, sein ganzes Gepäck und die strenge, christliche Erziehung, die seine ersten dreiundzwanzig Lebensjahre geformt hatte. Aber damals meditierte er nicht. Später, als er General Tang verriet, wurde weggeschwemmt, was immer er an Überzeugung und Ehre besessen hatte, nur seine Begierde nach Vera blieb. Und als auch diese unwiderstehliche Sehnsucht schwand und nur die Macht der Wanderlust hinterließ, die ihn schon der Hand Gottes entrissen hatte, entfloh er auch Vera und war wieder auf dem Weg nach China. Jede Meile, die ihn Stilwell in Kunming näher brachte, trennte ihn von der Frau, die irgendwie seine Verluste ausgeglichen hatte, auch wenn er ihre Gleichgültigkeit ihm gegenüber vollkommen verstand. Keine Meditation, auch damals nicht. Und als er dann aus dem burmesischen Dschungel marschierte und Harry zurückließ, ließ er bei seinem toten Freund alles, was seine Treuebrüche überlebt und seinen Glauben an die Welt aufrechterhalten hatte. Als er aus dem Dschungel herauskam, war nichts mehr da – kein Bild seiner selbst, kein Glaube, weder Liebe noch Ehre, um ihn am Leben zu erhalten. Wenn je ein Mann die Freiheit hatte, zu gehen, dann er, Philip Embree. Oder die Freiheit zu meditieren. Zu sterben oder zu meditieren. Aber er hatte beides nicht getan. Die Ironie seines Überlebens ernüchtert ihn mehr als die Kopfschmerzen, mehr noch als die schmerzende Schulter. Als er den burmesischen Dschungel verließ unter den Augen einer alliierten Abteilung, änderte er alles an diesem absoluten Tiefpunkt – vielleicht dem letzten Augenblick des Philip Embree überhaupt; laut legte er den Schwur ab, der ihn hart auf diesen gegenwärtigen Augenblick zugetrieben hat: »Ich werde die Schulden 178
bezahlen, eine nach der andern. Ich werde sie alle bezahlen, falls ich überlebe.« Auch die gegen sich selbst. In diesen beiden letzten Jahren hier in Indien hat er es versucht, mit untergeschlagenen Beinen, geschlossenen Augen, jeden Morgen in die Leere eintretend. Embree schließt die Augen. Er sollte wirklich meditieren, während er da verletzt und ohne Geld in einem unbekannten Dorf sitzt. Erschöpfung und die Ereignisse von gestern haben in ihm das richtige Gefühl der Leere hervorgerufen, die Fähigkeit, sich der Freiheit der Stille zu ergeben. Dabei übernehmen seine Ohren fast augenblicklich die Funktion des Sehens: Ein Hahn kräht in der Nähe, und aus größerer Entfernung dringt ein schweres Klatschen – Frauen schlagen ihre Wäsche gegen Steine. Erst hört man ein Geräusch wie einen pfeifenden Bogen, das dann platt und naß erstirbt. Er bringt es nicht aus dem Sinn, einem Sinn, der sich auf den Rhythmus seines Atems konzentrieren sollte, auf das »Das bist du«, auf den Abgrund am Ende seiner Nase, die er nicht sieht. Seine geschlossenen Augen liefern ihm ein verschwommenes Bild von Frauen, die sich über die Steine am Rand eines sumpfigen Teichs beugen. »O Gott, du liebe Zeit, was ist mit Ihnen passiert, Sir!« Embree öffnet die Augen und erblickt einen kleinen, mageren Inder mit vorstehenden Backenknochen, einer scharfen, langen Nase und riesigen, dunklen Augen – so feucht und groß wie die Augen der wandernden Kuh, die ihn vor einer Weile bei der Rückkehr ins Bewußtsein begrüßte. Der junge Mann hält einen Schirm über seinen Kopf, als er sich herunterbeugt und Embree prüfend und ernst anschaut. 179
»O Gott, o Gott«, ruft er aus. »Haben Banditen das getan, Sir?« Embree will nicken, aber der Schmerz verbietet es. »Nicht bewegen, Sir!« warnt der kleine Mann. Er schließt den Schirm und wirft ihn auf den Boden. Er hat ein sauberes, weißes Hemd an, trägt seinen dhoti lang, dazu ein Paar staubige Sandalen. Auf seiner Stirn ist ein tilak-Zeichen, also hat er seine Morgenwaschungen vollzogen, außerdem hat er sich dort mit dem rechten Zeigefinger einen roten Fleck Kumkum hingemalt, damit es ein möglichst guter Tag wird. Embree faszinieren vor allem die riesigen Augen, feucht und klar wie die eines Kindes. »Diese Kerle würde ich am liebsten selbst verprügeln, wirklich, Sir. Was die mit Ihnen gemacht haben!« Seine englische Aussprache ist klarer, als Embree es sonst im Süden gewohnt ist. Ihm kommt der seltsame Gedanke, daß er erwartet hatte, nie mehr Englisch zu hören, daß er sein Denken auf die nächsten paar Augenblicke in diesem Dorf beschränkt hatte. »Ich bin Rama, Sir, zu Ihren Diensten. Erlauben Sie.« Der kleine Inder berührt sanft die Narbe auf Embrees Stirn, als hielte er sie für eine frische Wunde – und doch ist sie schon zwanzig Jahre alt. Lächelnd zieht er die Hand zurück. »Entschuldigung. Alt, nicht. Also wo, mein guter Herr, sind Sie verletzt?« »Ich glaube, meine Schulter ist gebrochen.« »O Gott. Schulter also.« Rama beugt sich vor, zieht Embrees Kragen mit Daumen und Zeigefinger weg und späht hinein. »Ja. Ich bin beraubt worden.« Als Rama sich über ihn beugt, sieht Embree unter dem gebauschten, weißen Hemd einen gesponnenen braunen Faden schräg über die Brust 180
des jungen Mannes hängen; diese Opferschnur läßt Embree vermuten, daß Rama zur Kaste der Brahmanen gehört. »Beraubt. Herumstrolchende Banditen also.« Embree nickt. Sinnlos, ihm zu sagen, daß es keine richtigen Banditen waren, sondern einfach wütende Veteranen, die Geld brauchten. Jetzt, wo der junge Bursche weiß, daß kein Geld da ist, um ihn für seine Hilfe zu belohnen, denkt Embree, wird er weglaufen. Und tatsächlich richtet sich Rama auf. »Ich will nur ins Dorf gehen, Sir, und jemand nach Transport schicken und dann gleich wieder zurückkommen. Keine Sorge, bitte, Rama ist da.« Embree lächelt vage. »Also vielen Dank, Rama. Geh nur. Ich mach’ mir keine Sorgen.« Seine Worte sind als Abschied gemeint. Er empfindet auch wirklich keinen Ärger, nur eine angenehme Gleichgültigkeit, als der junge Mann davonrennt. Er wird noch viel Zeit zum Meditieren haben, aber im Augenblick möchte er gar nichts tun. Er blickt auf zum wolkenlosen Himmel. In diesem Land ist der Himmel kaum jemals interessant – einfach eine offene Leere. Ein interessanter Gedanke. Embree seufzt. Zeit für alles, einfach dasitzen, sich nicht bewegen aus Angst vor dem Schmerz. Angenehm auf seine Art. Er senkt den Blick und sieht drei Männer, die auf der anderen Seite des Wegs neben einer Hütte hocken. Sie tragen dhotis und weiße Turbane auf ihren sonnengeschwärzten Köpfen. Sie beobachten ihn mit Augen, die vom grellen Licht rot gerändert sind. Krähen haben im Dorf ihr monotones Krächzen angestimmt. Embree leckt sich mit der geschwollenen Zunge über die knochentrockenen, aufgesprungenen Lippen. Das 181
Krächzen der Krähen ist wie die Stimme des Schicksals. Eine Gruppe junger Frauen kommt den Weg entlang, alle tragen Kupfer-lotas, um sie am Dorfbrunnen zu füllen. Sie sehen kurz nach ihm hin, unterbrechen aber nicht ihren graziösen Gang und verschwinden aus seinem Blickfeld in die sonnenbeschienenen Felder. Sie sind schön, aber die Bauern, die da gegenüber hocken, gefallen ihm nicht. Jetzt sind es vier; sie machen ihn nervös. In Burma suchten die Dörfler die Felder draußen nach verwundeten Alliierten und Japanern ab – egal, was sie waren –, versammelten sich manchmal genau wie diese vier und warteten geduldig darauf, bis ein am Boden liegender Soldat soweit war, sich nicht mehr wehren zu können. Wenn er allmählich sein Gewehr losließ oder das Bewußtsein verlor, gingen sie auf ihn los mit scharfen, kleinen Erntemessern oder mit abgebrochenen Ästen. Niemand kam je dahinter, ob sie es einfach der Beute wegen taten oder aus Rache gegen Fremde, die ihr Land in ein Schlachtfeld verwandelt hatten. Aber sie taten es ohne Ansehen der Person; sie zerhackten Alliierte wie Japaner. Aber dies ist Indien, und es ist aus irgendeinem Grund ein magischer Tag. Embree weiß es mit Sicherheit, denn der Schirm des kleinen Burschen liegt hier auf dem Boden. Rama wird ihn holen kommen, was bedeutet, daß er wiederkommen will – kein Inder vergißt je seinen Schirm –, und diese seltsame Möglichkeit trägt zur Magie des Tages bei. Da kommt der junge Inder mit dem drahtigen Haar wieder angerannt. »Gute Nachrichten, gute Nachrichten, Sir! Wir werden bald Transport bekommen.« Er wischt sich den Schweiß von der Stirn, rülpst sanft und hockt sich nieder. »Gott segne Sie, Sir. Können Sie sich bewegen?« 182
»Ich glaube nicht.« »Die helfen uns.« Er deutet auf die fünf, sechs Bauern, die inzwischen gegenüber hocken. »Ich glaube, ich habe dir gesagt, daß ich beraubt worden bin. Ich habe kein Geld.« Rama macht mit beiden Händen eine lässige Geste. Embree folgt der Bewegung. Er hat die Hände der Südinder stets bewundert, so graziös und ausdrucksvoll, Handflächen geöffnet, Finger gespreizt, die Drehung der Handgelenke. Wirklich ein Anblick, der Betrachtung wert. Und Zeit für Betrachtung ist genug, denkt Embree. »Geld? Kein Problem«, sagt Rama. Sein Lächeln entblößt Zähne, die vom Betelsaft geschwärzt sind. »Die fühlen sich verdammt geehrt, helfen zu dürfen.« »Ich denke, wir legen besser meine Schulter still, ehe du versuchst, mich zu transportieren.« Auf seine Anweisung geht Rama, begleitet von ein paar der wartenden Männer, ein Stück Schnur suchen; sie kommen zurück und schnüren seinen linken Arm fest an seinen Körper. Während das geschieht, redet Rama weiter. »Gestein war ich bei meinem Vetter. Durch das Fest, wissen Sie, gab es einen Feiertag, also bin ich von Madras hierher zu ihm gekommen Er lebt im nächsten Dorf, ungefähr dort, ziemlich nah.« Rama wedelt mit der Hand in verschiedene Richtungen. »Also hörte ich heute morgen, große Güte, da ist ein weißer Mann verletzt, und da sagte ich mir: ›Geh, Rama. Geh zu ihm.‹« »Ich bin froh, daß du das getan hast.« »V. S. Ramachandran. Aber nennen Sie mich bitte Rama. Ihr verehrter Name, Sir, und Ihr Land?« »Embree. Indien, zur Zeit.« »Aber Sie kommen woher?« 183
»Ich bin Amerikaner, aber ich kam aus Burma.« »Amerikaner. Aus den richtigen Staaten also.« »Ich habe die richtigen Staaten lange nicht gesehn«, sagt Embree. »Seit zwanzig Jahren nicht.« Rama holt Luft vor Staunen. »Sie leben jetzt in MadrasCity?« Embree nickt; seit der Arm festgeschnürt ist, hat er weniger Schmerzen. »Sind Sie erpicht darauf, hierzubleiben, Sir?« »Ja, Rama, das bin ich.« »Sie haben also hier eine Tätigkeit. Darf ich fragen, was?« »Ich arbeite für eine Textilfirma. Sie ist gerade aus englischem in indischen Besitz übergegangen.« »Sind Sie erpicht auf den Wechsel?« »Auch nicht mehr als auf die britische Eigentümerschaft.« Embree sieht, wie Rama lächelt. Eine alte Frau kommt mit einem Messingtablett auf sie zu. Darauf liegt ein Bananenblatt, garniert mit ein paar chapati-Fladen, einer Handvoll Reis und einem Klacks Joghurt. »Essen Sie etwas, Sir«, drängt Rama und zeigt auf das Tablett. »Hast du das veranlaßt, Rama?« »Ich halte das Tablett. Kein Problem.« Bald ißt Embree, und obwohl er ganz ausgehungert ist, läßt der Appetit nach ein paar Bissen nach. »Nichts mehr, bitte. Iß du es auf«, setzt er hinzu, ehe ihm klar wird, was er da gesagt hat: Es ist eine Beleidigung für Inder einer Kaste, wenn man sie auffordert, vom eigenen Teller zu essen. 184
»Warum nicht«, antwortet Rama und stellt das Tablett hin, »aber ich habe gerade gegessen. Danke, Sir.« Embree ist beeindruckt, wie diplomatisch der junge Mann den plumpen Fehler ausgleicht. »Ich arbeite im Postdienst«, sagt Rama, macht den Schirm auf und hält ihn Embree über den Kopf. »Unser Vorgesetzter ist leider ein frecher Kerl, ein Telegu. Er hätte Prügel verdient, so leid es mir tut. Manchmal würde ich mich gern einer besseren Beschäftigung zuwenden.« Embree ahnt, daß der junge Mann auf einen Job erpicht ist. Damit er sich keine falschen Hoffnungen macht, erklärt Embree, und zwar wahrheitsgemäß: »Ich bin nur Buchhalter in meiner Firma. Ich schreibe Rechnungen aus, korrigiere die englische Grammatik in Briefen. So was alles. Tut mir leid.« Rama zuckt die Achseln, als wäre er nie auf die Idee gekommen, überhaupt zu fragen. »Trinken Sie Wasser, Sir.« Ein Kind ist gekommen mit einem Glas, das ganz verschmiert ist. »Nein, danke«, sagt Embree mit einem Lächeln. Rama holt tief Luft. »Ach, Verzeihung, Sir! Sie trinken nur abgekochtes Wasser. Ich weiß das, ich weiß, was Gentlemen brauchen. Kein Problem.« Er spricht in Tamil zu dem Kind in einem Ton, der seine Freude am Kommandieren verrät. »Man wird es fünf Minuten kochen.« »Zwanzig – bitte!« Rama korrigiert seinen Befehl so laut, daß auf den Gesichtern der Bauern gegenüber an der Straße und vor ein paar Hütten ein belustigtes Grinsen erscheint. Embree lächelt zurück. Ein Bursche mit überlangen 185
Schneidezähnen – wegen seines vorstehenden Oberkiefers – steht plötzlich auf und kommt sofort mit einer hölzernen Flöte wieder. Er beginnt zu spielen, und Embree fragt sich, ob das dieselbe Flöte wie die von vergangener Nacht ist. »Ich bin eindeutig auf der Suche nach einer neuen Beschäftigung«, sagt Rama und nimmt den Schirmgriff in die andere Hand. »Bei diesem Lohn komme ich weder hinten noch vorn zurecht. Sind Sie auf Geschichten erpicht, Master? Verzeihen Sie, diese ist ein bißchen roh, aber: Zwei Männer gehen zum Tempel, und da –« In diesem Augenblick erscheinen zwischen den Hütten gerade vor Embree zwei Frauen. Sie streiten erbittert und gestikulieren mit den Händen, als wollten sie sich gleich schlagen. Ein paar Augenblicke hören Rama und die wartenden Bauern gespannt zu – alle bis auf den Flötenspieler, der weiter ein nasales Wimmern mit kecken, kleinen Rhythmen verziert. Einer der Bauern wendet sich den Frauen zu und ruft etwas in scharfem Ton. Rama holt Luft und grinst. »Jetzt werden sie sich verziehen.« Und tatsächlich sind die streitenden Frauen sofort still und gehen einträchtig die Rinne zwischen den Hütten entlang zum Wassertank. Ein kleines Mädchen kommt angerannt und redet schnell auf Rama ein, der sorgfältig den Schirm so gegen Embrees unverletzte Schulter lehnt, daß er immer noch Schatten gibt. »Gute Nachrichten, Master. Unser Transport ist gerade auf dem Weg hierher.« Er wiegt den Kopf, wie es Südinder tun, um Optimismus zu unterstreichen. »Ich habe es Ihnen gesagt. Hören Sie nur auf Rama.« Einen Augenblick blitzen seine dürren Beine unter seinem dhoti auf, und weg ist er. Master? wiederholt Embree im stillen. Er nennt mich 186
»Master«? Jetzt erscheint eine Krähe; mit schrägem Kopf betrachtet sie Embree kritisch aus gelben Augen, bis zwei Frauen mit Eisenschüsseln auf dem Kopf sie dazu zwingen, sich davonzumachen mit schwerem Flügelschlag. Kleine Rotznasen kommen vorbei, sie kauen geschälte Stücke Zuckerrohr. Die Bauern gegenüber lächeln – vielleicht zu Embree hin oder auch in Gedanken, angeregt durch das Wimmern der Flöte. Master? Denkt er etwa, ich will ihn behalten, ihn anstellen? fragt sich Embree. Dann vertreibt ihm ein anderer, wichtigerer Gedanke Rama aus dem Sinn. An die warme Wand gelehnt, den geduldigen Männern zulächelnd, sagt er sich, daß er Indien nicht verlassen wird: Vera wird Sonja mitbringen, und zusammen werden wir unser Schicksal auf indischem Boden gestalten – als Familie, als die Familie, die wir nie waren. Ich werde meine Schuld an Vera hier abtragen. Sie wird das Land ebenso lieben … wie ich. Ich werde alles versuchen, um sie glücklich zu machen. Es gibt nichts, was ein Mann für seine Familie tun könnte, was ich nicht tun werde. Es gibt keinen Grund zur Furcht, wenn die Welt sich so weiter dreht wie eben jetzt. Oder, Harry? Du hast mir gesagt, ich soll raus, und so bin ich gegangen, genau, wie du gesagt hast, Harry. Ich bin am Leben geblieben, und jetzt bin ich hier. Rama eilt wieder herbei; er hält eine Flasche vor sich hin. Es ist eine ungeöffnete Coca-Cola-Flasche, so verstaubt, daß die Flüssigkeit im Innern ganz grau erscheint. Mit der Hilfe ein paar neugieriger Bauern – fünf Männer drängen sich um die Flasche auf dem Boden wie Arzte in einem Operationssaal – gelingt es Rama, die Kappe mit einem Messer zu öffnen. Er hält die Flasche stolz in die Höhe und geht zu Embree. 187
»Für Sie, Master.« Er wischt die Flasche rasch mit dem Saum seines dhoti ab. Als Embree die Flasche nimmt, durchzuckt ihn wieder der Schmerz. Doch der Augenblick reißt ihn mit – das Wimmern der Flöte, der neu aufgeflammte Streit zwischen den zwei Frauen in der Ferne, die schwarzen Gesichter der Bauern, die geduldig an der Wand hocken, die jungen Frauen, die vom Dorfbrunnen zurückkehren und ein Lied in Tamil singen, die Kinder, die an ihrem Zuckerrohr kauen, die Schweine, die aufgeregt mit ihren Korkenzieherschwänzchen wackeln, den Käfer nicht zu vergessen, der sich zweifellos unbeirrbar auf dem Heimweg befindet –, und so trinkt Embree gierig von der heißen, schalen Flüssigkeit und denkt nur noch daran, daß er am Leben ist. »Gut, Master«, murmelt Rama wie eine Mutter zu ihrem kranken Kind. »Sie machen sich sehr gut.« Aus der Ferne dringt ein ratterndes Geräusch, das immer lauter wird und schließlich zu einem dicken, durchdringenden Gehuste anwächst. Als Embree eben die Flasche wieder hebt, während ein scharfer Schmerz wieder durch Schulter und Rücken fährt, rattert plötzlich ein altes Auto in Sicht – oder die Überreste davon: die Karosserie eines Kabrioletts mit einem Lieferwagenaufbau – ein 1938er Crosley –, die Dachbespannung halb zerfetzt, ein einziger Scheinwerfer, die meisten Latten des Aufbaus dahin, ohne Scheibenwischer oder Türgriffe. Bei alledem hat das Vehikel einen Motor, der spuckt und hustet und das ganze, polternde Ding den Weg entlangzieht, bis es keine anderthalb Meter entfernt mit flatternden Vorderrädern zum Stillstand kommt. »Sehen Sie, Master? Der Transport ist da! Bitte keine Sorgen machen, solange Rama da ist.« Er zupft sich an der Nase und betrachtet triumphierend den alten Wagen. 188
Embree ist in der Tat unbesorgt. Seit Tagen und Wochen hat er sich nicht mehr so wohl gefühlt. Und als die geduldigen Bauern kommen und ihm in das alte Auto helfen, denkt er an seine gestrige Lektüre der Upanischaden, und für einen bedeutsamen Augenblick ist Philip Embree überzeugt, daß es allerletzten Endes eben doch kein Nicht-Selbst gibt.
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enn man sich verliebt, denkt man kaum jemals an den Strom der Zeit, man denkt an Dauer, an das Bleibende dieses Augenblicks, und dann geschieht etwas, was die Liebe nur noch als etwas Vergängliches erscheinen läßt. Solch trübe Anwandlungen verfolgen Vera an einem regnerischen Morgen in Chiang Mai, bis sie ganz wach ist. Wanna schläft neben ihr im Hotelbett. Ein Donnerschlag, ein Blitz durchquert im Zickzack das Fenster. Vera liegt nackt da, obwohl es zu dieser Jahreszeit, der Trockenzeit, in Chiang Mai gewöhnlich bis gegen Mittag kühl ist. Aber seit vierundzwanzig Stunden ist die Gegend von einer dicken Wolkendecke überhangen, wodurch die Temperatur warm geblieben ist, ah seien die nächsten drei Monate bereits vorüber und der Monsun habe begonnen. Regen prasselt auf das Blechdach des Hotels. Vera schiebt das Leintuch von ihrem Bauch und wendet sich dem Mädchen zu. In Siam ist die Statue der Erdgöttin, Thorani, sehr verbreitet: Sie wringt sich das Wasser aus den Haaren – ein liebliches Bild göttlicher Selbstversunkenheit. Hier in diesem Bett, denkt Vera, liegt Thorani. Wanna stammt aus dem nahe gelegenen Lamphun, berühmt für die Schönheit seiner Frauen. Vor zwei Tagen waren sie dort, um die Orchideenfarm zu besuchen, wo Wanna aufgewachsen ist und wo jeden Morgen ihre Mutter in Sarong und breitrandigem Hut die Pflanzen wässerte, die, in Holzkohle gebettet, in hüfthoch unter Bambuslauben aufgehängten, durchbrochenen Holzkisten wachsen. Für Vera schienen die feuchten Blütenblätter – 190
in Weiß, Rosa, Gelb und Purpur – wie Herzen zu pulsieren. Hängend im Dunst, körperlos über der Erde schwebend, ließen sie ihre Farbenpracht in den stillen Morgen bersten. Bei alledem war Vera erstaunt, wie die schöne Farm auf sie wirkte: Sie fühlte sich fremd dort und unsicher. Umsonst versuchte sie, Wannas Vergangenheit zu teilen. Sie wollte sich ein kleines Mädchen vorstellen, das im Licht und Schatten der Lauben spielt, die langen Zöpfe mit Seidenbändern aufgebunden, die schwarzen Augen staunend auf eine Orchideenblüte gerichtet. Statt dessen stellte sich das Bild des kühlen, feuchten, schweigenden Morgens und der hängenden Pflanzen ein, jede mit mehr Sorgfalt gepflegt, als man sie kleinen Mädchen zuwendet. Vera greift über das Bett, um zärtlich den schlanken, braunen, unbehaarten Arm des Mädchens zu berühren. Wenn sie an Wanna denkt, denkt sie oft an Jasmin mit seinem süßen, fast übersättigenden Geruch. Jasmin und Orchideen. Die Göttin Thorani, ganz ins Trocknen ihres Haars versunken. Entzückend, vergänglich – und kalt. Ja, kalt. Wanna ist kalt. Ihre körperliche Liebe hat etwas zu Direktes, etwas Funktionelles und Bestimmtes, das Vera an ihre Zeit als junge Prostituierte in Schanghai erinnert. Der Gedanke erschreckt sie – daß es eine Ähnlichkeit zwischen ihr damals und Wanna heute gibt. Sie liebt das Mädchen. Und doch ist es manchmal schwierig, Wannas ätherisches Gesicht mit der spröden Sparsamkeit ihres sexuellen Verhaltens in Einklang zu bringen. Sie kann brüsk sein, sogar grob, manchmal gleichgültig und – was das schlimmste ist – unverhohlen geschickt. Vera wird ganz trostlos zumute bei dem Gedanken, daß die Männer in Schanghai damals vermutlich dasselbe von ihr hielten. Bittere Ironie. Dummes Zeug. Vera verspürt Hunger, schrecklichen 191
Hunger. Sie sind ein Liebespaar im wahren Sinn, so, wie man es sich nur vorstellen kann. Mit der für sie typischen Entschiedenheit verjagt Vera die pessimistischen Anwandlungen aus ihrem Sinn. Aber gleich kommt ihr ein neuer trauriger Gedanke, vom Anblick ihres eigenen nackten Körpers im trüben, grauen Licht ausgelöst. Die marmornen Brüste ihrer Jugend sind nicht mehr so fest, die Warzen dunkler. Aber das ist nicht alles. Es gibt noch weitere Anzeichen des Alterns, auf die sie ihren Blick nicht zu richten wagt. Nichts von alledem sollte eine Rolle spielen, natürlich, sagt sich Vera ungeduldig. Sie hat immer geglaubt, daß es Frauen in der Liebe weniger auf körperliche Vollkommenheit ankommt als Männern. Wanna ist nicht ihre erste Geliebte. Es gab ein chinesisches Mädchen, Yu-ying; Vera liebte sie bis zur Verzweiflung, damals, als sie beide während ihrer freien Stunden in einem Bordell in Schanghai Trost suchten. Und vor Wanna gab es Malee und noch einige andere – Frauen, die es ihr erlaubten, weniger ans Altern zu denken, als das sicher bei männlichen Liebhabern möglich gewesen wäre. Und doch blüht jedem einmal der Tag, da man der Wahrheit ins Auge sehen muß. Vera bringt es nicht fertig, das Mädchen wieder zu betrachten; nicht jetzt, noch nicht. Eher läßt sie den Hunger noch größer werden, als ihm zu erliegen. Wenn sie schließlich nachgibt, das Mädchen aufweckt und fröhlich ans Frühstück erinnert, werden sie sich vermutlich schweigend anstarren. So stellt sich Vera das jetzt vor: Sie, wie sie hingerissen die Schönheit des jungen Körpers erforscht, während das Mädchen den traurigen Spuren vergangener Schönheit nachspürt. Nur nicht an solche Dinge denken. Besser an das Gute. Die letzten paar Tage waren wunderbar, voller Bilder, die 192
Vera nun heraufzubeschwören sucht: Unwahrscheinlich hohe Yangbäume mit ledrig-grünen Kronen, die sich über die Wälder erheben; Pong-Gras in den Tälern und die Bergkämme entlang dichte Gruppen von Kiefern; und Kapokbäume mit langen, baumelnden Schoten, bereit, sich zu öffnen und ihren weißen, wolligen Inhalt fallen zu lasen; auch die herzförmigen Blätter des Bo, die wie Spültücher in der stillen Luft herabhängen; unterwegs im Zug von Tak aus sah sie einen grüngestreiften Reiher in den braunen Stoppeln eines Reisfelds. Und die Pracht der nördlichen Tempel hier: antike Buddhabronzen; erhabene goldene Schirme und cho-fa-Ornamente; das gemeißelte Rad der Lehre auf Randsteinen, die in Tabernakeln sitzen; gegabelte Wilharns, öffentliche Kapellen, geformt aus einer Phantasie, die vor Jahrhunderten in religiösen Texten erstarrt ist. Und der Höhepunkt ihrer fünf Tage im Norden: der Aufstieg zu einem Bergkloster, dem weißen Elefanten geweiht, der einst eine geheimnisvolle Reliquie den steilen Hang hinaufschleppte und daraufhin starb (dort machte Wanna ein respektvolles wai); und dann, im Innern des Klosters, ein vergoldeter Chedi, von einem fünfstöckigen Schirm überdacht; und ein Hof im Schatten eines Affenbrotbaums mit einem Blick, so weit und grün, als sei ihre alte, russische Landschaft im Frühling erwacht. Aber als sie ihre Brüste umfaßt, fühlen sie sich tot an wie Baumwolle; wenn sie – wie in der vergangenen, leidenschaftlichen Nacht – Wannas Brust berührt, hat das Fleisch unter ihren Händen, Fingern und Lippen die Beschaffenheit der Jugend: stark und elastisch. Keine Hoffnung also? Wieder so eine dumme Frage. Als der Hunger sie zunehmend quält, wendet sich Vera dem Mädchen zu und will es aufwecken – aber erst, nachdem sie sich das Leintuch bis zu den Schultern hochgezogen hat. 193
Noch ehe Vera den schmalen, braunen Arm berühren kann, hört sie ein sanftes, aber hartnäckiges Klopfen an der Tür und wendet sich dem zweiten Zimmer ihres Appartements zu. Sie steht auf, streift sich ein Baumwollgewand über und gürtet die Schärpe. Das Klopfen halt an, bis sie an der Tür ist und öffnet. Da steht grinsend Pakhoon Chirachanchai und hinter ihm düster und beklommen eine winzige Frau von einem Bergstamm, ein schlafendes Kind auf den Rücken gebunden. Das Erscheinen von Pakhoon Chirachanchai zu so früher Stunde vor ihrem Hotelzimmer ärgert Vera dermaßen, daß sie ihm am liebsten die Tür vor der Nase zuschlagen möchte. Die Schan-Bronzen, deretwegen Vera nach Chiang Mai gekommen ist, haben sich als so wertlos erwiesen, daß man sie selbst dem ahnungslosesten Sammler nur als das verkaufen könnte, was sie sind: billige Imitationen. Die Reise wäre ein geschäftlicher Reinfall gewesen, hätte sie nicht selbst in einem hiesigen Basar etwas entdeckt, was ein Bauer ausgegraben und zum Tausch gegen ein Erntemesser in die Stadt gebracht hatte – ein knollenförmiges stumpf-braunes irdenes Gefäß mit Augen, Schnabel und Schwanz einer Eule: ein Exemplar in Khmer-Stil vom Typus Angkor Wat, womöglich fünfzehntes Jahrhundert und an sich schon die ganze Reise wert. Pakhoon. Trotz allem mag sie diesen winzigen, windspielähnlichen Mann mit dem großen Froschmaul, den blitzenden schwarzen Augen und dem Adamsapfel, der beim Sprechen immer hüpft. »Sag, daß es wichtig ist«, sagt Vera. »Erzähl mir nicht, 194
daß du so früh mit noch einer Geschichte von Lan-NaSchätzen daherkommst, die jemand letzte Woche fabriziert hat. Und was ist mit der Frau, die du bei dir hast?« »Sie ist eine Weiße Karen.« »Ich weiß, daß sie eine Weiße Karen ist.« Vera mustert kurz die Frau in grüner Bluse und gestreiftem Sarong; in einem flachen, runzligen Gesicht, unter einem aus einem riesigen, roten Tuch schlampig gewundenen Turban starren alterslose, wachsame, weit auseinanderstehende Augen unbeirrt. Ähnlich sind die Augen des kleinen Kindes, dessen rundes Gesicht über ihre Schulter zu sehen ist. Bei anderer Gelegenheit hat Vera die Siedlungen der Bergstämme besucht – der Yao, Meo und der Roten und Weißen Karen. Entsetzt über die Armut, eine Folge von Opiumsucht und der Angriffslust stärkerer Nachbarn, schritt sie rasch durch die trostlosen Dörfer aus Bambus und Lateritziegeln. Sie weben ein bißchen Tuch, ziehen ein bißchen Baumwolle, produzieren eine Menge Opium, betteln und suchen nach Brauchbarem. Ihre breiten mongolischen Gesichter schauen aus V-förmigen, roten Gewändern, und sie stinken, denn sie fürchten den Wassergeist mehr als ihren eigenen Geruch. In ihren dunklen Bambushütten, wo der süßliche, etwas brenzlige Geruch von Opium hängt, wühlen Schweine. Wenn die Bergbewohner herunterkommen und in der Ebene bleiben, sterben sie an Malaria, und daher verzichten sie auf staatliche Fürsorge und bleiben auf den kühlen Höhen. Ob es die Weißen Karen sind, weiß Vera nicht mehr, aber einer dieser Stämme tötet neugeborene Zwillinge und vertreibt die schuldigen Eltern. Manche von ihnen essen schwarze Hunde, um Geisterkräfte zu erwerben. Vera tritt ein paar Schritte zurück, nachdem sie eine gute Prise von der Karenfrau abbekommen hat. »Also los, 195
Pakhoon. Sag mir einen guten Grund, weshalb du so früh hierherkommst.« Pakhoon macht eine heftige Bewegung gegen die Frau, die einen Sack von der Schulter nimmt, die vom Tragetuch des Babys frei ist. Pakhoon strahlt. Er hält den Sack hoch wie eine Trophäe. »Sie ist erst letzte Woche aus den Bergen heruntergekommen, und als sie auf einem Feld nach Wurzeln zum Essen grub, hat sie es gefunden. Ich kann es immer noch nicht glauben.« »Pakhoon«, sagt Vera ungeduldig. »Sie werden sehn! Sie werden sehn! Unser Glück! Hier, das hat sie gefunden: Eine Lan-Na-Bronze!« Der Gegenstand ist ein kleiner Bronzebuddha, der die bhumisparha mudra aufweist – die Finger der rechten Hand deuten nach unten, um zu symbolisieren, daß Buddha die Erde aufruft, Zeuge seiner Erleuchtung zu sein. Der Buddha sitzt im Lotossitz und hat einen kleinen Wanst. Sein Gewand endet in einer stilisierten Falte über der linken Brustwarze seiner mächtigen Brust. Die Augenbrauen sind zusammengewachsen, und das Gesicht hat eine ziemlich dekadente Form – dicklich, fast weibisch – und einen Ausdruck tiefer Melancholie. Es könnte Lan Na sein. Auf jeden Fall ist es in diesem Stil gegossen. Die nackte Brustwarze unterscheidet es von späteren nordthailändischen Skulpturen, bei denen die Brust mehr bedeckt ist. Pakhoon schiebt sein kleines Gesicht zwischen das von Vera und die Skulptur. »Ist das zu glauben? Es ist ein Wunder! Eine Karen hat das gefunden!« Vera dreht das Stück herum, als würde es über einem Feuer gewendet. Es könnte Lan Na sein. Es hat alle äußeren Charakteristika. Professor Dhanit Yupho muß einen Blick darauf werfen und es begutachten. Wenn es 196
echt Lan Na ist, wird sie sich an ein paar wichtige europäische Sammler wenden. Im Moment kann sie kaum denken, solch tierische Triumphlaute gibt der kleine Mann von sich. »Ich weiß nicht recht, was ich glauben soll«, sagt Vera kühl und wendet sich der Frau zu. »Wir reden später darüber. Zunächst gib ihr einmal etwas Geld.« »Aber –« »Geld, damit sie sich etwas zum Anziehen kaufen kann, Essen für das Baby und für die Wagenfahrt nach Hause. Und davon gib ihr das Doppelte.« Als er sie anstarrt, fährt sie fort: »Also dann, gib mir das, bitte.« Sie zeigt auf ihre Handtasche, und als Pakhoon sie zögernd vom Tisch nimmt und ihr bringt, sucht sie genügend Bahts zusammen für ihren Zweck. Anstatt aber der Frau das Geld zu geben, gibt sie es Pakhoon. Es muß von ihm kommen. »Gib es ihr.« Er tut es zögernd. »Du darfst es ihr nicht wieder wegnehmen, wenn ihr aus dem Zimmer seid, Pakhoon.« »Nein«, pflichtet er niedergeschlagen bei. »Ist es denn nicht Lan Na?« »Das wissen wir noch nicht. Aber du hast es gut gemacht«, fügt sie hinzu und läßt seine Hoffnung wieder steigen. »Ich möchte es bei besserer Beleuchtung anschauen. Dann werden wir sehn.« Pakhoon lacht fröhlich auf. Das hat Vera besonders gern an Pakhoon Chirachanchai: seinen Glauben an die Güte des Schicksals. »Ich hab’ es Ihnen ja gesagt«, kichert er. »Es ist Lan Na! Also um neun? Oder um zehn?« »Komm mittags wieder«, erklärt Vera, hält aber die Bronze fest, als er eine Bewegung macht, um sie an sich 197
zu nehmen. »Nein, bei mir ist es sicher.« »Natürlich.« Er nickt eifrig. »Mittags.« Vera bedeutet ihm zu gehen. Als sich die Türe schließt, überlegt Vera, ob Pakhoon schon am Treppenabsatz der Frau zumindest die Hälfte des Geldes grob abnehmen wird. Wer weiß. Anstatt ins Schlafzimmer zurückzukehren, setzt sich Vera auf das abgewetzte Sofa vor einem der Fenster. Der Regen Asiens, weich wie Daunen, gleitet die offenen Läden entlang, sammelt sich in großen, dicken Tropfen und tropft schließlich herunter. Sie sieht zu und denkt nach. Vor sechs Jahren reiste sie mit einem siamesischen Mädchen, Malee, hierher in den Norden. Nie wird sie vergessen, wie sie die trostlose, kleine Stadt Sukhotai betraten und hinter einer Straßenkurve plötzlich die majestätischen Ruinen von Wat Mahathat vor sich sahen: geborstene Mauern aus rötlichem Ziegel, riesige Tempelkomplexe mit Grasflächen dazwischen, ehrfurchtgebietend noch im Verfall, die hohen Buddhas, durch einen zarten Regenschleier lächelnd. Auch Malee war überwältigt. Stundenlang liefen sie zwischen den glockenförmigen Stupas und regenglasierten Schreinen herum, die Augen zwischen Säulen, Pfeilern, Flachreliefs und ihren Gesichtern hin und her wandernd, Bewunderung für die Ruinen und Liebe gleichzeitig im Blick. Kein Mann außer Schan-teh hatte je mit Vera einen solchen Augenblick geteilt wie Malee an jenem Nachmittag. Für Vera bedeutete das, daß es richtig für sie war, sich wieder zu verlieben – und in eine Frau. Und natürlich stellte sich dann heraus, daß das Erlebnis überhaupt nicht diese Bedeutung hatte, denn zwei Monate später war Malee auf und davon. 198
An ihren letzten gemeinsamen Tag kann sie sich noch deutlich erinnern. Sonja war für den Nachmittag mit Ah Ping irgendwohin geschickt worden, so kam Malee ins Haus; gewöhnlich trafen sie sich in einem billigen Hotel. Cook hatte einen kalten Lunch vorbereitet, den anderen Bedienten trug Vera verschiedene Besorgungen auf. Der Lunch auf der Veranda war gut, oft berührten sich ihre Hände, und danach gingen sie nach oben in Veras Schlafzimmer. »Und deine Tochter?« fragte Malee mit typisch siamesischer Diskretion. – »Sie ist den Nachmittag über nicht da.« Und dann das Schlafzimmer, vom Sonnenlicht überflutet. Es leckte an ihre Körper wie Wasser, umfing sie wie etwas Lebendiges und Beschützendes. Ekstase, Vergessenheit in dem sonnenhellen Bezirk ihrer kleinen Welt. Später, als sie nach unten gingen, war Sonja zu Hause. Sie kamen gemeinsam die Treppe herunter, und Sonja sah sie seltsam verstört an. »Bist du gerade heimgekommen, mein Kleines?« – »Ja, gerade eben.« – »Das ist Malee, eine Freundin. Ich habe ihr das Haus gezeigt. Sie liebt diese Porzellanvase. Die auf meinem Toilettentisch, weißt du?« Und das Mädchen sah sie nur seltsam verstört an, bis Vera sich fragte, ob ihre Gesichter wohl etwas von ihrem Glück verrieten. Das zwölfjährige Mädchen war sichtlich verwirrt, ohne zu wissen, warum. Vera weiß noch, daß sie Sonja übers Haar strich, als sie zusammen am Tor standen und sahen, wie Malee sich umdrehte und zum Abschied winkte. »Gefällt dir Malee?« – »Sie ist hübsch, finde ich.« Danach wurde Malee nicht mehr im Haus erwähnt. Und Vera sah sie nie wieder. Keine Nachricht, kein endgültiges Adieu. Über Nacht gab die junge Frau ihre Stellung in einem Laden in der Nähe auf, verschwand – und Schluß. Die Siamesen sind Meister darin, sich zu verlieben und wieder abzuwenden. 199
Vera erhebt sich vom Sofa und geht zum Fenster. Philips Telegramm – diese dumme und kränkende Forderung, sie solle alles liegen und stehen lassen, wofür sie geschuftet hat, die Leistung von Jahren wegwerfen und als gehorsames Weib zu ihm in sein verdammtes Indien kommen. Sein Telegramm füllte zwei Seiten, ein Wirrwarr von jungenhaftem Enthusiasmus für ein Land, das – warum, weiß nur er allein – offenbar imstande ist, eine Frau dafür zu entschädigen, daß sie alles hingibt, um wieder bei dem Mann zu sein, der sie verlassen hat. Oh, Philip! Wenigstens verrät die Länge seines Telegramms, daß er Geld in der Tasche hat. Eine wenig vornehme Überlegung, aber Philip hat sie verdient; Veras Leben außerhalb des seinen kümmert ihn nicht. In Veras Welt ist Mangel an Zartgefühl eine Hauptsünde – schlimmer als Verlogenheit. Sie wischt sich über die Stirn – Schweiß? In dieser Jahreszeit in Chiang Mai? Es ist wirklich nicht so warm, und trotzdem fühlt sie sich erhitzt. Eigentlich ein bißchen schwindlig, schwach. Sie muß etwas essen, aber sie schiebt die Begegnung mit der Erdgöttin im Zimmer nebenan weiter hinaus. Veras Blick ist an etwas hängengeblieben, was auf der regenüberschwemmten Straße geschieht. Über die ganze Breite einer Häuserwand klatschen zwei junge Männer in schwarzen Shorts und schmutzigen Unterhemden große Wörter mit roter Farbe auf das Holz. Chinesen raus! Die Farbe, mit Regen vermischt, hält die Form nicht, aber die Schrift bleibt lesbar, und die beiden Knaben mit ihren Kübeln können in die graue Dämmerung davonspringen. 200
Politik belästigt die Welt, noch ehe sie erwacht ist. Wird sie mich mit einem hübschen Winken verlassen wie Malee damals? Einfach verschwinden eines Tages? Vera spürt einen leichten Krampf in der Brust. Es ist wirklich Zeit, etwas zu essen, aber noch nicht Zeit, Wanna gegenüberzutreten. Sie nimmt ihre Handtasche und holt ein kleines Fläschchen heraus, in dem schwarze Pillen sind, aus Froschdrüsenextrakt hergestellt. Sie heilen fast alles. Vera weiß das aus der Zeit in Schanghai, wo sie das Mittel gegen Erkältung, Grippe, Ohrenschmerzen und einmal gegen Dandyfieber anwandte, und es schien immer zu wirken – zumindest schadete es nicht, abgesehen von dem einen Mal, als sie es für eine Abtreibung benutzen wollte: Damals wurde ihr nur übel, und sie mußte es dann doch manuell machen. Eine Erinnerung, der man besser nicht nachhängt. Sie nimmt sich eine Zigarette, zündet sie an und setzt sich hin, überwältigt von plötzlicher Erschöpfung. Ihr bricht der Schweiß aus. Auf dem Tisch liegt ein Stapel gestreifter Seide in volkstümlichem Muster, im Weberdorf San Kamphaeng gewebt. Sie will den Stoff Jim Thompson geben, damit er die Qualität prüft. Sie traf sich mit Jim, bevor sie auf diese Reise ging. Sie sprachen über Seide, und das Gespräch bestärkte sie noch in ihrem Eindruck, daß er ein begabter Designer, ein Mann mit ebensoviel Energie wie Ehrgeiz ist. Aus ihrem Projekt wird etwas werden. Trotzdem war ihr unbehaglich zumute, als er wiederum Philip erwähnte. »Wann kommt Ihr Mann nach Bangkok?« »Woher wissen Sie, daß er hierherkommt?« »Haben Sie mir das nicht gesagt?« »Bestimmt nicht.« »Dann muß ich es mir wohl gedacht haben.« 201
Was soll das alles? Sie erinnert sich wieder der Gerüchte in Bangkok, daß Jim Thompson ein Geheimagent war – oder noch ist. Eigentlich nicht gerade die Art Geschäftspartner, die Vera sich vorgestellt hat. Und Philip: Ob er in ein neues verrücktes Abenteuer verwickelt ist? Der Krampf ist weg, auch das Schwächegefühl. Sie ist nur schrecklich hungrig, will aber das Mädchen im Zimmer nebenan noch immer nicht wecken. Ach, Liebe. Der Gedanke, Sonja könnte sich verlieben, flößt ihr Angst ein. In letzter Zeit hat sie häufig daran gedacht. Wann wird die Stanford University über Sonjas Bewerbung entscheiden? Philip könnte solche Dinge wissen. Vera überdenkt noch einmal die knappe Absage, die sie als Antwort auf sein verzweifeltes Telegramm geschickt hat. Vielleicht hätte sie freundlicher sein sollen – mit sanftem Erstaunen kommt ihr die Idee, daß man ihn vielleicht ermutigen sollte, nach Bangkok zu kommen. Zumindest für einige Zeit. Aber schlafen wird sie nicht mit ihm. Sie steht auf und geht ins Schlafzimmer. Beim Anblick der schlafenden Wanna bleibt sie im Türrahmen stehen. Die Schönheit des Mädchens lenkt Veras ganzes Bewußtsein auf einen einzigen Wunsch: zu lieben und geliebt zu werden. Wanna wird mich verlassen. Mai pen rai, flüstert Vera. Mit ein paar schnellen Schritten ist sie bei dem Mädchen und küßt es auf die Wange. Ein schlanker Arm hebt sich und legt sich um Veras Hals, und im Augenblick der Bewegung blitzt ein massives Silberarmband auf, das sie gestern gekauft haben. Der Vergleich drängt sich Vera grausam auf: ihre Vergangenheit und Wannas Gegenwart. Ich kaufe die 202
Liebe des Mädchens, wie Männer meine gekauft haben, denkt Vera und berührt dabei den Tautropfen von Wannas Ohr. Mit einem leisen Stöhnen gibt sich Vera der Empfindung hin, wie sie mit der Zunge den festen Windungen dieses Ohrs nachspürt, dem Rand bis zur sanftesten Zartheit des Ohrläppchens, an dem sie nun knabbert wie ein Kalb an den Zitzen der Mutter. Mai pen rai. »Mein Liebes«, murmelt sie in Russisch und dann »mein Liebes« in Thai.
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adras erwacht. Im Osten, jenseits der Bucht von Bengalen, erscheint ein Streifen Blau, etwas lichter als der übrige Himmel. Der Streifen wird heller und nähert sich langsam der Küstenlinie der Stadt, tausend Meilen südlich von Kalkutta. Als erstes erreicht das Licht sofort die Turmspitze der alten portugiesischen Kathedrale von San Thome – ein mattweißer Kegel hoch über der Küste. Nach Norden erstreckt sich der flache, weite Strand der Marina bis hin zum massiven Backsteingebäude des Fort St. George und weiter zum Hohen Gerichtshof und zum Zollgebäude am Hafen, wo Hochseeschiffe im stillen Blau ankern. Sonnenlicht bricht über den jetzt erkennbaren Horizont und gleitet wie Öl über die Marina und dann schnell weiter ins Landesinnere, über einen Saum städtischen Grüns und die modrigen Umrisse alter Herrenhäuser in ihren Palmenhainen hinweg, um verstärkt die hohen Mauern des Regierungsgebäudes zu erfassen. Jetzt ist die Sonne ganz aufgegangen, ein großer Ball, die obere Hälfte glühendes Karmin und die untere stumpf bronzegetönt durch den Bodennebel, der noch an der Bucht entlangzieht. Philip Embree ist früh aufgestanden. Lang, ehe Himmel und Meer sich heute morgen getrennt haben, hat er mit einer zusammengerollten Matte unter dem Arm das Haus verlassen und sie unter einem riesigen Bo-Baum in der hinteren Ecke des Hofs ausgebreitet. Hier kann ihn der Koch nebenan nicht sehen, der jeden Morgen mit den 204
Töpfen klappert und Volkslieder der Tamilen summt; zweifellos wundert er sich, warum der fremde Herr Dinge zu tun versucht, die nur Inder durch die Gnade Gottes tun können. Yoga zum Beispiel. Jeden Morgen kämpft sich Embree durch seine Asanas. Lebenslängliche körperliche Betätigung hat ihn auf eine solche Anstrengung nicht vorbereitet. Von Hatha Yoga hat er gelernt, was innerer Kampf wirklich ist: Seit zwei Jahren ringt er Zentimeter um Zentimeter darum, seinen Rücken zu dehnen und seine Beine abzubiegen. Das Schlachtfeld befindet sich auf seiner Übungsmatte. Heute ging es nicht gut. Natürlich lag das teilweise an seiner gebrochenen Schulter im Gipsverband. Er hat die Übungen gemacht, die möglich waren, besonders die streckenden Asanas wie Urgasana und Janu Sirsansana. Er hat versucht, jede einzelne ohne die hektische Anstrengung zu absolvieren, die ein Yogalehrer einmal als »Lärm« bezeichnet hat. Schließlich erreichte er das Ende seines Morgenprogramms und damit die Belohnung: Savasana. Bei diesem Asana mußte er wie eine Leiche voll ausgestreckt auf der Matte liegen, die Hände mit den Handflächen nach oben etwas von den Hüften entfernt. In dieser bequemen Stellung, mit geschlossenen Augen, war es seine Aufgabe, sich jeden Teil seines Körpers vorzustellen, beginnend mit den Füßen. War er richtig entspannt, fühlte er, wie sein Geist seinen Körper verließ und durch die Vergangenheit wanderte, als könnten Muskeln und Knochen das Gedächtnis freisetzen, wie eine geöffnete Tür einen Vogel aus dem Käfig entläßt. In diesen ruhigen Augenblicken, mit geschlossenen Augen und dem sanften Puls einer Eidechse, hat er 205
gelernt, sich bestimmten Vorstellungen von Wasser zu überlassen: Flüsse und Buchten, die Charles Bay, wo er und die Mannschaft von Yale die von Harvard schlugen, träge Erinnerungen an Wasser, an Licht auf Wasser, an Strömungen und Strudel an der Küste, an Strandhütten, von der See bedeckt, an Blasen, die um die Metallplanken eines auslaufenden Schiffes schäumen. Er liebte schon immer das Wasser, wußte aber vor Savasana nicht, wie sehr. Heute morgen trieb er in der Erinnerung an einen Strand von vor langer Zeit zurück: Seine Mutter (immer schattenhaft, sie starb, als er in der Pubertät steckte) war da und sonnte sich; und Vater, ein großer, robuster Mann, las im blendenden Sonnenlicht; auch seine Schwester war dabei, in einem Badeanzug, den sein Vater gewagt fand – sie trug ihn nichtsdestotrotz und setzte sich den bewundernden Blicken junger Männer aus. Embree glaubte sich an den genauen Ton des Lichts damals zu erinnern. Er ist jetzt dreiundvierzig; die Erinnerung reicht mehr als dreißig Jahre zurück. Schwierig, sich an das Bewußtsein eines Musterknaben zu erinnern, der seinem Vater als Meßdiener half und dabei geheimen Zorn mit sich herumtrug. Nach den Asanas machte Embree Atemübungen, das Pranayama. Es heißt, daß das Leben eines Yogi nach Atemzügen gemessen wird, nicht nach Tagen, und Embree glaubt, daß Regulierung des Atems hilft, Emotionen im Zaum zu halten. Das wiederum führt den Geist zum Punkt der Stille, an die Quelle, den Nullpunkt des Geheimnisses. Aber die Übungen sind höllisch. Am schlimmsten ist bahya kumbhaka – nach vollem Ausatmen lange auf den nächsten Atemzug verzichten. Heute morgen bemerkte er während der Atemübungen, daß seine rechte Hand, die das 206
Ein- und Ausatmen zählt, zur Faust geballt war; er empfand Druck um die Augen, und sein ganzer Körper rüstete sich auf die Art körperlicher Anstrengung, die für ihn mit Kampf verbunden ist. Dabei gelang es ihm, volle fünfzehn Minuten (die Gewohnheit, eine Uhr zu tragen und die Zeit zu messen, wird er nicht los) mit der Aufgabe kontrollierter Atmung zu verbringen. Nach den Asanas und dem Pranayama wendet er sich dem letzten Abschnitt des morgendlichen Yoga zu, für ihn das »eigentlich Wahre«. Embree sitzt auf der Matte und zieht sein linkes Bein bis an seinen rechten Oberschenkel an. Er zieht fest am Fuß, um die Sohle nach oben zu drehen. Sie soll wie ein schmaler Teller aussehen, auf den man sein Essen tun kann, hat ihm ein Yogalehrer einmal erklärt. Dann streckt er seinen gesunden Arm aus, legt die linke Hand aufs linke Knie, Daumen und Zeigefinger berühren sich. Er fühlt sich gut und fühlt sich stark, sein Rückgrat bohrt sich wie ein Pfosten in die warme Erde von Madras. Mit geschlossenen Augen beginnt er, seinen Atem zu beobachten. Heute früh geht das leicht, angenehm und einfach. Nicht der Kampf wie sonst so oft. Embree fühlt sich wundervoll und sicher; was immer ihn ausmacht, arbeitet harmonisch zusammen: Atem, Körper, Geist und Wille. Der Atem kommt, der Atem geht. »Nicely« – »schön«, wie die Inder sagen. Einatmen – ausatmen – einatmen … Da ist bloß der Koch nebenan, der mit den Töpfen klappert. Töpfen klappert … Einatmen, ausatmen. Embree ändert seine Stellung, er sucht mehr Kontakt mit dem Boden. Er verbessert den Druck des Fingers gegen 207
den Daumen. Einatmen, ausatmen. Er versucht, tiefer zu gelangen, aber plötzlich scheint es, als sei alles an der Oberfläche: Körper, Atem, Geist und Wille. Er fühlt etwas. Er öffnet die Augen und entdeckt eine einzelne Ameise, die durch das blonde, graugemischte Haar auf seiner Brust ihren Weg sucht. Er schnippt sie weg. Töpfeklappern, Krähenkrächzen. Seine Schulter juckt unter dem Gips. Er denkt an den zweiten Brief vom amerikanischen Konsul, der ihn bittet, den Vorschlag mit China noch einmal zu überdenken. Immer ruhig. Einatmen, ausatmen. Folge dem Bogen – von der Kehle bis zu den Lungen wie ein gespannter Bogen. Das hat ihm ein Lehrer gesagt. »Lieber Mister Embree. Ich hoffe sehr, daß Sie Ihre Entscheidung in bezug auf die Sache, die wir neulich im Adyar Club besprochen haben, noch einmal überprüft haben.« Ganz ruhig. Einatmen, ausatmen, ein Faden, der sich aus den Nüstern schwingt – zu den Mysterien. Seine eigenen Worte oder die eines Lehrers? Wieder Worte. Ganz gleichmäßig. Verdammt! Du machst es alles mit Worten! Der Pfosten seines Rückgrats stützt ihn nicht mehr; er fühlt, wie sein Rücken nachgibt, einem Schilfhalm gleich. Embree macht sich steif, aber er fühlt sich nicht mehr mit dem Boden verankert. Zeit, einzutauchen, sagt er sich. Tauchen, tauchen! Aber ruhig. Der Druck zwischen Finger und Daumen ist ungeheuer, als versuche er, eine hartgepanzerte Zecke dazwischen zu zerdrücken. Er bemüht sich, die Kuppen 208
von Daumen und Zeigefinger in einigermaßen sanften, aber festen Kontakt zu bringen. Einatmen, ausatmen. Einatmen, ausatmen. Einatmen, ausatmen – einatmen – ausatmen – – ein – atmen – – aus – atmen – – ein – atmen – – aus – – atmen – – ein – – – atmen – – – Er beginnt, es zu spüren, eine Ruhe, die in den leeren Schirm seiner geschlossenen Augen eintritt. Amorphe Formen kreisen, schäumen sanft, führen ihn voran, nach innen zum Nullpunkt. Er erreicht den seltsamen Punkt, an dem es möglich ist, den Atem zu beobachten und gleichzeitig die geschlossenen Augen auf den Schirm zu richten. Übung hat ihm gezeigt, daß er, wenn das geschieht, rasch zum Nullpunkt gelangen kann. Aber sein linker Fuß muß neu ausgerichtet werden. Es gelingt ihm zwar, ohne die Augen zu öffnen, doch dann öffnet er sie trotzdem und blinzelt gegen die Mauer, hinter der der Koch singt. Einen Augenblick ist er bei Null gewesen. Ganz ruhig. Affen turnen durch seinen Kopf und reißen Fetzen grellen Lichts aus der Dunkelheit. Affen und der Koch nebenan mit seinen verdammten Töpfen und das Krähenkrächzen in den Bäumen, und jetzt die lästigen, immer wiederkehrenden Gedanken, die sich ihm aufdrängen: Was ist also mit diesem jungen Inder, der dich Master nennt? Hat er das Telegramm wirklich abgeschickt, oder hat er das Geld eingeheimst? Nein, er hat ja den Postzettel abgeliefert. Ganz ruhig. Aber warum hat Vera dann nicht geantwortet? Sie muß entscheiden; natürlich ist es ein großer Entschluß, alles liegen und stehen zu lassen – Leben und Arbeit in Bangkok – und hierher nach Indien 209
zu kommen, aber inzwischen hätte sie doch – Ganz ruhig. Rama hat es abgeschickt. Er arbeitet ja bei der Post, aber die Angestellten dort ziehen die Marken ab und verkaufen sie, wenn man die Briefe nicht maschinell frankieren läßt. Telegramme sind aber keine Briefe; Rama arbeitet nicht im Telegraphenbüro. Rama hat das Telegramm abgeschickt. Sie wird bestimmt kommen. Arbeitet bei der Post, man kann ihm also vertrauen. Ruhig. Nicht denken. Einatmen, ausatmen. Einatmen, ausatmen. Einatmen, ausatmen – ein – atmen – aus – – atmen – – ein – – atmen – – aus – – atmen – – ein – – atmen – – aus – – ein – – aus – – ein – – Er versucht, sein Bewußtsein wie einen Teigklumpen weit zurück in die Leere zu rollen, dem riesigen schwarzen Null entgegen. Und tatsächlich gelingt es ihm dank langer Übung, seinen Geist in die Leere zu ziehen und durch ihr weiches schwarzes Gallert dem Nichts entgegen, bis ihm nur noch die schwache, aber nagende Hoffnung bleibt, das Nichts möge Farbe annehmen, ein Blau, ein Rosa, ein Purpur, und sich langsam drehen wie etwas, was im Wasser schwimmt. Sein Guru ist das Licht, seine Rettung und Seele der kleine Klumpen von Licht, der sich in der Mitte der Leere dreht … sein Guru, sein Lehrer, sein Meister das pulsierende Licht, wo alles ist: er selbst, die anderen, die Einheit, alles und jedes in dem orangefarbenen Tropfen Licht. Keine Worte mehr. Oder nicht diese Worte. Ruhig. Tat Twam Ast. Das bist du. Das. Alles. Du bist alles. Untrennbar. Die Töpfe, du, der Baum du, die Wolken du. Om Tat Twam Asi. Das bist du. Und nichts sonst. Ein leises, raschelndes Geräusch veranlaßt Embree, die 210
Augen zu öffnen. Ein Mungo nimmt plump und doch schnell seinen Weg über den Hof. Embree haßt diese Tiere, er hat sie auf Märkten und vor Tempeln gesehen, mit Lederhalsbändern und angeleint, damit sie nicht die armseligen Kobras zerrissen, die sich aus Körben erhoben mit zugenähten Mäulern, die Haube gebläht im fruchtlosen Versuch, die kleinen Killer einzuschüchtern – Embree sucht mit der Zunge nach Feuchtigkeit in seinem trockenen Mund. Die Meditation läuft nicht gut. Also macht er einen anderen Versuch. Er greift nach seinen Rudrakshiperlen, die neben seiner rechten großen Zehe auf dem Boden liegen: einhundertacht Perlen, der Hindurosenkranz, Mala genannt. Er hält die Mala zwischen der Spitze des Ringfingers und des Daumens und achtet darauf, daß sein Zeigefinger die Perlen nicht berührt, denn das ist der verfemte Finger, mit dem man anklagt und droht, und deshalb das Instrument, mit dem die Menschheit Dualität zum Ausdruck bringt. So ist das also: Die Art, wie man etwas hält, ist eine philosophische Aussage. Dieser anspruchsvolle Symbolismus zog Embree am indischen Denken als erstes an, stört ihn heute dagegen oft. Trotzdem läßt er die Mala durch die Finger laufen, bis er die große Anfangsperle findet, und spreizt seinen Zeigefinger ab. Om Tat Twam Asi. Om Tat Twam Asi. Verdammte Töpfe. Om Tat Twam Asi – Om – Tat Twam Asi – Om – Tat Twam Asi – Om – – Tat – – Twam – – Asi – – Om – – Tat – – Twam – – Asi – – Om – – Tat und das fade Lied, das er da singt, der Gips feucht, die Haut juckt Twam Asi Om TatTwamAsi Om Tat TwamAsiOm Tat Twam Asi Omtattwamasi Zu schnell. Kein Grund zur Panik. Auch kein Grund, die streunenden Gedanken wegzuschieben; laß sie geduldig 211
kommen und gehen. Das ist es. Das ist es, was er denken muß. Sollen die Töpfe klappern, denn das bist du, genauso bist du der Mungo, der Koch, der singt, die Töpfe selbst. Einatmen, ausatmen. Rama nennt ihn Master. Seit sie sich in dem Dorf begegnet sind, zieht sie etwas zueinander. Rama würde zweifellos sagen, daß das an ihren Karmas liegt. Und was würde ich sagen? fragt sich Embree. Wir brauchen einander. Om Tat Twam Asi. Ich gebe ihm eine Art von Hoffnung; er bringt Nächstenliebe in mein selbstsüchtiges Leben. Om Tat Twam Asi. Ob Vera wohl gealtert ist? Diese Frage drängt sich durch die vier dröhnenden Wörter. Und Sonja auf dem alten Photo – mager, Knie wie Fäuste, dünne, strenge Lippen. Ein Mädchen, Frau geworden? Natürlich. Fast zwanzig. Vera wird kommen, weil Rama das Telegramm aufgegeben hat; Rama hat es gemacht, Rama hat – Wie lang sitze ich hier schon? Eine lausige Frage, also versucht er, seinen Atem zu kontrollieren, zum Nichts zurückzukehren. Atem berührt die Membrane der Nüstern, gelangt im Bogen in die Lungen hinab. Einatmen, ausatmen – ein – aus – ein – aus und der Brief, das heißt, daß sie dich wollen – na klar, fürs Grobe. Einatmen, ausatmen. Immer weiter. Vera – Mädchen kommt ruhig Konsul – einatmenausatmenein atmen aus Ganz ruhig. Ganz ruhig. Eine Zeitlang hatte er es ja – der Atem richtig, ins Nichts hinein, ein liebliches, orangefarbenes Universum – Er hatte es, wie es sein sollte. Vielleicht sogar eine ganze Minute lang. 212
Embree öffnet die Augen. Er haßt sich selbst, nicht so sehr wegen der mißlungenen Meditation, sondern wegen seines Interesses an dem Besiegten: Ich, ich, ich, der unmögliche Parasit. Eine Denkgewohnheit hat ihn schrecklich an seine Vorstellung von sich selbst gefesselt. Wenn er jung angefangen hätte, wenn er sich diesem morgendlichen Kampf schon in New Haven als Student damals ausgesetzt hätte – Die Vorstellung östlicher Meditation im strengen evangelischen Haus seines Vaters lenkt ihn einen Augenblick von dem Schmerz in seinen Beinen ab, die er jetzt streckt und reibt. Er lächelt und stellt sich unsicher auf die Beine. Alles scheint fern, ein bißchen schwankend wie immer nach einer Meditation. Wie lang heute? Er schaut auf die Uhr: fünfunddreißig Minuten. Nicht schlecht, wären es gute Minuten gewesen, aber das waren sie nicht. Als Embree an diesem milden Morgen in Madras ins Haus zurückkehrt, fällt ihm ein seltsames Erlebnis ein, das ihm vor einem Jahr widerfuhr. In Begleitung eines jungen indischen Studenten der Philosophie des Wedanta war er nach Tiruvannamalai gegangen, wo der berühmte Hindumystiker Ramana Maharshi einen Ashram unterhielt. Embree hatte von dem heiligen Mann die üblichen Geschichten gehört – von seiner Fähigkeit, Gedanken zu lesen, seiner Gleichgültigkeit gegenüber körperlichem Komfort, seinem hypnotischen Blick und all dem übrigen, mystischen Getue – deshalb war er beim Eintritt in die Halle des Ashram überrascht von dem, was er sah: ein kleiner Mann in einem schlichten Gewand, auf einer Plattform am 213
anderen Ende gegen ein kleines Kissen gelehnt. Vierzig oder fünfzig Menschen, die vor der Plattform saßen, schauten den kleinen Mann bloß an. Das war alles. Gelegentlich stand jemand auf, ging auf den Mystiker zu und stellte eine Frage, die meist mit ein oder zwei knappen Worten oder nur mit einem Nicken oder Lächeln beantwortet wurde. Keine Zeremonie, keine Vorlesung, nicht einmal eine kleine Ansprache an die Versammlung. Nachdem sie etwa eine Stunde in der stillen Halle gesessen hatten, spürte Embree, wie eine Art Atem über ihn hinwehte, etwas wie eine ganz leichte Brise, und dieses Kräuseln der Luft führte etwas sehr Seltsames mit sich; bis heute hat er dieses leichte Erzittern der Luft in der stillen Halle noch im Gedächtnis. Vielleicht enthielt es nichts als das Schweigen an sich, aber in der Erinnerung ist er überzeugt, daß es Frieden mit sich brachte, als ob Frieden kein Zustand, sondern ein Stoff sei. Dieses Etwas, das über die gebeugten Rücken der Anhänger und seine eigene Wange und Stirn wehte, war tatsächlich der Friede selbst. Spontan stand Embree auf und lief zu der Plattform vor. Die erschrockenen Brahmanenpriester, die dem heiligen Mann dienten, beobachteten verstört, wie der Fremde sich vorbeugte und zu Ramana Maharshi sagte: »Was soll ich fragen?« Und der kleine Mann mit dem weißgrauen Bart und Ohren, die für seinen kleinen Kopf zu groß waren, beugte sich ebenfalls vor und fragte scharf: »Wer bist du?« »Mein Name ist –« »Nein, nein, das meine ich nicht. Ich meine, wer bist du? Das ist, was du fragen solltest.« Er hob leicht den Kopf wie ein witterndes Tier und wandte sich mit einer hohen, dünnen Stimme an die Anwesenden. »Die Menschen 214
würden innerhalb eines Augenblicks wissen, wer sie sind, wenn sie nur einfach sein könnten.« Das war alles, was er sagte; er sah Embree lächelnd an und dann scheinbar gleichgültig über die Halle hin. Später machte der junge Philosophiestudent Embree mit einem der Acharyas im Ashram bekannt: ein fröhlicher Mann im mittleren Alter mit dem typischen Spitzbauch der Tempelpriester, die sich von großen Schüsseln Reis und Hülsenfrüchten, Dal, ernähren. »Was meinte er heute morgen eigentlich?« fragte Embree. »Genau das, was er gesagt hat.« Der fette Mann wischte sich mit einem schmutzigen Taschentuch den Schweiß vom Gesicht. »Wenn man weiß, wer man ist, und dann etwas tut, handelt in Wirklichkeit nicht man selbst, sondern die Welt.« »Ja, die Worte verstehe ich schon, aber was mir daran nicht gefällt, ist der Nachdruck auf dem Ich. Das mag ich an der Meditation nicht: Immer das Bestehen darauf, daß ich meinen Geist beruhige, daß ich mit dem Universum in Berührung komme. Manchmal denke ich, wie arrogant das ist: Ich bin wichtig genug, um mit dem All in Kontakt zu treten! Was mir an den Religionen mißfällt, ist die Selbstversunkenheit, die sie fördern. In Wirklichkeit denken wir nur ›ich, ich, ich‹.« Der dicke Mann lachte. »Wenn man meditiert, tut man das eigentlich nicht. Man macht Gott Freude, indem man Gott meditieren läßt. Durch dich hat er ein bißchen Spaß und gleichzeitig du selber auch, weil es schließlich nichts anderes gibt als dich. Du meditierst in deiner Rolle als Gott.« Harry hatte viel Ähnliches gesagt, wenn es auch noch unausgegoren war. Er war wirklich auf der richtigen Spur 215
gewesen. An jenem Abend stand Embree diesen Ideen zum erstenmal ohne Feindseligkeit gegenüber. Der Körper und ich sind nicht dasselbe, dachte er. Das Wesen des Ichs entsteht aus dem Körper, wird aber nicht durch ihn verursacht und ebensowenig durch den Geist, der ein Teil des Körpers ist. Das Wesen des Ichs stammt aus dem Weltstoff, dem kosmischen Ich. Was bin ich also? Teil des kosmischen Ichs. Er war hingerissen von der Vorstellung, all das, die ganze Welt, sei so etwas wie ein Spiel, ein riesiges, weltumfassendes Spiel, und im Zentrum das Ich, das all die anderen Ichs enthielt einschließlich seines eigenen. Gib dich dieser Lehre hin, hatte der fette Mann gesagt. Wenn du in einem Wagen fährst und dabei eine schwere Last trägst, hilfst du dem Wagen nicht vorwärts, du verschwendest deine Mühe. Warum denken, man täte etwas, wenn in Wirklichkeit Gott es tut? Dich selbst abzulegen macht das Leben leichter. Diese Sätze des dicken Acharya begleiteten ihn tagelang wie eine halbvergessene Melodie. Hie und da kehrten sie in sein Bewußtsein zurück, erregend wie eine Entdeckung, und er saß da, heiter und erfüllt, und lauschte auf den kleinsten Pulsschlag des Lebens. Doch ein paar Monate später hörte Embree, der fette Acharya habe zusammen mit zwei anderen den Ashram in Schande verlassen müssen, weil er ein Komplott gegen den großen Maharshi geschmiedet habe. Und vor sechs Monaten erfuhr Embree dann, die drei Abtrünnigen hätten ihren eigenen Ashram gegründet und seien mit Hilfe von Werbung recht erfolgreich. Die ganze Angelegenheit stürzte ihn in eine wochenlange Depression, vertieft noch durch den empörenden Gleichmut, mit dem seine indischen Freunde den Treuebruch des fetten Acharya hinnahmen. 216
Er geht über den Hof zum Garten hinaus, schiebt die Wedel einer Bananenpalme beiseite und betrachtet das zweistöckige, viktorianische Haus mit seinem grauen Verputz im harten Morgenlicht. Hier wohnt er jetzt seit fast zwei Jahren. Bevor er das Haus kaufte, lebte Embree in einer Hütte nahe am Strand wie die verarmten Inder dort, die er auf diese Weise kennenlernen wollte. Inzwischen weiß er, daß er ihnen selbst in vielen Jahren kaum nähergekommen wäre. Jedenfalls nicht im wesentlichen, dem Alptraum und Traum ihres Lebens. Aber drei Monate lang versuchte er es in der Hütte am Wasser, aß ihr Essen und trank ihr Wasser, bis er die Ruhr bekam, gefolgt von einem Rückfall der Malaria, die er sich in Burma geholt hatte. Als er genügend wiederhergestellt war, um sich über seine Verrücktheit klarzuwerden, suchte er statt nach der Wahrheit stracks nach einem Haus und fand dieses ausgedehnte, alte Anwesen. Er kaufte es (mit seinem Ausmusterungssold) von einem alten, angloindischen Anwalt, der sich in Bombay um einen kranken Bruder kümmern mußte. Eines Abends saß der alte Anwalt mit Embree beim Gin zusammen und kanzelte zornig das indische Streben nach Unabhängigkeit ab. Es würde nichts Gutes bringen, prophezeite er, Korruption und Unordnung würden das unvermeidliche Resultat sein. Aus einem Legalisten war ein Zyniker geworden. Ursprünglich Brahmane, war er jetzt Atheist und verspottete herzhaft Embrees Interesse an indischer Religion. Als Embree meinte, vielleicht könne man den Glauben nie aus dem Sohn eines Missionars austreiben, erklärte er stolz: »Mein Vater war auch gläubig, aber das hat mich nicht davon abgehalten, mich der Wahrheit zu stellen.« Und doch bekannte sich der alte Mann am Ende dieser gingetränkten Unterhaltung zu einem Gefühl, das sein 217
Intellekt ansonsten verachtete: Trotz seiner Überzeugung, Religion sei nichts als fauler Aberglaube, hatte er nach dem Tod seines Vaters im Namen der Familie einen kleinen Tempel errichtet und der Zeremonie beigewohnt, als brahmanische Priester ihn Ganesha, dem Gott der Weisheit und des Lernen, weihten, dem Lieblingsgott seines Vaters. Als Embree den Kücheneingang erreicht, schaut im selben Augenblick die Nachbarsfrau von der Schwelle ihrer eigenen Küche – gegenüber von dem topfklappernden Koch – eindringlich zu ihm herüber. Als sie sicher ist, daß ihr Nachbar ihre Mißbilligung voll gekostet hat, wendet sie sich abrupt ab. Sie ist eine Brahmanin und hat Embree nie verziehen, daß er einen Koch aus einer niederen Kaste, einen Harijan, angestellt hat. Oft schon sah Embree, wie sie mit Horror auf den Abfall starrte, als könnte die Nähe des von einem Ausgestoßenen zubereiteten Essens sie für alle Zeiten infizieren. Im Eingang von Embrees Küche legt der Koch die Hände zum Gruß aneinander. »Guten Morgen, Master. Dieser Junge kam vorbei, als Sie hinten waren, und hat ein paar Bananen abgegeben. Ich glaube, er hätte Sie gern belästigt, aber ich habe ihm Beine gemacht.« Cook spricht von Rama, den er mit sichtlicher Verachtung den »Jungen« nennt, obwohl Rama schon dreiundzwanzig ist – das hat Embree behalten, denn er war selbst dreiundzwanzig, als er von Amerika nach China aufbrach. Ist das der Grund, weshalb ich ihn um mich habe? Weil ich so alt war wie er, als mein eigentliches Leben begann? fragt sich Embree. Oder als Lohn dafür, daß er mir aus der Patsche geholfen hat? Embree lächelt, als ihm einfällt, wie 218
der junge Mann fröhlich verkündete, alles sei in Ordnung, »Rama sei ja da«. Vielleicht liegt es daran, daß Ramas Gegenwart ihm wohltut: An dem jungen Mann ist eine Fröhlichkeit, die er bei sich selbst vermißt. Ob Rama meditiert? Alle Inder tun das, auf die eine oder andere Weise. Es nützt nicht allen von ihnen, aber vielleicht Rama. An diesem klaren Morgen fragt sich Embree plötzlich, ob er Rama nicht deshalb um sich haben will, weil er eines Tages, ganz zufällig, vielleicht von dem jungen Inder etwas über Gott erfahren könnte. »Ich habe ihm gesagt«, fährt Cook fort, »komm nie den Master stören, wenn er hinten im Garten ist. Es ist mir egal, wie gern du ihn stören möchtest!« Cook ist ein dünner Mann mit einem weißen Haarschopf. Seit der Unabhängigkeit ist er ein Experte in Lokalpolitik geworden. Embree hat ihn beobachtet, wie er mit Trägern in der Nachbarschaft zusammenhockte und ihnen erklärte, die Regierung habe alle möglichen Komitees gebildet, und diese Komitees würden alle Probleme der Bevölkerung lösen. Embree setzt sich an den großen Küchentisch. Cook serviert ihm auf einem Bananenblatt Reis-Linsen-Kuchen, dazu gewürzten Sambar als Dip, etwas scharf eingelegtes Obst und Limonen-Chutney. »Ich sah sie heute morgen!« ruft Cook plötzlich aus, während er eine Mischung aus Kaffee und Milch in Messingschalen hin und her gießt. »Die Kobra?« »Sie kam vor der Reise zurück.« Die Kobra wohnt in einem Rattenloch unter einem Mangobaum. Embree hat keinen Irula – vom Stamm der Schlangenjäger – gerufen, um sie zu entfernen. Seit vielen Monaten hat er einfach den Mangobaum gemieden, vor 219
allem nachts, wenn die Kobras auf Wanderschaft gehen. Die Kobra sei ein Kannibale, hat ein indischer Freund Embree erklärt, und halte ein Anwesen frei von gestreiften Kraits und Sandrasselottern, die mindestens ebenso gefährlich sind. Zudem würde die Entfernung der Schlange den Verlust von Koch und Träger bedeuten, die beide Anbeter der heiligen Naga-Schlange sind und den Akt verhängnisvoll finden würden. Die Kobra – so hat Cook Embree oft erklärt – versteht, was Menschen gegen sie planen, und die Strafe für ein solches Komplott erfolgt rasch und ist schrecklich: Geschwüre und blutige Ausscheidungen aus Penis und After. Cook weiß alles über Kobras. »Ich habe puja gemacht und eine Kerze angezündet«, erklärt Cook stolz. Mit einer theatralischen Geste des Abscheus wirft er Ramas Bananenbündel in einen Abfallkorb. »Master wird die nicht wollen. Ich weiß, wo man die guten herbekommt.« Embree denkt sich, daß es auf der Welt keine eifersüchtigeren Menschen gibt als indische Diener, wenn ein anderer Inder droht, in ihren Wirkungsbereich einzudringen. Es stimmt ja, daß Rama deutlich versucht hat, hier eine Anstellung zu finden, seit er Embree in der alten Karre in die Klinik gebracht hat. Er erschien jeden Tag im Spital, mit einem Blumenstrauß in der Hand und bereit, jede nur mögliche oder unmögliche Besorgung zu machen – »Keine Sorge, Rama ist da!« Und als Embree die Klinik verließ, war Rama mit einem Taxi zur Stelle und brachte ihn heim. Seither taucht Rama immer irgendwann am Tag auf, in der einen Hand einen Blumenstrauß und in der anderen seinen zusammengerollten britischen Schirm. Langsam ißt Embree sein Frühstück. Er fühlt sich ausgeglichen. Das Yoga hat also doch genützt. 220
Embree steigt die schmale Treppe zum zweiten Stock hinauf, einem Labyrinth kahler Räume. Kein Schmuck ist an den Wänden, die in einem Anstaltsgrün gestrichen sind. In einem Zimmer hängt ein elektrischer Ventilator unter der Decke, der manchmal funktioniert – wenn nicht gerade wieder der Strom ausfällt, und oft sogar, ohne daß man einen kleinen Schock abbekommt, wenn man den Schalter bedient. Wegen des Ventilators hat Embree sein Messingbett in dieses Zimmer gestellt. Er geht durch die extravagante Leere des zweiten Stocks ins Badezimmer; es hat ein Klosett mit Wasserspülung, einen Eimer, einen Abfluß und ein Becken, über dem ein kleiner Spiegel hängt. Embree gießt heißes Wasser (das der Mali jeden Morgen heraufbringt) ins Becken und seift sich zum Rasieren ein. Er hat einen drahtigen, kräftigen Bart – früher blond, jetzt grau gemischt. Er studiert kurz sein Gesicht im Spiegel: die immer noch bläuliche Narbe auf der Stirn; das breite Kinn, das zu dem allgemeinen Eindruck eines untersetzten, ziemlich kräftigen Mannes, wie er meist wirkt, beiträgt; trotz wenig Pflege ein gutes Gebiß; eine ausgeprägte Nase mit geblähten Nüstern. Für einen Mann Mitte Vierzig wirkt das Gesicht bemerkenswert glatt, vielleicht zum Teil durch die hellblauen Augen, eine besonders jugendliche Farbe wie der Himmel. Er hat sich immer dunklere Augen gewünscht – oder zumindest in der Jugend mit ihrer Vorliebe fürs Mysteriöse, als er seine Erscheinung wirklich wichtig nahm. Während er so sein Gesicht betrachtet, sagt er sich mit Selbstironie: Das Ziel der Morgenübungen war gewesen, das Interesse an dem, was er nun anstarrt, aufzugeben, und er tut es trotzdem. Embree ist mit der Rasur fast fertig, als der Mali erscheint. 221
Shrinivas ist ein dunkelhäutiger Junge. Er hält ein paar Postsachen mit beiden Händen fest – eine seltsame Art, so wenig zu tragen, aber er bedeutet damit: »Sehen Sie, ich verberge nichts; meine beiden Hände arbeiten für Sie.« Embree nimmt die Post entgegen, die Shrivinas ihm mit ausgestreckten Armen reicht. Die übertriebene Unterwürfigkeit stört Embree nicht mehr. Als Harijan achtet Shrinivas darauf, der Sphäre eines anderen Menschen nicht zu nahe zu kommen. Embree lebt schon lange genug in Indien, um nicht nur die Resultate von Ungerechtigkeit zu registrieren, sondern in Frieden mit ihnen zu leben. Auch ihn hat tiefempfundene Tradition in die Schranken gewiesen. »Hab’ sie heute morgen gesehn, Master!« »Ja, Cook hat es mir gesagt.« Embree blättert rasch die Post durch; ein paar Sachen legt er auf die Seite – Einladungen zu einer Tanzveranstaltung in Madras, zu einer wöchentlichen Versammlung der WedantaGesellschaft. »Cook und ich haben puja gemacht.« »Ja, ich weiß.« Ein Brief vom Konsulat, der dritte. Eine Weihnachtskarte, um Wochen verspätet, Embrees Herz schlägt schneller – ein Brief, in Bangkok abgestempelt. »Sie paßt auf. Paßt auf, Master.« Der Mali erhebt seine Hand und ahmt die Kobra nach, wie sie ihre Haube bläht. Dann läßt er seine Zunge rasch zwischen den Lippen schnellen, das frösteln machende Abbild einer Schlange, die wittert; die Pupillen seiner Augen weiten sich und werden starr. Diese Imitation einer Schlange ist Shrinivas so gut gelungen, daß er Embrees Aufmerksamkeit von dem Brief aus Bangkok ablenkt. Embree weiß, was Shrinivas will. »Sage Cook, er soll zehn Annas aus der Haushaltskasse nehmen, und du sollst dafür eine Puja222
Girlande für die Kobra kaufen.« Shrinivas macht mit dem Arm eine elegante salutierende Bewegung, dreht sich um und hüpft davon. Heute nachmittag wird eine Blumengirlande neben dem Rattenloch unter dem Mangobaum liegen; sie wird vier oder fünf Annas gekostet haben; den Rest wird Shrinivas auf einen Schluck Arrak verwenden. Embree ist enttäuscht, daß auf dem Brief aus Bangkok die Handschrift nicht von Vera stammen kann. Die Schrift ist breit, unsicher, fast kindlich. Er öffnet den Umschlag und blickt zuerst auf die Schlußworte: »Aufrichtig die Deine, Sonja (Sanuk, so nennt man mich jetzt).« Lieber Philip: Bitte entschuldige mein Englisch. Ich spreche es besser, als ich schreibe, sagt Mutter. Aber ich gebe mir Mühe, auch wenn ich lieber hierbleiben würde als im Ausland studieren, wie sie es will. Natürlich möchte ich schon nach Europa und Amerika, aber nicht jetzt. Es gibt jetzt hier viel zuviel zu tun. Ich schreibe Dir, weil Mutter sagt, Du kommst nach Siam zurück. Hoffentlich kommst Du wirklich. Es ist schon so lang her, seit Du weg bist zum Krieg. Ich war noch ein Kind damals. Du würdest mich jetzt wahrscheinlich nicht erkennen. Ich bin jetzt eine Frau. Kennst Du Shakespeare? Aber natürlich. Wir lesen ihn an der Uni hier, mein Hauptfach ist aber Kunst. Ich wünschte, es wäre Politik, denn es gibt so viel zu tun. Darüber können wir sprechen, wenn Du herkommst. Ich freue mich darauf, denn ich weiß noch, daß wir wunderbare Gespräche hatten, als ich klein war. Dann der Schluß. Embree lächelt unwillkürlich über solch offenherzige Begeisterung. Ihre Erinnerung an ihn gefällt 223
ihm – hat er wirklich viel mit ihr gesprochen? Der Gedanke wundert ihn, aber ihn wundert ja alles, was ihm in den Jahren vor dem Krieg widerfuhr. Was geschah, geschah in einem Traum. Der Brief wurde offenbar abgeschickt, noch bevor sein Telegramm ankam. Denn das Mädchen spricht nicht davon, eventuell nach Indien zu kommen. Und was ist mit der Politik? Er lächelt wieder und zerreißt dabei Frazers Brief vom Konsulat. Die weitere Post nimmt er mit in sein Schlafzimmer. Er setzt sich auf den Rand der Matratze und hält die Weihnachtskarte mit einem flämischen Marienbild lange in der linken Hand, bevor er den Vers auf der Rückseite überfliegt, gräßlich gereimte Zeilen bis zu den beiden Unterschriften, Grace Pollack, Matthew Pollack und der gekritzelten Mitteilung in enger Schrift: Möge 1948 dir Frieden bringen. Er war Grace Pollack zum erstenmal im Kaufhaus Spencer’s zu Beginn des letzten Monsuns begegnet. Sie hatte etwas Schwierigkeiten, sich verständlich zu machen, und er half ihr. Grace war eine schlanke Frau mit runden Schultern, blondem Bubikopf, dem Gesicht eines Kupido und den weit auseinanderstehenden, feuchten Augen einer Katze. Sie war neu in Indien, tapfer, aber verwirrt und mit einem Ehemann, der in seiner Tätigkeit aufging. In der kurzen Zeit, die sie in dem gefliesten Säulengang von Spencer’s beisammenstanden, während der Regen in Pfützen tropfte, die bald zu großen Wasserflächen anwachsen würden, erkannte Embree, daß diese attraktive Frau nach einer Affäre Ausschau hielt, auch wenn sie es selbst vielleicht nicht wußte. Ohne zu überlegen, bat er sie zum Mittagessen in sein Haus. 224
»Bei Ihnen zu Hause?« fragte sie nervös. »Ja. Ich habe einen guten Koch.« Sie schürzte die Lippen. »Sagen Sie mir die Adresse.« Sie behielt sie sofort, und Embree bekam den Eindruck, als gebe die Adresse den Balken für eine Ertrinkende ab. Die Verzweiflung der Frau erregte ihn, dann das Empfinden seiner eigenen. »Kommen Sie morgen.« »Morgen?« Ihr Blick war fröhlich, erwartungsvoll. »Also gut, morgen. Um eins?« »Besser um zwölf.« Und so fing es an. Embree kann sich kaum noch daran erinnern, was sie gesprochen haben, nicht einmal an das, was sie getan haben, wenn sie sich trafen. Er sieht vor sich, wie sie Seite an Seite beieinanderlagen, während der Monsunregen auf das Ziegeldach über ihnen trommelte und die Tiere es sich wohl sein ließen. Hauseidechsen, blaß, fast durchsichtig, hafteten an den Schlafzimmerwänden und mästeten sich an Fliegen, die sich in der feuchten Luft wie durch ein Wunder vermehrten. Die Eidechsen ließen winzigen Kot auf Embrees Bett und die abgeworfenen Kleider fallen und schlitterten durch den Liebesakt wie kleine Drachen der Phantasie. Selbst in der kurzen Zeit eines Nachmittags waren die Kleider von kreidigem Schimmel bedeckt, und es roch klamm und kalt. Manchmal standen sie beide nackt am Fenster (das Laub war so dicht, daß sie von keinem der Nachbarhäuser zu sehen waren) und schauten in den strömenden Regen. Von einem anderen Fenster aus sahen sie einmal, in Kleidern, wie eine Kokospalme mit einem Strohdach zusammenbrach und Tausende von geöffneten Kokosschalen verstreute. Wie menschliche Schädel, dachte er und sprach es aus, und ihre Bestürzung 225
bewies ihm, daß sie seine Psyche nicht gebrauchen konnte. Grace brauchte körperliche Liebe. Sie war mit einem Missionar verheiratet – ausgerechnet. Embree konnte sich von seinem Erstaunen nie erholen: Er trieb es mit der Frau eines Missionars. Wenn man seine eigene Lebensgeschichte bedachte, waren die Freudschen Aspekte der Affäre klar, deswegen aber nicht weniger faszinierend. Sie liebte ihren Mann – auf ihre Art. Einmal sagte sie: »Ich bin gern mit einem Missionar verheiratet. Ich lerne gern alle möglichen Leute kennen. Und wir reisen viel. Und obwohl ich kein Bedürfnis habe, Gott zu dienen wie er, glaube ich an Gott, und so täusche ich nichts vor.« Auch im Bett war sie aufrichtig und erwies sich als großzügige, umsichtige, dankbare Geliebte. Sie trafen sich während des Monsuns zwei oder drei Nachmittage die Woche. Nach einem Monat ließen Regen und Leidenschaft allmählich nach. Myriaden von kleinen braunen Fröschen – in den winzigen Seen der Gärten und Einfahrten ausgebrütet – erschienen. Sie fanden hüpfend ihren Weg über Zementwege, Fußboden, Speisen und die nackten Füße der Liebenden. Und dann kam die Invasion der Kakerlaken. Eines Nachmittags kamen ein paar, mindestens fingerlang, wie Vögel ins Schlafzimmer geflogen. Grace wurde hysterisch. Als sie sich beruhigt hatte, wimmerte sie an Embrees Schulter: »Ich liebe meinen Mann.« Embree umarmte sie mit einer Mischung von Erleichterung und Traurigkeit und murmelte zustimmend: »Das weiß ich.« Sie küßten sich, während die Frösche um ihre Füße purzelten, jeder bedankte sich höflich beim anderen, und das war das Ende. Drei Tage später war der Monsun vorbei. Mit einem Seufzer greift Philip Embree nach dem letzten 226
Brief, den er bisher aufgehoben hat, als müsse er erst den Mut aufbringen, ihn zu lesen. Der Absender lautet: Stubbs, Barnsley, Yorkshire, England. Mein lieber Herr, Ich danke Ihnen für die Treue und Anhänglichkeit, mit der Sie uns schreiben. Dora, meine Jüngste, sagt: »Mister Embree ist wie einer von der Familie.« Und ich sagte ihr, daß es stimmt. Wir haben uns nun endgültig entschlossen, den Grabstein hier auf unserem kleinen Anwesen zu errichten, hinter dem Haus. Wir wissen nicht, wie wir es anders machen sollen. Sie sagen, es sei unmöglich herauszufinden, wo er liegt, und der Kriegsgräberausschuß ist ebenfalls Ihrer Ansicht. Trotzdem hoffen wir immer noch, daß man ihn findet, damit wir ihn hierherbringen oder dort bei seinen Kameraden lassen können. Beides soll uns recht sein, wissen Sie. Was uns betrübt, ist, daß wir nicht wissen, wo seine Überreste wirklich sind. Aber lassen wir das, Sie waren so freundlich. Wir möchten gern, mit Verlaub, noch einmal Ihre Freundlichkeit in Anspruch nehmen. In Ihrem letzten Brief erwähnten Sie, daß Sie vielleicht aus Indien weggehen. Falls das bedeutet, daß Sie durch Burma reisen, bitten wir Sie um ein kleines bißchen Ihrer Zeit. Andere Jungs, die mit Harry gedient haben, sind nämlich dort an einem Ort namens Thanbyuzayat begraben, auf einem Friedhof der Alliierten. Ein paar der Mütter von Harrys Division Koylie treffen sich ab und zu. Ich habe von Ihnen und Ihrer Freundlichkeit erzählt. Nun möchten sie alle, daß Sie die Gräber ihrer Söhne stellvertretend besuchen. Entschuldigen Sie diese ungelegene Bitte, und glauben Sie mir, Sir, wenn es nicht möglich ist, verstehen wir es vollkommen. Ich spreche sie jetzt nur aus, weil Ihre bisherige Freundlichkeit mich dazu ermutigt. Falls Sie 227
irgendwann in Burma sind und dann vielleicht doch die Gräber besuchen könnten, wären Ihnen die Mütter zutiefst dankbar. Ich füge sechs Namen bei. Harry hat sie alle gekannt. Nochmals unseren ewigen Dank für Ihre Freundlichkeit und Anteilnahme an unserem Kummer, der nicht nachgelassen hat seit dem Tag, als wir zuerst vom Tod unseres lieben Jungen erfuhren. mit aufrichtigen Grüßen Katherine Stubbs Mrs. John Stubbs. Embrees Hand krampft sich um den Brief. Wo liegt Harry? Er weiß es nicht. Schon eine Woche, nachdem er Harry dort an den Baum gelehnt zurückließ, wußte er es nicht mehr. Soweit Harry ihm von seiner Familie erzählt hat, hätte dort niemand einen so schönen Brief verfassen können. Mrs. Stubbs muß Hilfe dabei gehabt haben, und das macht ihn um so bewegender. Verdammt. Was sie will, ist mehr über ihren Sohn, viel mehr – und er kann, er darf es ihr nicht mitteilen. Er kann ihr nicht die Wahrheit sagen. Was er der Familie Stubbs bisher berichtet hat, ist mehr als vage: daß er Harry in einer Koylie-Einheit während des Rückzugs aus Burma begegnete, daß er ihn später während des Feldzugs von 1944 wiedertraf, als die Alliierten versuchten, Myitkyina einzunehmen; daß sie zusammen im Einsatz waren. Es war nicht nötig, ihnen den Harry zu beschreiben, den er unter dem Baum zurückgelassen hatte. Und jetzt kann er ihnen erst recht nicht erklären, warum Harry nicht zu finden ist. Sie würden eine solche 228
Erklärung unglaublich finden oder ablehnen. Aber es ist die Wahrheit: Eine Woche, nachdem er Harry dort zurückließ, muß sich der Dschungel selbst verwandelt, müssen Gestrüpp und Bäume im Kampf um Atemluft einander brutal beiseite gedrängt haben. Er kann der Familie Stubbs nicht begreiflich machen, daß die Natur im burmesischen Dschungel mit einer Schnelligkeit aktiv ist, wie sich das die Nutznießer getrimmter Gärten nicht vorstellen können. Innerhalb weniger Monate müssen Vögel und Insekten Harry fortgeschafft haben – Fleisch, Muskeln, Knochen –, Stück um Stück, bis nichts übrig war außer vielleicht einer Gürtelschnalle oder ein paar Knöpfen. Und wenn Sie mich bis auf eine Meile in die Nähe dieser Stelle brächten, Mrs. Stubbs – ich könnte sie nie mehr finden. Embree blickt auf. In der Halle ist Unruhe entstanden. Shrinivas schlittert beinahe ins Zimmer. »Mann wartet, Master! Mann wartet!«
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I
n dem kleinen Studio, das auf die Terrasse geht, sitzt Mister Nagarajan. Als Embree das Zimmer betritt, springt der untersetzte kleine Inder auf und streckt ihm die Hand zum europäischen Gruß entgegen. »Ich hoffe, ich bin nicht zu früh gekommen, Sir?« Nagarajan spricht ziemlich gut Englisch. Embree weiß seit langem, daß Inder ihre Geschäftsbesuche vor Beginn der Arbeitszeit machen. Also ist dieser Besuch nicht zu früh. »Ein Besuch von Ihnen ist mir immer willkommen, Sir«, sagt er, der Höflichkeit von Nagarajan entsprechend. Sie setzen sich und haben kaum begonnen, von der drohenden Dürre zu sprechen, da erscheint Cook schon mit Tablett, Tassen und Tee. Cook ist gut, wenn es um die Bewirtung von Gästen geht – einer der Gründe, weshalb die Kobra ihre Wohnung unter dem Mangobaum behalten darf. Nachdem der Tee eingeschenkt ist, lächelt Mister Nagarajan und räuspert sich. »Sir, ich möchte Sie zum Konzert am vierzehnten Februar einladen. Kanthimathi Santhanam und seine Gruppe werden Bajans singen, und die Kulturgesellschaft von Madras gibt sich die Ehre, Shri Rudra Jagannathan an diesem Abend zu Gast zu haben.« Nach einer Pause fügt er hinzu: »Shri Rudra Jagannathan ist unser bedeutendster Geiger.« Embree weiß das und ebenso, daß Nagarajan weiß, daß er es weiß. »Ich habe mir erlaubt«, fährt Nagarajan fort, »Ihnen einen Pakka-Platz zu reservieren. War das zu voreilig?« 230
»Ich würde gerne kommen. Das Problem ist nur, daß meine Familie dann vielleicht hier ist.« – »Meine Familie« klingt gut, findet Embree. Er lebte über zehn Jahre mit Vera und Sonja zusammen und empfand damals die beiden doch niemals als seine Familie. Doch jetzt, in diesem Augenblick, sind sie es für ihn. »Wissen Sie, ich erwarte bald meine Frau und meine Tochter aus Bangkok.« Sonja – Sanuk, wie sie sich nennt – ja vielleicht nicht, denkt er. Scheint ja ein wildes Ding zu sein, voll von irgendwelchen politischen Ideen; vielleicht will sie in Bangkok bleiben und etwas daraus machen. Aber Vera wird sicher kommen. Ich habe eine Schuld abzutragen – »Würden Sie das bitte wiederholen, Mister Nagarajan?« Nagarajan wirkt unruhig. »Ich möchte darauf hinweisen, Sir, daß unsere Situation zur Zeit sehr prekär ist. Seit dem Abzug der Engländer ist alles so verwirrend für uns. Es heißt, der Kongreß wolle den Süden bestrafen. Sie werden darauf bestehen, daß wir Hindi als Nationalsprache akzeptieren. Wir Tamilen können das auf keinen Fall. Sir. Nie, niemals.« »Nein, sicher nicht.« »Dann gibt es ein Gerücht über Durchsuchungen.« Nagarajan schneidet ein Gesicht. »Wir sind natürlich nicht sicher, aber es scheint ziemlich offensichtlich inzwischen, Sir. Eine gewisse Gruppe von Lokalpolitikern hier, das sind bestialische Burschen, Sir, die vorhaben, mit dem Norden zusammenzuarbeiten bei dem Plan, die traditionellen Werte unseres Landes zu vernichten.« Embree ist sich bewußt, daß Nagarajan in einem lokalpolitischen Streit unterlegen ist; der Mann muß für seine Niederlage bezahlen – ist ihm das nicht klar? Nagarajan zappelt jetzt heftig. Sein Gesicht ist 231
verschwitzt, das Dauerlächeln ist verschwunden, Falten erscheinen um seine schwarzglänzenden Augen. »Das Problem ist, Sir, das Problem könnte leicht sein – die Durchsuchung von Privatbesitz. Sie werden behaupten, daß sie damit das Steuersystem schützen wollen. Schutz? Raub!« Seine Augen verdunkeln sich. »Die Behörden werden Rasen und Gärten umgraben lassen und alles nehmen, was sie finden.« »Gärten umgraben?« Nagarajan beantwortet Embrees Erstaunen mit einem Lächeln. »Die Leute sind nervös geworden, Sir. Sie haben Wertsachen in ihren Gärten vergraben, und diese Burschen von der Steuer drohen, dort nachzugraben – auf Kosten des Steuerzahlers. Im Safe kann man nichts mehr aufbewahren. Diese Kerle wollen angeblich die Safes beschlagnahmen.« »Sind Sie sich da ganz sicher?« Nagarajan streckt Embree in einer verzweifelten Geste die offenen Hände entgegen. »Was tun? Wir müssen das Gerücht ernst nehmen.« Embree trinkt nachdenklich seinen Tee. Wäre er ein Inder, er wäre ebenso beunruhigt wie Nagarajan. In letzter Zeit schwirren allerlei Gerüchte durch die Luft, alles ist möglich. Oben im Norden hat es ein paar von Kommunisten angezettelte Streiks gegeben. In ein paar Wochen wird die Konferenz der Jugend Asiens – ebenfalls von den Roten organisiert – in Kalkutta zusammentreten, und einen Monat später wird sich der Zweite Kongreß der Indischen Kommunistischen Partei dort ebenfalls versammeln. Der reiche und knickerige Nizam von Heiderabad hat sich geweigert, der Indischen Union beizutreten, obwohl seine moslemischen Loyalisten eine 232
Minderheit im Staat bilden. Und jeden Tag gibt es eine hitzige Debatte der Hindu über die »Bill for Codification of Hindu Law«, ein bemerkenswertes Stück sozialer Gesetzgebung. Käme sie durch, würde sie das Erbe von Söhnen und Töchtern gleichsetzen, die Mitgift der Frau sicherstellen, einem Erblasser zusichern, über seinen Besitz zu verfügen, wie er will. Embree verfolgt die Auseinandersetzung aufmerksam – was seltsam ist für einen Mann, der Politik abscheulich findet. Er ist fasziniert von solchen Veränderungen, die sich auf eine fünftausendjährige Geschichte einlassen. »Sir.« Nagarajan bricht ängstlich in Embrees gedankenvolles Schweigen. »Sir. Ich hatte in der Tat gehofft, Sie würden mir eine besondere Gunst gewähren. Ich meine, weil Sie ein ausländischer Gentleman sind und außer Reichweite dieser Steuereinnehmer –« »Vorläufig noch«, unterbricht Embree. »Ihren Garten würden sie nie anrühren. Vielleicht Ihr Safe – sie könnten verlangen, zu sehen, was drin ist. Aber glauben Sie mir, es entspricht nicht indischer Höflichkeit, mit Spaten und Äxten auf das Grundstück eines ausländischen Herrn einzudringen und dort die Blumenbeete umzugraben.« »Sie möchten also Ihre Wertsachen hierherbringen?« Nagarajan lächelt hoffnungsvoll. »Sie treffen den Nagel auf den Kopf, Sir. Ich habe ein paar Sachen, die sich lohnen. Ich würde sie Ihnen ganz und gar anvertrauen.« »Mister Nagarajan –« Der behäbige Inder hebt beide Hände zum Himmel und beugt sich erwartungsvoll vor. »Ich kenne Ihre Einwände, Sir, aber seien Sie versichert, daß ich Sie nicht verantwortlich machen würde. Alles, was ich möchte, ist eine winzige Ecke irgendwo auf Ihrem Grundstück. Das 233
Graben würde natürlich heimlich geschehen, bei Nacht. Ich würde Ihnen nicht einmal sagen, wo genau, wenn das Ihre Befürchtungen mildert.« »Hören Sie, mein Freund«, beginnt Embree bedächtig, »ich verstehe Ihr Dilemma und würde Ihnen gern helfen, aber wie ich Ihnen schon gesagt habe, meine Familie kommt nach Indien. Ich möchte sie nicht in so etwas hineinziehen.« »Glauben Sie mir, Sir, Sie sind absolut abgesichert. Ich würde nie an so etwas denken, wenn es nicht so wäre.« »Ich werde es mir überlegen«, sagt Embree und erwartet, daß Nagarajan diese Äußerung als Ende der Unterhaltung auffaßt. Aber der Mann bleibt sitzen mit fahrigen Händen und wischt sich den Schweiß mit der Handfläche von der Stirn. »Praktizieren Sie Yoga?« fragt Embree abrupt. »Natürlich«, antwortet Mister Nagarajan mit einem Lächeln, das bedeutet, daß ihm schon viele Ausländer diese Frage gestellt haben. »Kommen Sie je mit dem Punkt Null in Berührung?« »Ich weiß nicht, was Sie damit meinen, Null.« »Ich nenne das so. Ich meine den Punkt der Konzentration, die anhaltende Fixierung.« Embree weiß genau, daß dies nicht der Zeitpunkt ist, um den Gegenstand zu vertiefen, trotzdem hat er genau das vor. »Zumindest denke ich, es ist ein Weg, um zu beschreiben, was während der Meditation vor sich geht.« »Ja, aber wenn Sie so freundlich sein wollen, es handelt sich um eine Sache großer Dringlichkeit, Sir, glauben Sie mir –« »Dringlich, ja. Ich glaube Ihnen«, sagt Embree. »Falls meine Familie nicht kommen sollte, können Sie Ihre 234
Sachen vielleicht auf meinem Grundstück unterbringen. Wenn sie allerdings nicht kommen, werde ich zu ihnen hinfahren müssen.« »Ob Sie selber auf dem Grundstück anwesend sind, ist nicht entscheidend.« Nagarajan macht eine wegwerfende Handbewegung. »Es muß nur auf Ihren Namen eingetragen sein«, erklärt er ohne Umschweife. Nagarajans Sprache und Verhalten haben etwas Abgebrühtes, was Embree weiteres Mitgefühl für den Mann erspart. Trotzdem gibt er ihm ein paar Minuten später, als Nagarajan sich zögernd zum Abschied erhebt, sein Wort: Wenn seine Familie nicht kommt, kann gegraben werden. Embree verläßt das Haus. Die Sonne ist jetzt schon lastend, obwohl noch nicht Mittag ist und die eigentliche Hitzeperiode erst in drei Monaten bevorsteht. Am Tor dreht er sich um und betrachtet sein Anwesen; es ist das erste, das er je besessen hat. Eigentlich ist es nichts Besonderes, trotzdem ist Embree stolz darauf: Es deutet irgendwie auf seine Bereitschaft, sich ernsthaft häuslich niederzulassen. Man könnte einiges aus dem Haus machen. Nicht einmal die angekündigte Dürre kann heute morgen seine Begeisterung für das Haus dämpfen. Gott ist gut. Oder wer oder was immer. Embree fragt sich, ob sein Leben vielleicht jetzt erst wirklich beginnt: Er ist in Indien und hat noch dazu die Chance, Vera und Sonja hier einzuführen, seine Familie. Hier zu leben hat ihm die Liebe zur Melodie der Weite wiedergegeben, eine Musik, die er nicht mehr vernommen hat, seit er China verließ. Eben ist ein Wind in den Palmwedeln, der eine Reihe klappernder rhythmischer Schläge aus ihnen schüttelt. Die Musik Indiens. Er muß Vera davon erzählen, aber wie er sie kennt, wird sie dies längst wahrgenommen haben, ehe 235
er daran denkt, es zu erwähnen. Embree geht den Lehmweg in Richtung Hauptstraße, wo er eine Tonga zu finden hofft. Er ist voller Hoffnung. Das Yoga muß doch gutgegangen sein. Und er ist mit sich zufrieden, weil er versprochen hat, Nagarajan auszuhelfen – falls Vera nicht kommt, heißt das. Sie muß aber kommen. Und sie kommt auch. Er war nie viel wert als Ehemann; doch jetzt wird es anders werden, er wird auch diese Schuld begleichen. Erst Vater, dann Vera. Als einsames Kind führte er häufig Phantasiegespräche mit einem Jungen namens Wilbur. Als junger Mann in China unterhielt er sich intensiv in seiner Einbildung mit seiner rebellischen Schwester, die in New York ein flottes Leben führte. Dann sprach er jahrelang nur noch mit Menschen, die wirklich anwesend waren. Seit Burma aber spricht er mit Harry. Heute stellt er sich vor, wie er Vera im Hafen von Madras abholt. Sie trägt etwas Hübsches; so war das immer bei ihr. Ob sie ein bißchen dicker ist als in seiner Erinnerung, mit Krähenfüßen um die Augen? Gewiß. Aber das macht nichts. Sie ist allein. Sonja wollte noch in Bangkok bleiben, sie will Kunst und Politik studieren. So führt er Vera nach Hause, wo er Rama als eine Art Steward eingesetzt hat. Rama legt zu Ehren von Memsahibs Ankunft die Hände aneinander. Sogar Cook lächelt. Shrinivas grüßt militärisch. Wirklich ein angenehmer Ort, eine Art Paradies, wenn man es genau betrachtet. »Dieses Haus gehört jetzt dir«, wird Embree zu ihr sagen, während sie von Zimmer zu Zimmer wandern. »Es ist nichts Besonderes, aber nach indischen Maßstäben hat es Stil. Außerdem ist das Grundstück groß genug für einen Anbau. Arbeitskräfte sind billig. Wenn ich mich ein bißchen anstrenge, kann ich in der Firma aufsteigen. Du wirst schon sehn. Wenn ich es mir vornehme, wenn ich 236
meine religiösen Phantasien vergesse – die erklär’ ich dir später, ich erklär’ dir noch alles –, kann ich etwas erreichen, ich kann für dich sorgen, und du wirst stolz auf mich sein. Ich kann alles wiedergutmachen.« Embree spricht in Gedanken so schnell und mit solcher Konzentration, daß er fast gegen eine alte Kuh rennt, die den Weg hinunterwandert. »Du wirst schon sehn, Indien gefällt dir bestimmt. Du kannst dir einfach nicht vorstellen, was es mir bedeutet, daß du hier bist. In der Vergangenheit habe ich Dinge miterlebt, Dinge haben mich verfolgt, Vera, Liebste, von denen du nie eine Ahnung hattest. In Peking, zum Beispiel, damals, als ich den General vertrat und er dich dort hinschickte, um dich aus dem ganzen Tumult herauszuhalten, da hab’ ich dich angeschaut und wollte dich wie nichts in meinem Leben. Ich war jung und unerfahren und voller Leidenschaft. Vielleicht hab’ ich ihn deshalb an seine Feinde ausgeliefert. Vielleicht? Nein, ohne Zweifel! Ich sagte seinen Feinden, wo sie ihn überfallen können. Wie Judas, würde mein Vater sagen. Was ich getan habe – und fast ohne Überlegung: Ich habe die Ankunftszeit des Zuges aufgeschrieben, mit dem er kommen sollte. Ich wußte, daß seine Feinde ihn beim Aussteigen nicht mit Blumen begrüßen würden. Ich wußte verdammt gut, daß ich sein Todesurteil unterschrieb. Ich wollte seinen Tod. Daß er den Überfall überlebte, macht es nicht besser, oder? Heute ist mir alles klar, Vera. Entscheidend war, daß ich ihm den Tod wünschte, weil ich dich haben wollte. So ist das. Es hat die ganze Zeit zwischen uns gestanden. Und jetzt weißt du es. Und wir können einen neuen Anfang machen. Denn diesmal muß es richtig sein, ehrlich und offen, Vera. Liebste.« Er versucht, sich ihre Reaktion auf diese schreckliche Enthüllung vorzustellen: Sie bricht zusammen, untröstlich; 237
sie schlägt und tritt nach ihm, voller Zorn; sie dreht sich um und rennt durchs Haus in den Garten. Dann sieht er nichts mehr außer ihrem Mund, rund wie ein O des Entsetzens vor Unglauben und Wut. Dann verschwindet ihr Bild; sein Geist flieht die Phantasieszene. Eine alte Frau, die am Wegrand neben einer Bettelschale sitzt, fängt an, nach ihm zu rufen: »Ma … Ma … Ma …«, ein hartnäckiger, metallischer Laut, eine Forderung. Es ist der sinnlose, nervtötende Laut, den die indischen Bettler seit Jahrhunderten vervollkommnet haben, um die Aufmerksamkeit von Passanten auf sich zu lenken. Embree sieht ihr weißes, wehendes Haar, ihren zahnlosen Mund, ein Auge vom Star getrübt. Er holt ein paar Annas aus der Tasche und wirft sie in die Schale. Die alte Frau nickt anerkennend und legt ihre Hände zum Gebet zusammen. Vielleicht hat er den Tag mit falschen Hoffnungen begonnen, denkt Embree trübe und stapft weiter. Was meinst du, Harry? Ich bin hergekommen, um Gott zu suchen, statt dessen habe ich ein Haus gefunden und einen Weg, noch eine Schuld zu tilgen. Kein so guter Tag, wie ich dachte. Embree bleibt einen Augenblick stehen und schaut zu ein paar vorüberziehenden Wolken hinauf. Sie wirken wie weiße Explosionen im Blau des Himmels – Wolken wie Bomben, die im Augenblick des Aufpralls gefroren sind, große Detonationen von tödlichem Rauch: Wolken, Bomben, ein Luftangriff, ein kaltes, weißes Schlachtfeld in den Gefilden des Himmels. »Harry«, sagt er laut und geht weiter. Ein junges Mädchen kommt auf dem Weg vorbei; sie trägt einen blutroten Sari, eine purpurne Blume im glatten, schwarzen Knoten ihres Haars, einen Nasenring und ein 238
großes, rotes tilak-Zeichen in der Mitte ihrer dunklen Stirn. Ihre Augen sind herrlich. Sie erinnern ihn an Grace, an die Weihnachtskarte mit Jungfrau und Kind. Grace wird eines Tages Kinder haben, davon ist er überzeugt. Er hat ihren Mann nur einmal bei Spencer’s gesehen: Matthew Pollack, etwa so groß wie Grace, ein magerer Mann mit schütterem Haar, einem gestutzten Bart und Hornbrille. Er ging steif wie jemand, der auf der Kriegsschule war. Er bewegte kaum die schmalen Lippen, während er etwas zu den Dingen bemerkte, auf die er deutete, und Grace nickte eifrig und zustimmend. Sie waren eine Familie. Wie Embree den Missionar in jenem Moment beneidete! Geradeaus sieht er eine Tonga am Straßenrand halten. »Hier, Sie Herr, hier!« schreit der Fahrer und zieht seinen alten, durchlöcherten Filzhut. Embree steigt auf einer wimmelnden Straße nahe der Küste aus. Um ihn herum strudelt Indien – Händler und Träger und Kauflustige, dazwischen Kühe und Hunde. Ein solcher Hund schleicht dicht vor Embree her, als er auf das niedrig hängende Schild Mahalingam Exportgesellschaft (früher Brookes Export Ltd.) zugeht. Ein paar Zeilen von Tagore fallen ihm ein: »Der Vogel wünscht, er wäre eine Wolke. Die Wolke wünscht, sie wäre ein Vogel.« Er beobachtet den Hund, der den irrtümlichen Eindruck vermittelt, als führe er ihn durch die Menge auf den Eingang der Firma zu. Was wäre diese räudige Kreatur wohl lieber? Lieber ein Kakerlak, alles lieber als das, was er ist. Der verdammte Hund hat ihm etwas sehr Wichtiges mitzuteilen, etwas Entscheidendes. Verdammte Hunde von Indien. Sie sind überall. Karren, Lastwagen, Rikschas, Tongas fahren ihnen über die dürren Beine. Meist sind sie nicht tot, sondern hinken erbärmlich 239
auf drei Beinen weiter. Mit besonderem Abscheu erinnert er sich an die Hunde von Benares. In den Gassen und auf den Flußufern, wo Schiwa in Gestalt des schwarzen Hundegotts Bhairon verehrt wird, versammeln sie sich und kämpfen. Er hat gesehen, wie Welpen bereits brutal das Hunderitual der Unterwerfung befolgten: Der stärkere Hund hält den schwächeren, der auf dem Rücken liegt, mit den Zähnen an der Kehle nieder. Ein einziger Schmerzenslaut, und eine ganze Meute rennt herbei, zähnefletschend wie die Teufel. Lieber eine Schabe im nächsten Leben als ein indischer Hund, dachte er damals in Benares – wie jetzt wieder. Embree erschauert kurz, als er die Tür zum MahalingamGebäude erreicht – und der Hund mit ein paar Sätzen verschwunden ist. Nach dem blendenden Licht der Januarsonne ist es drinnen tiefschwarz, und Embree zögert. Schon bevor er das Büro erreicht, riecht es nach Papier. Es ist ein großer, hoher Raum mit Schreibtischen in Reihen, die vor lauter Stößen Papier kaum zu sehen sind – Aufträge und Bestellungen in dreifacher Ausfertigung türmen sich, nur um allmählich in der feuchten Hitze von Madras zu modern, Insekten aller Art als Nahrung zu dienen und schließlich zu Staub zu zerfallen wie verwelkte Blumen. Bei seinem Eintreten blicken zwei Männer an den vorderen Tischen von verstaubten Ordnern auf. Er hört die elektrischen Ventilatoren unter der Decke schwirren und lärmen – sie funktionieren also wieder, nachdem sie zwei Wochen kaputt waren. Embree nickt, die Angestellten nicken; er geht an ihnen vorbei zu einem kleinen Extraraum abseits des Fensters, das auf die schimmernde Bucht von Bengalen blickt. Als Europäer hat er immer noch gewisse Privilegien. Dazu gehört, daß er eine halbe Stunde später zur Arbeit kommt; außerdem hat er ein 240
eigenes Büro, obwohl er kaum über den Angestellten draußen rangiert. Sein Tisch ist genauso mit zerfransten, verschnürten Bündeln überhäuft. Das oberste ist in einen grünen Papierstreifen gehüllt mit der Aufschrift Dringend. Embree nimmt es kurz zur Kenntnis. Er könnte einen Tisch am leuchtendhellen Fenster bekommen, müßte aber dafür seine relative Ungestörtheit hier opfern. Drei Angestellte stehen gerade plaudernd um einen Tisch herum. Er kann ihre melodischen Inderstimmen vernehmen (allerdings sprechen sie gerade Englisch). Sie diskutieren über Gandhis triumphales Fasten – ein heiliger Mann, gewiß, aber sein Nachgeben gegenüber den listigen Moslems finden sie alle hirnverbrannt. Danach geht es um das letzte Kricketspiel. Ein Bote kommt herein und legt einen Zettel auf seinen Tisch, auf dem eine Telefonnummer steht und das Wort Konsulat. Embree schiebt den Zettel weg und beginnt, das Bündel mit der Aufschrift Dringend zu öffnen. Doch dann hält er inne und starrt durch die offene Tür auf das Fenster jenseits der Schreibtische. Ich habe mir alle Mühe gegeben, sagt er sich. Es stimmt. Zwei Jahre lang hat er versucht, eine Schuld abzutragen, und seinem Vater gegenüber ist ihm das auch gelungen. Ich habe versucht, etwas von seinem Leben in meinem eigenen zu finden. Versucht. Bezahlt. Und ich bin fertig damit. Wenn ich nächstes Mal ein Hund bin, soll es so sein. Das war es, was der Hund ihm sagen wollte: Dies hier wirst du nächstes Mal sein. Du wirst ich sein, also sieh genau hin. Hat Vater je das Schicksal gefürchtet? Er pflegte zu sagen: »Wenn ich den Menschen diene, diene ich Jesus Christus, der zu uns gesagt hat: Was ihr getan habt einem 241
unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.« Er sieht Vater vor sich; einen ruppigen, hochaufgerichteten Mann mit strengem Gesicht, weißem Haarschopf, kritischem Blick. Über seine Mission in Indien sagte Vater immer: »Ich habe den Armen und den Krüppeln das Leben Jesu Christi gebracht.« Typisch Vater, in Bibelsprüchen zu reden. Vater hat sich selbst gebracht, nicht Christus; sein Versagen war, daß er das nicht einsah. Seelen zu retten war sein Beruf, dachte er, in Wirklichkeit leistete er den Verdammten Beistand. Und das war gut so, war wirklich gut, war ganz wunderbar. Es ist nicht das erstemal, daß Embree seinen Vater in positivem Licht sieht. Vater hat mehr getan, als mit geschlossenen Augen und untergeschlagenen Beinen dazusitzen und zu versuchen, sein Ich loszuwenden. Vater ging und tat, was er konnte – er schob das Ich mit schierer Kraft weg und tat dabei einiges Gute. Zu einem solchen Schluß zu kommen heißt verzeihen. Aber ist es denn möglich, fragt sich Embree, nach so vielen Jahren noch zu verzeihen? Embree bemerkt, daß er die Schnur straff zwischen seinen Händen hält, weniger um sie aufzuknoten als um sich an etwas festzuhalten; die Gedanken scheinen durch das beherrschende Fenster drüben auf ihn einzuströmen. Ich wurde meinem Vater nicht gerecht. Bei all seinen Fehlern, er hat sich wenigstens bemüht. Ich habe ihn nur für meine eigenen verantwortlich gemacht. Ein rein gewohnheitsmäßiges Bekenntnis. In der Vergangenheit, wenn es ihm schlechtging, sprach er sich genau dieselben Worte vor. Doch bisher sprudelten sie an der Oberfläche seines Bewußtseins dahin wie tröstliche Laute. Jetzt scheinen sie aus der Tiefe aufzusteigen. Hat 242
die Meditation das bewirkt? Das war doch nicht die Absicht. Er haßt den Gedanken, daß er einen Weg gefunden haben soll, das Ich zu verstärken anstatt sich davon zu befreien. Die flache Landschaft draußen mit See und Sand und Himmel bedrängt ihn; Bewegung brauchte er, um sich darauf zu konzentrieren, etwas, was ihn von der Leere ablenkt. Er kommt sich vor, als meditiere er gegen seinen Willen, tauche in einen blauen Nullpunkt ein. Ich, ich, ich, der unmögliche Parasit. Es ist dumm, so zu denken, aber wegen seiner bisherigen Lebensweise wird er im nächsten Dasein ein wilder, verschreckter, häßlicher und gequälter Hund sein. Embree hält die Schnur immer noch fest, als einer der Buchhalter zu ihm hereingeschlendert kommt. »Ein Telefongespräch für Sie, Mister Embree.« Die anderen Angestellten nennen sich untereinander beim Vornamen, aber er ist stets »Mister Embree« für sie. Embree fühlt sich auf dem Weg zum Hauptbüro nicht besonders wohl. Er nimmt den Hörer, aus dem das ständige Knistern des indischen Telephons dringt. »Hier Embree!« brüllt er in die Muschel und grinst den Angestellten an, der seine Neugier keineswegs verbirgt, sondern sich vorbeugt, damit ihm ja kein Wort entgeht. »Einen Moment, bitte!« sagt eine weibliche Stimme durch das Krachen und Knistern. Gleich danach hört er eine andere Stimme, die er selbst in dem akustischen Chaos erkennt. »Mister Embree, haben Sie meinen letzten Brief bekommen?« »Ja, danke!« Sich bei dem Konsul zu bedanken ist ein bißchen blöd, aber Embree hat sich nach all seinen Gedanken noch nicht wieder gesammelt. 243
»Und?« Einen Augenblick weiß Embree nicht, was er mit dem Brief gemacht hat; ach ]a, er hat ihn zerrissen. »Ich versteh’ Sie nicht!« brüllt er. »Ich möchte wissen, was Sie machen werden!« »Das weiß ich noch nicht!« »Warten Sie nicht zu lange! Pläne müssen gemacht werden! Sie können sich … wird sich lohnen!« Embree lauscht angestrengt, »sicher sein, es …«, waren wohl die verstümmelten Worte. Die Schurken haben’s aber eilig. Sie wollen ihn unbedingt haben. China. Einen Moment schlägt sein Herz schneller. Da ist es wieder, die Gefahr, die Erregung, der Ausweg! »Ich werde mir nicht zuviel Zeit lassen!« brüllt er ins Telephon. »Das Angebot gilt nicht ewig!« »Ich weiß schon!« Dann dringt noch durch das Knistern: »… nicht bereuen, Mister Embree, glauben Sie mir!« »Ich weiß, ich weiß!« Embree hört den Ärger in seiner eigenen Stimme. Warum eigentlich? Möchte ich ja sagen? Ist es das? »Danke für den Anruf, Frazer! Goodbye!« Wieder in seinem Raum, bleibt Embree eine Weile sitzen, den Kopf in die Hände gestützt, wie erschöpft. Nicht wieder dieses alte Leben, nicht wieder davonlaufen. Einer der Boten, die das Büro beschäftigt, erscheint in der Tür. »Aufhängen!« sagt er triumphierend und zeigt ein großes Plakat vor, das ihm der Bürovorsteher ausgehändigt hat. Darauf wird in grellem Rot der Alkohol angeprangert, in 244
Englisch wie Tamil. Unter anderem wird das ausländische Laster als der grausame Versucher, der gemeine Verführer, der moralische Zersetzer der Menschheit, die Pest aus dem Westen umschrieben. »Natürlich«, sagt Embree und lächelt, »häng es nur auf.« Der Bote ist dabei, das dünne Plakat mit dicken Nägeln an der Wand zu befestigen, als plötzlich Rama in der Tür steht und ein dünnes Stück Papier schwenkt. »Telegramm, Master! Hat mir ein Freund in der Telegraphenabteilung gegeben, und ich bringe es Ihnen.« Embree starrt den jungen Inder an – diese großen Ohren und glänzenden Augen, und der eingerollte Schirm in der knochigen Hand. Das Telegramm ist ganz knapp: DANKE FÜR ANGEBOT GESCHÄFT VERHINDERT KOMMEN V Embree sinkt in sich zusammen. Jetzt ist klar, daß heute alles, auch die Meditation, auf das Ich in ihm konzentriert war, das den Wunsch hatte, sie käme hierher. Vera, irgendwie hatte ich auf dich gezählt. Darauf, daß du alles retten würdest. Embree hat Rama ganz vergessen. Was er jetzt sieht, über die Schulter des kleinen Inders hinweg, und was allein wichtig ist, ist das Licht in dem Fenster. Er spürt, wie sich die Ereignisse des Morgens in einem weiten Weiß verlieren. Das Licht ist eine Leere, und dort hinein scheint das Ich zu fließen, das Ich, Ich, Ich, das ihn heute seit dem Aufwachen gequält hat. Das Licht bringt Erleichterung; und dann, entsetzt über die endlose Leere, 245
fürchtet er sich vor dem Tod. Einen Augenblick sieht er Harry, an den Baum gelehnt, mit dem grauen Geschlinge seines Gedärms, das sich in seinem blutigen Schoß windet. Embree wendet sich energisch vom Fenster ab und sagt zu Rama mit überlauter Stimme: »Danke. Du hast mir gebracht, was ich wissen wollte.«
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S
ie läuft in dem heißen, kleinen Zimmer hin und her, unfähig stillzuhalten. Chamlong hat sie in diesem verkommenen, von Ungeziefer wimmelnden Hotel seit Stunden allein gelassen. Er besucht seinen Onkel, der einen chinesischen Laden hat, vollgestopft mit Heilkräutern, Küchenutensilien, Bambusspielzeug, Kalendern. Alles in diesem winzigen Zimmer unter dem Blechdach im Chinesenviertel von Songkhla langweilt sie. Zur Zerstreuung streckt sie sich auf dem ungemachten Bett aus und schlägt ihr Tagebuch auf. Ein Schweißtropfen fällt auf den letzten Eintrag, dem sie nun mit einem Seufzer hinzufügt: Es ist nicht so sehr, daß er so von mir weggeht, als daß ich nichts zu tun habe. Er ist nicht immer rücksichtsvoll. Aber er ist ein tapferer Kämpfer für die chinesische Freiheit. Sie ist mit dem Eintrag nicht zufrieden. Überhaupt hat Sanuk das Gefühl, sie habe in letzter Zeit nur Langweiliges und Dummes – und Unaufrichtiges geschrieben. Sie hat nicht aufgezeichnet, was wirklich geschah. Sie hat nicht berichtet, wie Chamlong sie gedrängt hat, mit ihm in den Süden zu fahren, während ihre Mutter in den Norden reiste; daß er angeblich einer kommunistischen Gruppe eine wichtige Nachricht brachte, während er Kontobücher zum Laden seines Onkels in Songkhla trug. Sie hat dem Tagebuch nicht gestanden, daß sie Angst hatte, Chamlong zu verlieren, falls sie nicht 247
mitfuhr. Auch die Einzelheiten ihres Täuschungsmanövers hat sie weggelassen: den Zettel, den sie Mutter hinterließ mit der Nachricht, sie verbringe das Wochenende mit Lamai, weil es die letzte Gelegenheit sei, vor der Hochzeit zusammenzusein. Von Lüge und Angst schreibt sie kaum außer: Ich bin ziemlich in Panik, weil ich nicht weiß, was ich tun soll. Ich liebe sie beide, und doch muß ich einen von ihnen betrügen. Ist das, was Liebe bedeutet? Ich wollte Lamai fragen, aber bei sowas wäre sie keine Hilfe. Sie hat mir nur versprochen, nicht zu sagen, daß ich nicht bei ihr bin. Dazu brauchte ich eine ganze Stunde! Ich mache mir Sorgen um dich, hat sie gesagt und geweint. Aber sie denkt nur ans Heiraten. Ich bin allein. Auf diesen Eintrag ist Sanuk stolz. Er klingt nach Tragik und Drama, nach einer fast religiösen Verzweiflung wie die der Jungfrau vor dem Tribunal von Burgund, als Zweifel sie überkamen. Aber die anderen Einträge sind unehrlich. Sie machen weder ihrem chinesischen noch ihrem russischen Blut Ehre. Das Russische in ihr macht ihr jetzt Kummer. Was würden ihre Großeltern von einem Mädchen denken, das schamlos lügt? Es geht weniger um das Weglaufen mit einem Jungen als ums Wegschleichen. Mutter hat ihr den russischen Ehrenkodex erklärt – wer ihn bricht, muß ein Duell gewärtigen oder wird ausgestoßen; die zweite Alternative viel schlimmer als die erste. Man lügt nicht, man hält sein Wort, man betrügt nicht, man steht ein für das, was man tut. Stolz und lachend nannte Mutter dies »das altmodische Ehrgefühl einer Rogatschewa«. Sanuks Großmutter war täglich, ob Regen oder Sonne, acht 248
Kilometer über das Land der Datscha marschiert, ein kräftiges Lied auf den Lippen – bis zu ihrem Tod. Einmal widersprach sie dem Zaren, als es um die Fakten einer Erzählung von Gogol ging. Würde eine so starke Frau ein Enkelkind dulden, das sich darum drückte, der Welt zu verkünden, daß sie einen Mann liebte? Hätte sie nur ihren Shakespeare mitgenommen, dann könnte sie »Romeo und Julia« noch einmal lesen. Wenn sie nur etwas anderes zu lesen hätte als diese siamesischen Liebesgeschichten, die sie hier auf dem Markt gefunden hat – voller verrückter Grundbesitzer und unschuldiger Maiden, kühner Abenteurer und böser Drachen, Geschichten von der Art, wie Mutter sie aus dem Haus verbannt hat. Hat Mutter es so empfunden, als sie darauf wartete, daß Vater von seinen Truppen zurückkehrte? Dieses rastlose Alleinsein? Die Unfähigkeit, sich zu konzentrieren? Mutter bestimmt nicht. Sie hätte chinesische Gedichte übersetzt. Sanuk tritt ans Fenster, stößt die Läden auf und schaut auf die sonnenbeschienene Straße hinunter. An einer Straßenbahnhaltestelle warten Schülerinnen, Mädchen von etwa vierzehn in blauen Röcken, weißen Blusen und schwarzen Matrosenkragen. Eine Uniform, wie sie selbst sie in der Schulzeit trug. Vierzehn. Hundert Jahre her. Geistesabwesend greift Sanuk nach dem Amulett an ihrem Hals und hält die Göttin der Liebe zwischen den Fingern. Mit sechzehn sprachen sie und ihre Mitschülerinnen bereits von der Rhythmusmethode, dem Unterschied zwischen Freiheit und Bindung. Die Mädchen kicherten unanständig, während sie sich ausrechneten, wann Geschlechtsverkehr für jede einzelne gefährlich wäre, dabei hatte – jedenfalls soweit Sanuk wußte – damals noch keine von ihnen Grund zur Sorge. Jetzt 249
kommt ihr dieses Wissen zupaß. Vom achten Tag nach dem Beginn ihrer Periode bis zum siebzehnten Tag einschließlich – du liebe Zeit! An einen unregelmäßigen Zyklus mag sie gar nicht denken, obwohl er bei ihr manchmal etwas abweicht. Gestern schüttelte sie mit Chamlong die Glücksstäbchen in einer Schachtel, und die Fünf kam als ihre Zahl heraus, eine Glückszahl. Er bekam die Neun, auch eine Glückszahl. Sie waren hochgestimmt ins Hotel zurückgekehrt und freuten sich aufs Bett. Bei der Erinnerung röten sich ihre Wangen. Erst vor zwei Wochen war sie noch eine Jungfrau. Jetzt ist sie eine Frau, imstande, mit ihrem Liebhaber wegzulaufen und dabei lauter Lügen von sich zu geben. Die Verwandlung ist zwar erstaunlich, aber keineswegs unangenehm. Sie lächelt in Erinnerung an die Hektik der letzten paar Tage. Während sie weiter auf und ab geht, sagt Sanuk zur Vertrauten ihrer Phantasie: »Wir sind mit dem Zug gefahren. Zwei Tage, nachdem Mutter mit ihrer Freundin abgereist ist. Ich wünschte nur, sie würde herausrücken damit, anstatt Geschichten von irgendwelchen Geschäften zu erzählen. Sie könnte es mir einfach sagen. Was sie tut, ist mir recht. Vielleicht habe ich mich früher geschämt, weil Mutter andere Frauen liebt, aber das hat sich geändert. Denn Liebe ist Liebe. Und weil ich jetzt weiß, daß man Liebe braucht.« Sie geht barfuß zur Tür, öffnet sie und späht den düsteren, schmalen Gang hinunter. Aus einer offenen Tür dringt Licht. Mit einem Seufzer der Entschlossenheit tappt Sanuk den Gang entlang dem Licht entgegen. Sie blickt durch die offene Tür auf ein Fenster, in dessen blendendem Sonnenschein sich die Umrisse einer liegenden Gestalt auf dem Bett abzeichnen. Eine sanfte 250
Stimme sagt: »Du da. Komm rein und sprich mit mir.« Sanuk macht einen Schritt ins Zimmer. Jetzt kann sie das Mädchen erkennen, das da ausgestreckt liegt, nackt bis zur Taille. Brustwarzen ragen steil aus kleinen Brüsten. »Wohnst du auch hier auf dem Gang?« fragt das Mädchen freundlich. Sanuk nickt und setzt sich auf den Rand eines Rattanstuhls. »Gehörst du zu dem Lukjin?« »Woher weißt du, daß er ein Lukjin ist?« Das Mädchen zuckt mit den mageren Schultern; sie kann höchstens sechzehn oder siebzehn sein. »Eine Menge Lukjins kommen hier vorbei. Ich mache Geschäfte mit ihnen, daher weiß ich es. Er ist groß wie ein Chinese, aber dunkel wie ein Siamese, jedenfalls sieht er halb und halb aus.« Das Mädchen hat eine platte Nase, langes Haar und flinke, schwarze Augen. »Bist du aus Bangkok?« »Ja.« »Das dachte ich mir. Bei deinem Akzent. Bist du Chinesin?« Sanuk lächelt. »Ja, genau.« Das Mädchen schaut Sanuk nachdenklich an und sagt dann: »Aber du bist keine reine Chinesin.« Sanuk ist enttäuscht. »Ich bin Chinesin«, beharrt sie. Das Mädchen deutet auf eine Flasche und zwei schmutzige Gläser auf einem kleinen Tisch. »Einen Drink?« Sanuk holt sich ein Glas. Noch nie in ihrem Leben hat sie Whisky getrunken. Der schlechte Geschmack und das Brennen verblüffen sie, Tränen treten ihr in die Augen. Glücklicherweise bemerkt es das Mädchen nicht – sie gießt sich gerade selber ein. Was passiert, wenn Männer 251
den Gang entlangkommen und sie halb nackt sehen? Wird sie die Arme vor der Brust kreuzen oder einfach dastehen? »Es hilft gegen meine Zahnschmerzen«, erklärt sie jetzt, schlurft zum Bett zurück und wirft sich drauf. »Vielleicht lasse ich ihn nächste Woche ziehn, aber gern tu ich das nicht.« Sie macht den Mund weit auf und deutet auf einen Schneidezahn. »Ich hätte da ungern eine Lücke.« Somchai und der schlechte Zahnarzt – die Säge, das Blut. »Ich auch«, sagt Sanuk. Das Mädchen betrachtet Sanuk vom Bett aus. »Bezahlt er dich?« »Wer?« »Dein Lukjin.« Das Mädchen rollt sich auf den Bauch, legt den Kopf in beide Hände. »Bezahlt er dich nicht?« »Für was?« »Auch wenn es Liebe ist, er sollte dafür zahlen, daß du den ganzen Weg von Bangkok mit ihm hergekommen bist. Ich bin mal mit einem Soldaten nach Bangkok gegangen, und er hat beide Strecken bezahlt, mir außerdem eine Halskette gekauft und dann am Bahnhof hundert Baht gegeben«, erzählt das Mädchen stolz. »Für wen sorgst du?« »Na, für mich.« »Du hast es gut. Meine Mutter ist krank, also habe ich sie und noch zwei Schwestern, die zu jung sind, um zu arbeiten. Eine von ihnen will ich aber nächstes Jahr mit hierherbringen. Sie ist dann dreizehn.« Sie setzt sich auf und schnippt gegen ihre linke Brustwarze, als wolle sie die Straffheit prüfen. »Ihre Titten sind schon so groß wie meine. Ist der Lukjin gut zu dir?« »Ja, er ist gut zu mir.« »Ich hatte so jemand bis kurzem. Er hat mir immer 252
erzählt, wir würden heiraten. Natürlich habe ich ihm nie geglaubt. Aber reden konnte er gut!« Sie lacht. »Du redest nicht viel, oder?« »Doch, doch.« Um es zu beweisen, fragt Sanuk nach dem Geburtsdatum des Mädchens und erklärt dann die astrologische Bedeutung. »Du bist im Zeichen des Affen geboren. Das Brahma Jati sagt, Affengeborene können gut sprechen.« Das Mädchen beugt sich interessiert vor. »Weißt du so was alles?« »Ein Dämon reitet auf deinem Rücken.« Das Mädchen schneidet ein Gesicht. »Aber das kann Glück bedeuten. Dein Element ist Eisen, deine Glückspflanze der Jackbaum.« »Ich mag Jackfrüchte.« »Der Mond ist in deinem Mund, du lernst also gern etwas.« Das Mädchen nickt energisch. »Das stimmt.« »Im Zeichen des Affen geboren zu sein ist gut für Mönche.« Das Mädchen muß lachen, und Sanuk stimmt ein. »Nimm dir noch einen Drink. Es ist heiß hier drin.« Sanuk steht auf und nimmt sich noch einen Whisky. »Weil Venus in den Füßen der Affen ist, reisen sie nicht gern.« Sanuk hätte fast noch gesagt, daß Affengeborene oft zu sexuellen Lastern neigen, weil sie den Saturn in den Lenden haben, erklärt aber statt dessen, daß sie sorgfältige Arbeiter sind, weil Mars in ihren Händen ist. »So wie ich. Nimm dir noch einen. Los, dein Glas ist leer. Ich habe unter dem Bett noch eine Flasche.« 253
Sanuk spürt den Whisky, möchte sich aber bei dem Mädchen beliebt machen und nimmt sich noch einen Drink. »Erzähl mir von Affen und vom Heiraten.« »Meide Männer, deren Element Holz ist.« »Welche sind das?« »Männer, die im Zeichen des Tigers und des Hasen geboren sind.« Das Mädchen schlägt sich mit der Faust auf die flache Hand. »Stimmt. Ich erinnere mich. Er hat mir mal gesagt, er sei ein Tiger.« »Siehst du?« Sanuk fühlt sich bestätigt. »Du weißt eine Menge«, meint das Mädchen bewundernd. »Du aber auch.« »Ich kann ja nicht mal lesen«, meint das Mädchen spöttisch. Sanuk kommt eine kühne Frage, vom Mekongwhisky heraufgeschwemmt. »Trotzdem wette ich, daß du mir das beantworten kannst. Warum gehen Frauen miteinander ins Bett?« »Das ist einfach. Sie lieben Zärtlichkeit. Und sie kennen sich besser gegenseitig, als ein Mann eine Frau kennen kann. Das macht es angenehmer.« »Aber Männer lieben doch manchmal auch Männer, nicht?« »Aber sicher.« »Sind dann Männer so sanft wie Frauen?« »Keine Ahnung.« »Was haben sie dann davon, wenn sie sich lieben? Wenn 254
sie bei Frauen mehr Zärtlichkeit finden können, warum lieben sie dann nicht Frauen? Wenn Frauen zarter sind als Männer, warum wollen dann Männer und Frauen nicht nur Frauen lieben?« Das Mädchen schüttelt den Kopf. Beide starren vor sich hin. »Noch einen Drink?« »Nein, ich muß jetzt zurück.« Das Mädchen schaut an die Decke und murmelt: »Du hast Angst vor ihm.« Sanuk wendet sich in der Tür um. »Meinst du?« »Natürlich. Hör zu.« Ihr Kopf ist wieder nur ein runder, dunkler Fleck auf dem sonnenbeschienenen Bett. »Im nächsten Leben werde ich ein Mann sein. Ich bete darum. Ich bringe Buddha, dem Herrn, jeden Tag Blumen. Ich mache mich verdient, damit ich nächstes Mal ein Mann bin.« »Warum wünschst du dir das?« »Damit ich wohin gehn kann, so wie hier, und bezahlen und weggehn. Damit ich nicht hierbleiben muß.« »Ich wünsch’ dir Glück«, sagt Sanuk voller Herzlichkeit. »Ich dir auch. Halt deine Augen verquer in einer verqueren Stadt.« Das alte siamesische Sprichwort folgt der schwankenden Sanuk den Gang hinunter bis in ihr Zimmer. Sie wirft sich auf das Bett und versucht noch herauszufinden, was es bedeutet, schläft aber sofort darüber ein. Er weckt sie mit seinem Körper. Und fast ehe sie den Zustand des Schlafens und Wachens unterscheiden kann, ist er mit Gewalt in sie 255
eingedrungen, sein Atem heftig an ihrer Wange. Bald schwitzen sie beide, und das kühle Gefühl von Feuchtigkeit zwischen ihren Körpern steigert Sanuks Lust. Sie spürt etwas Starkes, Schweres schlüpfrig, amphibisch tief im Innern. Außer seinen Atemstößen und dem Schweißgeruch ist sie sich nur ihres eigenen Körpers bewußt. Er gehört ihr, nicht ihm, sondern ihr, ihren. Körper spürt sie in dem ganzen Tumult, wie er sie zur Ekstase erhebt, wieder einmal auf die vollgefüllte Tasse zu, die im letzten Moment doch nicht überfließt. Später, als sie Chamlong beim Anziehen beobachtet, fragt Sanuk sich wie schon so oft, ob er sie liebt. Sind alle Männer wie er? Ist das die männliche Liebe? Und das Mädchen da hinten am Gang betet darum, im nächsten Leben ein Mann zu sein. »Du hast Whisky getrunken, als ich weg war«, sagt Chamlong vorwurfsvoll. »Ich habe nicht gewußt, daß du trinkst.« »Tu ich auch nicht.« »Aber heute.« »Ein Mädchen hier auf dem Gang –« »Ich möchte nicht, daß du mit den Huren hier sprichst.« »Ich war unruhig. Du warst lange weg.« Er sieht gut aus, denkt sie. »Ich möchte nicht, daß du mit Huren sprichst.« Er steht am Fenster und schaut hinaus. Die sinkende Sonne hebt seine scharfen Gesichtszüge hervor. »Wir haben uns nur ein bißchen unterhalten.« »Und Whisky getrunken.« Er dreht sich um und sieht sie streng an. »Sie ist im Jahr des Affen geboren.« Chamlong schweigt. Sie weiß nicht, ob er überhaupt 256
zugehört hat. Das Schweigen hält an, während sie aufsteht und sich den Sarong überzieht. Dann spricht er wieder, mit dem Rücken zu ihr, den Blick auf die Straße geheftet. Er spricht von Intrige und Gefahr. Die Chinesen planen, das Fernmeldewesen der Regierung im Süden zu unterbrechen. Aus diesem Grund laufen Polizisten in Zivil durch die Straßen von Songkhla. Jeden Augenblick kann jetzt neue Gewalttätigkeit zwischen chinesischen Radikalen und siamesischen Agenten ausbrechen. »Die Leute hier in Songkhla vertrauen mir«, sagt er, den Blick immer noch auf die Straße gerichtet. Dann dreht er sich mit einem Lächeln um. »Ich kann dir sagen, was ich hier gemacht habe, denn jetzt bin ich fertig. Ich habe Flugblätter von meinem Vetter hergebracht.« Sie weiß, daß sein Vetter Wan-li gerade nach Bangkok zurückgefahren ist. »Ich habe ihnen Flugblätter gebracht, die er aus dem Marxismus und der Philosophie übersetzt hat«, erklärt Chamlong stolz. »Was steht drin?« Sie möchte sich interessiert zeigen. Chamlong zuckt die Achseln. »Ich hab’ sie nicht gelesen. Aber sie sind wichtig. Sie sind revolutionär. Kannst du dir vorstellen, was Phibuns Bande mit mir machen würde, wenn sie mich erwischen?« Folter, Tod. Immer mehr erscheint er ihr als Krieger. Er tritt vom Fenster zurück. Strenge Linien der Entschlossenheit ziehen sich um seinen Mund, wodurch sein Gesicht alles Weiche verliert, keinen Platz für Träume mehr hat – das Gesicht eines Aktivisten. Sie ist erschrocken, aber auch begeistert. Minuten vorher ist dieser harte, grimmige Mann in ihr gewesen. Er kommt auf das Bett zu, setzt sich und zieht ein 257
kleines Bündel Geld aus der Tasche. Er streicht die Scheine sorgfältig glatt und zählt sie laut, Verzweiflung in der Stimme. Gestern abend waren sie in Haadyai bei den Stierkämpfen: zwei riesige Tiere mit ineinander gewundenen Hörnern, die sich hin und her schieben – Sanuk fand das brutal und sinnlos. Chamlong hatte auf den Verlierer gewettet. Im Omnibus, auf dem Rückweg nach Songkhla, behauptete er, die Besitzer des Siegers hätten die Nüstern ihres Stiers mit Dachsfett eingerieben, ein verbotener Trick, der das Biest unbesiegbar machte. Chamlong hatte fast all ihr Geld verloren. »Für den Zug nach Hause haben wir genug«, erklärt Sanuk. »Ja, aber ich muß heute abend zwei Parteigenossen zum Essen einladen.« Und dann: »Ich wollte als Gewinner nach Hause kommen. Ich wollte denen in Bangkok zeigen, daß ich weiß, wie man bei Stierkämpfen wettet. Ich weiß es ja auch, aber ich wollte, daß sie wissen, daß ich es weiß. Verstehst du?« fragt er verzweifelt. Zwei Männer, die sie noch nie gesehen hat. Einer, der kleinere, hat das dunkle, flache Gesicht eines Malaien. Der andere ist ein Chinese. Sanuk sitzt im Freien vor einem Restaurant an einem Tisch, dem Strand gegenüber, und schaut über den Golf von Siam, der im Zwielicht funkelt, als bestände das blaue Gewässer aus berstendem, splitterndem Glas. Es ist schön hier. Der weiße Sand und die üppigen Keulenbäume lenken sie von dem Gespräch ab, das Chamlong mit seinen Gästen, zwei hiesigen Kommunisten, führt. Während Chin in ihrer Gegenwart frei spricht, sind die beiden auf der Hut, weil sie eine Frau ist. 258
Sanuk denkt an das halbnackte Mädchen, das darum betet, im nächsten Leben ein Mann zu sein. Der Malaie, der ihr gegenübersitzt, verzehrt eine Tigergarnele. Er hat breite, weiße Zähne in einem breiten Gesicht; diese Zähne haben etwas Tierhaftes an sich. Als ihre Blicke sich begegnen, lächelt er und zermampft das weiße Garnelenfleisch mit offenem Mund, bis Sanuk wegschaut. Die Männer sprechen über die bevorstehende Wahl. Phibuns Bande wird sicher gewinnen, kein Zweifel. Wenn das Gerücht stimmt, meint der Chinese, wird Feldmarschall Phibun vortreten und das Amt des Premiers an sich reißen, anstatt so zu tun, als wirke er hinter der Bühne. Chamlong stimmt herzhaft zu. Er hat getrunken. Der Malaie zermalmt schmatzend noch mehr Garnelen, langsam und mit obszönem Vergnügen. Das Mädchen, nackt bis zu den Hüften und von Zahnweh geplagt, möchte lieber ein Mann sein, das nächste Mal. Sanuk lächelt die beiden Gäste von Chamlong an, als hätten sie akzeptiert, daß sie dabei ist. Chamlong hat sie nur mitgebracht, um zu zeigen, daß er auch eine Frau kriegen kann. Ein trauriger Gedanke, aber vermutlich wahr. Vielleicht die Art von Überlegung, an die sich eine Frau gewöhnt, jedenfalls lenkt sie Sanuks Bewußtsein von diesem Trio weg auf die Schönheit der Küste von Songhkla. An ihren Köpfen vorbei schaut sie auf den Golf und zwei bucklige Inseln, eine klein, eine groß: die Katzund-Maus-Inseln vor Songhkla. Es liegt nicht an Chamlong. Es liegt an seinem Bedürfnis, zu Zeiten der Revolution ein Kämpfer zu sein. Eines Tages werden sie zusammen wieder in den Süden kommen und alles genießen ohne den Beigeschmack der 259
Gefahr. Nur sie beide, tagelang zwanglos unterwegs entlang der siamesischen Halbinsel. Wenn der Mond über dem Golf aufsteigt, so wie eben jetzt, werden sie langsam zu ihrem Hotel gehen – ein gutes ohne Kakerlaken überall an den Wänden, ein Hotel wie das da drüben, in lauter Bäume gebettet –, und bis die Dämmerung über dem weiten Strand aufbricht, wird die Liebe sie wachhalten, ohne Hast. Solche angenehmen Gedanken beschäftigen sie, bis die Männer aufbrechen. Sie verschwinden im Halbdunkel, ein Kellner kommt gerade und zündet die Fackeln am Wasser an. Chamlong sieht sie prüfend an. »Frauen wissen nicht, was Probleme sind, bis sie hineingeraten.« Sanuk lächelt. Was soll sie sonst tun? Aber es scheint ihn zu ärgern, denn er fügt streng hinzu: »Du würdest nicht lächeln, wenn du die Wahrheit kennen würdest.« »Bitte, sag sie mir.« Sie beugt sich vor. »Diese Männer – ihr Leben ist in Gefahr.« »Das wußte ich nicht.« »Ich sage es dir doch. Frauen verstehen davon nichts. Meines auch. Mein Leben ist in Gefahr.« Sanuk beugt sich näher, sie will mehr von seinem Gesicht ablesen. Stimmt das? Oder gibt er nur an? Sollte sie etwa wirklich Angst haben, so wie er es offensichtlich will? Verwirrt wartet sie darauf, daß Chamlong weiterspricht. Als er schweigt, entschließt sich Sanuk zum Reden, aber es ist nicht die Gefahr, über die sie sprechen will, sondern etwas ebenso Wichtiges. »Hast du wirklich gewollt, daß ich mit dir mitkomme?« »Warum fragst du das jetzt? Natürlich wollte ich das.« 260
Chamlong sieht sich um und beobachtet einen Kellner, der eine Platte mit Fischgerichten vom Holzkohlenfeuer wegträgt. »Ich möchte nur, daß du weißt, wie ernst das alles ist.« »Ich weiß, wie ernst es ist. Und bin trotzdem mitgekommen.« Chamlong mustert sie, offensichtlich betreten. Er weiß nicht, was er antworten soll. Seine Achtung – seine Liebe, entscheidet Sanuk – hindert ihn, mehr zu sagen. Er möchte Eindruck auf sie machen, sie aber nicht erschrecken. Die Liebe verwirrt ihn. Wie gut. Minuten später, nachdem sie mit ihrem letzten Geld bezahlt haben, spazieren sie am Strand entlang. Morgen wollen sie nach Bangkok zurück – Sanuk hat die Fahrkarten in ihrem Sarong mit einer Nadel festgesteckt –, und der Gedanke, von hier fortzumüssen, macht sie traurig. Es ist Vollmond, eine erfrischende Brise weht vom Golf her. Sie betrachtet den Mondschein auf dem Wasser, als seine Stimme sie durch ihre Intensität erschreckt. »Jemand folgt uns, aber schau dich nicht um. Schau nicht hin, dreh dich nicht um. Geh einfach weiter.« »Ich schau nicht hin.« Dabei ist die Versuchung, nach hinten zu spähen, fast unüberwindlich. Sie sind etwa hundert Schritte weiter, da flüstert Chamlong wieder aufgeregt. »Ich weiß, wer das ist. Ich habe ihn heute früh in einem Teeladen gesehn. Er hat uns beobachtet.« »Wen beobachtet?« »Parteigenossen, mit denen ich zusammen war. Sie haben gesagt, er könnte ein Agent sein.« »Ist er immer noch hinter uns?« Sie überläßt das Zurückschauen ihm. 261
»Noch näher.« »Was machen wir?« Fast hätte sie sich umgedreht, beherrscht sich aber noch rechtzeitig. »Ich mach’ das schon.« Wir gehen langsamer, denkt sie. Vor ihnen erstreckt sich ein Kalkfelsen aus einer Klippe bis zum Wasser. Langsam, langsam. Nicht zurückblicken. Plötzlich hat Chamlong sich umgedreht und ist durch den Sand gerannt, ringt da hinten mit jemand. Der Mann ist größer und schwerer, das kann Sanuk sehen – sieht sie mit Entsetzen. Die beiden Männer stapfen in das seichte Wasser des Golfs, jeder windet sich und versucht, den andern besser in den Griff zu bekommen, dann fallen beide ins Wasser. Schwankend tauchen sie wieder auf, bekommen sich wieder zu fassen und waten weiter hinaus in den Golf. Der Grund fällt plötzlich ab, und sie stehen bis zu den Hüften im Meer. Sanuk kann sie durch die zischende Brandung keuchen hören. Dann scheint Chamlong zusammenzuknicken und nach einer Seite abzusacken. In Panik schreit er: »Hilf mir! Hilf mir!« Wen meint er denn? fragt sie sich. Doch nicht mich? Mich? Entsetzt watet sie ins Wasser. Chamlongs Gesicht schwimmt im milchigen Mondlicht auf dem Golf wie ein Gesicht auf einem Tablett. Es geht unter, taucht wieder auf, den Mund weit offen. »Hilf mir!« Dann stößt der Mann ihn wieder hinunter. Sanuk kämpft sich bis zu ihnen durch und legt ihren Unterarm um den Hals des Mannes. Sie steht dabei auf Zehenspitzen, und das beweist ihr, wie groß der Mann ist. Sein Fleisch gegen ihres fühlt sich warm an, und ebenso warm preßt sich sein Kehlkopf gegen ihren Arm. Aus seinem Mund kommt ein Laut, ein kleines, ärgerliches 262
Grunzen, das sie mit stärkerem Druck erstickt. Er stößt sie weg. Er schüttelt sie einfach von seinem Rücken, und sie landet flach ausgestreckt im Wasser. Ein bohrender Schmerz. Der Daumen. Aber sie denkt nicht, sie bewegt sich durchs Wasser. Sie springt ihn wieder an, beide Arme um seinen Hals, und zieht ihn zur Seite. Jetzt hilft ihr Chamlong, nachdem er sich vom Griff des Mannes befreit hat. Beide umklammern ihn und führen ihre Hände von den Schultern zum Hals und an die verletzliche Kehle. Sanuk fühlt, wie sich ihre Finger tief in sein Fleisch graben, obwohl der linke Daumen schrecklich schmerzt. Mit Erstaunen und Horror und schließlich mit Begeisterung wird ihr klar, daß dies ihre Hände sind, die den Mann zum Wimmern bringen. Sie sieht, wie ihre und Chamlongs Hände sich auf der Kehle des Mannes vereinen. Sie drücken ihn ins Wasser, und sie beobachtet, wie sein vom Wasser geölter Kopf untergeht, gegen ihre Hände kämpft, wieder untergeht, sich wieder hinauf ins Mondlicht kämpft, bis sie – fürchterlich – die Angst sieht, die Angst in seinen weit aufgerissenen Augen, ein milchiger Schimmer in den Pupillen. Gesicht und Haare, wasserüberströmt, gehen erneut unter. Sie fühlt, wie er zappelt, wie etwas wirklich Lebendiges, als sei er bis zu diesem Augenblick äußerster Anstrengung all seiner Muskeln gar nicht lebendig gewesen. Ein letztes Mal taucht er auf, der Mund ein langgezogenes, schwarzes Oval des Entsetzens und seine siamesischen Augen so groß, als wollten sie aus den Höhlen fallen, zwei Monde der Todesangst, in denen sich der Mond am Himmel spiegelt, und dann geht er endlich ganz und gar zum letztenmal unter. Was unter ihren Händen lebendig war, läßt nach; sie kann mit ihren Fingern fühlen, wie er stirbt: ein Gefühl, 263
als stürbe etwas in ihr selbst, als sei dieses schlüpfrige, zuckende Etwas unter dem Wasser irgendeine Verlängerung ihrer eigenen Arme, Hände und Fingerspitzen. Blasen steigen aus der Flut des Golfs. Das tote Ding, das sie gemeinsam festhalten, bricht in ihren müden Armen zusammen. Der Zug nach Norden rattert durch die Morgenglut. Sanuk sieht einen riesigen Buddha aus Stuck, der im Sukhotaistil dasitzt, eine schwarze Flamme springt aus seinem Kopf. Das würde Mutter gefallen, denkt sie – aber jetzt nicht an Mutter denken. Sanuk versucht, ihre Aufmerksamkeit ausschließlich der Landschaft zuzuwenden, aber eigentlich geht es ihr um Chamlong, der ihr gegenübersitzt. Sie haben seit der Abfahrt nicht mehr gesprochen. Ihr linker Daumen pocht, aber daran denkt sie gar nicht. Sie kann sich nicht einmal richtig auf den Schmerz konzentrieren, den sie spürt. Wir haben ihn getötet. Sooft sie diesen Gedanken fassen kann, kehrt die Erinnerung mit ungeheurer Kraft zurück: Wie der Mann hin und her schnellte, während sie auf ihn hinunterstarrten, sein Haar wie ein Fächer von einem winzigen, weißen Fleck auf seinem Kopf aus im Wasser ausgebreitet und von der Flut bewegt. Er wirkte eher wie eine Pflanze als wie etwas Menschliches, ein Ding, das im Golf wächst wie Schilf. Sie zogen ihn durchs seichte Wasser den Strand entlang bis zu der Landzunge aus Kalkstein. Er schien unglaublich leicht. Sie zerrten ihn bis zu einer halb überspülten Felsspalte. Nachdem sie ihm die Kleider ausgezogen hatten, stopfte ihn Chamlong kopfüber in eine Biegung 264
des Gesteins, die ihn festhalten würde, falls kein Sturm kam. Sanuk glotzte auf Gesäß und Genitalien; außer Chamlong hatte sie noch nie einen erwachsenen Mann nackt gesehen. Auf dem Strand durchsuchte Chamlong die Hosentaschen. Nichts außer achtundfünfzig Baht, die Chamlong in die Tasche steckte. Keine Papiere, kein Ausweis irgendeiner Identität, schon gar nicht der eines Regierungsagenten. Chamlong behauptete, der Mann habe zuerst angegriffen. Sie gruben ein Loch im Gestrüpp, vom Strand entfernt, und stopften die Kleider hinein. Chamlong schwor, der Agent habe sie umbringen wollen. Sanuk weiß nicht mehr, wie es anfing. Ihre Erinnerung an das, was geschah, ist jetzt wie aus zweiter Hand, etwas, wovon sie gehört, was sie aber nicht selbst erlebt hat. Da ist nur der Daumen: Schmerz und Schwellung sind echt, eine Bestätigung des Entsetzens der vergangenen Nacht. »Du zitterst.« Chamlong spricht vom Sitz gegenüber, aber sie will ihm nicht in die Augen schauen, sie kann nicht. Sie starrt energisch aus dem Fenster. Doch dann wendet sie sich ihm scheu zu, als sähe sie zum erstenmal einem Jungen ins Gesicht. In seinen Augen steht Angst wie wohl in ihren auch. Sie haben beide Anteil an dem, was geschehen ist. Ihr Leid verbindet sie, sagt sie sich. Ich bin mit ihm verbunden, wie ich noch nie mit jemand verbunden war – nicht mit Mutter, nicht mit Freunden in der Schule, nicht einmal mit Chamlong, wenn wir miteinander im Bett waren. »Du zitterst«, wiederholt er. »Mir fehlt nichts.« »Das weiß ich. Nur –«, er spricht leiser, obwohl sie allein im Abteil sind. »Du darfst nicht so zittern. Du zitterst. Schau dich an.« 265
Sanuk blickt auf ihre Hände. Es stimmt. Sie zittern. Sie krampft sie ineinander und versucht zu lächeln. Der geschwollene Daumen steht seltsam ab, als gehöre er nicht dazu. »Ich bin schon in Ordnung.« Entschlossen starrt sie aus dem Fenster. Aber das Schöne draußen zieht an ihr vorüber. Wird sie je wieder etwas genießen können? Nicht an gestern nacht denken, etwas anderes denken. Denken, befiehlt sie sich selbst. Auf jeden Fall wird sie den Zettel für Mutter an sich nehmen, den sie bei Ah Ping hinterlassen hat. Das geht, wenn Mutter noch nicht zurück ist. Beide Dienerinnen bestechen. Ah Ping wird zuerst ablehnen, aber dann wird sie das Geld annehmen. Und auch Nipa dazu überreden. Oder an den Daumen denken, der so pocht. Ob er gebrochen ist? Denk darüber nach, oder laß es bleiben. Haar wie ein Fächer aus Schilf um den Kopf. »Hör auf zu zittern.« Sanuk wendet sich vom Fenster ab. Er ist zornig, oder er fleht, sie kann es nicht unterscheiden. »Schau doch. Du zitterst. Schau dich an. Hör auf damit!« zischt Chamlong sie an. Sanuk ist entsetzt, daß ihre Hände schon wieder zittern. Sie preßt sie noch fester zusammen, auch wenn der Schmerz im Daumen stärker wird, und versucht, Chamlong in die angsterfüllten Augen zu blicken. Ihre eigenen sind blind von Tränen. »Hör auf«, sagt er jetzt sanft. Sanuk versagt fast die Stimme, als sie erwidert: »Ich bin schon in Ordnung. Schau: Ich habe damit aufgehört.«
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K
rähen müssen die glücklichsten Geschöpfe Gottes sein, denkt Rama, während er dahinjuckelt und die Beine über die hölzerne Planke der Jutka baumeln läßt. In einer Hand hält er den eingerollten Schirm, in der anderen einen Strauß üppiger roter Rosen, in Zeitungspapier gewickelt. Er hat sie in Kumbakonam am Bahnhof gekauft, neben dem Tiffin-Schuppen, wo er die scharf gewürzte upma gegessen hat, die ihm jetzt Blähungen verschafft, seit der Bauer ihn für drei Annas auf der Jutka mitfahren läßt. Krähen müssen die glücklichsten Geschöpfe Gottes sein; sie können fressen, was sie wollen. Er beobachtet einige der Vögel, wie sie in einem ausgetrockneten Graben auf etwas herumhacken. Vor zwei Wochen, als er das letztemal hier nach Hause fuhr, waren die Gräben voll von Fischen und Fröschen. Jetzt stoßen die Krähen ihre gebogenen, grauen Schnäbel in etwas, das nach Verwesung stinkt. Jetzt sieht er, was es ist – sie schlingen die Kadaver von Fröschen hinunter, denen die Trockenheit den Garaus gemacht hat. Die Dürre kommt, denkt er. Auf beiden Seiten der Straße sind Reisfelder. Das braune Korn, kurz vor der Reife, hängt von den dünnen Stielen; hohe Pfosten mit Kleidungsstücken erheben sich als Vogelscheuchen über den Feldern. Rund um Kumbakonam gab es immer von Lilienkissen überwucherte Teiche, aber sie sind in die durstige Erde verschwunden. Vielleicht ein Vorzeichen der Dürre. Er muß an Wischnu denken. »Narayana«, sagt er laut. Von allen Namen des Gottes Wischnu scheint ihm dieser am 267
meisten Glück zu verheißen. Narayana heißt unter anderem auch »Schutz«. Bald ist Erntezeit. Einen Monat später wird er auf dieser Straße Bauern mit knochigen Knien zügig dahinwandern sehen, den Sack mit 57 Kilo – nicht mehr, nicht weniger – rohem Reis auf dem Kopf. Kein schönerer Anblick als diese 57-Kilo-Säcke auf dem Ernteweg, und doch wird der Wassermangel um den Juli oder August herum den sicheren Tod bringen, spätestens Mitte August. Master hat einmal gesagt: »Man kann nicht tot sein und in Indien leben.« Was heißt das? War es bloß weißes Geschwätz? Würde nicht zu solch einem Mann passen mit der schrecklichen Narbe im glatten Gesicht mit den blauen Augen. Master schreitet wie ein Mann, der Bescheid weiß. Master setzt sich zur Meditation hin und findet Weisheit, auch wenn Koch und Träger ihn mit der Wochenabrechnung betrügen. Er sitzt nicht auf der Veranda und spült Mengen von Gin hinunter, obwohl er bei ihrer ersten Begegnung furchtbar nach Alkohol roch. Jeder Mensch hat seine Schwäche. Master hat einmal auch gesagt: »Welche Schwäche du auch verbirgst, Indien kommt dahinter.« Ein weiser Satz. Ein Swami könnte das gesagt haben. Master ist nicht wie die geräuschvollen Memsahibs und die zornigen Briten mit ihren Tropenhelmen. Master ist aus Amerika, dem Land der Freien. Jetzt müßte es Wasser in den Gräben geben und Teiche an der Straße hier entlang. Das Wasser dürfte nicht so früh verschwinden. Wie sollen sich die Büffel in der heißen Zeit abkühlen, wenn sie kein Wasserloch finden? Ohne Wasser kann man keinen Reis kochen. Und die Herbsternte wird verdorren. »Narayana«, sagt er und pfeift leise und furchtsam vor sich hin. Die Dürre kommt. Die Anzeichen sind da. 268
Rama rülpst, er wünschte, er hätte ein bißchen Betelnuß dabei, um den faulen Geschmack aus seinem Mund zu vertreiben. Sein Vater pflegte zu sagen: »Iß nie auf Bahnhöfen in einer Imbißstube, wenn du es vermeiden kannst.« Sein Vater war Schaffner auf der Strecke DelhiMadras, sechzehn Jahre immer auf demselben Zug, neunzehn Stunden Dienst, fünf Stunden frei, dann zwei Tage Urlaub. So lange, bis ein Herzanfall zwischen Jhansi und Bhopal auf dem Weg nach Süden ihn auf eine andere Reise führte. Narayana. Rama sehnt sich nach Betelnuß oder Kokossaft. Der Gedanke an die Trockenheit hat ihm die heutige Heimreise verdorben. Sonst ist er meist an diesem Punkt der Reise von Madras gehobener Stimmung, wenn er an seine beiden Söhne und an das nächtliche Zusammensein mit seiner Frau denkt. Ungefähr hier erinnert er sich immer an seine Kindheit auf dem Land im Süden. Ob zu Fuß oder auf einer Karre, immer kommen ihm dieselben Gedanken wieder: Wie er die Kuh mit einem Stock in der Hand heimtrieb, sich die Zähne mit einem geschälten Zweig am Dorfbach putzte, wie er Zuckerrohr aß. Narayana. Einmal hatte er eine Lieblingsgans, die mit ausgestrecktem Hals durch das Gehöft watschelte und den Schnabel so hochnäsig hochhielt, daß Rama nicht verstand, wie sie wußte, wo sie hintreten mußte. Und die magere Hündin: Sie hatte einen Schwanz wie eine Ratte, mit weißer Spitze, und lange, aufrechtstehenden Ohren und eine schmale Schnauze, die sie in alles mögliche steckte. Rama lächelt im Gedanken an diese Hündin, deren Bauch eines Sommers anschwoll. Sie bekam Junge, die an ihren rosa Zitzen sogen, während sie hechelnd im Schatten lag. Er weiß allerdings ihren Namen nicht mehr oder was aus ihr wurde. »Narayana«, murmelt er, während er durch 269
die vertraute Landschaft gerüttelt wird. Nie wird er die Reisernte vergessen, niemals, obwohl er das Landleben aufgegeben hat und ein Stadtmensch geworden ist, Angestellter des staatlichen Postdiensts. Er sehnt sich immer noch nach dem, was er hier sieht, und doch begann er schon vor Jahren nach dem Abschluß der englischen Mittelschule in Trichy, davon zu träumen, weit in die Ferne zu reisen. Er arbeitete damals für eine Reederei in Madras, für einen Mister Henderson, der sich aus dem Staub machte, als die Unabhängigkeit drohte. Rama weiß noch, wie der rotgesichtige Brite auf dem Gang brüllte: »Wenn die verdammten Idioten sich selbst vernichten wollen, bitte sehr! Ich werde nicht dableiben und zuschauen.« Rama war damals außer sich vor Freude, stolz, ein Inder zu sein, der diesen weißen Mann seine Sachen packen ließ. Aber dann übernahm ein Sindhi die Firma und entließ sofort die Hälfte des Personals; sie seien überflüssig, erklärte er. Rama war unter den Gefeuerten, und als er die Firma verließ, bewegten ihn zwei Gedanken: Er wollte immer noch die Orte sehen, deren Namen auf den Aufklebern der Pakete standen, und er war sich des Gloriosen der Unabhängigkeit nicht mehr so sicher. Heute verfolgen ihn jeden Tag dieselben Gedanken in der großen Halle, wo die ausländische Post mit all ihren exotischen Marken sortiert wird und wo die Rivalität zwischen den Kasten, die bisher von englischen Angestellten niedergehalten wurde, unter den Arbeitern hemmungslos ausgetragen wird. »Da sind wir!« ruft der Jutkafahrer und hält an. Rama springt vom Brett ab und fährt sich mit der Hand durch das störrische, schwarze Haar. Der Fahrer schlägt eine Abzweigung nach Süden ein. Rama geht zu Fuß weiter, hält sich den Schirm über den Kopf und schaut unter dessen schwarzem Rund auf die Felder, die sich in 270
die Ferne hinziehen. Er betrachtet das reifende Korn und stellt fest, daß die zweite Ernte Rohreis besser ausfallen wird als sonst. Wenn nur die Dürre nicht käme. Einen Augenblick schreckt Rama ein fernes Geräusch auf, dann erkennt er es: Knallfrösche, die die Vögel von den Feldern vertreiben sollen. Bald werden sich die Holzbecken und Steinkrüge mit Reis füllen; nach ein paar Monaten des Ausreifens wird er eßbar sein. Diese ersten Tage, wenn von der neuen Reisernte gegessen wird, sind wunderbar. Narayana. Narayana. Aber die Dürre kommt. Letzten Herbst haben die Leute in Madras nie begriffen, daß der Monsun nicht ausreichend war. Stadtmenschen denken immer, wenn die Straßen überschwemmt sind und überall Pfützen stehen, sei alles in Ordnung. Sie stellen sich nicht vor, wie das Wasser in die Erde dringt, sich dort verflüchtigt und einen schrecklichen Mangel im Wurzelbereich zurückläßt. Die Götter haben dieses Jahr nicht zugehört. Vielleicht hatten sie anderes zu tun. Vielleicht haben die Panditen die Menschen bei ihren pujas nicht gut beraten. Götter sind manchmal zugänglich, manchmal nicht. Vielleicht hat Rama zum Beispiel wegen der Dürre zum falschen Gott gebetet. Er ging zu einem Tempel des Murugan, gab den Priestern dort etwas Geld und verrichtete Opfergaben – alles, weil ein Pandit in Madras ihm gesagt hatte, Murugan sei denen besonders gnädig, die für eine gute Ernte beten. Und jetzt? Die Gräben sind ausgetrocknet, die Teiche von vor einem Monat sind verschwunden, und der schwache Monsun geht direkt in eine schreckliche Trockenheit über. Murugan kann lange warten, ehe Rama wieder irgend etwas von ihm erfleht, denkt er ärgerlich. Narayana. Er betrachtet die Rosen, wie sie immer noch frisch und blutrot aus dem Zeitungspapier schauen, und seine gute Laune steigt wieder. Der Himmel ist blau, die 271
Felder reifen, und heute nacht wird er mit Usha schlafen. Aber die Dürre kommt. Auf der Straße kommt Rama ein tief dunkelhäutiger Mann entgegen, der seinen dhoti über die mageren Waden hochgezogen hat. Rama weiß, wer das ist, ein Chakkiliyan aus seinem Dorf. Sie treffen sich und tauschen flüchtige Blicke des Erkennens aus. Im Gegensatz zu den anderen Brahmanen in seinem Dorf hat Rama nichts dagegen, wenn Mitglieder niederer Kasten das Haus eines Brahmanen betreten oder einen Tempel, aber er behält diese Ansicht meist für sich. Er würde es schon wagen, den Mund aufzumachen, aber er möchte einfach nicht, daß niedrigere Kastenmitglieder glauben, die Unabhängigkeit gäbe ihnen das Recht, zu machen, was sie wollen – Wasser aus den Brunnen der Brahmanen zu schöpfen zum Beispiel oder mit der höheren Kaste auf demselben Boden zu sitzen. Es heißt, Bapuji teile Essen und Wasser mit jedem. Das ist falsch, denkt Rama. Es muß Regeln geben, oder das Leben zerfällt. Rama beschließt, dem Onkel diese Meinung mitzuteilen. »Du bist also wieder einmal zu Hause auf Besuch.« Rama dreht sich um zu einem zierlich gewachsenen Mann in einem Baumwoll-khaddar, ebenfalls mit einem Schirm: Mani, der Getreidehändler. »Ich bewundere dich«, sagt der Mann lächelnd. »Du wagst es, an einem Dienstag zu reisen.« »Das ist doch Aberglaube«, antwortet Rama kühl. Dieser Mani ist ein Chettiyar, der während des Krieges die Ernten auf den Dörfern aufgekauft hat. Der inflationäre Markt für Reis, verursacht durch den Verlust der Lieferungen aus Burma zu einer Zeit, als Inder in Uniform ernährt werden mußten, hatte jene Spekulationen zur Folge, durch die 272
Männer wie Mani reich wurden. Im ganzen Land grassierte der Hunger unter den Bauern – doppelt so viele starben wie bei den Soldaten. Zum Glück gab es im Dorf genug zu essen trotz Manis Hamsterkäufen, und niemand starb. Und doch spricht kaum jemand höflich mit ihm, was Mani nichts auszumachen scheint. »Ich höre«, sagt Mani, offensichtlich in Gesprächslaune, »dein Onkel hat einen Ongole-Bullen gekauft vergangene Woche. Ich habe ihn noch nicht gesehen, aber er ist bestimmt ein schönes Tier.« »Ongole-Bullen sind die besten.« Rama blickt auf die Felder, die in der Januarsonne braun werden. »Ob die Dürre kommt?« Er mag den Mann zwar nicht, aber er weiß, daß Mani mehr vom Reis versteht als jeder andere hier. »Natürlich kommt die Dürre. Und zwar schlimm«, erklärt Mani. »Ich sage das jedem, der mich fragt. Damit keiner sagen kann, wenn es passiert, ich hätte die Wahrheit für mich behalten.« Am Ende dieser Erklärung lächelt Mani selbstgefällig. »Stimmt es, daß die Wasserträger auf den Bahnhöfen nicht mehr Brahmanen sein müssen?« »Nein, es ist noch nicht soweit. Aber ich habe das Gerücht gehört. Es ist nur eine Frage der Zeit.« Rama spricht höflich, Manis Erklärung hat ihm Eindruck gemacht. »Wenn es dazu kommt, was sollen wir tun? Ich möchte kein Wasser von so einem Burschen niederer Kaste nehmen.« »Das ist der Preis der Unabhängigkeit.« Mani schüttelt grimmig den Kopf. »Gandhis Kinder Gottes werden uns alle beherrschen, ehe es aus mit ihm ist.« 273
Rama nickt. Jeder von ihnen legt respektvoll seine erhobenen Hände aneinander, und sie gehen ihrer Wege. Die Politik hat sie für einen Augenblick einander nahe gebracht. Es stimmt tatsächlich, daß Gandhis Harijans eine furchtbare Macht gewinnen werden, wenn die Leute nicht aufpassen. Masters Diener sind Harijans – und wie die das Haus regieren! Ein Amerikaner wie Master weiß eben nichts von der Zeit vor der Unabhängigkeit. Er läßt es zu, daß seine Harijans ihn betrügen und einen sehr schlechten Eindruck in der Nachbarschaft hervorrufen. Ein Jammer. Rama beschließt, daß er das eines Tages bei Master zur Sprache bringen wird. Ein guter Gedanke, und stolz trägt er seinen Schirm höher. Das Grün nimmt zu, die Straße verläuft jetzt an einem Seitenfluß des Coleroon entlang. Menschen erscheinen vor abgelegenen Hütten: die Zähne vom Betelkauen verfärbt, gerötete Augen vom grellen Licht, Schnurrbärte, Nasenringe. Rama macht den Schirm zu, Tamarinden beschatten jetzt seinen Weg. Ein Junge, der neben einem Haus pißt, macht ihn einen Moment stutzig – sieht wie sein Ältester aus, aber nein, ist zu klein. Hari ist groß für sein Alter, überlegt Rama befriedigt. Er atmet tief und lächelt Frauen zu, die den Schmutz von den Schwellen fegen. Wie so ein Dorf duftet, denkt Rama. Reifende Früchte, blühende Blumen, der kräftige Geruch eines Holzfeuers, die Erde selbst – alles so frisch wie an dem Tag, als Brahma aus dem Schlaf erwachte und ein neues Zeitalter schuf. Narayana. Om Namo Narayana. Er geht am Dorfbrunnen vorbei, wo sich jetzt am Spätnachmittag ein paar junge Mädchen versammelt haben; ihre Krüge aus Messing und Eisen stehen auf dem nassen Zement aufgereiht. Ein Mädchen schenkt ihm ein kleines Lächeln, und er denkt an Usha, an heute nacht 274
allein mit ihr, wenn die Söhne schlafen. Aber an so etwas darf er jetzt nicht denken, sagt er sich streng. Er muß an den Onkel denken. Er kommt an einem kleinen Tempel vorbei, dann am Wasserreservoir des Dorfes, in dem es sich ein paar Büffel wohl sein lassen und Frauen nasse Kleider auf den flachen Rand schlagen, die Spätnachmittagswäsche. Das Wasser im Reservoir steht niedrig, kein Zweifel. Nach dem Reservoir kommt ein weiterer Tempel. Diesen liebt er besonders; im Allerheiligsten steht eine fußhohe Bronzestatuette von Krischna, und manchmal hat er durch den Kampferrauch den Gott tanzen sehen, auch anderen Leuten ging es so, denn der lebendige Gott fühlt sich hier wohl. Narayana. Er hat keine Zeit, hineinzugehen, aber er fällt auf die Knie, berührt den Staub mit der Stirn und spricht rasch ein Mantra. Weiter vorn steht ein zweigeschossiges Ziegelhaus mit Läden an den Fenstern, ein Haus, wie es in Madras typisch, hier aber selten ist – in diesem Dorf von tausend Seelen gibt es nur drei dieser Art. Eines gehört Mani, eines dem Dorfvorsteher und eines Ramas Onkel. Ein Zaun trennt das Anwesen von der Lehmstraße. Sorgfältig macht Rama einen Draht los, der das Tor geschlossen hält, und befestigt ihn dann von innen ebenso sorgfältig wieder. Bei jedem Besuch bei seinem Onkel fällt ihm wieder ein, wie er im Alter von elf Jahren vergaß, das Tor ordentlich zu schließen. Sein Vater mußte dem Onkel erklären, wieso es so vielen Ziegen gelungen war, einzudringen und einen ganzen Sack Korn aufzufressen. Sechs Monate lang mußte Rama wie ein gewöhnlicher Mali den Hof fegen. Er streift die Sandalen von den Füßen und ruft am Eingang: »Ich bin hier! V. S. Ramachandran!« 275
Eine Stunde später ist er wieder draußen, zitternd vor Wut. Allerdings ist das nach einer Unterhaltung mit dem Onkel immer so. Seit Onkels Sohn an Typhus starb – seit drei langen Jahren –, feilscht der drittgrößte Grundbesitzer im Dorf um die Dienste seines Neffen mit dem vagen Versprechen, wenn Rama für die Familie arbeite, werde eines Tages das ganze Land ihm gehören. Das Angebot ist Rama nie wirklich verlockend erschienen. Erstens traut er dem Onkel nicht, der vor langer Zeit seinen Vater um seinen Anteil am Familienbesitz gebracht hat. Wenn er noch soviel arbeiten würde – und zwar wie ein Sklave –, so könnte es ihm doch passieren, daß der alte Schuft das Land einem seiner drei Schwiegersöhne vermacht. Und zweitens will Rama nicht im Dorf bleiben. Er möchte etwas von der Welt sehen. Zu seinen liebsten Erinnerungen gehört, wie er immer in der Ecke saß und zuhörte, wenn sein Vater von der Eisenbahnreise von Delhi nach Madras erzählte. Sein Wunschbild ist durch die Arbeit bei der Importfirma noch verstärkt worden und später bei der Post, wo er täglich Zeugnisse der Außenwelt sieht: Briefmarken, Absender, Rechnungsformulare für den Transport nach Singapur, Hongkong, New York, London und Paris. Bei der heutigen Auseinandersetzung war der Onkel besonders aggressiv. Er hatte Rama bei seiner schlimmsten Furcht gepackt: Die Kongreßpartei werde ein Gesetz verabschieden, das Personalquoten für konkurrierende Dienste der Zentralregierung festlege einschließlich der Post. »Sie werden dich hinauswerfen«, prophezeite der Onkel brutal. »Sie werden deine Stelle einem Handi Jogi oder einem Dom geben. Die legen dich aufs Kreuz und geben einer niederen Kaste deinen Platz!« Rama hatte Durst, bat aber seinen Onkel lieber nicht um 276
eine Tasse Tee. Er hätte zu seiner Pein nur einen Vortrag über Verschwendung erhalten – Tee kostet schließlich Geld – und eine Ermahnung, nicht in die Fußstapfen seines Tunichtguts von Vater zu treten, der nach so vielen Jahren bei der Eisenbahn wegen Spielschulden nichts vorzuzeigen hatte. Irgendwie gelang es dem Onkel bei jedem Gespräch, diesen Hinweis anzubringen – grausam für Rama, denn es war die Wahrheit. »Du mußt dich auf die neue Welt einstellen, Neffe«, fuhr der Mann fort. »Jetzt, wo die Unabhängigkeit da ist, mußt du wissen, auf wen du setzt. Dieser Nehru ist im Herzen ein Moslem. Er glaubt nicht an Gott.« Onkel hustete und kramte nach etwas, fand es aber nicht. Er murrte dann noch eine Weile über eine Hochzeit zwischen zweien seiner Landarbeiter. Er hatte ein größeres Geschenk machen müssen als bisher, weil sein Vorarbeiter darauf bestand, die Unabhängigkeit mache ein Extra notwendig. »Immer gibt es Gründe für ein Extra«, sagte der Alte. »Du denkst, weil ich die ganzen Jahre im Dorf geblieben bin, bin ich ein unwissender Narr, aber ich kenne die Welt.« Tatsächlich machte er alle zehn Jahre eine Reise nach England, um für sein Haus und seine Frau einzukaufen, jedenfalls bis vor einem Jahr, als seine Frau starb. »Wenn du einen europäischen Vorgesetzten hättest, würdest du früh aufstehen, den ganzen Tag arbeiten, nach Hause gehn und schlafen. Jetzt, wo du einen indischen Vorgesetzten hast, mußt du früh aufstehn, den ganzen Tag schuften, und wenn du müde nach Hause kommst, wirst du nicht schlafen, weil du wach liegst und darüber nachdenkst, welche Intrige gerade gesponnen wird, um dich rauszuwerfen und deinen Platz für jemand anderes freizumachen. Du wirst bestreiten, was ich sage, aber es ist so.« Und es war so, auch wenn Rama es bestritt. Rama geht die Straße hinunter und fühlt Trotz in sich 277
aufsteigen. Er wird nicht ewig in diesem Dorf sitzen, wo nichts passiert, wo seit Jahrhunderten nichts passiert ist. Seine Familie wird er hierlassen, bis er genug Geld hat, um sie nachzuholen, aber er selbst wird nicht mehr zurückkehren. Wenn die Dürre kommt, sind sie hier natürlich besser aufgehoben. Der Onkel wird ihnen doch helfen? Für ihn sind sie doch auch Familie. Aber so weit wird es nicht kommen, denkt Rama. Narayana. Von düsteren Gedanken beherrscht, ist Rama die Hauptstraße hinunter fast bis ans Ende des Brahmanenteils des Dorfes gelangt. Hier am Rand sind die Behausungen armer Brahmanen, darunter sein eigenes Heim. Da vorn sieht er jetzt die vertraute Kokospalme, über das Dach gebeugt, den Jackbaum mit ein paar großen Früchten, die wie kleine Bienenkörbe herunterhängen, und dann das kleine Haus aus Lehm und Stroh. Gott wird helfen, denkt er. Rama schiebt den Baumwollvorhang im Eingang zur Seite und betritt sein Haus. Mit dem Seufzer des Heimgekehrten schaut er auf die kleine, mit Blumen bekränzte Göttin aus Stein, eine Petroleumlampe, ein paar puja-Geräte aus Messing, die dünne Matratze auf dem Lehmboden, der mit Matten bedeckt ist, ein paar Drucke von Götterbildern, an die Lehmwand geheftet, und den Kalender für 1948, auf dem ein hübsches Marathi-Mädchen für Seide aus Bombay wirbt. Rama setzt sich auf eine Matte, wischt sich den Schweiß von der Stirn und wundert sich, wo sie ist. Aus dem hinteren Raum dringt Essensgeruch, aber sie ist nicht da. Als sie heirateten, war er siebzehn und Usha vierzehn. Im nächsten Jahr gebar sie ihren ersten Sohn. Der zweite kam tot zur Welt. Der dritte ist jetzt sechs, bald alt genug für die Zeremonie des Upananyana. Schwer zu glauben, daß der kleine Kerl bald soweit ist, den heiligen Faden, die 278
Opferschnur zu tragen. Rama schnuppert den Rauch; er ist geruchlos, der Rauch von brennendem Dung, nur der scharfe Geruch dünstender Gewürze dringt in den Raum. Er ist hungrig, die Blähungen, verursacht durch das upma aus der Imbißbude, haben sich gelegt. Wo sind die Jungen? Ob sie auf den Feldern spielen? Bestimmt. So wie er früher. Ramas Geist treibt mit dem Rauch. Ihm fällt ein, wie er sein Haar mit einem starken, hölzernen Kamm kämmte. Seine Mutter gab ihm einen Klaps, als es nicht glatt werden wollte, und umarmte ihn dann mit einem kleinen Stöhnen liebevoller Enttäuschung. Wo ist Usha? Aus einer kleinen Truhe, die er im Sitzen erreichen kann, nimmt Rama eine Schachtel Kumkumpuder und zeichnet sorgfältig das V-förmige urdhvadpundra, das Zeichen Wischnus, auf die Stirn. Diese Handlung gibt ihm immer ein heimatliches Gefühl. Wenn Vater von der Reise zurückkam, machte er es genauso. Rama blickt auf die Wand gegenüber. Dort hängt eine offene Schachtel mit einer europäischen Puppe, noch in Cellophan verpackt, ein blondes Mädchen mit langen Augenwimpern und knallroten Wangen, das er Usha letztes Jahr zu Devali gekauft hat. Wenn Master ein Kind hätte, könnte es so aussehen. Wo ist sie denn? Sie müßte doch hier sein, denkt er beunruhigt. Er kann nicht mehr länger herumsitzen und geht den Weg hinunter zu einem Teehaus, wo er seinen Durst mit einer doppelten Portion Tee löscht. Die scharfe Gerbsäure verzieht ihm das Gesicht, er beschwert sich bei dem TeeWallah über das gräßliche Gebräu. »Du machst hundert Tassen aus den Blättern anstatt zehn, wie du solltest. Deshalb schmeckt er so«, erklärte Rama ärgerlich und nicht zum erstenmal, wie er sich erinnert. Auch die Antwort klingt vertraut: »Wenn es dir in der Stadt besser gefällt, dann geh doch 279
in die Stadt zurück.« Als er nach Hause kommt, ist Usha da. Sein Herz hüpft, als er sie sieht: ihren fülligen Körper im braunen Baumwollsari, ihr schweres Haar, straff zurückgekämmt aus der breiten Stirn, in deren Mitte sie ein rundes hinduZeichen gemalt hat, die enorm großen Augen mit den schwarzen Pupillen, die sich von dem reinen Weiß um sie herum so stark absetzen. Sie ist gerade zu einem besonderen Bad im Fluß gewesen, hat in der Strömung gestanden und ihren Körper unter einem einfachen Hemd abwechselnd mit Ingweröl, Seife und Wasser massiert. Der kleine Raum füllt sich mit dem Duft des Ingwer, als sie hinkniet und ihn mit erhobenen Händen begrüßt. Der Tee, den er jetzt bekommt, ist gut. Dreimal in der Woche marschiert Usha fünf Kilometer bis zum Ufer des Cauvery, um dort Wasser zu schöpfen, das als das weichste des Südens gilt. Die Leute im Flußgebiet dort sagen, es brächte Glück, es zu trinken. Jedesmal, wenn Rama nach Hause kommt, macht sie den Tee damit. Dazu gibt sie ihm eingelegte Nüsse. Er erzählt von seinem Master in Madras, dem reichen, heldenhaften Amerikaner, der gegen die Japaner gekämpft hat (Rama denkt längst nicht mehr daran, daß er während des Krieges mit vielen Indern hoffte, die Japaner könnten die Retter Asiens sein). »Vielleicht bin ich eines Tages bereit, für ihn zu arbeiten«, sagt Rama und schlürft vernehmbar seinen Tee. »Ich habe genug vom Postamt, von all dem Betrug und den Lügen. Die Telegus haben dort bereits die Oberhand. Telegu Reddis werden es bald ganz übernehmen, glaube mir.« Er spricht nicht gleich weiter, damit die Warnung auch tief genug wirkt. »Aber mach dir keine Sorgen. Hier seid ihr sicher. Dafür habe ich gesorgt«, sagt er vage und überlegt, ob er von der drohenden Dürre sprechen soll. »Ich werde jetzt wahrscheinlich für meinen amerikanischen Master 280
arbeiten. Er braucht mich. Master hat keine Kontrolle über seine Diener. Du solltest sehen, wie sie ihn betrügen.« Befriedigt sieht er Usha betrübt den Kopf schütteln. »Ich werde den Koch ohrfeigen, wenn er nicht damit aufhört. Seine Wochenabrechnungen für Lebensmittel sind mindestens zehn Rupien zu hoch!« Diese Annahme ist so hoch geschraubt, daß Usha ein entsetztes Gesicht macht. »Mehr als zehn«, sagt Rama und bemerkt mit einem Seitenblick, wie jemand durch die Tür zum hinteren Raum späht. Es ist Hari, der ältere Sohn. Rama spricht jetzt lauter und arroganter vom Koch und was er mit ihm machen wird. »Wenn ich Butler bei Master bin, wird der Haushalt laufen wie geschmiert. Ich werde den Koch zur Rede stellen, das kannst du mir glauben, und wenn er weiter schwindelt, werde ich ihn selbst hinauswerfen, und Master wird kein Wort sagen, denn er vertraut mir. Er hat deinem Mann von der ersten Begegnung an vertraut. Und wenn ich eine Zeitlang für ihn gearbeitet habe, könnt ihr vielleicht nach Madras kommen.« Diese Möglichkeit hat er bisher nie ausgesprochen und ist selbst überrascht, daß er es tut. Vielleicht liegt es an dem einen leuchtenden Auge, das er um den Türrahmen spähen sieht. Hari, sein Sohn. »Ist das wahr?« flüstert Usha atemlos. »Natürlich. Master ist ein Amerikaner. Er ist ein reicher Held aus dem Krieg. Auf seinem Gesicht hat er –« Er zieht mit der Hand eine lange Linie über seine Stirn quer durch das purpurne urdhvapundra. Usha nickt ehrfürchtig. »Für einen weißen Mann wie ihn zu arbeiten bedeutet gutes Geld.« Rama schweigt. Hat er zu hastig gesprochen? Er schaut in Richtung des Jungen. Usha wieder zugewandt, fügt er hinzu: »Es würde aber seine Zeit dauern, bis ihr nach Madras kommen könnt.« 281
»Aber irgendwann?« »Irgendwann, natürlich. Bis dahin bleibst du mit den Jungen hier, wo ihr in Sicherheit seid. Ich möchte euch nicht in einer großen Stadt, ehe ich dort für euch sorgen kann.« Usha lächelt. »Komm doch rein, Hari! Laß dich anschaun!« ruft der stolze Vater. Vor der Abendmahlzeit sitzt Rama mit den Jungen draußen. Der Kleine kam mit dem Schrei »Amma! Amma!« hereingerannt, verstummte aber beim Anblick seines Vaters und ließ sich respektvoll fallen, um die Füße seines Vaters zu berühren. Jetzt fragt Rama den Älteren nach seinen Leistungen auf der Distriktschule. Nächstes Jahr, in der vierten Klasse, wird Hari mit Englisch anfangen. Bisher war der Junge nicht vielversprechend. In der Kindheit litt er an Hautausschlägen, der Staub entzündete seine Augen, und während des Monsuns hatte er immer einen schlimmen Husten. Aber Rama ist sicher, daß der Junge genug leisten wird, um an der höheren Schule in Trichy angenommen zu werden, so wie er einstmals selbst. Bei seinen Ermahnungen, Hari solle sich Mühe geben, denkt Rama an seine eigene Schulzeit, an das große Gebäude im Kolonialstil, die rote Erde des Spielplatzes mit seinen Bäumen, an die rosa Shorts und das weiße Hemd, die er damals trug, und das Klassenzimmer mit Bänken, Pulten und murmelnden Stimmen. Er erklärt beiden Jungen, das Ziel des Lebens sei, sich moralisch zu bessern. »Gottes rechte Hand ist sanft, aber seine linke ist furchtbar.« Dann zeigt er seinem jüngeren Sohn, wie man einen 282
Kreisel treibt – wie man die Schnur zum Schluß mit einem Ruck losläßt, damit der Kreisel sich möglichst lange dreht. Der Junge begreift schnell; er ist der hellere von beiden, aber Rama ist vor allem auf Hari eingestellt, wahrscheinlich – und das weiß er auch –, weil Hari als der älteste Sohn eines Tages den Scheiterhaufen entzünden wird. Er wird für die Rezitation der slokas bezahlen, während die Flammen aufzüngeln. (Meine Füße werden zuletzt verkohlen, denkt Rama müßig; sie sind der zäheste Teil des Körpers.) Danach wird Hari die kleine Trauerprozession zu einem rituellen Bad ans Flußufer führen. Rama hat den Hunger lange genug unterdrückt. Beim Schein der Öllampe ißt er von einem großen Palmblatt; Usha sieht ihm aufmerksam zu, bereit, noch mehr Häufchen dampfenden Reis und Quark zu servieren, die Rama mit der rechten Hand zu einer Art Brei mischt. Doch vorher legt er noch ein paar Reiskörner um das Blatt herum, um Ameisen zu befriedigen, die vielleicht angekrochen kommen. Er trinkt einen großen Schluck Büffelmilch aus seiner Tasse und genießt die Mischung aus Reis und Quark, dazu Okra-Curry und Mango. Dann rülpst er und verlangt mit einem Nicken nach mehr. Usha bricht ein Nim-Blatt in eine süß-saure Soße, ein Verdauungstrank, der vor Malaria schützen soll. Rama erklärt Usha, daß es nach der neuen Verfassung Beschäftigungsquoten geben wird zum Nachteil der Brahmanen, denn in Zukunft werden nicht Herkunft und Stand, sondern Zahl der Stimmen entscheidend sein. Er erzählt ihr alles mögliche, doch seine Blicke ruhen dabei auf dem feuchten Schimmer ihrer Haut. Rama ist schon immer stolz darauf, daß sie so hell ist. Sie ist aus guter Familie. Sie sind von gleichem Stand, sie sind ebenbürtig, auch wenn Usha nie lesen gelernt hat. Das 283
wird er ihr aber noch beibringen, sobald er Zeit dazu findet. Manchmal schämt er sich der Gefühle, die sie in ihm weckt. Frauen können das: Parvati verführte sogar Schiwa, als er angeblich über die Erschaffung der Welt, seiner Welt, meditierte. Eine Zeile aus Jayadevas Gitagovinda kommt Rama in den Sinn. Noch liegt seine Schulzeit nicht so lang zurück, daß er das erotische Gedicht vergessen hätte, über das er mit seinen Freunden früher kicherte: »Meine schönen Lenden sind eine tiefe Höhle, um die Stöße der Liebe zu empfangen – bedecke sie mit kostbaren Gürteln, Gewändern und Schmuck, Krischna!« Und: »Liebster, lege Antimonpulver, schimmernder als ein Schwarm schwarzer Bienen, auf meine Augen! Deine Lippen haben den lampenschwarzen Bogen weggeküßt, der Pfeile der Liebe schießt.« Er weiß, es ist unmännlich, in solchen Gedanken zu schwelgen. Geschlechtliche Lust ist bestimmt schlecht für ein gutes Karma, aber ihr Anblick jetzt mit dieser feuchten Haut raubt Rama fast den Atem. Er hört, wie die Jungen nebenan schlafen gehen; wenn sie sich nur beeilen wollten! Der Raum riecht nach Ingweröl, Sandelholzsalbe und Okra-Curry. Als habe jemand gewässerte Milch ins Fenster geschüttet, erscheint ein plötzlicher Glanz im Zimmer: Der Mond ist eben um die Hausecke gewandert. Usha ist hinausgegangen, auf Zehenspitzen, um die Söhne nicht zu wecken. Rama wartet auf der Matratze auf sie. Für die Liebe ist dies die beste Jahreszeit. In ein paar Monaten wird es einfach zu heiß dafür sein, auch wenn er den Geruch von Ushas Schweiß gern hat. Einen Augenblick hat er Angst vor der heutigen Nacht. Der Dorf-Pandit sagt, einem Mann stünden soundso viele Ergüsse zu, und wenn er die Zahl 284
überschreite, müsse er sterben. Woher weiß ein Mann, wann er seine Grenze erreicht hat? Der Guru sagt, das wisse nur Gott, aber natürlich werde ein enthaltsamer Mann langer leben. Usha ist zurückgekommen, ihre volle geschmeidige Gestalt durchquert in einem Baumwollhemd den Flecken Mondlicht. Sie spricht jetzt mit leiser, melodischer Stimme. Sie erzählt, eine schwangere Nachbarin habe heute morgen als erstes eine Katze gesehen – was für ein Unglück! Und ob es wohl eine Dürre geben werde? Die Leute sagten ja. Rama spricht sanft in die Nachtluft hinein. Keine Dürre, bedeutet er ihr. Usha steht neben der Matratze, die nach Osten ausgelegt ist, in die Glücksrichtung, und zieht das Hemd aus. Im Anfang ihrer Ehe mußte er darauf bestehen, und sie tat es erst, wenn sie nebeneinanderlagen, aber seit die eheliche Leidenschaft sie ergriffen hat, zieht Usha es vorher aus und bietet jetzt im Mondlicht ihren Körper ohne Scham seiner Lust dar. Usha erzählt ihm von den drei Dschungelskorpionen, die sie heute gesehen hat. Die Leute sagen, so viele Skorpione um diese Jahreszeit seien ein Vorzeichen der Trockenheit. Er erklärt ihr, sie dürfe die Jungen nicht auf Ziegelhaufen spielen lassen, denn dorthin zögen sich die Skorpione zurück, wenn es heiß werde. Er spricht zwar die Worte, aber sein ganzer Sinn folgt ihren Bewegungen: das Fallen des Hemdes, das kurze Heben und Senken ihrer jungen Brüste, während sie sich hinkniet, das Gleiten ihrer Schenkel über das Leintuch der Matratze. Er umarmt den warmen Körper seiner Frau, angefeuert durch das Vergnügen, das sie beide aneinander haben, und Rama läßt jeden Gedanken fahren – Narayana, Narayana, 285
wiederholt er tonlos, als er in seine geliebte Frau eindringt und die Lust sich steigert. Später, während sie neben ihm leise zu schnarchen beginnt, verschränkt Rama die Arme hinter dem Kopf und beobachtet, wie das Mondlicht weiter wandert und das kleine Haus schließlich in tiefer Finsternis zurückläßt. Er fragt sich, wie es einem Mann gelingen soll, sich zurückzuhalten – selbst wenn die Dauer seines Erdenlebens auf dem Spiel steht – angesichts einer Frau wie Usha in seinen Armen.
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achdem Rama seine Morgenwaschungen beendet und die Opferschnur von seinem rechten Ohr genommen hat, wo er sie während des Hockens im Wasser in Sicherheit gebracht hatte, steht die Sonne bereits so hoch wie die untersten Wedel der Palmen am Saum der Felder. Der Messingtopf, den er bei sich hat, ist jetzt leer. Er legt die Hand über die Augen und beobachtet Bauern auf dem Weg zu ihren Reisfeldern. Was sie mit sich führen, entspricht jeweils der Jahreszeit: Pflug, Egge, Sämaschine, Hacke, Jutesack. Heute tragen sie Flaschenzugrollen bei sich, denn es ist Zeit, das reifende Korn aus Schöpfpumpen zu wässern. Am Eingang des Dorfes beugt sich Rama über den Rand des Brunnens. Das Wasser steht einen halben, vielleicht einen Meter hoch. In dieser Jahreszeit sollte es um ein Vielfaches mehr sein. Eine Frau kommt und wartet, bis er zur Seite tritt und sie ihren Eimer hinablassen kann. »Sieht sehr niedrig aus«, sagt er. Sie läßt den Eimer hinunterfallen, und mit einem hohlen Geräusch taucht er ein. »Gott wird’s schon machen.« »Narayana.« Auf dem Heimweg denkt Rama wieder darüber nach, ob er für seinen Onkel arbeiten soll. Auf diese Weise könnte er seine Familie durch die Dürre bringen. Onkel könnte einen Neffen, der für ihn arbeitet, nicht im Angesicht des ganzen Dorfs verhungern lassen. Er sieht sich Koffer voll Papier von Feld zu Feld schleppen, während der Onkel die zu erwartenden Erträge aufschreibt und die Arbeiter schikaniert. Rama bleibt stehen und schaut zu, wie ein 287
Dorfbewohner Milch und kalten Reis auf einen Ameisenhaufen schüttet. Verschwendung, denkt er. Der unwissende Bauer hofft, durch dieses Opfer die Kobras zu besänftigen, die oft in Ameisenhaufen hausen. Nach Ramas Ansicht ist die Verehrung von Schlangen überholt. Auf einem flachen Fels spielen Jungen mit einem Stück Kreide »Himmel und Erde«. Sie erinnern Rama an seine eigene Kindheit, an seine eigenen Söhne, und er wird traurig. Die Traurigkeit ist immer noch da, als er sich von seiner Frau verabschiedet, und wird dann noch schlimmer, als er die Straße nach Kumbakonam einschlägt. Beim Abschied zu Hause war sein jüngerer Sohn da und wurde gerade gekämmt. Usha benutzte denselben Kamm mit seinen starken Zähnen, den Ramas Mutter einst bei ihm benutzt hatte. Der Kamm schien dem struppigen Haar des Kleinen nicht gewachsen, und Rama dachte an seine eigene Mühe zurück, sein Haar zu glätten. Als der Junge fortgehüpft war, fühlte sich Rama nicht wohl in seiner Haut und erklärte Usha fast grob, sie dürfe sich wegen der Dürre keine Sorgen machen. »Überlaß es Gott!« sagte er streng zu ihr. »Und dein Mann ist immer da. Ich meine: sorgt für euch. Verstehst du?« Seinen guten Rat und sein Versprechen hatte sie mit einem Nicken beantwortet. Doch ein ungutes Gefühl blieb zurück, und jetzt unterwegs empfindet er Kritik gegenüber seiner Frau, deren Aberglaube daher stammt, daß sie nicht lesen kann. Niemand in Madras würde glauben so wie sie, daß ein Gott zu Pferd nächtens durch das Dorf reitet, um böse Geister zu vertreiben. Er fühlt, daß sein rechtes Auge pocht. Ein gutes Omen, und eine Zeitlang folgt er der Straße, ganz erfüllt von einem kleinen Schmerz, der Glück bringt. Alle werden Glück brauchen, wenn die Dürre kommt. Selbst der Onkel. Und Geld ist dann vonnöten. 288
Der Dorfbrunnen: Er wird leer sein, ehe die heiße Zeit zur Hälfte vorüber ist, und dann wird das Überleben von Rupien abhängen. Aber woher nehmen? Rama berührt den schwarzen, Wischnu geweihten Stein, den er um den Hals trägt. »Narayana, Narayana« sagt er laut, die Hand an dem Saligrama. Nie könnte er dasitzen und zusehen, wie seine Söhne jeden Tag ein Stück mehr dahinsterben. Eher würde er seine Hand in ein Rattenloch stecken, in dem Kobras hausen, als zuzusehen, wie ein kleiner Junge mit drahtigem Haar Tag um Tag schwächer wird, wie seine Augen trüb werden, der Bauch sich bläht, die Arme zu Stöckchen schrumpfen, die Haut schuppig wird wie bei einer Schlange – und dann die schrecklichen Laute, das Wimmern … Dieses Bild seiner beiden Söhne und Usha dazu, wie sie in dem kleinen Haus seiner Liebe keuchen und an Durst und Hunger sterben, wühlt in seinem Gedärm. Rama wird übel bei dieser entsetzlichen Vision, die ihn nicht verlassen will, nicht einmal am hellichten Mittag. Weiße Männer haben Geld, denkt Rama verbittert. Er erinnert sich, wie sein Vater einst die Dürre beschrieb: die Panik, das Sterben – und das Geld in Händen der Reisspekulanten und Milchhändler. Hungersnot, Geld. Nur Geld kann helfen, in den Städten wie auf den Dörfern. Die Städte sind übler dran. So hat es sein Vater gesagt, und ein Mann, der so weit gereist ist, sollte es wissen. Im Geist stehen deutlich drei Menschen vor ihm: seine eigene, kleine Familie, lächelnd, unschuldig, wehrlos. Narayana, sagt er wie außer sich in der verzweifelten Hoffnung, ein Gott möge vom Himmel herab erscheinen – in seinen vier Händen eine Hornmuschel, einen Diskus, eine Keule und eine Lotusblüte – und seine kleine Familie 289
unter göttlichen Schutz stellen. Golla-Männer kommen mit Milchkannen auf einem Wagen vorbei und werfen ihm neugierige Blicke zu, wie er an seinem Sahgrama zerrt und laut intoniert »Om Namo Narayana«. Er hatte vorgehabt, direkt zum Bahnhof von Kumbakonam zu gehen, aber die Angst lenkt ihn anderswohin. Rama will um die Lösung seiner Schwierigkeiten beten. Mitten in der Stadt liegt ein rechteckiges Wasserbecken, an die drei Hektar groß: Das Mahamakham-Becken, in ganz Südindien berühmt und für Rama von besonderer Bedeutung. Er wandert an der stillen Wasserfläche entlang und sieht, wie Frauen ihre Wäsche an den Ziegelrändern des Reservoirs waschen. Auf der Oberfläche spiegeln sich die blauen Säulen und rosa Dächer von sechzehn Mandapams, von denen eine Fülle gemeißelter Gottheiten auf das braune Wasser herabblickt. Vor vier Jahren war er mit einer Million anderer Menschen hier. Das war ein Tag! Alle zwölf Jahre wird hier das Fest von Mahamakham gefeiert. Rama hockt neben den Granitstufen des Reservoirs und erinnert sich: Abbilder von Flußgöttinnen, in den Mandapams aufgestellt; die Tritte von unzähligen Füßen, die das hüfttiefe Wasser trübten, wenn die Gläubigen sich hintereinander für ein paar kostbare Minuten in den Teich begaben; die ungeduldige Menge, der Lärm und Tumult, die lauten Gebete, als die Wasser aus sieben heiligen Flüssen, ein Teil bis vom Himalaja her, sich magisch im Reservoir vereinigten und alle Sünden wegwuschen. Menschen starben, nachdem sie das verunreinigte Wasser getrunken hatten. Rama erinnert sich, wie er als Kind nach 290
einem solchen Fest nach Kumbakonam kam und wie die ganze Stadt nach Urin und Kot, nach verfaultem Essen und Abfällen stank, zurückgelassen von einer Menschenmasse, die durch Gottes Macht zusammengeströmt war. Narayana. Rama steht wieder auf und geht weiter an den ärmlichen Läden vorbei, die den Platz einrahmen. Am Südende des Reservoirs befindet sich der kleine, alte Tempel des Shri Kasiviswanathaswami. Obwohl ein Schiwatempel, bedeutet er ihm viel, da er ihn mit seinen Erinnerungen an das Mahamakham-Fest verbindet. Er schaut an der Reihe Bettler vorbei, die mit ausgestreckten Händen dasitzen, und kauft am Eingang Blumen und eine Kokosnuß als Opfergabe. Innen ist es dunkel bis auf zwei Messinglampen, fast einen Meter hoch, mit Öl und langen Dochten, die in ihren großen Schalen schwimmen. Beim Eintreten hört Rama den schrillen Schrei eines Vogels von irgendwoher. Das ist kein purer Zufall, denkt er, das ist ein Omen. Vorne in dem kleinen Tempel ist der Gott, eine fußhohe Bronze des tanzenden Schiwa auf einem Podest. Rama legt die Opfergaben hin, berührt dann mit den Händen zuerst den Boden, legt eine Hand an die Stirn und schließlich ehrfürchtig beide Hände aufeinander. Er wendet sich dem Tor des Heiligtums zu, wo ein Pujan wartet. Rama streckt die rechte Hand dem heiligen Wasser entgegen. Als der Pujari gießt, saugt Rama begierig die Tropfen auf und trocknet seine Finger, indem er sich damit durch sein starkes Haar fährt. Er geht auf Nataraja zu, dreht sich dreimal mit hocherhobenen Händen im Kreis und berührt dann sein linkes Ohr mit der rechten Hand. Er geht dreimal in die Knie und wendet sich dann links zu einer weiteren 291
Darstellung Schiwas, einem steinernen Lingam. Hier streckt er sich in voller Länge auf dem Marmorfußboden aus und versucht, daran zu denken, daß Schiwa hier der Gott ist und ungnädig wäre, falls Rama ein gemurmeltes »Narayana« entschlüpfte. Das Universum ist ungeheuer, denkt er, endlos in beiden Richtungen, wie die Pandits sagen. Man muß sich in diesem Leben gar nicht so anstrengen; im nächsten Leben und in dem danach ist Zeit, es besser zu machen. Das Chakra, das Rad aus Feuer, dreht und dreht sich ohne Bewegung im Zentrum. Darauf muß man sich konzentrieren – und doch ist dahinten im Dorf seine kleine Familie der Grausamkeit und Härte und Wut ausgeliefert, die eine Dürre mit sich bringt. Es würde viel Geld kosten, sie nach Madras mitzunehmen; und wenn sie im Dorf bleiben, kann er sich dann wirklich auf den Onkel verlassen? Gott wird es schon machen. Narayana – nein: Om Namah Shivaya. Kann das die Wahrheit sein, daß es Gott gleichgültig ist, ob die Dürre kommt und ob seine kleine Familie leiden muß? Die Wahrheit ist, daß wir nicht wissen, was die Wahrheit ist; wir leben so, wie uns die Götter zu leben aufgeben. Im Februar kommen bei Sonnenuntergang die großen Fledermäuse; einen Monat später verschwinden sie dann wieder. Im März und April marschieren die Kolonnen der Ameisen nach Hause und bleiben bis zum Herbst unter der Erde. Und so geht es das ganze Jahr, alles sprießt und welkt und wird wieder lebendig und verkriecht sich und kommt wieder herauf. Narayana. Om Namo Narayanaya. Om Namah Shivaya. Om Sri Ganeshaya Namah. Jaya Hanuman. Sita Ram Sita Ram Sita Ram. Er wird ruhiger. Was ist die Wahrheit schon – ein gleitendes Ding, ein Fluß, eine Wolke, ein Wechsel der Jahreszeit? Sie ist Gottes Sache, nicht seine eigene. 292
Zufrieden steht Rama auf und wendet sich zum Abschied nochmals an den Gott Schiwa: Erfülle meine Bitte, Herr Nataraja, daß die Familie in der Dürre nicht leidet, und ich werde viele pujas für dich verrichten. Rama verbeugt sich und geht. Er fühlt sich von den Sorgen um die Zukunft befreit. Er hofft auch, daß Wischnu ihm vergeben wird, daß er Gebete an Schiwa gerichtet hat, aber der gnädige Herr des Universums wird verstehen, daß die Verzweiflung ihn hierher zu einem anderen Gott geführt hat. Und zudem sind alle Götter eins. Rama wartet am Bahnhof von Kumbakonam und kauft sich einen Priem von einem Betelverkäufer. Er sieht kritisch zu, wie der verhutzelte Bursche gelöschten Kalk auf ein Betelblatt streicht, gemahlene Areka-Nuß und ein paar Gewürze dazugibt, das Blatt geschickt faltet und ihm überreicht. Rama plaziert den Priem zwischen Backe und Zahnfleisch und fühlt sofort, wie der Speichel angeregt wird. Er kaut das Blatt, und der Speichel mischt sich mit einem leicht bitteren Geschmack. Die Alkaloide der gemahlenen Nuß machen ihn einen Moment leicht schwindlig, so als habe er gerade ein Schlückchen Arrak hinuntergestürzt. Er hat vorher an der Tiffin-Bude noch etwas gegessen und hofft nun, daß die Betelmixtur ihn vor Blähungen bewahrt und ihm einen reinen Atem verschafft, wenn er zu Master geht. Rama betrachtet die anderen Passagiere mit Zufriedenheit. Der Gedanke ans Reisen, wenn auch nur die paar Stunden von Kumbakonam nach Madras, verleiht ihm mehr Optimismus, als es seine Gebete heute getan haben. Er will direkt zu Master gehen und sagen: »Ich bin 293
Brahmane, deshalb habe ich Angst, daß die Telegu-Kaste im Postamt die Oberhand bekommt. Ich möchte Sie nicht mit meinen Problemen belästigen, Sir, aber ich habe noch nie von meiner Familie gesprochen. Wenn ich das Postamt verlasse, was wird aus ihnen werden? Ich kann dann nicht für sie sorgen.« Rama hält ein. Soll er einem weißen Mann so viel offenbaren? Er beginnt von neuem: »Ich möchte Sie nicht mit meinen Problemen belästigen, Sir, aber ich möchte eine neue Stellung finden. Sie und ich passen gut zueinander. Ich mache jede Arbeit. Haben Sie keine Angst – Rama kann alles, was Sie verlangen.« Das ist besser. Zufrieden läßt er seine Blicke wieder über das Gedränge auf der Plattform schweifen: eine Eile und ein Geschiebe, wie sie sein Vater zahllose Male erlebt haben muß. Seine Augen bleiben an einer gemalten Schrift in Englisch und Tamil über einem Holztrog hängen: Spucknapf hier. Er beugt sich vor und spuckt eine Menge blutroten Speichel auf die Gleise; die schimmernden Eisenschienen laufen parallel, bis sie sich in der Ferne treffen. Bald wird er dort sein, um zu entdecken, daß sie auch dort parallel laufen. Ein Mann mit einem Wischnu-Zeichen auf der Stirn steht mit einer Zeitung in der Nähe. Rama liest die Schlagzeile: Gandhi nach Pakistan. »Ich mache jede Arbeit«, sagt er in der Phantasie zu Master. Vielleicht ist es eine gute Idee, dann das Thema für einen Moment zu wechseln – den weißen Mann erst einmal nachdenken zu lassen. »Haben Sie die Blitzmeldung in der Zeitung gesehen, Master? Bapuji geht nach Pakistan, um für die Moslems zu beten. So ein guter Mann! Wir müssen alle auf ihn hören; das kann uns nur guttun.« Das wird Master geneigt machen, ihm den Job zu geben, denn Master scheint 294
Gandhis Politik zu gefallen. Wie allen Weißen außer den Engländern. Ein Stationsvorsteher mit Schirmmütze geht jetzt durch die Menge und ruft den Zug nach Madras aus. Rama beobachtet ihn und sieht anstelle dieses mageren Burschen seinen Vater, einen untersetzten, beleibten Mann mit prächtigem Schnurrbart. Während die Leute auf die Gleise zugehen und nach Süden blicken, wo der Zug aus Trichy bald erscheinen muß, richtet Rama den Blick nach Norden, in die Richtung, in die er fahren wird. In Madras steigt er an der Station Egmore aus. Er steuert nicht das Pensionszimmer an, das er mit zwei anderen Postangestellten teilt, sondern nimmt entschlossen Richtung auf Masters Haus. An einem kleinen Stand kauft er einen Strauß gelber Blumen und geht sofort in der Menge unter, die aus dem Bahnhof strömt. Madras erregt ihn. Hier geschieht so viel. Die Tage stecken voller Zeit, während die Zeit sein Dorf nur für ein paar Wochen des Pflanzens und der Ernte überfällt, um wieder zu verschwinden und alles leer zurückzulassen bis auf den Wechsel von Tag und Nacht. Er sieht noch eine Schlagzeile: Bapu geht nach Lahore. Im Zug haben zwei Männer über Gandhi diskutiert. Einer zitierte Bapuji, wie er einmal zu den Engländern gesagt habe: »Überlaßt Indien Gott; wenn das zuviel ist, überlaßt es der Anarchie.« Sie fanden das trotzig und nannten Bapuji einen Idealisten. Aber Rama bewunderte die Worte, als er sie hörte. Indien den Indern. Auch wenn er vielleicht seinen Job verliert, weil er der falschen Gruppe angehört, gefällt ihm die Idee »Indien den Indern«. Wenn er Master heute sieht, wird er mutig sein. »Geben Sie mir einen Job, Master, und alles wird wie am Schnürchen laufen. Es wird Ihnen an 295
nichts fehlen!« Rama fühlt, wie die Hitze lastender wird. Noch ist es erträglich, aber in ein paar Minuten wird sie herabstürzen wie eine riesige Schlange, die alles, was sich bewegt, erstickt. Im Hindu wird eine schwarzgerahmte Kolumne erscheinen mit der täglichen Liste derer, die an Sonnenstich oder Erschöpfung gestorben sind. Und die Dürre steht bevor! In solche Gedanken vertieft, hat Rama gar nicht bemerkt, daß er schon fast bei Masters Haus angelangt ist. Er bleibt einen Augenblick stehen, um erneut ein paar Zeilen aus seiner Phantasierede zu üben. Dann zieht er den unteren Saum seines dhoti gerade, nimmt den Schirm in eine Hand, den Strauß in die andere und geht zuversichtlich zum Tor. Dort sieht er den jungen Mali, wie er den Lehmboden mit einem Bambusbesen fegt. Shrinivas sieht stirnrunzelnd auf, als sich das Tor öffnet. »Ist Master zu Hause? Ich will ihn sprechen«, erklärt Rama kühl. Der Mali wischt sich den Schweiß aus den Augenbrauen. »Er ist zu Hause. Am besten gehst du gleich zu ihm. Es ist deine letzte Gelegenheit.« Für einen Augenblick sieht Rama Master bereits sterbend im Bett liegen, sieht, wie vor seinen Augen das Narbengesicht von Master leblos wird. »Ist er krank? Hat er Fieber?« »Er reist ab.« »Fort aus Madras? Und wohin?« Shrinivas zuckt die Achseln und macht eine lahme Bewegung mit dem Besen. »Geht er für immer?« 296
»Sagt Cook.« »Wann?« »Ich weiß nicht. Bald.« Shrinivas schneidet ein Gesicht; sein Schnurrbart glänzt vor Schweiß. »Heute war ein Sindhi hier. Wenn er das Haus kauft – ich arbeite nicht für ihn. Sindhis sind schlimmer als Moslems.« Rama läßt die Blumen fallen. Master geht weg? Für immer? Und bald? Er läuft ums Haus zur Küche; noch nie hat er gewagt, das Haus von vorne zu betreten. Er platzt in die Küche hinein und erschreckt Cook, der bis zu den Ellbogen im Teig steckt. »Was willst denn du hier?« brüllt Cook. »Wo ist Master? Oben?« Cook streift sich den Teig von den Fingern und droht: »Verschwinde. Master hat genug im Kopf, ohne daß du ihn störst.« »Ich? Und was ist mit dir? Hast du ihn so oft betrogen, daß er jetzt lieber weggeht?« Cook greift nach dem Hackmesser neben dem Teigbrett und tritt einen Schritt vor. »Verschwinde. Keiner will dich hier.« Rama ist aus der Küche, bevor Cook sich klar wird, ob er ihn angreifen soll oder nicht. Er steigt die Treppe zum zweiten Stock hinauf, während die Stimme des schimpfenden Kochs immer leiser wird. Narayana. Oben an der Treppe kann er durch die leeren Räume bis auf die Veranda blicken, wo Masters blonder Hinterkopf über dem Stuhlrücken sichtbar wird. Rama ist froh, ihn lebendig zu sehen. Eben erst hat er gedacht, alles sei verloren; ihm war, als suche er einen Toten auf. Master dreht sich um, als Rama die Veranda erreicht. »Ich freue mich, dich zu sehn, Rama.« Der weiße Mann 297
hat ein Glas in der Hand. »Hast du schon das Neueste gehört?« »Sie gehen weg aus Indien, Master?« Rama wartet die Bestätigung nicht ab. »Wo wollen Sie sich dann niederlassen?« »Siam.« »Ach, Siam. Heiß dort, Master.« »Meine Frau braucht mich dort. Ich werde in Bangkok verlangt.« Rama erinnert sich an das Telegramm und fragt sich, ob seine Englischkenntnisse so mangelhaft sind, daß ihm ein Hilferuf in der kurzen Mitteilung entgangen ist. Er hatte nur die Weigerung einer Frau, nach Indien zu kommen, herausgelesen. Weiße Leute haben eine seltsame Art, um Hilfe zu bitten. »Freuen Sie sich darauf, Master?« Der weiße Mann zögert einen Moment nachdenklich mit der Antwort. »Nein, Rama, das nicht. Ich hatte damit gerechnet, zu bleiben.« Warum also verlangt Master nicht einfach, daß die Frau herkommt? Wenn es Hilfe ist, was sie braucht, kann sie die hier in Madras von Master bekommen. Einen Augenblick fühlt Rama sich erleichtert. Er muß Master nur darauf aufmerksam machen, wie unmännlich es ist, einer Frau solche Entschlüsse zu überlassen. »Du hast mir nie etwas von dir erzählt, Rama, außer daß du im Postamt nicht glücklich bist. Bist du frei?« Rama versteht die Frage nicht. Er murmelt nur Sätze aus seiner Ansprache, die er noch weiß. »Ich möchte Sie nicht mit Problemen belästigen, aber wir werden gut zueinander passen. Bei der Post komme ich auf keinen grünen Zweig.« Master deutet mit der gesunden Hand auf die 298
Armschlinge. »Es wird schwierig werden, damit zu reisen, außerdem habe ich auch noch in Burma zu tun.« Rama nickt teilnahmslos. Auf alle hatte er sich verlassen, auf Schiwa, Wischnu, den Onkel und Master, in der Hoffnung, sie würden seine kleine Familie beschützen. Jetzt fühlt er sich plötzlich verloren. Er kann sich nur hinsetzen und die Nacht kommen lassen. »Ich habe mir gedacht«, sagt Master, »wir kommen gut miteinander aus. Würdest du vielleicht mitkommen?« Master hebt den Arm in der Schlinge. »Zum Teufel – mit nur einem Arm reisen müssen. Wenn du mitkommst, zahle ich dir Hin- und Rückfahrt. Und du bekommst deinen Lohn natürlich. Du könntest alles organisieren – Gepäck, Beförderung, diese Sachen.« Rama hört die Worte, weiß aber nicht recht, was sie bedeuten. »Ich möchte in ein paar Tagen abreisen. Das ist ein bißchen knapp, tut mir leid. Vergiß es, wenn du nicht frei bist.« »Burma? Siam? Für Geld?« »Ich werde schon allein zurechtkommen, glaube ich. Mach dir deshalb keine Sorgen.« »Was heißt frei?« »Ja, es ist mir heute eingefallen.« »Mitkommen?« Master runzelt etwas ungeduldig die Stirn. »Ja, frei, damit du mitkommen kannst und mir behilflich sein.« Rama weiß zwar, daß Master die Geduld verliert, weil er so langsam begreift, aber er versteht den Zusammenhang nicht. »Frei? Ich sehe nicht, wie –« Plötzlich fällt ihm der Vogelschrei ein, gerade, als er den ShriKasiviswanathaswami-Tempel betrat. Das war ein gutes 299
Zeichen, er hoffte es jedenfalls. Hat Schiwa sein Gebet erhört? Er wendet sich noch einen Moment von Master ab, um seine Gedanken zu sammeln, und schaut vom Balkon. Dort steht ein Mangobaum. Wenn er in die Fremde geht, wenn er weit von seinem Dorf wegfährt, wird er im Monat Chaitra nicht hier sein, wenn die Mangos blühen. Er wird ihre Blüte nicht erleben und auch nicht die Dürre, wenn sie kommt. »Na gut, Rama«, sagt Master mit einem bedauernden Achselzucken. »Für einen Moment schien es eine gute Idee.« Die Dürre nicht kommen sehen und wie es den Söhnen schlechtgeht, und dann würde es Geld geben von Master, und Siam ist gar nicht so weit weg, aber weit genug, um die Dürre nicht kommen zu sehen, und er würde fremde Orte erleben und für Geld, das er heimschicken könnte, und sie würden nicht verhungern, sie würden ihm nur böse sein, weil er nicht gesagt hat, daß er weggeht und nicht noch einmal nach Hause gekommen ist, aber zum Schluß würde alles in Ordnung sein. Narayana. »Rama? Keine Sorge wegen mir. Ich komme zurecht.« »Keine Sorge, Master.« Rama holt tief Luft. »Ich komme«, sagt er und berührt den Flußstein, der um seinen Hals hängt. »Rama kommt mit Ihnen, Master. Ich bin frei.«
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ZWEITER TEIL
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S
chiffe aus aller Welt pflügen die schlammige Reede des Hlaing. An der Reling eines dieser Schiffe steht Philip Embree neben seinem Begleiter, V. S. Ramachandran, und beobachtet das Leben im Hafen. Leute in einer Breitfockschute schützen sich mit Schirmen vor der glühenden Mittagssonne; sie wirken wie schwarze Pilze, die mittschiffs aus dem alten Boot sprießen. Auf dem gegenüberliegenden Flußufer balanciert ein Gewirr von Hütten gefährlich auf ihren Stelzen, sie unterscheiden sich kaum von der Vegetation und den Schlammbänken, an denen sie sich festhalten. Der Lärm von Schleppkähnen und Barkassen und von den Schauerleuten, die vom Pier herüberbrüllen, ist allmählich betäubend. In der Nähe ragt ein Teil eines rostigen Hügels aus dem Wasser – ein japanisches Lastschiff, das 1945 hier versenkt wurde, als die Alliierten Rangun zurückeroberten. Embree beobachtet das Anlegen: Große Ankerklüsen rattern aus Bootsklampen auf Deck zu den Pollern am Kai hinunter. Auf einer benachbarten Rampe aus Schilf und Bambus schleppen Kulis Zentnersäcke mit Reis zum Schiff hinunter. Sie werden eingeladen, sobald die Gewürze und Tierhäute, die Baumwollballen und landwirtschaftlichen Geräte aus Madras ausgeladen sind. Die meisten der Kulis sind dünnbeinige Inder. Embree blickt Rama von der Seite an, ob er seine Landsleute entdeckt hat. Natürlich hat er, und er beobachtet scharf. Mit den Schauerleuten schieben Arbeiter Ölfässer vor dem Schiff zurecht. Das Öl muß aus Yenangyaung kommen, denkt Embree, wo im Frühjahr 1942 Ingenieure der Burma Oil Company Generatoren, Pumpen, 302
Bohrgeräte und Schächte zerstörten und den ganzen Petroleumvorrat anzündeten, damit die japanischen Invasoren keinen Treibstoff vorfänden. Bei Yenangyaung bekam er auch den ersten Vorgeschmack vom Krieg in Burma ab: Yenangyaung, die Ölfelder, der Rückzug aus Südburma. »Was zum Teufel machst du hier, Ami?« fragte ihn eine Gruppe englischer Soldaten, als er an jenem Apriltag vor sechs Jahren in das Hauptquartier bei Twingon einfuhr. Sie zeigten sich erstaunt, als er erklärte, er sei Verbindungsoffizier einer der zwei chinesischen Armeen, die aus Mandalay erwartet würden. »Was tut ein Yank bei den Chinamännern?« Die Soldaten gehörten zu der King’s Own Yorkshire Light Infantry – den »Koylies«. Neugierig sahen sie sich diesen Yankee an, der als Vertreter einer chinesischen Armee gekommen war, die seit Tagen der Ersten Burmadivision aus der Patsche helfen sollte und der es irgendwie gelungen war, nie zu erscheinen – so sind eben die Chinesen, Drückeberger, obskure Typen aus dem Osten, eine Bande von Dieben und Kulis. Man hörte immer noch die Ölquellen explodieren und sah eine ungeheure, schmutzigorangefarbene Wolke über den Ölfeldern hängen, fünfundzwanzig Meilen entfernt, und spürte den stechenden Geruch von verbranntem Petroleum in der Nase. Die Schauerleute schieben jetzt Ölfässer aus Yenangyaung vor sich her. Embree fühlt, wie sein Herz zuckt: das Öl von Yenangyuang. 1942 haben es die kleinen Scheißer nicht bekommen – Dann sieht er ein paar Jungen, die nahe der Rampe Chinlon spielen. Sie stehen im Kreis und halten einen strohgeflochtenen Ball in der Luft, indem sie ihn mit jedem beliebigen Körperteil stoßen, nur nicht mit den Händen. Ihre Geschicklichkeit ist 303
so groß wie ihre Begeisterung. Embree denkt: Da haben wir ein Beispiel für Burmas berühmte Lebensfreude. Während des Krieges hatte er wahrhaftig nicht viel davon gesehen. Jetzt, bei der Rückkehr in ein Rangun, das er 1945 mit einem Truppentransporter verließ, starrt Embree fasziniert auf die Heiterkeit von Leuten, die in den Tagen von Yenangyaung die Alliierten auf dem Rückzug ermordeten. Unterhalb steht ein Junge, der nichts anhat außer einem speckigen, blauen Hemd, das kaum seinen Bauch bedeckt. Das Kind hat den mageren rechten Arm erhoben, zwei Finger bilden das V für Victory – Sieg. Der Krieg ist jetzt seit drei Jahren vorbei, aber der Junge hat nicht vergessen. Als die Japaner verloren hatten, tauchte überall in Burma das V auf. Embree richtet sich an der Reling auf. Sein linker Arm in der Schlinge kann sich nicht rühren, aber er hebt die rechte Hand, spreizt langsam Zeige- und Mittelfinger und antwortet dem Jungen mit seinem eigenen V. Anfang 1939 verließ Philip Embree Bangkok und schloß sich der »China Gang« von Colonel Stilwell an. Zusammen mit einer Handvoll amerikanischer Abenteurer plus Soldaten wurde er an entlegenen Vorposten in China stationiert, während die Japaner Altmetalle aus den Vereinigten Staaten kauften und daraus die Bomben herstellten, die sie auf Nunning und Tschungking fallen ließen. Seine Freunde waren die Flying-Tiger-Piloten von Kunming und die Ingenieure, Männer, die man in den toten Gewässern eines dreckigen, internationalen Krieges meist vergessen hatte. Anfang 1942 versetzte Stilwell Embree zur Fünften chinesischen Armee, die in das burmesische Kriegsgeschehen eintrat. Embree war für die Verbindung zwischen den chinesischen und englischen 304
Einheiten verantwortlich, die im Westabschnitt von Südburma operierten. In dieser Eigenschaft wurde er beauftragt, sich den Überresten der zurückweichenden britischen Armee anzuschließen, die fast nur aus dem abgerissenen Rest der Ersten Burmadivision und der stark dezimierten Division »Schwarze Katze« bestand. Das britische Oberkommando gab sich keine Mühe, seine Verachtung für die chinesischen Truppen zu verhehlen, obwohl während des Rückzugs aus Südburma die 38. Division eine japanische Blockade durchbrach und die Briten vor der Vernichtung bewahrte. Embree war damals stolz auf sie, aber ihre heroische Leistung wiederholte sich nicht. Während er mit den britischen Truppen nach Norden marschierte, fielen die chinesischen Streitkräfte auf dem Marsch nach Osten mangelhafter Führung ebenso zum Opfer wie japanischen Angriffen. Eine Division, die 55. der Sechsten Armee, wurde derart aufgerieben, daß sie einfach verschwand – nicht mehr existierte. Ein Teil dieser Truppen irrte in Panik nach China zurück, wobei die meisten Soldaten unterwegs an Hunger oder Krankheit starben, von japanischen Patrouillen gefangengenommen oder von Banden marodierender Burmesen ermordet wurden. Andere chinesische Divisionen, schlecht ausgerüstet, wurden von einem beweglichen, äußerst aggressiven Feind geschlagen. Stilwell, nominell Kommandierender der chinesischen Truppen in Burma, begriff bald, daß Tschiang Kai-schek ihn hereingelegt hatte, denn das wirkliche Kommando blieb immer noch beim Generalissimus in Tschungking, zweitausend Meilen entfernt. Stilwell hatte zwar in China gelebt und beherrschte die Sprache, aber etwas Wichtiges hatte er vergessen: den Hang der Chinesen, Dinge zu horten – in diesem Fall Artillerie und Truppen. Tschiang erklärte, seine Truppen 305
sollten nicht in die Schlacht ziehen, wenn sie nicht eine zahlenmäßige Überlegenheit über die Japaner von fünf zu eins hätten. Außerdem bestand er eigensinnig auf der Anwendung des Prinzips der Kuomintang »Verteidigung aus der Tiefe«, was bedeutete, eine Kolonne von Divisionen hintereinander wie eine lose aufgereihte Perlenkette über das Land zu verteilen – leicht zu isolieren deshalb und von einem Feind in Stücke zu hauen, der nie seine eigene Nachhut schützte und dessen einziges Prinzip Angriff, Angriff, Angriff war. So kam es, daß die schlechtausgebildeten und schlechtausgerüsteten chinesischen Armeen täglich unter den Schlägen der Japaner wankten. Auf dem Marsch mit den englischen Truppen wurde Embree langsam, aber stetig von der chinesischen Armee getrennt, mit der er nach Burma gekommen war. Der Rückzug vollzog sich in zwei Strömen nach Norden, Richtung Mandalay und Lashio: die Chinesen im Osten, die britische Armee im Westen. Einheiten von chinesischen Bataillonen und Regimentern und schließlich ganze Divisionen lösten sich einfach auf. Trupps zerstreuten sich, stolperten durch den Dschungel und über Gebirge in der Hoffnung, der Weg nach Nordwesten möge der Ausweg aus der Hölle von Burma sein. Die 38. Division, mittlerweile das einzig intakte chinesische Element in Burma, folgte zwar noch der britischen Route nach Nordwesten in Richtung Indien, aber sie hatte ihren eigenen Verbindungsoffizier und keinen Bedarf für Embree. Da er sich der Fünften chinesischen Armee nicht wieder anschließen konnte, blieb er bei den Engländern: den Gloucesters und West Yorks aus England, den Camerons aus Schottland, den Inniskillings aus Irland, bei den Punjabis, den Garhwahs, den Sikhs und den Gurkhas aus Indien und den loyalen 306
Stammesangehörigen hier aus Burma, den Kaschin und Karen und Chin – einer großen Horde, die auf verstopften, staubigen Straßen weiterzog und täglich von japanischen Truppen und burmesischen Banditen von der Flanke angegriffen wurde, an Straßensperren überfallen und von oben bombardiert. Die meiste Zeit war Embree mit den Koylies, frisch aus England, zusammen. Er fuhr mit ihnen, und wenn die Jeeps und Landrover zu kochen anfingen oder die Tanks leer waren, marschierte er mit ihnen. Er lief neben Harry Stubbs, einem strohblonden Corporal aus Leeds, der leicht sein Sohn hätte sein können. Harry stammte aus einer Bergarbeiterfamilie. Mit siebzehn hatte er ein Stipendium für die London University erworben und hatte, als er Soldat wurde, schon zwei Jahre Philosophie studiert. Harry war ein komplizierter Bursche. Vom Krieg wußte er überhaupt nichts, aber am Lagerfeuer gab er oft – mit seinen ganzen zwanzig Jahren – mit seiner Gelehrsamkeit an, wie es häufig Leute tun, die als erste aus einer Familie den Fuß auf die aufsteigende Leiter gesetzt haben. Embree war selbst überrascht von der Toleranz, mit der er diesem englischen Grünschnabel begegnete, der ihn an seine eigene Zeit an der Universität – an der Yale Divinity School – erinnerte wie auch an die abendlichen Tischreden seines Vaters: windige Ausflüge in ontologische Beweise für die Existenz Gottes, lange Wanderungen durch Definitionen von Wahrheit und Realität und ähnlichem. Philip Embree dachte über die geistige Verfassung dieses jungen Engländers oft nach. Manchmal fragte er sich tatsächlich, ob dieser seltsame Junge überhaupt wußte, was vor sich ging, so vertieft schien er in Fragen, die überhaupt nicht hierhergehörten: Fragen aus Plato und Aristoteles, Descartes und Locke, Hume und Kant, die aus den Grabgewölben einer Bibliothek oder einem 307
verschlafenen Klassenzimmer zu stammen schienen. Dabei hatte Harrys extreme Kopflastigkeit durchaus nicht den Narren aus ihm gemacht, den Embree bei der ersten Begegnung in ihm vermutet hatte. Der Kleine hatte Mut, wenn es nötig war (unter dem Beschuß eines japanischen Jagdflugzeuges, einer »Zero«, zerrte er einen Verwundeten von der Straße in den Graben), und er war ganz da, wenn zum Beispiel ein Lastwagen im burmesischen Sand steckenblieb. Kräftig gebaut, eine gute Handbreit größer als Embree, konnte der junge Gelehrte eine Tatkraft entwickeln, die ihm bei seinen Kameraden Anerkennung verschaffte. Embree selbst genoß bei ihnen mehr als nur gutes Ansehen. Obwohl er Offizier war und fast doppelt so alt wie sie, marschierte er nach Mandalay mit den jungen Koylies zusammen, von denen die meisten bis vor sechs Monaten nicht einmal London gesehen hatten. Tagsüber hatten sie weder Zeit noch Kraft für Gespräche, zwischen Straßensperren und Heckenschützen dachten sie ständig an den Tod, aber nachts unter den Sternen am Straßenrand erzählte Embree ihnen Geschichten von China in alter Zeit, als Warlords ein Land durchstreiften, fast so chaotisch wie ihre jetzige Umgebung. Er sprach von General Tang Schan-teh, einem Warlord, dessen Truppen mehr Disziplin und Erfahrung besaßen als irgendwelche chinesischen Streitkräfte hier in Burma. »Er war der Beste, den ich je kannte«, erklärte Embree. Wenn sie fragten, wie gut er diesen Burschen gekannt habe, berichtete er zu ihrem Erstaunen, er habe in der Kavallerie des Generals gedient. Und wenn die Koylies darauf bestanden, ihr General Slim sei besser, als es je so ein Chinatyp sein könnte, erklärte Embree die Taktik Tangs, so gewagt und aggressiv wie die der Japaner, der sie jetzt ausgesetzt waren, und die jungen Soldaten lauschten ernst den großen 308
Taten eines Mannes, für den dieser schreckliche Rückzug wohl nur eine weitere Episode eines lebenslänglichen Abenteuers war. Damals standen die zurückweichenden Alliierten bei Mandalay. Im Norden konnte man die Stadt sehen: seit Wochen von den Japanern bombardiert, graue Rauchsäulen darüber. Embree war wieder der indischen Division »Schwarze Katze« zugeteilt, um deren Bewegungen mit denen der 38. Division zu koordinieren, deren Verbindungsoffizier gefallen war. Diese zwei Gruppen sollten zusammen mit der Siebten Panzerbrigade den nahenden Japanern Rückzugsgefechte liefern. Das würde den Briten der Imperial Army die Möglichkeit bieten, den Irawadi zu überqueren und sich in Indien in Sicherheit zu bringen – die Schlacht um Burma war offensichtlich verloren. Embree focht dann drei Tage an der Avabrücke und begegnete zum erstenmal den Gurkhas, die ihrem Ruf von Mut und Grausamkeit alle Ehre machten. Nachdem ein paar Bogen der Brücke gesprengt waren, kam der Vormarsch der Japaner vorübergehend zum Stehen, und die Nachhut der zurückweichenden Armee konnte sich der Hauptstreitmacht bei Shwegyin wieder anschließen. Slims Armee war in einer verzweifelten Klemme. Die Briten waren auf die Straße angewiesen, fast ausschließlich auf Lastwagen, Panzer und Jeeps, während die Japaner sich leicht ohne Weg und Steg bewegten und die Unterstützung der burmesischen Bevölkerung des Tieflands genossen. In Dörfern willkommen geheißen, wo die Engländer nur mit Waffengewalt eindringen konnten, waren sie gut genährt, während ihre flüchtenden Gegner von Fleischkonserven und Zwieback leben mußten. Der Imperial British Army mangelte es an Treibstoff und Ersatzteilen, die meisten Panzer und Lastwagen hatte man 309
aufgegeben. Einheiten folgten Karten, auf denen nichtexistierende Straßen eingezeichnet waren, und verirrten sich, Männer wurden aus dem Hinterhalt überfallen und dezimiert; Gefangene wurden oft gefoltert, bevor man ihnen die letzte Kugel oder den letzten Bajonettstoß gab. Und die lautlosen Mörder waren überall: der von Milben übertragene Typhus, Beriberi, die bösartige Tertianmalaria, die Amöbenruhr. Im Dschungel fanden die Blutegel sie, die giftigen und die messerscharfen Blätter. Sie quälten sich durch stinkenden Schlamm und an Bäumen mit riesigen verknoteten, freiliegenden Wurzelsystemen vorbei, die ein Vorwärtskommen fast unmöglich machten. Und neue, exotische Gefahren warteten: Parasiten und Viren, die Bilharziose verursachten, Entzündungen von Schlangenbissen, namenlose, aber tödliche Fieber. Slim bezog eine letzte Stellung bei Shwegyin, wo der Saumpfad, dem seine Armee gefolgt war, endete. Hier, an der Anlegestelle einer Fähre am Chindwin, traf Embree wieder mit den jungen Koylies zusammen – oder mit dem, was von ihnen übrig war. Zwei Überfälle hatten die rund zwanzig Männer, die er vor ein paar Wochen gekannt hatte, auf bloße fünf reduziert, und die wirkten nicht mehr jung. Embree starrte Harry Stubbs an: Von dem überschwenglichen jungen Gelehrten, der mitten im Krieg den kategorischen Imperativ erörterte, war kaum noch etwas zu erkennen. In der Schlacht darauf blieb Embree in der Nähe des Jungen aus Yorkshire, der dem Zusammenbruch nahe schien. Aber Harry Stubbs brach nicht zusammen. Er trug unter Beschuß Verwundete zu den Fähren hinunter – geduldig stapfte er durch das Granatfeuer am Ufer entlang, kam zurück und ging wieder los. Das machte er fünfmal, 310
obwohl Handfeuerwaffen die Landestelle erfaßten. Embree beobachtete diese Heldentaten aus der Deckung des Gestrüpps zusammen mit anderen erstaunten Veteranen, die jedesmal Wetten abschlossen, ob der Kleine es noch einmal schaffen würde. Slim setzte alles ein, was er hatte, konnte den Feind zum Anhalten zwingen und die Reste seiner Armee auf dem Fluß sechs Meilen stromauf bis Kalewa führen. Die Japaner beschlossen, nicht nachzusetzen: Sie rechneten damit, daß der malariaverseuchte Dschungel die Überlebenden für sie erledigen werde. Im Kabawtal hatte der Monsun begonnen und machte es zum »Tal des Todes«, wie die kämpfenden Briten sagten. Von der Ruhr geschwächt, schleppten sie sich bei Tag durch knietiefen Morast und legten sich darin zum Schlafen nieder, wenn die Nacht kam. Die Luft füllte sich mit Gestank und wurde so schwer, daß die geschwächten Männer kaum noch atmen konnten. Die Kleider verfaulten ihnen am Leib. Harry hatte sich in Kalewa Malaria geholt. »Weiter, Harry«, sagte Embree leise zu dem fiebernden Jungen, »wir müssen hier raus. Wir müssen raus, Harry.« Harry zitterte, Embree trug ihn halb den Pfad entlang. »Laß mich ausruhen«, keuchte Harry. »Wir müssen hier raus, Harry.« Und zwei Wochen später, beide kaum noch am Leben, die Stiefel von der Fäulnis des Dschungels aufgelöst, wankten sie in einen Vorposten nahe Tamu. Sie waren in Indien; sie waren rausgekommen. Wir haben es geschafft, wir sind rausgekommen, denkt Embree und schaut auf das Dock von Rangun hinunter. Ein paar Minuten später geht Embree hinter Rama und 311
den Trägern die Gangway hinunter. Amüsiert beobachtet er, wie Rama stolz die Träger mit dem Gepäck beaufsichtigt. Embree schwört sich, daß es die Wahrheit war, was er Rama gesagt hat: Vera braucht ihn in Bangkok. Tatsache ist, daß sie ihn womöglich verachtet, weil er kommt. In ihrem Telegramm hat sie keinen Zweifel daran gelassen, daß ihr Geschäft in Bangkok ihr wichtiger ist, als zu ihm nach Indien zu kommen. Daher sein Entschluß, der zumindest ihm selbst ganz vernünftig erscheint: Wenn sie nicht zu ihm kommen will, kommt er zu ihr. Sein Ziel wird dabei sein, herauszufinden, was sie selbst nicht weiß: daß sie ihn braucht – selbst, wenn er noch nicht weiß, warum. Embree wird in der wartenden Menge am Pier herumgeschubst. Ein halbes Dutzend Jungen kreist ihn ein. Grinsend halten sie ihr »V« für »Victory« hoch und kreischen in perfektem Englisch: »Hello, Brit!« Sie schieben einen nach vorn, der auf einem Brett eine rohe Kreidezeichnung von einem vollbusigen Mädchen vorzeigt, die Beine gespreizt, eine riesige, grob behaarte Vagina dazwischen – ein paar Mädchen in der Nähe beteiligen sich an dem Gelächter. Embree entdeckt über die Köpfe hinweg in der Menge einen alten Mann, der Zeitungen schwenkt. Englische Zeitungen, und die schwarzgedruckte Schlagzeile erreicht Embree durch das Getümmel auf dem Dock: GANDHI ERMORDET Minuten später weiß er die nackten Einzelheiten: Ein Hindufanatiker, außer sich über die Konzessionen Gandhis an die Moslems, hat am 30. Januar 1948 den indischen Führer im Birla-Haus in Delhi erschossen, kurz vor 312
Beginn einer Gebetsversammlung im Garten. Es ist also passiert, denkt Embree, die Zeitung in der Hand. Rama neben ihm liest atemlos den Bericht. »Über das Mikrophon von All India Radio sagte der Premierminister, Jawaharlal Nehru, zum kummervollen Volk von Indien: ›Das Licht in unserem Leben ist ausgegangen, und überall ist Finsternis. Unser geliebter Führer, Bapu, wie wir ihn nannten, der Vater der Nation, ist nicht mehr.‹« Indien kann von Glück reden, daß es nicht schon früher passiert ist, denkt Embree. Bapuji ist also nicht mehr. In internationalen Angelegenheiten war der kleine Mann aus Porbandar naiv. Er dominierte über seine nächste Umgebung und trug eine Last von Vorurteilen, so schwer wie die der meisten Menschen. Also war er ein Mensch. Doch er war auch unglaublich tapfer, mitfühlend und energisch. Solche Männer, denkt Embree, erscheinen nicht in jeder Generation oder vielleicht nicht einmal in jedem Jahrhundert. Ein lautes Gejammer lenkt seine Aufmerksamkeit zu dem Warenlager, wo er zu seinem Erstaunen sieht, wie Rama die Reihen der indischen Kulis auf und ab läuft und die Nachricht in Tamil herausschreit. Er staunt noch mehr, als Rama sich auf die Knie wirft und die Hände erhebt, in der einen das Saligrama, das er um den Hals trägt. Die Kulis folgen seinem Beispiel, fallen ebenfalls auf die Knie, und die Arbeit auf dem Pier stockt. Sie murmeln auf dem Dock von Rangun ihre Gebete für Bapu, während die Burmesen sie mit unverhohlener Verachtung beobachten. Embree sieht mit Interesse zu, wie glühend sich Rama an der Trauer um einen Mann beteiligt, den er auf der Schiffsreise von Madras hierher so oft kritisiert hat: »Ja, er ist ein guter Mann, ein wirklich guter Mann, bis auf seinen Kopf, Master. Gandhi gibt den Moslems zu sehr nach. Er 313
hat nicht den richtigen Kopf, sehen Sie. Es wäre besser für uns, wenn er jetzt sterben würde – Gott verzeih mir, aber es ist die Wahrheit –, denn wenn Bapu ein Fasten beginnt, nützt es stets den Moslems, aber wir Hindu verlieren dabei.« Was Rama wohl jetzt denkt? fragt sich Embree. Das Gebet des jungen Inders ist sicher aufrichtig: das Kinn gespannt, die Augen geschlossen, bebende Lippen. In diesem Augenblick ist Rama herrlich lebendig – so wie ich, denkt Embree, in jenen ersten Tagen in China, vor zwei Jahrzehnten. Er wartet geduldig, bis Rama sein Gebet beendet hat. Philip Embree nimmt den Lift zum dritten Stock, wo sein Zimmer liegt. Er wandert über geblümte Teppiche auf Marmorböden, blickt durch Speisesaaltüren kurz auf nachgemachte weiße, dorische Säulen, kommt am Ballroom vorbei, geht breite Korridore entlang, wo Ventilatoren träge in der Abendluft rühren und gelangt schließlich in die Bar des Hotels Strand. 1945 war er zuletzt hier. Damals war der heiße, große Raum voll von biertrinkenden Soldaten, alle siegestrunken und nichts als die Heimkehr im Sinn. Heute sind nur ein paar der Rattanstühle besetzt, und zwar von Touristen und Schiffsoffizieren, die hier angelegt haben. Embree geht zu der halbmondförmigen Bar hinauf und stellt einen Fuß auf das Kupfergitter. Er ist allein: Rama hat darum gebeten, den Thein Gyi Zei in der Anawratha Road besuchen zu dürfen. »Warum soll ich mich dort nicht umsehen«, erklärte der junge Inder obenhin, als sei er kaum neugierig auf den Markt dort: Stände mit Waren und Gewürzen, Zeitschriften in Tamil und Reihen von Hindugottheiten, alles, was ihn eine Zeitlang dem Land 314
näher bringen kann, nach dem er bereits Heimweh hat – wie sein Master sehr wohl weiß. Embree bestellt ein Bier und sieht sich um. Zwei Männer nebenan lächeln, und er lächelt zurück; die Begegnung im Adyar Club in Madras fällt ihm wieder ein. Nur ist er heute abend nicht betrunken oder streitsüchtig. Er denkt an die Upanischaden: Furcht erhebt sich … Nein, nicht heute abend. Er hebt sein Glas und betrachtet eine Holzskulptur von Karaweik, dem heiligen Schwan von Burma, auf einem Sims über der Bar. »Verzeihung, Sir.« Embree wendet sich den beiden Männern zu. Einer der beiden trägt eine ausgebleichte, grüne Buschjacke, Cordbreeches in Khaki und den Offiziershut der Engländer mit zerschlissenem Cordband – eine abgelegte Uniform. »Kennen wir uns nicht, Sir?« »Ich weiß nicht. Meinen Sie denn?« fragt Embree lächelnd. »Kohima, Juni vierundvierzig?« »Da war ich nicht.« »Aber Sie waren hier in Burma«, behauptet der Exsoldat. »O ja.« »Ich störe Sie hoffentlich nicht. Wir sind doch jetzt alle Kumpel, die damals hier waren, finden Sie nicht? Was war Ihr Jahr?« Warum nicht davon sprechen, denkt Embree. »Das erstemal – 1942. Ich gehörte zur Fünften chinesischen Armee.« Der Engländer stößt einen leisen Pfiff aus. »Das ist schon seltsam. Können Sie Chinesisch?« Embree nickt, er kommt in die Stimmung, in der man 315
leicht vertraulich wird. »Ich war Verbindungsoffizier bei der Fünften. Habe den Rückzug mit dem Burma-Korps mitgemacht.« »Einer von Stilwells Yanks also. Dachte ich mir schon. Beim Rückzug waren nicht viele dabei. Da haben wir unseren eigenen Mist gebaut.« Er schüttelt betrübt den Kopf. »Und das zweitemal?« »Wieder mit euch Briten. Fünfundvierzig, mit Slim.« Der Mann lacht. »Slim. Wirklich der beste verdammte General der britischen Armee. Waren Sie beim Dreiunddreißigsten Korps?« »Nein, beim Neunzehnten.« Embree sagt nichts von seinem anderen Auftrag beim Sonderkommando Einhunderteins. Zwar ist es nicht länger nötig, das geheimzuhalten, aber er erwähnt dieses Kommando nie. »Dem Neunzehnten. Bei den Dolchen. Also müssen wir uns bei Mandalay begegnet sein. Ich war bei den Zweiten Gurkhas, Siebtes Regiment.« Embree hebt sein Glas. »Die den Hügel erobert haben.« »Das nicht, leider. Diese Ehre gebührte den Vierten Gurkhas. Wir gaben ihnen Deckung im Süden, während sie herummarschierten. Kemp ist mein Name.« »Embree.« Er schüttelt dem Exoffizier die Hand. »Das ist Mister Teleki.« Embree gibt auch Kemps Begleiter die Hand, einem untersetzten, vierschrötigen Mann, mindestens zehn Jahre älter als Kemp, um die fünfzig. »Also, was trinken Sie?« fragt Kemp und schiebt Embrees Bierglas weg. »Das hier ist nichts für Sie. Vielleicht einen Schluck Gin auf das alte Mandalay?« Er wendet sich Mister Teleki zu und stützt die Hände in die Hüften wie ein Offizier, der Befehle erteilt. »Zeit für eine 316
kleine Feier, Teleki. Dieser Mensch erinnert sich an das alte Mandalay.« Das alte Mandalay. Merkwürdig, wie frisch manche Erinnerungen bleiben: Sein Bataillon vor den Toren von Fort Dufferin mitten in Mandalay. Er und ein halbes Dutzend Sikhs mit Maschinengewehren kauern rechts und links von einem Tunnel, ein Infanterist sprengt die Stahltüre mit einer PIAT, und dann, als sie nach innen fällt, schleudert ein Pionier einen Sprengsatz ins Innere, wo die Japaner sind, und als das die Verteidiger immer noch nicht aufstöbert, rollen andere Pioniere Benzinfässer hinein und setzen sie mit Leuchtspurmunition in Brand, und endlich kommen die Japaner heraus, schreiend, als lebende Fackeln – aber geschossen haben sie immer noch, bei Gott. Embree schüttelt den Kopf, um diese Bilder loszuwerden und auch als Antwort auf die Frage des Engländers. »Keinen Gin. Bier genügt mir, danke. Ich kann mich auch so an Mandalay erinnern.« »Also Bier, alter Knabe. Da haben Sie aber was abgekriegt.« Er deutet auf Embrees Arm. »Nicht besonders ratsam hier draußen – sich zu verletzen. Erinnern Sie sich an die Wunden von den Nagaschlangen? Zuerst nur eine kleine Beule, aber dann geht sie tiefer, bohrt sich durch die Haut bis auf den Knochen. Und durch den Knochen durch. Viele Jungs hatten das.« Kemp lacht; er hat einen kleinen Hängeschnurrbart, schlechte Zähne, sehr helle Augen – mit einem leichten Silberblick. »Hier abgemustert?« fragt er freundlich. Embree zuckt die Achseln. »Nein, in Indien. Madras.« »Ich mag Madras. Kommt für mich in Indien gleich nach Delhi. Kein Unfall, wette ich.« Embree muß über Kemp lächeln: ein Mann, der von 317
Gewalt nicht genug kriegen kann. »Banditen?« Kemp ist begeistert. »Könnte man sagen.« »Verdammte Diebe und Mörder. Ich weiß Bescheid«, krächzt Kemp. »Aber die sind gar nichts, verglichen mit denen hier in Burma. Verbrechensziffern die höchsten von Asien, höchstwahrscheinlich der ganzen Welt. Werde diese Leute nie begreifen. Geben dir ihr letztes Hemd, aber bringen sich wegen einer Wette beim Hahnenkampf gegenseitig um. Findest du nicht, Teleki, daß sie noch schlimmer geworden sind, seit alle hier nach der Unabhängigkeit verrückt spielen? Jetzt, seit sie die Republik Burma sind – wann war das, Teleki?« »Am vierten Januar, vier Uhr zwanzig morgens«, antwortet der Ältere mürrisch. »Ja, genau. Die ließen von einem dieser Astrologen die Zeit für die Erklärung der Unabhängigkeit festsetzen. Ich war an dem Tag dort. Aung Sans Leiche – Sie wissen, der Mann war schon sechs Monate tot – lag in einem fahnengeschmückten Saal aufgebahrt. Der Gouverneur und sein Stab und so Leute wie ich salutierten, als der Union Jack sich senkte und sie ›God Save the King‹ spielten und die neue Flagge aufgezogen und ihre Nationalhymne gespielt wurde und sie auf den Hornmuscheln bliesen. Alles vollkommen verrückt.« Er lacht und blinzelt Embree zu. »Auf Urlaub?« »Ja. Oder, das heißt, ich bin auf dem Weg nach Bangkok. Dort lebt meine Familie.« »Bangkok. Haben Sie dort Geschäfte?« Mein Leben ist so schwer zu erklären, denkt Embree melancholisch. Er versucht es gar nicht erst, sondern sagt: »Ja. Export.« 318
»Export ist heute eine nette Art, sein Brot zu verdienen. Teleki hier exportiert Edelsteine. Was Anthony Kemp betrifft: Ich bin letztes Jahr aus der Armee ausgeschieden. Wollte eigentlich nach Hause, aber es kam mir alles so –« Kemps lockeres Selbstbewußtsein läßt ihn im Stich; er wirkt verwirrt und unsicher. »Na, Sie wissen schon. Nachdem du dein halbes Leben hier draußen verbracht hast, kannst du nicht einfach einpacken und zurückgehn, nicht? Ich kenne Kerle, die nach Hause gegangen und plötzlich ganz verrückt geworden sind. Vollkommen durchgedreht.« Kemp bricht in schallendes Gelächter aus. »Wenn mir das passieren soll, dann viel lieber hier bei den Burmesen, die alle selber vollkommen verrückt sind. Doch, es muß Mandalay gewesen sein.« »Vielleicht war es bei Fort Dufferin.« »Mag sein. Aber wir kennen uns. Kein Zweifel. Ein Gesicht vergesse ich nie. Tot oder lebendig, ich habe sie alle im Gedächtnis.« »In Thanbyuzayat gibt es einen Friedhof –« Kemps Gesicht drückt sanftes Mitgefühl aus. »Ach so, Sie haben Kumpel hier, die Sie besuchen möchten.« Und dann: »Es wird gut gepflegt, Hecken und alles. Verteidigen es gegen den Dschungel. Gepflegt, ja …« Er spricht leiser. »Der Friedhof liegt etwa fünfundsechzig Kilometer südlich von Moulmein. Man kommt jetzt mit der Eisenbahn hin. Wissen Sie noch: die Züge?« Embree kann sich erinnern: Während des Rückzugs evakuierte die burmesische Eisenbahnverwaltung ihr Personal; als es niemanden mehr gab, der Kupplungen bedienen oder Signale setzen konnte, waren die Züge jederzeit in Gefahr, zusammenzustoßen. Viele Männer mußten sterben, weil sie nicht mit der Eisenbahn herauskamen. 319
»Mein Teleki weiß von diesen Zügen nichts. Er war während des Krieges nicht hier. Verschwand, ehe die Japse kamen.« Mißbilligung klingt in seiner Stimme. Embree dagegen lächelt den untersetzten älteren Mann an, der klug genug war, eine verlorene Stadt zu verlassen. Das Lächeln gefällt Mister Teleki offenbar, denn er beginnt zu sprechen, mit starkem Akzent, aber in korrektem Englisch. Er stammt aus Ungarn. Bei Beginn des Ersten Weltkriegs war er so klug, nach Brasilien zu gehen. Später geriet er nach Osten und ließ sich in Rangun nieder, wo er ein Exportgeschäft für Edelsteine eröffnete. »Die schönsten Rubine und Saphire der Welt kommen aus Burma«, erklärt er mit überraschender Sicherheit in der Stimme. »Er kam auf dem letzten Schiff heraus«, erklärt Kemp. »Noch drei«, sagt er zum Barkeeper. »Für mich nicht«, sagt Embree. Morgen geht er auf den Alliiertenfriedhof in Thanbyuzayat. Aber nicht mit einem Kater. Kemp zuckt die Achseln. »Wollen Sie mit uns zu Abend essen? Das Essen ist furchtbar, aber billig. Wenigstens bekommen Sie von dem Zeug hier keinen Durchfall. Wissen Sie noch, Embree? Wie die Burschen sich den Hosenboden aufgeschnitten haben?« Nostalgisch berührt, lacht er kurz auf – Anthony Kemp, ehemals Gurkhaschütze. Das Essen im Speisesaal des Hotel Strand ist wirklich furchtbar, aber es wird von Kellnern mit Turban und gestärkter weißer Uniform serviert zu den Klängen eines Saing-Orchesters: Trommeln, Gongs und Bambusklappern, Flöte und Xylophon erinnern an das Luxusleben, dem Ausländer hier in der Vorkriegszeit 320
gefrönt haben. Embree bemüht sich, mehr Interesse, als er wirklich hat, an Kemps Geschichten vom Zweiten Bataillon, Siebtes Regiment, zu zeigen. Obwohl nach der Unabhängigkeit Indiens das Siebte der Krone zugesprochen wurde, hatte Kemp sich nicht in Indien pensionieren lassen wollen. »Das Regiment wurde 1902 hier in Burma, in Thayetymo, als das Achte aufgestellt, dann als das Siebte. Also bin ich an den Anfang der Dinge zurückgekehrt, wenn Sie so wollen. Burma ist, wo das Regiment hingehört. Und hier in Burma haben wir unser Bestes getan …« Kemp trinkt inzwischen Brandy, drei rasch nacheinander, und brabbelt die Namen von Gurkhahelden herunter. Teleki raucht still vor sich hin; an seinem ausdruckslosen Blick ist zu erkennen, daß er diese Geschichten schon oft gehört hat. »Sind Sie jemals mit einem kukri umgegangen, Embree?« »Ja, ein paarmal.« Er erinnert sich an die feine Balance der schweren Schneide des geschwungenen Gurkhadolchs. »Eine Axt ist mir lieber.« Kemp hört ihm entweder nicht zu oder glaubt ihm nicht. Er seufzt und erklärt: »Wir waren die Besten von der ganzen Brigade. Wir haben alles ganz anders gemacht als die übrigen, wissen Sie. In unserem Regiment wurde der Kinnriemen von einem Gurkhahelm an der Kinnspitze getragen, nicht unter der Unterlippe. Ganz schön individualistisch.« Teleki rülpst. Embree bestellt sich die zweite Tasse Kaffee; Teleki, der gelangweilt wirkt, tut dasselbe. Warum, fragt sich Embree, kommt der Mann jeden Abend hierher, um Kemps Geschichten anzuhören? 321
Plötzlich steht der Exoffizier auf. »Geht einer mit mir aufs WC?« Als er gegangen ist, wendet Embree sich dem unerschütterlichen Ungarn zu: »Eine Schande, das mit Gandhi, nicht?« »Ja ja, hier müssen wir immer auf solche Sachen gefaßt sein. Denken Sie an die Art, wie Bogyoke Aung San und seine Minister vor der Unabhängigkeit niederkartätscht worden sind.« Teleki scheint froh über die Gelegenheit, sich in Abwesenheit seines Gefährten zu äußern. »Zwei Männer mit Selbstladegewehren stürzten in den Raum und brachten den Premierminister und sieben Kabinettsmitglieder um. Aung San war erst dreißig und hatte noch eine große Zukunft vor sich.« Dann spricht er in präzisem, recht gewähltem Englisch über burmesische Politik. Seine Analyse ist erbarmungslos. Laut Teleki hat die Vertreibung der Briten durch die Japaner im Jahr 1942 das Ende der Kolonialherrschaft in Burma bedeutet. Die Burmesen hatten vor den Europäern keine Angst mehr. Die Bevölkerung hatte erlebt, wie asiatische Bomben die Kolonialherrscher in Stücke rissen, wie sie gefoltert wurden und um ihr Leben flehten, während kleine Asiaten über ihnen hockten und lachten, die Verfügung über Tod und Leben in der gelben Hand. Burmesische Intellektuelle betraten die Rednerbühnen von Rangun ohne Furcht. Das Problem sei nur, daß sie – wie Revolutionäre so oft – über die Unabhängigkeit hinaus kaum ein Ziel vor Augen hatten. Als ihr charismatischer Führer unter den Kugeln der Attentäter zusammenbrach, zerstritten sich daher die verschiedenen burmesischen Fraktionen heftig darüber, wem es zustehe, die Befreiung von der Kolonialherrschaft zu verkünden. Und keine von ihnen hatte eine Vorstellung davon, was danach kommen sollte. 322
Kemp, vom WC zurück, schaltete sich in Telekis Monolog ein. »Das sage ich doch immer. Wir hätten diesen Leuten niemals Englisch beibringen sollen. Die alte Politik war die beste. Man lernte ihre Sprache, aber man brachte ihnen die eigene nicht bei. Beförderung in der britischen Armee hing davon ab, ob ein Offizier Sprachkenntnisse hatte.« Teleki läßt nicht erkennen, ob er Kemps Bemerkungen überhaupt zur Kenntnis genommen hat. »Dieser Tage gärt eine gewisse Aktivität. Die Roten Fahnen, zum Beispiel – eine Gruppe junger Heißsporne –, schicken eine Delegation zum Kommunistischen Kongreß, diesen Monat in Kalkutta –« »Und was wird bei alldem herauskommen?« fragt Embree. »Krieg zwischen den Kommunisten, den Sozialisten, den Veteranen, der Armee. Schwächere Gruppen, die Verlierer, werden Dörfer auf dem flachen Land besetzen und über ihre eigenen kleinen Königtümer herrschen.« »Wie China in den Zwanzigern. Die Warlords«, sagt Embree. »Sie haben kein gemeinsames Ziel mehr, wissen Sie. Am vierten Januar, als sie die Unabhängigkeit bekamen, haben sie das letzte verloren, was sie noch zusammenhielt: eben den Wunsch nach Unabhängigkeit. Aber sie haben auch etwas gelernt: die Bedeutung des Gewehrs. Wenn die Japaner die Briten mit dem Gewehr aus Burma vertreiben können, dann können sie sich auch gegenseitig vertreiben.« »So einfach ist das?« »Ich glaube schon. Zur Zeit ist hier alles zersplittert. Hier geht es nicht um Ideologien, sondern um die Ambitionen einzelner. Zumindest eine Zeitlang. Zum 323
Schluß, befürchte ich, werden sie sich einer Form von Sozialismus zuwenden. Und ich befürchte auch«, fährt Teleki fort und zieht an seiner Zigarre, »die verschiedenen Stämme wie etwa die Chin oder die Karen werden alle miteinander jahrelang für politische Schwierigkeiten sorgen. Sie haben ihre eigene Sprache und Gebräuche und Gebiete, also geht Unabhängigkeit sie auch etwas an. Dieses Land gehört zu den unruhigsten der Welt.« Teleki seufzt tief auf. »Die Burmesen sind politisch rücksichtslos. Zur Zeit ist fast die Hälfte der Parlamentsmitglieder im Gefängnis oder im Aufstand. Man muß aber die Gründe dafür kennen.« Er hält einen Moment inne. »Erst 1923 konnte ein Burmese britischer Beamter werden. Die Engländer« – noch eine Pause, aber ohne einen Blick auf den englischen Exoffizier ihm gegenüber – »haben lange gebraucht, ehe sie zugaben, ein Burmese habe die Intelligenz, vom Recht ganz zu schweigen, dem Empire zu dienen. Es kam zu einer Reihe von Streiks und Aufständen, die zum Teil grausam von den Engländern unterdrückt wurden. Da muß doch der einfache Mann, etwa ein Bauer, nach Pearl Harbor und den ersten japanischen Erfolgen gedacht haben: Einer der unsern ist also imstande, die Weißen mit ihren eigenen Mitteln zu schlagen! Natürlich hat die Brutalität der Japaner diesen ersten Eindruck zunichte gemacht, aber so war es doch sicher?« »Glaube ich auch«, stimmt Embree eifrig zu. »Nun«, sagt Teleki, legt die Zigarre im Aschenbecher ab, seufzt und winkt einem Kellner mit Turban. »Ich muß jetzt gehn.« Nachdem der dicke Ungar gegangen ist, bleibt Embree mit Kemp am Tisch sitzen, der sich noch einen Brandy bestellt 324
hat. »Teleki ist ein außerordentlicher Mann«, bemerkt Embree. Kemp lacht und trinkt. »Ein besonderer Bursche, das stimmt. Hat sein Englisch in Brasilien gelernt. Ließ täglich einen Lehrer kommen. Wußte gar nicht, ob er es brauchen wird. Hat es einfach gelernt und ein halbes Dutzend anderer Sprachen dazu. Seine Frau starb letztes Jahr an einem Fieberrückfall.« »Ach, wirklich?« »Ja – sie standen sich sehr nahe. Keine Kinder. Waren immer zusammen. Hat es aber gut verkraftet. Teleki ist kein schlechter Kerl, aber schrecklich geizig.« »Geizig?« »Mit Geld, Junge. Natürlich hat er hier mit burmesischen Edelsteinen ein Vermögen gemacht. Reich wie Krösus. Und kinderlos. Der alte Teleki weiß gar nicht, was er mit alledem anfangen soll. Aber was hat er gemacht, als ich mir ein kleines bißchen leihen wollte: Abgelehnt hat er. Nicht ›Mal sehn, alter Junge‹ oder wenigstens höflich. Ein plattes ungarisches Nein.« Kemp schüttelt überaus verwundert den Kopf. Beide sagen lange nichts, und Embree beschließt, aufzubrechen. Teleki hat für seinen Teil der Rechnung Geld hingelegt, also zieht Embree die Brieftasche heraus und legt den gleichen Betrag in Kyats dazu. Kemp lächelt schwach und hebt sein Glas wie zu einem Toast. »Schaun Sie, alter Junge, ich bin ein bißchen knapp.« »Schon in Ordnung.« Embree legt noch etwas für Kemps Anteil hin. »Bei Gott, jetzt hab’ ich’s!« Embree blickt den Mann an, der aufgeregt an seinem 325
Schnurrbart zupft. »War nicht Mandalay. War Kalewa.« »Ja, da war ich.« Kemp lehnt sich entschlossen vor, mit beiden Unterarmen auf dem Tisch. »Wir waren auf einer Fähre zusammen. Die kriegte vorn eins ab. Hat ein paar Gloucesters zerfetzt, die sich im Bug zusammengekauert hatten. Wissen Sie noch? Wir waren im Heck. Sie haben sich um einen jungen Burschen gekümmert.« »Einen Koylie.« »Stimmt. Malaria. Sie haben ihn gepflegt. Hat er’s geschafft?« »Ja –« Embree zögert. »Aber später hat’s ihn erwischt?« »Ja, richtig.« Kemp schüttelt düster den Kopf. »Daran hab’ ich mich verdammt nie gewöhnen können: Burschen, die ein Ding überleben und beim nächsten draufgehn.« Kemp lacht unglücklich, dann beugt er sich näher zu Embree. »Ich sag’s Ihnen frei heraus. Ich brauche Geld. Ich hab’ vor einiger Zeit mit ein paar Burmesen gespielt und eine Menge verloren. Viel zuviel. Ich bin in ihrer Schuld, und wie Sie wissen, verstehen die keinen Spaß.« »Wieviel?« fragt Embree rasch. »Denken Sie, ich würde Sie fragen –« »Schon gut. Bitte. Wieviel?« Embree hat die Brieftasche herausgezogen, die Szene widert ihn an. »Nein, hören Sie zu. Sie hören nicht zu«, sagt Kemp leise und ärgerlich. »Ja, sorry. Ich höre.« »Ich wollte bloß sagen, schaun Sie, ich würde nicht 326
jeden fragen, der hier hereinkommt. Ich dachte, wir hätten etwas gemeinsam. Wie ich sagte, es ist ein Notfall.« »Ja, ist mir klar.« »Ja? Da bin ich froh, alter Junge. Wirklich froh. Denn wenn ich denken müßte, daß Sie nicht –« »Doch.« Embree hält die Brieftasche in beiden Händen. »Na, wenn Sie das so sehn, Yank, ich könnte fünfzig Quid gut gebrauchen.« »Ich habe keine englischen Pfundnoten. Und fünfzig kann ich nicht entbehren.« Kemp zuckt die Achseln und lehnt sich im Stuhl zurück. Er sieht jetzt älter aus als früher am Abend. Sie einigen sich auf fünfundzwanzig britische Pfund in burmesischer Währung. Der Abend ist zu Ende. Sie stehen am Tisch und verabschieden sich mit einem knappen Händedruck. Einen Augenblick schaut Kemp noch Embree an. »Hab’ zuviel falsch gemacht, um jetzt noch was dran zu ändern. Mußte den Dienst quittieren. Kriegte einen Tritt. Ich bin ein Trinker und Spieler. Aber wir alle haben was geleistet damals, zweiundvierzig. Wir haben neunhundert Meilen durch feindliches Gebiet hinter uns gebracht. Andere Armeen haben so was auch gemacht, natürlich, aber bei diesem Rückzug brachten wir Engländer unsere Waffen mit heraus. Die meisten von uns. Als ich nach Imphal kam, brach ich Würmer, einen ganzen Eimer voll, aber ich hatte meine .303 SMLE in der Hand. Das kann mir niemand nehmen. Gute Nacht, Sir. Danke, Sir, und gute Nacht.« Anthony Kemp, vormals Gurkhaschütze, macht kehrt und marschiert zackig aus dem Speisesaal des Hotels Strand. Im Lift zum vierten Stock denkt Embree: Einsamkeit 327
bringt Leute zusammen, die besser nicht zusammenkämen. Als Embree die Zimmertür öffnet, springt Rama von einem der Doppelbetten auf. Embree gefällt das Verhalten des jungen Inders nicht – er steht in der Ecke, mit gesenktem Kopf, nackt bis auf sein Lendentuch. Embree hatte von vornherein beschlossen, Rama sei zwar bei ihm angestellt, nicht aber als unterwürfiger Diener. Dieser junge Inder muß erst noch lernen, was Unabhängigkeit eigentlich bedeutet. So dachte Embree. Aber am Empfang des Hotels hatte ein Angestellter seinen Abscheu gegen ein Arrangement, das einem indischen Diener erlaubt, mit seinem Master ein Zimmer zu teilen, so offen gezeigt, daß Rama nun zum alten Verhältnis aus Kolonialzeiten zurückgekehrt ist. »Wenn ich hereinkomme, Rama, dann brauchst du nicht gleich entsetzt aufzuspringen.« »Ja, Master.« »Denk dran, ich habe dich gebeten, als mein Helfer, als mein Begleiter mitzukommen. Du hilfst einem Mann mit einer gebrochenen Schulter, nach Hause zu kommen. Verstanden?« »Ja, Master.« »Du willst mich unbedingt ›Master‹ nennen. Ich nehme an, du fühlst dich wohler dabei, ich weiß nicht. Aber hör auf, herumzuspringen, als wäre ich ein Maharadscha. Verstanden?« »Ja, Master.« Embree geht zu der Kommode hinüber, die durch die feuchte Hitze schief und geborsten ist. »Was ist denn das?« Vor ihm liegt eine fußlange Gipspuppe mit blonden Locken, roten Lippen und einem weißen Tüllkleid. »Hab’ ich auf dem Markt gekauft«, sagt Rama stolz. 328
»Für wen?« Ramas Gesicht verdüstert sich kurz. »Für eine Nichte. Schick ich meiner Nichte in Kumbakonam.« Eine Freundin in Madras, denkt Embree. »Und die da?« Er nimmt einen von zwei Spielzeugsoldaten aus Blech in die Hand: ein Schotte in der Aufmachung der Hochlandregimenter. Zweifellos haben diese Figuren aus der Vorkriegszeit dem Kind eines englischen Provinzbeamten gehört. »Für meine Neffen, auch in Kumbakonam.« Embree dreht sich in der Badezimmertür noch einmal um und fragt: »Hast du heute abend wirklich für Gandhi gebetet?« Rama nickt heftig. »Gandhi hat nicht den richtigen Kopf gehabt, aber er war ein guter Mann.« Und nach einer Pause: »Und er gab uns unser Land.«
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E
in schöner Sonntag in Bangkok: einer dieser wolkenlosen, milden Tage, ehe die glühende Hitze des Spatfrühlings, die Wolkenbrüche des Sommers hereinbrechen. Zur Feier eines solchen Tages macht Vera einen Spaziergang mit Wanna wie viele Leute in der Stadt. Wanna scheint nicht sehr begeistert zu sein, aber Vera geht mit ihr zuerst zum Wat Phra Keo. Vera betrachtet lange die Fresken mit den Szenen aus dem Ramakien im Kreuzgang, doch Wannas Blicke schweifen ab zum Leben ringsum: ein Kind, eine Familie, ein paar Schulbuben, ein Mann. Ein gutaussehender Mann. Das lenkt sogar Vera von den Malereien ab, und sie fragt sich, was ihre hübsche Begleiterin wohl sieht, den Kopf zierlich zur Seite geneigt, den Mund herausfordernd geöffnet, wie Vera findet. Es heißt schon etwas, daß die Wandgemälde überhaupt mit dem Mädchen um Veras Aufmerksamkeit konkurrieren können. Die Szenen des Ramakien entfalten sich auf über hundert großen Feldern: Schlachten mit goldenen Wagen und Bogen, elegante Krieger in stilisierten Bewegungen, Dämonen, die mit Humor gestaltet sind. Wenn der Krieg nur so wäre wie im Ramakien und Gut und Böse nur eine Angelegenheit der Kunst, denkt Vera. Heute morgen hat sie vom Tod Gandhis gelesen. Politische Ereignisse interessieren sie kaum, aber diese Nachricht beunruhigt sie, nicht nur, weil Gandhi ein großer Mann war, sondern weil dies ein Vorbote von weiteren Gewaltakten ist. Sie vermutet stark, daß Kommunisten hinter dem Attentat stehen. Jemand hat ihr kürzlich von einem Staatsstreich in der Tschechoslowakei erzählt. Wieder die Bolschewisten. Vera bleibt bei der 330
überholten Bezeichnung für die Leute, die ihre Familie aus Rußland vertrieben haben. Als nächstes wird es hier in Bangkok Attentate geben. Bolschewisten verteilen Propagandaflugblätter auf den Kanälen. Sie hat Sonja gesagt, sie solle dem Fluß fernbleiben, aber das Mädchen hat bloß gelacht – ein schrilles, fast hysterisches Lachen. Was ist nur los mit ihrer Tochter? Während Vera auf ihrer Geschäftsreise im Norden war, hat Sonja sich den Daumen gebrochen. Als Vera gestern aus Chiang Mai zurückkam, fand sie Sonja am Frühstückstisch mit wütendem Gesicht vor einem Teller gedünstetem Reis und gesalzenem Fisch vor, von Nipa zum Heilmittel für Schmerzen im Daumen erklärt. Er war dick wie eine Rübe, hochrot und schmerzhaft. »Wie ist denn das passiert?« wandte sich Vera erst an Nipa, die nur die Hände hochhob, und dann an Ah Ping, die mit den Achseln zuckte. »Was hast du gemacht?« fragte sie dann Sonja. »Ach, nichts. Bin hingefallen. Ich esse keinen Reis mit gesalzenem Fisch. Nipa weiß, daß ich das hasse.« Wie kann sich ein Mädchen den Daumen brechen, außer sie ist äußerst unvorsichtig? Vera kann sich nicht vorstellen, noch mal so jung zu sein, als sie den Kreuzgang verläßt. Sie schaut Wanna an und bemerkt eine Spur von Schweiß auf der Stirn des Mädchens. Sie wirkt dadurch zerbrechlich, verletzlich. So sind die jungen Frauen, denkt Vera betrübt. Jenseits des heißen Marmorhofs, im blau gekachelten Bot, residiert der Smaragdbuddha. Vera würde ihn gern in der Robe dieser Jahreszeit sehen – pures Gold –, aber Wanna schneidet ein Gesicht zu diesem Vorschlag. Vera 331
lenkt sofort ein: »Dann gehn wir eben, Darling«, sagt sie in Thai bis auf das englische Kosewort. Für Zärtlichkeiten verwenden sie oft Englisch zum Spaß: »my sweetheart, my honeybunch, my beautiful doll« – meist von Wannas Seite. Langsam begreift Vera, wo sie das herhat. Zweifellos von amerikanischen Soldaten, die Bangkok überschwemmten, als Wanna nach dem Krieg zum erstenmal hierherkam. Daß Wanna damals eine Prostituierte gewesen sein könnte, nimmt Vera nicht so wichtig; hingegen hütet sie sich, von ihrer eigenen Vergangenheit in Schanghai zu sprechen. »Nahng Vera! Können wir jetzt gehn? Habe ich nicht schon lange genug herumgewartet?« Vera ist über den offenen Ärger des Mädchens verblüfft. Das ist unsiamesisch, das ist auch nicht die Wanna, die sie kennt. »Verzeih. Wir gehn sofort.« »Sie sind wie ein Tourist, Nahng Vera. Sie sehen alles zum erstenmal.« »Ja, das hoffe ich. Aber bitte, nenn mich nicht Nahng.« »Mrs. Vera« genannt zu werden gibt ihr das Gefühl, eine alte Matrone zu sein, und Wanna weiß das natürlich genau. Wie ein Flüchtlingslager, denkt Vera. Sie gehen unter schattigen Tamarinden am äußeren Rand des Phra-ManePlatzes beim Königspalast vorbei. Sie wollen zusammen den Markt erleben, wo Pythonschlangen verkauft werden und Kräutermedizinen für ein langes Leben. Vera besteht darauf, daß sie o-liang trinken, Kaffee mit Eis, und beobachtet glücklich, wie Wanna ihn genießt. Ich will nicht zuviel von ihr erwarten, denkt Vera und schlürft den o-liang, während das Mädchen sich noch einen bestellt. Sie ist jung, und wenn sie sich jemals einen anderen Liebhaber nimmt, ob Mann oder Frau, dann 332
werde ich damit auch fertig. »Bist du glücklich?« Sie berührt Wannas Arm mit der Fingerspitze. »Tee rahk.« Das Mädchen nickt, für Vera eine zu kühle Reaktion. Aber: Mai pen rai. Das Mädchen ist jung. »Komm, wir schaun mal, was es hier zu essen gibt«, erklärt sie mit aufgesetzter Fröhlichkeit und geht voraus, der Mitte des riesigen Marktes zu, wo die Stände mit Lebensmitteln sind. Während sie sich durch die Menge schieben, verfolgt sie der Gedanke an den Hang der Siamesen, sich in einer Folge leichter Affären von einem Liebhaber zum nächsten treiben zu lassen. Das ist nicht ihre Art. Nacht für Nacht mit Matrosen in einem Bordell hatte ihr nicht soviel ausgemacht, wie einige Zeit mit einem Mann zu leben und dann verlassen zu werden. Und als sie schließlich Schan-teh gefunden hatte, war Furcht das einzige, was sie aus seinen Armen reißen konnte. Das Mädchen denkt an ganz andere Dinge. Ihr Blick schweift über die Menschenmenge, die Kisten und die Geräte, die an den Zeltstangen hängen, den treibenden Rauch von den Woks, den großen Metalltöpfen. Sie treten kurz aus einer schmalen Gasse heraus und stoßen auf eine Menge, die sich um einen Mann mit ein paar kleinen Weidenkörben und einem zerbeulten Koffer drängt. Sie weiß, was das bedeutet, und schwenkt deshalb in eine andere Gasse ein. In den Körben hat er Kobras und Mungos, im Koffer verschiedene Heilmittel. Vera will nicht mitansehen, wie er die armen Geschöpfe quält, um einen Zaubertrank zu verkaufen, der bäuerlichen Besuchern zu tagelangem Bauchweh verhilft. Vor sich sieht sie die wackeligen Theken mit allen nur möglichen Arten von Fisch im Ganzen, gedörrt und in 333
Streifen geschnitten, und Garnelen, dekorativ in Mustern angeordnet. Dahinter kommen die Abteilungen für Fleisch, Gemüse und Gewürze, alles schön aufgebaut. Es ist Spargelzeit, und überall häufen sich die Stangen. Weiter hinten schmort allerhand in riesigen Woks. Der Duft von gewürztem Schweinefleisch weht Vera entgegen, und sofort spürt sie den überwältigenden Hunger, der sie in letzter Zeit so oft überfällt. »Gehn wir erst zu den Blumen!« Wieder die übertriebene Fröhlichkeit. Sie möchte dem Eßbaren wenigstens vorläufig aus dem Weg gehen. »Schau mal!« Sie deutet auf eine entfernte Plane, von deren Zeltstangen Körbe mit Orchideen hängen. Wanna lächelt bei dem Anblick. Warum bringe ich es nicht fertig, daß sie so glücklich lächelt? Diesmal geht Wanna voran; ihre knabenhaften Hüften im Sarong meiden zierlich den Körperkontakt mit den Menschen, die ihr in der Menge entgegenkommen. Plötzlich bleibt sie stehen, mitten im Strom, wird geschubst. Was ist passiert? fragt sich Vera. Hat sie einen Mann gesehen, den sie kennt? Vera taumelt vorwärts, holt sie ein. »Was ist?« Wanna dreht sich zu ihr um und sagt leise: »Deine Tochter. Ich habe deine Tochter gesehn.« »Sonja?« Vera lächelt. »Gut. Sie kann ja mitkommen.« »Gern, Nahng Vera.« Vera tritt an den Rand des Gedränges und verrenkt sich den Hals nach ihrer Tochter. »Da ist sie«, sagt Wanna ruhig. »Da. Siehst du? Gleich da drüben.« 334
Endlich entdeckt Vera sie. Es ist wirklich Sonja in einem über der Brust enganliegenden Cheongsam und hoch, fast bis zu den Hüften, geschlitzt. Neben ihr ein magerer junger Mann in Hosen und weißem Hemd. Er könnte ein – ja, was könnte er sein? Wer ist das, was macht er mit ihr auf dem Markt, schlendert einfach so dahin, als wären sie ein Paar wie zahllose andere Paare? Zu Wanna sagt sie: »Wer ist das?« »Ich weiß nicht, wer das ist, Nahng Vera.« »Chinese?« »Könnte sein, Nahng Vera.« »Was macht er wohl mit ihr?« »Spazierengehen, Nahng Vera.« Vera dreht sich so schnell um, daß sie eben noch das Amüsement in den Augen des Mädchens auffängt, ehe ihr Blick leer wird. »Wahrscheinlich ein Student«, vermutet Vera. »Ganz sicher, Nahng Vera.« »Hör auf, mich so zu nennen! Ja, ein Student. Ich glaube, ich kenne ihn.« »Ich geh’ die beiden holen.« Wanna tritt vor, aber Vera hält sie am Arm fest. »Nein.« »Bist du sicher, Vera, Süße?« »Laß sie in Ruhe. Sie sprechen sicher über Kunst. Er ist einer von den Studenten. Sie hat ihn erwähnt.« »Gehen wir erst zu den Orchideen oder zu den Essensbuden?« »Was du willst.« »Dann zu den Orchideen«, erklärt Wanna. 335
Vera geht hinter dem Mädchen her. Bei den Orchideen angelangt, hat sie ihre ganze Selbstbeherrschung wieder. Warum sollte ein Mädchen in Sonjas Alter nicht mit einem jungen Mann Spazierengehen? Aber sie hätte es mir sagen können, denkt Vera. Im nächsten Moment bleibt sie stehen, von einem dumpfen Schmerz in der Brust überfallen. Die Menschen in der schmalen Gasse schieben und stoßen sie, aber sie kann sich nicht vom Fleck rühren. Ein paar Augenblicke fühlt sie nichts als den Schmerz, der sich von der Brust in die Schulter ausdehnt. »Ist dir nicht gut, mein Herz?« Sie erkennt Wanna, aber nur verschwommen. »Du schwitzt.« Sie zupft an Veras Bluse, als wolle sie prüfen, wie feucht sie ist. »Ja. Ich … fühle mich ein bißchen schwach.« Schwach klingt auch ihre Stimme, als Wanna sie am Ellbogen aus der Gasse führt. Vera blickt betäubt auf das muntere Geschehen rundum, jenseits von ihrem Schmerz; sie ist ganz auf das konzentriert, was in ihrem Körper geschieht. Das hat sie in letzter Zeit schon öfter gehabt. Kann es das Herz sein? Nein, sie ist zu stark. Ist sie nicht über die vereiste Tundra marschiert? »Besser?« fragt Wanna mit einem Lächeln. Vera blickt in die dunklen Augen, in denen keine Liebe ist. Sie wird mich verlassen, denkt Vera. Und wenn sie auch nur entfernt so ist wie ich in ihrem Alter, wird sie warten, bis sie jemand hat, der mich ersetzt. »O ja, ist schon besser.« Es stimmt auch. Sie wischt sich mit einem Taschentuch die Stirn. Der Schweiß ist kalt. Nach einer Minute sagt sie mit derselben falschen Fröhlichkeit: 336
»Laß uns gehn. Es ist nur die Hitze«, und fügt auf englisch hinzu, als hätte Wanna ihr geholfen: »Danke, meine Süße.« Am späten Nachmittag wartet sie auf der Uferterrasse des Hotels Oriental auf Jim Thompson. Sie haben eine Verabredung, und trotz Müdigkeit und des kleinen Schreckens auf dem Wochenendmarkt will Vera sie einhalten. Abgesehen von einer Blutung nach einer Abtreibung, war sie noch nie im Leben ernsthaft krank. Keiner konnte 1919 den Treck aus Rußland überleben, der nicht vom stärksten Schlag war. Sie wird sich nicht verhätscheln. Was sie braucht, ist Gemütsruhe. Vielleicht nimmt sie die Kalligraphie wieder auf wie in Schanghai oder übersetzt wieder chinesische Lyrik. All diese Gewohnheiten fielen weg wie Besitztümer, die man auf einem grausamen Marsch wegwirft, als sie mit Philip Embree nach Hongkong floh und alles zurückließ, was ihr lieb war. Alles außer dem Köfferchen mit den Antiquitäten, die sie über die Jahre in China gesammelt hatte – wertvolle Gegenstände, mit ihrem Körper und ihrem Charme bezahlt. Und diese Gegenstände ermöglichten ihr dann, ihr eigenes Geschäft aufzumachen. Für diese Chance hatte sie Philip zu danken. Bis dahin hatte sie sich auf Männer verlassen müssen, um harte Zeiten zu überstehen, aber Philip – ach, Philip, zur Apathie verurteilt, wenn er keinen Krieg zu kämpfen hat, Übersetzer von Frachtrechnungen, verheiratet mit einer Frau, die immer noch in einen Toten verliebt ist … Armer Philip, er versank in seine Träume, und dadurch konnte sie sich entfalten. Sie ist stolz auf ihren praktischen Verstand mittlerweile, aber von wem sie ihn geerbt hat, ist ein Rätsel. Vielleicht 337
von der Familie ihrer Mutter. Von den Rogatschews bestimmt nicht, die keine Werte anerkannten, die ihnen nicht feierliche Erklärungen von Glauben oder Patriotismus abverlangten, und die jedes pragmatische Vorgehen scheuten. Ab und zu entdeckt sie an Sonja Symptome der Rogatschew-Krankheit. Zuerst waren sie ihr vor ein paar Jahren aufgefallen, als es den Skandal um das Kreuz gab. Sonja hatte sich geweigert, ihr Kreuz um den Hals zu tragen, weil die Kirche Jeanne d’Arc betrogen und im Stich gelassen hatte. Das Mädchen fand einen Protest gegen etwas, was vor fünfhundert Jahren geschehen war, keineswegs unvernünftig. Diese Art von launischem Idealismus war bezeichnend für Sonjas Großvater, der ein Leben lang gegen Windmühlen angerannt war, bis er auf der Flucht vor den Bolschewiken starb – starb, weil er zu langsam floh, damit es nicht nach Flucht aussehen möge. Vielleicht hat sie ihrer Tochter zu viele russische und auch chinesische Legenden überliefert, gefiltert durch die Phantasie einer stolzen Mutter. Vielleicht weckten solche Geschichten in Sonja einen närrischen Stolz und den gefährlichen Wunsch, ihren Heldengestalten wie ihrem Vater oder Jeanne d’Arc nachzueifern. Und so habe ich meinen Teil dazugetan, denkt Vera reuevoll, wenn das Mädchen eine Leidenschaft für den Gegensatz, das Einzigartige, die Rebellion entwickelt hat. Denn diese Kühnheit ist neueren Datums. Als kleines Kind war Sonja ernst, vorsichtig und ängstlich, ein kleines Mädchen, das sich oft umstellen mußte. Erst hier in Bangkok, in dem Haus, wo sie sich seit längerem geborgen weiß, begannen wilde Geschichten, Sonja den Pfad von Trotz und Gefahr zu weisen. Vera bestellt sich einen frisch gepreßten Zitronensaft. 338
Sie will jetzt nicht an Sonja und diesen Knaben denken. Nichts gegen einen hübschen Spaziergang an einem schönen Nachmittag. Sonja kann nicht durchs Leben gehen, ohne Männern zu begegnen. Trotzdem fühlt Vera, wie tief ihre Sorge um Sonja inzwischen reicht. Ihr eigenes Leben hat ihr solche Ängste nahegelegt, weiß Gott. Es vergeht kaum ein Tag, an dem sie nicht an irgendeine Einzelheit eines früheren Liebhabers erinnert wird. Woran sie denkt, ist oft bedeutungslos – eine Tätowierung, ein hinkender Gang, der widerliche Geruch von Pomade –, aber manche Tage bringen auch andere, erschütternde Bilder: Brutalität und Erniedrigung blitzen in ihrem Bewußtsein auf. Vera spürt, wie ihre Finger zittern, in denen sie das Glas hält. Sie zieht die Hand in den Schoß zurück und blickt über den Rasen zum Fluß und zum gegenüberliegenden Ufer hinüber, wo Thonburi liegt. Die Sonne beginnt, über den Booten und den Hütten am Ufer unterzugehen. Der Fluß ist hier schmal und kräuselt sich in der Brise, wie sie in der kühlen Saison frisch durch Bangkok weht. An den Tischen haben erst wenige Leute Platz genommen und lassen Vera die volle Sicht. Dies ist einer von Veras Lieblingsplätzen in Bangkok; sie freut sich, daß Jim Thompson ihn für ihre Verabredung vorgeschlagen hat. Die Sonne verschwindet jetzt hinter dem Gewirr der Hütten und läßt eine Linie von dämmerigem Rosa zurück, der Farbe welkender Rosen. Das Orchester für den Abend, Gongs und Xylophone, nimmt auf dem Rasen Platz. Vera schaut zum Himmel auf und beobachtet aufmerksam, wie sich das schwindende Licht zerstreut. Im Süden hängt ein Viertelmond, als wolle er jeden Augenblick klirrend auf die metallische Wasseroberfläche fallen. 339
»Zusehen, wie der Mond seine Seele badet.« So hat Schan-teh einmal zu ihr gesagt. Er verhalf ihr zu einem anderen Verhältnis zum Mond. Jahrelang hatte sie das kalte, silbrige Licht gehaßt, das die Gesichter der Toten auf der vom Wind gefegten Tundra Sibiriens beleuchtet hatte. Der Mond hatte Tod bedeutet, bis Schan-teh sie zur Betrachtung seiner Schönheit, zu seiner Bedeutung für die Liebe zurückführte. Er liebte die Schönheit so! Und zusammen saßen sie im Mondlicht vor den hohen, vielfältigen Tai-Hu-Steinen in einem chinesischen Garten. Eine gute, eine beruhigende Erinnerung. Es ist gut, am Leben zu sein, sagt sie sich. Der ausgehende Tag hat sie in eine Stimmung ruhiger Aufnahmebereitschaft versetzt. Inzwischen sind mehr Tische besetzt, von Ausländern, Geschäftsleuten oder Touristen. Sie hatte sich sehr bemüht, Sonja davon zu überzeugen, daß sie das kleine Elfenbeinkreuz tragen könne, ohne die Jungfrau zu verraten, aber das Mädchen gab nicht nach. War das eine Art spiritueller Bindung, wie eine von Sonjas Lehrerinnen – eine schüchterne Französin – vermutete? Das Mädchen benahm sich wie ein Soldat, der eine Stellung verteidigt, nicht wie jemand, der von Gott erfüllt ist. Was Vera selbst betrifft, so weiß sie, daß sie geistigen Dingen wenig Zeit gewidmet hat. Vielleicht deshalb, weil ihr Glaube beständig war, unabänderlich, ein sanfter Pulsschlag in ihrem Herzen, eine alltägliche Gabe wie Essen und Schlafen. Ihr Leben war oft turbulent, aber der Glaube an Gott hat sie nie verlassen. Als Kind hatte man Sonja gelehrt, an Christus zu glauben, aber in diesen asiatischen Ländern, ohne all die Bilder und Töne, die den christlichen Glauben leicht und überzeugend machen, muß ihr das sehr künstlich erschienen sein, umgeben von einer Fülle von Göttern, 340
von siamesischen Buddhadarstellungen. Vera hatte gehofft, die Klosterschule werde die Lösung sein, aber die Lehrer, meist Siamesen, wichen doktrinären Problemen aus, und die ausländischen Lehrkräfte ließen sich vom trägen Frieden Siams einlullen und beschränkten sich meist auf das gemeinsame Gebet in der Aula. Habe ich mein Kind verdorben? Die Frage scheint falsch gestellt zu sein. Vera lacht über sich selbst. Sie versucht immer noch, ihre dramatischen Befürchtungen auf humorvolle Übertreibung zu reduzieren, als ein Kellner ihr mitteilt, in der Lobby warte jemand auf sie. Es ist Ah Fing, ihre schweren Augen blitzen vor Neugierde. »Oh, Mistress, das kam für Sie. Ich habe es selbst gebracht, so schnell ich konnte.« Vera nimmt der alten Teochiu ein Kuvert ab. »Ist meine Tochter schon zu Hause?« »Miss ist noch nicht zu Hause.« Vera gibt ihr das Geld für die Rückfahrt auf dem Boot, obwohl Ah Ping über einen Betrag für solche Dinge verfügt. Die alte Frau wartet noch, ob Vera den Umschlag vor ihr öffnen wird, aber Vera schickt sie weg. Sie begibt sich wieder an ihren Tisch, das Kuvert bleibt ungeöffnet. Es muß von Philip sein. Er ist wütend, weil ich nicht nach Indien will. Gut, denkt sie. Gleichzeitig ist sie betrübt, denn dies bedeutet sicher das Ende ihrer Beziehung. Dieses Ende ist etwas, worüber sie noch nie wirklich nachgedacht hat. Nicht einmal während des Krieges, als sie oft lange Zeit nichts von ihm hörte. Irgendwie sind sie verbunden, das hat Vera immer geglaubt. Vera schaut auf die schattenhaften Figuren auf dem 341
Fluß, die Boote mit den stehenden Ruderern im Heck. Die Luft ist jetzt kühler und setzt den Duft der Blüten frei: Jasmin und Rosen. Die Abendgerüche wehen herüber, auch vom Fluß. Sorgfältig öffnet sie den Brief. Das Telegramm ist verstümmelt, und es dauert eine ganze Weile, bis sie den Sinn der Mitteilung herausgefunden hat: WENN DU NICH ZU MIR KOMM KAN ICH KOM ZU DIR STOP XKUNFT PER TELEGRA VON STOP STOP ÜBERR BURA LOBEGRUSS PHILIP Fast so, wie Sonja früher Englisch schrieb – und es beinahe jetzt noch tut. Vera lächelt. Sie ist froh. Er kommt. Wenn ich nicht zu ihm komme, kommt er zu mir. Was macht er in Burma? Und warum kommt er überhaupt, nachdem ich ihm rundheraus gesagt habe, daß zwischen uns nichts mehr zu retten ist? Das hab’ ich doch? überlegt sie. Sie kann die Gefühle nicht ordnen, die seine unerwartete Antwort in ihr weckt. Sie wird nicht mit ihm schlafen, wenn er aufkreuzt. Das steht fest. Aber ihre Gefühle sind komplizierter als die Weigerung, mit einem Mann ins Bett zu gehen, mit dem sie schließlich schon seit zehn Jahren nicht geschlafen hat. Sie braucht ihn, das ist es in Wirklichkeit. Diese Einsicht überkommt sie, als sich der Himmel verdunkelt – brandrot jetzt, das Purpurrot einer Wunde. Das gereizte Rot von Sonjas gebrochenem Daumen: Sie wird nicht ins Ausland gehen und studieren, es geht irgendwie abwärts mit ihr, und heute war sie in einem Hurenkleid mit einem Jungen unterwegs. Vielleicht wird Philip hier wirklich gebraucht. Sonja selbst hat den Wunsch ausgesprochen, ihn wieder hierzuhaben. Die beiden haben sich immer vertragen. Natürlich war er nie ein Vater, aber doch ein Freund oder ein Onkel vielleicht. Sie sprachen gern miteinander, erinnert sich Vera, und 342
hatten wahrscheinlich auf kindliche Art ihre Geheimnisse. Helfen soll er, aber schlafen wird sie nicht mit ihm. Sie schaut von ihrem Glas auf und erkennt Jim Thompson, untersetzt und mit dünnem Haar, wie er über die Terrasse herankommt. Er trägt einen leichten Anzug mit Krawatte; offenbar hat er wichtige Leute getroffen. Vera weiß, wieviel ihm das bedeutet. Diese Ungekünsteltheit ist etwas, was sie an ihm mag. Er beugt sich nieder und küßt sie auf die Wange, wie das amerikanische Geschäftsleute machen: ein richtiger Kuß, der eine kühle Feuchtigkeit zurückläßt. »Ich habe Neuigkeiten«, verkündet er fröhlich, und Vera lehnt sich zurück, um zuzuhören – sie ist froh, daß er ihre quälenden Gedanken unterbricht. Jim erklärt, daß das Seidenprojekt sich »sprunghaft« entwickelt. Der extravagante Ausdruck paßt genau zu dem jungen Amerikaner. Doch der Inhalt seiner Mitteilung ist nicht nur jungenhaftes Gerede; Jim und sein laotischer Assistent haben planmäßig waschechte Farben in allen Webereien von Bangkok eingeführt. Außerdem zeigen sie den Moslemwebern, wie man mit den Füßen betriebene Webstühle bedient. Und Jims Finanzberater hat in den letzten Tagen noch mehr Einlagen aufgetrieben. So sind die Kalifornier. Kalifornien. Sie überlegt, ob dieser Kalifornier Sonja vielleicht helfen kann, von der Stanford University aufgenommen zu werden. »Glauben Sie mir, Ihre fünfzig Anteile sind sicherer als die Bank von England«, protzt Jim. »Innerhalb von sechs Monaten ist die Jim Thompson Silk Company über das Vorbereitungsstadium hinaus.« »Das freut mich.« Sie droht ihm scherzhaft mit dem Finger. »Ich habe schließlich eine Tochter großzuziehen.« 343
»Geben Sie mir ein paar Jahre, und Sie können ein Dutzend Töchter großziehen. Einen Scotch für mich«, bedeutet er dem Kellner und lehnt sich zurück, die Daumen unter dem Gürtel eingehakt, ein Bild der Selbstzufriedenheit. »Ich stelle auch neue Muster für den Handdruck zusammen.« Er zündet sich eine Zigarette an und blickt ihr direkt in die Augen. »War sie da?« »Wer?« »So eine Amerikanerin. In Ihrem Laden. Sie suchte nach Antiquitäten, also schickte ich sie hin.« Vera lacht. »Ach, ja – die Amerikanerin. Zuerst wollte sie Ban-Go-Noi-Keramik aus Si Satchanalai sehn, aber bitte nur tadellose Stücke! Wie hat sie sich das vorgestellt, woher soll ich solche Stücke aus dem vierzehnten Jahrhundert bekommen? Ich würde meinen rechten Arm für einen unbeschädigten Seladongegenstand aus dieser Periode geben. Natürlich hätte ich ihr Fragmente von Ban Go Noi aus einer späteren Zeit verkaufen können. Teuer, aber ich habe welche. Drei Stücke von dunkelgrün bis hellgrün. Aber als ich das sagte, wehrte sie ab. Sie war nicht interessiert. Und da wußte ich, was für eine Person sie ist.« »Und zwar?« fragt Jim Thompson freundlich. »Sie gehört zu denen, die herumlaufen und erst hier ein Stück Information aufpicken und dann dort eins und dann das, was sie in dem einen Laden gelernt hat, im nächsten von sich geben.« »Verkaufen ist nicht leicht.« »Dann redete sie von burmesischen Bronzen. Sie wollte nur burmesische Bronzen sehen. Eine schwierige Person. Ich wurde sie nur los, indem ich ihr erklärte, daß man viele Stile einfach an den Augenbrauen des Buddhas unterscheiden kann – ob sie geteilt sind oder nicht und so 344
weiter. Ich erzählte von Chieng Saen, von Lopburi, von Sukhotai, und endlich hatte sie so viele Fakten gehamstert, daß sie ging.« »Tut mir leid, daß ich sie Ihnen aufgehalst habe.« »Schon gut.« »Wenn unser Projekt Fuß faßt, Vera, werde ich Ihr bester Kunde sein. Ich liebe Kunst. Und ich respektiere Ihr Urteil.« Sein Enthusiasmus und sein Selbstvertrauen machen auch ihr Mut. »Wenn Sie wollen, können Sie das mit der Amerikanerin wiedergutmachen.« »Und wie?« »Fragen Sie Ihren Freund in Kalifornien, ob er wichtige Persönlichkeiten an der Stanford University kennt. Wegen meiner Tochter, wissen Sie.« »Sie schicken sie in die Staaten?« »Ich möchte gern.« Jim Thompson schlägt auf den Tisch. »Gemacht!« »Ich mache mir Sorgen um meine Tochter«, fährt sie impulsiv fort. »Sonja auf den Straßen von Bangkok, das gefällt mir nicht. Man hört soviel von Gewalttätigkeit –« »Also, ich glaube, daß diese Gerüchte die Situation übertreiben. Bis jetzt ist nichts passiert. Die Kommunisten verteilen Flugblätter. Die Regierung droht. Ehrlich, ich denke, die Siamesen sind viel zu zufrieden mit ihrer Lebensart, um sie aufs Spiel zu setzen.« »Sie sind ein Optimist, Jim Thompson. Sie haben nie erlebt, wie die Welt um sie herum zusammenbricht.« »Ja, das stimmt. Aber ich glaube, ich kenne die Siamesen.« 345
»Kennen Sie auch die Chinesen und ihre Banden? Ich bin wirklich besorgt wegen meiner Tochter. Heute sah ich sie mit einem jungen Mann auf dem Wochenendmarkt. Er schien ein Chinese zu sein.« »Wie alt ist Ihre Tochter?« »Neunzehn.« Jim Thompson lächelt. »Dann ist sie doch wohl alt genug, um auf sich selbst aufzupassen. Besonders in einer Stadt wie Bangkok. In New York oder Paris wäre es sicher gefährlicher. Übrigens: Was war mit der Plastik, die Sie in Chiang Mai gefunden haben?« Er zündet eine neue Zigarette an der halb gerauchten an. »Sie ist nicht aus der Lan-Na-Periode. Eine Fälschung. Gut gemacht laut Professor Yupho, aber eindeutig aus neuerer Zeit. Ich werde sie verkaufen als das, was sie ist: eine Imitation.« »Sie sind ehrlich, Vera.« Jim Thompson unterstreicht seine Feststellung mit einem energischen Kopfnicken. »Es ist ein Vergnügen, mit Ihnen Geschäfte zu machen.« Er schiebt seinen Stuhl zurück und will sich verabschieden. »Kann ich Ihnen einen Samlor oder ein Boot rufen?« »Nein, ich bleibe noch ein bißchen hier.« Es ist schön hier auf der Terrasse mit den Fackeln, die den Fluß beleuchten. »Also dann: gute Nacht. Es war mir ein Vergnügen, Vera, wie immer.« Ein Amerikaner versucht, formell zu sein, denkt Vera. Sie mag ihn trotzdem sehr, auch wenn er kein Verständnis für die Ängste einer Mutter hat. Im Weggehen dreht sich Jim Thompson noch einmal um. »Übrigens, haben Sie von Ihrem Mann gehört?« »Ja. Er kommt nach Bangkok, glaube ich.« »Glauben Sie?« 346
»Bei Philip weiß man nie im voraus, was er macht. Was wollen Sie von ihm, Jim? Einer Ihrer amerikanischen Geheimaufträge?« Er lacht, geht aber ein paar Schritte weiter und überlegt. »Jedenfalls würde ich ihn sehr gern kennenlernen, wenn er wirklich herkommt.« Vera imitiert ihn, schlägt mit der Hand auf den Tisch und sagt: »Gemacht!« Er gehört zu den Glücklichen, denkt sie. Erfahrung hat ihn nicht allzuviel Vorsicht gelehrt. Er besteht ganz aus Unbeschwertheit und Energie, und damit wird er Erfolg haben. Trotz seiner Neigung, das Beste von den Menschen zu glauben. Denkt er ehrlich, daß sie in ihren Geschäften immer gewissenhaft ist? Trotzdem hätte er über ihre Befürchtungen nicht so leicht hinweggehen sollen. Ist ihre Angst gestiegen, weil Wanna heute dabei war und ihre Verstörtheit genossen hat? Am Rande ihres Bewußtseins lauert etwas, stößt dann hervor: die Erinnerung an einen alten Traum. Während ihrer Schwangerschaft träumte sie ihn zwei- oder dreimal. In diesem Traum erzählte Schan-teh ihr von seinem eigenen Traum, in dem sie sein Kind trug; dann hielt sie das Kind in den Armen und hielt es Schan-teh entgegen, der lächelnd auf sie zukam. Damals hatte ihr Schan-teh schrecklich gefehlt. Aber er war nicht der Mann, der eine Person wieder aufgenommen hätte, die ihn so betrogen hatte wie sie. Sie sehnte sich umsonst nach ihm. Auch heute braucht sie ihn, fast ebenso verzweifelt. Sie haben ein Kind, eine Tochter, die sie ihm entgegengehalten hätte, wenn sie nur gekonnt hätte. Sonja ist ihr gemeinsamer Traum. Voller Verzweiflung begreift sie, daß sie jetzt den Rat von Schan-teh braucht.
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ch kann nie mehr in ein langweiliges Leben zurückkehren, sagt sich Sanuk. Sie geht mit Chamlong nahe am Rand des Markts auf dem Phra-Mane-Platz entlang. Sie hat das Gefühl, als sei in den letzten paar Wochen ein großer Abstand zwischen ihr und der Alltagswelt entstanden. Allen diesen Menschen im Marktgewühl ist sie jetzt ganz entfremdet. Sie hat eine kurze, böse Vision von dem Mann am Strand, sein Haar vom Wasser angeklebt, wie er im Mondlicht nach Luft ringt. Ein paar Jungen starren auf ihren roten Cheongsam. Er ist wirklich eng, aber Chamlong hat es gern, wenn sie sich so kleidet, besonders für eine Zusammenkunft, wo dann die Männer von ihrem Tee aufblicken und sich mehr dabei denken als diese Knaben hier. Chamlong verläßt den Markt. Sanuk betrachtet ihn scheu von der Seite: seine kleinen Ohren, die scharfe Nase, das vorspringende Kinn – der verschlossene Gesichtsausdruck, der täglich mächtiger auf sie wirkt. Durch ihn hat sie von Liebe und Tod erfahren. Er ist ganz anders als die jungen Gardeoffiziere, die Mutter in ihrer Jugend hofierten. Mutter hat sie so oft beschrieben, daß Sanuk sie in ihren Regimentsuniformen fast vor sich sieht. »Sie waren so hübsch. Sonja, mit ihren blauen Augen und dem Lockenkopf. Auf Bällen trugen sie kniehohe Lederstiefel und rote Halbkaftane mit goldenen Schulterstücken, sie hatten Wappen auf die Ärmel gestickt und klirrende Säbel an der Seite, und wenn sie einen in die Kutsche hoben, lüfteten sie ihre Lammfellkolpaka und lächelten einen an durch den Schnee, der auf ihre 348
schmalen, blassen Gesichter fiel.« Jetzt aber lebt sie in der wirklichen Welt – mit Chamlong, den man wegen seines berühmten Vetters, des Journalisten aus Kanton, im inneren Zirkel der siamesischen kommunistischen Partei aufgenommen hat. Und sie geht mit Chamlong zu ihren Treffen in den Teehäusern. Etwas Aufregenderes kann es gar nicht geben. Erst gestern diskutierten sie über den Tod des verstorbenen Königs. Am 9. Juni 1946 fand man Amanda Mahidon erschossen in seinem Bett. Ein Schicksalstag für Siam, und Sanuk spürte gestern im Teehaus zum erstenmal, was für eine Wirkung ein einzelnes Ereignis auf das Schicksal eines Volkes haben kann. Als man den König fand, auf dem königlichen Bett ausgestreckt und mit einer Pistole neben seiner linken Hand, machten drei Erklärungen für die Tragödie die Runde: Es konnte Selbstmord, Unfall oder Mord sein. Gestern im Teehaus lehnte sie sich vor, um der Diskussion der. drei Theorien zu lauschen. Selbstmord war damals rasch ausgeschlossen worden; die Siamesen als Buddhisten betrachteten es spirituell als unmöglich für einen König der RamaDynastie, eine solche Sünde zu begehen. Unfall – man wußte, daß der König Handfeuerwaffen liebte, er konnte mit der Pistole herumhantiert haben – war eine logische Erklärung, aber unbefriedigend für ein Volk in Trauer. Mord blieb deshalb als wahrscheinlichste Erklärung. Besonders dann, als die Regierung keine andere Erklärung zu bieten wußte, warum der König von Siam, ein ganz junger Mann und erst kürzlich aus dem Schweizer Internat zurück, mit einer Kugel im Kopf in seinem Schlafzimmer gefunden werden mußte. Wer konnte den König getötet haben? Gestern debattierten die jungen Kommunisten die Frage 349
mit einem Eifer, als hätten sie die Nachricht eben erst empfangen. Einer behauptete, ein Prinz habe seinen Bruder getötet, um selbst den Thron zu besteigen. Aber die Mehrheit einschließlich Chamlong sah den Mord als Ergebnis einer von Feldmarschall Phibun inszenierten Verschwörung. Sie argumentierten, Phibun habe seinen politischen Rivalen, Premierminister Pridi, diskreditieren wollen. Kein besserer Weg, als die heiligste Person im Land zu töten und den Premierminister – in der siamesischen Tradition allein verantwortlich für das Wohlergehen des Königs – nicht nur schwerer Kritik, sondern auch schlimmem Verdacht auszusetzen? So geschah es auch: Die öffentliche Meinung vertrieb Pridi aus dem Amt und brachte die Partei von Feldmarschall Phibun an die Macht. Sanuk erscheint es wie Gut und Böse im Ramakien: Der gute Mann ist Pridi, die Verkörperung des heldischen Rama; der Böse ist Phibun, die Verkörperung des bösen Taksakan. Der gute Mann ist gut zu den Chinesen; der böse ist schlecht zu ihnen. Das ist es – das hochmoralische Drama eines großen Epos. In Sanuks Augen sind diese jungen Männer Krieger im Lager von Pridi-Rama, Krieger, die sich in Teehäusern versammeln, um der Welt einen neuen Lauf zu geben. Zu einem dieser Treffen führt Chamlong sie gerade. »Wir gehen zu einem Teehaus beim Wat Khemasiri«, sagt er ihr. »Wir müssen ein Boot nehmen, aber ich habe kein Geld.« »Du hast den Rest für meine Kashew-Nüsse ausgegeben«, erinnert sie ihn. »Ich bezahle.« »Das ist das drittemal, daß du zahlen mußt. Aber in der neuen Welt werden Mann und Frau alles gemeinsam 350
haben. Das steht in einem Flugblatt von Wan-li.« »Wer kommt heute?« »Chin Yin-nan.« Sie schweigt. Alle, die Chin kennen, behaupten, daß er eines Tages ein bedeutender Parteiführer sein wird. »Was mir nämlich passiert ist«, sagt Chamlong auf einmal, »ich habe eine Wette um ein Fußballspiel verloren. Alles verloren, was ich hatte – war nicht viel. Wenn ich ihm einen Punkt weniger gegeben hätte, hätte ich aber gewonnen. Es war eine gute Wette.« »Mach dir wegen dem Geld keine Sorgen«, sagt Sanuk und würde zu gern seine Hand berühren. »Was ich tun kann, tue ich«, sagt sie. »Vergiß das nie.« Wan-li ist kräftig gebaut, aber viel kleiner als sein Vetter Chamlong. Er neigt zur Begrüßung den Kopf. Chin Yinnan, der neben ihm sitzt, nimmt Sanuk überhaupt nicht zur Kenntnis. »Setzt euch, bitte.« Wan-li spricht den Dialekt von Teochiu mit einem starken kantonesischen Akzent. Sanuk fühlt seinen Blick so intim auf sich gerichtet, als läge eine Hand auf ihrer Hüfte. »Du kommst spät«, bemerkt Chin schließlich zu Chamlong. Sanuk fragt er: »Kennst du mich noch?« »Du bist das Zeichen des Pferds.« »Wie bitte?« Wan-li lächelt sie an. »Die Siamesen sagen, Menschen, die in diesem Zeichen geboren sind, haben ein schlechtes Temperament.« Sie wendet sich direkt an Chin. »Wollen ihre Schwächen nicht zugeben. Zielen höher, als sie treffen können. Und die Liebe interessiert sie nicht.« 351
Wan-li kichert. Sie mag Wan-li nicht. Zum einen ist sein Äußeres wenig anziehend. Er hat ein breites Gesicht, strubbeliges Haar – einen verrückten Heiligenschein um den Kopf. Am schlimmsten ist seine Gewohnheit, sich ständig die Unterlippe zu lecken. Andererseits mag er Sanuk offensichtlich, weshalb sie auch zu den Treffen zugelassen ist. Wan-li ist bei den Dissidenten von Bangkok mittlerweile bekannt. Er schreibt Flugblätter für Mahachon, die kommunistische Untergrundpresse. »Ich habe etwas zu essen bestellt. Magst du gesalzenen Fisch und Reis?« fragt er sie fürsorglich. Es erregt sie zu wissen, daß dieser Mann, den die anderen so bewundern, ein Lächeln von ihr heischt. »Sehr gern«, sagt sie und blickt dabei auf Chamlong, ob er etwas bemerkt. Das Interesse seines Vetters an ihr scheint ihm zu entgehen, obwohl er sonst, wenn Männer sich auf der Straße nach ihr umdrehen, mit flinkem Stolz und einer Art aggressiver Beschützerhaltung darauf reagiert. »Bis jetzt haben wir die Regierung aufgehalten«, sagt Chin gerade. Im Ganzen sitzen acht Leute aufmerksam um den Tisch. »Das heißt, wir haben die Unruhestifter« – hier sieht er Chamlong direkt an – »davon abgehalten, Unruhe zu stiften.« Weiter teilt er mit, die siamesischen Banden seien wütend, weil die antichinesischen Plakate in Chinatown so ruhig akzeptiert würden. Es habe keinen einzigen Zwischenfall gegeben, und die Polizei sei verblüfft, da auch sie auf Anzeichen von Gewalt gehofft habe, um im chinesischen Viertel gewaltsam eingreifen zu können. »Ich will damit sagen: Sie ist frustriert. Die Regierung muß gegen die Chinesen vorgehen.« »Nein. Die Regierung kann Geduld zeigen. Die Siamesen bewundern Geduld«, sagt Wan-li. 352
»Phibun wird verlangen, daß gehandelt wird«, behauptet Chin weiter. »Wenn das Kabinett nicht gegen die Chinesen vorgehen will, wird er die Minister für unfähig erklären. Er wird sie hinauswerfen und die Regierungsgewalt übernehmen.« »Das leuchtet mir nicht ein.« »Und warum nicht?« »Weil er bereits hat, was er will. Er hat den Siamesen bewiesen, daß er genügend Macht hat, um mit uns fertig zu werden. Was will er noch? Phibun hat gewonnen.« Chin schüttelt den Kopf. »Phibun hat noch nicht gewonnen. Was er will, ist der totale Sieg, und den bekommt er, wenn wir uns falsch verhalten.« »Und zwar?« »Mit Gewalttätigkeit reagieren. Das ist sein Ziel – die Chinesen zur Gewaltanwendung zu bringen. Dann hätte er einen Vorwand, den Kriegszustand zu erklären. Seine Truppen würden Chinatown überrennen. Wenn wir jetzt kämpfen, dann macht er uns fertig.« »Im Gegenteil. Er macht uns fertig, wenn wir nicht kämpfen. Phibun will keine Gewalt. Ihm geht es nur um Unterwerfung«, argumentierte Wan-li. »Wir dürfen nicht aufgeben. Wir müssen Unruhe in die Gewerkschaften bringen. Phibun muß wissen, daß die Chinesen sich nicht alles gefallen lassen. Meine Flugblätter werden dabei helfen.« Wan-li blickt stolz um den Tisch herum. »Wir können sie überall verteilen, nicht nur in Chinatown. Wir müssen Bangkok zeigen, wie stark die Kommunistische Partei ist.« Chin lacht verächtlich. »Du sprichst, wie du schreibst, und das ist gefährlich. Schreib nur deine Ideen in ein 353
Flugblatt, gut so, aber versuche nicht, hier nach ihnen zu leben. Du verstehst die Politik von Bangkok nicht. Phibun interessiert sich weder für die Chinesen noch die Kommunisten. Ihn interessiert nur die totale Regierungsmacht. Die Chinesen, vor allem die chinesischen Kommunisten, sind nur Mittel zum Zweck. Und wenn die Chinesen ihm keinen Vorwand liefern, die Armee einzusetzen, wird Phibun selbst einen erfinden. Wenn die Regierung keine Unruhe in Chinatown schafft, wird er sagen, daß sie zu sanft mit den Chinesen umgeht. Wenn es der Regierung aber gelingt, Unruhe zu stiften, wird er verlangen, daß die Armee eingesetzt wird – mit ihm selbst an der Spitze natürlich.« »Willst du damit sagen, daß Phibuns politische Zukunft hier in Chinatown liegt?« fragt Wan-li skeptisch. »Genau das. Wenn du zuhörst, verstehst du es auch. Er muß seine eigenen Leute überzeugen, daß sie einen starken Mann wie ihn brauchen, um uns zu kontrollieren. Und sein Argument wird sein: Der Beweis für die verräterische Haltung der chinesischen Bevölkerung von Bangkok ist ihre Unterstützung der Kommunisten. So ist das. Er wird die Regierung an sich reißen, um die Kommunisten zu unterdrücken, die sie bedrohen.« Wan-li hat in seine Teetasse gestarrt, jetzt blickt er Chin von der Seite an. »Und was ist mit der Partei und ihrer Zukunft?« »Ungewiß zur Zeit. Hier kannst du nicht an chinesische Tradition appellieren und schon gar nicht Ideen aus Europa einführen. Hier muß man geschickt vorgehen. Geduld ist hier alles – oder du bist tot. Du kannst den Siamesen nicht erzählen, daß sie an den Marxismus glauben sollen, weil du, ein Chinese, daran glaubst. Die Partei muß vorsichtig sein.« 354
Wan-li, durch die Schärfe des Arguments eingeschüchtert, schaut auf seine Hände hinunter und dann kurz auf Sanuk. In diesem Augenblick seiner Niederlage schenkt sie ihm ein Lächeln. Reis und gesalzener Fisch kommen, ein Kellner setzt die Schüsseln auf den Tisch. Alle beugen sich über die dampfenden Schalen. »Ein billiges Essen«, sagt Wan-li zu ihr, »aber mehr können wir uns nicht leisten.« Sanuk verschlingt, was sie zu Hause nicht anrühren würde. Sie fühlt sich glücklich unter den Männern hier, durch Gefahr und Zielsetzung miteinander verbunden. Das ist die Welt ihres Vaters, das ist das echte Leben. Voller Wut ist sie in ihrem Zimmer angelangt, nachdem sie Chamlong auf der Straße zurückgelassen hat, wo er sie brüllend nach Hause jagte. Nach dem Treffen waren sie lange herumgelaufen, und Chamlong hatte ihr seine Eindrücke erklärt. Sein Vetter Wan-li hatte recht, Chin hatte unrecht. Wan-li brachte das Selbstvertrauen des wahren China nach Bangkok, während Chin die Schwäche des südostasiatischen Chinesen zeigte, die nicht für ihre Freiheit kämpfen wollen. Hier in Bangkok müsse sich die Partei für das Volk erheben; das Volk müsse gegen Phibun und die Regierung aufstehen. Nicht diese Geduld, nicht dieses Warten, nicht diese Feigheit. Und dann, mitten im Satz, bat er sie, mit ihm in ein Hotel zu gehen. War es das, was er die ganze Zeit im Sinn hatte, nicht die Politik? Sanuk weigerte sich. Warum, versteht sie jetzt im nachhinein kaum. Vielleicht hatte sie zum erstenmal, seit sie ein Paar wurden, nicht das Verlangen. Vielleicht schämte sie sich ihres Körpers, nachdem Wan-li sie in dem Teehaus dauernd angestarrt 355
hatte. Vielleicht war sie einfach müde. Und es war spät. Seit der Rückkehr aus dem Süden achtet sie im allgemeinen darauf, nicht zu lange wegzubleiben. In einer Gasse von Chinatown begannen sie heftig zu streiten. Chamlong warf ihr vor, sie sei kindisch, und als sie konterte, er sei ein Egoist, behauptete er, sie habe pak talad, das Maul eines Marktweibes. Es war scheußlich. Sie schließt die Sandelholzschatulle auf ihrer Kommode auf, nimmt das gegenwärtige Tagebuch heraus und öffnet es. In letzter Zeit hat sie mehr geschrieben, außerdem in korrektem Englisch. Sie benutzt jetzt ein Wörterbuch. Natürlich könnte sie Mutter diesen merkwürdigen Wandel ihrer Gewohnheiten nicht erklären. Sie könnte schlecht erklären: »Ich möchte richtig schreiben, denn was ich jetzt schreibe, ist wichtig. Ich bin jetzt eine Frau wie du. Ich habe auch einen Liebhaber, und was ich sehe und tue und fühle, hat mehr verdient als die schlampige Behandlung durch ein Schulmädchen.« Unter Sonntag schreibt sie: Letzte Nacht habe ich geträumt, daß ich mir neue Schuhe gekauft habe. Nipa sagte beim Frühstück, das bedeutet, daß ich bald reisen werde. Beide Dienerinnen sind immer noch böse, weil ich sie mit meinem Daumen in Schwierigkeiten gebracht habe. Und sie wollen unbedingt wissen, wobei ich ihn gebrochen habe. Manchmal geht das, was passiert ist, über meinen Verstand. Manchmal glaube ich, es ist in Wirklichkeit gar nicht passiert, aber dann schaue ich ihn an und möchte weinen. Aber ich tu es nicht, denn er mag das nicht und ich auch nicht. Sanuk schaut im Wörterbuch unter »Fassungskraft« nach, streicht »Verstand« durch und fügt statt dessen das 356
ausgefallenere Wort ein. Wir hatten unseren ersten richtigen Streit. Er wollte, daß ich mit ihm wohingehen soll, aber ich sagte nein. Es war nicht einmal die falsche Zeit im Monat. Ich hatte einfach keine Lust. Ich mag seinen Vetter nicht. Es ist merkwürdig, wie einen der eine Mann anschauen kann, so wie Chamlong, und es ist angenehm, aber bei einem anderen nicht. Und doch verstehe ich Chamlong nicht. Liebt er mich? Bei seinen Freunden zeigt er es nicht und auch nicht, ob es ihm was macht, daß Wan-li sich so für mich interessiert. Verwirrend. Sah gestern Lamai. Bald wird sie verheiratet sein. Es heißt, es sei besser, eine siamesische Ehefrau zu sein als eine chinesische, zumindest nach dem ersten Kind. In beiden Fällen führt die erste Frau den Haushalt. Ist sie glücklich? Ich habe ihren Jungen noch nicht kennengelernt, aber Lamai schwört, daß sie ihn mag. Ich weiß nicht. Ich könnte nicht jemand wie Wan-li heiraten, obwohl alle ihn bewundern. Ich glaube, mir werden nicht viele Männer in meinem Leben gefallen. Heute habe ich über große Frauen der Geschichte nachgedacht. Hier schreibe ich sie auf in der Reihenfolge ihrer Bedeutung: Jeanne d’Arc, Eleonore von Aquitanien, Elisabeth von England, die Rani von Jhansi und eine neue, die ich entdeckt habe: Yu Hsuan-chi. Ich versuche jetzt nämlich, chinesische Gedichte zu lesen. Sie war eine Kurtisane, die nicht einmal dreißig Jahre alt wurde. Sie war auch eine Dichterin, und ein paar ihrer Gedichte stehen in einem Buch. Weil ich die Schriftzeichen nicht gut genug kann, habe ich mir von einem Mann auf dem Yommarat-Markt ein Gedicht ins Englische übersetzen lassen. Das ist der alte Mandarin, der viele Sprachen spricht. Er hat es mir aufgeschrieben, und am liebsten 357
habe ich dieses Stück: »Liebende sollten vom Fluß lernen, wie man fließt. Ich weiß, wir werden uns zur Blütezeit nicht wiedersehen.« Ich habe seine Fassung verändert, denn er läßt die englischen Artikel und Pluralendungen aus, und ich beachte sie jetzt. Es macht mich traurig, an Yu Hsuan-chi zu denken, allein in der Welt, getrennt von ihrem Geliebten. Ich dachte an Chamlong. Wenn wir jemals getrennt werden, ob ich dann dasselbe fühle wie Yu Hsuan-chi? Ich hoffe. Es wäre schrecklich, gar nichts zu fühlen. Für diesen Eintrag hat Sanuk lange gebraucht, nachdem sie die Rechtschreibung von jedem dritten oder vierten Wort nachgeprüft hat. Aber am Ende ist sie stolz auf das Ergebnis. Als alte Frau kann sie dann einmal lesen, wie sie als junge, verliebte Frau war. Bald kommt Mutter nach Hause, und Ah Ping wird heraufschreien, daß das Abendbrot fertig ist. Sanuk hat das Tagebuch bereits in die Schatulle zurückgelegt, nimmt es aber wieder heraus. Es gibt noch viel mehr zu schreiben. Ohne einen Zusatz wäre der Bericht unwahr. Um schneller voranzukommen, schiebt Sanuk das Wörterbuch weg. Es gibt Gründe, anzunehmen, daß der Mann harmlos war. (Hier beschließt sie, die Wahrheit zu verbergen, falls jemals jemand in das Tagebuch hineinschaut.) Ich meine den Mann, über den ich eine Geschichte schreibe. Diesen Mann und zwei Leute die ihn töten. Wird eine Kriminalgeschichte. Also dieser Mann, warum war er harmlos? Weil, nachdem sie ihn getötet hatten, fanden sie 358
keine Waffe, nicht mal Messer an ihm. Warum sollte er sie nachts am einsamen Strand unbewaffnet angreifen? Er war groß aber nicht so groß. Vielleicht ging er einfach schneller als sie. Also gibt es keinen Grund, zu denken, er bedrohte sie. Und die Idee von ihm als Regierungsagent, die taugt auch nichts. Regierungsagent würde nicht versuchen, sie ganz allein einzuholen. Er hätte Hilfe und wäre bewaffnet. Nein, er war kein Regierungsagent. Er war nur ein großer Mann, der – Es klopft hart an die Tür. Schnell schließt sie das Tagebuch und läßt es eben in der Schatulle verschwinden, als die Tür aufgeht und Mutter hereinkommt. »Im Pyjama? Kein Cheongsam?« Sanuk ist über den angriffslustigen Ton ihrer Mutter erstaunt. »Schon besser als ein Cheongsam, der bis hier geschlitzt ist … Jedesmal, wenn ich dich in einem sehe, geht der Schlitz am Bein noch ein bißchen weiter rauf.« »Das ist Mode, Mutter. Wir haben 1948.« Sanuk fragt sich, ob ihre Mutter getrunken hat. Der Ton, die Haltung, der Mangel an Höflichkeit, die dumpfe Verwirrung in ihrem Gesicht lassen darauf schließen. »Wo warst du heute?« fragt Sanuk leichthin. »Hast du Mister Thompson gesehn?« »Wo ich heute war? Wo du heute warst, ist wohl eher der Punkt«, sagt Mutter und kommt ganz in das Zimmer herein. Anstatt sich zu setzen, beginnt sie, hin und her zu laufen. »Ich muß an so vieles denken. Was wir alles zusammen gemacht haben. Du hast nie Schwierigkeiten gemacht. Du warst schön und fröhlich, und ich danke Gott. Ich vergesse nie den Tag, an dem ich den Weg entlangkam und dich allein im Garten sah, so schön und fröhlich – und da hab ich, ohne zu denken ›Sanuk!‹ 359
gerufen. Weißt du noch?« Sanuk beugt sich im Stuhl vor und krampft die Hände ineinander. »Du nennst mich nie mehr so.« Ihre Mutter scheint es nicht zu hören. Sie läuft auf und ab, sie raucht. »Ich übertreibe natürlich, ich mach einen Narren aus mir. Ich wollte gar nicht reinkommen, aber schau mich an – ich bin raufgegangen und gleich hier rein. Vielleicht sieht es nicht danach aus, mein Schatz, aber ich gebe mir große Mühe, keine blöde Szene zu machen, aber anscheinend doch. In meiner Familie, als ich ein Kind war, da gab es, gleichgültig, was geschah, keine blöden Szenen. Aristokratische Zurückhaltung nennt man das. Dumme Fehler, dumme Lügen, dummes Benehmen, aber keine blöden Szenen.« Mutter bleibt stehen und blickt Sanuk in die Augen. »Die Wahrheit ist, Sonja, ich habe zuviel von dir erwartet. Ich habe nie gedacht, daß wir uns voneinander entfernen könnten.« Wieder läuft sie hin und her. »Heute sah ich dieses Mädchen auf dem Wochenendmarkt. Sie war abscheulich angezogen. So ein armes Ding, dachte ich. Findet sich sicher reizend in diesem Hurenkleid. Und mit dem Jungen. Bloß ein Junge, irgendeiner. Die beiden tun mir wirklich leid. Ich hätte sie nicht ausgelacht, aber ich hätte auch nicht über sie geweint – zum Weinen war mir erst, als ich sah, daß du das Mädchen warst. Verstehst du? Kapierst du, was ich meine? Nicht, daß du mit einem Jungen zusammen warst. Daß du mir nie etwas gesagt hast! Die Täuschung, der Mangel an Vertrauen.« Sanuk schaut zu Boden. Also ist es passiert. Und dann ist das Gesicht ihrer Mutter plötzlich ganz nah – ihre Mutter hat sich heruntergebeugt, sich vor ihr hingekniet. Das kommt so unerwartet, wirkt wie ein Hilferuf, daß Sanuk plötzlich Angst bekommt. »Sanuk«, flüstert Mutter sanft. »Kannst du mich 360
verstehen?« »Ich verstehe.« »Was ich auch verstehe, ist, daß du mich nicht verletzen willst.« »Nein, das will ich nicht.« Der Blick aus Mutters grünen Augen scheint sie zu durchbohren, bis ins Herz. Sanuk verkrampft die Hände. »Ich möchte nur mein Leben leben.« »Dieser Junge, wer ist er?« »Er ist kein Student.« »Habe ich auch nicht angenommen. Sah nicht aus wie ein Student. Rudert er einen Sampan? Nein, dafür ist er nicht kräftig genug. Verkauft er Gemüse? Kocht er auf der Straße?« »Hör auf!« »Aufhören? Übertreibe ich etwa?« Mutter ist aufgestanden und geht wieder hin und her. »Wirklich? Dich nur mit einem Jungen zu sehn hätte nicht all das aufgebracht. Ich hätte mich ein bißchen geärgert, aber es hätte mich nicht so niedergeschmettert.« Sie wendet sich im Gehen Sanuk zu. »Weißt du denn nicht, Schatz, daß den Dienern ihre Stellung wichtiger ist, als dich in Schutz zu nehmen? Ich habe gerade mit ihnen gesprochen. Als ich in Chiang Mai war, warst du drei Tage weg – vielleicht auch länger, denn ich bin sicher, daß sie mir nicht die ganze Wahrheit sagen. Du warst mit diesem Jungen zusammen.« Sie hat keine Wahl, will auch keine haben. Sanuk will, daß es mit voller Wucht geschieht. »Ja, das stimmt.« »Du warst mit ihm zusammen. Hast mit ihm geschlafen.« »Ich bin jetzt eine Frau.« 361
»Ach ja. Dann bring ihn her, damit ich ihn kennenlernen kann.« »Er kommt bestimmt nicht.« »Warum?« »Er kommt einfach nicht.« Sie hat Chamlong nie danach gefragt, aber sie kennt ihn gut genug: Nie wird er seinen Fuß in dieses Ausländerhaus setzen und sich vor einer Ausländerin rechtfertigen. »Sonja, wenn er mich nicht kennenlernen will, dann will ich, daß du ihn nicht mehr triffst. Ein anständiger Mann hätte keine Angst vor mir. Schon deinetwegen würde er kommen. Wenn er nicht zu mir kommt, kann er meine Tochter nicht sehn. Ist das etwa unfair?« »Ja.« »Dann ist es eben unfair. Du verläßt dieses Haus nicht mehr allein, nicht mehr ohne mich. Vielleicht haben wir das Jahr 1948, und du bist neunzehn, aber ich habe mehr Macht, als du denkst.« Die Mutter setzt sich aufs Bett, beugt sich vor und verschränkt die Hände, als suche sie bei sich selbst Halt. »Was machst du, Sonja? Ich meine, um auf dich aufzupassen?« Sanuk glaubt zu verstehen, aber es ist lange her, seit Mutter von der »Natur« sprach, wie sie es bei den zwei oder drei klinischen Erörterungen über Sexualität mit ihr genannt hatte – nach dem Abendbrot auf der Veranda, weit voneinander entfernt sitzend, die Gesichter gnädig in der Finsternis von Bangkok verborgen. »Damit du nicht schwanger wirst«, fügt Mutter kühl hinzu. »Ich zähle.« »Du zählst«, echot die Mutter sarkastisch. »Wo hast du 362
das gelernt? Von deinen Mitschülerinnen?« »Du machst dich lustig über mich.« Sanuk hätte fast noch gesagt: Das hättest du mir doch selbst erklären müssen. Statt dessen sagt sie: »Wir haben alle die Rhythmusmethode begriffen.« »Was für gescheite Mädchen.« »Du hast gefragt.« »Laß mich noch etwas fragen. Was erklärst du ihm, wenn die Zeit nicht stimmt? Sagst du ›bitte‹ oder ›ich kann nicht‹ oder ›nächste Woche vielleicht‹?« Sanuk verkrampft die Hände. »Was sagst du dann?« beharrt die Mutter. »Es ist noch nicht vorgekommen.« »Aber es wird vorkommen. Und was sagst du dann? Wird er sich danach richten?« Nach einem langen Schweigen sagt Mutter: »Also gut, ich bin jetzt ganz ruhig, ich dreh’ nicht durch. Ich mache keine dumme Szene.« Weiße Fingerknöchel, starrer Blick. »Ich werde dir jetzt eine Geschichte erzählen, junge Frau. Und zwar eine wahre Geschichte.« Sanuk hört zu. Die Geschichte ihrer Mutter ist ganz einfach, unkompliziert und glaubhaft, nachdem Sanuk die Voraussetzung akzeptiert hat, daß alles, was die Mutter ihr von den alten Zeiten in Schanghai erzählt hat, gelogen war. Als Mutter aus Sibirien dorthin kam, hat sie nicht Obst an der Straßenecke verkauft, um zu überleben. Sie hatte kein Geld, um Obst zu kaufen, und außerdem hätten chinesische Händler einen mittellosen Flüchtling mit Gelächter von der Straße vertrieben. Sie hat nie eine Sprachenschule besucht. Sie lebte Jahre in Schanghai, ehe sie fließend Chinesisch sprach. Sie arbeitete in einem Bordell wie viele Russinnen, die hübsch und jung genug 363
waren, um diese Chance zu bekommen. Sie lernte, wie man mit Eßstäbchen abtreibt. Für sie gab es nicht den Luxus, die gefährlichen Tage im Zyklus abzuwarten. Das Bordell war ihre Welt. Später lachte ihr das Schicksal, und sie wurde die Mätresse eines Mannes, der sie aushielt und sie, als er genug von ihr hatte, einem anderen Mann empfahl. Und so lebte sie, bis sie General Tang Schan-teh traf, der sie im Gegensatz zu dem, was sie Sanuk als kleinem Mädchen erzählt hatte, nie heiratete, aber für sie sorgte und sie liebte. Ja, liebte. An diesem Punkt unterbricht Sanuk scharf. »Hat er’s gewußt?« »Daß ich eine Hure war? Als wir uns begegneten, wußte er, daß ich die Geliebte eines anderen Mannes war. Ich nehme an, er muß geahnt haben, was ich vorher war, aber er hat mich nie gefragt. Er ließ das nie zwischen uns kommen.« »Und das ist die Wahrheit?« »Die Wahrheit. Endlich.« Lange Zeit sitzen sie und schweigen. »Warum hast du mir das nicht schon früher gesagt?« fragt Sanuk sanft. »Ich habe nie gedacht, ich würde es dir überhaupt sagen.« »Ich bin froh, daß ich es jetzt weiß.« Mutter schüttelt den Kopf, ihre Hände lösen sich. »Du bist froh zu wissen, daß ich in einem fremden Land eine Hure war. Aber mein Leben hat im alten Rußland begonnen. Ich kannte den Adel, ich lebte in der zivilisierten Welt. Von diesem Teil meines Lebens zu wissen solltest du froh sein. Aber das bist du nicht. Ich habe es falsch gemacht.« »Ich bin froh, alles zu wissen, alles.« 364
»Das sagst du jetzt, aber wenn du erst mal nachgedacht hast, wirst du anders denken. Hast du überhaupt eine Ahnung, weshalb ich dir Dinge erzählt habe, die für mich so schmerzlich sind?« Mutter steht auf mit verhärmtem Gesicht, die Lippen beben vor Erschöpfung. »Ich kenne die Männer. Ich weiß, was sie tun. Was ich gemacht habe, mußte ich tun, aber du hast die Wahl. Mein Gott, Kind, triff die richtige! Laß dein Leben nicht von einem dummen Jungen ruinieren.« Auch Sanuk steht auf. Sie erwartet eine Umarmung, aber die Mutter hat sich umgedreht und schwankt fast aus dem Zimmer. Sanuk möchte ihr nachlaufen mit den Worten: »Ich bin froh, daß du es mir gesagt hast, so froh!« Aber etwas hält sie zurück. Sie holt das Tagebuch erneut heraus und fügt noch einen Satz hinzu: Ich werde Chamlong ebensowenig aufgeben, wie Mutter meinen Vater aufgegeben hätte. Sie ist versucht, mehr zu schreiben. Es gibt Mutters Geschichte zu erzählen. Wirklich? Der Füller schwebt kurz über dem Tagebuch, dann legt sie ihn weg. Das ist Mutters Geschichte, nicht ihre. Mutters Geheimnisse niederzuschreiben wäre Verrat. Mutters Geheimnisse. Sanuk versucht, sich vorzustellen, wie das Leben ihrer Mutter vor mehr als zwanzig Jahren ausgesehen haben muß: Wie Männer die Stiege herauftrampeln, ähnlich den Treppen der schäbigen Hotels, wo sie mit Chamlong war. Sie kann sich die Gesichter vorstellen, wie sie auf Mutter zugehen: Alle haben das Gesicht von Wan-li. Noch einmal nimmt sie den Füller zur Hand. Ich ändere die Reihenfolge meiner Liste. Nach der 365
Jungfrau kommt jetzt Yu Hsuan-chi, die Prostituierte. Und meine liebste Gedichtzeile von ihr ist: »Ich weiß, wir werden uns zur Blütezeit nicht wiedersehen.« Unten von der Treppe ertönt die hohe, wimmernde Stimme von Ah Ping, die sie zum Abendbrot ruft. Mit Staunen begreift Sanuk, daß das Leben weitergeht, nicht wesentlich anders als zuvor, und daß sie gleich mit Mutter am Tisch sitzen wird wie sonst auch.
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emp hatte recht – Embree blickt über das weite Friedhofsfeld außerhalb der kleinen Stadt Thanbyuzayat: Hecken und Rasenflächen sind gepflegt. Hier liegen Tausende von Gefangenen, die beim Bau einer Eisenbahn für die Japaner umkamen. Weitere tausend liegen am Ende der Schienenstrecke in Thailand, etwa vierhundert Kilometer von hier entfernt. In Madras las Embree einmal in einer Zeitung, jeder Kilometer der Strecke habe zweihundertfünfzig Mann das Leben gekostet, einheimische Arbeiter eingeschlossen. Er betrachtet jetzt die Grabsteine, sauber in Reihen ausgelegt. Soweit er sich erinnern kann, kannte er nur drei der jungen Koylies, die Mrs. Stubbs am Ende ihres Briefes aufgeführt hat. Nur ein Gesicht ist ihm im Gedächtnis geblieben, das eines blassen, jungen Mannes mit ständig triefender Nase: Arthur Wiggs, ein verstörtes Bürschchen, schwer erkältet. Irgendwo auf dem Rückzug gefangengenommen, stieß er dann zu den anderen Kriegsgefangenen hier in Burma – einem gemischten Haufen kranker, erschöpfter, halb verhungerter junger Männer, die mit Äxten und Schaufeln und der Hilfe von Elefanten Bäume fällten und den Schutt von der langsam wachsenden Strecke aus Eisenbahnschienen und Holzschwellen räumten. Die fein gemeißelten Grabsteine hier bezeugen das Schicksal, das dieser Schwerarbeit folgte. Auch Arthur Wiggs muß zahllose Korbladungen Erde auf die Bahndämme geschüttet haben, gegen Hungerrationen, trotz Fieber, Ruhr und Mißhandlung. Vielleicht bekam er Typhus oder starb als Opfer einer der 367
Choleraepidemien. Vielleicht hat ihn ein Aufseher totgeschlagen, oder er ist einfach in den Busch gewandert, um sich dort zum Sterben hinzulegen. Embree hatte Gerüchte über die Todeslager gehört, noch ehe er die Überlebenden tatsächlich sah, als sie eines Tages Anfang Juni 1945 auf Lastwagen nach Rangun gekarrt wurden. Er gehörte dort zur siegreichen Armee der Alliierten unter General Slim. Die Alliierten – Engländer, Inder und chinesische Truppen, von den Amerikanern aus der Luft unterstützt – waren noch rechtzeitig von Mandalay hierhermarschiert, bevor in Rangun der Monsun begann. Die Japaner leisteten noch vereinzelt Widerstand, aber der Krieg war gewonnen. Inmitten all des Krachs und Gewimmels knatterten die Lastwagen mit den elenden Überlebenden der japanischen Gefangenenlager in die Stadt. Embree stand mit anderen Soldaten schweigend da und sah, wie sie ankamen – ein paar konnten laufen, andere mußten getragen werden. Ihr Gestank füllte die Straße. Tot und stumpf blickten sie aus eingesunkenen Augen; man trat vor ihnen zurück. An jenem Tag hörte Embree die Worte eines Überlebenden – so hätte auch Arthur Wiggs sprechen können, wäre er noch am Leben gewesen: »Termiten im Bambus«, murmelte der Mann wie betäubt. Er wiederholte das wieder, wieder und wieder, während ein Sanitäter ihm eine Spritze in den Arm rammte. »Termiten, sie machten Lärm im Bambus. Man konnte sie die ganze Nacht hören wie eine verfluchte Band. Kaugeräusche. Termiten überall im Bambus mit ihrem verdammten Lärm. So war das. Sie machten Lärm im Bambus.« Hier, angesichts des Friedhofs, stellt sich Embree jetzt diese Situation vor. Es ist seine Pflicht, das ist er Mrs. Stubbs und den anderen Frauen schuldig. »Hier, Master.« 368
Rama ist erschienen mit einem Armvoll Blumen, wie von Embree beauftragt. Seufzend macht sich Embree mit Rama auf den Weg. Nach einer halben Stunde haben sie drei der sechs von Mrs. Stubbs bezeichneten Gräber gefunden und auf jedes einen Strauß gelegt. »Liegen da Männer unter diesen Steinen?« fragt Rama, den Blick auf eine der Inschriften geheftet: V. W. Wilson Königliche Füsiliere von Northumberland 27. Mai 1943 Alter: 25 Eine Stimme, die wir lieben, ist nicht mehr Ein Platz bleibt uns für immer leer. Embree wendet sich dem jungen Tamilen zu. Er begreift plötzlich, daß das für Rama eine ganz vernünftige Frage ist. Als Hindu hat er wahrscheinlich nie gesehen, wie ein erwachsener Mann begraben wurde. Wenn Kinder sterben, werden sie beerdigt oder sanft einem Fluß anvertraut; heilige Männer stellt man aufrecht zwischen Felsgestein. Die anderen Toten der Hindu werden verbrannt. »Ja, Rama, da liegen Männer unter den Steinen.« »Narayana.« »Wahrscheinlich findest du, daß das keine sehr saubere Sache ist«, sagt Embree mit leichtem Lächeln. »Verbrennen reinigt die Seele. Bereitet sie auf das nächste Mal vor.« Rama kniet neben einem Grabstein, einem einfachen Betonklotz mit einer Messingplakette, auf der ein Regimentsabzeichen und ein Text verzeichnet sind: 369
Schöne Erinnerungen, geliebter Ray, Bis wir uns wiedersehen. Mama, Papa, Ken und Elsie. »Bis wir uns wiedersehen. Master, diese Leute denken ans nächste Mal. Das ist gut, wirklich. Wir müssen nur nicht erwarten, daß wir uns so wiedersehen, wie wir gewesen sind. Wenn die Worte in den Stein gemeißelt werden, sagt dann jede Familie, was ihr gefällt?« »Ja. Was ihr gefällt.« »Narayana.« A. L. Wiggs The King’s Own Yorkshire Light Infantry Alter: 20 In liebendem Gedenken an Arthur Von allen zu Hause schmerzlich vermißt Nun muß Embree sich hinknien, als er den Blumenstrauß auf den Grabstein legt. Gottverdammte Welt, denkt er. Aber wir sind rausgekommen, Harry, denkt er. Wenigstens beim erstenmal. Wenigstens bis Indien haben wir es geschafft. Diesen Gedanken nimmt er mit auf die Reise nach Norden – etwa fünfundsechzig Kilometer sind es von Thanbyuzayat nach Moulmein – in einem alten NissanLastwagen, der jetzt als Bus benützt wird. Ja, er und Harry waren aus Burma rausmarschiert, und dann hatten sich ihre Wege getrennt. Embree war ins Oberkommando von Stilwell bei 370
Ramgarh in Bihar, Indien, zurückgekehrt. Ramgarh war ein Teil von Stilwells Traum: Burma zurückerobern, weitgehend mit chinesischen Truppen. Er hatte aus den Resten der Fünften Armee und der 38. Division eine neue Kampfgruppe gebildet, die Truppe X genannt, und verstärkte sie mit allem, was Tschiang Kai-schek auf dem chinesischen Festland entbehren konnte. Hier in Ramgarh widmete sich Philip Embree zusammen mit anderen Amerikanern, die chinesisch sprachen oder auch nicht, der Ausbildung neu aus China angekommener Soldaten – unterernährten, entmutigten jungen Männern. Zuerst brachte er ihnen die einfachsten Dinge bei: Ihre Chinintabletten mit demselben Eifer einzunehmen, mit dem sie Knoblauchzehen für ihre Gesundheit kauten, unter einem Moskitonetz zu schlafen, das Gras zu schneiden, ehe sie in einem von Zecken wimmelnden Dschungel ein Zelt aufbauten, so oft wie möglich zu baden – und sich nie – bei aller Erschöpfung absolut nie – in einem schweißdurchtränkten Hemd hinzulegen, weil die Feuchtigkeit sonst zu Bronchitis und Lungenentzündung geführt hätte, was in dem undurchdringlichen Pflanzenwuchs von Burma dem Tod gleichkam. Nicht weit von dieser Basis, wo er Männer lehrte, wie man im Krieg überlebt, hatte sein Vater Männer gelehrt, wie man Gott verehrt. Sein Vater hätte diese Ironie nicht zu schätzen gewußt, und deshalb empfand sie Embree um so stärker. Der Umgang mit den chinesischen Offizieren und Veteranen in Ramgarh erwies sich als schwierig. Von ihrem Gesichtspunkt aus hatten die Engländer sie betrogen. Auch von ihrem eigenen Oberkommandierenden fühlten sich die chinesischen Veteranen verraten. Aus politischen Gründen hatte sich Tschiang Kai-schek aus seinem zweitausend Meilen entfernten Hauptquartier in 371
das tägliche Vorgehen der Streitkräfte eingemischt. Das hatte mehr als einmal zu schweren Verlusten an Männern und Material geführt. Chinesische Offiziere vertrauten Embree persönlich ihren Abscheu und ihre Enttäuschung an; wohin sie sich wandten, so schien es ihnen, begegneten sie Feindseligkeit, Verdächtigung, Verachtung, und als Ausgleich für eine solche Behandlung hatte ihr Heimatland nur leere Versprechungen, schwache Führung und Gleichgültigkeit zu bieten. Mittlerweile fanden in ganz Indien Unruhen und patriotische Aufstände statt, und die Kongreßpartei schürte den Haß auf ein England, das der Kolonie zumutete, gegen Japan zu kämpfen ohne den unmittelbaren Lohn der Freiheit. Über fünfzig britische Infanteriebataillone setzte man ein, um die Ordnung im Land wiederherzustellen. Embree gönnte den Koylies diese Aufgabe, sie war immerhin besser, als sich auf eine Rückkehr nach Burma vorzubereiten. Aber er hörte nichts mehr von ihnen, nicht einmal von Harry, nachdem die Verwundeten die Feldlazarette in Imphal verlassen hatten. Als sein Fronturlaub endlich bestätigt wurde, beschloß Embree, ihn in Kalkutta zu nehmen, einfach deshalb, weil die Stadt mit der Bahn am leichtesten zu erreichen war. Während sein Zug durch die baumreichen Vororte von Kalkutta glitt, sah Embree Bilder aus der Nacht auftauchen. Am ganzen Schienenstrang entlang erglühten die ersten Feuer mit in Decken gehüllten Gestalten drum herum. Bald würde es drückend heiß sein, aber in diesen kostbaren Augenblicken bei Sonnenaufgang war die Luft frisch. Embree beugte sich fasziniert zum Fenster, denn in Indien hatte er über die Kasernen hinaus bisher kaum etwas kennengelernt. 372
Nichts an dem friedlichen Leben, das da draußen erwachte, erinnerte an das, was in diesen Herbsttagen 1943 im Hinterland von Bengalen geschah, kaum zweihundert Kilometer weit entfernt: Mehr als eine Million Menschen erlitten den Hungertod. Die Reisernte des vergangenen Jahres war ausgefallen; dieser Verlust, zusammen mit den wegen des Kriegs ausgebliebenen Einfuhren aus Burma, belastete den Staat bei der Versorgung der Bevölkerung schwer. Zudem hatten Geschäftsleute aus Kalkutta in dieser Situation ihren Profit erkannt, kauften die Vorräte der Dörfer auf und verkauften sie zu Wucherpreisen an die alliierte Armee. Die Zahl der Opfer unter der Landbevölkerung von Bengalen entsprach in diesem Jahr einem Mehrfachen der militärischen Verluste Indiens. Embree hatte gelesen, in manchen Dörfern regten sich nur noch die Geier. Am zweiten Tag seines Aufenthalts in Kalkutta hatte Embree genug. In seinem Hotel funktionierten weder Toiletten noch Ventilatoren oder die Beleuchtung – aber das war noch das kleinste Übel. Die Stadt wirkte wie ein großes, chaotisches Dorf. Nichts war unter Kontrolle. In dem Gewirr der Straßen und Gassen gingen die Menschen dem Geschäft des schieren Überlebens nach – Essen, Schlafen, Waschen, Verdauen, Betteln, Sterben, und das alles in der infernalischen Hitze von Kalkutta. Er haßte das alles. Er war nicht aus Burma herausmarschiert, um in eine weitere, noch entsetzlichere Hölle zu kommen. Überall in der Stadt waren die Abflußrohre geborsten, und eine graue Masse Mensch schlitterte durch einen grauen Matsch, der wie ein leichenübersätes Schlachtfeld stank. All dem Lärm und Unrat war er wie Tausende anderer Urlauber ausgeliefert, die zweifellos ebenfalls hierhergeraten waren, weil es die Zugverbindung gab. Er 373
sah, wie sie sich – ihre Gesichter vom Schock dieser Erlebnisse gezeichnet – durch die Durchgänge zwängten, wie sie in ihren gebügelten Uniformen versuchten, sich der Bettler zu erwehren, die auf den Trottoirs lagen und ihnen Armstümpfe ohne Hände entgegenstreckten. In diesen zwei Tagen tauschte er mit anderen Soldaten Erzählungen darüber aus, was sie an Schrecklichem in den Straßen gesehen hatten. »Nichts geht über Kalkutta«, sagte Embree gerade zu einem Unteroffizier der »Royal Hampshires« in einer Bar an der Ghowringhee Road, als eine vertraute Stimme losschrie: »Na, so was, Philip! Philip Embree! Du verdammter Yank, ich bin’s!« Es war Harry Stubbs. Nicht mehr der junge Harry. Noch ehe der Koylie sich durch das volle Lokal bis zu ihm durchgedrängt hatte, erkannte Embree die müden Augen und verzerrten Gesichtszüge eines Mannes, den der Krieg für immer gezeichnet hat. Sie tranken zusammen. Auch Harry hatte Fronturlaub. Wegen seiner Heldentaten bei der Evakuierung in Shwegyin hatte man ihn wieder der Einheit von Orde Wingate zugeteilt. »Wie man das so mit Helden macht – man wirft sie blutig-roh Wingate zum Fraß vor.« »In Wahrheit bist du freiwillig gegangen.« »Na ja, bei den Koylies konnte ich nicht bleiben. Das Bataillon wurde aufgeteilt. Wir haben achtzig Prozent unserer Kameraden verloren. Hast du das gewußt?« »Ja. Jeder weiß es, nehme ich an.« Nach einem kurzen Schweigen fragte Embree, ob er noch Kant lese. Nein – Harry Stubbs las jetzt philosophische Texte des Wedanta und lernte Meditation bei einem Pionier aus 374
Madras im Trainingslager der Chindits. Embree hörte zu, wie Harry sich leidenschaftlich über das Wesen indischen Geistes ausließ, und begriff, wie jung der Engländer noch war, rührend jung und stets anfällig für jede Idee, die seines Weges kam. Als der junge Engländer darauf bestand, ihn »an einen wichtigen Ort« zu führen, »denn nachdem du mir das Leben gerettet hast, bist du dafür verantwortlich«, nahm Embree zögernd an. Sie mieteten eine Rikscha und fuhren aus Kalkutta heraus in Richtung Norden. »Ich zeig’s dir, alter Junge«, sagte Harry fröhlich. »Ich habe gefunden, was ich brauche.« »Du Glücklicher. Das findet kaum je einer. Und bestimmt nicht in einem Krieg.« Der Sarkasmus schien Harry zu entgehen, aus Tadel hatte er sich nie viel gemacht. Vielleicht verlieh ihm sein Bergarbeiterblut aus Yorkshire die Zähigkeit, seinen eigenen Weg zu gehen. »Da sind wir!« Harry ließ den Rikschamann am Ende einer schmutzigen Straße in einem Feld anhalten. Vor ihnen standen ein paar Gebäude mit weißgetünchten Fassaden. »Der Dashmeswar-Tempel!« Sie gingen auf den Eingang zu. Rechts vom Tempel sahen sie den Ganges, ein braunes Wasserband, das sich nach Norden zog. »Ramakrischna hat hier gelebt«, sagte Harry. Embree nickte stumm. Man brauchte ihm nicht zu erklären, wer Ramakrischna war. Er wußte von dem bengalischen Heiligen, weil einer seiner Jünger einmal nach Amerika gekommen war, ein Swami namens Vivekananda. Embrees Vater pflegte am Abendbrottisch über Vivekananda loszuziehen, »diesen indischen Fakir«. 375
Auf dem Tempelgelände wies Harry dann auf verschiedene Einzelheiten hin: zwölf kleine Schreine in der Westmauer; der Raum in der Nordwestecke des Hofs, wo Ramakrischna einst gelebt hatte; die beiden Haupttempel, einer davon der Göttin Kali geweiht. »Ist das nicht die Göttin«, fragte Embree, »mit der heraushängenden Zunge und dem Gürtel aus Schädeln um die Taille?« »Mein lieber Mann, das ist nicht alles. Sie hat ihr eigenes Bett und ihren eigenen Fächer, mit dem man sie fächelt, wenn es heiß ist. Da drin ist eine großartige Statue – natürlich dürfen wir sie nicht anschaun, aber ich habe gehört, daß sie mit einem Fuß auf Schiwas Brust steht, der ausgestreckt unter ihr liegt.« »Und Ramakrischna hat sie verehrt?« »Und wie. Der Anblick dieser Statue versetzte ihn in Trance. Er begann zu schielen, sein Atem stockte, seine Brust wurde rot. All das ist dokumentiert.« »Du verdammter Narr.« »Wenn du mich nicht aus Burma rausgeholt hättest, würde ich dich nicht hierherbringen und dir solche Sachen sagen. Aber du hast mir das Leben gerettet, und damit bist du eine Verpflichtung eingegangen. Ebenso wie ich. Bleiben wir hier.« Sie setzten sich auf eine Marmorstufe, und Harry beschrieb, wie er im Lager Meditation praktizierte: An einem Platz hinter einem Abfallhaufen setzte er sich mit geschlossenen Augen hin und ließ seinen Atem ein- und ausströmen. Eines Abends hörte er ein Wort in seinem Kopf, das sich irgendwie ständig wiederholte: Ramakrischna, Ramakrischna. Dann erschien ein Licht hinter seinen geschlossenen Lidern, ein helles gelbes Licht. Je öfter er das Wort hörte, desto heller wurde das 376
Licht, bis es schließlich den ganzen Raum hinter seinen Lidern füllte. Er fürchtete sich sehr. Als er die Augen öffnete, war er in Schweiß gebadet und keuchte. Am nächsten Tag geschah dasselbe wieder. Während er meditierte, kam ihm das Wort in den Sinn, und diesmal hielt er es fest, ließ es nicht los, und Licht und Wort blieben eine lange Zeit. Ramakrischna war bei ihm gewesen. »Einen Moment, Harry. Das kann ich nicht auf sich beruhen lassen. Wann hat Ramakrischna gelebt?« »Er starb 1885. Ich weiß. Ziemlich schrecklich, nicht. Ich habe mit dem Pionier aus Madras gesprochen, und er sagte: Keine Sorge – Sri Ramakrischna hat Verbindung mit dir aufgenommen. Das heißt, daß du gut meditierst und daß er gekommen ist, um dich zu ermutigen.« »Aber, Harry.« »Und wenn ich jetzt zu diesem Tempel komme, stelle ich mich da drüben hin und schließe die Augen, und das Wort kommt.« »Und das Licht.« »Ja, das auch.« »Komm, gehn wir zurück nach Kalkutta.« Embree wendet sich dem Eingang zu. »Du glaubst mir nicht.« »Komm, laß uns zurückfahren.« »Schon gut, alter Junge. Tut mir leid. Ich dachte, ich sei es dir schuldig, weil du mir das Leben gerettet hast.« Embree wußte, daß Harry es ernst meinte. Aber auf ihrer schweigsamen Fahrt zurück konnte Embree an nichts anderes denken als an seinen Haß auf diese Art Wahn. Auch Harry haßte er. Ein Blick auf den jungen, strohblonden Engländer ließ ihn die übersteigerte, 377
ekstatische Entschlossenheit von jemanden erkennen, der überzeugt ist, mit Gott auf vertrautem Fuß zu stehen. Harry und Vater. In der Stadt sprang er aus der Rikscha, winkte ohne einen Blick zurück und verschwand in der Menge. Am nächsten Tag kehrte er nach Ramgarh zurück, wo wenig Schönes auf ihn wartete.
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O
nkel Joe verlangt dich«, erklärte ein Adjutant von General Stilwell. »Und sei vorsichtig. Er befindet sich auf dem Kriegspfad.« Stilwell saß auf einem unbequemen Stuhl in Militärhosen und Jacke ohne Rangabzeichen, auf dem Kopf einen steifrandigen Feldhut aus dem Ersten Weltkrieg, der unter der faltigen Kehle mit einem Schnürsenkel befestigt war. Er las einige Minuten weiter und ließ Embree stillstehen. Endlich schob er ein Memorandum beiseite und sah mürrisch auf. »Verdammt noch mal, Embree, stehen Sie bequem.« Embree tat es. »Sie sind ein verdammt guter Offizier, Embree, aber Sie haben ein großes Mundwerk.« »Herr General?« »Sie haben mit Leuten geredet. Sie haben gesagt, wir sollten Proviant und Sold in die Hände der chinesischen Kommandeure legen.« »Ja, Sir, das stimmt.« »Na, verdammt. Erklären Sie das mal.« »Sir, diese jungen Rekruten, die folgen keinem Kommandeur, der sie nicht direkt bezahlt und den Proviant nicht direkt austeilt. Sie sind an die chinesische Art gewöhnt. Sie wissen nicht, was eine Befehlskette ist.« »Belehren Sie mich nicht über die Chinesen. Ich kenne sie so gut wie Sie. Ich spreche ihr Kauderwelsch so gut wie Sie. Ich mag sie. Ich respektiere sie auch. Also halten Sie mir keinen Sermon.« 379
»Ja, Herr General.« »Wir werden die Finanzen unter Kontrolle behalten, und es ist mir völlig egal, ob ein paar gelbe Offiziere ihr Gesicht verlieren. Ihr eigener Fehler, wenn sie uns ausnehmen. Ich will, daß Sie den Mund halten, Embree. Verstanden? Na?« »Herr General, wir werden ganz schön Kampfmoral bei den chinesischen Truppen einbüßen, wenn wir sie nicht nach ihrer Art vorgehen lassen.« Stilwell griff zu einer Zigarettenspitze, klemmte eine Zigarette hinein und gab sich Feuer. »Mir langt es jetzt. Tschiang Kai-schek hat wieder falschgespielt. Er hält schon wieder eine Division zurück. Er ist ein tückischer kleiner Miesling von Hund, und Sie halten mir einen Vortrag, wie man mit den Chinesen umgeht. Wir hier sind die Armee, heißt es jedenfalls. Ich glaube, eine Menge Leute vergessen das. Ich möchte kein einziges Wort mehr über diese Sache von Ihnen hören, Embree. Sie sind gut. Zu selbständig, aber zäh, ein Kämpfer. Und Sie sind schon lange bei mir, aber verdammt noch mal, ich lasse mir weder von Ihnen noch von sonst irgend jemandem dreinreden, wie ich mit den Chinesen umgehe. Und jetzt raus mit Ihnen.« Noch vor Einbruch der Dunkelheit gab es neue Befehle für Leutnant Philip Embree. Man versetzte ihn zu einer obskuren Einheit, genannt Kommando Einhunderteins. Es handelte sich um eine geheime Guerillaeinheit mit der Aufgabe, hinter den japanischen Linien in Burma zu operieren. Man würde einem Muster langfristig angelegten Vordringens folgen, wie es bereits von Brigadier Wingate vorgezeichnet war, dessen angriffsschnelle britische Spezialeinheiten, die Chindits, den »Chinthe«, einen burmesischen Tempelwasserspeier, zum Symbol hatten. 380
Innerhalb einer Woche schickte man Embree zusammen mit anderen »Freiwilligen« für höchst gefährliche Aufträge zum gemeinsamen Training mit den Chindits in ein Lager bei Imphal. Er war kaum vom Lastwagen gestiegen, als wieder eine vertraute Stimme schrie, wie zuvor in Kalkutta: »Na, so was, Philip! Hierher, Yank! Ich bin’s!« »Hier, hier bin ich!« Rama kommt um eine Ecke gelaufen, den dhoti hochgerafft. »Ich habe gefragt, Master. Die Fähre nach Martaban hat Verspätung.« Embree hat an der Bushaltestelle eines Marktplatzes in Moulmein auf Rama gewartet. »Wie lang dauert es noch?« »Drei, vier Stunden. Tut mir leid, Master.« Rama hält eine Hand hoch, als wolle er die Stunden an den Fingern abzählen. Drei, vier Stunden. Embree fehlt die Geduld, um zu warten. Er will etwas unternehmen, nicht abwarten und nachdenken. »Dann gehe ich da hinauf.« Embree schaut blinzelnd auf eine gewundene Straße, die einen Hang hinaufführt. »Was gibt es da oben, Master?« Rama beugt sich leicht vor, als wolle er mit seiner scharfen Nase erschnüffeln, was dort wohl ist. »Einer von diesen Burmesen sagt, ein Kloster.« »Buddhistisch, ja, Master?« Embree nickt. »Kommst du mit?« »Ach nein, Master. Ich bedanke mich herzlich, aber ich warte lieber hier. Kein buddhistisches Kloster für mich. Keine Sorge, Master«, erklärt Rama, tritt aus dem Marktgewühl heraus und winkt Embree mit seinem Schirm. »Ich warte genau hier.« Er hockt sich an eine 381
Mauer, öffnet den großen, schwarzen Schirm und hält ihn sich grinsend über den Kopf. Embree winkt zum Abschied und verläßt den belebten Markt. Es ist heiß. Er spürt, wie sich die Hitze innerhalb des Gipsverbandes auf Oberarm und Schulter aufheizt. Ein Mann am Wegrand verkauft Eiswasser. Embree ist plötzlich durstig, wagt aber nicht, solches Wasser zu trinken, obwohl er in den alten Tagen in Burma mehr als einmal sogar aus stehenden Teichen getrunken und dabei den Tod riskiert hat. Einmal trank er aus einem Teich voller Leichen. Zuerst hatte er zwar nachgeprüft, ob Fische darin schwammen, weil er dachte, daß das Wasser dann noch gut sein müßte. Ein trügerisches Argument. Und er überlebte das Wasser tatsächlich, obwohl er keine Fische, tot oder lebendig, darin gesehen hatte. Er kann den kleinen Ausflug natürlich aufgeben. Er kann irgendwo ein Café aufsuchen oder sich einfach zu Rama unter den Schirm setzen – groß genug ist der Schirm. Aber von dem Augenblick an, als er erfuhr, das Gebäude auf dem Hügel sei ein Kloster, wollte er dorthin. Er muß dorthin. Die Furcht erhebt sich aus dem NichtSelbst. Der schreckliche Gedanke hat ihn wieder einmal erfaßt; es begann schon auf der Busfahrt nach Moulmein hinein. Von einer kurvenreichen Hügelstraße aus hatte er gemächlich den Salween vorbeifließen sehen, die hübschen Inseln in seinem Kanal, die Lastschiffe, im Hafen von Moulmein vor Anker. Und plötzlich traf es ihn, eingequetscht zwischen den anderen in dem offenen Lastwagenbus: Etwas war da, etwas, was mit ihm und seinen Gefährten mitreiste, eingequetscht wie sie alle. Eine Wahnvorstellung natürlich. Aber Indien hat Embree gelehrt, Wahnvorstellungen nie auf die leichte Schulter zu nehmen – sie könnten Teil einer Realität sein, die zu 382
befremdlich ist, als daß man direkt auf sie stoßen würde. Solche Gedanken folgen Embree auf dem steilen Weg zum Kloster hinauf. Er befindet sich jetzt hoch über dem Geschäftsviertel von Moulmein und genießt das Panorama des Hafens. Da unten schwimmen Bambusflöße, gestakt oder gerudert oder von spuckenden Vorkriegsmotoren getrieben, alle mit Teakstämmen im Schlepptau. Er kann den mächtigen, gewundenen Salween verfolgen und sieht fern in einem blauweißen Hitzedunst die große Insel Bilugyun. So schön es hier ist, er steigt weiter zum Kloster hinauf, getrieben von dem Gefühl, daß die Furcht ihn begleitet. Harry steckt dahinter. Embree bleibt stehen und überlegt, ob er umkehren soll. Es gibt hier nichts für ihn. Wonach sucht er eigentlich? Plötzlich erscheint im schattigen Eingang zum Kloster ein winziger Mann, auf dem Kopf einen flachen weichen Filzhut mit einer grünen Feder. Er ruft in englischem Singsang: »Willkommen in unserem Kyaung, Sir! Willkommen! Willkommen!« Mit ausgestreckter Hand geht er auf Embree zu, und als Embree ihm seine Hand gibt, schüttelt er sie kräftig. »Sehr angenehm, Sie kennenzulernen, Sir. Bitte, hier entlang. Ich fürchte, Sie werden unseren Abt nicht besuchen können. Er befindet sich seit drei Tagen in tiefer Meditation. Niemand in Burma kann so lange meditieren wie er. Keine Nahrung kommt über seine Lippen, wir feuchten sie nur an. Und er kommt erfrischt daraus hervor. Es ist wahr. Ich habe es gesehen. Wie vergnüglich, englisch zu sprechen! Bitte hier entlang, Sir.« Einige Schritte weiter rechts ragt ein schilfgedecktes Gebäude aus Teakholz mit seinen Pfosten aus einem Gestrüpp von Bougainvillea, Tamarinden und Mango 383
hervor. »Es gibt Tee«, verkündet der kleine Mann und gibt einem Burmesen im Turban, der oben an der Holztreppe wartet, Weisung. »Ihr Englisch ist bemerkenswert«, sagt Embree höflich, als sie im Speisesaal ankommen, einem großen, luftigen Raum, bis auf niedrige, runde Tische ohne Möbel. »Nicht so bemerkenswert, wenn Sie bedenken, daß ich drei Jahre in England studiert habe. Ja.« Er nickt stolz. »Und als ich zurückkam, gab es keinen Platz für mich. Die Politik.« Er macht eine Pause, sollte Embree etwas zu sagen wünschen, und fährt dann fort: »So kam ich hierher, als Verwalter des Klosters. Es ist ganz angenehm. Unser Abt ist ein heiliger Mann. Ich verbringe schon fast vierzig Jahre meines Lebens auf diesem Hügel. Ich habe nicht den Wunsch hinunterzusteigen. Oder mindestens nicht allzuoft.« Der sanfte Humor und der Eigentadel in dieser letzten Bemerkung sind eine Erleichterung für Embree. Der Burmese im Turban bringt ein Teetablett mit Speisen, die ein Drahtkorb bedeckt. Bald stehen auf dem niedrigen, runden Tisch alle möglichen Dinge: Eiercurry, Wurst und Kartoffeln, Chilisaucen, eingemachte Teeblätter, Mais und Erdnüsse. »Bitte«, sagt der kleine Verwalter. Embree stellt sich als Philip vor. Der Verwalter heißt Ko Kau Reng. Sie trinken Tee, essen und lassen die Unterhaltung angenehm dahinplätschern. Philip erklärt, daß er auf dem Heimweg nach Bangkok in Burma Station macht; Frau und Kind seien in Bangkok, er sei zwar schon in Burma gewesen, aber noch nie zuvor in Moulmein, das ihm sehr gefalle. Sie stimmen überein, daß der Hafen von Moulmein wirklich sehenswert ist. Ko Kau Reng zieht eine Zigarre heraus, bietet sie Ko Philip an, der aber höflich ablehnt. Ko Kau Reng zündet 384
sie sich selbst an. Sie sitzen mit untergeschlagenen Beinen auf dem Boden, mit einem Baumwolltuch als Unterlage. »Waren Sie in Burma während des Krieges, Ko Philip?« »Ja. Yenangyaung. Kalewa. Und Nordburma. Und Mandalay. Zurück nach Rangun hinunter.« »Sie haben Burma aber wirklich gesehen!« Ko Kau Reng zupft an der schmalen Krempe seines Hutes und lächelt breit. Bis auf zwei Pongyis an einem entfernten Tisch ist der Speisesaal jetzt fast leer. »Ich habe nicht Burma gesehen«, erklärt Embree abrupt. »Ich habe nur das Töten gesehen.« Ko Kau Reng nickt. Warum sage ich ihm das? Er ist nicht einmal ein Pongyi. Vielleicht bestiehlt er die Mönche, schleicht zu Frauen nach Moulmein hinunter, betrinkt sich. Lächerlicher Hut mit dieser grünen Feder. Aber ich werde es ihm sagen. »Hören Sie, Ko Kau Reng, ich bin in Schwierigkeiten, und deshalb bin ich hergekommen.« Der Verwalter scheint nicht überrascht. »Ich werde einen der Mönche holen, damit er mit Ihnen spricht. Keine Sorge. Ich schicke Ihnen einen guten.« »Nein, warten Sie. Hören Sie zu. Im Krieg war ich mit einem anderen Soldaten im Einsatz. Verstehen Sie?« »Ich verstehe.« »Und bei diesem Einsatz wurde er krank. Ich denke, es war Typhus, ich bin nicht sicher.« »Wo waren Sie?« »Irgendwo nördlich von Indaw.« Ko Kau Reng nickt. »Das ist die schlimmste Typhusgegend von ganz Burma.« »Wir wurden abgeschnitten, aber ich wußte, daß es etwa fünfzehn Meilen entfernt eine Basis gab. Also machte ich 385
mich auf den Weg, aber dann entdeckte ich einen Trupp Japaner, in Richtung Osten unterwegs. Ich folgte ihnen einen Tag lang, dann noch einen. Schließlich ging ich zurück zu meinem Freund. Sein Name war Harry.« »Und wegen ihm fühlen Sie sich unglücklich bis heute.« »Ja – unglücklich.« »Sie haben das Gefühl, Sie hätten den Japanern nicht folgen sollen. Ihre Pflicht galt ihm. Aber war es im Krieg nicht Ihre Pflicht, den Japanern zu folgen?« »Ich war nicht ganz aufrichtig. Als ich anfing, den Japanern zu folgen, war klar, daß ich nichts gegen sie ausrichten konnte. Außer einem Gewehr und einem Messer hatte ich keine Waffen und kein Funkgerät, ich konnte niemand erreichen. Ich war allein. Das einzig Wichtige, was ich tun konnte, war, diese Basis zu erreichen, Hilfe für meinen Freund zu holen und dabei von ihrer Präsenz zu berichten.« »Das klingt vernünftig.« »Trotzdem, als ich sie auf dem Pfad sah, fühlte ich, ich müßte sie verfolgen. Es gab immer noch die unwahrscheinliche Chance, ich könnte etwas tun … irgend etwas …« »Ungewöhnliches«, ergänzt Ko Kau Reng mit einem Grinsen. »Genau das. Ich hatte einen Trupp Japse entdeckt, und die Frage war: Was mach’ ich jetzt? Es war … ein Abenteuer, dem ich nicht widerstehen konnte. In der Aufregung vergaß ich meinen Freund. Leuchtet Ihnen das ein?« Der Verwalter nickt feierlich. »Ja, gewiß.« »Aber das ist nicht alles.« »Ah, das dachte ich mir.« 386
»Ich ging zu ihm zurück, als klar wurde, daß ich einen Fehler gemacht hatte. Eine japanische Patrouille hatte ihn entdeckt. Er hatte vier Männer getötet, aber sie hatten ihn schwer verletzt.« »Sie konnten also keine Hilfe für ihn holen.« »Es war nichts zu machen.« »War sich Ihr Freund klar über seinen Zustand?« »Absolut. Aber er war … ohne Furcht. Ich habe eine Menge Männer sterben sehn, aber kaum jemanden mit dieser Art Bejahung.« »Er war eine alte Seele. In früheren Leben lernte er, wie man stirbt, wie man es hinnimmt. Sie hatten Glück, solch einen Freund zu haben, Ko Philip.« »Aber das ist noch nicht alles.« »Nein?« Diesmal scheint Ko Kau Reng überrascht. »Wir sprachen über seinen Zustand und kamen überein, ich sollte … ihn daraus befreien. Er war ganz logisch. Die japanischen Patrouillen sollten ihn nicht kriegen. Er bestand auch darauf, daß ich jetzt zur Basis zurück müßte, wenn ich sie überhaupt noch erreichen wollte. Harry war ein Soldat und gleichzeitig … Ihre alte Seele.« »Er war ein frommer Mann.« »Ja, so könnte man ihn wohl nennen.« »Sie sind auch ein frommer Mann, Ko Philip.« »Ich bin kein frommer Mann. Ich habe versucht – also, reden wir weiter. Es war ausgemacht, daß ich ein Stück in den Dschungel gehn sollte und dann zurückkommen und ihn erschießen. Er saß an einen Baum gelehnt. Also ging ich weg und fing an, zu überlegen – vielleicht könnte ich doch an dem Stützpunkt Hilfe für ihn holen.« »Aber Sie wußten, daß Sie das nicht konnten.« 387
»Sie verstehen es genau richtig. Ich wußte, daß es nicht ging, aber auf diese Weise brauchte ich ihn nicht zu erschießen. Ich war schuld an seiner Verwundung, weil ich ihn schon einmal verlassen hatte. Wenn ich ihm jetzt eine Kugel verpaßte, brachte ich nur zu Ende, was ich angefangen hatte.« »Das heißt …« Ko Kau Reng sucht nach Worten und schiebt den Filzhut zurück. »Wir nennen so etwas eine kluge Ausrede.« »Bedauerlich. Ich habe das Wort vergessen.« »Wir nennen das Pflichtvergessenheit. Wir nennen es feige.« »Aber auch das ist noch nicht alles, Ko Philip?« »Nein. Nachdem ich ein paar Stunden durch den Dschungel marschiert war, sah ich schließlich der Wahrheit ins Auge. Ich mußte zurückgehen und ihn erledigen. Also ging ich zurück, aber da war er tot.« Embree sieht auf, nachdem er die ganze Zeit in seine Teetasse gestarrt hat. »Und er verfolgt Sie immer noch.« »Also wissen Sie das auch.« »In Burma ist dieses Wissen nichts Besonderes. Wenn jemand durch Gewalt umkommt ohne Gerechtigkeit, bleibt er auf Erden und quält die, die ihm in den Weg kommen. Besonders den, der ihm Gewalt angetan hat.« »Das entspricht nicht der buddhistischen Lehre«, wirft Embree ein. Es stört ihn, daß Aberglaube in eine Erörterung menschlicher Schuld eingeführt wird. »Nein, das nicht. Aber wir haben den alten Glauben in unser Bekenntnis aufgenommen. Wir glauben an Nats.« »Nats sind Geister, oder?« 388
Ko Kau Reng lacht. »Ich sehe Ihnen ins Gesicht geschrieben, was Sie davon halten. Europäer scheinen die Nats nicht zu begreifen. Aber denken Sie darüber nach. Sie sind wie Ihre christlichen Heiligen und Teufel.« Endlich gelingt Embree ein Lächeln – er hat seine Geschichte erzählt, wenn auch nur diesem winzigen Mann mit dem Filzhut, der nicht einmal Mönch dieses Klosters ist. »Warum meinen Sie, ich sollte an Nats denken?« »Einfach deshalb, Ko Philip, weil Ihr Freund einer geworden ist.« Wenn Embree nicht schon so lange in Indien leben würde, hätte er jetzt lachen müssen. Statt dessen neigt er in einer Geste des Respekts seinen Kopf. »Danke für Ihren Rat.« »Ich sehe, Ko Philip, Sie begreifen auch. Jetzt rate ich Ihnen, bitte wohin zu gehn und Ihren Freund aufzurufen.« »Aufzurufen?« »Mit ihm zu sprechen, es ins reine zu bringen.« »Ich kann nicht glauben, daß das möglich ist – ihn herbeizurufen und mit ihm zu sprechen.« »Gehen Sie nach Pagan. Pagan ist ein guter Platz, um zu verweilen. Es wird Ihren Freund in eine empfängliche Stimmung versetzen. Ich bin überrascht, wie gut mein Englisch heute geht. Ein bißchen Übung macht alles.« Er steht auf, die Unterredung ist beendet. Nach ihrer Rückkehr von Moulmein nach Rangun bittet Rama wieder einmal um Erlaubnis, auf den Markt zu gehen. »Hast du da vielleicht eine Frau gefunden?« neckt ihn Embree. Der junge Tamile hebt voller Entsetzen die Hände hoch. 389
»O nein, Master. O niemals, Master!« Embree sieht ihm nach, wie er in seinem weißen dhoti davongeht, den eingerollten schwarzen Schirm unter dem Arm. »Da geht mein gesunder Verstand.« Über die Dächer von Rangun hinweg blickt Embree auf den massiven Stupa der Shwedagon-Pagode, deren goldene Kuppel herüberwinkt. Dorthin wird er also gehen. Er wird die Stufen erklimmen und auf der hohen, breiten Terrasse der größten Pagode der Welt stehen. Von diesem Aussichtspunkt wird er die Welt von Ko Kau Reng betrachten, des zigarrenrauchenden Verwalters eines Klosters, der ihn ein paar Minuten lang davon überzeugt hat, daß die Toten zurückkehren, um die Lebenden heimzusuchen. Embree steht vor dem Eingang zur Pagode. Er wird von zwei riesigen Chinthes bewacht, deren Aufgabe es ist, darauf zu achten, daß niemand die Terrasse mit Schuhen betritt. Embree blickt zu ihnen auf und denkt an die ChinditKommandos, die sich diesen mythischen Namen gaben. 1944, während der Operation »Endspurt« mit dem Ziel, Myitkyina einzunehmen, wurde Embrees Einheit Einhunderteins von Stilwell an Wingates Chindits ausgeliehen, um Zermürbungsschläge gegen japanische Einheiten zwischen Myitkyina und Indaw zu führen. Irgendwo zwischen Myitkyina und Indaw kam Harry dann um. Er steigt den überdachten, südlichen Zugang hinauf, vorbei an den Läden entlang der Treppe mit ihrem Angebot an Räucherwerk, Blumen und billigen Buddhaimitationen. Wenn Ko Kau Reng jemals genug davon bekommt, ein Kloster zu verwalten, dessen Abt sich 390
in ständiger Ekstase befindet und nie ansprechbar ist, könnte er sich hier niederlassen und Filzhüte verkaufen. Ein negativer Gedanke, denkt Embree. Dämonen, böse Geister, Nats. Quatsch. Und doch hat er während seiner eigenen Meditationen Farben gesehen und am Rand seiner eigenen Visionen gewisse Gestalten, die ihn erschreckten und dazu veranlaßten, die Augen zu öffnen. Quatsch. Und doch – Er betritt die Anlage. Sie ist riesig. Eine marmorgepflasterte Terrasse umgibt den zentralen Stupa und Reihen anderer spitztürmiger Pagoden, die sich unter ihm zusammendrängen. Wo immer er hinsieht: Buddhas in Bronze, Stuck und Holz. Die Farben, die Türmchen, Säulen und aufgebogenen Knäufe überwältigen ihn. Er setzt sich auf die Marmorbrüstung einer Pagode. Nebenan läßt sich eine Familie für den Nachmittag nieder; sie haben Zeitschriften, Matten und Kochgerät bei sich. Hinter ihnen ist ein junges Liebespaar in ein ernstes Gespräch vertieft; das Mädchen hält sich keusch ein Taschentuch vors Gesicht. Ein kleines Kind, nur mit einem Hemd bekleidet, hebt vorsichtig eine Tasse hoch, um daraus zu trinken, und setzt sie dann ebenso vorsichtig wieder ab. In einem Akt intensiver Konzentration zieht der Kleine ziemlich grob an der Vorhaut seines Penis, als wäre sie ein Gummiband, und läßt sie wieder los – schwupps! – und nimmt die Tasse wieder. Embree lächelt. Hier ist es menschlich; er hatte das vergessen; nur das Gewirr der Türmchen hatte er im Gedächtnis behalten. Er geht weiter und achtet jetzt mehr auf die Menschen als auf die Architektur. Ein alter Mönch läßt den Rosenkranz durch eine Hand laufen, während er in der anderen eine Zigarette hält. Vor einem kleinen Pavillon am Wandelgang begießen zwei Männer einen Buddha systematisch aus zwei großen Silberschalen. Vor einem verglasten Pavillon hat sich Embree wieder 391
hingesetzt. Die Statuen zweier Männer, feierlich gekleidet und in Organza gehüllt, lächeln den Vorübergehenden entgegen. Aber das Lächeln auf den Gipsgesichtern ist weder heiter noch einladend. Es ist ein schmerzliches Lächeln, neurotisch vielleicht. Embree kann kaum seinen Blick von diesem verglasten Pavillon lösen und spricht schließlich nach ein paar Minuten einen älteren Mann an, der mit elegantem, gemessenem Schritt den Wandelgang durchmißt. »Entschuldigen Sie, Sir. Sprechen Sie Englisch?« fragt er ihn. Mit einem hochmütigen Blick auf Embree sagt der Mann: »In der Tat.« »Können Sie mir sagen, wen diese beiden Figuren darstellen?« Der Mann folgt Embrees Blick und sagt zögernd: »Bo Bo Gyi und Thagyamin.« »Ich verstehe. Sind sie buddhistische Heilige? Oder Arhats?« »Sie sind Nats. Bo Bo Gyi ist Wächter von Shwegadon. Thagyamin ist König der Nats.« »Dann sind sie also nicht buddhistisch?« »Nats«, erklärt der Mann und schreitet nach einem letzten abschätzigen Blick auf Embree davon. Nats. Lächerlich. Er geht allem weiter um die Terrasse herum, während die Sonne sinkt, und kommt zu zwei großen Gipsfiguren, in Grün mit Gold gekleidet. Ihre dämonischen Gesichter haben nach oben geschwungene Fangzähne, und sie tragen lange, krumme Messer. Zweifellos ebenfalls Nats. Nats, Geister, Dämonen. Wie Harry. Der Gedanke bringt Embree zum Lachen. Komisch, wo er doch in Indien 392
gelernt hat, alles hinzunehmen, jede Art von Glauben zu tolerieren. Und da begegnet Philip Embree etwas, woran er nie und nimmer glauben kann. Auch wenn der Klosterverwalter behauptet, Harry gehöre dazu. Und trotzdem. Nach Hause gehen, eine gute Sache. Soll ich gehen? Will sie mich? Vera hat mich nie geliebt, nie, nicht einmal die paar schönen Male in Peking, als ich sie überredete, mit mir wegzugehen. Sie ist aus Angst weggegangen. Nicht meinetwegen. Ich weiß das, ich weiß das. Mit gesenktem Kopf geht Embree die Marmorterrasse entlang. Plötzlich weiß er, wo er eigentlich ist, bleibt stehen und schaut sich um: Die Dunkelheit bricht herein, kleine Pünktchen von Kerzenlicht flackern vor den Schreinen auf, und der große Turm der Pagode bekommt einen sanften Glanz, als wolle goldene Flüssigkeit sich in einem warmen, lieblichen Strom ergießen und diese Menschen fortschwemmen, die ihre Hände zum Gebet erhoben haben. Glaub daran, sagt er sich. Vielleicht auch an die Nats. Oder vielleicht nicht an die Nats. Aber da ist etwas. Alles hier, in diesem Augenblick, ist nicht umsonst. Deine Jahre in Indien, die Stunden der Meditation waren nicht verschwendet. Du hast recht getan. Zurück im Hotel Strand geht er in sein Zimmer hinauf, setzt sich an den wackeligen Tisch und beginnt schon bald zu schreiben. Liebe Mrs. Stubbs: Wie freundlich von Ihnen, mir zu schreiben. Ihr Brief kam zur rechten Zeit, denn ich war im Aufbruch zu meiner 393
Familie in Bangkok. Ich lebte eine Zeitlang in Indien, um etwas für unsere Finanzen zu tun, aber jetzt ist es mir möglich, nach Hause zurückzukehren. Sie können sich vorstellen, wie wunderbar das Wiedersehen mit Frau und Tochter für uns alle sein wird. Jedenfalls hatte ich den Vorzug, Ihren und den Wünschen Ihrer Freunde zu entsprechen. Ich habe in Burma Station gemacht. Ich bin zum Alliiertenfriedhof gegangen und habe jedes der sechs Gräber besucht. Ich darf Ihnen berichten, daß die Umgebung herrlich ist. Der Rasen ist grün und gepflegt, ebenso die Hecken. Es ist ein schöner Ort, dieser tapferen jungen Männer würdig. Ich hoffe sehr, daß Sie mit mir in Kontakt bleiben, Mrs. Stubbs. Auch ich fühle mich wie einer von Ihrer Familie. Mit herzlichen Grüßen, Philip Embree. Zwei Dinge fehlen in diesem Brief: Er hat nicht erwähnt, wo Harrys sterbliche Reste liegen, und er hat seine Nachsendeadresse in Bangkok nicht angegeben aus Angst, Vera könnte ihn dort nicht haben wollen. Er hat das Kuvert kaum zugeklebt, als die Tür aufgeht. Ein schlanker, dunkler junger Mann in Buschhemd und Khakihose – abgelegte GI-Uniform – steht grinsend da. »Na, Rama, ich sehe schon, was du auf dem Markt getrieben hast.« »Finden Sie, ich sehe ideal aus, Master?« Stirnrunzelnd vor Aufregung schlüpft Rama ins Zimmer, den abgelegten dhoti als Bündel unter dem Arm. »Absolut ideal.« »Ist das Ihr Ernst?« »Absolut. Du siehst jetzt aus wie das, was du bist: ein 394
Weltreisender.« »Ach, bin ich froh, Master!« Rama strahlt. Embree steht auf. »Laß uns jetzt essen gehn. Wenn ich mich recht erinnere, gibt es gleich nördlich von hier ein kleines Restaurant. Der Palast.« »Inder zugelassen, Master?« Embree ignoriert die Frage: »Sie servieren monhinga dort. Das magst du bestimmt: Fischcurry mit Reisnudeln und eine Soße aus allem möglichen – Enteneiern, Zwiebeln, Bananenstielen. Ich weiß nicht, was noch.« Rama fummelt an den Knöpfen seines Buschhemds und meint schüchtern: »Ich glaube, das ist nichts für mich, Master. Ich hätte lieber bloß Gemüsecurry. Sehe ich wirklich ideal aus?« »Ideal, Rama. Aber vielleicht trägst du dann lieber einen dhoti, wo wir als nächstes hingehen. Da ist es heiß und staubig.« »Als nächstes wohin gehen, Master?« »Der Ort heißt Pagan.«
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E
r braucht verzweifelt Geld. Als sie im Süden, in Pattani, waren, fanden dort Stierkämpfe statt. Er versteht überhaupt nichts davon, aber er hat hoch gewettet und verloren. Er ist wütend auf sich selbst. Eben hat er ein Billett für den Boxkampf morgen abend gekauft. Weil es ein wichtiger Kampf ist, sind die Karten teuer. Obwohl er so knapp bei Kasse ist, hat er nicht irgendeine Karte gekauft, sondern die beste. Sollte er sich zum Wetten entschließen, muß er am besten Platz sitzen. Wetten? Mit was? Eine Imbißhändlerin kommt ihm auf der Gasse entgegen. Die alte Frau trägt eine Schulterstange mit Körben an den Enden. Mit Jammerstimme preist sie ihre Köstlichkeiten an: »Kanoom ma laew! Kanoom mah laew!« »Hier«, sagt Chamlong unfreundlich zu ihr. »Laß mich sehn.« Die alte Frau setzt die geflochtenen Körbe ab. Der eine enthält Schalen, Bestecke und Töpfe, der andere das fertig zubereitete Essen: klebriger Reis, süß gegrillte Rindfleischstückchen, und Salat aus Bohnen, Krabben, Papaya, Erdnüssen, Zitronensaft, Fischsoße und Chilis. Chamlong liebt dieses som tam, er darf sich wohl etwas davon gönnen. »Einen Fünfzehner«, verlangt die alte Frau, die Schale in der Hand. »Das ist teuer.« »Einen Fünfzehner.« Er bezahlt. Die Händlerin wartet geduldig, bis er, an eine 396
Mauer gelehnt, das som tam aufgegessen hat. Er gibt ihr die leere Schale zurück und bemerkt: »Ich habe schon besser gegessen.« »Aber nicht so billig.« Sie geht weiter und ruft jammernd: »Kanoom mah laew! Kanoom mah laew!« Er blickt ihr noch nach, wie sie sich mit ihren Körben durch die bevölkerte Gasse schiebt. Alte Leute sind zu ernst, denkt er. Wie sein Vater. Erst vor ein paar Tagen warf ihn sein Vater mit Gebrüll aus dem Haus. »Wo warst du? Ich trage dir Besorgungen auf, und du bleibst den ganzen Tag weg! Du verschwindest einen ganzen Nachmittag, ohne mir etwas zu sagen! Das ist das siamesische Blut! Du bist nicht mein Sohn, du bist nicht der Sohn eines Chinesen! Ich hab’ genug von dir! Scher dich auf die Straße!« Nun, das tat er dann auch. Eine Nacht verbrachte er bei dem einen Freund, die nächste bei einem anderen. Aber manche aus seiner alten Bande stellten ihm nicht einmal eine Zimmerecke für eine Nacht zur Verfügung. Sein Vater sagt oft: »Mit Geld bist du ein Löwe; ohne bist du ein Hund.« Dabei hat er ihn ohne Geld auf die Straße gejagt bis auf die paar Bahts in der Hosentasche. Sanuk hat ihm nur Pech gebracht. Er hätte Vater mit seiner Zuverlässigkeit zufriedengestellt, aber nicht, nachdem Sanuk in sein Leben getreten war. Sie ist schön. Er kann nicht von ihr lassen, und dann, wenn er die Arbeit liegenläßt, um sie zu sehen, denkt er immer gleich an ein Hotel. Wenn sie allerdings jetzt bei ihm wäre, hätte er nicht einmal das Geld für ein Zimmer. Er starrt auf ein Plakat auf der gegenüberliegenden Seite der Gasse: ein großes, lächelndes Porträt von Khuang Aphaiwong, der gerade die allgemeinen Wahlen für die 397
Demokratische Partei gewonnen hat. Das bedeutet natürlich nichts. Die Demokratische Partei beugt sich dem Militär, und das Militär beugt sich Phibun. Politik taugt nichts. Und außerdem war er gar nicht wahlberechtigt. Er ist zwar in Siam geboren, aber er kann nicht wählen, weil sein Vater Ausländer ist. Das heißt, er könnte wählen, wenn er die Schule in Thai abgeschlossen hätte, aber wer will schon in eine siamesische Schule gehen? Als er bei seiner Mutter lebte, mochte er die siamesische Schule nicht. Er wollte nicht Thai lesen. Die einzig bedeutende Sprache ist Chinesisch. Als er zu seinem Vater kam, lachten ihn seine Halbschwestern wegen seines schlechten Chinesisch aus. Er haßt die Schule. Er haßt auch die Regierung. Die glauben, sie können den Chinesen durch Regeln und Vorschriften etwas anhaben, die Leute aus Teochiu und Kanton von politischen Ämtern ausschließen. Da irren sich die siamesischen Politiker aber gewaltig. Sie scheinen nicht zu begreifen, daß es einem Chinesen nichts ausmacht, wo er geboren ist – ob in Siam oder Singapur –, er ist und bleibt Chinese. Die Chinesische Kommunistische Partei wird die Korruption von Phibun, dem Militär und Khuang Aphaiwong und der nichtswürdigen Demokratischen Partei aufdecken und schließlich die Siamesen von ihrer Minderwertigkeit überzeugen. Das hat er Sanuk alles erklärt, aber woher weiß man, wann eine Frau etwas begreift? Sie sitzt bei den Treffen dabei, sie lächelt und redet manchmal, wenn sie nicht sollte, aber wer weiß, was sie wirklich versteht, und falls ja, ob es ihr auch etwas bedeutet? Es heißt, drei Dingen solle man nie vertrauen: einem männlichen Elefanten, einem Krokodil und einer liebenden Frau. Er sucht mit beiden Händen in den Taschen seiner 398
Khakishorts nach Münzen. Er besitzt nur noch ein paar Salehng, die kaum für den Weg zum anderen Ende der Stadt ausreichen, wo er die Flugblätter abholen soll. Aber er hat viel Zeit für den Weg. Wenn nur Sanuk zu ihm käme, konnten sie in ein Hotel gehen; sie hätten Zeit genug. Aber gestern, als er im Bangkok Friendship Club war (um sein letztes Geld beim Kartenspiel zu verlieren), fand er dort eine Nachricht von ihr vor. »Tee Rahk«, begann sie. Es stört Chamlong immer noch, daß eine Frau ihn »Liebster« nennt. Er denkt dann an die Promiskuität der Siamesinnen, die es zu jeder Zeit zu jedem beliebigen Mann sagen. »Tee Rahk. Ich habe Fieber bekommen. Kann dich nicht sehen, bis mir besser ist. Vergiß mich nie. Deine Sanuk.« Chamlong vermißt sie. Er gibt es ja zu. Sie ist fast so heiter wie ein siamesisches Mädchen und sehr viel treuer. Zumindest hofft er das. Seit gestern hat Chamlong sich gefragt, ob sie ihn loswerden will, ob der Zettel eine Art ist, Adieu zu sagen. Mädchen wie sie können leicht einen Mann finden. Sie braucht nur den roten Cheongsam anzuziehen. Aber sie ist eben nicht wie die meisten Mädchen, und sie ist gut zu ihm gewesen. Er stellt sich vor, wie sie miteinander im Bett sind, und sein Schritt verlangsamt sich. Er bemerkt kaum, wie vorbeigehende Leute ihn schubsen – er denkt an ihre schlanken Beine, wie sie um seine geschlungen sind. Aber er muß vorsichtig sein. Chamlong erinnert sich alter Zeiten, als er bei seiner Mutter lebte und Männer in die Hütte kamen. Während er in dem anderen Raum spielte und schlief, waren die Männer nebenan bei ihr. Es machte ihn verrückt, daß diese arroganten Fremden seiner Mutter solche Töne der Lust entlocken konnten. Aber so sind Frauen. Außer Sanuk hat er erst zwei Mädchen gehabt, aber das weiß niemand, nicht einmal Somchai. 399
Einem Mädchen begegnete er vor einem Jahr in Chinatown. Sie schaute aus einem Fenster im zweiten Stock auf ihn herunter. Er weiß noch, wie sie ihn anlachte, wie der kleine Vorhang neben ihrem Gesicht in der Brise wehte. Sie kamen ins Gespräch und sie rief ihn herauf. Sie war ein schamloses Mädchen, aber sie war ja auch aus Hainan, und das erklärte alles. Ihre Eltern waren in der Arbeit, und sie saß da oben in einem unaufgeräumten Zimmer mit zwei kleinen Brüdern, von denen der eine noch nicht laufen konnte. Sie behauptete, sie sei sechzehn, war aber sicher kaum älter als vierzehn. Sie lud ihn zum Sitzen ein, und er setzte sich dicht neben sie aufs Bett. Er wußte nichts zu sagen, und nach einer Weile machte sie einen Schmollmund und erklärte, er habe von nichts eine Ahnung, nahm aber seine Hand. Er drückte ihre Hand und dann strich er ihr über die Bluse, bis er auf ihrer flachen Brust eine Warze fühlte. Sofort stand sie auf und schob die beiden Kinder ins Nebenzimmer. Sie verriegelte die Tür, drehte sich um und begann, sich ohne einen Blick auf Chamlong auszuziehen. Mit den Worten »Mach schnell, ehe meine Eltern nach Hause kommen« sprang sie ins Bett. Sie war eben eine aus Hainan. Ein andermal war er mit drei weiteren Jungen, darunter Somchai, in ein siamesisches Haus gegangen, wo zehn oder zwölf Mädchen unter einer einzigen Glühbirne auf Bänken saßen. Er haßt die Siamesen. Sie sind liederlich. Man darf keiner ihrer Frauen trauen. Jeder weiß, daß die Siamesinnen die chinesischen Frauen beneiden, denn ein Chinese hat vielleicht ein oder zwei Freundinnen, aber er kommt immer wieder nach Hause, während ein Siamese trinkt, herumhurt und für seine Frau nur Schläge übrig hat. Er hat jetzt zwei Jungen im Blickfeld, die Kreise in den Staub ziehen. Sie wollen kämpfen. Wie oft hat er damals 400
im siamesischen Viertel, als er noch bei seiner Mutter lebte, gekämpft – und oft um ihren guten Ruf. Jeder Kreis stellt den Kopf dar, den heiligen Teil des Körpers. Wenn ein Junge den Kreis des andern mit der Hand wegwischt, beginnt der Kampf. Und wenn er den Fuß dazu benützt, werden sie kämpfen, bis einer von ihnen ernsthaft verletzt ist. Denn was kann schlimmer sein, als den Geist, der im Kopf wohnt, zu beleidigen, und das mit dem unedelsten Körperteil? Jetzt sind die Kreise gezeichnet, und einer der Jungen streckt einen Fuß aus. Chamlong läuft auf sie zu. »Hört auf, ihr beiden.« »Wer bist du?« entgegnet einer trotzig. Chamlong sieht sich selbst in dem Jungen, wie er vor zehn Jahren war: schmutziges, mürrisches Gesicht, ein Geschöpf der Straße. In sanfterem Ton fragt Chamlong: »Was gibt es denn zu kämpfen?« »Er schuldet mir Geld«, erklärt der andere Junge. »Er hat mit mir bei einem Drachenkampf gewettet und verloren.« Chamlong sieht von einem zum anderen. »In eurem Alter wettet ihr schon?« »Gibt es etwa ein Alter, in dem man anfangen darf?« höhnt der Junge, der Chamlong an sich selbst erinnert. »Wieviel schuldest du ihm?« »Einen Salehng«, ist die Antwort. »Das ist eine Menge Geld.« Chamlong wühlt in seiner Tasche und fischt eine Münze heraus. »Das ist genug, um ein Boot für eine Fahrt auf den Klongs zu mieten.« »Das wissen wir«, sagt Chamlongs Ebenbild. Chamlong wirft die Münze in die Luft und dann mit einem »Da!« dem anderen Jungen zu. »Also. Keine Schulden mehr. Keinen Kampf mehr. Verstanden?« Er wendet sich rasch ab, um ihre Gesichter nicht zu 401
sehen. Wieder einmal spürt er, wie sehr Sanuk ihm abgeht. Er vermißt sie wirklich. Er hätte gern gehabt, wenn sie seine Großzügigkeit hier miterlebt hätte. Dann könnte er sich jetzt in ihrer Anerkennung baden. Chamlongs Bootsmann ist ein gesprächiger alter Mann. Er begleitet seine Ruderschläge mit laufenden Kommentaren zu den Ereignissen auf dem Klong. Aber Chamlong denkt nur an die Flugblätter. Wan-li schickt heute einen Trupp zur Verteilung der Blätter in eine siamesische Wohngegend; es könnte gefährlich werden. Diese Aussicht erregt Ho Jin-shi, den Goldenen Drachen. Wenn er jetzt nur zu Sanuk sagen könnte: »Die Siamesen haben keinen Charakter. Wenn die Regierung sagt, macht das, dann tun sie es. Aber wir Chinesen achten keine Gesetze, die wir nicht selbst gemacht haben.« Der Bootsmann spricht jetzt von den Boxkämpfen am nächsten Abend, und jetzt hört Chamlong zu. »Die besten Kämpfer kommen aus dem Nordosten. Haben Sie das bemerkt? Manchmal gibt es auch einen geschickten Kämpfer aus dem Süden, aber die Kraft kommt aus dem Nordosten. Morgen würde ich auf Torapee, den Schwarzen Stier, wetten.« »Ich dachte das Gegenteil«, sagt Chamlong. »Ich mag den Jungen aus dem Süden.« »Den Dämon aus Songhkla.« »Genau den.« Der alte Mann schüttelt ablehnend den Kopf. »Fünfundzwanzig Jahre beobachte ich das jetzt schon. Glauben Sie mir, Torapee wird siegen. Wenn ich das Geld hätte, würde ich auf ihn setzen. Sai!« brüllt er, nimmt die linke Hand vom Ruder und boxt damit in die Luft. 402
»Sai! Zwei oder drei solche Schläge, und der Junge aus dem Süden geht zu Boden.« Chamlong kommt der Gedanke, daß der Bootsmann deshalb so zutunlich ist, weil er seinen Fahrgast für einen Siamesen hält. Um klarzustellen, daß er Chinese ist, sagt er: »Ich mache mir nicht viel aus eurem Boxen. Ich wette bei Mah-Jongg.« »Ach so«, grunzt der alte Mann. »Mai pen rai.« Es ist jetzt still im Boot, und Chamlong hört Tempelglocken in der Ferne, eine Sirene, bimmelnde Sampanglöckchen. Er taucht die Hand müßig über die Bootskante ins Wasser und zieht sie wieder heraus, als Unrat vorbeigeschwommen kommt – Fleisch, Papier, Gemüse, alles miteinander verklebt. In der kühlen Jahreszeit sind die Klongs unangenehm. Die Monsunregen frischen sie wieder auf, doch jetzt schäumt und stinkt das Wasser. Es sind die Siamesen, die soviel Abfall ins Wasser werfen. Ein großer roter Wagen rast die Straße am Klong entlang. Ochsenkarren, Samlors und Lastwagen bringen sich in Sicherheit wie Gänse. Im Vorbeifahren sieht Chamlong einen Chauffeur in Weiß am Steuer. Fürstlichkeiten, läßt das Rot schließen. Chamlong spuckt in den schlammigen Klong. Er sieht das Auto verschwinden und schaut aufs andere Ufer, wo kleine Mädchen in weißen Blusen und blauen Röcken zwei und zwei marschieren, die Lehrerin an der Spitze. Hat Sanuk als Kind so ausgesehen – mager, mit knochigen Knien? Chamlong lächelt bei der Vorstellung. Ja, wirklich, sie fehlt ihm. Er ist jetzt am Rand von Chinatown, in einer Seitenstraße mit verfallenen Gebäuden und gewundenen Durchgängen. 403
Plötzlich kommt ihm die Gegend vertraut vor – geradeaus ist das Bordell, in das er vor einem Jahr mit Freunden gegangen ist. Er hatte keine Ahnung, daß es so nahe bei dem Haus liegt, wo er die Flugblätter abholen soll. In Thai heißt das Bordell »Club der Freude« und in Englisch anders, nimmt er an. Die fremden Worte sind in Neonbuchstaben. Er kann sich an das Innere des Hauses genau erinnern. Unwillkürlich bleibt er fast stehen. Ein Mädchen erscheint in der Tür des Bordells. In einem schwarzen, europäischen Rock mit weißer Bluse räkelt sie sich im Eingang. »Komm doch rein«, gurrt sie und winkt ihm. »Was ist los? Kein Geld?« fragt sie auf Englisch, was er nicht versteht. »Keine Pinke – winke, winke!« Dann spricht sie Thai, lacht ihn fröhlich an und beugt sich vor, daß sich ihre Brüste unter der Bluse abzeichnen. Laut kreischt sie: »Nicht traurig sein, du komischer Kerl! Du siehst traurig aus! Lachst du denn nie?« Er schaut sie nicht an, sondern beschleunigt seinen Schritt, während ihm die Hitze in die Wangen steigt. Die Siamesen sind ein liederliches Volk, denkt er sich. Ein paar Minuten später stößt er auf eine neue Gasse, die von der bisherigen abzweigt. Als er eben einbiegt, kommt ihm vom anderen Ende ein grüner Lastwagen entgegen, fast zu breit für den schmalen Durchgang. Zum Glück ist gegenüber ein kleiner Gemüseladen mit einer breiten, schmutzigen Markise davor. Chamlong schlüpft darunter und versteckt sich zwischen den Haufen von Früchten. Entsetzt sieht er eine Gruppe von Männern in Khakiuniformen vom Lastwagen springen und mit dem Gewehr im Anschlag in das verkommene, zweistöckige Haus marschieren, das sein Ziel war. »Möchtest du etwas?« fragt ihn ein junges Mädchen. 404
»Jetzt nicht, jetzt nicht«, murmelt er und lauscht gespannt. Die Männer, die da eindringen, sind vom Elitekorps der Stadtpolizei, von den Asawin. Er hat gehört, daß sie Juwelen, Opium und Benzin schmuggeln und eine eigene, illegale Zigarettenmanufaktur betreiben. Sie sind bei der Bevölkerung gefürchtet. Und dann hört er etwas die halbe Gasse hinunter, einen dünnen, durchdringenden Schrei, dann Gebrüll, dann wieder Schreie. Das Mädchen tritt aus dem Laden auf die Straße. Aus dem baufälligen Haus dringt ein solcher Lärm, daß die ganze Gasse hinunter Menschen aus den Häusern kommen. Ich kann weglaufen oder bleiben. Die Menschenmenge ermöglicht ihm zu bleiben. Er taucht in ihr unter und ist keine zehn Meter von dem Haus entfernt, als die ersten Asawin wieder herauskommen. Sie tragen Stöße von Flugblättern, von denen einige samt ihrer revolutionären Botschaft auf die Erde flattern. Es strömen immer mehr Menschen herbei, und die Uniformierten stoßen sie zurück. Sie bringen vier Gefangene heraus, alle blutig geschlagen von Knüppeln, mit denen die Asawin jetzt die Menge auf Distanz halten. Chamlong kann nicht anders, er beugt sich vor, um Chin Yin-nan zu sehen: Sein Mund ist aufgeplatzt wie eine reife Frucht, und aus seinem linken Auge laufen Blut und eine graue, glibberige Masse. Man hat ihm die Hände auf den Rücken gebunden; ein Asawin zerrt ihn von hinten an den Haaren. Und er brüllt. Er ist ganz brüllender Widerstand. »Lang lebe China! Lang lebe die Partei!« Und doch war es Chin, der immer an Vorsicht gemahnte, denkt Chamlong. Soviel Tapferkeit erschreckt ihn. Er versucht, einen Blick auf den letzten Gefangenen zu 405
werfen. Es ist Somchai. Sie wollten sich eigentlich auf der Straße treffen und dann gemeinsam ins Haus gehen. Somchai muß früh dagewesen und schon hineingegangen sein, um seinen Anteil Flugblätter abzuholen. Er schluchzt. Auch er hat die Hände auf dem Rücken gefesselt und wird an den Haaren gezerrt. Er blutet nicht so stark wie Chin, aber er hat eine häßliche Beule im Gesicht und eine klaffende Wunde am Kinn. Er schluchzt und blickt wild um sich. Chamlong tritt zurück, aber nicht rasch genug, und ihre Blicke begegnen sich für einen Moment. Chamlong spürt die Angst wie eine Kälte in seinem Körper; er kann nicht weglaufen, aber er muß. Somchai wird von den Asawin vorwärts gestoßen und zu den anderen in den Lastwagen geschoben. Somchai hat nicht auf mich gezeigt. Er hat mich ziehen lassen. Er hätte sagen können »Schaut, der da! Nehmt ihn auch fest!« in der Hoffnung auf bessere Behandlung. Das hätte Chamlong von ihm erwartet, aber Somchai hat Mut bewiesen. »Zurücktreten! Zurücktreten!« brüllt ein Asawin in die Menge. Einen Augenblick scheint er Chamlong direkt anzuschauen, dann klettert er in die Kabine des Lastwagens: Der Fahrer startet dröhnend, die Menge spritzt zur Seite. Chamlong kann Chin nicht sehen, der wohl auf dem Boden liegt, aber Somchai sieht er sehr wohl – vornübergebeugt wegen der gefesselten Arme, das blutige Gesicht bleich und ängstlich. Das verfolgt Chamlong: Somchai mit wildem Blick nach oben, als verstünde er nicht, welches Schicksal die Götter ihm zugedacht haben, unfähig, irgend etwas zu begreifen außer dem dumpfen, alles beherrschenden Pulsschlag 406
seiner Furcht. Und doch hat er mich nicht verraten, denkt Chamlong voller Erstaunen. Aber Somchai und die andern können nicht lange durchhalten. Bald werden Leichen in den Klongs treiben mit ausgerissenen Augen, die Knochen zerschmettert – ein langer, schmutziger, erniedrigender Tod. Die Genossen sprechen von diesen möglichen Folgen, falls man sie erwischt. Sie zucken die Achseln und nennen es Pech. Pech? Der Öffentlichkeit ist es gleich, wenn wir für sie sterben, sagt sich Chamlong. Die Siamesen werden sich freuen; Chinesen wie sein Vater, die um ihr Geschäft bangen, wollen nur, daß die Polizei Ordnung hält. Somchai, Chin und die anderen werden das Gefängnis, Khlong Prem Central Prison, nicht lebend verlassen. Das steht fest. Er denkt an die Angst in Somchais Gesicht. Wenn sie ihm einen Wasserschlauch den Mund hinunterpressen und seine Eingeweide wie eine Melone zu platzen drohen, wird der arme Kerl reden. Aber Chin wird nicht reden. Lange Zeit jedenfalls nicht. Und wenn Somchai alles sagt, was er weiß, und sie ihn am Leben lassen, wird er den Rest seines Lebens in Ko Tarutao verbringen, dem Gefangenenlager auf einer Insel in der Malakkastraße. Schlimmer als der Tod. Somchais wilder Blick wird noch wilder werden, wenn man ihn erst für die Folter anschnallt. Es heißt, die Leute von der »Abteilung zur Unterdrückung des Verbrechens« seien am allerschlimmsten, noch schlimmer als die Asawin. Wieviel Zeit bleibt mir? Chamlong bleibt stehen und lehnt sich erschöpft an eine Mauer. Um ihn herum eilen Menschen fröhlich durch die Dämmerung – seltsam. 407
Wenn Wan-li und die anderen vom Untertauchen sprachen, erklärten sie: Wenn du verhaftet und eingesperrt wirst, gib deinen Kameraden einen Tag, damit sie sich aus dem Staub machen können. Gib ihnen einen Tag, und dann sage den Folterknechten, was du nicht verschweigen kannst. Ob Somchai einen ganzen Tag durchhalten wird? Wohl kaum, dem Ausdruck in seinen Augen nach zu schließen. Aber er hat mich nicht verraten, als sie ihn zum Lastwagen zerrten. Die Sache ist nur, sagt sich Chamlong und beschleunigt wieder seine Schritte, ich brauche Geld. Ohne Geld kann ich überhaupt nichts unternehmen. Er beschließt, sich an Freunde in Chinatown zu wenden. Stunden später eilt er woandershin. Es war alles sehr enttäuschend: Ein paar seiner Freunde sind überhaupt nicht aufzutreiben, andere hatten Ausreden oder lachten ihn sogar aus. Sie nannten ihn Jianghuke, den sorglosen Strolch. Früher fand Chamlong diese Vorstellung angenehm. Seit seiner Kindheit tat er gern, was andere schockierte. Er berührte die Köpfe von Buddhafiguren, ein Akt schändlicher Pietätlosigkeit. Damals sah er sich gern als Jianghuke – Spieler, großer Liebhaber und Einzelgänger. Aber heute abend ist die Bezeichnung erschreckend, denn sie bedeutet jetzt »kein Geld für dich«, »ein fideler Held muß selbst für sich sorgen«. Jetzt bedeutet sie den Tod. Umsonst hat er sich mit ihnen auseinandergesetzt. »Sind wir nicht Chinesen? Ich bin ein bißchen in Schwierigkeiten. Keine Sorge, ich sag’ es euch später. Aber ich brauche wirklich Geld. Wann? So rasch wie möglich. Ich zahle es euch zurück. Wir sind schließlich 408
Freunde. Habe ich nicht immer alles zurückgezahlt? Na, vielleicht nicht. Einfach vergessen. Ich geb’ euch dann alles auf einmal zurück. Kommt. Wir sind doch Chinesen.« Chamlong läuft müde durch die Dunkelheit. Er denkt an etwas aus seiner siamesischen Kindheit. »Wenn du mich betrügst, dann sollst du in diesem oder irgendeinem zukünftigen Leben die Lehre Buddhas nie verstehen.« In seiner Nachbarschaft galt das als der schwerste Fluch überhaupt, und ein Mann starb bei einer Messerstecherei, weil er ihn gegen seinen Feind geschleudert hatte. Chamlong denkt an seine Freunde, einen nach dem andern, soweit er sie heute antraf. Darunter Huang Yuluan, der seinen chinesischen Namen nicht mehr anerkennt und sich Luan Wongwanit nennt. Und sein ältester Freund aus der Schule: Hai Hong. Mitten auf der Gasse unter all den Leuten bleibt Chamlong stehen und erklärt: »Ihr habt mich betrogen, also sollt ihr in diesem oder irgendeinem zukünftigen Leben die Lehre Buddhas nie verstehen.« Dies tut ihm gut, und er eilt weiter. Er hat keine Wahl. Als einziger Ausweg bleibt die Versöhnung mit seinem Vater. Sein Zuhause ist am Ende einer schmalen Gasse nahe der Ya-owaraj Road, tief im Herzen von Chinatown. Viele Läden sind geschlossen mit Eisenstangen vor den Eingängen. Die Eisenwarenhandlung seines Vaters ist noch geöffnet. Zu seiner Erleichterung sieht er nicht seinen Vater, sondern Muang Song in dem wackeligen Stuhl gleich hinter dem Eingang sitzen. »Du!« schreit Muang Song und hebt die Hände hoch. 409
»Ich bin – wieder da. Es tut mir leid. Ich habe meinen Vorfahren Schande bereitet. Ist mein Vater da?« »Gut, gut, das ist gut. Du mußt auch heimkommen und es wiedergutmachen. Du bist ein guter Junge«, sagt Muang Song. »Aber dein erhabener Vater ist bei einer Zusammenkunft der Yu-yi.« Wenn sein Vater, früher Vorsitzender der Allgemeinen Handelsgesellschaft, bei solch einem Treffen ist, bleibt er sicher lange mit seinen Freunden zusammen, raucht und trinkt Tee. Dann wird er von Politik sprechen und die Regierung verteidigen. Im Namen der Freiheit wird er die Kommunisten anprangern und behaupten, einschränkende Maßnahmen gegen die chinesischen Schulen in Bangkok seien gut, weil gerade dort die Kommunisten Fuß fassen. »Auch sonst ist niemand hier«, bemerkt Muang Song. »Sie sind alle gegangen, um deine Schwester ›Nummer drei‹ tanzen zu sehen. Die Diener haben einen freien Tag.« Chamlong weiß von der Veranstaltung und ist dagegen. Seine jüngere Schwester hat eine Hakka-Mutter, ist also eine reinblütige Chinesin. Aber schon seit Jahren tanzt sie wie eine Siamesin. Inzwischen sieht sie auch so aus: Immer verdreht sie den Hals, um ihre Schokoladenseite zu zeigen. An dieser Schwester ist nur eines von Bedeutung: Sie ging in dieselbe Schulklasse wie Sanuk. Daß sie ihn Sanuk vorgestellt hat, ist in Chamlongs Augen das einzig Wertvolle, was sie auf dieser Erde vollbracht hat. Chamlong sieht sich im Laden um und betrachtet das Durcheinander, das er täglich um sich hatte, bis sein Vater ihn hinauswarf. Jetzt erscheint ihm alles fremd: Kuhglocken, Bügeleisen, zentnerweise Nägel, glasierte Nachttöpfe aus Gußeisen, Kupferlaternen, glockenförmige Beleuchtungskörper für Tempel, eingelegte Möbel, Paravents aus Rosenholz, Geräte aller Art, aus Hongkong 410
importierte Fahrräder, Terpentin, Farben, Zeitschriften aus Singapur in vier Dialekten, billiges Haushaltsgeschirr, Säcke mit Sojamehl, mit Ätzkalk, mit Bonbons aus Manila – alles gewagt auf wackeligen Tischen und schiefen Theken untergebracht. »Ihr habt noch offen?« fragt Chamlong. »Wie dein erhabener Vater sagt, um Neujahr muß geöffnet bleiben. Hörst du nicht zu, wenn er was erklärt? Bald bezahlen die Leute ihre Schulden, aber zuerst kaufen sie sich selbst etwas – als Belohnung für die Tilgung der Schuld.« Chamlong schaut in das breite, strahlende Gesicht des Gehilfen. Vor vielen Jahren geriet Muang Song als einer der zahlreichen Kulis nach Siam, die dann in Reismühlen, Zinnminen und im Hafen arbeiteten. Vater nahm ihn auf und ließ ihn den Laden kehren. Muang Song lernte rasch, das Rechenbrett zu gebrauchen und Konten zu führen, er hat Vater nie anders als »erhaben« genannt. »Siehst du?« Muang Song weist mit dem Kinn auf einen Mann, der den Laden betritt. »Dein erhabener Vater hat immer recht.« »Ich warte hinten auf ihn.« Aber Muang Song hört nicht hin, sondern hat sich bereits nach vorn gewandt, die Hände friedlich vor dem Bauch gefaltet, die Füße breit, das fette Kinn fast auf den Hals gesenkt in Erwartung eines möglichen Handels. Chamlong geht ins Hinterzimmer, ein Kontor, so vollgestopft wie der Laden. Sein Vater hat Übersichtlichkeit in einem Geschäft immer verachtet, da sie die Kunden nur mißtrauisch mache. Ordnung beim Essen, beim Schlafen, beim Gebet – das ist etwas anderes laut Chukkrit Napaget, der die Frauen seines Hauses mit Schlägen dazu anhält, die Privaträume peinlich 411
sauberzuhalten. Auf dem rotlackierten Schreibtisch hier im Büro sind so viele Gegenstände, ist soviel Papier verstreut, daß zum Schreiben kaum eine Handbreit frei bleibt. Die Buchhaltung von Muang Song findet hinter dem nächsten Raum statt, in einem Betonkabuff von der Größe eines Klohäuschens. Chamlong setzt sich und denkt nach, was er tun soll. Ob sein Vater ihm wohl vergibt? Ob Chukkrit Napaget – sein Vater benutzt ausschließlich seinen siamesischen Namen – noch dazu jemandem hilft, den die Polizei sucht? Chamlong dreht sich im Stuhl und blickt auf ein hohes Schränkchen in der Ecke. Obendrauf stehen zwei geschliffene Glasvasen mit Papierblumen vor einer kolorierten Photographie seines verstorbenen Halbbruders. Obwohl es Jahre her ist, seit man ihn hierhergebracht hat, kennt Chamlong seinen Vater nicht gut genug, um zu ahnen, was er tun wird. Er kennt nur Vaters Geschichte und auch die nur, weil Vater sie gern erzählt. Vater wurde in dem Dorf Chao An in der Provinz Kuangtung geboren. Man schickte ihn auf die Mittelschule in Swatow, die er aber nicht abschloß, weil sich die Familie seinen Unterhalt dort nicht leisten konnte. Er heiratete ein Teochiumädchen aus seiner Gegend und ging dann gleich weg, um in Singapur ungelernte Arbeiten zu verrichten. Er verließ Singapur im Jahr 1910, ein Jahr vor dem Sturz der Mandschudynastie in China, und arbeitete sich durch Malaya nach Siam, wo er dann in einer Fabrik für gesalzenen Fisch die Böden aufwusch. Nachdem er in Bangkok als Tellerwäscher beim Christlichen College angefangen hatte, bekam er dort einen Posten als Hausmeister und lernte etwas Englisch. Das ermöglichte ihm bessere Arbeitschancen. Eine Reismühle, die hauptsächlich mit einer englischen Firma in Hongkong 412
Geschäfte machte, stellte ihn als Expedienten an. Mittlerweile hatte er seine Frau nach Bangkok geholt und bekam von ihr einen Sohn und zwei Töchter. Er sparte, knüpfte Beziehungen an, trat Vereinen bei und gewann das Vertrauen der Teochiugemeinde, so daß er schließlich, als er sich selbständig machen wollte, die notwendige Unterstützung fand. Zuerst hatte er einen kleinen Laden, dann zwei, schließlich drei Läden. Als seine Frau starb, ignorierte Chukkrit Napaget den Rat von Freunden und heiratete nicht nur jemanden außerhalb seines eigenen Herkunftsbereichs, sondern auch aus einem fremden Sprachenkreis, eine Hakka, die zumindest eine Mitgift beisteuerte. Er hatte sich inzwischen seinen Zopf abgeschnitten und war der Handelskammer beigetreten. Seine denkwürdigste Tat bezog sich auf den Tod seiner Mutter, zu Hause in dem Dorf in Kuangtung, wo er geboren war. Er ließ in zwei führenden chinesischen Zeitungen von Bangkok eine Todesanzeige erscheinen mit einem Nachruf, der von fünfundsiebzig prominenten chinesischen Geschäftsleuten, von mehreren Vereinigungen der Teochiu und der Hakka sowie von der Handelskammer unterzeichnet war. Chukkrit Napaget benutzte das Gedenken an den Tod seiner Mutter oft, um seinen Sohn zu belehren. »Wenn ich nicht hart gearbeitet hätte, dann hätte meine Mutter auch keine solche Anzeige bekommen, von fünfundsiebzig wichtigen Männern unterschrieben. Solche Männer solltest du dir zum Vorbild nehmen. Denk an meinen Freund, den Vorsitzenden der Handelskammer. Er hatte leitende Stellungen in vier der sechs wichtigsten Organisationen inne, die es hier gibt. Tschiang Kai-schek hat ihn ausgezeichnet. Du könntest so wie er sein, Chamlong, aber statt dessen spielst du Fußball und wettest um Geld. Für Arbeit gibt es keinen Ersatz. Sie liegt den Chinesen im 413
Blut. Habe ich dir denn nichts davon mitgegeben?« Chamlong sitzt in dem vollgestopften Büro und weiß plötzlich: Sein Vater wird ihm vergeben, aber er wird ihm nicht helfen, besonders, wenn es dabei auch um kriminelle Dinge geht. Er wird sich von ihm zurückziehen und von seiner neuen Geliebten, einem robusten siamesischen Bauernmädchen, erwarten, daß sie ihm einen neuen Sohn schenkt. Er, Chamlong, hat nur Schande über eine alte Frau gebracht, deren Name in zwei Zeitungen erschien, mit einem von fünfundsiebzig bedeutenden Männern unterzeichneten Nachruf. »Aus«, murmelt er. Und ich habe einen Mann getötet. Was ihn überrascht, ist die Tatsache, daß er es den ganzen Tag über vergessen hat. Sanuk hat ihn angelogen, als sie erklärte, das Zusammenwirken von Mars und Merkur in seinen Sternen würde ihm Reichtum bringen. Sein Problem mit ihr ist, daß sie zuviel von ihm weiß. An ihrem ersten gemeinsamen Nachmittag hat er ihr von seinen Familienschwierigkeiten erzählt. Das sollte ein Mann nie tun. Wenn ein Mann einer Frau zuviel sagt, gibt es Unglück. Jeder weiß das. Während Chamlong seinen Gedanken nachhängt, hat er sich wieder umgedreht und betrachtet die Photographie. Das schmale, dumme Gesicht starrt auf ihn herunter. Hinter der Photographie steht ein Räuchergefäß aus Silber. Er hat oft mitangesehen, wie sein Vater darin herumsuchte und ein gefaltetes Stück Papier herauszog. Schon vor langem wurde ihm klar, daß wohl die Kombinationen der Safes darauf stehen, denn Vater nimmt es immer irgendwohin mit und kehrt mit einer Menge Bahts zurück. Der ganze Haushalt weiß von den Safes; sie sind überall im Haus verteilt, um die Verluste bei Diebstahl zu verringern. 414
Chamlong steht auf und geht ein paar Schritte auf die Ladentür zu. Inzwischen haben noch zwei Kunden den Laden betreten. Der erhabene Vater hat immer recht, denkt er verbittert. Er geht zurück zu dem Schränkchen, greift hinter die Photographie und schiebt den Haken am Deckel des Gefäßes zurück. Im Augenblick wird ihm klar, daß das, was er jetzt tut, sein Leben für immer verändern wird. Er nimmt das Stück Papier heraus und faltet es auseinander. Fünf Zahlenreihen sind senkrecht nebeneinander aufgeführt. Eine Spalte hat fünf Zahlen, die übrigen Spalten enthalten vier. Also muß die mit fünf Zahlen zu dem großen Safe gehören, das dem Schreibtisch gegenübersteht. Die übrigen Zahlengruppen gehören zu Safes im Haus oder auch außerhalb; Chamlong kennt drei davon. Eines befindet sich im Schlafzimmer der Hakkafrau; jetzt, als Frau Nummer eins, muß sie es selbst täglich kontrollieren. Ein kleines steht unter dem Haupttresen. Auch oben in dem Zimmer, wo Vater seine Freunde empfängt, befindet sich eines. Chamlong steckt den Zettel in seine Hosentasche und geht noch einmal zur Tür. Muang Song wendet ihm seinen breiten Rücken zu und hält eine Dose Terpentin hoch, die ein siamesischer Kunde mit Turban skeptisch mustert. Chamlong schlüpft aus dem Raum und steigt rasch die kurze, schmale Treppe zum ersten Stock hinauf. Die Wohnräume sind schmal und eng. Kurz vor dem Ende des Gangs ist Vaters Zimmer. Chamlong holt tief Luft und öffnet die Tür. Er knipst das Licht an, eine einzelne Glühbirne mit einem kegelförmigen, schwarzen Schirm. In einer Nische auf einem Tisch entdeckt er das kleine Safe. Es ist kaum groß genug, um eine Ananas 415
aufzunehmen. Er versucht, sich zu erinnern, wie Muang Song ihm einmal das Öffnen eines Safes erklärt hat: »Junge, du drehst es, dann nach rechts, dann nach links über die erste Zahl weg, dann wieder nach rechts. Vielleicht hast du eines Tages ein eigenes Safe zu öffnen. Aber übe nicht an den Safes deines erhabenen Vaters. Ich sage dir, wie es funktioniert, damit du nicht so dumm bist wie die Straßenjungen, mit denen du herumläufst.« Drehen. Rechts, links, rechts. Wie war das? Um die zweite Zahl nach links zu bekommen, muß man an der ersten Zahl vorbei? Er beginnt mit der ersten Serie und dreht die Scheibe, so wie Muang Song es erklärte – zumindest seiner Erinnerung nach. Drehen. Rechts, links, rechts. Als er am Griff des Safes zieht, geschieht nichts. Chamlong probiert die nächste Zahlenreihe durch, aber ebenfalls ohne Erfolg. Aus, denkt er. Er hat vergessen, was Muang Song ihm erklärt hat, oder es ist nicht das richtige Stück Papier. Chamlong starrt düster auf die graue metallene Wählscheibe an dem schwarzen Gehäuse. Er kann nichts anderes tun, als auf Vater zu warten, und er weiß schon, was dann passiert. Nach einem strengen Vortrag wird Vater ihn wieder in die Familie aufnehmen unter der Bedingung, daß er Fußball und Glücksspiel aufgibt, daß er pünktlich zur Arbeit kommt und nie fehlt, daß er sich in jeder Weise wie der Sohn eines prominenten Mitglieds der Teochiugemeinde verhält. Das ist nicht so schlimm, das ließe sich machen. Aber morgen, wenn die Polizei kommt, wird Chukkrit Napaget ihn öffentlich verstoßen. Chamlong hört bereits die laute, vertraute Stimme: »Raus mit dir! Du bist nicht mein Sohn! Verbrecher! Raus!« Vater wird ihn verraten, kein Zweifel. Chamlong nimmt den Zettel wieder zur Hand und 416
versucht mit einem tiefen Seufzer die vorletzte Zahlenreihe. Als er diesmal die dritte Ziffer eingegeben hat, hört er das Klicken im Schloß, mit dem die Nocken sich einstellen und den Bolzen für die Öffnung freigeben. Er drückt den Hebel herunter und reißt die Tür des Safes auf. Minuten später geht er rasch die Gasse hinunter, fünftausend Baht in der Tasche. Als er das Safe öffnete und den Haufen sah, schätzte er ihn auf zehntausend. Er wollte nur ein- oder zweitausend nehmen, aber seine Hand zog mehr als die Hälfte der Banknoten heraus. Mit dem Geld sicher in der Tasche ist er jetzt froh darüber. Schließlich kann er es später ersetzen, ohne daß Verdacht auf ihn fällt. Das Safe da oben wird bestimmt nicht oft geöffnet. Täglich in Betrieb sind nur die Safes im Laden, denkt er sich. Chamlong schlägt auf seine Hosentasche, prall von Banknoten. Diese glückliche Wende macht ihn ganz schwindlig. Die Welt ist voller Möglichkeiten. Er wird jetzt ein kleines, abgelegenes Hotel suchen. Er hat vierundzwanzig Stunden, um einen Plan zu machen, und er hat das Geld, um ihn durchzuführen. Vielleicht wird er morgen abend einen Blick auf die Boxkämpfe werfen – ein letztes Mal über die Stränge schlagen für einige Zeit. Vielleicht geht er einfach hin und setzt sein Geld; wenn er es verdoppelt, kann er es Vater zurückzahlen, ohne daß jemand etwas erfährt. Ich werde gewinnen, sagt Chamlong laut vor sich hin. In seinem Alter steht der Königstiger im Zeichen von Mars und Merkur. Reichtümer werden ihm aus allen Richtungen zufließen, außer aus dem Westen. Das Boxstadion liegt im Norden von Bangkok und ist nach Norden ausgerichtet. Morgen werde ich gewinnen. 417
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D
ie siamesischen Boxkämpfe finden in einer großen, runden Arena mit Rängen aus breiten Betonbänken statt. Auf halber Höhe ist ein Maschendraht von drei Metern Höhe gezogen, um das Wechseln von billigen zu besseren Plätzen zu verhindern, besonders ins Parkett am Ring, wo die Hauptwetter sitzen. Bisher hat Chamlong immer mit seinen Freunden hinter dem Maschendraht gesessen. Heute hat er einen Klappstuhl neben Männern, die hoch wetten. Er schlägt auf seine beiden Taschen. Sie sind voller Geld, denn er hat bei zwei von den drei Kämpfen, auf die eben gesetzt wurde, gewonnen. Die ersten beiden waren schon vorbei, ehe er wagte, mit Geld, das er Chukkrit Napaget gestohlen hat, zu wetten, aber dann schloß er mit dem ersten besten, der in seine Richtung blickte, eine Wette ab – und gewann. Auch wenn man sich auf den guten Rat von Frauen nicht verlassen soll, Sanuk hatte doch recht: Seine Sterne haben ihm Glück gebracht. Er wartet gespannt auf den Hauptkampf – den sechsten von zehn insgesamt. Der Sampanruderer von gestern sprach die Wahrheit: Torapee, der Schwarze Stier aus dem Nordosten, wird diesen Emporkömmling aus dem Süden vernichten! Chamlong kann das siamesische Boxen schon immer gut beurteilen und heute abend besonders. Er nimmt an, daß er beim Fußball gelernt hat, wie ein Boxer sich bewegt. Er beobachtet zum Beispiel den Magen eines Boxers, ob die Muskeln sich verschieben – das kann eine Gewichtsverlagerung vor einem Schwinger bedeuten. Niemand hat ihm das je erklärt; er hat es allein 418
herausgefunden. Die Menge brüllt los: »Eee – eee – eee!« Durch entgegengesetzte Eingänge betreten die Hauptkämpfer des Abends die Arena. Beide tragen einen Mongkhon, einen Kopfputz aus gerolltem, mit Seide bezogenem Rattan, der sich als »Glücksrad« um den Kopf legt und hinten in einem langen Rattanrohr endet, an dem eine bunte Quaste baumelt. Aber nur Torapee trägt eine ganze Blumengirlande, die ihn als Sieger von mehr als fünfzig Begegnungen ausweist. Chamlong wirft drei Siamesen – alle in weißem Hemd und ausgebeulter brauner Hose – einen triumphierenden Blick zu. Er hatte vorher gehört, wie sie große Forderungen auf den Herausforderer aus dem Süden erhoben, der von zwanzig Kämpfen nur achtzehn gewonnen hat. Der Dämon aus Songkhla macht keinen Eindruck auf Chamlong. Der Junge wirkt mürrisch. Vielleicht hat er Angst, denkt Chamlong. Impulsiv hebt Chamlong den rechten Arm und streckt einen Finger hoch. Er dreht sich zu den drei Siamesen in den weißen Hemden um. »Torapee!« brüllt er. »Zehn!« Einer der Männer nickt. »Acht!« Auch Chamlong nickt, ein befangen-beiläufiges Neigen des Kopfes. Er hat eben auf den Champion gewettet: eintausend Baht gegen achthundert. »Gute Wette«, sagt ein neben ihm stehender Mann. »Der stellt sich nicht gut dabei.« Chamlong ist stolz auf sich. »Die da müssen aus dem Süden sein«, bemerkt er schlau. »Ich will Ihnen was sagen zum Süden: Die haben schon Kämpfer da unten.« 419
Dieser Kommentar beunruhigt Chamlong etwas. »Ich glaube nicht, daß irgendeiner heute abend Torapee schlagen kann«, beharrt er. »Stimmt«, sagt der Mann, ein untersetzter, eleganter Chinese in geblümtem Hemd, den westlichen Filzhut tief ins Gesicht gezogen. Ein Spieler vermutet Chamlong und sonnt sich in der Gegenwart von soviel Erfahrung. Torapee sieht gut aus, jetzt ohne die Girlande, sagt sich Chamlong. Dann beginnt die Musik. Auf einer offenen Tribüne sitzt das Orchester: Vier müde aussehende alte Männer spielen Sanduhrtrommeln, Becken und ein Nagahorn. Beide Kämpfer halten ihre behandschuhten Hände in der Grußstellung des wai. Sie gehen zur Mitte des Rings, knien nieder und beten. Der Dämon aus Songkhla tut es mechanisch, während Torapee sich tief auf die Matte beugt und sie mit der Stirn berührt. Dann erhebt er sich und vollführt einen klassischen Tanz. An den Seilen entlang führt Torapee eine Pantomime auf, als könne er seinen Gegner nicht finden – den Kopf leicht geneigt, läßt er seine Fäuste vor der Brust zum Rhythmus der Trommel leicht rotieren. Dann hebt er ein Bein hoch, wölbt die Brust vor und läßt die Fäuste wie Flügel flattern: die Pose von Garuda, dem Vogelgott, den Wischnu reitet. Die meisten Boxer heute abend haben den Heldentanz vorgeführt, aber keiner so vollendet wie Torapee. Zum Schluß kehrt der Schwarze Stier in seine Ecke zurück, wo sein Trainer ihm ein wai schenkt. Der Junge aus dem Süden geht dann einfach im Ring rundum und grüßt barsch von allen vier Ecken. Augenblicklich rennt Chamlong zu den drei Siamesen in den weißen Hemden und weiten Hosen. Sie sehen ihn kommen und lächeln. Der eine, der bereits mit ihm 420
gewettet hat, erklärt: »Nicht mehr.« Chamlong hält seine Hand hoch wie eine Trophäe. Er streckt zwei Finger aus. »Wollen Sie soviel auf den alten Torapee wetten?« höhnt einer der Siamesen. »Er ist erst sechsundzwanzig«, brüllt Chamlong durch den Lärm im Parkett. »Kommen Sie« – und streckt einen dritten Finger aus. Der Siamese, der bisher geschwiegen hat, nickt. Er sagt etwas, und Chamlong nickt ebenfalls. Erst auf dem Rückweg zu seinem Klappstuhl, während der Schiedsrichter gerade die beiden Kämpfer in die Mitte des Rings schickt, wird Chamlong klar, daß er dreitausend Baht gegen fünfzehnhundert gewettet hat. Wo ist der Mann mit dem Filzhut? Chamlong sieht ihn, wie er zornig in Richtung eines Mannes auf den Rängen gestikuliert. Der Mann winkt schließlich mit der Hand, und der Mann mit dem Hut nickt. Chamlong ist froh, daß der Spieler nicht gesehen hat, wie er erneut gewettet hat. Es ist eine unsinnige Wette. Als aber die Glocke läutet, ist seine Erregung stärker als seine Besorgnis. Die Kämpfer haben ihren Kopfputz abgelegt und gehen aufeinander zu, die Hände mit den Handschuhen offen in Kopfhöhe, als ginge es nur um einen spielerischen Knuff. Versuchsweise kicken und schlagen sie, zielen auf Hüfte und Bizeps, um den andern zu behindern. Torapee hebt oft ein Bein, als wolle er seinen Gegner mit dem Knie stoßen; er verteidigt sich so gegen das aggressive Drängen des Dämons aus Songkhla. Chamlong bemerkt, daß der Spieler mit dem Filzhut seinen Platz wieder eingenommen hat, und sagt zuversichtlich zu ihm: »Das nützt nichts. Torapee hat ihn schon.« 421
»Eee – eee – eee«, brüllt die Menge. »Was war?« schreit er – beide Kämpfer umkreisen sich wieder lässig. »Torapee hat einen Treffer bei ihm gelandet«, erklärt der Spieler bedächtig. »Dacht’ ich mir.« Chamlong zählt zusammen, was er bisher gewonnen hat, als plötzlich Torapee mit einem Schwinger herauskommt, fehlt und sich einmal um sich selbst dreht, das Bein noch ausgestreckt; diesmal trifft er den Songkhla-Dämon mit einem schweren Schlag auf den Hinterkopf. Chamlong hat vor einem Jahr gesehen, wie er auf diese Art einen Gegner k. o. schlug, aber diesmal tritt der Mann aus dem Süden nur ein paar Schritte zurück und greift weiter an. »Fast wäre er zu Boden gegangen«, sagt Chamlong zu dem Spieler. »Er verträgt einen Schlag.« Die Runde ist zu Ende. Beide Männer gehen unverletzt in ihre Ecken zurück, wo die Trainer große Metalltabletts herausziehen, auf denen die Ringhocker stehen. Torapee schwitzt – natürlich, es ist heiß im fast ausverkauften Stadion –, aber er atmet nicht einmal schwer. »Diese Runde geht an den Stier«, bemerkt Chamlong zu dem Spieler, der stumm dazu nickt. Hinter ihnen hört Chamlong einen Mann behaupten, Torapee werde alt, er könne nicht mehr kicken, er sei abgeschlafft. Wütend dreht sich Chamlong nach diesem Mann und seinem Begleiter um, die eine Flasche Mekongwhisky zwischen sich hin und her gehen lassen. Dann blickt er auf die drei Ringrichter, die entscheiden müssen, ob es fünf Runden geben wird. Sie könnten genausogut nach Hause gehen, denkt Chamlong. Der Stier wird ihn in der dritten erledigen. 422
Zu Beginn der zweiten Runde halten sich die Gegner am Nacken fest und trommeln mit der freien Faust gegen die Rippen des Gegners. Jeder versucht, mit angehobenem Knie die Leistengegend des anderen zu treffen oder mit weiter ausholender Bewegung die Nieren. Enger Kontakt scheint bei beiden Männern mehr Energien zu wecken, sie dreschen jetzt ernsthaft aufeinander ein. Die Hälfte der Leute im Parkett ist inzwischen – wie auch Chamlong – aufgesprungen, sie brüllen rhythmisch »Eee – eee – eee« nach jedem Treffer. Das Orchester hat beim ersten Körperkontakt wieder zu spielen begonnen und verstärkt noch den Lärm. »Der Stier läßt nicht locker!« ruft Chamlong dem Spieler zu. Der Spieler nickt. »Stimmt’s vielleicht nicht?« »Er ist müde.« Müde? Chamlong starrt den Champion an, den der Schiedsrichter endlich von seinem Gegner getrennt hat. Der Stier atmet schwer, aber der Dämon ebenso, der jetzt weniger aufrecht scheint, fast ebenso geduckt wie der Champion. Sie umkreisen sich vorsichtig wieder. Chamlong sieht sich um. Das Parkett siedet vor Leuten, die es nicht mehr auf den Stühlen hält. Männer schreien und strecken Finger hoch. Es wird immer heftiger gewettet. Die Kämpfer tauschen Kicks und Schläge aus. Torapee trifft den jüngeren Mann mit einer Rechten. »Kwah!« brüllt die Arena wie mit einer Stimme. »Sehn Sie?« schreit Chamlong dem Spieler zu, der nur nickt. Torapee greift weiter an, aber der Dämon kontert mit linken Haken, von einem neuen Chor begleitet: »Sai! 423
Sai!« Der Stier drängt vor, er wirkt schwerer als seine hundertzwanzig Pfund. Seine Augen, in Narbengewebe eingebettet, suchen nach einer Schwäche bei dem größeren Herausforderer. »Er wird diese Runde auch gewinnen!« brüllt Chamlong. »Mag sein«, erwidert der Spieler. Der wimmernde Ton der Flöte kringelt sich durch die verrauchte Arena. Plötzlich schnellt der Mann aus dem Süden mit einem Fuß vor, trifft Torapee an der linken Hüfte und läßt gleich darauf mit einem linken Haken den Kopf des Stiers zurückschnappen. Die Menge brüllt. Das Stadion hallt von einem ermutigenden »Sai! Kwah! Sai!« wider, aber Chamlong gefriert der Schrei in der Kehle. Der Stier rudert unter einem Schauer von Schlägen zurück, als die Runde endet. »Ausgleich?« meint Chamlong zu dem Spieler. Der nickt und geht weg. Chamlong beobachtet besorgt, wie die Betreuer Torapee bearbeiten, der schwer atmend auf dem Hocker sitzt. Ein Trainer fächelt ihn mit einem Handtuch, der andere flüstert ihm ins Ohr, während er ihm Hals und Arme massiert. Chamlong wirft einen Blick auf die drei Siamesen und ist wütend, als sie den Blick erwidern – und lächeln. Er kann nicht begreifen, weshalb Torapee die Bauchmuskeln des Herausforderers nicht beobachtet. An ihnen läßt sich seine Taktik ablesen, das weiß Chamlong genau. Wenn er das schon sieht, warum nicht Torapee? Von hier aus ist das ganz leicht. Noch etwas beunruhigt ihn. Am Ende dieser Runde ist der Dämon nicht ruhig in seine Ecke gegangen, sondern hat in vorzeitiger Siegerpose die Arme gehoben. Das tut 424
man nicht. Das ist rüde. Das Aufwachsen in einem chinesischen Haushalt hat Chamlong Tradition eingebleut, aber bis heute abend hat er nie ein wirkliches Gefühl dafür gehabt. Jetzt empfindet er es, während er den Dämon beobachtet, wie er die Wasserflasche wegstößt und seinen Trainer angrinst. Vor dem Kampf hat er weder andächtig gebetet noch den gebotenen Tanz aufgeführt. Und jetzt nach einer guten Runde lächelt er arrogant. Chamlong spürt die Empörung der Rechtschaffenheit; nie zuvor hat er sich so alt, so konservativ, so als Chinese gefühlt. Zu Beginn der dritten Runde drängen sich alle dicht an den Ring, Chamlong steht Schulter an Schulter mit den Whiskytrinkern. Anhänger des Dämons tun sich jetzt nicht mehr so leicht beim Wetten. Bei Zusatzwetten sind die Einsätze inzwischen auf beiden Seiten gleich, bemerkt Chamlong beunruhigt. Beide Kämpfer greifen sofort, ohne sich erst zu umkreisen, mit einer Serie von Schlägen an. Der Songkhla-Dämon tanzt auf den Zehenspitzen vor und zurück, während Torapee sich plattfüßig anpirscht. Nach dem nächsten Schlagabtausch kicken sie beide gleichzeitig – ihre rechten Beine klatschen mit einem Schlag aneinander, den man im ganzen Stadion hört. Der Dämon keucht laut bei jedem Schlag und läßt Chamlong hoffen, er bestünde nur aus voreiliger Arroganz, doch da landet der Mann aus dem Süden schon einen mächtigen linken Haken, gefolgt von einem Kick, der Torapee in die Seile schickt. Der Stier wankt wie auf Gummibeinen, die Augen trüb, die Fäuste in Hüfthöhe. Zum Glück tanzt der Dämon im Triumph herum und greift nicht weiter an. Chamlong haßt ihn. Er denkt an sich selbst, an die Ungerechtigkeit, die ihn heute abend verfolgt. Nichts ist fair, nichts ist so, wie es sein sollte. 425
Am Ende der Runde sieht er die drei Siamesen abseits stehen, außerhalb des Gedränges. Sie lesen im Programm, als sei ihnen der Ausgang dieses Kampfes bereits klar, als warteten sie gelangweilt auf den Rest des Programms. Sie sagte fünf, denkt er. Sanuk hat behauptet, für ihn, den Königstiger, sei die Fünf seine Glückszahl. Er geht auf die drei Männer zu und hält fünf Finger ausgestreckt hoch. Alle lächeln. »Im Ernst«, sagt er. »Aber gleich hoch. Ich geb’ keine Vorteile her.« »Nichts mehr«, sagt der Mann, mit dem er zuerst um tausend Baht gewettet hat. »Ach, ihr Siamesen.« »Was ist?« fragt der, mit dem er nicht gewettet hat. »Das hier ist siamesisches Boxen, oder? Aber ihr wettet lieber nicht, wenn die Einsätze hoch sind. Habt ihr Siamesen denn keinen Stolz?« »Wer wettet schon auf Stolz.« »Was bist du, ein Lukjin?« fragt ein anderer. »Ich nehme an. Fünftausend. Gleich hoch«, erklärt der, mit dem Chamlong bereits um dreitausend gewettet hat. Chamlong nickt ohne ein Wort und geht wieder an seinen alten Platz am Ring. Er hat die Fünf gewettet, die Glückszahl des Königstigers, und der Gedanke daran erregt und ängstigt ihn. Der erste Schlagabtausch wirkt zögernd, als habe die vorherige Runde beide Kämpfer ermüdet. Torapee zerrt seine blaue Kniehose hoch und hebt das linke Bein, als wolle er einen riesigen Schritt machen, aber diesmal kümmert sich der Dämon nicht um das Verteidigungsmanöver – er greift an wie ein Bulle und 426
trifft Torapee mit einer Linken, die ihn zurückschleudert. »Sai! Sai!« – wieder spitze Schreie aus dem Publikum, die Erwartung der Zuschauer ist gestiegen. »Sai! Kwah! Sai! Sai!« Zurück, nur weg. Nicht sein Stil, denkt Chamlong entsetzt. Und dann vergißt er den Kampf einen Augenblick, obwohl seine Augen dem Geschehen weiter folgen. Er denkt an das Geld, das er in der Tasche hat. Er weiß nicht genau, wieviel es ist. Vielleicht ein bißchen mehr als neuntausend oder auch etwas weniger. Wenn er nur klar denken könnte. Die vielen Leute und der ganze Lärm machen es ihm unmöglich abzuschätzen, ob er genug hat, um die Siamesen zu bezahlen. Sollte er sie überhaupt auszahlen? Natürlich, jeder weiß, daß eine Wette innerhalb dieser Mauern bezahlt werden muß. Das ist Vorschrift. Und was ist, wenn man sie nicht einhält? fragt er sich. Was ist, wenn ich einen Teil bezahle? Sind sie dann zufrieden? Sie wollten doch ohnehin nicht wetten. »Eee – eee – eee«, schallt es in der Arena, als der Stier in die Seile stolpert. Das Orchester spielt jetzt mit voller Lautstärke; der Chor der Schreie wird untermalt vom dunklen Trommelschlag, vom ziselierten Wehklagen des Horns, dem Klang der Becken. Chamlong verrenkt sich den Hals, um zu sehen, wo die drei Siamesen sind. Er findet sie nicht, und das gibt ihm plötzlich neue Hoffnung. Es wird alles wieder gut. Wir werden gewinnen. Während er so denkt, sieht er, wie der Stier seine geduckte Deckung aufgibt und den Dämon mit einem Schwinger direkt in den Magen trifft. Der Herausforderer fällt auf ein Knie und springt dann wieder auf. Er fängt den nächsten Schlag Torapees mit den 427
Fäusten ab, stößt ihm das Bein weg: Der Champion verliert das Gleichgewicht und schwankt zurück in die Seile. »Eee – eee – eee – eee – eee!« Beide Kämpfer stecken im Clinch, und Chamlong hat Zeit, sich noch einmal in der Menge umzusehen. Sein Blick begegnet dem des eleganten Spielers mit dem Filzhut. »Er gewinnt!« brüllt Chamlong. Entsetzt sieht er, wie der Spieler nur eine rasche Geste der Hoffnungslosigkeit macht. Er gewinnt aber doch, sagt sich Chamlong vor und schreit »Kwah! Kwah!« in den Ring, als der Champion mit zwei schnellen Rechten Wange und Herzgegend trifft. Wieder ein Clinch, aber der höher gewachsene Herausforderer ringt Torapee auf die Matte nieder und stößt ihm das Knie ins Kinn, während er zu Boden geht. »Eee – eee – eee – eee!« Der Stier steht langsam wieder auf – ein neuer Clinch. Der Dämon hält ihm die Hand flach ins Gesicht, stößt ihm das Knie in den Magen und läßt einen harten linken Haken gegen das Kinn folgen. Chamlong sieht, wie der Champion die Augen aufreißt, sie schließt, den Mund öffnet. Der Dämon landet einen geraden Stoß mit dem Fuß gegen das Herz. Der Champion ist deutlich getroffen, er hält sich die Fäuste gegen die Wangen, die Beine knicken zitternd ein. Der Dämon, jetzt nicht mehr auf Zehenspitzen, ringt nach Luft, schwingt wild beide Fäuste und kickt Torapee in die Rippen. Der Champion setzt zu einem schwachen linken Haken an, nimmt aber seine Arme zu langsam zurück und läßt seinen Kopf ungeschützt. Und der Schlag kommt: ein voller Schwinger, der ihn an der Schläfe trifft und zu Boden schickt. 428
Die Menge brüllt, bis man nicht einmal mehr die Trommeln hört. Um den Ring entsteht ein strudelndes Gewühl, als die Wetter ihre Partner suchen, um die Bezahlung zu regeln. Chamlong zerrt die Banknoten aus der Tasche, zählt sie rasch, stopft sie wieder zurück und holt das Geld aus der anderen Tasche. Er hat neuntausend und – vielleicht etwas mehr, ein paar hundert. Er steckt viertausend in die eine Tasche, bückt sich und steckt den Rest unter seinen rechten Fuß in die Sandale. Er richtet sich auf und sieht sich rasch um, aber das Gedränge ist hier dicht, alle schieben und schreien. Die Siamesen sehen ihn zuerst, bleiben aber, wo sie sind, und lassen ihn kommen. »Der Kampf war abgekartet«, sagt Chamlong als erstes. »Der aus dem Süden könnte in einem Kampf nicht gegen Torapee aufkommen.« »Nein?« Chamlong blickt die Männer von der Seite an, sie rühren sich nicht und betrachten ihn kühl. »Ich kann zahlen«, erklärt er, zieht das Geld aus der Tasche und wendet sich an den Mann, mit dem er zuerst gewettet hat. »Hier.« Der Mann nimmt zwei Fünfhundertbahtnoten. Dem nächsten Mann gibt er sechs Fünfhunderter. »Also« – Chamlong räuspert sich –, »ich habe die anderen fünftausend nicht bei mir.« »Wo sind sie denn?« fragt einer. »Ich muß sie morgen beschaffen.« Er lächelt einen nach dem anderen an. Es wird jetzt ruhig in der Arena. »Sagen Sie mir, wo Sie morgen sind, oder schreiben Sie mir Ihre Adresse auf.« 429
»Du kannst uns hier finden«, sagt einer. »Ich zahle, ich verspreche es. Ich zahle bestimmt«, versichert ihnen Chamlong. Was ihn im Augenblick nervös macht, ist der Gleichmut, mit dem sie auf seinen Vorschlag eingehen. »Kommst du morgen abend her?« fragt einer. »Versprochen.« »Wir wollen nämlich nicht verlieren, was wir ehrlich gewonnen haben.« »Ich habe es doch gesagt. Ich muß das Geld morgen auftreiben, und dann komme ich. Jeder hier zahlt seine Schulden, nicht?« »So ist es.« »Also dann – bis morgen.« Chamlong lächelt, dreht sich rasch um und schiebt sich durch die Menge, ohne zurückzublicken. Das beste ist, denkt Chamlong, wenn er jetzt einen Samlor zum Hotel nimmt. Er sieht immer noch diese weißen Hemden und offenen Kragen vor sich. Sie sahen harmlos und gepflegt aus, aber irgendwie erinnern ihn diese Hemden an die offenen Khakihemden der Asawin. Warum bezahlen Leute ihre Schulden im Stadion? Weil die Spieler die Einhaltung der Regel erzwingen. Das weiß man. Hinter dem Maschendraht pflegten er und seine jungen Freunde voller Ehrfurcht von den Spielern von Bangkok zu sprechen, die einem die Kehle durchschnitten, sobald man sie nur schief ansah. Draußen schaut Chamlong auf die lange Reihe der Samlors, die vor dem Eingang geparkt sind. Er bückt sich, nimmt das Geld aus der Sandale und steckt es in die Tasche. Er wird zurückgehen und sie auszahlen, beschließt 430
er. Aber kaum hat er drei Schritte auf den hellerleuchteten Eingang zu gemacht, als er die drei Siamesen in den weißen Hemden entdeckt. Er versucht zu lächeln und ruft ihnen zu: »Ich wollte gerade zu Ihnen zurück!« »Und wieso?« fragt einer. Chamlong sieht zum erstenmal eine winzige Tätowierung am rechten Ohrläppchen des Mannes – eines der magischen Zeichen, die Unheil fernhalten. »Na ja, ich habe gerade in meiner Tasche das Geld gefunden, das ich morgen hätte beschaffen müssen.« Er lächelt gezwungen und schaut von einem ausdruckslosen Gesicht ins nächste. »Ich hatte es vergessen.« Er steckt eine Hand in die Tasche. »Ich wollte Sie gerade suchen.« »Komm, wir reden miteinander«, erklärt der Mann mit der Tätowierung. »Ich gebe Ihnen einfach das Geld und –« Die anderen beiden Männer haben Chamlong an den Oberarmen gepackt. Angst schießt ihm in die Beine, als die drei Männer ihn aus der Beleuchtung des Stadions in eine Gasse führen. Dort stoßen sie ihn sanft gegen die Wand einer Hütte. Hier ist ein Geflügelmarkt, der schwere, süßliche Geruch von Hühnerblut erfüllt die Gegend. »Ich bin zurückgekommen«, hört er sich selbst mit hoher, schwacher Stimme sagen. »Ich hatte – Angst.« »Ja, das glaub’ ich dir«, sagt der tätowierte Mann kühl. »Man hat es dir angesehen.« »Bist du ein Lukjin?« fragt ein anderer. »Meine Mutter war eine Siamesin.« »Eine Hure?« »Auch egal«, meint der Tätowierte. »Du«, sagt er zu 431
Chamlong, »bist ein Idiot.« »Ja, ich weiß.« »Du weißt es erst jetzt, hier mit uns.« »Seine Mutter hat mit den Chinesen gehurt, und jetzt denkt er, er ist ein Chinese.« »Auch egal«, wiederholt der tätowierte Mann. »Ich denke nicht, daß du noch mal so was Idiotisches machst.« Chamlong schöpft Hoffnung und stimmt zu. »Sie haben recht. Nie wieder, das verspreche ich.« »Schau ihn an«, bemerkt einer der anderen angewidert. »Wir könnten dir mit dem Messer kommen«, sagt der Tätowierte im selben Ton wie bisher zu Chamlong: nicht grob oder drohend, eher unangenehm neutral wie jemand, der eine Anweisung gibt. »Das weiß ich.« Chamlong fühlt, wie ihn wieder Furcht überfällt, seine Beine wie Gift lahmt. »Ich bin bestimmt nicht mehr so blöd, mein Wort drauf.« »Jetzt das Geld her.« Chamlong gräbt es wieder aus der Tasche und überreicht es dem Tätowierten, der es ruhig entgegennimmt und ihn dann mit aller Kraft in den Magen boxt. Chamlong liegt auf dem Boden, den starken Geruch von Hühnerblut in der Nase, und spürt, wie sie ihn roh in den Magen, die Lenden, auf Arme und Beine schlagen. Der Schmerz ist nicht so schlimm wie die Angst. Er hört sich selbst jammern und flehen. Nicht einmal der lähmende Schlag in die Lenden, der einen Schwall von Übelkeit hochtreibt, bringt die Furcht zum Schweigen, die ihm rasend schnell eingibt: Stechen die jetzt los, ziehen die jetzt die Messer, erstechen die dich, in den Bauch, den Hals, die Augen, die Hoden, stechen, wohin sie wollen, die tun es vielleicht, tun es, tun es – 432
Die Männer treten still zurück und betrachten ihn, wie er da im Dreck der Gasse liegt, sich übergibt, seine Lenden festhält. Der Mann, mit dem er um fünftausend gewettet hat, beugt sich über ihn. »Sag, du bist ein Siamese.« Chamlong versteht nicht. Er fragt: »Was?« »Ich sagte: Sag, du bist ein Siamese.« Chamlong stöhnt. »Sag es lieber!« »Ich bin ein Siamese«, murmelt Chamlong. »Aber die Siamesen wollen keinen Feigling wie mich. Los, sag es.« »Aber die Siamesen wollen keinen Feigling wie mich.« »Also behaupte ich, ich bin Chinese.« »Also behaupte ich, ich bin Chinese.« Der Mann richtet sich auf. Der Tätowierte hat das Geld gezählt, stellt sich über Chamlong und läßt ein paar Scheine über seinen gekrümmten Körper flattern. »Das gehört dir.« »Ich finde, wir sollten ihn erledigen«, sagt einer. »Auch egal«, sagt der Tätowierte. »Der erledigt sich selbst. Der bestimmt.« Er schlendert den anderen voraus, weg aus der Gasse und auf das Stadion zu. Chamlong liegt lange Zeit da. Ihm wird klar, daß sie ihn nicht wirklich verletzt haben – das Verdienst des Tätowierten, der ihm wahrscheinlich das Leben gerettet hat. Er blickt umher, sieht die verstreuten Scheine, sammelt sie auf und zählt: zweihundertzehn Bahts. Wenigstens etwas. Als er schwankend aufsteht, wird ihm wieder übel, und er muß sich an die Wand lehnen. 433
Der, dem ich die fünftausend geschuldet habe, war der Schlimmste, denkt er. Er nimmt die Hand von der Mauer, versucht, ob er gehen kann, und macht dann einen Schritt und ein, zwei weitere. Es geht. Eines Tages wird er ein Mann sein, den niemand zu erniedrigen oder einen Siamesen zu nennen wagt. Er ist Hojin-shi. Seine einzige Hoffnung ist jetzt Wan-li. Die Frage ist nur, wie er seinen Vetter finden soll, der nach der Razzia sicher sein bisheriges Zimmer aufgegeben hat. Jeder führende Mann hat eine Kontaktadresse zugeteilt bekommen für den Fall, daß er sich versteckt halten muß. Dort kann man Nachrichten für ihn hinterlassen. Mit dem neuen Plan im Sinn geht Ho Jin-shi direkt zu der Wäscherei in Chinatown, die seinem Vetter als Deckadresse dient. Als er angekommen ist, ist sein Kopf klar, sein Körper schmerzt, aber es ist nichts gebrochen. Er hat wirklich Glück gehabt. Dieser Gedanke gibt ihm Hoffnung, während ihm die Möglichkeiten durch den Kopf rasen, was er wohl vorfindet: Wan-li ist da; Wan-li ist nicht da, aber jemand weiß, wo er ist; niemand ist da, der Laden ist überfallen worden. Eines steht für Ho fest: Er kann sich auf Wan-li verlassen. Sie haben etwas gemeinsam: Ihre Väter haben sie verstoßen. Bei Wan-li geschah es, als er aus Kanton zurückkehrte, wo er bei einem radikalen Onkel gelebt hatte, der Mao und die Befreiungsarmee, die im Norden kämpften, unterstützte. Sobald der Vater von Wan-lis Aktivitäten als kommunistischer Agitator erfuhr, ging der alte Mann in den nächsten Tempel und löschte öffentlich die Erinnerung an seinen Sohn – er erklärte ihn für tot. 434
Jetzt sind wir wie Brüder, denkt Ho und biegt in die Gasse ein. Wie er vermutet hat, ist die Wäscherei noch geöffnet, obwohl es fast Mitternacht ist. Dampf dringt aus dem Eingang, und Ho sieht einen alten Mann über ein Kohlebügeleisen gebeugt. »Alter Vater«, ruft Ho durch die offene Tür. Der Mann blinzelt, stellt das Eisen ab. »Bring nur deine Sachen.« Ho tritt ein. »Ich habe keine Wäsche. Ich suche meinen Vetter. Alles hängt davon ab, ob ich ihn finde.« Der Wäschereimann schaut ihn an. »Haben Sie gehört, Vater?« Der Mann nickt. »Wan-li ist sein Name. Ho Wan-li.« »Ich kenne ihn nicht.« »Ich bin sein Vetter. Wenn ich ihn nicht finde, ist alles aus. Verstehen Sie, Vater?« »Was Leute reden, teile durch fünf.« Der Alte nimmt das Eisen wieder zur Hand und bügelt an dem Hemd weiter. »Dann möchte ich eine Nachricht hinterlassen.« Ho nimmt ein Blatt Papier von dem Block, auf den sonst Rechnungen geschrieben werden, und einen Bleistiftstummel vom Tresen und schreibt: »Ho Jin-shi muß Ho Wan-li treffen.« Die Chance ist nur vage, aber er hat sonst keine. »Bitte«, sagt er. Der alte Mann sieht nur kurz von seinem Eisen auf. Am nächsten Morgen kann Ho es kaum erwarten und eilt zu der Wäscherei zurück. Der alte Mann ist nicht da, aber ein jüngerer Mann und zwei Mädchen sind bei der Arbeit. 435
Ho stellt sich vor und fragt, ob sie etwas für ihn hätten. Eines der Mädchen gibt ihm wortlos dasselbe Stück Papier, auf das er gestern nacht geschrieben hat. Unter seinen eigenen Worten liest er: »Wat Benchamabopit. Zwei Uhr dreißig.« Pünktlich um zwei Uhr dreißig betritt Ho Jin-shi das Tempelgelände und sucht unter den Menschen, die dort herumwandern. Kein Wan-li. Schon als er die Nachricht las, befürchtete Ho, es könne eine Falle sein, aber ihm blieb keine Wahl. Die Sonne glüht auf die goldenen Ziegel des Bot, und Ho ist beim Eintreten einen Augenblick geblendet. Dann lösen sich aus der kühlen Dunkelheit im Schein der Kerzen unsterbliche Gestalten: der Hauptbuddha mit dem großen Bauch und runden Gesicht im Stil von Sukhothai, seine Finger von gleicher Länge; außerdem kleine Buddhas, sitzende wie stehende. Ho wendet sich ungeduldig ab, nachdem er sich vergewissert hat, daß Wan-li nicht unter den Anbetenden ist. Im Hof beobachtet er, wie ein Taubenschwarm aufsteigt, dann herunterstürzt und auf dem Marmorpflaster landet. Er wird nicht kommen. Dieser panische Gedanke treibt Ho weiter in den Tempelkomplex hinein. Er blickt in den kleinen Kanal voller Schildkröten, freigelassen von Leuten, die sich verdient machen wollen. Trotz seiner Angst fällt ihm ein, wie er mit seiner Mutter hierherkam und sie eine zu diesem Zweck gekaufte Schildkröte aus einem Sack ins Wasser gleiten ließ. Jenseits des Kanals ist das Kloster, doch kein Mönch ist zu sehen. Niemand, außer alten Leuten, jungen Paaren, hüpfenden Kindern – niemand, der wichtig wäre. Kein Wan-li. Ho erinnert sich an einen rückwärtigen Hof, der vom 436
übrigen Tempelgelände abgetrennt ist, und läuft zu dem Tor dorthin. In dem umschlossenen Hof stehen unter einer überdachten Galerie mehr als fünfzig Buddhafiguren, Originale wie Kopien nach berühmten siamesischen Bronzen. Jede Periode ist vertreten: Davaravati, Khmer, Lobpun, Sukhotai, Ayutthaya und Bangkok unter anderen. Aber Chamlong beachtet sie nicht. Nur einen Augenblick bemerkt er die erhobene Hand eines Buddhas, Handfläche nach außen als Zeichen: »Fürchte dich nicht.« Fürchte dich nicht. Wo ist Wan-li? Nur ein paar Menschen gehen langsam von Skulptur zu Skulptur und blicken in eine Zeit, die nichts mit ihnen zu tun hat. Keiner ähnelt auch im entferntesten seinem Vetter. Aus. Ohne Hilfe ist er verloren, und doch bietet ihm die Welt keine. Ho schaut auf die Uhr, als ob sie falsch ginge. Vater hat mir diese alte Uhr geschenkt, denkt Ho, als er sich eine bessere kaufte. Die Zeiger unter dem verkratzten Glas zeigen drei Uhr. Nur eine halbe Stunde Verspätung. Wanli kann noch kommen. Wan-li ist es ihm schuldig. Als der Vetter vor ein paar Monaten aus Kanton nach Bangkok kam, müde und mißtrauisch, sein Thai aus der Kindheit fast vergessen, mußte er sich auf Ho verlassen: Ho beschaffte ihm in einem sicheren Teil von Chinatown ein Hotelzimmer, und er gab sich alle Mühe, Wan-li von der Tatkraft und dem guten Willen der Mitglieder der hiesigen kommunistischen Partei zu überzeugen. Geduldig erläuterte er die politische Situation in Bangkok: Wie die Regierung die chinesische Bevölkerung in Siam verfolge; vom Verlag der Roten, der umziehen mußte und auf Anregungen von dem großen Journalisten aus Kanton warte; wie jeder Ho Wan-li aus China schützen werde, weil er allein fähig sei, die Chinesen zu führen beim Widerstand gegen die elende siamesische Regierung. Ho blieb der Arbeit im Laden 437
fern, und Vater verfluchte ihn deshalb. Nach ein paar Tagen, sobald Wan-lis Mut und Vertrauen gewachsen waren, brachte Ho Genossen in das Hotel. All das hatte er für Wan-li getan, aus familiärer Verbundenheit wie aus revolutionärer Überzeugung. Sowohl als Vetter wie als Kommunist schuldet ihm Wan-li dieselbe Loyalität, dieselbe Rücksichtnahme. Aus. Und dann sieht er eine Gestalt, die sich an der Ostmauer entlangbewegt und in der gedeckten Galerie verschwindet. Als Ho neben Wan-li angekommen ist, studiert sein Vetter gerade eine große Bronze aus Sukhotai, deren gewölbte Augenbrauen über der Hakennase zusammengewachsen sind. »Ich habe dich gesucht«, beginnt Ho atemlos. »Das muß aber nicht jeder wissen. Chin Yin-nan ist tot.« »Ach. Woher weißt du das?« »Heute morgen fand man seine Leiche in einem Klong.« »Und Somchai?« »Wissen wir nicht. Aber die Asawin haben unsere Namen. Das steht fest.« »Meinen auch?« Wan-li blickt ihn von der Seite an. »Natürlich deinen auch. Was ist das?« Er deutet auf einen großen, blauen Fleck auf Hos nacktem Arm. »Nichts. Ein Matrose hat mich auf der Straße angerempelt.« »Du kannst dir keinen blöden Unfall leisten.« Ho nickt. »Was geschieht jetzt mit uns?« Wan-li erklärt, daß die Partei in den Untergrund geht. Das hat es woanders auch schon gegeben; Menschen, die 438
die Welt verändern wollen, müssen immer wieder damit rechnen. Wenn man den Glauben hat, gibt es keinen Grund zur Sorge. »Bist du in Ordnung?« fragt Wan-li. »Ja, natürlich. Warum?« »Du siehst krank aus.« »Nun, ja – ich habe etwas gemacht.« Ho macht eine Pause, er hat nicht überlegt, was er Wan-li eigentlich sagen oder verschweigen will. »Ich brauchte Geld. Ich war schon ganz verzweifelt. Verstehst du? Also nahm ich ein bißchen – nicht viel – aus einem von Vaters Safes.« Wan-li kichert. »Warum nicht? Er hat andere ausgebeutet, dich eingeschlossen, ein Leben lang. Wenn Geld dir hilft, dann gut.« »Aber er wird nicht ruhen, bis man mich gefunden hat. Sämtliche Teochin-Organisationen werden ihm dabei helfen. Vater kennt jeden.« Wan-li schürzt die Lippen und bedenkt diese neue Entwicklung. »Was hast du vor?« »Ich will das Land verlassen.« »Na ja, du könntest eine Zeitlang in den Süden gehen.« »Nicht in den Süden. Nein.« Ho denkt an den Mann, der in der Felsspalte steckt, weiß wie ein toter Fisch. »Will sie auch weg?« »Wer?« Wan-li leckt sich die Lippen. »Hast du dir das gut überlegt?« »Ja«, lügt Ho, dem der Gedanke eben erst gekommen ist. »Also gut. Laß es mich auch überlegen. Komm morgen 439
um dieselbe Zeit hierher.« »Bitte, sei pünktlich. Das Warten hat mich ganz verrückt gemacht.« »Nachdem ich jetzt weiß, daß du es bist, werde ich pünktlich dasein.« Und tatsächlich bringt Wan-li am nächsten Tag gute Nachricht. Am Abend zuvor war auf einer Versammlung des Exekutivkomitees der Chinesischen Kommunistischen Partei von Siam beschlossen worden, dem Genossen Ho Jin-shi eine Botschaft von größter Wichtigkeit anzuvertrauen. Er soll diese Botschaft nach China mitnehmen und sie persönlich dem vertriebenen Premier von Siam, Phanomyong Pridi, der sich unter den Schutz der dortigen revolutionären Kräfte gestellt hat, überbringen. Der frühere Premier plant seine Rückkehr nach Siam. Seine Rückkehr bedeutet eine Invasion von Bangkok, bedeutet den Sturz der derzeitigen Regierung. »Du siehst also«, schließt Wan-li, »du hast einen wichtigen Auftrag bekommen.« »Ich verdanke dir alles«, sagt ein überwältigter Ho impulsiv, aber Wan-li wehrt seine Dankbarkeit mit einer Handbewegung ab. »Nachdem du den alten Dieb beraubt hast«, sagt er, »hast du Geld genug für deine Reise nach China.« Mit einem Lächeln fügt er hinzu: »Stimmt das etwa nicht?« »Doch, es stimmt.« »Dann zahlst du selbst. Die Partei kann es sich nicht leisten. Nicht, wenn wir Geld brauchen, um im Untergrund zu arbeiten.« 440
»Ich verstehe.« »Hier ist der Name von jemandem, der dir gefälschte Papiere ausstellen wird. Er gehört zu uns, er wird daher nicht viel verlangen. Nicht, daß du es dir nicht leisten könntest.« Wan-li betrachtet ihn kühl. »Bist du in Ordnung?« »Natürlich.« »Du wirkst bekümmert. Das darfst du nicht, wenn du auf der Flucht bist. Man darf dir nicht anmerken, daß du flüchtest.« »Bestimmt nicht«, erklärt Ho. Er versteht das säuerliche Verhalten seines Vetters nicht. Die wunderbaren Nachrichten, die er gebracht hat, gibt er unfreundlich weiter und wird dann kritisch. »Noch etwas. Laß das Mädchen hier. Nimm sie nicht mit. Du hast doch daran gedacht, oder?« »Nein«, sagt Ho ehrlich. Sie trennen sich, und Ho setzt sich zu einer Tasse Tee in einen siamesischen Laden. Niemand kennt ihn in diesem Viertel. Sein Schicksal hat sich zwar in kurzer Zeit gewandelt – gut, schlecht, gut, schlecht –, aber jetzt endlich ist es zu übel, um sich noch einmal zum Guten zu wenden. Die Planeten sind entschieden gegen ihn. Er kann seinem Vetter nicht sagen, daß er das gestohlene Geld nicht mehr hat. Wan-li würde Auskunft verlangen, wieso. Was würde die Partei denken? Sie würden einem Spieler keine wichtige Nachricht an den Premier im Exil anvertrauen. Vielleicht würden sie ihn sogar der Polizei übergeben, wer weiß. Aber vielleicht auch nicht, denn er könnte sie verraten, so wie es Somchai getan haben muß, als sie den armen Kerl folterten. 441
Ho sitzt da und brütet, und seine Gedanken wandern zu Sanuk. In letzter Zeit kam er gar nicht dazu, an ein Zusammensein mit ihr in einem Hotelzimmer zu denken. Der Wechsel von Glück und Unglück hat ihm die Lust ausgetrieben. Aber seit sein Vetter sie beim Tempel erwähnt hat, hat ihre Gegenwart ihn nicht mehr verlassen: eine junge Frau, die ihn begleitet hat, mit ihm Zusammenkünfte besucht, ihm Geld gegeben, ihm versichert hat, daß sie immer helfen will. Wie ein Tier seine Beute bis zum entscheidenden Augenblick belauert, verfolgt Ho diese Gegenwart von Sanuk in seinem Sinn, bis er aus dem Teeladen rennt: Er muß jetzt handeln. Zuerst kauft er an einem Stand einen breitrandigen Fischerhut. Sicher, daß sein Gesicht verborgen ist, nimmt Ho einen Samlor zu einem Abschnitt des Flußufers, wo lauter Fischerhütten stehen. Wegen der zahlreichen Verbrechen dort patrouilliert hier oft die Polizei der Hauptstadt, und es ist gefährlich für ihn. Aber er muß es darauf ankommen lassen. Vorsichtig hält er unter dem breiten Hutrand nach Khakiuniformen Ausschau. Vor ihm liegt, wonach er sucht: Neben einer Müllkippe, die nach Fisch stinkt, treten Jungen einen Ball. »Wo ist Sopon?« ruft Ho im Befehlston. Nur ein Junge wendet sich vom Spiel ab und deutet in eine Richtung. Das stinkende Ufer entlang geht er rasch an ihnen vorbei. Vor ihm hocken ein paar Frauen um einen großen Weidenkorb und säubern Fische aus dem Fluß. Dahinter ist eine weitere Bande Jungen. Im Näherkommen erkennt Ho den zehn- oder elfjährigen Sopon, nackt bis auf ein abgeschnittenes Paar zerlumpter Shorts. Als Ho ihn ruft, mißt ihn der Junge mit mürrischem Blick und läßt sich eine gute Minute Zeit, ehe er sich aus 442
der Gruppe herausschält und zu ihm kommt. »Ich hab’ eine Nachricht«, sagt Ho zu ihm, dann fällt ihm ein, daß er sie in der Eile noch nicht aufgeschrieben hat. »Bring mir Bleistift und Papier.« Sopon beäugt ihn kritisch. »Wozu der Hut?« »Los, bring mir Bleistift und Papier.« »Du siehst nicht wie ein Fischer aus, wenn das deine Absicht ist.« Sopon streckt die Hand aus. »Zehn Satang für den geliehenen Bleistift. Sie geben ihn mir nicht, wenn ich nicht bezahle. Komm schon, was sind zehn Satang?« Ungeduldig greift Ho in die Tasche. Sopon wird die zehn Satang behalten und den Bleistift von einer der Huren da oben ausleihen. Ho hat Angst, daß Sopon ihn anzeigt. Er ist ein cleverer und zäher Junge, so wie er einst selbst einer war. Wenn er einen gesuchten Verbrecher hätte anzeigen können, wäre er in Sopons Alter nach dem Bleistift oder zur Polizei gelaufen? Er weiß es nicht. Er atmet auf, als Sopon durch den Schlick des Ufers zurückgesprungen kommt, den Bleistift wie eine kleine Fackel in der Hand. Ho schreibt sorgfältig, Sopon, der nicht lesen kann, schaut ihm über die Schulter. »Geht es dir besser? Ich hoffe es. Muß dich sehn. Wichtig. Komm zum Hotel Laemtong, oder gib Nachricht. Komm bald.« Er findet es klüger, nicht zu unterschreiben. Aber weiß sie genug, um nach seinem neuen, chinesischen Namen zu fragen? Man kann sich nicht darauf verlassen, daß Frauen solche Sachen kapieren, deshalb fügt er nach »Nachricht« noch die Worte ein: »– an meinen Freund Ho Jin-shi.« Das wird jeden verwirren, der den Zettel auffängt, denkt er zufrieden. 443
Er gibt ihn Sopon, holt einen Baht heraus und händigt ihn aus. Der Junge schüttelt den Kopf. »Ist was verkehrt?« »Nicht genug.« »Letzte Woche hast du für einen Baht eine Nachricht zu ihr gebracht. Damals war das genug.« »Der Preis ist gestiegen.« »Warum? Die Antwort wird sie selber schicken. Du machst nur eine Tour.« Der Junge schüttelt wieder den Kopf. »Ich muß da hingehn und die Steinchen schmeißen und sie richtig schmeißen, damit sie den zweiten Stock neben ihrem Zimmer treffen. Das ist nicht leicht. Wenn ich es falsch mache, hört es eine von den Frauen dort und kommt herunter. Oder wenn sie es hört, muß ich warten, bis sie herunterkommt und ich ihr den Zettel geben kann. Das kann dauern, denn die Frauen könnten in der Nähe sein und aufpassen. Aufpassen können sie prächtig, die alte Chinesin und die Köchin und diese Siamesin, Nipa. Und wenn sie mich erwischen, kriege ich Schläge, oder sie bringen mich ins Haus und stellen eine Menge Fragen, und ich muß den Mund halten. Das Ganze ist mehr wert als einen Baht.« Ho fischt einen Salengh heraus. »Mach zwei draus.« Sopon sieht mit hoffnungsvollem Lächeln zu ihm auf. »Komm schon. Zusammen sind es dann nur zwei Baht.« Ho gibt dem Jungen noch einen Salengh und sieht ihm nach, wie er mit dem Zettel davonrennt. In dieser Nacht kann Ho nicht schlafen, und als der 444
Morgen über Bangkok dämmert, steht er an dem kleinen, offenen Fenster in seinem Hotelzimmer und sagt sich immer wieder: Aus. Es ist aus mit mir. Der Tag schleppt sich hin, bis es am Spätnachmittag an der Tür klopft. Draußen steht ein junges Mädchen von etwa dreizehn mit eben knospenden Brüsten. Sie blickt mit großen, ängstlichen Augen zu ihm auf. »Ho Jin-shi?« »Ja, ich bin Ho Jin-shi.« Sie greift zwischen Bluse und Sarong, zieht ein gefaltetes Stück Papier heraus und gibt es ihm. Er entfaltet es und liest mit Erleichterung: »Tee rahk.« Sie hat ihn nicht vergessen. Aber was dann folgt, entspricht nur seinem sonstigen Pech. »Immer noch Fieber. Doktor kam heute, weiß aber nicht, was es ist. Aber nichts Ernstes. Keine Sorge. Deine Zeilen wirken dringend. Ich habe Angst um dich. Ich komme, sobald es mir besser geht. Du kennst mich. Ich schicke Nachricht an dieses Hotel, wenn du nichts anderes schreibst. Keine Sorge. Vertrau mir. Deine Sanuk.« »Nachricht?« fragt das Mädchen, als er zu Ende gelesen hat. »Ja«, sagt Ho Jin-shi. Er setzt sich mit einem Bleistiftstummel und einem herausgerissenen Stück Zeitungspapier aufs Bett. Ihr vertrauen? Ich muß wohl, denkt er. Auf den freien, oberen Rand des Papiers schreibt er: »Tee rahk. Komm bald. Ich brauche dich.« Er gibt das gefaltete Papier dem Mädchen vor der Tür, die damit wegläuft. Ho geht im Zimmer auf und ab. Wenn sie erfährt, daß ich Geld brauche, wird sie mir helfen? Ihre ausländische Mutter ist reich, aber was heißt das? Ich habe auch einen reichen Vater. Seltsam, sich auf eine Frau zu verlassen, denkt er. Kann ich einer Frau vertrauen? Jemand muß ihm helfen, und zwar bald, sonst ist alles verloren. Aus. 445
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in ganz besonderer Ort, denkt er. Geschaffen für das, weswegen ich gekommen bin. Embree steht neben der Tonga mit dem Pferd davor und schaut auf Hunderte von Tempeln aus rotem Backstein – er sieht nur einen Ausschnitt aus Tausenden, die in Pagan immer noch stehen, nachdem Wetter und Plünderung achthundert Jahre lang ihr Werk auf der staubigen Ebene im Inneren von Burma verrichtet haben. Rama ist in dem kleinen Gästehaus, das sie im Dorf Nyaung-Y bezogen haben, geblieben. Den Anblick der von Edelraute begrünten, von Turmspatzen übersäten Ebene hatte Embree das letztemal während der letzten Kriegsmonate vor sich. Der Hauptteil der alliierten Streitkräfte hatte bei Nyaung-Y übergesetzt, und als die Kolonnen nach Süden zogen, blickten viele Soldaten über ihre Tornister zurück, wie das Sonnenlicht schräg in das Dunkel von Terrasse, Vestibül und Kreuzblume der Tempel von Pagan fiel. Am nächsten Tag entging Embree knapp dem Tod: Jemand war auf eine japanische Landmine getreten. Heute hatte er ganz anderen Kontakt mit den Japanern, und zwar im Flugzeug von Rangun. Er und Rama waren mit fünf, sechs weiteren Passagieren an Bord einer zweimotorigen Armstrong-Whitworth »Albemarle« gegangen. Während des Krieges hatte sie als spezielles Schleppflugzeug gedient, für den Transport umgerüstet, und nun, wild zusammengeflickt und hoffnungsvoll überholt, flog sie ein Expilot der Royal Air Force zwischen Rangun, Pagan und Mandalay hin und her. Ein sehr seltsamer Flug für Philip Embree, mit zwei Japanern 446
in den Sitzen gegenüber, lässig in Hosen und weißen Hemden mit offenem Kragen. Den letzten Japaner hatte er in einem burmesischen Dorf gesehen, vor drei Jahren. Als den Burmesen klar wurde, daß die Japse den Krieg verlieren würden, hatten sie beschlossen, sich bei den Alliierten beliebt zu machen, indem sie einen Japaner gefangennahmen und umbrachten. Einer aus dem Dorf trug den topfförmigen Stahlhelm des Soldaten, ein anderer seine Drillichkappe. Ein weiterer hatte seine Strohsandalen an, die im Schlamm viel besser waren als amerikanische Feldstiefel. Die Dorfbewohner hatten dem Japaner die Geschlechtsteile abgeschnitten und ihm in den Mund gestopft. Als Embree ihn sah, hatte die Hitze ihn bereits aufgebläht; seine Arme und Beine waren rund und glatt wie die eines Babys. Heute im Flugzeug begab sich einer der japanischen Passagiere immer wieder ins Cockpit, eine Landkarte in der Hand, während der andere, ein älterer Mann, regungslos dasaß und seinen Blick irgendwohin über Embrees rechte Schulter gerichtet hielt. Schließlich kam der jüngere Japaner ganz aufgeregt aus dem Cockpit zurück. Der ältere griff nach der Karte, und sie studierten sie gemeinsam. Ein paar Minuten später beugten sie sich dem kleinen Fenster der Kabine entgegen und spähten hinunter auf die Landschaft, die unter kleinen Wölkchen vorbeizog. Ein barsches Kommando von dem älteren – und sie traten vom Fenster zurück und grüßten steif. Als sie sich wieder setzten, füllten sich die Augen des älteren Mannes mit Tränen. Embree konnte den Mann nicht weinen sehen. Er blickte in seine eigenen wirren Erinnerungen an den Krieg. Sie erschienen ihm chaotisch und kaum greifbar. Was er wollte, war Frieden. War es nicht so? War er nicht deshalb bis Madras gekrochen und hatte sich 447
versteckt, hatte Gott gesucht, mit untergeschlagenen Beinen und geschlossenen Augen? Natürlich hat er sich das die ganze Zeit vorgesagt, aber ist es deshalb wahr? Manchmal schwingt in diesen schrecklichen Erinnerungen etwas furchtbar Schönes: Männer, die die intensivsten Augenblicke erleben. Leben auf Messers Schneide hat einen Reiz, der sich nicht ohne weiteres beiseiteschieben läßt. Nach der Landung ging er zum Piloten und fragte, warum die beiden Japaner so über Burma herumfliegen durften. Der Pilot schob den Schirm seiner Mütze zurück. »Du fragst mich, Yank? Weiß nur, der Japs war ein verdammter Oberst. Der Junge war sein Adjutant. Euer MacArthur hat ihnen erlaubt, über ein Schlachtfeld zu fliegen und über ihren toten Kumpels zu salutieren. Genau weiß ich das aber nicht.« Er zieht die Mütze wieder zurecht. »Warum sollte man dieser Bande schöntun, frag’ ich mich.« »Warum auch«, sagte Embree und erwähnte nicht, daß er sich auf der Route, die sie heute geflogen waren, Meile für Meile durchgekämpft und dort vielleicht sogar Freunde an die Truppen verloren hatte, die der ehemalige Oberst, der jetzt über einem Stück Dschungel Tränen vergoß, einst befehligt hatte. So steht er nun also in der Ebene von Pagan, das im dreizehnten Jahrhunden eine Hauptstadt von einer halben Million Einwohnern war, ein Kulturzentrum, das später Kublai Khan in die Hände fiel. Die Goldene Horde unterwarf Pagan – dieselben Mongolen, die Philip Embree in seiner frühen Zeit in China so bewunderte. Der Tongakutscher hockt unter dem Leinendach seines Wagens und wartet geduldig in der Stille. Eine 448
unheimliche Stille herrscht hier in der Ebene von Pagan, und doch glaubt Embree, im Wind, der durch die Disteln streicht, den Sturm der Jahrhunderte, eine Stimme der Trauer und Größe wahrnehmen zu können. Der Ort, wo sich ein Nat einfinden wird, denkt er. Ein amüsanter Gedanke und ein schrecklicher. Er wird nicht versuchen, mit Harry in Verbindung zu treten. Das wäre verrückt. Hier und da, aus Spaß, weil er … ja, weil er Gesellschaft braucht, hat er schon laut in die Luft gesprochen, als schwebe Harry dort. Einfach nur ein Spiel. Er versucht nicht, Verbindung aufzunehmen, er probiert keinen faulen Zauber. Embree ruft dem Tongamann zu. Es ist schon spät, und der Flug war keine Erholung. Morgen will er hierher zurück und die Tempel betrachten, nichts Besonderes, einfach nur herumschauen. Und dann will er weg von Pagan, verdammt noch mal, und nach Bangkok, wo er hingehört oder wo er es vielleicht lernt, dorthin zu gehören. Gut. Das ist geklärt. Nach dem Abendessen, Nudeln und Gemüse, geht Embree mit Rama an den Fluß hinunter und beobachtet, wie die Fischer ihre flach gebauten Boote an Land ziehen. Sie machen auf dem Uferschlamm Feuer und essen, ehe sie wieder hinausfahren und dem Großen Wels, dem Flußbarsch und dem spatenköpfigen Flußhai in der Dunkelheit nachstellen. Rama und Embree stehen schweigend da und schauen zu. Ein paar Lichtpunkte erscheinen jenseits der schwarzen Wasserfläche. Die Luft ist fast kühl und duftet – nach nassem Holz vielleicht und vom Fluß und den Blüten, die sich an das Dorngebüsch klammern, das bis ans Ufer wächst. Über den beiden schweigenden Männern erscheint der Oriongürtel aus der Finsternis; er deutet auf 449
Sirius und Aldebaran im Stier und das zarte Bündel der Plejaden im Westen und die Deichsel des Großen Wagens, die nach Osten zeigt, wo Arkturus wie neugeboren über dem Horizont auftaucht. Embree freut sich seines Lebens. Er wendet sich an Rama: »Ich bin froh, daß du mitgekommen bist.« »Ach, Master, ich bin doch selbst darauf erpicht.« »Wie gefällt dir Burma?« »Ich würde mich hier nicht gern lange aufhalten.« »Weil es buddhistisch ist?« »Ach –« »Weißt du, Rama, eines Tages wirst du heiraten und Kinder haben, und dann kannst du ihnen von dem Amerikaner erzählen, den du gerettet und auf eine lange Reise begleitet hast.« Als Rama nicht antwortet, fügt Embree hinzu: »Es ist eine lange Reise. Weißt du, warum wir sie unternehmen?« »Memsahib braucht Sie.« »Ja, sicher. Das ist natürlich der Hauptgrund. Es gibt aber noch einen anderen. Ich habe hier im Krieg einiges erlebt, weißt du.« »Ja, Master. Ich weiß.« »Du weißt etwas, aber es ist – schwierig.« Embree kämpft noch mit sich, doch da bricht es plötzlich aus ihm heraus: »Rama, ich rede mit diesem Mann, einem Soldaten, der in Wirklichkeit gar nicht da ist. Er ist nämlich tot, aber es passiert mir immer wieder, daß ich mit ihm spreche. Eigentlich nicht viel, aber ich sage dann Sachen wie: ›Was hältst du davon, Harry?‹, oder: ›Was meinst du dazu, Harry?‹« »Ja, Master«, sagt Rama in die Pause hinein. »Ich meine damit, ich rede mit mir selbst. Aber das, 450
wovon ich spreche, gilt ihm, das heißt, wenn er am Leben wäre, und so … bilde ich mir also ein, daß er da ist.« »Ja, Master.« »Nicht leicht zu erklären.« »Ja, Master; nicht leicht.« Er begreift nicht, denkt Embree, und beide schweigen. In dieser Nacht hat Embree einen Traum. Er sieht, wie ein Mädchen sich auszieht. Irgendwie hat das Ganze mit etwas Militärischem zu tun, sie verhält sich so, weil sie begütigen und sich vor schlimmerer Behandlung schützen will. Sie winkt ihn heran, beschwört ihn förmlich und lehnt sich zurück – die Beine weit gespreizt, um ihn zu empfangen. Sie sieht ihm kühl entgegen, als er kommt und wie rasend in sie eindringt, verrückt gemacht durch die Lust, die aus seinem Bewußtsein ihrer Verletzlichkeit entspringt. Dann beobachten sie beide ganz ruhig und ohne Leidenschaft, wie er in ihr arbeitet, als handele es sich um einen Kolben, der zu ihnen beiden gehört. Embree wacht auf, in Schweiß gebadet. Ein häßliches Bild, aber von einer Kraft, die ihm die Erinnerung an ein Mädchen zurückbringt, das er in China fast getötet hätte. Seine Kameraden hatten die Frauen eines Grundbesitzers vergewaltigt, und dieses Mädchen befand sich mit ihm im Hof beim Schweinetrog. Er hatte sie sich ausgesucht, aber Schüchternheit und Unsicherheit machten ihn schwach. Sie dagegen war ganz bereit – nannte ihn »haariger Junge« und fragte ihn, was er da vorn eigentlich hätte. Dieser spielerische Spott brachte ihn in Wut. Er hielt ihr das Messer an die Kehle und verängstigte sie so lange, bis ihr Weinen ihn befriedigte. Ein paar Augenblicke war etwas in ihm aufgestiegen, etwas Kaltes und Brutales und Herzloses. Man kommt nicht davon, sagt er sich. Einfach nie, Harry. Das warst du gerade. Du, Harry der Nat, hast 451
diesen Traum in meinen Schlaf geschmuggelt. Ich bin nicht verrückt, aber ich habe Angst. Dieses Mal kommt Rama mit. Die Sonne steht noch nicht hoch genug, um große Hitze zu verbreiten, trotzdem hat Embree sein Gesicht mit Tanaka gepudert, um es vor der Sonneneinstrahlung zu schützen. Die beiden Männer fahren in einer Tonga zu den Pagoden und Tempeln hinaus, die zum großen Teil nur noch aus Haufen geborstener Backsteine bestehen. Mit der Karte in der Hand weist Embree den Weg zum Htilominlotempel, da der Verwalter des Gästehauses behauptet hat, die Aussicht von dort sei die schönste von Pagan. Er wendet sich an Rama: »Komm doch diesmal mit.« Der junge Inder schüttelt den Kopf. »Das ist nichts für mich, Master. Ich warte da drüben –« Embree zuckt die Achseln; als er die holperige Ziegeltreppe hinaufsteigt, fühlt er, wie er zittert. Er hätte gern jemanden bei sich. Er unterbricht den Aufstieg und wandert durch das östliche Hauptvestibül, ohne besonders auf die Schnitzereien am Ziergiebel, Fries und Stützpfeiler zu achten. Vera müßte mit ihm hier sein. Ihr bedeutet Kunst etwas; für ihn aber kann Kunst mit den schwindenden Farben von Himmel und Wasser nicht mithalten. Er fragt sich stets, warum eine Sache sich immer vor eine andere schiebt, und nimmt an, daß das künstlerische Urteil schließlich auf die Ausübung von Macht hinausläuft. Und Kunstgenuß? Ein ewiges Geheimnis. Er erinnert sich, wie betroffen General Tang von solchen Darstellungen war. Vor zwanzig Jahren war Embree keine drei Schritte hinter dem General auf den Tausend-BuddhaBerg in den Hügeln von Li Schan gestiegen, auf dem Weg 452
zu einem Tempel auf dem Gipfel, wo eine Versammlung von Warlords stattfinden sollte. Vielleicht würde sich dort das Schicksal von Zentralchina entscheiden, und doch blieb General Tang beim Aufstieg immer wieder stehen, um alte buddhistische Skulpturen zu betrachten, die in den Fels gemeißelt waren – ganz so, als habe ihn allein ihre Schönheit und nicht sein Schicksal und das Tausender anderer Menschen hierhergeführt. Immer, wenn Embree an den General denkt, sieht er seine untersetzte Gestalt an antiken Skulpturen vorübergehen, die Hände auf dem Rücken verschlungen, ein einsamer Mann in Betrachtung des Zeitlosen, des Geheimnisvollen, des Schönen – all das teilte er einst mit Vera Rogatschewa. Embree erinnert sich an den General nicht als einen Krieger, sondern als einen Philosophen. In Embrees Erinnerung ist er selbst der Mann im Kampfanzug auf dem Pferd, während der General mit Vera an der Seite romantisch im Nebel verschwindet. »Also gut, Harry«, sagt er laut. »Zeit, hinaufzusteigen.« Er erklimmt über eine dunkle, schmale Treppe die obere Terrasse, gut dreißig Meter über der Ebene, und blickt auf die großen Tempel herab, von denen die meisten im Südwesten stehen. Das Land unten ist ziemlich kahl, von ein paar Palmen am Rand der Wege zwischen den großen Tempeln abgesehen. Über der leblosen, staubigen Weite liegt ein Schweigen wie auf dem Mond. Embree steht an der Backsteinbrüstung und schaut zunächst nach Süden, dann im Uhrzeigersinn über mehrere Tempel, eine Pagode bis hin zu den beiden Riesentempeln – weiß wie Schneegipfel: Ananda und der noch höhere Thatbyinnyu. Auf der weiten Ebene sind unter einem wolkenlosen Himmel noch viele weitere Tempel zu Hunderten verstreut. Er wendet sich ab und blickt auf die Biegung des 453
Irawadi, wo sich ein zerfranstes Segel in den Wind legt, und sagt sich: Das ist der Ort. Ein gewaltiger Ort. Der Klosterverwalter hatte recht: Pagan ist der Ort, wo man verweilen kann. Und Embree läßt sich nieder. Er hat keinen Plan. Er hat sich einfach hier fallen lassen und sitzt nun mit untergeschlagenen Beinen da. Soll er meditieren? Und warum sollte er das hier tun? In dem winzigen Zimmer im Gästehaus ginge es ebensogut. Ist er wirklich hergekommen, um sich einem burmesischen Nat zu stellen? »Harry«, sagt er laut. »Wo zum Teufel bist du, alter Junge – verdammt noch mal, Harry?« sagt er noch lauter. In seiner Stimme vibriert ein Lachen. Das Ganze ist ein Witz. »Harry!« brüllt er trotzig. Der Widerhall seiner Stimme mahnt ihn unheimlich daran, daß er mit einem Toten spricht. Nur ein Witz, grotesk und morbide, aber ein Witz. Trotzdem ist er erregt. Etwas wird hier geschehen. Auf diese Erregung hat Indien ihn vorbereitet: Wenn er sich auf der Meditationsmatte niederließ, hat er oft eine Art Reisefieber verspürt. Gewöhnlich geschah dann nichts; er ging enttäuscht zum Frühstück. Aber er weiß, was die Vorahnung bedeutet, was sie manchmal mit sich bringt: ein Gefühl der Läuterung, einen Blick aus dem Käfig. Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen … Nein, das führt zu nichts. Er kann Harry nicht 454
heraufbeschwören, wie Harry Ramakrischna heraufbeschworen hat. Der Klosterverwalter hat gesagt, er soll ihn rufen. »Harry, hier bin ich, ich warte!« Schweigen. Atmen … Nein, es geht nicht. Er hat sich umsonst vorbereitet, alles erweist sich hier auf der Terrasse des Htilominlo als wertlos. Meditation ist nicht das richtige, was meinst du, Harry … Harry. Er spricht den Namen diesmal nicht laut aus. Er wartet jetzt, wartet wirklich. Das Schweigen erhebt sich wie eine zweite Brüstung um ihn, nur vom Summen einer Fliege durchdrungen – der einzige Laut, den er hört. Noch etwas anderes drängt sich in sein Bewußtsein, und er reißt die Augen auf, um ihm auszuweichen. Embree steht auf und geht hin und her. Er blickt auf seine Füße. Er sieht im Auf- und Abgehen auf sie hinunter, auf nichts hinunter, denn am Rand seiner Vorstellung finden sich jetzt Erinnerungsbilder ein. Sie sind einfach da, sie gehen nicht weg, seit fast vier Jahren sind sie da, in Fetzen und Stücken wie Blitze. Aber hier an der Brüstung des Htilominlotempels spürt er, wie etwas ihn zwingt, alles in Zusammenhang zu bringen, in eine Reihenfolge, ohne Unterbrechung. Ehe er Harry herbeiruft, muß er das alles in seinem Geist ordnen. Er setzt sich wieder hin und schließt die Augen. Es war im Mai 1944. Essig-Joe Stilwell drängte mit seiner chinesischen Truppe X in Richtung Myitkyina nach Süden; hinter der 18. Division des Generals Shinichi Tanaka vollzogen Merrills »Marodeure« eine Schwenkung. Das Kommando Einhunderteins operierte zwischen den beiden Truppen der Alliierten und griff Nachschublinien und Biwaks an. Embrees Patrouille 455
bestand aus fünf Männern: drei Kachin vom Clan der Jinghpaw, ein Gurkhareiter und er selbst. Ihr Auftrag lautete, einer kleinen Gruppe Chindits zu Hilfe zu kommen, die von der Hauptmacht abgeschnitten waren. Der Funkverkehr übermittelte noch den Standort und fiel dann aus. Warum, wußten sie nicht, wohl aber, daß es etwa zwei Tage dauern konnte, bis sie die Chindits erreichten. Was auf der Karte wie zwanzig Meilen aussah, konnte sich – je nach Zustand der Dschungelpfade – in Wirklichkeit als das Doppelte herausstellen. Der Gurkha und Embree versuchten, sich vorzustellen, was vor ihnen lag. Die Gruppe der Chindits mußte in schlechtem Gelände steckengeblieben sein, sonst hätte ein Flugzeug sie herausgeholt. Oder vielleicht waren sie dazu zu viele. Und was konnten schon fünf Männer tun, falls sie die Chindits fanden, vor allem bei Feindberührung mit den Japanern? Mit solchen Überlegungen hielten sich die Kachin nie auf. Sie kämpften einfach. Schon vor langem hatten die Burmesen versucht, diese Bergbewohner wieder in das tibetanische Land ihrer Vorfahren zurückzutreiben, aber die Kachin rangen sie nieder und gewannen die unbestrittene Herrschaft über Nordburma. Als die Japaner kamen, machten sie denselben Fehler, aber es gelang ihnen nicht, die Kachin einzuschüchtern. Sie machten auf alles Jagd: Tiger, Hirsche im Bast, Zibetkatzen, Bären, Fasanen, Eidechsen, Schlangen, Ratten, Affen, Termiten und weiße Bienen. Sie konnten fabelhafte panji legen – zwei Fuß lange Bambusspäne, die sie zu Tausenden die Pfade entlang und dem Feind entgegen eintrieben, so daß japanische Soldaten, die bei einem Überfall in Deckung gehen wollten, sich selber aufspießten. Über den Pfaden errichteten sie gekreuzte Bogen mit einer Schnellkraft von gut einhundertdreißig Pfund: Wenn man auf sie trat, 456
konnte eine solche Waffe zwei hintereinander marschierende Männer mit einem einzigen vergifteten Pfeil durchbohren. Neben den Gurkha waren die Kachin die furchtlosesten Krieger, denen Embree je begegnet war. Aber unsterblich waren sie auch nicht. Nach einer halben Tagesreise in Richtung der Chindits flog der Anführer, ein Kachin, in die Luft. Als die Patrouille ihn erreichte, fanden sie nur einen rauchenden Haufen auf dem Pfad. Seine beiden Stammesgenossen knieten im Regen nieder und inspizierten die Falle mit professionellem Interesse. Sie erklärten Embree, der Apparat habe aus einer Bambusschale mit einem Sofortzünder bestanden. Sie zeigten ihm, wie die Granate am Boden festgepflockt war mit der Schale darüber und mit gezogener Nadel. Der Stolperdraht war straff ein Stück über den Pfad gespannt, der hier kaum einen Fuß breit war. Sie schämten sich. Ihr Kamerad war ganz dumm auf einen Trick hereingefallen, den die Japaner nur von den Kachin gelernt haben konnten. Der Regen an diesem Tag war furchtbar, erinnert sich Embree. Bei einer Sichtweite von kaum zwei Metern fühlte sich das Prasseln auf Kappe und Schultern kalt und scharf wie Hagelkörner an. Als sie sich eine Stunde Rast gönnten, brach dann die Hitze wie etwas Lebendiges über sie herein. Sie machten neben dem Pfad auf einer kleinen Erhebung halt. Sie waren zu erschöpft, um ihren mitgeführten Kocher zu benützen, außerdem war es zu naß dazu. Sie aßen getrocknete Datteln, Dosenfleisch und Zwieback aus ihren Rationen und rauchten Zigaretten Marke Cavalier. Sie hatten nur ein Maultier, und das war sehr geschwächt: In dem Fell seiner Fesseln krabbelten unzählige Maden herum, Dum-Dum-Fliegen schossen in den Nüstern ein und aus, in den Ohren und am After, und 457
die beiden Kachin mußten immer wieder Büffelblutegel von den blutenden Flanken absengen. Als sie am nächsten Morgen aufbrechen wollten, blieb das Tier liegen. Sie konnten es wegen des Lärms nicht erschießen, also schnitt ihm Sabaw Gam, einer der Kachin, die Kehle durch. Und gleich begann der Regen wieder. Sie mußten sich mit Messern durch das Unterholz schlagen; Embree bewunderte wie immer die Unermüdlichkeit der Kachin beim Handhaben ihrer dahs. Er fragte sich, wo zum Teufel sie die Energie hernahmen: Seine eigenen Arme schmerzten und wurden gefühllos, seine Hand zuckte krampfhaft an seiner amerikanischen Machete. Oft dachte er an seine alte Axt, die er in seiner ersten Zeit in China gebraucht hatte: Er hatte sie stets bei sich, schlief, aß und tötete mit ihr. Was für ein seltsamer junger Mann er damals war, dachte er oft: gierig auf Abenteuer, wild darauf auszubrechen, unerschrocken, dumm und herzlos. Um die Mittagszeit – unter den Umständen war es rasch gegangen – befanden sie sich in dem bezeichneten Gebiet. Den Pfad entlang gab es Hinweise auf eine kürzliche Schießerei: aufgetriebene Leichen, verbrauchte Munition, Gegenstände und Körper bereits unentwirrbar mit dem Monsunmatsch des Dschungels verquickt. In ein paar Wochen schon hätte man nichts mehr erkennen können, aber im Augenblick konnte die Patrouille Chindits und Japaner noch auseinanderhalten. Überall auf dem Sumpf waren Brotbeutel, Patronengürtel, Feldstecher, Kartentaschen und Regenmäntel, Corned-Beef-Dosen, Zwiebäcke und Kleidungsstücke verstreut und versanken langsam in den flüssigen Eingeweiden von Burma. Der Gestank stieg der Patrouille derart in die Nase, daß schließlich auch die Kachin das Gesicht verzogen und sich Tücher vors Gesicht hielten. Hier mitten in dem Gebiet mußten sie die Funkstille 458
brechen. Embree hatte das seltene Glück, mit seinem Gerät in wenigen Minuten die Chinditeinheit ausfindig zu machen. Nach einer weiteren halben Stunde hatte die Patrouille des Kommandos Einhunderteins die Position Her Chindits auf einer Bergkuppe erreicht; zu seinem Erstaunen fand Embree nur zwölf Mann vor – drei Tage zuvor war die Kompanie der Chindits von einer starken japanischen Abteilung nahezu aufgerieben worden. Noch erstaunter war er, Harry Stubbs unter den Chindits zu finden. Damit befanden sich also sechzehn Mann auf der Kuppe, die jederzeit mit einem neuen Angriff rechnen mußten, auch wenn es wenigstens seit zwei Tagen Ruhe gegeben hatte. Sie sprachen immer nur von dem Burschen, der losmarschiert war, um Hilfe zu holen, und offenbar das Basislager erreicht hatte. Sie glaubten Embree einfach nicht, daß diese traurige Patrouille vom Kommando Einhunderteins die Rettungsmannschaft sein sollte. »Es liegt an diesem Scheißkerl Stilwell«, erklärte einer der Chindits. »Ihm ist es egal, ob wir am Leben bleiben oder draufgehn. Wünscht uns wahrscheinlich den Tod, der verdammte Bastard. Wir sind seit fast vier Monaten hier draußen. Was denken die sich eigentlich, Churchill und die Kerle in Whitehall, einem verdammten Yank das Kommando zu geben.« Außer Harry und zwei weiteren waren alle krank. Embree sah, daß sie kein Halazone mehr in ihre Becher taten; sie spülten die Pillen einfach hinunter, wenn sie tranken. Einer von ihnen, zu schwach, um sich zu bewegen, hatte seine Kleidung mit Durchfall verunreinigt; so hatte man ihm den Hosenboden herausgeschnitten. Sie hatten Fieber, Krämpfe, Ausschläge, Kopfschmerzen. Zwei von ihnen hatten Dschungelgeschwüre an den 459
Beinen; ihre Schienbeine waren ganz mit Fäulnis bedeckt, mit schwarzem und zerfetztem Fleisch. Einer murmelte: »Ich brauche eine ordentliche Mütze voll Schlaf«, und alle wußten, daß er sie bald bekommen würde. Ein anderer schwafelte endlos von Mayfair. Der nächste kam nicht von Stilwell los. »Verdammter, gemeiner Bastard«, brummte er immerzu. »Ich würde am liebsten Benzin auf den Scheißkerl schütten und ihn anzünden – jawohl!« Die Nacht brach herein. Es war zu gefährlich, ein Feuer anzumachen. Ein junger Chinditleutnant war der Ranghöchste, wurde festgestellt, und so legte er eine Verteidigungslinie für die Nacht fest: Drei Chindits übernehmen die erste Wache. Embree schlug vor, ihnen einen Kachin beizugeben – die konnten auf zwanzig Meter einen Zweig knicken hören –, aber der Leutnant schenkte ihm keine Beachtung. Es nieselte unaufhörlich; Embree und Harry sprachen in der nassen Finsternis miteinander. In der Schwärze der Nacht bekam Harrys Stimme etwas Sanftes, Schwankendes; hätte Embree nur einfach die Stimme gehört, hätte er den Sprecher für einen alten Mann halten können. Er sprach nicht von dem Chinditunternehmen oder seiner Sehnsucht, nach Hause zu dürfen, wie es Embree so oft mit anderen Männern hier draußen im Dschungel erlebt hatte, sondern von seiner Sehnsucht nach Erleuchtung. Das war es: Sehnsucht, Erleuchtung. Embrees Vater hatte oft von so etwas als der Quelle des christlichen Glaubens gesprochen. Deshalb hatte Embree diese Sehnsucht auch geflissentlich gemieden. Hier draußen aber, im Dschungel von Burma, hörte er aufmerksam zu – nicht weil Harry Stubbs ihm dieselbe tiefe Sehnsucht eingeflößt hätte, sondern weil der junge Mann sich selbst so dazu bekannte. Das alles fällt ihm auf der Terrasse des 460
Htilominlotempels wieder ein. In jener Nacht sagte Harry: »Ramakrischna wußte, worum es ging, ich glaube, daß er es wirklich gewußt hat. Einmal hat er zu seinen Schülern gesagt: ›Das Wasser und die Blase sind eins.‹ Hörst du zu, alter Junge?« »Sprich weiter«, meinte Embree nur und lauschte einen Moment still auf eine Bewegung nebenan. Jemand veränderte seine Stellung im Dreck, ein breiiges Geräusch. »Das Wasser und die Blase sind eins. Die Blase wird im Wasser geboren, schwimmt darauf und kehrt schließlich wieder zurück. Also sind auch – hör gut zu, das ist der Punkt – das einzelne Ego und der höchste Geist ein und dasselbe. Der Unterschied ist graduell. Einer abhängig, der andere unabhängig.« »Meditierst du wirklich immer noch?« Nebenan wachte ein Soldat auf und schrie: »Was? Wo ist das?« »Halt’s Maul, Kamerad, um Gottes willen«, flüsterte einer. »Ich meditiere noch, wenn ich kann. Nach dem Krieg bestimmt«, sagte Harry. »Ich will hierbleiben.« »In Indien?« »Ja. Ich will weitermachen.« Später, so erinnert sich Embree, muß er eingeschlafen sein: Er erwachte von Gewehrfeuer, dem leichten, spuckenden Geräusch japanischer Waffen. Er weiß nicht, was als nächstes geschah – bei einem Nachtangriff auch ganz unmöglich. Ein Überfall in voller Stärke. Der junge Chinditleutnant schrie: »Lauft! Nur raus hier!« Und dann fand sich Embree irgendwie neben Harry wieder, und sie krochen durch das Gestrüpp. Das Feuer knatterte laut aus allen Richtungen. 461
Er und Harry fanden ihren Weg abwärts durchs Gestrüpp, schoben sich nach vorn in dem schlammigen Dreck, bis Embree plötzlich gegen etwas fiel, das sich an ihn, klammerte. Er feuerte seine Pistole ab, und das Etwas ließ los. Noch etwas war da, er feuerte wieder, es war weg. Sie rutschten weiter, kämpften sich durch Äste und Ranken, stolperten auf ihrem glitschigen Abstieg mit ihren Körpern gegen Stämme, Äste und Strauchwerk. Und dann waren sie unten – hier war der Schlamm noch tiefer. Etwas kam durch die Finsternis auf sie zu. Harry fummelte nach der Handgranate an seinem Gürtel, bekam sie zu fassen, riß sie ab und schleuderte sie; die Explosion beleuchtete den in der Nähe herabfallenden Fluß. Sie tauchten hinein, wurden von der schnellen Strömung erfaßt und so rasch weggetrieben, daß das Gewehrfeuer in Minuten nur noch aus der Ferne zu hören war. Eine weite Strecke schlingerten und rollten sie dahin, bis Embree schrie: »Raus! Raus jetzt!«
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m Morgengrauen rafften sie sich wieder auf und zogen weiter. Mit Hilfe von Kompaß und Kartengitter schätzte Embree ab, daß sie dreißig Meilen von einem Chinditstützpunkt entfernt waren – in diesem dichten Dschungel ein Weg von mehreren Tagen. Harry hatte noch etwas Proviant in den Taschen seines Drillichanzugs, beide trugen Pistolen bei sich, und Embree hatte seine Machete. Gemeinsam besaßen sie nur eine Feldflasche. Das war der schlimmste Punkt. Außerdem hatten sie keine Streichhölzer, um Feuer zu machen und Wasser abzukochen. Am ersten Tag wanderten sie beständig nach Norden und schlugen dann eine nordöstliche Richtung ein. Embree übernahm die Führung, als sich zeigte, daß Harry die Kraft fehlte, einen Weg durch das Gestrüpp zu bahnen. »Ich versteh’s nicht, alter Junge«, sagte Harry entschuldigend. »Ich bin ein bißchen schwach.« »Fühlst du dich krank?« »Bißchen Durchfall. Aber im Moment bin ich fast der Alte. Nur etwas müde.« Zweimal an diesem Tag hörten sie ganz nahe ein Flugzeug, konnten aber nichts sehen wegen des dichten Pflanzenwuchses, der die Sonne fernhielt und einen gewissen Schutz vor den schweren Regengüssen bot. Am nächsten Tag gegen die Mittagsstunde kamen sie zu einem Dorf. An sich wollten sie es umgehen, aber das Bedürfnis nach Wasser und Nahrung war stärker als ihre Furcht vor den Dorfbewohnern. Der Regen hatte nachgelassen, und einige Zeit brannte die Sonne sengend 463
herab. Sie gingen an kleinen Feldern mit Gerste, Schlangengurken, Chili vorbei und erwarteten jeden Augenblick, daß irgend jemand, ein Kind vielleicht, neugierig herbeikommen werde. Eine merkwürdige Stille durchdrang alles. Ein paar Hunde bellten, aber sonst gab es kein Anzeichen von Leben. Etwas zog Embrees Blick auf sich, indes er halb gebückt weiter ins Dorf vordrang. Unter einer der auf Holzpfählen stehenden Hütten sah er Formen, die sich bewegten. Hunde. Eine rasche, schwungvolle Bewegung mit der Pistole scheuchte die Tiere davon. Er kniete sich unter die Hütte und blickte in das schattige Dunkel. Er sah ein zur Hälfte aufgefressenes Kind. »Philip!« Er folgte dem Ton von Harrys Stimme. Harry war zu einer Hütte hinaufgeklettert, kauerte am Eingang und starrte auf den Boden, auf dem drei Menschen lagen – tot. Sie waren bekleidet, aber die Plattform stank nach Kot, und Erbrochenes lief grünlich aus den Mündern der drei Toten. »Cholera«, sagte Harry. »Wir haben viele solche Falle hier in der Gegend gesehn. Die Überlebenden müssen sich in die Hügel abgesetzt haben. Sind wohl Schan.« Sie schauten sich in der Hütte um. Embree fand eine Schachtel mit englischen Streichhölzern. Jetzt konnten sie Feuer machen, Wasser abkochen. In einer Ecke entdeckten sie einen japanischen Helm, überzogen mit einem Tarnnetz, und eine runde Kennmarke. Embree drehte sie in der Hand: auf der Rückseite die japanischen Schriftzeichen, die Nummer, die einst einen lebenden Menschen bezeichnet hatte. Neben den japanischen Gegenständen lag eine leere Dose. Harry hob sie auf und warf sie ein paarmal in die Luft. »Diese Stämme sind ganz 464
scharf auf leere Dosen für Tauschgeschäfte. In allen Dörfern findet man sie.« Es war vielleicht Harrys sachlicher Ton inmitten von Gestank und Tod, der Embree aufbrachte. »Verdammt, Harry!« sagte er zornig. Harry drehte sich um und starrte ihn an. Das Gesicht des jungen Engländers umgab ein dichter Bart, aber die fragend blickenden hellbraunen Augen waren noch die eines Jungen. »Was ist denn los?« »Was los ist? Ich will ja keine blöden Predigten halten, aber wir stehn hier bis zu den Knöcheln in grüner Kotze, und du redest von leeren Dosen. Mein Gott, Harry!« Er sprang von der Plattform der Hütte und begann, den Weg entlangzugehen, Harry im Schlepptau. »Ich versteh’ nicht, alter Junge.« Embree drehte sich um. »Ich will dich zitieren, Harry. Du sagst, das Ich ist mit dem Universum identisch. Wir sind, sagst du, alle ein und dieselbe Scheiße. Da laß mich raus. Mir kann das alles gestohlen bleiben. Wer möchte denn mit dieser gottverdammten, lausigen Welt identifiziert werden? Mit grüner Kotze? Identität. Seele. Das sind doch nur Worte, nichts als Schwindel. Kapierst du das nicht? Los, hauen wir hier ab.« Sie gingen schweigend durch das Dorf. Nur ein Monat, dachte Embree, und die Schlingpflanzen und die Insekten haben alles für sich vereinnahmt. Das ist so eine Eigenheit der sogenannten zivilisierten Welt: Sie prüft, was sie falsch gemacht hat, hält die Daten fest, dokumentiert es. Doch diese armen Teufel hier, mitten im Dschungel allein, sie ziehen sich etwas zu und verrecken in ihrem eigenen Gestank, und keiner wird je davon erfahren, weil schon nach kurzer Zeit jede Spur von ihnen verschwunden ist außer einem japanischen Helm und ein paar leeren Dosen. 465
Das letzte, was Embree von diesem Dorf sah, war eine Russellviper, deren fetter, glänzender Giftleib sich aus einer Tür schlängelte. Stundenlang arbeiteten sie sich schweigend vorwärts, und wieder prasselte ein Regenguß auf sie herab. Der Dschungel füllte ihre Nasenlöcher mit dem schweren, widerlichen Geruch von verrottendem Blattwerk. Bambusrohre bohrten sich wie Nadeln in Arme und Beine. Schwärme schwarzer Mücken machten sie beinahe verrückt. In der folgenden Nacht lagen sie unter einem Teakholzbaum, als Harry plötzlich sagte: »Du verstehst nicht, alter Junge. Ich hab’ schon viele solcher Dörfer gesehen. Sie ziehen Japaner aus, die an der Cholera gestorben sind, und tragen die Sachen und essen die Proviantrationen. Eine Woche später ist es mit dem Dorf vorbei. So geht das.« Embree schwieg. »Du fragst mich, wie ich danach noch an Gott glauben kann?« »Hab’ ich dich das gefragt?« »Es beschäftigt dich, oder?« »Nun ja, vielleicht.« »Das hab’ ich mir gedacht. Ich glaube an Gott, weil ich ihn um nichts bitte. Wie kann ich das? In einem gewissen Sinn bin ich Gott. Auch du bist es, auch die toten Schan sind es, die toten Japse, die beschissenen Köter dort, die die Leichen fressen. Alles ist Gott.« »Quatsch, Harry!« Nun, auf einer Terrasse des Htilominlotempels in Pagan, wird Embree sich bewußt, was er dummerweise von 466
diesem jungen Engländer erwartet hat: die Weisheit eines alten Mannes, die Weisheit, die sein Vater nur gepredigt, nicht aber vorgelebt hatte. Der arme Teufel Harry. Zuviel war von ihm erwartet worden. Mit geschlossenen Augen sitzt Embree auf der Tempelterrasse und spricht im Geist den Namen Harry. Er wartet. Am nächsten Morgen, als Harry aufgewacht war, klagte er, ihm sei kalt. Malaria, dachte Embree. Doch der junge Engländer knöpfte sein Hemd auf und befühlte ein kleines, ovales Geschwür, bedeckt mit schwarzem Schorf. »Das hab’ ich außerdem noch.« »Vielleicht eine Verletzung, die du dir im Dschungel geholt hast.« »Das nehme ich an, Kumpel.« Aber es konnte auch – Embree wußte, daß sie beide es wußten – vom japanischen Flußfieber kommen. Als es Mittag wurde, litt Harry an Fieber, Rückenschmerzen, quälendem Kopfweh, brachte es aber irgendwie fertig, sich weiter durch den Dschungel zu schleppen, richtiger: zu taumeln. Sie konnten kaum atmen in der Schwüle. Embree knöpfte Harry das Hemd bis zum Gürtel auf und entdeckte quer über Brust und Bauch einen Ausschlag. »Wie fühlst du dich, Junge?« »Wunderbar.« Die Hände des jungen Mannes spielten ruhelos in seinem Schoß, auf seinem Gesicht lag ein ausdrucksloses, apathisches Starren. Sie setzten ihren Marsch fort, und als sie ihn für diesen Tag beendeten und haltmachten, wirkte Harry beinahe geistesverwirrt. Einmal sagte er: »Beschissener Trick, uns Jungs zu schleifen, stimmt’s?« 467
Während der Nacht tobte stundenlang ein heftiges Gewitter. Ein schwerer Husten peinigte Harry. Embree stellte bestürzt fest, daß die Augen des Engländers immer stärker vereiterten. Und auf dem Höhepunkt des Sturzregens begann Harry, erregt und ununterbrochen zu sprechen. In der Hauptsache ging es um seine Angehörigen daheim in Yorkshire: Wie sehr sie darauf zählten, daß er etwas auf die Beine stellte, welche Opfer sie gebracht hätten, damit er genug lernen konnte, um die Universität zu besuchen. Er erwähnte einen Professor, der sich seiner angenommen habe. Er sprach über ein Mädchen, das er kannte. Er sprach über einen Freund, mit dem er Rugby gespielt hatte. Er sprach nicht von Gott. Doch als Embree am Morgen erwachte, sah er, daß Harry ihn anlächelte. Harry, gegen einen Teakholzbaum gelehnt, war schweißgebadet und blaß, aber anscheinend in besserer Verfassung als am Abend vorher. »Ich muß dir was sagen, alter Junge«, sagte er, »du bist der beste Kumpel, den ich jemals hatte.« »Nach meinem Ausbruch gestern?« »Vermutlich war ich daran schuld. Ich muß kaltschnäuzig gewirkt haben nach all meinem Gerede über Gott. Eine Sache der Konsequenz, nicht? In einem Augenblick glaube ich, weiß ich ganz genau, woran ich glaube, hab’ ich es ganz klar durchdacht. Und im nächsten Augenblick handle ich gegen meinen Glauben, oder es wirkt jedenfalls so. Ist es das?« »Sprechen wir später darüber.« »Sprechen wir jetzt darüber.« »Schau, Harry, wenn du einen Glauben hast, um so besser. Leute, die einen Glauben haben, gewinnen so oder so: Wenn es nach dem Tod nichts gibt, können sie nicht wissen, daß sie getäuscht wurden. Wenn es aber doch 468
weitergeht, können sie sagen: ›Ich hab’s euch ja gesagt.‹« »Du weißt doch ganz genau, daß das nicht der Glaube ist, den ich meine.« Harry hustete mit großer Anstrengung. »Du spielst mir gegenüber den Teufel, alter Junge. Aber das tust du, weil du argwöhnst, ich könnte es auf etwas abgesehen haben.« »Wie fühlst du dich jetzt?« »Oh, viel besser. Ich habe eine schwere Erkältung. Oder vielleicht ein bißchen Malaria.« »Eins von beidem.« »Philip.« »Ja?« »Du hast mich schon einmal rausgeholt. Wenn du es beim zweitenmal nicht schaffst, mach dir deswegen keine Vorwürfe.« »Ich bring’ dich raus.« »Philip, hör mal, ich fände es gut, so wie es jetzt steht, wenn du mir erzählen würdest, was dir wirklich passiert ist. Jemand in meiner Lage sollte eigentlich ein Recht darauf haben – das Geheimnis zu erfahren.« »Ich verstehe nicht.« »Du hast mir nicht nur das Leben gerettet, du warst und bist auch ein guter Kumpel. Wir haben viel Gemeinsames erlebt, nicht? Wird es eigentlich heißer, oder kommt es nur mir so vor?« Embree hatte nicht den Eindruck, daß die Temperatur stieg, sagte aber: »Ich hab’ schon vor einiger Zeit festgestellt, daß es heißer wird.« »Wirklich? Also, sieh mal, alter Junge, es gibt was, was ich wissen möchte. Ich finde, ich sollte es erfahren. Du hast in deinem Leben irgend etwas getan, was du schrecklich bereust.« 469
»Also gut. Es geschah vor langer Zeit, in China, 1927 – du mußt damals fünf oder sechs gewesen sein. Ich war bei der Armee eines Warlords.« »Ich erinnere mich, daß du davon erzählt hast.« »Du weißt aber nicht, und niemand weiß, was ich diesem Warlord angetan habe. Seine Feinde traten an mich mit dem Vorschlag heran, ihn zu verraten. Als Gegenleistung wollten sie mich aus China hinausbringen – zusammen mit einer Frau, zufällig die Geliebte des Generals und zufällig eine Frau, nach der ich verrückt war. Ich verriet ihn also. Ich habe dieser Frau nie gebeichtet, was ich getan hatte. Wir haben dann geheiratet. Kurz nachdem wir beide das Land verlassen hatten, wurde der General von anderen Feinden ermordet.« »Ja. Eine fürchterliche Geschichte, ja. Tut mir leid.« Nach einer langen Schweigepause sagte Embree: »Es steht also so: Bis zu der Basis ist es jetzt noch ein Tagesmarsch, wenn ich die Position richtig bestimmt habe. Aber du schaffst nicht einmal mehr einen Kilometer. Mein Plan ist einfach. Wenn ich die Basis erreicht habe, werd’ ich dafür sorgen, daß sie Leute losschicken, die dich holen.« Embree machte die Feldflasche los. »Behalte sie. Ich hab’ die Streichhölzer und kann mir Wasser abkochen.« »Nein.« »Wir teilen die Munition zwischen uns.« Embree zog Harrys Pistole heraus und schob ein neues Magazin hinein. Er nahm die noch verbliebenen Proviantrationen und legte sie Harry in den Schoß. Dann stand er auf und blickte auf das blasse, doch lächelnde Gesicht hinab. »Ich denke gerade an die Gita«, sagte Harry. »Was sagt sie letzten Endes wirklich? Doch nur: Tu deine Pflicht.« 470
Embree nickte, zog seinen Gürtel enger, überprüfte seine Pistole und schob die Machete fest in ihre Scheide. »In der Gita weigert sich ein Krieger zu kämpfen, weil er zu dem Schluß gekommen ist, daß der Krieg etwas Unrechtes sei. Aber Gott sagt ihm, er müsse kämpfen. Es sei seine Bestimmung zu kämpfen. Verstehst du? Wir können nichts an dem ändern, was in diesem Dorf passiert ist. Wir müssen, sagt die Gita, durch alles, was uns auch begegnet, mit Gleichmut hindurch, mit – Respekt vor dem, was geschieht.« »Verausgab dich nicht«, sagte Embree barsch. »Sprich weniger.« Er hatte schon viele Männer gesehen, um die es schlecht stand, aber keiner von ihnen hatte so reagiert wie Harry. Das Weiterleben beschäftigte ihn nicht. Harry Stubbs’ Gedanken galten anderen Dingen: dem Ethos der Pflicht, den Inkonsequenzen des Glaubens, dem Wesen Gottes. In diesem hilflosen, fiebernden Engländer sah Embree eine Manifestation dessen, was sein Vater immer gepredigt, was sein Vater für ihn erhofft hatte – Harry war ein gläubiger Mensch. Stunden später, während Embree sich mühsam durch den Dschungel voranarbeitete, hörte er weiter voraus ein Geräusch. Es kam durch den dichten Regen – ein metallisches Klirren in rhythmischer Wiederholung. Kein Zweifel: eine Kolonne marschierender Soldaten. Er huschte zu einer kleinen Anhöhe und spähte durch eine Lücke im Dickicht: Tatsächlich – Japaner, die mit Granatwerfern, Bren-MGs, Gebirgskanonen auf Maultieren nach Osten marschierten, vermutlich zwei Kompanien, vielleicht sogar ein ganzes Bataillon. Als die Kolonne auf dem schmalen Weg außer Sicht war, folgte 471
ihr Embree, der sich an ihrer linken Flanke hielt, keine achtzig Meter weit entfernt. Je mehr Zeit verging, eine Stunde, zwei Stunden, desto höher stieg seine Erregung. Er gab sich keine Rechenschaft über sein Verhalten, folgte nur der Kolonne. Hin und wieder fiel ihm Harry ein, der tief im Dschungel wartete, aber Harry hatte ja seinen Gott, der sich um alles kümmerte. Harry konnte warten und an die Gita denken und darüber nachsinnen, daß alles gekommen war, wie es kommen mußte, daß es daher sinnlos war, etwas ändern zu wollen – alles ein Teil des großen Ganzen … Harry konnte warten. Irgend etwas lag in der Luft. Embree witterte ein Abenteuer und war wieder der Philip Embree, der eine Missionsanstalt in Harbin links liegengelassen und sich einer Bande mongolischer Banditen, später einer chinesischen Kavallerieeinheit angeschlossen hatte. Wohin waren die Japse unterwegs? Vielleicht konnte er etwas wichtiges herausfinden. Solange mußte Harry warten. Wenn die Kolonne schließlich Biwak machte, konnte Embree ihre Stärke richtig abschätzen: Bewaffnung, Munition, Lasttiere, die Nachschubgüter. Er konnte dann ihre Position anhand seiner Karte bestimmen und hatte eine gute Chance, einen wichtigen Beitrag zu leisten. Harry mußte eben noch etwas warten. Durchs Dickicht konnte er die Japaner sehen, die einzelnen Trupps wie Teile einer großen, träge dahinkriechenden Schlange. Er folgte ihnen und entfernte sich dabei immer weiter von der Chinditbasis, immer weiter von der Stelle, wo Harry wartete. Er schlug sich durch das nasse Dickicht, schnitt sich an den scharfen Blatträndern, zog sich an Armen und Beinen eine Unzahl von Blutegeln mit glänzenden, aufgeblähten Leibern zu. Er konnte sie nicht wegbrennen, weil Kundschafter der 472
Japaner möglicherweise die Flamme entdecken würden. Schließlich war er auf einer wichtigen Mission, und Harry mußte einfach noch warten, ein Jammer bei seinem Fieber, dem Ausschlag und alldem. Ein Jammer, Harry, aber es ist nicht meine Schuld. Halte dich nur an deinem Gott fest, bis ich zurückkomme. Ich komme zurück, aber noch nicht sofort. Embree beschloß, die Kolonne zu überholen, und mußte daher ein lascheres Tempo anschlagen. Er wechselte also die Marschrichtung etwas und legte gut dreihundert Meter Distanz zwischen sich und die Japaner. In dieser Entfernung konnte er sich mit weniger Vorsicht durch das Dickicht bewegen. Plötzlich hörte er in der Höhe Motorengeräusch von einer Kette Flugzeuge. Auch die Japaner hörten es, warfen sich ins Unterholz, zerrten die Maultiere vom Pfad, machten sich im Schlamm klein. Dann sah er die Maschinen: Typ P-51, »Mustang«, sie kamen im Tiefflug und mit feuernden MGs über den Bäumen daher – fünf P-51. Und noch zwei Bomber vom Typ B-26 H, »Mitchell«. Überall längs des Pfades stiegen Feuersäulen und Rauchfahnen hoch, als wollten sie die Bäuche der über den Wipfeln dahinfegenden Flugzeuge lecken. Aus dem dichten Grün der Vegetation stiegen gewaltige orangefarbene Feuerbälle hoch. Die Erde bebte. Embree saß mit untergeschlagenen Beinen in einem Bambusdickicht und hielt einen brennenden Zweig an die prallen Blutegel auf seiner Brust, während dreihundert Meter weiter die Einschläge der Geschosse Dreck, Baumstücke und Soldaten in den Himmel rissen. Dann zog plötzlich wie aus dem Nichts eine riesige schwarze Wolke auf und entlud sich in einem Gewittersturm, der sich zum Getöse der Bomben- und Geschoßeinschläge gesellte. Der Angriff nahm unvermittelt ein Ende. Die Flugzeuge drehten ab, vielleicht um den gewaltigen 473
Aufwinden zu entgehen, die der Gewittersturm auslöste. Als alles vorüber war, blieb Embree sitzen, wartete und horchte – verwundete Japaner stießen gellende Schreie aus. Der Luftangriff war geplant gewesen. Und sobald die Wolken sich verzogen, würden die Maschinen wiederkommen. Daß diese Kolonne durch den Dschungel zog, war schon seit einiger Zeit bekannt. Warum auch nicht? Die Einheit war ja groß genug. Er war ihr umsonst gefolgt. Er hatte lediglich seinem Abenteuertrieb nachgegeben und Harry warten lassen. Harry war viel näher als die Chinditbasis, so daß Embree sich nicht aufmachte, Hilfe zu holen, sondern zu seinem Kameraden zurückzukehren beschloß. Verzweifelt arbeitete er sich durch den dämmrigen Dschungel – er mußte es schaffen und Harry retten … Jetzt, auf der Terrasse des Htilominlotempels, macht er sich klar, was ihn damals wirklich antrieb. Er ging auf dem kürzesten Weg zurück, nicht sosehr, um Harry zu retten, sondern um ihm etwas zu gestehen. Er weiß es jetzt. Schon die ganze Zeit ist es ihm vage durch den Kopf gegangen, doch nun läßt sich der Gedanke nicht mehr umgehen: Harry, verdammt, ich war zornig auf dich, weil du mir gegenüber die Vaterrolle gespielt, mir gesagt hast, was ich glauben soll und was nicht, mir mit deinen halbverdauten Reden auf den Geist gegangen bist. Und so kam es, daß ich aus Ärger – in dem Verlangen, dich ein bißchen für deine Ideen leiden zu lassen, die für mich Ausflüchte, Lügen, Heuchelei waren – sinnlos den Japanern nachspürte und dich warten ließ. Es tut mir leid, sehr leid, es war schrecklich von mir, bösartig und kindisch. Ich bitte dich um Verzeihung, Harry, wirklich. »Harry!« sagt er jetzt laut. 474
Doch das leidenschaftliche Geständnis, das er hatte ablegen wollen, blieb aus, als er am nächsten Tag nach manchem Irrweg schließlich den Pfad und dann die Stelle fand, wo er Harry, an einen Baum gelehnt, verlassen hatte. Harry war noch da. Embree sah auch zwei Japaner, die verkrümmt auf dem Pfad lagen. Fliegen umschwärmten schon die reglos daliegenden Körper. Harry lächelte … Noch heute erinnert sich Embree, wie er plötzlich dieses Bild vor sich sah und kurz stehenblieb – die toten Japaner im Blickfeld und dann der junge Engländer, wie er gegen den Baum gelehnt saß und mit aschfahlem Gesicht lächelte. Als Embree auf ihn zulief, sah er einen weiteren Japaner, über einer Liane hängend, als wäre er bei einem Hechtsprung in der Luft abgefangen worden. Harry deutete mit einer leichten Bewegung des Kopfes in eine andere Richtung, und da sah Embree einen vierten Japaner, ausgespreizt im Unterholz. Er starrte auf Harrys Schoß, in dem beide Hände lagen, rot von Blut. »Bauchschuß?« Als Embree sich nach unten beugte, um genauer nachzusehen, und Harrys Hände wegschieben wollte, sagte dieser matt: »Es wird rausfallen.« »Ich muß aber nachsehn, Junge.« Behutsam zog er Harrys Hände weg, und tiefrot quollen Eingeweide ein Stück weit aus der klaffenden Bauchhöhle. »Ach, Harry.« »Kamen heute morgen«, keuchte der junge Mann. »Die zwei auf dem Weg erwischt, ehe sie mich sahen.« »Sprich nicht.« »Auch den dritten erwischt, aber der vierte …« Schwer atmend hielt er inne. »Froh, daß du da bist.« 475
»Ich bin auch froh. Wir kriegen dich hier raus.« Embree begann, sein Hemd auszuziehen – Harry hatte einen Schüttelfrost, das eine Bein zuckte heftig. Als Embree sich mit dem Hemd zu ihm niederbeugte, schüttelte Harry den Kopf. »Gib dir keine Mühe. Da ist nichts mehr zu machen. Laß mich, alter Junge. Ich liege im Sterben. Ich spür’s in den Beinen.« Embree kniete nieder, die Augen tränenschwer. »Ich stieß auf eine japanische Einheit und verfolgte sie. Es war eine Dummheit von mir.« Harry rang nach Luft, seine Augen weiteten sich. »Tut scheußlich weh.« Und dann tat Embree etwas, woran er sich nun – hier an der Brüstung – mit schrecklicher Klarheit erinnert. »Hast du Angst?« fragte er. Harry drehte ein wenig den Kopf, um Embree in die Augen zu blicken. »Angst? Nein.« »Ist das wahr? Sag, Harry.« »Keine Angst. Aber es tut grausam weh.« »Und Gott?« bohrte Embree. »Denkst du jetzt an Gott?« »Kann leider nicht denken. Durstig.« »Aber du hast keine Angst? Bedeutet er dir noch etwas?« »Komm’ nicht mit, Kumpel. Durst …« »Dein Glaube …« »Glaube?« Seine Stimme klang, als träumte er. »Hast du ihn noch? Bedeutet er dir noch etwas? Jetzt, in diesem Augenblick? Ist er immer noch mehr als nur Worte?« fragte Embree hastig. Harry schloß einen Augenblick lang die Augen und fuhr sich dann mit der trockenen Zunge über die Lippen. »Das 476
ist jetzt nicht wichtig. Gib mir Wasser.« Embree packte ihn am Arm. »Das macht den Schmerz nur noch schlimmer. Durchhalten, Harry.« »Gut, dann erschieß mich.« Embree nahm die Hand weg, lehnte sich zurück. »Mach schon, erschieß mich.« Harry fuhr sich wieder über die Lippen. »Ich bin gefaßt. Tu’s doch um Gottes willen.« »Das kann ich nicht.« »Skrupel? Dir ist jetzt schon vergeben.« Als Embree keine Antwort gab, sagte Harry: »Um Gottes willen, tu mir den Gefallen! Ich kann’s doch nicht selbst, ich komm’ doch nicht an meine Pistole ran.« Embree stand auf. »Philip? Geh nach Indien.« Die Schmerzen haben Harry benebelt, dachte Embree. »Komm her, ganz nahe«, sagte Harry schwach. Embree beugte sich an sein Ohr. »Geh nach Indien. Sonst verlierst du noch den Verstand.« Ja, genau das hat Harry gesagt. »Versprich mir’s«, sagte Harry. Um ihn zu beruhigen, versicherte Embree: »Ich verspreche es dir.« »Sag mir alles nach.« »Ich verspreche, nach Indien zu gehen.« »Um dich selbst zu finden.« »Um mich selbst zu finden. Hör zu, Harry, wenn du mich nur die Wunde verbinden laßt …« »Gib dir keine Mühe. Ich bin aufs Sterben gefaßt.« Er 477
hustete, und die schmerzhafte Anstrengung verzerrte seine Lippen. Einen Augenblick lang schien es, als würde er das Bewußtsein verlieren. »Tu’s! Herrgott, Mann! Ach, wie weh das tut …« Embree trat zurück, jetzt entschlossen dazu – nur nicht vor Harrys Augen. Er ging um den Teakholzbaum, bis er hinter Harry war und seinen Hinterkopf vor sich hatte. Er zog die Pistole aus dem Halfter, hob den Arm, zielte. Dann sagte er voller Panik – er erinnert sich jetzt ganz genau, wie es klang: »Nein, Harry, ich geh’ Hilfe holen.« Minuten später stürmte er durch das Unterholz des Dschungels. Er weiß jetzt nicht mehr, wie lange er rannte, aber irgendwann brach er erschöpft zusammen und lag flach auf dem schlammigen Boden, während durch die Blätter der Feigen-, Teakholz- und Paternosterbäume wieder feiner Regen rieselte. Er blieb eine Weile so liegen, angestrengt bemüht, sich an irgendeinen Gedanken zu klammern, nur nicht an Harry zu denken, der dort hinten auf das Geschenk der Erlösung wartete. Aber dann stand er auf. Was würde geschehen, wenn die Japse Harry fänden, noch lebend? Daran hatte er nicht gedacht. Diese Möglichkeit vor Augen, taumelte er durch den Dschungel zurück. Die Japaner würden eine Weile ihr Spiel mit Harry treiben. Embree hatte einmal eine Geschichte gehört, die sich in einem Schandorf abgespielt hatte. Die Japse hatten sich einen alten Mann vorgeknöpft. Sie zündeten ihm das Haar an und gossen ihm dann kochendes Wasser über den Kopf, als er schrie, sie sollten das Feuer löschen. Anschließend gossen sie Benzin über die verbrannte Kopfhaut und steckten es gleichfalls in Brand. Dann, als er sich auf dem Boden 478
krümmte, boten sie ihm höflich einen Kessel mit kochendem Wasser an, um nun dieses Feuer zu löschen. So sah ihr Zeitvertreib aus. Wie würden sie erst mit einem schwerverwundeten Chindit umspringen? Doch die Rückkehr schien mehr Zeit in Anspruch zu nehmen als zuvor die Flucht vor Harry. Embree durchstieß die letzten Lianen und sah vor sich den Baum und von der Seite den Kopf des Verwundeten. Wieder zog er die Pistole und zielte. Aber irgend etwas an der Neigung von Harrys Kopf veranlaßte ihn, die Waffe zu senken. Er trat nach vorne und sah, daß Harry tot war. Wie ein Strang Würste waren die Eingeweide herausgequollen und die Schenkel hinabgeglitten. Der Mund stand offen, und schon flogen Insekten ein und aus. Auch Harrys Augen waren offen, blicklos starrten sie geradeaus, bereits von einem trüben Grau überzogen. Embree kauerte sich neben Harry und sprach zum ersten-, doch nicht zum letztenmal zu dem Toten. »Ach, Harry was hab’ ich nur getan. Ich habe dich wirklich im Stich gelassen. Hör mal her.« Seither hat er schon viel zu Harry gesagt. Aber erst heute hat er versucht, sich alles in Erinnerung zu rufen, den ganzen furchtbaren Ablauf, genauso, wie er war. »Harry«, sagt er im stillen. »Harry«, sagt er laut. »Harry!« schreit er, und er hört, wie das Echo über die Ebene von Pagan hinhallt: »Harry! Harry! Harry …« Nicht ganz so laut fährt er fort: »Du bist da, du hörst mir zu, du hast Grund, mich zu hassen. Sag’s mir doch! Sag’s mir, Harry! Harry!« Wieder das Echo, und danach die gewaltige Stille über der Ebene. 479
Harry, sagt er im Geist. Harry. Und die Stille. Harry. Es kommt keine Antwort, es wird keine Antwort geben. Es gibt keinen Harry. Harry ist tot. Und zum erstenmal kommt Embree der Gedanke, daß er enttäuscht ist. Er wollte, daß der Geist Harrys, daß Harry der Nat existierte. Jetzt weiß Embree, wie sehr er sich nach einer Konfrontation mit dem toten Harry gesehnt hat – so sehr, daß er die Vernunft preisgegeben hatte. Embree steht auf und lehnt sich matt gegen die Brüstung. Die ominösen Worte aus den Upanischaden kehren wieder: Die Furcht erhebt sich aus dem NichtSelbst. Aber wenn es das »Andere«, das Nicht-Selbst gar nicht gibt, denkt er, dann kommt die Furcht von nichts. Oder von Gedanken. Embree starrt hinab auf die rauhen Ziegelsteine der Brüstung, die Finger seiner intakten Hand spreizen sich darauf. Langsam und mit starkem Druck zieht er die Hand über den Stein, bis die Finger aufgerieben sind und bluten. Gut so. Er spürt die Realität der Welt. »Harry«, sagt er noch einmal mit lauter Stimme. Noch immer keine Antwort. Es gibt also wirklich keinen Harry mehr. Embree tritt von der Mauer der Terrasse weg und blickt über die trockene, braune Weite von Pagan. Er fühlt sich geläutert, aber wie ein sterbenskranker Mensch, der alle erdenklichen Medikamente bekommen hat und nun seinen letzten Weg allein gehen muß. 480
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E
s gibt Dinge, von denen die Weißen nichts verstehen, überlegt Rama. Zum Beispiel wissen sie nicht, wie wohltuend ein »Priem« Betel ist. Hier oben auf der Terrasse dieses verfallenden burmesischen Bauwerks spricht Master mit sich selbst und brüllt »Hari! Hari!«. Wer weiß schon, aus welchem Grund? Vermutlich weiß er nicht einmal, daß Hari ein geheiligter Name Wischnus ist. Narayana. Rama macht sich nun ein Stück Betel zurecht, während er unter einem verkrüppelten Baum auf der Ebene von Pagan sitzt, zum Schutz gegen die glutheiße Sonne. Er hat die Arekasamen, den gelöschten Kalk und ein Betelpfefferblatt gestern im Dorf Nyaung-Y gekauft. Er steckt den Priem in den Mund, dicht ans Zahnfleisch. Sofort beginnt Speichel zu fließen. Diese Sache scheinen die Weißen nicht zu begreifen: Wie Betel den Atem süß macht, Blähungen löst, das Zahnfleisch kräftigt. Er hat Master empfohlen, Betel zu kauen, aber Master hat es abgelehnt, denn blutrotes Zahnfleisch und schwarze Zähne, das sei nicht sein Fall. Warum aber nicht? Usha hat beides, und sie ist schön. Er spuckt einen Strahl roten Safts auf die staubige Erde. Nicht schlecht für Burmesen. Aber ihr Betel ist das einzige Gute an ihnen. In Rangun, auf dem Markt Thein Gyi Zei, ist er vielen handeltreibenden Tamilen begegnet, die nach dem Krieg nach Burma zurückgekommen sind. Aus materieller Not zur Rückkehr hierher gezwungen, war ihnen das Grauen des Krieges noch immer gegenwärtig. Auch das können die Weißen nicht verstehen. Auf dem Markt, unter einer Budenplane lauschte er entgeistert, entsetzt den 481
Erzählungen dieser Männer. Jeder von ihnen hatte Angehörige verloren. Jeder trug an seinem Körper Narben von der Flucht aus Burma im Jahr 1942. Zur Zeit der japanischen Invasion, erzählte einer der tamilischen Händler Rama, während sie Betel kauten, sei halb Rangun indisch gewesen. »Die Engländer, die vor den Japanern flohen, ließen ihre indischen Diener am Hafen zurück. Dort, noch während die Schiffe vor Anker lagen, wurden die armen Teufel von den Burmesen zu Tode gehackt. Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen. Die britischen Sahibs und Memsahibs standen an der Reling der Schiffe und sahen zu, wie ihre langjährigen Diener enthauptet und ins Wasser geworfen wurden.« Auch von dem langen, grausigen Exodus erzählte man ihm: Eine Million Inder machte sich auf den Weg, weniger wegen der Japaner als aus Angst vor den Burmesen, von denen sie gehaßt wurden – besonders die Nattukottai Chattiyars, die seit Jahrzehnten als Geldverleiher die leichtlebigen Einheimischen um Hab und Gut gebracht hatten. »Glaube mir, junger Mann«, sagte ein alter Tuchhändler, »auf dieser Straße war eine Feldflasche voll Wasser so wertvoll wie Gold. Genauso wie eine Decke, eine Dose Konserven, ein Tropenhelm, ein Moskitonetz.« Er schilderte, wie durch den hochgewirbelten Sand sich kranke, ermattete Menschen mit Bündeln auf dem Kopf dahinschleppten. Er erzählte von der Cholera, die wie stets die hilflosen Menschen auf dem Marsch heimsuchte. »Wir hatten keine Zeit, die Toten zu begraben«, berichtete er Rama. »Wir ließen sie dort liegen, wo sie gestorben waren. Wir sahen die Geier längs der Straße auf niedrigen Ästen sitzen. Sie konnten nicht mehr fliegen, so schwer waren sie. Sie schlugen hilflos mit den Flügeln. Auch die Hunde wurden fett, sie zerrten wie außer sich an 482
den Leichen.« Frauen starben, während sie ihre Säuglinge stillten. Männer liefen mit Messern Amok, weil sie fürchteten, irgend jemand könnte ihnen ihre letzten Habseligkeiten stehlen. »Ich weiß noch«, sagte der alte Mann, der in Trichy geboren war, »wie wir im April 1942 bei Shwebo den Irawadi erreichten. Wir waren wohl an die Zwanzigtausend, und natürlich bekam das Militär die ersten Flußkähne und Raddampfer. Als wir dann dran waren, kamen viele der Fahrzeuge – bemannt mit Burmesen – nicht mehr ans Ufer zurück. Die Menschen konnten nicht weiter. Sie lagen im Sand, außerstande, sich zur Wehr zu setzen, wenn Dacoits daherkamen. Diese Banditen rissen Frauen den Schmuck von den Armen, schnitten Männern die Kehle durch. Du kannst dir keinen Begriff davon machen.« »Narayana«, sagte Rama. »Aber warum waren die Burmesen denn so grausam? Die Chattiyars hatten doch einen verbrieften Anspruch auf ihr Eigentum oder nicht?« Der alte Händler lachte. »Menschen, die ihren Grund verlieren, geben nichts auf verbriefte Rechte. Aber die Chattiyars waren nicht das einzige Problem. Als Burma zum Empire kam, holten die Engländer Inder ins Land, die sie bei der Verwaltung unterstützen sollten. Sie verstanden einander – wegen der kolonialen Tradition. Und die Burmesen galten als faul, unzuverlässig, als Leute ohne Fertigkeiten. Die Engländer brachten Inder als Hauspersonal nach Burma. Inder übernahmen in Scharen burmesische Beamtenstellen, so daß für Burmesen kein Platz blieb. Burmas Reichtum war in indischer Hand. Und dann, über Nacht, gab es den Schutz der Briten nicht mehr, und die Burmesen nahmen Rache.« An diese Gespräche zurückdenkend, spuckt Rama etwas Betelsaft aus und berührt den Salagramastein an der Kette um seinen Hals. Schrecklich, schrecklich. Es heißt: 483
»Gottes rechte Hand ist milde, doch schrecklich ist seine linke Hand.« Die Weißen verstehen nichts davon. Sie sind noch ein junges Volk, noch nicht sehr spirituell. Doch die Burmesen sollten es besser wissen, denn sie sind ein älteres Volk. Was treibt Master nur dort oben? Es ist wieder still geworden auf der Terrasse. Und durch die Stille hört Rama aus dem dunklen, kühlen Tempelinnern eine Fledermaus piepsen. Was tut er nur? Und warum schreit er »Hari!«, daß man ihn überall hören kann? Nachdem Rama seinen Betel gekaut hat, überlegt er, ob er sich noch einen Priem machen soll. Er hätte jetzt nichts gegen einen solchen kleinen burmesischen Imbiß aus eingelegten Teeblättern, gerösteten Sojabohnen und einer öligen Mixtur aus Sesamsamen und Maiskörnern. Schmackhaft. Nicht schlecht für die Burmesen. Doch nichts läßt sich mit Ushas Morgenkaffee vergleichen. Er kann sich vorstellen, wie sie jetzt am Morgen über dem Töpfchen kauert, in dem das Wasser sprudelt, und wie ihr starker, schlanker Arm die Kaffeemühle dreht. Rama versucht, das Bild zu verscheuchen, aber es bleibt, obwohl er die Augen öffnet, weit aufmacht und in den Hitzedunst starrt, der um sein schattiges Plätzchen flimmert. Die Augen geöffnet oder geschlossen – einerlei, denn Usha ist noch immer da. Mittlerweile weiß sie natürlich alles, denn irgend jemand, der Englisch kann (hoffentlich nicht der Onkel; er hat ihr gesagt, sie soll nicht den Onkel darum bitten), muß ihr den Brief vorgelesen haben. Außer dem Onkel gibt es fünf Leute im Dorf, die dazu imstande wären. In Rangun hat er einen weiteren Brief geschrieben und sie ermahnt, tapfer zu sein und sich keine Sorgen zu machen. Er erklärte ihr noch einmal den Grund, warum er sie Knall auf Fall verließ: Er müsse der Familie wegen die Reise mit 484
dem Sahib auf sich nehmen, denn so eine Chance werde vielleicht kein zweites Mal kommen. Sobald er genug Geld beisammenhabe, werde er sie und die Kinder kommen lassen. Bis dahin müßten sie tapfer sein und sich wegen der bevorstehenden Dürre vorsehen. »Seid lieb zum Onkel. Widersprecht oder ärgert den Onkel nicht, von dem Euer Wohlergehen abhängt, sollte die Dürre kommen.« Es werde vielleicht nicht so lange dauern, wie sie glaubten, bis er sein Glück gemacht habe, und dann könnten sie nachkommen. »Narayana«, schrieb er. Und dann: »Liebe Grüße an Euch alle.« Und dann: »Ergeben, V. S. Ramachandran.« Er denkt oft an sie daheim im Dorf. Hari ist gerade vom Spielen hereingekommen. Der Jüngere sitzt bereits auf dem Boden und sieht der Mutter zu, wie sie mit einer Kelle Reis auf ein Palmblatt häuft. Ich werd’ mir noch ein Betelpäckchen machen, nimmt Rama sich vor. Es war schon richtig, Indien zu verlassen. Es ist Gottes Wille. Wenn ihm schon diese Chance geboten wurde, zu reisen und die Welt zu sehen, warum soll er dabei nicht auch sein Glück machen. Es ist ganz gewiß Gottes Wille. Was er nur dort oben macht? Ich muß Geduld mit Master haben, denkt Rama. Er macht das Betelpäckchen fertig und steckt es sich zwischen Wange und Zahnfleisch. Die Weißen müssen sonderbare Dinge erdulden. Zum Beispiel hat Master, jedenfalls glaubt er das, mit einem Toten gesprochen, aber höchstwahrscheinlich kommuniziert er mit Gott oder einem Heiligen, der ihm zu helfen versucht. Aber kann man das einem Weißen klarmachen? Sie wollen von dieser Art Wahrheit nichts wissen, und doch gibt es Dinge hinter dem, was unsere Augen sehen, die zu uns sprechen, sobald 485
wir nur hinhören. Er lehnt sich wieder an den Baum zurück und sinnt darüber nach, wie vernünftig es doch war, daß er seine Familie trotz der nahenden Dürre verließ. Ich gebe mir Mühe, denkt er. Keiner ist vollkommen. Gott ist vollkommen. Und da wir unvollkommen sind, müssen wir halt immer das tun, was gerade als das beste erscheint. Rama schließt die Augen in der Hoffnung, daß er einnickt, doch es ist immer noch eine gewisse Unruhe in ihm. Er sieht die beiden Jungen, sieht seine Frau vor sich, wie sie Kaffeebohnen mahlt. Narayana. Als sie im Hotelzimmer waren und Master die hübsche Puppe und die auf dem Markt für einen Pappenstiel gekauften Soldaten in die Hand nahm, hätte Rama beinahe alles gestanden. Gott sei Dank, denkt Rama jetzt, daß ich geschwiegen habe. Master hätte nicht verstanden, daß es notwendig war, die Existenz einer Familie zu verheimlichen, sogar die einer Ehefrau, denn Menschen, die in fremde Länder reisen, müssen frei von Verantwortung sein. Er setzt sich zurecht, lehnt sich bequemer gegen den Baumstamm und schließt die Augen. Er möchte einschlummern und von seinem Zuhause träumen, erinnert sich aber statt dessen an die Reisfelder zwischen Rangun und Moulmein. Auf eben dieser Fahrt hat Master gefragt, ob er jemals einen Verstorbenen wiedergesehen habe. »Ja, Master, natürlich«, antwortete Rama. Und Master fragte: »Wen?« »Meinen Vater«, erklärte Rama. Und es war die Wahrheit; er hat seinen Vater schon oft gesehen, wie er auf einem Pfad zwischen Reisfeldern daherkam oder aus dem Morgendunst trat oder im Morgengrauen hinter einem Baum in der Ferne erschien. Master fragte weiter: 486
»Was geschieht dann? Wie nahe kommt er heran, was tut er?« Fragen eines Weißen. Rama sagte zu ihm: »Mein Vater kommt einfach her. Allerdings nicht zu nahe.« Und natürlich hat Master weitergebohrt. »Sagt er etwas?« »Nein, Master.« »Was denkst du dir dabei?« »Ich denke nicht zuviel darüber nach, Master.« »Aber warum nicht? Findest du es nicht merkwürdig, daß man einen Toten sieht?« Darauf hat er geantwortet: »Nein, Master, nicht so merkwürdig, wenn es geschieht. Es freut mich, daß er kommt, um mich zu sehen.« Weiße können diese Dinge nicht erfassen. Rama öffnet kurz die Augen, um zu sehen, wohin er spuckt; er möchte seine neue westliche Kleidung nicht mit Betelsaft beflecken. Mit geschlossenen Augen träumt er wieder von den Reisfeldern, die eines nach dem andern den ganzen Tag am Abteilfenster vorüberglitten. Heimweh erfaßte ihn, denn der Anblick rief Erinnerungen an seine Jugend wach, als sein Vater noch lebte und die Felder des Dorfes Ramas Welt umgrenzten. Rama träumt von den Schnittern, wie sie sich gegen den Wind ans Werk machen, bewaffnet mit Sicheln, die wie gekrümmte Gartenmesser mit gezackter Schneide aussehen. Auf den Fersen hockend, packen sie mit der linken Hand Bündel von Reisstengeln, sicheln die Garben dicht am Boden ab und legen sie behutsam hinter sich. Sie arbeiten ohne überflüssige Bewegungen, in einem Rhythmus wie beim Festtanz zu Ehren der Götter, die ihnen ihre Ernte bescheren. Narayana. Die Sonne hat auf ihrem Bogen den Südwesten erreicht, und Rama rückt von ihren Strahlen weg, die dort einfallen, 487
wo der kleine Baum am wenigsten Schatten gibt. Er spannt den Schirm auf und klemmt ihn so zwischen seinen Rücken und den Baumstamm, daß sein Gesicht dem Licht entzogen ist. Er will nicht, daß seine Haut dunkler wird. Master möchte das sicher auch nicht. Ein Weißer möchte gewiß nicht mit jemandem reisen, dessen Hautfarbe zu dunkel ist. Und Master hat eine so helle Haut. Es erstaunt Rama, daß Master darauf besteht, sie seien Kameraden und könnten gemeinsam in einem Zimmer schlafen. Nun, es ist ihm recht. Es ist Gottes Wille. Es war auch Gottes Wille, daß Bapuji abberufen wurde. Rama spuckt Saft aus. Gandhi tot – war ja auch verblendet, den Moslems so viele Konzessionen zu machen, aber trotzdem ein guter Mensch. Es hat Rama fast den Atem verschlagen, als er am Kai die Nachricht in der Zeitung sah. In dem Brief an seine Frau schrieb er: »Du kannst Dir ja vorstellen, wir mir zumute war, als ich bei der Ankunft in dieser fremdartigen Stadt, wo während des Krieges so viele unserer Leute ihr Schicksal ereilte, die Schlagzeile über Bapus Tod sah. Ich kann Dir sagen, es hat mich richtig erschüttert.« Der Betel ist inzwischen ganz zerkaut. Vielleicht, sagt sich Rama, ist noch Zeit für ein weiteres Stück, denn bei den Weißen weiß man ja nie … Master könnte den ganzen Tag dort oben mit seinem toten Freund oder einem Gott zubringen. Rama hat in seinem Brief über Gandhi und seinen eigenen Aufenthalt in einer fremden Stadt geschrieben, um bei Usha ein bißchen Mitgefühl für sein hartes Los zu wecken. Keiner ist vollkommen. Narayana. Wieder lehnt er den Kopf nach hinten und versucht, ein Schläfchen zu halten, und wieder stellen sich die Bilder ein, die ihn an die Erntezeit in seinem Dorf erinnern. Im Dorf wäre wirklich gut leben, gäbe es nicht Dürreperioden und Hungersnöte und Geldverleiher und Grundbesitzer. 488
Sein Vater hat das Problem erkannt und trotz seiner Liebe zu ihrem Dorf bei der Bahn gearbeitet. Als sich der Tod seines Vaters das letztemal jährte, engagierte Rama zwei Brahmanen, die eine kleine Krischnastatue segnen sollten. Er kaufte ihnen neue dhotis, gab ihnen Lebensmittel und weitere Geschenke, und nach zwei Tagen hatten ihre Gebete dem toten Stein des Idols den himmlischen Geist des Gottes eingehaucht. Dann betete Rama zu dem Gott im Stein für die Seele seines Vaters. Der Gedanke daran füllt Ramas Augen mit Tränen. Heimweh ist etwas Schreckliches, wirklich. Das hat er nicht geahnt. Seinen Angehörigen wird nichts geschehen, dafür wird Gott sorgen. Wo Master nur bleibt? fragt sich Rama jetzt besorgt. Dieser Master ist kein gewöhnlicher Mensch. Rama wird nie Masters Gesichtsausdruck vergessen, als sie auf dem Soldatenfriedhof waren. Ist er imstande, sich dort oben etwas anzutun? Die Weißen wissen nicht, wie man zu den Toten spricht. Am besten geht er doch hinauf, auch wenn es ein burmesischer Tempel ist. Schließlich handelt es sich ja nicht um einen Tempel mit Priestern und Gläubigen, sondern um einen alten, halbverfallenen. Ein solcher Ort kann ihm keinen Schaden zufügen. Rama tritt zögernd aus dem Baumschatten in das gleißende Licht über Pagan. Er beginnt den Aufstieg. Narayana. Es ist ein langer, beängstigender Marsch, später innerhalb der Mauern noch unangenehmer. Er hört Fledermäuse umherflattern. Der Geruch hier ist modrig, die Luft kühl. Narayana. Aber dann tritt er ins Sonnenlicht und sieht Master an der Brüstung lehnen. »Ich komme«, ruft Rama erleichtert. »Ich bin da, 489
Master!« Der Weiße dreht sich um und lächelt. Auch das ist eine Erleichterung. Rama geht rasch hm, bleibt aber kurz stehen, als er die blutige Hand bemerkt. »Ach, Sir, wie ist denn das passiert? Lassen Sie sich helfen.« Der Weiße zuckt die Achseln, zieht aber mit der blutenden Hand ein Taschentuch aus seiner Gesäßtasche und reicht es Rama. Während Rama die Hand verbindet und das Tuch verknotet, blickt er besorgt in die kühlen, blauen Augen. »Danke, daß du gekommen bist, Rama.« »Ich habe mir Sorgen gemacht, Sir.« »Erinnerst du dich, daß ich dir sagte, ich spräche mit einem Toten? Nun, das war nicht richtig. Es gibt ihn nämlich nicht.« Rama wartet, unschlüssig, wie er darauf reagieren soll. »Rama, du hast doch deinen Vater gesehen.« »Ja, Master.« »Aber nie mit ihm gesprochen.« »Bis jetzt, Sir, nicht gesprochen.« »Und du glaubst, ihn gesehen zu haben.« »Ja, Master.« Der Weiße scheint über die Antwort nachzusinnen. Dann seufzt er, blickt auf seine verbundene rechte Hand, auf den linken Arm in der Schlinge und lacht hellauf. Auch das Lachen erleichtert Rama. Alles kommt wieder in Ordnung. Dann wird Embree wieder ernst. »Sieh da hinaus, Rama. Vor achthundert Jahren hat dort eine halbe Million Menschen gearbeitet, geliebt und zu ihren Göttern gebetet. Sie hatten eine große Kultur hier.« 490
»Ja, Master«, sagt Rama ohne Begeisterung. »Ich bin froh, daß wir hierhergekommen sind. Es war der richtige Ort. Was denkst du gerade, Rama?« »Master?« »Was denkst du gerade?« »Daß es am besten ist, in der Hand Gottes zu sterben.« Sie steigen nach unten. Während sie auf die wartende Tonga zugehen, überlegt Rama, ob er Master ein Betelpäckchen anbieten soll, aber das wäre für ihn nicht die Erquickung, die es sein soll, und so behält er die Zutaten in der Tasche. Die Weißen wissen nicht so viel, wie sie zu wissen glauben. Rama beschließt, daß es wohl am besten ist, Nachsicht zu zeigen. Er berührt das Amulett mit einem leisen »Narayana«, als sie in die Tonga steigen. Sie nehmen unter dem Leinwanddach Platz, und er wirft einen kurzen Seitenblick auf Master, der hartnäckig schweigt. Vielleicht durchlebt er im Geist noch einmal, was ihm dort oben auf dem burmesischen Tempel widerfahren ist. Eines steht fest: Derjenige, auf dessen Beistand Master gezählt hat, ist nicht gekommen. Und doch wirkt Master jetzt entspannter, so, als hätte er eine große Schlacht überlebt. Ein Gedanke beschäftigt Rama: Jemand muß sich um Master kümmern. Die Weißen brauchen jemanden, der ihnen hilft. Stolz darauf, daß ihm diese Aufgabe übertragen ist, gleitet Rama in eine Tagträumerei. »Rama.« Er dreht sich zu Master hin, der nun lächelt. »Ich bin froh, daß du mitgekommen bist.« »Ja, Master. Danke, Master.« »Du bist ein geduldiger Mensch. Tolerant.« »O ja, Master, beides bin ich, immer.« 491
Rumpelnd geht es dahin, während das alte Pferd die staubbedeckte Straße entlangklappert. »Wir fahren jetzt nach Bangkok, Rama.« »Ja, Master. Sehr gut, Sir.« Doch Rama fragt sich, ob es wirklich so gut ist. Schickt Master ihn dann nach Hause, sobald das Reiseziel erreicht ist? Die Zeit für seine Heimkehr ist noch nicht gekommen; es gibt so vieles zu sehen, und außerdem muß er erst sein Glück machen. Er muß mit Master ein vernünftiges Gespräch führen und ihm klarmachen, wieviel dafür spricht, daß er, Rama, in seinen Diensten bleibt. Es wird mir gelingen, sagt sich Rama zuversichtlich.
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ie ist erst einen Tag aus dem Bett, und jetzt setzt ihre Periode ein. Immerhin sind die Unterleibschmerzen nicht so stark wie sonst, und sie leidet auch nicht an Übelkeit. Jedenfalls ist es erträglicher als das Fieber, das ihr so lange zugesetzt hat. Es war ein geheimnisvolles Fieber, aber das sind fiebrige Erkrankungen während der trockenen Jahreszeit in Bangkok ja häufig. Der deutsche Arzt war völlig ratlos. Es begann an dem Morgen nach dem »Gespräch mit Mutter über die Männer«, wie sie es nannte. Über ihren eigenen Freund, über Mutters Männer. Während sie das Bett hütete, wäre reichlich Zeit gewesen, über diese Konfrontation nachzudenken, aber sie hat sich noch nicht ernsthaft damit auseinandergesetzt. Zwar erörterte sie es mit ihrer imaginären Vertrauten, aber das ist nicht dasselbe. Jedesmal, wenn ihr das Geständnis ihrer Mutter einfällt, so kommt es Sanuk vor, wird es von irgendeinem anderen Gedanken verdrängt. Die Einzelheiten – die Wahrheit über Schanghai – sind ihr zwar gegenwärtig, doch dahinter ist noch etwas verborgen. Was hat sie empfunden? Traurigkeit, Zorn, Bestürzung? Ja, all dies, aber nichts davon erscheint ihr als eine angemessene Reaktion auf die Tatsache, daß ihre Mutter ein solches Leben führte oder daß sie selbst nun davon weiß. Vielleicht kam das Fieber in die Quere. Zweifellos hat es Mutter und sie davon abgehalten, fortzuführen, was sie an jenem Abend begannen. Mutter hat das Gespräch kein einziges Mal direkt erwähnt. Jetzt aber sagt sich Sanuk, geht das Leben richtig los. Endlich ist sie wieder auf den Beinen, und sie fühlt sich 493
kräftig an diesem ersten heißen Morgen des Jahres. Auch der Gipsverband um ihren Daumen ist abgenommen. »All’s right with the world«, geht ihr durch den Sinn, alles stimmt mit der Welt. Wie hübsch, diese schlichte Gedichtzeile. Wer immer sie verfaßt hat, muß glücklich dabei gewesen sein. Vor ein paar Tagen kam Lamai zu Besuch und erzählte von den Hochzeitsvorbereitungen. Der Familienastrologe hat die genaue Stunde für die Zeremonie bestimmt. Lamai wird einen Sarong in kräftigem Blau tragen, der Farbe der Treue, und einen Schal in Rosa, der Farbe der Liebe, wenn der Priester ihnen die fünf Gebote vorspricht. Lamai schien an diesen Dingen sehr interessiert, nicht aber über den Vollzug der Ehe selbst sprechen zu wollen. Doch Sanuk ließ nicht locker, und Lamai leistete nur scheinbaren Widerstand. »Man darf solche Dinge nicht aussprechen.« »Aber irgendwas ist doch verkehrt daran«, sagte Sanuk lachend zu ihr. »Was bedeutet die Ehe einem Buddhisten? Ich will damit sagen, mir hat einmal jemand gesagt … Moment …: ›Die Ehe ist einfach ein Zugeständnis an das verhaßte Fleisch.‹« »Von wem hast du das?« »Von Suchat, diesem schlauen Jungen.« Lamai warf in gespielter Verzweiflung die Hände hoch. »Er kann nicht zeichnen, er kann nicht malen, er kann keinen Ton formen.« »Aber er ist schlau. Nun«, fuhr Sanuk fort, die froh war, Lamai zur Gesellschaft zu haben, »der Fall liegt so, daß das Fleisch zwar gehaßt wird, aber jedermann weiß, daß die Siamesen die Liebe lieben.« »Du solltest solche Dinge nicht sagen. Außerdem, wer ist das – jedermann?« 494
»Man muß auf der linken Seite liegen und darf nie die Füße kreuzen.« »Und warum das?« »Es beugt einer schwierigen Geburt vor, hat Nipa mir gesagt.« »Nipa erzählt dir Dinge, die du nicht erfahren solltest«, erklärte Lamai, im Ton der Sachverständigen. »Laß dir erzählen, wie man herausbekommt, ob man schwanger ist.« »Genug jetzt.« »Ich habe darüber in einem Buch über Astrologie gelesen. Pranee hat es mir einmal geliehen. Du ziehst dein Alter nach Monaten von seinem Alter nach Monaten ab …« »Genug!« »… und teilst dann durch sieben. Ich meine, wenn du meinst, du könntest … ja … weil etwas geschehen ist zwischen dir und …« Lamai lachte zu sehr, um protestieren zu können, während Sanuk, noch Fieberglanz in den Augen, sich von ihrem Kissen nach vorne beugte. »Also, nachdem du die Zahl durch sieben geteilt hast … Hör zu, du hörst ja nicht richtig zu … und dann ein Rest von eins bis sechs bleibt, besteht eine gute Chance. Geht die Teilung auf, ist’s nichts. Ist der Rest größer, bedeutet das nichts Gutes. Es ist wahr. Ich hab’ es gelesen.« Doch Lamai, die sich nie auf Verrücktheiten einließ, glaubte ihr nicht. Sie hätte mir auch nicht geglaubt, daß ich einen Mann geliebt habe, nicht nur einmal, sondern oft, in den Betten gräßlicher Absteigen, nicht nur hier in Bangkok, sondern auch im Süden, wohin wir ganz ungeniert fuhren. Betroffen denkt Sanuk an die nackten Details, während sie 495
am Fenster steht. Doch das Geschehene scheint an Realität zu verlieren, weil Chamlong in ihrem Leben nicht mehr präsent ist. Nach dieser langen Trennung – seit über zwei Wochen – ist er für sie eine beinahe schon schattenhafte Erinnerung. Er hat ein kräftiges Kinn, zu ausgeprägt, und kleine Ohren, und die Haut ist so straff wie ein Segel. Manche Dinge an ihm sind in der Erinnerung übersteigert, aber was nicht übersteigert ist, existiert für sie nicht. Wir haben gemeinsam einen Mann umgebracht. Von unten ist Nipas Stimme zu hören. Jammernd klagt sie einem Siamesen über die »Dschien«, wie sie für »Chinesen« abkürzt, diese unglaublich dummen und knickrigen Dschien und setzt wie jeden Tag mit einer einzigen alten Frau das gesamte chinesische Volk auf die Anklagebank. Allerdings ist Ah Ping wirklich ein Hausdrache. Jeden Tag wartet Nipa, bis Ah Ping zu einer Besorgung aus dem Haus ist, und dann beginnt die Litanei. Sanuk hofft nur, daß Nipa auch weiterhin ihre Nichte für kleine Arbeiten kommen läßt. Erst gestern beim Abendessen – seit zwei Wochen für sie zum erstenmal wieder unten am Tisch – lobte Sanuk die Anstelligkeit der jungen Lalawal. »Es ist kaum zu glauben, Mutter, das Mädchen ist ja erst dreizehn.« Sanuk ist deshalb besorgt, weil Lalawal, was sonst niemand weiß, zu ihrer persönlichen Botengängerin geworden. Sanuk mag das Mädchen wirklich: offen, ehrlich, zu Spaß aufgelegt, loyal. Und formbar. Lalawals größtes Handikap ist ihre Schüchternheit, aber daran arbeitet Sanuk seit sie das Mädchen dazu bewegen konnte, das Briefchen zu Chamlong zu bringen. Das Täuschungsspiel gefällt Sanuk nicht, aber es gibt keine andere Möglichkeit, mit ihm in Kontakt zu bleiben. 496
Ihre Mutter ist unnachgiebig. Im Krankenzimmer war sie zärtlich und liebevoll, aber wenn sie am Bettrand saß und Sanuks Hand hielt, brach plötzlich aus ihr heraus, was ihr die ganze Zeit auf der Seele lag: »Er ist nicht der Richtige für dich«, oder: »Du mußt begreifen, daß du noch nicht alt genug bist, um über Männer richtig zu urteilen, darum gib bitte mir zuliebe diesen Jungen auf«, oder: »Ein solches Verhältnis, Liebling, kann dir nur Kummer bringen.« Seit ihrer Krankheit sieht sie ihre Mutter mit anderen Augen. Zum einen wirkt sie jünger. Mutter ist wirklich attraktiv, obwohl sie zur Zeit zunimmt, weil sie anscheinend ihren Appetit nicht zügeln kann. Sanuk erschien wegen des Todes ihres Vaters das Leben ihrer Mutter schon immer tragisch, doch die Enthüllungen über die Zeit in Schanghai haben bei der Tochter Faszination wie Mitgefühl vertieft. Während sie fiebernd im Bett lag, sagte Sanuk zu ihrer imaginären Vertrauten: »So steht’s also: Eine Lüge, die ich mein ganzes Leben geglaubt habe. Hätte sie mir nur früher über Schanghai erzählt, aber vermutlich dachte sie immer, ich sei noch zu jung, um es zu verstehen. Heute natürlich versteh’ ich es. Manche Mädchen würden eine Mutter hassen, die Prostituierte war. Besonders Mädchen in der Klosterschule. Aber ich habe selbst gesündigt, und ich hasse mich nicht wegen der Dinge, die ich mit Chamlong gemacht habe« – sie hat ihrer Vertrauten nie von dem Mord erzählt. »Die Buddhisten haben recht: Nicht was man tut, ist wichtig, sondern warum man etwas tut. Mutter mußte sich ja damals über Wasser halten. Ich meine also, daß wir alle unsere Mängel haben und tolerant sein müssen.« Diese freundliche Predigt an die imaginäre Vertraute unterstreicht nur Sanuks tatsächliche Unzufriedenheit mit Mutter, weil sie im Fall Chamlongs so unduldsam ist. Während der langen Tage im Bett stellte Sanuk sich oft 497
die sexuelle Erniedrigung vor, die Mutter von zahllosen Männern erdulden mußte. Es ist furchtbar, aber nicht ohne Kitzel, wenn sie sich an die Stelle ihrer Mutter versetzt, und manchmal schämt sich Sanuk deswegen. Seit einiger Zeit versucht sie, chinesische Dichtungen zu lesen, namentlich die der Kurtisane Yu Hsuan-chi aus der Epoche der Tangdynastie. Mit dreißig Jahren gestorben. Jeanne d’Arc mit neunzehn gestorben – in ihrem eigenen Alter. Und dann Mutter, wie sie im gefühllosen Schanghai ums Überleben kämpfte. Die Bilder erscheinen vor Sanuks geistigem Auge, wechseln, verblassen und kehren wieder: Männer, Schwerter, Blüten. Eine nackte Glühbirne im Hotelzimmer, fallende Seide, ein Kreuz in den Flammen – das Leid der Frauen. Während ihrer Krankheit brachten solche Bilder ihren ganzen Körper zum Zittern, obwohl Sanuk sich heute fragt, ob nicht das Fieber daran schuld war. Die letzten beiden Wochen verschwimmen bereits in ihrer Erinnerung. Doch eines steht für sie fest: Sie wird zu Chamlong gehen, gleichgültig, was ihre Mutter sagt. Sie wird ihn sehen. Mutter kommt immer wieder herein und berichtet über ominöse Gerüchte von siamesischen Banden, die sich am Meer herumtreiben, von kommunistischen Banden, die den Frieden in Bangkok bedrohen. Auch das gehört zu der verdrehten Realität, daß Sanuk mit vielen dieser Kommunisten, die den Seelenfrieden ihrer Mutter gefährden, in Teehäusern zusammen war. Ein Klopfen an der Tür lenkt sie von der Ironie der Situation ab. Es ist Lalawal, die einen Besuch meldet. Sopita, Chamlongs Schwester, tritt ein. Man tauscht Liebenswürdigkeiten aus, spricht kurz über 498
die Tanzaufführung im Nationaltheater. Sanuk war schon immer eifersüchtig auf Sopita, neidisch darauf, daß die arrogante junge Chinesin den klassischen khon tanzen kann. Und während sie sich unterhalten, betrachtet Sanuk mit kritischem Blick den langen Hals, die zierlichen Finger, die sie schon beinahe bis zum Handgelenk zurückgebogen gesehen hat. Sie hat Sopitas hochmütige Schönheit beinahe vergessen. Die hin und her schweifende Unterhaltung ist ins Stocken geraten. Warum sie wohl hergekommen ist, fragt sich Sanuk, während sie befangen dasitzen. Schließlich blickt Sopita auf. »Siehst du manchmal meinen Bruder?« »Nein, wie denn?« antwortet Sanuk kühl. »Ich war ja bis heute krank.« »Ich sage dir aus Freundschaft, du solltest dich nicht mit ihm treffen.« »Und warum?« »Das kann ich dir nicht sagen. Aber wenn du weißt, wo er ist, hätte ich gern, daß du es mir sagst.« »Was hat dein Bruder denn getan?« »Je länger er von zu Hause wegbleibt, um so schlimmer für ihn, Sanuk. Du würdest ihm einen Gefallen tun, wenn du mir sagst, wo er ist.« »Ich habe keine Ahnung.« Sanuk betrachtet das Mädchen, wie es aufsteht, sichtlich verärgert. Als Sopita gegangen ist, tritt Sanuk ans Fenster. Dort wartet sie, bis Sopita unten auftaucht und überaus graziös die Gasse hinunterzugehen beginnt. Sanuk triumphiert. Mein Freund ist echt wie Gold. Dachte Sopita, ich würde ihn verraten? Wir haben einen Mann umgebracht. Unsere gemeinsame Tat verbindet uns wie ein ehernes Band. 499
Minuten später ist sie unten in der Küche, wo die Köchin und Nipa inmitten von Töpfen und Pfannen sitzen, neben dem erkalteten Herd, burmesische Zigarren im Mund. Cook blickt nur starr vor sich hin, Nipa hingegen steht langsam auf, als das Mädchen hereinkommt. »Möchte Miss irgendwas? Kokosnußpudding?« Ausgesprochen mit einem tiefen Seufzer. Sie wirkt zwar immer müde, ist aber energiegeladen wie eine Biene. Höflich antwortet Sanuk: »Danke. Ich habe keinen Hunger. Ich möchte dir keine Arbeit machen.« Sie lächelt die Köchin an, die nur die Stirn runzelt. »Ist nicht deine Nichte heute hier?« fragt sie Nipa, die mit einem Nicken antwortet. »Kann das Mädchen nähen?« »Meine Nichte ist ein ordentliches, braves Mädchen, das kochen und nähen und alles kann, was verlangt wird«, erklärt Nipa stolz. »Dann hab’ ich Arbeit für sie. Schick sie bitte zu mir in mein Zimmer.« Kurz darauf kommt das Mädchen herein. Sanuk bedeutet ihr, sie solle sich aufs Bett setzen. »Los, setz dich hin«, sagt Sanuk mit Nachdruck, als das Mädchen zögert. »Lalawal, ich habe einen Brief, den du wegbringen sollst.« Sie nimmt ein zusammengefaltetes Blatt vom Schreibtisch und gibt es dem Mädchen, das mit zögerndem und düsterem Ausdruck dasitzt. »Komm schon, du hast es ja schon einmal getan«, redet Sanuk dem Mädchen zu. »Aber wenn ich erwischt werde.« »Wer soll dich denn erwischen?« »Meine Tante.« »Mach dir keine Sorgen wegen deiner Tante.« Sie gibt Lalawal ein Stück Garn. »Wenn sie dich beim Hinausgehen aufhält, sag ihr, ich hätte dich losgeschickt, 500
um eine Rolle von diesem Garn zu besorgen. Und wenn du zurückkommst, sagst du zu ihr, falls sie fragt, du hättest auf dem Markt keins gefunden.« »Sie fragt bestimmt.« Sanuk setzt sich neben sie und nimmt ihre Hand, dreht die Handfläche nach oben. »Du hast eine gute Hand, mit seidenweichen Linien, wie es sein soll.« »Wirklich?« Lalawal betrachtet jetzt ebenfalls ihre Hand. »Deine Hand ist warm. Auch gut.« Sanuk hebt Lalawals Hand, betrachtet sie genau und fährt fort: »Der Handrücken ist gewölbt wie der Rücken einer Schildkröte. Das ist sehr gut. Ein schlechtes Zeichen wären harte, trockene Innenflächen ohne Ausprägung. Das würde Reichtum, aber ein trauriges Herz bedeuten.« »Ich möchte kein trauriges Herz.« Lalawal lächelt – wie eine Blüte, die sich öffnet. »Nach deiner Hand zu schließen, bekommst du auch keines. Schau, diese Linien hier, wie tief und schmal und fortlaufend sie sind. Siehst du? Du bist ein aufgewecktes Mädchen.« »Nein, das bin ich nicht.« »Es muß so sein. In deiner Hand steht es geschrieben. Und siehst du, wie diese Linien bis zu den Fingern hochgehen? Du bringst jede Arbeit zu Ende, die du dir vornimmst. Also.« Lalawals Hand tätschelnd, steht Sanuk auf, um vom Schreibtisch Geld zu holen. Da fällt ihr etwas ein. Sie dreht sich um und fragt: »Wie fandst du ihn eigentlich, als du ihn damals sahst?« »Ich weiß nicht.« »Sag schon. Wie?« »Also«, sagt das Mädchen mit einem offenen Lächeln, 501
»er ist ein hübscher Junge.« »Jetzt beeil dich.« Sie drängt Lalawal hinaus, als scheuchte sie ein kleines Kind aus dem Zimmer. Die Nachricht auf dem Zettel ist kurz: »Laß mich wissen, wann ich kommen kann.« Die folgenden beiden Tage gehören sicher zu den seltsamsten ihres Lebens. Als erstes kommt Lalawal mit demselben Zettel zurück, auf dem unten steht. »Ich warte hier. Komm bald.« Wieder dieser Eindruck von Dringlichkeit. Sanuk versteht den Grund: Man fahndet nach ihm. Zweifelsohne ist die Partei in Schwierigkeiten geraten, aber worin diese bestehen, liegt ärgerlicherweise im dunkeln. Seit kurzem werden die Nachrichten scharf zensiert. Die Zeitungen enthalten fast nur Meldungen über die königliche Familie, buddhistische Ratsversammlungen, kulturelle Ereignisse. Den Gerüchten, von denen Mutter spricht, ist nur zum Teil zu glauben – Marktgeschwätz über Polizeirazzien und Bandenumtriebe und alles mögliche Ungute in Chinatown. Sie kann nicht länger warten. Obwohl sie sich matt fühlt und von Krämpfen geplagt wird, geht sie nach unten und zur Haustüre hinaus. Wie nicht anders zu erwarten, ruft eine Stimme aus dem Haus ihren Namen. Sie dreht sich um und teilt mit aller Würde, die ihr zu Gebote steht, Ah Ping mit, daß sie schon spät dran sei für eine Verabredung mit ihrer Freundin, die schließlich dieser Tage heirate. Darauf kommt die kleine Teochiufrau sofort aus dem Haus gelaufen. »Du bist noch krank, und außerdem hast du deine Krämpfe. Du sollst doch nicht in der Stadt herumlaufen mit all diesen Banden in den Straßen, Miss, und bis deine Mutter … hörst du wohl her! Kommst du wohl sofort ins Haus …« 502
Die Worte verhallen, während Sanuk auf schwachen Beinen durch den heißen Nachmittag eilt, hin zum schaumüberzogenen Klong. Sie hat kein anspruchsvolles Hotel erwartet, aber Chamlongs Versteck ist ein erbärmliches Loch. Als er auf ihr dringliches Klopfen die Tür öffnet, ist sie noch betroffener: Er sieht verwildert aus, abgezehrt, über seine Jahre gealtert. Statt sie zu umarmen, tritt er zurück und wirft sich auf eine stinkende Matratze, die auf dem Boden liegt. Mit beiden Händen rauft er sich die wirren Haare und murmelt mit niedergeschlagenen Augen: »Ich bin verloren, alles ist aus.« Es dauert ein paar Minuten, bis sie sich einen Reim auf seinen Bericht über die Razzia gegen das Haus gemacht hat, das als Verteilungszentrum für die Flugblätter diente. Chins Tod, die Einkerkerung Somchais und der anderen berühren sie tief. Armer Chamlong! Kein Wunder, daß er verzweifelt ist – seine Freunde und Genossen festgenommen, während er davongekommen ist. Als sie ihn trösten will, wehrt er sie ab. »Nein, nein, du verstehst nicht! Ich muß aus dem Land hinaus, sonst bin ich verloren. Ich habe kein Geld …« Sanuk setzt sich neben ihn und fragt, ob er Papiere habe. Papiere hat er. Und wohin er sich absetzen wolle. Ohne sie anzusehen, sagt er: »Nach China.« Das Wort elektrisiert sie. China – er will nach China! »Aber es ist nur ein Traum.« Er sieht sie mit aufgerissenen Augen an. »Ich komm’ hier ohne Geld nicht raus. Und sie haben mir eine Mission übertragen.« Als er ihr erklärt, worum es sich handelt, legt Sanuk den Arm um ihn. »Wenn sie dir einen solchen Auftrag anvertrauen, dann geben sie dir doch auch das Geld, damit du fortkannst.« 503
»Nicht, wenn alle untertauchen. Das Geld wird hier gebraucht.« »Ach, ich verstehe. Aber du mußt fort. Es ist deine Pflicht.« »Nicht ohne Geld« sagt er sofort, als wäre er verärgert über ihre Begriffsstutzigkeit. »Mach dir um das Geld keine Sorgen«, erwidert Sanuk. »Ich beschaff dir welches.« Er hebt die Augen und sieht sie an. »Woher denn? Bestimmt nicht von deiner Mutter. Sie ist wie mein Vater.« Sanuk legt ihm die Hand an die Wange und riecht dabei die Ausdünstung seines ungewaschenen Körpers. Das vermehrt noch ihr Mitleid. Armer Chamlong! »Weißt du noch, was ich mal gesagt habe? Ich habe gesagt, daß ich immer tun werde, was ich kann.« »Ja, das weiß ich noch.« »Verlaß dich auf mich.« Sie kann seinen Gesichtsausdruck nicht sehen, als er dumpf erwidert: »Ich kann mich auf niemanden verlassen.« Sanuk rückt von ihm weg und starrt ihn an. »Du kannst mir doch vertrauen. Und deinen Freunden und der Partei!« Sie nimmt seine Hand und versichert ihm, daß sie in ein, zwei Tagen das Geld beschaffen werde. Er dürfe sich also hier nicht wegrühren. Aus ihrem perlenbestickten Geldbeutel gibt sie ihm das bißchen, was sie dabei hat, und behält nur, was sie für die Heimfahrt braucht. Er beugt sich nach vorne und zählt es zweimal. Armer Chamlong! Doch als er die Hand ausstreckt und ihre Brust berührt, entzieht sie sich ihm mit der Erklärung, sie habe ihre Tage. Über sein Gesicht huscht eine Andeutung von Ekel, wie 504
sie bemerkt. Aber vielleicht, denkt sie, sind alle Männer so. Sanuk ist durchaus auf einen Streit gefaßt, als sie spät am Nachmittag zu Hause eintrifft. Ah Ping muß ihr Weggehen mit einfallsreichen Ausschmückungen beschrieben haben. So beschließt Sanuk, gleich selbst den Stier bei den Hörnern zu packen. Auf diese Weise wird sie den Kopf für ihre Hauptsorge freibekommen: wie sie Chamlong das notwendige Geld verschaffen soll, denn selbst hat sie ja keins. In dieser furchtlosen und zugleich sorgenvollen Stimmung hält sie Ausschau nach ihrer Mutter. Sie entdeckt sie im Garten, wo sie unter einer Tamarinde sitzt, ein Blatt Papier in der Hand. »Ich nehme an, Ah Ping hat dir gemeldet, daß ich ausgegangen bin«, beginnt Sanuk beherzt. »Lamai wollte mich möglichst bald bei sich sehen, weil es jetzt nicht mehr lange bis zu ihrer Hochzeit ist, und so hab’ ich mich eben aufgemacht. Es ging mir schon gut genug.« Ihre Mutter tut das Geständnis mit einer Handbewegung ab. »Ja, aber sei nicht grob mit Ah Ping. Sie verliert sonst vor Nipa und der Köchin das Gesicht.« Sanuk spürt, daß Mutter sie fragend betrachtet. »Du hast dich nicht mit diesem Jungen getroffen, oder?« »Nein.« »Ich vertraue dir.« Das sagt sie jedoch beinahe gleichgültig, mehr der Form halber als aus Überzeugung. Irgend etwas anderes nimmt Mutters Gedanken in Anspruch. »Hier. Lies das.« Sie reicht Sanuk das Blatt. Es ist ein Telegramm von Philip. Er soll am nächsten Tag mit einem Dampfer aus Rangun eintreffen.
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s ist spät am Abend. Soweit Sanuk weiß, schläft schon alles, obwohl vielleicht auch Mutter noch wach liegt, genau wie sie selbst, und an den morgigen Tag denkt. Sie berührt das Amulett an der Kette um ihren Hals und versucht, sich Chamlong vorzustellen, allerdings nicht so, wie sie ihn heute sah, sondern den Chamlong von früher mit seinem brummigen Lächeln und dem kantigen Gesicht. Sie versucht, sich auch das Gesicht des armen Chin zu vergegenwärtigen, doch nur fleischlose Lippen, zornig zusammengepreßt, erscheinen in ihrer Vorstellung. Und Somchai. Lebhaft erinnert sie sich, wie sie ihn zum erstenmal sah, vom Zahnarzt übel zugerichtet, den Mund voller Blut. Er wurde ihr mit der Zeit sympathisch. Sein großartiges Getue um Nichtigkeiten verbarg nur einen Mangel an Selbstvertrauen. Was stellen die wohl im Gefängnis mit ihm an? Alle diese jungen Männer mit ihren Idealen und ihrem Zorn – auseinandergescheucht wie Enten von einem Pfad. Kein Zweifel, die kommunistische Bewegung in Bangkok ist zusammengebrochen. Freilich kümmert sie das nicht übermäßig. Was sie hingegen wirklich beschäftigt, ist das Schicksal der Chinesen in diesem Land. Schließlich ist sie die Tochter eines großen chinesischen Generals. Die Leute vergessen das. Chamlong auch. Und manchmal scheint sogar Mutter zu vergessen, daß sie beide Frau und Tochter von General Tang Schan-teh sind, dem ehemaligen Verteidigungskommissar der Provinz Süd-Schantung. Wenn Sanuk spätnachmittags aus der Schule nach Hause kam, fläzte sie sich oft auf den Rasen im Garten und hörte 506
zu, wie Mutter vom Pferd des Generals erzählte, von seinen Singvögeln, von seiner Liebe für die Kunst von Ni Tsan, seinem Abscheu vor dem Einbinden der Füße. Er stellte sich gegen die berüchtigte Bande vom Grünen Kreis in Schanghai und konnte sich dies auch erlauben, denn die »Grünen« wußten, daß sie es bei ihm wenigstens mit einem ehrlichen Mann zu tun hatten. Er trug das Haar ganz kurz geschnitten, sein Gesicht war von Furchen durchzogen, der Körper robust. Doch aus den Augen lachte es. Er sprach gern über das »unmögliche Herz des Konfuzius«, nämlich die fünf Tugenden der Güte, Ehrlichkeit, Hingabe, des Wissens und des Glaubens. Er habe sie alle besessen, sagte Mutter. Seine Soldaten hätten ihn angebetet. Aus Gründen der Ehre sei er in den Krieg gezogen, habe er die große Schlacht bei Hengschui geschlagen, weil ein rivalisierender General seine Lauterkeit in Zweifel gezogen habe. Die Männer, erzählte Mutter, hätten schlagartig Haltung angenommen, wenn er vorüberkam. Sie schien sich nie bewußt zu sein, daß sie bei der Beschreibung von Sanuks Vater einen Mann des Krieges schilderte, ebenjenen Typus von Mann, den sie eigentlich verabscheute. Wenn Mutter von ihm sprach, sah Sanuk ihn im Geist an der Spitze seiner Truppen, irgendwie mit Jeanne d’Arc verschmolzen. Wenn ich ihn doch nur gekannt hätte, nur einen einzigen Tag, eine Stunde, nur lange genug, um sein Gesicht zu sehen, zu wissen, welchen Gang er hatte und wie er sich hielt! Wie oft hat sie das schon gedacht. Und jetzt will Chamlong nach China, wo ihr Vater gelebt, gekämpft und den Tod gefunden hat. Im Garten sagte Mutter einmal: »Als wir uns in Schanghai kennenlernten, verliebten wir uns ineinander. Aber wie hätte daraus etwas werden können? Er war ein chinesischer General, ich eine Ausländerin.« 507
Dieses Dilemma und wie Mutter es schilderte, hat Sanuk stets ergriffen. »Er bat mich, ihn zu heiraten und nach Küfu zurückzukommen, wo seine Armee stand. Ich erklärte ihm, es sei unmöglich.« Wie konnte sie nur nein sagen? fragte sich Sanuk immer wieder. »Ich sagte ihm, wir entstammten schließlich verschiedenen Welten. Die seine war China. Die meine war Rußland – oder jedenfalls nicht China. Und dann erklärte er eines Tages –« »Wo wart ihr da?« unterbrach Sanuk. »Im Garten des Mandarins Yu. Wir standen vor einem berühmten Tai-Hu-Stein. Also dein Vater sagte: Wohin man gehört, das ist eine Sache der inneren Überzeugung. Was China ausmacht, gehört dir, wenn du nur willst. China hat einen Platz für uns beide zusammen. Das hat mich dann bekehrt – seine Worte im Garten des Mandarins Yu. Ich gab ihm mein Ja-Wort.« Seit kurzem scheint es Sanuk, daß ihr Leben sich auf China, das Land ihrer Herkunft, zubewegt. Bei den Zusammenkünften der Genossen hat sie bemerkt, daß die wichtigen Männer wie etwa Wan-li begonnen haben, Siam in Zusammenhang mit China zu bringen, die Aktivitäten hier im Untergrund mit dem Bürgerkrieg dort zu verknüpfen. Es besteht eine Ähnlichkeit der Situation, denn in beiden Fällen kämpfen Chinesen für Gerechtigkeit und Freiheit. Sie erhebt sich vom Bett, schaltet ein Licht an und sucht in der Sandelholzschatulle nach ihrem Tagebuch. Kurz darauf schreibt sie mit fliegender Feder:
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Ich glaube, im Leben muß man rasch handeln. Wenn man abwartet, bekommt man die Chance nie wieder. Wenn ich die Luft atmen könnte, die er geatmet hat, könnte ich ihn sicher in meiner Seele finden. Sie klappt das Tagebuch zu, legt sich im Dunkeln wieder hin, schließt die Augen fest. Sie spürt, wie ihre Lippen zittern und ihr Herz pocht. Irgend etwas kommt auf sie zu. Chamlong, ihr Liebhaber, mit dem sie durch gemeinsam vergossenes Blut verbunden ist, muß Siam verlassen. Der Kampf um Gerechtigkeit in diesem Land ist vorläufig zum Stillstand gekommen. Er wird ins Land ihres Vaters aufbrechen, der bis zu seiner letzten Stunde unaufhörlich für die Gerechtigkeit gekämpft hat. Und nun hat sie die Chance, ihrem Liebhaber zu helfen – doch wenn sie es tut, sieht sie ihn vielleicht nie wieder. Also bleibt ihr keine andere Wahl: Sie muß ihn begleiten. Am nächsten Morgen geht es geschäftig im Haus zu, wo jeder Vorbereitungen für »Masters Ankunft« trifft – so nennen es die Dienstboten –, und Sanuk konstatiert, daß ihre Mutter dies nachsichtig duldet. Was wird wohl, fragt sich Sanuk, in diesem Haus vor sich gehen, wenn ich fort bin? Mutter ist gerade ausgegangen, wir werden also nicht miteinander frühstücken. Wir werden vielleicht lange Zeit nicht mehr gemeinsam essen. Ein beunruhigender Gedanke. Sie hört eine Frage. »Wie bitte?« »Ich habe gefragt, Miss, ob du heute morgen Kokosnußpudding möchtest.« »Ja, ist mir recht. Wann kommt meine Mutter zurück?« 509
»Schon bald. Sie muß ja Master vom Schiff abholen. Gehst du auch hin?« Sanuk schüttelt den Kopf. Sie ruft in die Küche hinaus: »Ich esse den Pudding jetzt gleich.« Als sie einige Zeit später oben in ihrem Zimmer bei verriegelter Tür einen Koffer packt, hört sie plötzlich vom Erdgeschoß herauf die Stimme ihrer Mutter, wie sie Ah Ping Anweisungen erteilt. Sanuk schiebt den Koffer unters Bett, schiebt den Türriegel zurück, geht hinaus auf den Treppenabsatz und blickt hinunter. Ihre Mutter trägt eine weiße Bluse, einen roten Rock und rote Sandalen. Das toupierte Haar umgibt ihren Kopf wie eine schwarze Wolke – sie war beim Friseur –, und ihr Gesicht ist wunderbar belebt. Wunderbar, sagt sich Sanuk. So wunderbar soll ihr Mutter in der Erinnerung bleiben. Ob es auch so sein wird? »Sanuk«, spricht ihre Mutter lächelnd. Sie hat den siamesischen Kosenamen gewählt. Das ist ein gutes Omen. Mutters düstere erste Reaktion auf das Telegramm ist gewichen. Wird sie Philip wiederaufnehmen? Mutter hat offenbar nie erkannt, was für ein vortrefflicher Mann er ist. »Kommst du mit an den Kai?« ruft Mutter herauf. »Ich fühle mich nicht wohl.« »Wieso? Etwa Fieber?« »Nein, das Übliche – Krämpfe.« »Nipa hat mir schon gesagt, daß du deine Periode hast.« Ihre Mutter, überlegt Sanuk, muß in ihrer Sorge wegen des Jungen die Hausangestellten befragt und voller Unruhe zu »diesem Thema« ausgehorcht haben. Mutters Wunsch, sie zu beschützen, ist so bewegend, daß Sanuk beinahe Tränen kommen. Doch gefaßt winkt sie zum 510
Abschied, kehrt in ihr Zimmer zurück und beendet hinter der verriegelten Tür das Kofferpacken. Ihr Zimmer geht nicht auf den Klong, so daß sie nicht sehen kann, wie ihre Mutter dort ein Boot nimmt. Auf dem Bett sitzend, lauscht sie angestrengt den Geräuschen im Haus. Von unten kommt ein schwaches Klappern – die Köchin mit ihren Töpfen. Sie bereitet ein Festmahl für Masters Rückkehr vor. Eine Tür ins Freie geht knarrend auf; Sanuk eilt ans Fenster und sieht, wie Lalawal die Gasse hinuntergeht. Nipa hat sie losgeschickt, etwas zu besorgen. Werden sie später Verdacht gegen das Mädchen schöpfen und es für seine Mitwirkung bestrafen? Sanuk schiebt den Türriegel zurück und späht rasch umher. Dort ist Mutters Zimmer, die Tür angelehnt, daneben das Gästezimmer mit geschlossener Tür. Sanuk tritt hinaus, geht rasch zum Zimmer ihrer Mutter hinüber und schließt hinter sich die Tür. Sie fühlt, wie ihr Herz pocht. Normalerweise fällt ihr in diesem Raum mit seinen Chintzvorhängen und Spitzen überall die feminine Atmosphäre auf, die sich Mutter in Erinnerung an das alte Rußland hier geschaffen hat. Doch heute hat Sanuk nur Augen für die Vase, die auf einer eleganten Frisierkommode aus Teakholz steht. Das Rosenporzellangefäß stammt wahrscheinlich aus der King-tehtschen-Manufaktur, Anfang des 18. Jahrhunderts – Mutter sagt, sie werde die Vase eines Tages begutachten lassen. Sie entdeckte sie vor Jahren in einem Kramladen in Singapur. Niemand berührt sie außer Mutter, die sie manchmal für Sanuk hochhob und drehte, damit sie alles bewundern konnte: ein paar Damen in blauen Kleidern mit Kragen in Rosenlack; ein kanariengelber Hirsch mit rosafarbenem Hals; Zweige blühender Obstbäume in verschiedenen Rosatönen, alles auf dem Hintergrund von 511
strahlendem Weiß. Zum erstenmal in ihrem Leben berührt Sanuk die kühlen, glasierten Rundungen und hebt dann wie Mutter die Vase hoch, um sie genau zu betrachten. Die anderen Dinge im Haus sind zumeist siamesischer Herkunft: schwere Bronzen, vor allem Buddhafiguren. Die Händler bieten sie im Überfluß an. Doch dieses Stück ist in Bangkok eine Rarität. Wie oft hat Sanuk, wenn ein Gast von der Universität oder ein durchreisender Sammler zum Abendessen kam, gelangweilt Mutters Vorträge mitanhören müssen: »Sehen Sie, das Herrliche an Jungtscheng-Porzellan ist die Zartheit der Zeichnung. Die Figuren drängen sich nicht … die schönsten Farben … die Glasuren so gläsern, blaugrün, fast durchsichtig, wenn Licht darauf fällt …« Ein anderes Objekt auf der Kommode zieht jetzt Sanuks Blick an. Es ist ein Tintenstein aus weißem Jade. Der schmucklose, längliche Stein mit der Einkerbung am einen Ende wurde nie benutzt, nie mit Tuschstäbchen befleckt. Mutter hat ihr auch nie gesagt, woher sie ihn hat oder was er wert ist, aber Sanuk erkennt, daß das harte Mineral sorgfältig poliert und feinkörnig ist. Sie nimmt außer der Vase auch den Stein an sich. Diesmal ist sie schon auf der Gasse, bevor ihr Ah Ping nachruft. Sanuk dreht sich um und wartet geduldig, bis die alte Frau herangekommen ist. »Nicht schon wieder, Miss! Du kannst nicht weggehen.« Ihre schweren Augen blicken Sanuk vorwurfsvoll an. »Mistress wird zornig sein. Sie hat mir nicht verziehen, daß du damals ausgerissen und in den Süden gefahren bist.« Mit einem zitternden Finger deutet sie schräg nach unten. »Was ist denn das?« 512
Sanuk blickt auf die alte Frau hinab. »Mein Koffer, Ah Ping.« »Nein, Miss« – Ah Ping wiegt den Kopf hin und her –, »nein, du mußt den Jungen aufgeben.« »Ich gehe fort, Ah Ping.« Sie merkt, wie schwach ihre Stimme ist, fühlt, daß ihr die Tränen kommen. Wenn sie noch einen einzigen Augenblick bei dieser alten Dienerin aus ihren Kindertagen stehenbleibt, wird sie zu weinen beginnen, und Ah Ping wird mit der einen Hand den Koffer packen und sie mit der anderen ins Haus zurückführen. »Ich gehe fort, Ah Ping.« Sie dreht sich um und läuft davon. Sie ist darauf gefaßt, hinter sich ein hohes, klagendes Schelten zu hören, aber es bleibt aus, kein Ton ist zu hören. Erst als sie am Ende der Gasse einen Klong erreicht hat, blickt sie zurück. Ah Ping steht dort in der weiten, schwarzen Hose, mit hängenden Armen und leicht geneigtem Kopf, und die Sonnenglut fällt ihr auf das weiße Haar. Das Geschäft, das ihr Ziel ist, liegt nicht weit von der Chulalongkorn-Universität entfernt. Sanuk fühlt sich schwach auf den Beinen; die Frühjahrshitze lastet auf Bangkok. Schließlich taucht die richtige Gasse auf, gesäumt von Eisenwarenhandlungen und Werkstätten. Antiques of Asia steht auf einem hübschen Schild vor einem winzigen Laden am Ende der schmalen Straße. Mutter hat oft über den Holländer gesprochen, einen anständigen Mann und seriösen Händler, der in einer Lage wie etwa der ihrigen, in der Nähe der Hotels und der Botschaften, bessere Geschäfte machen würde. Der Holländer ist der bekannteste ausländische Kunsthändler in Bangkok und zählt Museen und weltweit prominente 513
Sammler zu seiner Kundschaft, ein Umstand, den Sanuks Mutter immer seiner Ehrlichkeit, nicht seinem kundigen Auge zugeschrieben hat. Als Sanuk in den kleinen Laden tritt, bimmelt über der Tür eine Glocke und macht den Mann auf sie aufmerksam, der am Ende des Raums hinter einem Schreibtisch sitzt. Es ist ein saubergehaltener, karger Laden, irgendwie passend zu dem hochgewachsenen Mann, der nun auf sie zukommt. Sanuk setzt den Koffer ab, öffnet ihn und holt die Vase und den Tintenstein heraus. »Ich hätte das zu verkaufen.« Sie nimmt sich zusammen, um dem nachdenklichen Blick aus kühlen, blauen Augen standzuhalten. Mutter hat gesagt, man darf nie schwach wirken, wenn man verhandelt. Sie hat Englisch gesprochen, weshalb der Holländer die Sprache aufgreift. Er tritt einen Schritt zurück und blickt die beiden Dinge an, die sie auf einem Ladentisch mit Glasplatte deponiert hat. »Sie wollen beides verkaufen?« Er nimmt den Tintenstein aus Jade in die Hand und betrachtet ihn einen Augenblick. »Dafür habe ich keine Verwendung«, sagt er ohne Umstände und gibt ihn ihr zurück. Jetzt hebt er die Vase behutsam hoch und dreht sie langsam im Licht eines Sonnenstrahls, der durch ein kleines Fenster hereinfällt. Er blinzelt. »Darf ich?« Dann geht er damit zur Tür hinaus, wo das Licht besser ist. Er inspiziert das Objekt genau, präzise, geduldig. Dann kommt er in den Laden zurück, stellt die Vase, wiederum behutsam, ab, tritt zurück und umfaßt mit einer Hand das Kinn. »Die Form ist nicht vollkommen«, bemerkt er nach einiger Zeit. 514
»Das soll sie auch nicht sein, wenn es Jung-tscheng ist.« Er sieht sie mit einem leisen Lächeln an. »So, es ist also Jung-tscheng, nicht?« »Sie können es ja testen.« Sanuk versucht, sich zu erinnern: Man gibt irgendeine Säure in Wasser, taucht das Porzellan hinein, wäscht es dann ab und trocknet es mit einem weichen Staubtuch. Die Prozedur soll irgend etwas beweisen. »Sie können es mit Säure testen.« Er nickt, geht langsam zu seinem Schreibtisch und kommt mit einem Vergrößerungsglas zurück. »Das beweist es auch«, sagt Sanuk eifrig. »Wenn man die Rosatöne ansieht, sind sie klares Rosa. Die Fälschungen sehen violett aus.« Während er mit seinem Vergrößerungsglas die Vase inspiziert, fragt er: »Und wer sind Sie, junge Dame?« »Ich bin auf der Durchreise hier in Bangkok.« Sie war auf diese Frage gefaßt. »Ich bin halb Chinesin, halb Amerikanerin. Wir leben in Schanghai, und ich bin nach Europa unterwegs, um dort zu studieren.« »Wo?« »An der Sorbonne. Eigentlich sollte ich die Vase in Europa verkaufen, aber da ich meine ganze Barschaft verloren habe, mußte ich mich entschließen, es hier zu tun.« Noch immer die Lupe in der Hand, betrachtet er sie ein paar Augenblicke mit nachdenklichem Gesicht. »Eine ungewöhnliche Geschichte.« »Aber die Wahrheit.« Sanuk hält seinein prüfenden Blick stand. »Haben Sie Ihren Eltern telegraphiert, was Sie vorhaben?« »Ja. Sie sind einverstanden.« Ihr Rückgrat kommt ihr 515
steif wie ein Baum vor. Wieder nimmt er die Vase in die Hände und dreht sie im Licht hin und her. »Der Fuß ist mit kleinen Einstichen bedeckt«, bemerkt er schließlich. »Natürlich ist er das.« »Sie verstehen eine ganze Menge von Porzellan, junge Dame.« »Das kommt, weil ich in China aufgewachsen bin.« Wieder begegnen sich ihre Augen, und diesmal senkt der Holländer den Blick. Er seufzt leicht. »Ich weiß nicht, ob es sich um echtes Jung-tscheng handelt. Sie haben keine Papiere dabei, die die Echtheit beglaubigen, oder?« Sanuk schüttelt den Kopf, bemüht, die Fassung zu wahren. »Das ist nämlich das Heikle dabei«, sagt der Holländer. »Ohne Papiere habe ich keine Gewißheit.« »Sie sind sich aber gewiß«, stellt Sanuk beherzt fest. »Ich muß es mir durch den Kopf gehen lassen.« Er nimmt die Vase und hält sie ihr hin. Sanuk macht keine Anstalten, sie zu nehmen. »Ich kann nicht warten.« »Nein? Warum denn nicht?« »Mein Schiff läuft morgen aus. Es geht nach … Rangun. Ich habe auch mein Ticket verloren. Ich muß die Passage von hier nach Rangun und dann nach Europa bezahlen. Ich kann nicht warten. Ich muß die Vase jetzt verkaufen.« Der Holländer zuckt die Achseln. »Na schön. Aber ich kann Ihnen jetzt nicht anbieten, was ich Ihnen vielleicht offerieren würde, nachdem ich die Vase ein paar Tage lang untersucht habe. Ich sage das ganz aufrichtig.« Sanuk nickt. »Ich weiß. Was wollen Sie mir geben?« 516
»Zehntausend Baht.« Als der Holländer sieht, wie sie zögert, fügt er noch hinzu: »Ich weiß, es sind nur zwanzig, vielleicht dreißig Prozent von dem, was Sie in Europa bekommen könnten, sogar wenn die Vase nur eine Imitation sein sollte. Ich sage Ihnen das, bevor Sie sich entscheiden, ob Sie das Angebot annehmen wollen oder nicht.« »Mir bleibt nichts anderes übrig.« »Junge Dame, Sie können immer wählen, ob Sie ein Angebot annehmen oder nicht.« »Ich habe keine andere Wahl. Ich nehme es an.« Die nächsten Stunden klappert sie die Büros der Schiffahrtsagenturen in der Hafengegend ab. Wenn sie später an diesen Nachmittag zurückdenkt, wird sie immer mit hohem Respekt des Mädchens gedenken, das sich von einem Büro zum andern schleppte, um für sich und Chamlong ein Schiff aufzutreiben, das möglichst bald nach China auslief. Bei der Agentur einer norwegischen Schiffahrtslinie schließlich, Ngow Hock, kann sie Plätze dritter Klasse auf einem Dampfer nach Schanghai buchen, mit einem Tag Zwischenaufenthalt in Singapur. In einem Samlor zu Chamlongs Hotel unterwegs, sinnt sie über ein weiteres Problem nach. Sie hat zwar einen gültigen Paß vom letzten Jahr, als sie ihre Mutter auf eine zweiwöchige Reise nach Singapur begleitete. Doch mit diesem Paß kann sie nicht abreisen, da Mutter vermutlich die Passagierlisten der aus Bangkok abgehenden Schiffe und Flugzeuge nach dem Namen »Sonja Embree« überprüfen läßt. Dem Buchungsagenten gab sie einen falschen Namen an, den ihr der Augenblick eingab: Tang Yu-ying. Sie wird mit dem Familiennamen ihres Vaters China betreten; es muß so sein. Yu-ying ist ihr eingefallen, 517
weil so eine große Dame hieß, die ihre Mutter früher in Schanghai gekannt hat. Übermorgen am Pier muß sie ihren neuen Namen auf einem Paß vorweisen. Aber das ist ein Problem, das sie später lösen muß. Sanuk lernt allmählich, daß es Probleme gibt, an die man vorläufig nicht einmal denken kann. Sie blickt blinzelnd in den Glast dieses Frühlingstages und kommt sich plötzlich alt vor. Bislang hat sie sich nicht mit Dingen wie Schiffskarten, Geld und Pässen beschäftigen müssen. Andere Leute haben das für sie besorgt, zumeist Mutter. Doch nun, an der Schwelle zu diesem Abenteuer, fühlt sie sich wirklich zur Frau geworden – noch intensiver sogar als damals nach ihrem ersten Zusammensein mit Chamlong im Hotel. Als sie diesmal an seine Tür klopft, ruft Ho rasch: »Herein!« Mit Erleichterung stellt sie eine Verbesserung in seinem Aussehen fest. Natürlich ist er blaß, nachdem er beinahe drei Wochen in diesem winzigen Hotel gehaust hat, aber es geht frische Energie von ihm aus, einem Chamlong ähnlich, der im Tempelgelände des Smaragdbuddhas mit Somchai Push Hands spielte. »Hast du’s?« fragt er, als sie in das Zimmer tritt. »Ich hab’s.« Lächelnd legt Chamlong ihr die Hände auf die Schultern. Sanuk schmiegt ihre Wange an seine. Ein starker Seifengeruch geht von ihm aus. Sie tritt zurück, um ihn anzusehen, und fragt: »Ist es dir noch ernst mit dem, was du vor dem Smaragdbuddha gesagt hast?« »Was?« »Mit dem Eid, den du vor dem Buddha geschworen hast. Meinst du ihn noch immer ernst?« 518
»Aber natürlich. Erzähl, was heute alles passiert ist.« Der Stolz gibt ihrem detaillierten Bericht Anschaulichkeit. Sie erzählt, wie sie das Haus verlassen und was sie mitgenommen und wieviel sie in dem Antiquitätengeschäft bekommen hat. »Zehntausend«, sagt er nachdenklich. »Und dann hast du noch den Tintenstein.« »Wenn wir in Schwierigkeiten kommen, können wir ihn irgendwo verkaufen – vielleicht in Singapur oder in Schanghai.« Chamlong blickt sie stirnrunzelnd an. »Was willst du damit sagen – ›wir‹?« »Ich komme mit.« »Oh, das geht aber nicht«, erwidert er hastig. »Wan-li hat gesagt, du kannst nicht mitkommen.« Sanuk blickt ihn kühl an. »Wan-li braucht es nicht zu wissen. Er stellt ja nicht das Geld zur Verfügung. Ich tue das.« Chamlong beginnt, auf und ab zu gehen. »Wir müssen uns Schiffskarten besorgen und überlegen, welche Route wir nehmen.« »Ich habe Tickets nach Schanghai besorgt. Es gibt aber noch ein Problem.« Er bleibt stehen. »Ich brauche einen neuen Paß. Ich kann meinen alten nicht benützen, weil mein Name drinsteht.« »Mach dir darüber keine Gedanken«, erklärt er großartig. »Der Mann, der sich um meine Papiere gekümmert hat, hilft dir weiter. Und billig ist es auch.« »Aber geht es schnell genug? Das Schiff läuft schon in drei Tagen aus.« 519
»Morgen. Ich kenn’ mich in diesen Dingen aus. Du folgst einfach dem Weg zu seinem Haus, wie ich ihn dir beschreibe. Das ist alles. Er ist einer von uns. Hast du ein Photo?« »Ich kann das aus meinem Paß herausnehmen. Chamlong …« Mit einer abrupten Bewegung und Ärger in der Stimme erklärt Ho, sie dürfe ihn nie mehr mit »Chamlong« ansprechen. »Ich bin Ho Jin-shi, ein für allemal«, erklärt er dramatisch. »Unten ist ein Boy, der uns Essen holen kann. Möchtest du hinuntergehen und ihm Bescheid sagen?« Sanuk erhebt sich von der Matratze. Als sie an der Tür ist, packt Ho sie am Arm und hält sie einen Augenblick fest. »Tee rakh«, sagt er. »Tee rakh.« Sanuk tritt in den verwahrlosten, düsteren Flur hinaus mit dem Gedanken: Es gab wirklich keine andere Wahl, überhaupt keine.
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V
era blickt über den Kai hinaus auf einen kleinen Frachter, der gerade in den Hafen einläuft. Mit diesem Schiff der Reederei Apcar kommt Philip Embree in ihr Leben zurück. Sie berührt ihr Haar, von der Bootsfahrt zum Hafen etwas in Unordnung gebracht. Neun Jahre ist es jetzt her. Ob er sich verändert hat? Im Herbst 1927, in Peking, so erinnert sie sich, ging ihr einmal der Gedanke durch den Kopf, daß er immer jungenhaft aussehen werde, einerlei, was noch alles geschah, nichts, was das Leben brachte, würde seine Züge umzuformen vermögen. Wie er damals um sie warb! Und wie überwältigt er war, als sie ihn schließlich mit auf ihr Hotelzimmer nahm. Er hatte ja keine Ahnung, daß sie dabei nur im Sinn hatte, sich und ihrem ungeborenen Kind die Flucht aus dem Chaos Chinas zu ermöglichen. Sie ist zu Philip Embree noch nie wirklich ehrlich gewesen. Wenn sie ihm schon vor dem Verlassen Chinas nichts von ihrer Schwangerschaft sagen konnte, so hätte sie es doch tun können, als sie nach Hongkong gelangten. Doch sie schob es immer wieder hinaus, und als ihr Zustand offenkundig wurde, ließ sie ihn in dem Glauben, es handle sich um sein Kind. Erst als sie dann ein Mädchen mit chinesischen Schlitzaugen gebar, erfuhr er schließlich die Wahrheit. Philip sagte damals nur einen einzigen Satz, Ausdruck einer passiven Hinnahme, die ihr heute unglaublich vorkommt: »Sie ist also von ihm.« Doch all die zehn Jahre hindurch, die sie zusammen in Hongkong, Singapur und Bangkok verbrachten, traten seine wirklichen Gefühle – 521
Zorn, Enttäuschung, Frustration – in allem, was er tat, unverkennbar zutage. Bin ich etwa schuld daran, fragt sie sich, daß er im Leben versagt hat? Nein, diese Schuld muß sie von sich weisen. Denn unstreitig ließ er sie ja sitzen, als er 1939 eine Chance dazu bekam. Und wieder einmal lieferte China mit seinen nicht enden wollenden Kriegen die Ausrede. Eines Morgens packte er und zog in den Krieg, kehrte nicht einmal zurück, als der Friedensschluß den Ausflüchten für sein Fernbleiben den Boden entzog. Nein, eine Schuld akzeptiert sie nicht. Vera wendet sich vom Fluß ab, gleichsam, als entledigte sie sich dadurch Philips, und blickt zu einer Reihe neuer Lagerhallen am Ende des Kais hin. Sie sind aus Eisenbeton gebaut und wirken in dieser tropischen Umgebung nicht massiv genug, nicht so wie Backsteinbauten. Und plötzlich denkt sie an Sukhotai, jene große Masse bröckelnden Backsteins, der den Kräften der Natur nun schon siebenhundert Jahre standhält. Vera erinnert sich an Philip in Sukhotai. Er saß vor einem in Trümmern liegenden Tempel auf einem Stein und blickte auf einen Stuckfries mit wandernden Mönchen – so lange, daß sie um das ganze Ruinenfeld herumspazieren konnte. »Möchtest du dich nicht umsehen«, fragte sie ihn. »Dort drüben gibt es wunderbare Buddhas. Im Khmerstil.« Er richtete seine blauen Augen auf sie. »Wie herrlich für diese Menschen damals. Sie lebten im Herzen ihrer Religion.« Der Frachter nähert sich dein Kai. Er ist ein vergammeltes, kleines Schiff; der Anstrich blättert ab, und überall sind Frachtgüter planlos verstaut. Auf dem Kabinendeck stehen die Passagiere, an der Reling 522
aufgereiht. Vera tritt ins Sonnenlicht, beschattet ihre Augen, und als sie ihn nirgendwo entdeckt, tritt sie wieder zurück in den Schatten des Transitschuppens. Mit bestürzender Klarheit kommt ihr der Gedanke, es wäre für sie beide besser gewesen, sie wären einander nie begegnet. »Mai pen rai«, murmelt sie vernehmlich. Sonja dagegen ist wichtig für sie. Das ist eine der Gewißheiten, die Vera heute beschäftigen. Sie muß lange genug leben, damit sie das Kind gut versorgt sieht. Der deutsche Arzt, der Sonjas Fieber behandelte, hat auch Vera untersucht und ihre Befürchtungen bestätigt – sie hat eine Herzschwäche. Allerdings, wie er sagte, nicht allzu ernst, eine leichte Angina pectoris. Aber natürlich, stellte er klar, beruhe seine Diagnose nur auf einem einzigen Hausbesuch, weshalb ohne eine gründliche Untersuchung … Er gab ihr ein paar weiße Pillen für den Fall, daß sie Schmerzen in der Brust bekäme. Sie brauche nicht mehr zu tun, als eine davon unter der Zunge zergehen zu lassen, dann werde der Schmerz verschwinden. So einfach war das, obwohl er gewisse Bedenken äußerte: Sollte der Fall eintreten, daß … gewisse Komplikationen … und so weiter und so fort. O ja, Sonja ist ihr wichtig. Das Fieber unterbrach, womit sie beide an jenem Abend begonnen hatten. Nun, da es Sonja bessergeht, müssen sie noch mehr miteinander sprechen, über Geständnisse und das Zugeben von Fehlern hinaus sich um ein neues gegenseitiges Verstehen bemühen. Und wenn Aufrichtigkeit an sich schon etwas Wertvolles ist, dann haben sie beide durch diese Aussprache gewonnen. So sehr ist Vera in diese Gedanken vertieft, daß sie nicht bemerkt, wie eine Frau auf sie zukommt, bis das hübsche, 523
junge Gesicht wie ein Spuk vor ihren Augen steht. Vera fährt zusammen und sagt: »Ich dachte, du bist im Laden.« Wanna spitzt schmollend die Lippen und zuckt die Achseln. Sie trägt ein siamesisches Gewand – ein Thai chitrlada –, das für den Hafen viel zu formell ist. Der seidene Sarong ist am unteren Rand etwas gemustert, das langärmelige Jäckchen vorne zugeknöpft bis zum hochgestellten Kragen. Vera betrachtet das hübsche Mädchen in Lindgrün und Blau sehr eingehend. »Ich habe gesagt, ich dachte, du bist im Laden«, wiederholt sie in scharfem Ton. Wanna neigt das Kinn, was ihren aufwärts zu Vera gerichteten Blick unterstreicht. »Tee rakh, ich habe die Arbeit erledigt, die du mir für heute aufgetragen hast, und außerdem ist Prakit Chaidee da. Darum dachte ich, du möchtest mich hier bei dir haben, wenn du Master triffst.« »Du brauchst ihn nicht Master zu nennen. Nenn ihn Philip.« »Aber, das kann ich doch nicht.« »Doch, du kannst«, sagt Vera ruhig. Das Mädchen hat sie in eine schwierige Situation gebracht. Heikel, sehr heikel. Wie soll das gehen – einen Ehemann begrüßen, der eigentlich keiner mehr ist, und dies in Gegenwart einer Geliebten, die vielleicht keine mehr ist? Es bleibt jedoch keine Zeit, sich Gedanken über die Situation zu machen, weil der Frachter gerade am Kai anlegt. Vera beschattet wieder mit der Hand die Augen und hält nach ihm Ausschau. Hat er es sich anders überlegt und ist nicht gekommen? Sie kann sich nicht schlüssig werden, was dies für sie bedeuten würde – Erleichterung oder Bedauern?
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Aber er ist da. Als sich die Gangway herabsenkt und die ersten Passagiere herabkommen, erkennt Vera ihn schon an den Schultern – breit und eingezogen zugleich, eine Kombination von Kraft und Schüchternheit –, ehe sie das kantige, gebräunte Gesicht unter dem Tropenhelm sehen kann, den er aufhat. »Wo ist Master? Philip. Hast du ihn schon gesehen?« fragt Wanna eifrig. Vera gibt keine Antwort, sondern beobachtet ihn, wie er die Gangway herabkommt. Er trägt einen Arm in einer Schlinge. Sie möchte sich ein deutliches Bild von ihm machen, während er sie in der Menge der Wartenden sucht. Wie werden seine Augen ihr Aussehen aufnehmen? Dann sieht er sie und winkt mit seinem gesunden Arm. »Ist das Master?« fragt Wanna. Vera winkt zurück, erleichtert, ihn lächeln zu sehen, aber der Tropenhelm hält den oberen Teil seines Gesichts im Schatten. Seine Augen, was sagen sie? Beim Herankommen reißt Philip sich den Helm vom Kopf. Jung! Die Jahre haben kaum eine Spur an ihm hinterlassen, denkt Vera mit Ingrimm. In dem kurzen Augenblick, bevor sie sich umarmen, kann sie keinen beschwerten Ausdruck in seinen blauen Augen feststellen, keine Reserve, und als ihre Körper einander kurz berühren, ist sie froh, daß er gekommen ist. Während der paar Minuten, in denen er flüchtig berichtet – die Reise verlief gut, die Schlinge ist nur noch ein paar Tage nötig, nichts Ernstes, das Essen war ziemlich schlecht, ich bin eigentlich nicht müde, du siehst großartig aus –, wird Vera klar, daß ihr erster Eindruck von ihm falsch war. Irgend etwas an Philip wirkt viel älter trotz seines noch immer jugendlichen 525
Gesichts. Sie kann die Veränderung nicht genau bestimmen. Vielleicht um den Mund herum ein verkniffener Ausdruck, beinahe verbissen, als hätte er sich lange Zeit angestrengt bemüht, seine Gefühle nicht nach außen dringen zu lassen. »Du siehst großartig aus«, wiederholt er und setzt den Tropenhelm wieder auf. Da sie seine nun wieder im Schatten liegenden Augen nicht mehr sehen kann, geht ihr der Gedanke durch den Kopf, ob Philip vielleicht mehr gealtert ist als sie selbst. Sie sieht ihn an und spürt die Erregung des Geheimnisvollen. Wanna steht so dicht neben ihr, daß ihre Schultern und Arme einander streifen. Die Ausdauer muß schließlich belohnt werden, und so stellt Vera sie vor, wobei sie bemerkt, daß auf Philips Lippen ein anerkennendes Lächeln tritt. Nun, warum auch nicht? denkt Vera. Das Mädchen sieht ja reizend aus. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Master«, sagt sie auf englisch. »Nahng Vera, ich gehe das Gepäck von Master holen.« Sie spricht den Satz so fehlerlos aus, daß Vera weiß, das Mädchen muß ihn auf dem ganzen Weg zum Hafen geprobt haben. »Das ist nicht nötig. Da kommt schon Rama.« Vera folgt seinem Blick und sieht einen jungen Inder, der ein paar Träger mit einem Schiffskoffer und ein paar Reisekoffern durch die Menge steuert. »Los, voran, trödelt nicht so«, ermahnt er die Leute in seinem singenden Englisch. »Rama war mir eine unschätzbare Hilfe«, erklärt Philip. »Natürlich wird er jetzt, nachdem er mich hierhergebracht hat, nach Madras heimkehren.« Vera bemerkt, wie der junge Inder ihnen einen kurzen 526
Blick zuwirft, als er mitbekommt, was Philip sagt. Der arme Kerl, sagt sie sich. Er will nicht heimfahren. Eine halbe Stunde später sind sie alle im Wassertaxi. Vera sitzt mit dem Mädchen in der Mitte des Bootes, Philip auf der Ruderbank ihnen gegenüber und Rama vorne am Bug. Sie haben sich nicht viel Zeit gelassen, denkt Vera. Natürlich versucht Philip wenigstens, es zu verbergen, indem er von Zeit zu Zeit wegblickt, aber Wanna blickt unverwandt auf ihn, selbst als Vera sich ihr brüsk zuwendet und irgendeine Bemerkung von sich gibt. Ja, selbst noch, als Vera ihr auf siamesisch (Philip hat am Hafen eingestanden, daß er das bißchen Siamesisch, das er einst konnte, vergessen hat) bedeutet, sie solle nicht »Nahng« – daran erinnert er sich doch bestimmt – sagen und ihn nicht mit »Master« anreden. Wanna beugt sich sofort von ihrem Sitz nach vorne und fragt ihn, ob sie Philip zu ihm sagen dürfe. Als er erfreut zustimmt, girrt das Mädchen auf englisch: »Oh, gut.« Vera hat einen Sonnenschirm aufgespannt, doch die Hitze ist noch immer gnadenlos, und sie spürt an der Stirn zusammengeklebte Haarsträhnen. Gottlob hat sie kein Make-up aufgetragen, nur Lippenstift. Und Wanna hat so etwas nicht nötig; sie wirkt frisch wie der junge Tag, vollkommen. Nichts von ihrer Schönheit ist Philip entgangen. Vielleicht ist er doch nicht reifer geworden. Er ist heute natürlich älter. Vielleicht hat all der Kriegseinsatz – etwas viel selbst für den Geschmack eines Philip Embree – ihn doch für immer zum Mann gemacht: nicht mehr draufgängerisch, sondern klüger und trauriger, ein bißchen gebeugt, aber charmanter und daher für Frauen potentiell gefährlicher. Aber nicht für mich, sagt sich Vera, während sie 527
zugleich erkennt, daß das, was sie empfindet, Eifersucht ist. Aber sie sind ja auch taktlos, tauschen schon Blicke, ehe Philip auch nur das Haus erreicht hat. Und nicht einmal sein Haus, sondern mein Haus, denkt sie. »Ich habe ein paar Sachen aus Indien und Burma mitgebracht«, schreit er, um den Lärm im Hafen zu übertönen. »Ich wußte nicht, was ich Sonja kaufen sollte, da ich ihre Größe nicht hatte.« Vera lächelt. Der arme Philip, wie er Alltagskonversation zu machen versucht, während das Mädchen neben mir ihn einfach rücksichtslos weiter anhimmelt. Rücksichtslos, eine Rücksichtslosigkeit! Sie wendet sich ab, um beide aus ihren Gedanken zu verbannen, und blickt unverwandt zum Ufer hm, als hätte sie noch nie diese Häuser auf Holzpfählen und all die Blumentöpfe gesehen. Das Haus kommt schon in Sichtweite, ehe Vera, die während der ganzen Fahrt keinen klaren Gedanken fassen konnte, die Frage auch nur formulieren, geschweige denn beantworten kann: Auf wen von beiden bin ich eifersüchtig? Immerhin veranlaßt sie das Dilemma zu handeln. Während sie zusieht, wie Philip, sein indischer Diener und der Bootsführer Schiffskoffer auf die Anlegestelle hinaufwuchten, wendet sie sich Wanna zu. »Du behältst das Boot.« Vera lächelt, weil das Mädchen perplex ist. »Ja. Ich möchte, daß du im Laden die Rechnungen noch mal durchgehst. Sie sind kompliziert.« Sie läßt das Mädchen nicht dazu kommen, eine Antwort zu geben. Noch ehe Wanna recht weiß, wie ihr geschieht, wird sie auf dem Klong davongefahren. Sie blickt zu dem Trio zurück, das ihr von der Anlegestelle nachwinkt. Am 528
längsten winkt Vera. Sie winkt noch immer, als neben ihr Philip sagt: »Wanna ist deine Sekretärin?« »Ja. Sie ist hübsch, nicht?« Philip und Rama tragen den Schiffskoffer ins Haus. Er ist mit Sack und Pack gekommen, denkt sie. Gekommen, um zu bleiben. Der Gedanke ärgert sie: Er hätte telegraphisch die Erlaubnis einholen können, bevor er mit seiner ganzen irdischen Habe hier anrückt. Dies ist schließlich ihr Haus. »Nipa!« ruft sie, als sie in der Diele sind. »Nipa!« »Ich hole sie, Mistress«, bietet sich Rama an. »Nein. Sie kommt schon.« Die beiden wollen hier wohl das Kommando übernehmen. Vera wirft einen bösen Blick auf die Gepäckstücke und die zwei Männer. Dann taucht Nipa auf; mit ängstlichbesorgtem Blick wischt sie sich die Hände an ihrer Schürze ab. »Schneide gerade Sachen für die Köchin klein.« »Wir wollen im Garten Tee trinken.« Nipa blickt an ihr vorbei auf Philip und wiegt dabei ehrfürchtig den Kopf hin und her. Sie hat ihn noch nie gesehen, da sie erst einige Jahre nach seinem Fortgehen in Veras Dienst getreten ist. »Tee im Garten. Und wo steckt Ah Ping?« Die Siamesin öffnet den Mund, schließt ihn wieder. »Lalawal ist hier.« »Sie soll beim Auspacken helfen. Wo ist Ah Ping?« »Sie ist im Augenblick nicht hier, Mistress.« »Ist irgendwas? Du siehst komisch aus, Nipa.« »Ah Ping ist zu ihrem Tempel gegangen. Ich weiß überhaupt nichts.« Und ehe Vera die Sache 529
weiterverfolgen kann, ist Nipa schon fort. Vera führt Philip die Treppe hinauf, um ihm das Gästezimmer zu zeigen. »Es gibt ein Häuschen fürs Personal«, sagt sie, »aber dort wohnen die Frauen. Dein Rama kann eine Kammer neben der Küche haben.« Philip, der zum Fenster hinausgeblickt hat, dreht sich um. »Das Haus ist wunderschön. Ich hatte es ganz vergessen.« Lächelnd probiert er die Bettmatratze aus. »Seit meinem Weggang aus Bangkok nie mehr auf etwas so Weichem geschlafen. Vera, du hast großartige Arbeit geleistet.« Sie weiß, daß er es aufrichtig meint. Es hat ihn nie neidisch gemacht, wenn andere vom Glück begünstigt sind. Er hat die Großzügigkeit eines Menschen mit wenig Bedürfnissen. »Mein Zimmer ist auf der anderen Seite des Treppenabsatzes«, sagt Vera und deutet auf die geschlossene Tür. Daß sie ihr Schlafzimmer überhaupt erwähnt hat, überrascht sie selbst. Genau aus diesem Grund mißtraut sie sich jetzt – Verwirrung führt zu Unbesonnenheiten. »Ich lass’ dich jetzt allein, damit du dich frisch machen kannst«, sagt sie, ganz rücksichtsvolle Gastgeberin, und geht hinaus. Draußen auf dem Treppenabsatz holt Vera tief Luft, dann geht sie nach unten und erklärt Rama, wo seine Kammer ist. Sie sieht zu, wie er einen der Koffer in die Küche trägt, während Lalawal herauskommt, um zwei Koffer hinauf in Philips Zimmer zu befördern. Vera geht in den Garten. Ach, fällt ihr ein, ich hab’ ihm zu sagen vergessen, wo das Toilettenhäuschen ist. Aber das müßte er doch noch wissen? Er hat sich verändert, aber selbst wenn er sich auf eine anziehende Art verändert hätte, würde sie nichts von ihm 530
wissen wollen. Der Zeitpunkt ist verkehrt. Vielleicht geht es bei der Liebe immer um den richtigen Zeitpunkt. »Choei! Choei?« hört sie aus dem Haus rufen. Es ist Taksakan, der das einzige Wort plärrt, das er kann. Sonjas Vogel. Wo sie nur steckt? In diesem Augenblick kommt Nipa mit Eistee, Bananenbeignets und anderen süßen Sachen. »Wo ist meine Tochter?« fragt Vera. »Fort, Mistress.« Nipa ist bereits wieder ein paar Schritte entfernt. »Warte.« Als die Frau sich zögernd umdreht, sagt Vera: »Ich dachte, sie fühlt sich nicht wohl. Wohin ist sie denn gegangen?« »Ich weiß nichts, Mistress. Fragen Sie doch Ah Ping.« In diesem Augenblick erscheint Philip im Garten. »Ich habe dir zu sagen vergessen, wo das Toilettenhäuschen ist.« »Das wußte ich noch.« Er lacht und setzt sich hin. »Vera«, beginnt er. Auf sein Gesicht tritt ein düsterer Ausdruck, an den sie sich jetzt wieder erinnert: Er ringt innerlich mit sich, denkt sie, damit das ganze Durcheinander in ihm endlich eine Form annimmt. »Ich mußte kommen.« Da sie lieber nichts darauf sagt, fährt Philip fort: »Nein, es gibt keine Möglichkeit, mich zu rechtfertigen. Jedenfalls noch nicht.« »Dann versuch’s auch nicht.« Sie möchte, daß er sich lockert. »Ich habe in ein paar Briefen eine Art Erklärung versucht, aber ich nehme an, es war nutzlos«, sagt Philip nervös. »Dann versuch’s nicht. Nimm dir doch Tee und von den süßen Sachen – die Köchin versteht was davon.« Sie trinken Tee und nehmen etwas Gebäck zu sich. Vera 531
beobachtet Philip, wie er sich zurücklehnt und umblickt. Ihn interessiert, was Gott geschaffen hat, nicht aber, was Menschen hervorbringen. »Ich bin stolz auf dich«, sagt er schließlich. »Wirklich?« Sie hält ihren Ton neutral. »Du hast dir vorgenommen, dein Kind großzuziehen und gut großzuziehen, und du hast es geschafft. Du hast getan, was du tun wolltest. Allerhand. Und Sonja – wie geht es ihr?« »Sie ist ein schönes Mädchen geworden. Und schwierig. Ihr Problem ist die Universität.« »Tut sie denn nicht genug?« »Oh, ihre Leistungen sind gut, außer im Rechtschreiben, aber das arme Kind muß ja mit fünf Sprachen jonglieren. Sie hat mit dem Kunststudium angefangen, aber ich glaube nicht, daß sie ihren Weg schon klar sieht. Ich möchte, daß sie ins Ausland geht.« »Ja, das sollte sie«, pflichtet Philip ohne Zögern bei. »Es freut mich, daß du so denkst«, sagt Vera, deren Stimmung sich hebt. »Ich wollte, du würdest ihr sagen, was du meinst.« »Ach, weißt du, das würde doch kaum etwas bewirken.« »Aber ja! Ihr beide habt euch doch immer gut vertragen.« Philip scheint über diese Feststellung erfreut, und Vera geht der Gedanke durch den Kopf, daß es ihm vielleicht leid tut, daß er keine eigenen Kinder hat. Unvermittelt sagt er: »Ich werde dir nicht zur Last fallen.« »Unsinn. Das dachte ich sowieso nie.« »Ich bin hierher zurückgekommen …« 532
Vera hebt die Hand, damit er einen Augenblick innehält. Am Rand des Gartens steht nämlich Ah Ping. Wie lange, fragt sich Vera, steht sie schon dort und beobachtet uns so unglücklich aus ihren Augen mit den schweren Tränensäcken? »Ah Ping, komm doch hierher.« Die Schritte der alten, sonst so selbstsicheren Frau sind schleppend. Ah Ping hat die Arme gekreuzt und die Hände in die Ärmel geschoben, wie sie es immer tut, wenn es etwas Unerfreuliches zu berichten gibt. »Oh, Mistress«, beginnt sie und verstummt gleich wieder. »Ist etwas vorgefallen? Was ist denn los mit dir?« »Oh, Mistress. Ich komme gerade vom Tempel. Ich habe Weihrauch verbrannt und Kuan Yin Blumen dargebracht. Sie ist Herrscherin über die südlichen Meere.« Aus dem Gesicht der alten Frau sprechen Ratlosigkeit und Furcht, was in Vera ähnliche Empfindungen weckt. Sie beugt sich vor und sieht Ah Ping, deren Lippen zittern, scharf an. »Also gut, du bist zu deinem Tempel gegangen. Aus welchem Grund denn?« »Weil Kuan Yin die Gebete der Welt erhört. Ich habe für Ihre Tochter gebetet.« Wie auf Rattenfüßen läuft Angst über Veras Rückgrat nach oben. »Wo ist Sonja? Wo ist meine Tochter?« »Ach, Mistress.« Die alten Hände schieben sich tiefer in die Ärmel. Vera springt auf und schreit sie an: »Wo ist sie?« »Fort, Mistress.« »Wohin? Wohin denn?« 533
Ah Pings Hände fahren aus den Ärmeln, hinauf zu den Schläfen. »Fort für immer, Mistress, mit einem Koffer. Sie sagte: ›Ich gehe fort, Ah Ping‹, und ich hab’ ihr gesagt, daß sie nicht gehen soll, sie ist ja wie mein eigenes Kind, mein eigenes Mädchen. Ich hab’ gesagt: ›Das darfst du nicht, du mußt den Jungen aufgeben‹, aber sie ist zu ihm gegangen. Ich habe Weihrauch verbrannt, Blumen geopfert. Ich bin vor der Göttin aufs Gesicht gefallen und …« Philip ist aufgestanden. »Vera!« Ein Schmerz hat sie angesprungen, preßt ihr die Brust zusammen, bis Vera sich nicht mehr auf den Beinen halten kann und auf den Stuhl zurückgleitet. Sie sucht in der Blusentasche nach dem Fläschchen, das ihre kleinen Pillen enthält. Eine davon, unter die Zunge gesteckt, macht alles wieder gut. Zwei Gesichter beobachten sie tief besorgt, während unter ihrer Zunge der bittere Geschmack aufquillt und der Schmerz nachzulassen beginnt.
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V
era liegt auf ihrem Bett, die Tür ist geschlossen. Das immerhin muß sie Philip zugute halten: Er hat ihr nicht mit Fragen zugesetzt. Er half ihr die Treppe hinauf – obwohl das nicht notwendig war – und sagte nur: »Ich bin in meinem Zimmer. Ich tue alles, was du von mir willst, egal, was.« Aber wenn sie ihn in diese schlimme Sache hineinzieht, sich auf ihn stützt, wird er nicht plötzlich Lunte riechen und sich absetzen? Matt erhebt sich Vera, um sich zu testen. Keine Brustschmerzen – die kleinen Pillen wirken, genau wie der deutsche Arzt gesagt hat. Sonja wird wiederkommen. Sie ist nur mit diesem Jungen wieder einmal auf ein Wochenende nach Süden gefahren. Dieser Gedanke richtet Vera auf. Sie öffnet die Tür und geht mit vorsichtigen Schritten hinüber in Sonjas Zimmer (wobei sie feststellt, daß Philip diskreterweise seine eigene Tür geschlossen hat). Vera blickt sich rasch um und starrt dann eine Augenblick zum Fenster neben dem Bett hin mit seinem leeren Rahmen, den früher eine Kokospalme beinahe ausfüllte. Sonja sagte doch – was wieder? –, die Koskospalme sei ihr astrologischer Baum; sie zu fällen würde Unglück bringen. Und jetzt ist das Unglück da, denkt Vera, als sie bemerkt, daß das Sandelholzschränkchen offen ist. Sie geht hin und entdeckt, daß die Tagebücher und das kleine Kreuz, das Sonja sich aus zwei Zweigen gebastelt hat, nicht mehr da sind. Von der Tür aus ruft Vera nach Ah Ping, nach Nipa, nach der Köchin, sie sollten augenblicklich kommen. Das Treppengeländer umklammernd, schaut sie nach unten 535
und konstatiert ärgerlich, daß als erstes Ramas lächelndes Gesicht erscheint. »Ja, Memsahib?« »Geh die Frauen holen. Sag ihnen, ich will sie hier oben haben.« Rama verschwindet. Der nächste Kopf, der unten erscheint, ist der Kopf Lalawals. »Ja, Mistress?« »Wo sind die andern?« »Köchin ist einkaufen gegangen.« »Einkaufen? Sie hat doch gestern den ganzen Tag Einkäufe gemacht …« Hoffnungslos. »Und Ah Ping?« Das Mädchen schüttelt furchtsam den Kopf. »Du weißt es nicht?« »Nein, Mistress.« »Nipa?« Wieder schüttelt das Mädchen den Kopf. »Hör mir zu, Lalawal. Wenn du nicht sofort deine Tante auftust und zu mir bringst, dann kann sie ihre Sachen packen.« Sie geht unsicher, schwer atmend in Sonjas Zimmer zurück. Schmerzen? Keine Schmerzen. Sie will nichts mehr davon wissen. Wo sind die Hausangestellten? Sie haben sich sicher aus Angst vor Strafe irgendwo verkrochen. Nipa steht in der Tür. »Mistress«, murmelt sie. »Sag mir, was du weißt.« »Ich weiß nichts, Mistress.« »Wie du meinst, Nipa. Denk nach. Oder pack deine Sachen und geh!« Nipa ist offensichtlich angestrengt bemüht, sich an etwas zu erinnern, was sie entlastet. Ein Mädchen fällt ihr ein, 536
das kürzlich zu Besuch kam. »Das war Lamai. Sie heiratet bald«, sagt Vera ungeduldig. »Ich meine das andere Mädchen, Mistress.« Nipa berichtet, das »andere Mädchen« und Sonja hätten sich über den Bruder des Mädchens, übers Tanzen und andere Dinge unterhalten. »Woher weißt du das?« »Ich habe sie hinter der Tür gehört.« »Du hast also gelauscht?« Auf dem Gesicht der Frau spiegeln sich widerstreitende Gefühle, während sie die möglichen Folgen ihres nächsten Satzes abschätzt. »Ja, Mistress.« »Sie haben sich über den Bruder des Mädchens unterhalten. Wie hieß er?« Nipa schüttelt langsam den Kopf; sie wußte es nicht. »Aber sie hieß Sopita.« Sopita – der Name ist Vera bekannt. »Sie haben übers Tanzen gesprochen?« »Ja, Mistress. Sie sprachen darüber, daß das Mädchen tanzt.« Nipa vergißt eine kurze Weile die Umstände dieses Verhörs und beginnt, mit der angeborenen Grazie einer Siamesin sich hin und her zu wiegen mit hochgerecktem Kopf, herausgedrückter Brust, während die Arme über ihrem Kopf anmutige Bogen beschreiben. Doch Vera macht sich am Bücherregal zu schaffen, wo sie nach dem Jahrbuch von Sonjas Schule sucht. Ohne viel Schwierigkeiten findet sie Namen, Adresse und Photo eines resolut wirkenden Mädchens, das die hohe, schmuckreiche Krone einer siamesischen Tänzerin trägt. »Sie haben sich also über den Bruder des Mädchens 537
unterhalten. Und was haben sie gesagt?« Mit einem Kopfschütteln deutet Nipa ein schwaches Gedächtnis an, aber Vera läßt es nicht durchgehen. »Denk nach, Nipa. Ich warne dich.« »Er war in Schwierigkeiten.« »Welcherart Schwierigkeiten?« »Ich weiß es nicht, Mistress. Aber das Mädchen hat zu Miss gesagt, sie darf ihn nie wiedersehen.« In ihr Zimmer zurückgekehrt, zieht Vera die verschwitzte Bluse aus und eine frische an. Ihr Blick bleibt an der großen Frisierkommode in der Ecke haften. Irgend etwas stimmt nicht. Sie schlängelt sich in die Bluse, zieht sie nach unten und tut einen Schritt auf die Kommode zu. Dann begreift sie das Unmögliche: Die Porzellanvase ist verschwunden. Sie stürzt an die Kommode und stellt fest, daß auch der Tintenstein nicht mehr da ist. Der Tintenstein, den ihr vor Jahren in Küfu Schan-teh nach seiner Rückkehr aus Kanton geschenkt hat. Ihr Kleinod. Er fuhr damals nach Südchina, um nach Verbündeten Ausschau zu halten. Sie blieb in Küfu zurück. Könnte ich, denkt sie, denn je die Wiedersehensfreude vergessen? Er legte ihr den weißen Jadestein in die Hand und seine eigene darüber. Ein solcher Jadestein, wenn man ihn ganz fest hält, waren seine Worte, verhütet, daß Böses in die Gedanken eindringt. »Dieser Jade ist so hart, daß eine Stahlfeder ihn nicht ankratzen kann. Ein Tuschstäbchen daran zu schärfen dauert sehr lange, weil der Jade so feinkörnig ist.« Sie hatte ihn ursprünglich für ihre kalligraphischen Übungen verwenden wollen. Doch nach ihrem Weggang aus China gab sie diese Kunst auf, und so wurde der Stein nie mit Tusche befleckt. Er ist noch so jungfräulich weiß wie an dem Tag, als Schan-teh ihn ihr schenkte. 538
Im Lauf der Jahre hat sie seither mehr als nur einmal mit den Fingern den Stein umklammert, um das Böse zu vertreiben, und vielleicht, wer weiß, hat es auch manchmal geholfen. Sie fahren in einem Wassertaxi durch die Klongs von Bangkok. Als sie ins Erdgeschoß hinabging, folgte ihr Philip, so fest entschlossen, sie zu begleiten, daß Vera mit keiner Geste seinen Beistand zurückwies. Sie begreift, daß ihr keine andere Wahl bleibt. Körperlich gesehen, hat sie ihre Freiheit verloren. Das Mädchen, das einst die Eiswüsten Sibiriens zu Fuß durchquerte, ist nun eine herzkranke Frau. Mai pen rai. Längs des Kanals spielen Kinder; ihr Anblick bedrückt Vera. Sie will ihre glücklichen Gesichter nicht sehen, und doch zieht es ihren Blick hm – so edel in seiner Einfachheit, so selig frei von Komplikationen erscheint ihr das Leben dieser Kinder. Sie hat Sonja nie die Geschichte des Tintensteins erzählt. Das Mädchen kann den Gefühlswert des Steins nicht kennen. Als Vera die Legende ihrer Romanze mit dem General konstruierte, übertrieb sie einige Details, verschwieg andere. Sie stellte ihn als ungewöhnlich gut aussehend dar und erwähnte nie den beim Lächeln störend funkelnden Goldzahn. Vielleicht hat sie ihn zu sehr zum Helden stilisiert. Vielleicht hat sie unbewußt seine Anflüge von Zärtlichkeit unterschlagen, die Güte dieses Mannes, der ihr damals einen Jadestein aus dem Süden mitbrachte. Sie muß es sich also selbst zuschreiben, daß auch der Tintenstein verschwunden ist. Sonja wußte nicht, daß sie ein Unterpfand der Liebe ihrer Eltern mitgehen ließ. Immerhin. Sie sitzen jetzt in einem Samlor und biegen in eine enge 539
Gasse unweit der Yaowaraj Road ein. Die eine Seite säumen Schneiderläden, die andere Geschäfte von Pfandleihern, und in der Höhe sieht man Wäsche an langen Stangen – wie ein Fahnenwald. Als sie in der Nähe des Kramladens halten, bittet sie Philip, hier auf sie zu warten, da sie allein gehen will. Befriedigt sieht sie, daß er widerspruchslos nickt. In früheren Zeiten hätte Philip Embree darauf bestanden, die Sache selbst allein zu übernehmen, und dann mit seiner ungestümen männlichen Energie alles verdorben. Im nachlassenden Licht des Spätnachmittags unterscheidet sich das einstöckige Gebäude kaum von all den anderen an diesem Straßenzug mit ihren grellen, chinesisch beschrifteten Ladenschildern, den buntbemalten Fensterläden, den Läden zu ebener Erde, in denen ein hoffnungsloses Chaos herrscht. Vera tritt in das Geschäft und stellt sich auf das schwache Licht ein, das ein paar von der Decke hängende Glühbirnen von sich geben. Ein kleiner Chinese mit Leberflecken auf den Wangen sitzt neben dem Ladeneingang, wo er sich postiert hat, um Diebstähle zu verhindern. Obwohl schäbig gekleidet – in einer derben blauen Hose, einem zerknitterten Baumwollhemd und Schuhen, die aus Stücken alter Autoreifen und Bindfaden gebastelt sind wie bei einem Kuli –, geht von ihm die Arroganz eines chinesischen Kaufmanns aus. »Nai Chukkrit Napaget?« Nach einer Überlegungspause nickt der Mann leicht. »Ich bin Nahng Vera Embree.« Da seine argwöhnischen Augen nicht zu erkennen geben, ob ihm der Name bekannt ist, fügt sie hinzu: »Ich bin die Mutter von Sanuk – Sonja. Verstehen Sie, wovon ich spreche?« 540
Der Mann starrt sie nur an. Ein anderer Mann kommt lächelnd durch den Mittelgang. »Kann ich Ihnen mit etwas dienen, Nahng?« »Ist dieser Mann Chukkrit Napaget?« Der andere nickt stirnrunzelnd. Vera wendet sich wieder an den Mann auf dem Hocker am Eingang. »Haben Sie einen Sohn?« Chukkrit Napaget hält in beiden Händen eine Orangensprudelflasche, beinahe leer. »Ich habe keinen Sohn.« »Haben Sie eine Tochter namens Sopita?« »Ja, ich habe eine Tochter, die Sopita heißt, aber ich habe keinen Sohn.« Vera spürt, daß nichts die eiserne Verschwiegenheit dieses Mannes durchbrechen kann. Aber dann kommt ihr eine Idee. »Ich habe einen guten Freund. Vielleicht kennen Sie ihn. Chang Kong Chuan, der den siamesischen Namen Sri Boon Ruang führt. Von der Firma Housheng.« Die Augen des Mannes weiten sich, bei der Erwähnung Changs und des führenden Handelshauses in Bangkok. »Nai Sri Boon Ruang hat häufig geruht, meine bescheidene Gastfreundschaft in Anspruch zu nehmen. Ein solcher Mann gereicht meinem kleinen Haus zur Zierde. Es würde ihn freuen zu erfahren, daß sie mit mir offen über unser Problem gesprochen haben.« »Ja. Ich kenne ihn gut«, sagt Chukkrit Napaget rasch. »Bitte, bestellen Sie ihm meine respektvollen guten Wünsche.« »Das Problem sind unsere Kinder. Ihres und meines.« »Ich habe keinen Sohn.« »Wo ist er, Nai Chukkrit Napaget? Ich muß es wissen. 541
Und ich bekomme es heraus.« Sie sieht ihm in die Augen, bis er schließlich den Blick auf die Flasche senkt, die er mit den Händen umklammert. »Die Kommunisten haben ihn mir genommen«, sagt Chukkrit Napaget mit zitternder Stimme. »Ich will nichts mehr von ihm wissen. Ich bin in den Tempel gegangen und habe mich öffentlich von ihm losgesagt. Er hat mich, seinen Vater, und seine Ahnen bestohlen. Dieser verkommene junge Mann wird von der Polizei gesucht, die hier war und mich entehrt hat, weil sie vor meinen Nachbarn das Haus durchsuchte. Ich weiß nichts über Ihr Kind …« »Meine Tochter.« »Tochter. Aber er hat seine Familie bestohlen. Er ist für uns gestorben. Sollen ihn doch die Roten haben. Oder die Polizei ihn schnappen. Es ist uns allen einerlei.« Vera bleibt noch einen Augenblick, als fühlte sie sich zu einer Bemerkung verpflichtet – die ihr nicht einfällt –, und wendet sich dann zum Gehen. »Ich habe keinen Sohn«, hört sie ihn hinter ihrem Rücken murmeln. Auf der Heimfahrt spricht Vera rasch, zu Embree gewandt: »Ich hätte ihre Tagebücher lesen sollen. Sie hätten mir vielleicht einen Hinweis geliefert, aber töricht, wie ich bin, respektierte ich ihre Privatsphäre. Dieser junge Mensch ist – nein, sein Vater ist … ein kleiner Händler in Chinatown, dabei aber arrogant, ein Geizkragen. Kein Wunder, daß der Junge sich mit Bolschewiken eingelassen hat, wie der Vater sagte. Er muß sich bestimmt aus Bangkok absetzen, da bin ich mir sicher. Der Alte sagte, daß die Polizei hinter seinem Sohn her ist. Wir fragen am besten Jim. Jim Thompson, das ist ein Geschäftspartner von mir. Er kann uns vielleicht 542
helfen herauszufinden, womit sie abgereist sind. Schiffe, Züge, Flugzeuge. Die Passagierlisten beschaffen.« Ihre eigenen Worte geben Vera Zuversicht. Schließlich ist ja nur der Tod endgültig. Einen Plan zu fassen, etwas zu unternehmen, das ist der erste Schritt auf dem Weg zum Erfolg – Worte Jim Thompsons, und er müßte sich auskennen. Vera wirft einen kurzen Blick auf das kantige, gebräunte Gesicht des Mannes neben ihr. Philip ist schließlich gar nicht so schlecht. Er ist hier, ist zur Hand, jetzt, da sie ihn braucht. Es wird schon alles wieder gut werden. »Vergangenes Jahr«, spricht sie weiter, »war ich auf einer großen Party beim amerikanischen Botschafter – vielleicht kann er helfen. Die Frage ist, ob er sich überhaupt noch an mich erinnert. Wohl kaum«, murmelt Vera vor sich hin. »Wohin können sie nur unterwegs sein? Ein Bolschewik, ausgerechnet ein Bolschewik! Wir müssen herausbekommen, welche Schiffe abgegangen sind. Wir könnten ein Telegramm schicken, aber der Kapitän würde es vielleicht ignorieren. Und die Flugzeuge. Doch wenn man an die Züge denkt, die von hier abgehen! Jeder kann in einen Zug steigen und irgendwohin fahren … Wohin bringt er sie bloß, Philip?« Sie lehnt sich an ihn und weint leise. Sie drückt die geschlossenen Augen an sein Hemd und spürt dabei seine Wärme an ihrer Wange und Stirn. »Daß es ein solches Ende nimmt, hätte ich mir nie vorgestellt«, schluchzt sie. »Nichts ist zu Ende.« Er hat den Arm um sie gelegt. »Aber sie ist fort, Philip. Mein kleines Mädchen hat mich verlassen.«
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A
ls Philip Embree am zweiten Morgen nach Sonjas Verschwinden zum Frühstück nach unten kommt, hält er es doch für möglich, sie ausfindig zu machen – er war ursprünglich pessimistischer, als er zugab. Jim Thompsons Beistand hat diesen Wandel bewirkt. Gestern bei dem Treffen im Hotel Oriental war er reizend und nur zu willig zu helfen. Embree sah zu, wie Thompson und Vera gemeinsam eine Liste der Reedereien, Flugund Eisenbahngesellschaften durchgingen. Thompson erbot sich, zu jeder einzelnen Kontakt aufzunehmen, und versprach, Passagierlisten zu besorgen, soweit das möglich war. Er zeigte sich überzeugt, daß sie das Mädchen ohne Schwierigkeiten ausfindig machen würden, denn falls sie versuchen sollte, Siam zu verlassen, würde ihr Name registriert, der in ihrem Paß stand. Angesichts dieses Optimismus unterließ Embree den Hinweis, sie habe sich möglicherweise andere Papiere besorgt – schließlich war ihr Freund ja Kommunist und hatte vermutlich Beziehungen zum Untergrund – oder sei illegal über die Grenze gegangen oder habe sich einfach aus Bangkok in einen weit entfernten Teil des Landes abgesetzt. Er machte sich zu große Sorgen um Vera, die nach dem Vorfall im Garten »eine Idee Herzbeschwerden« eingestand. Als Philip und Vera das Hotelzimmer verließen, sagte Thompson noch zu ihm: »Ich möchte, daß Sie einen guten Bekannten von mir kennenlernen. Vielleicht kann ich es für morgen einrichten.« Vera nahm an Embrees Stelle die Einladung an. »Geben 544
Sie Bescheid. Es wird Philip freuen.« Später, als sie in einem Samlor saßen, sagte Vera: »Verzeih. Aber Jim war während des Krieges eine Art Geheimagent. Er kennt also Leute, die uns vielleicht helfen können.« Am Abend kam ein Bote mit einem Dutzend Listen an, was bewies, daß auf Jim Thompson Verlaß war. Ein Zettel war beigefügt, auf dem stand. »Sie ist zwar nicht auf diesen Listen, aber wir werden sie trotzdem finden. Ich habe keinen Zweifel daran. Und sagen Sie bitte Philip, er möchte mich morgen vormittag gegen zehn im Hotel aufsuchen. Jim.« Natürlich enthielt keine der Passagierlisten den Namen Sonja Embree. Embree setzte sich auf die Veranda, während seine Frau jede der Listen mit der Sorgfalt der Verzweiflung durchging. Er hütete sich, ihr dreinzureden. Eine halbe Stunde später erschien Vera auf der Veranda, nachdem sie Hunderte von Namen überprüft hatte, und meldete, daß Sonja nach Schanghai unterwegs sei. »Dann hat Jim sie übersehen?« fragte er. Blaß und mitgenommen setzte sich Vera in den Sessel neben ihm. »Nein, er hat sie nicht übersehen. Er suchte nur nach dem verkehrten Namen.« Vera warf eine der Passagierlisten auf den Verandatisch. »Sonja und der Junge sind auf einem Schiff mit dem Zielhafen Schanghai.« Als Embree die Liste zur Hand nahm, sagte sie, er solle nach dem Namen »Tang Yu-ying« suchen. »Ich hab’ ihn selbst zuerst nicht gesehen«, sagte Vera. »Ah, ›Tang‹, ich verstehe. Aber woher hatte sie ›Yuying‹?« »Es wird dich interessieren zu erfahren, daß Yu-ying 545
eine Hure aus Schanghai war, die ich einmal kannte.« »Wußte Sonja das?« Vera lachte und schüttelte bitter den Kopf. »Ich habe ihr manchmal von einer großen Schanghaier Dame namens Yu-ying erzählt. Eine Heldin, die sie in ihre Phantasien einbauen konnte.« Embree sah, wie Vera die Passagierliste nahm und wieder hinwarf – auch dies eine bittere, verzweifelte Geste. »Ist das Leben nicht sonderbar?« murmelte Vera vor sich hin und blickte ins abendliche Licht von Bangkok. Vera ist noch nicht zum Frühstück erschienen, und er bittet Nipa um die Zeitung. Sie betrachtet ihn kritisch und holt sie ihm dann. Er erinnert sich, daß die ehrwürdige Bangkok Times, ein englischsprachiges Blatt, vor einem Jahrzehnt leisetreterisch und langweilig war. Er überfliegt sie kurz und stellt fest, daß sie es noch immer ist. Er steht vom Tisch auf und spaziert in den Garten, noch frisch vom kühlen Tau der Nacht. Durch die Bäume trifft sein Blick auf eine kleine Plattform mit einem Puppenhaus darauf – das Geisterhäuschen. Als er näher hintritt, sieht er eine Versammlung kleiner Statuen rings um die hölzernen Wände und Schalen für Weihrauch und Blumen am Eingang. Es war noch nicht da, als er 1939 wegging, doch Vera hatte schon den Entschluß gefaßt, ein Geisterhäuschen aufzustellen. Nun hat sie ihn also wahr gemacht und betet vermutlich auch davor, denn für Vera mit ihren beneidenswerten schlichten und direkten religiösen Regungen ohne den skeptischen Filter der Vernunft muß das, was im Rußland ihrer Kindheit gültige Wahrheit war, auch im Siam ihrer reifen Jahre die Wahrheit sein. Er denkt zurück, wie er selbst in jenen 546
Tagen über den Glauben und die Religion dachte: Wie er sich zurücklehnte, erheitert, kühl, vielleicht melancholisch und zweifellos triumphierend in dem Wissen, daß es nach dem Tod – ob von Agnostikern wie ihm selbst oder Gläubigen wie Vera – nichts als ein Aus gab, ein blankes Nein. Damals war seine Gewißheit stärker als später. Zumindest konnte er sich an diese eindeutige Verneinung halten, dieses Nein, an den freudlosen und dennoch tröstenden Satz: »Mit mir geht es bald dahin, für mich gibt es nichts jenseits davon, die Welt hat nichts mit mir zu schaffen.« Und genau zu jener Zeit bereitete er sich darauf vor, Vera, dieses Haus, Bangkok und die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Nicht, daß es ihm bewußt gewesen wäre – die Wahrheit schwebte am Rand seines Erkenntnisbereichs, enthüllte sich nur ganz plötzlich und nur zum Teil einem kurzen Blick. Er begann mit der Vorbereitung dieses Schrittes, nimmt er im Rückblick an, als die Japaner im Dezember 1937 bei Nanking das amerikanische Kanonenboot Panay bombardierten. Von diesem Augenblick an war Philip Embrees Phantasie entflammt, und er las sämtliche Nachrichten über den chinesisch-japanischen Konflikt, die er auftreiben konnte. Er wußte, was Leute, die China erlebt haben, von jeher wissen: Die Chinesen haben schon so viel erduldet, daß sie auch noch einen weiteren Krieg auf sich nehmen können. So wie er 1927 seine amerikanische Vergangenheit hinter sich gelassen hatte, so bereitete er sich 1939 abermals auf einen Abschied vor: von einer Ehefrau, die ihn nicht brauchte, von einem Kind, das nicht sein eigenes war. Ein romantischer Begriff vom Krieg und von Loyalität (was er inzwischen natürlich weiß) führte ihn wie einen Tanzbären am Seil zurück nach China. Embree beschließt, das Geisterhäuschen nicht zu 547
inspizieren. Von seiner Erinnerung beschwert, empfindet er keine Neugier auf Veras private Symbole der Frömmigkeit oder was immer sie sind. Ob sich Vera darüber im klaren ist oder nicht, sie praktiziert die spirituelle Unbekümmertheit Asiens. Als er zu der Veranda zurückgeht, sieht er sie am Frühstückstisch sitzen. »Der Garten ist herrlich«, sagt er. Vera wendet sich ihm lächelnd zu. »Ich hab’ dich draußen gesehen, wollte dich aber nicht stören.« Sie lächelt weiter, kein formelles Lächeln, das rasch vergeht. »Du trägst heute die Schlinge nicht.« »Ich brauche sie nicht mehr.« »Wunderbar.« Das Englisch, das sie mit ihrer russischen Stimme spricht, ist tief, beinahe guttural, klangvoll. Es erstaunt ihn, wie gut sie sich schon erholt hat. Im klaren Morgenlicht wirkt Vera jung für ihre Jahre, vibrierend von Energie. Das ganze Frühstück hindurch behält sie ihre Lebhaftigkeit. Sogar die Vera, die er einmal kannte, schimmert durch – die kokettierende Vera, die Frau, die darin erfahren ist, den Männern zu gefallen. Hin und wieder blickt sie ihn schalkhaft an, lacht kurz über irgendeine harmlose Bemerkung und betrachtet ihn wieder nachdenklich, wenn sie weiß, er wird es bemerken. Doch nichts von alledem ist in Wirklichkeit für ihn bestimmt. In ihrer neubelebten Hoffnung übt sie eine alte Kunst, in der sie einmal Meisterin war – das ist alles. Doch er nimmt ihr in diesem Augenblick überhaupt nichts übel. Sie braucht ihn, das ist genug. Erst gegen Ende des Frühstücks, das aus Obst und Tee besteht, kommt Vera auf das einzige Thema zu sprechen, das ihr im Augenblick wichtig sein kann. »Nun wissen wir also, wohin sie unterwegs sind … Willst du mir wirklich 548
helfen, Philip?« »Ich bin ja zurückgekommen, um dir zu helfen.« Lächelnd fragt sie: »Woher hast du denn gewußt, daß ich Hilfe brauche?« »Ich wußte es nicht. Es war einfach mein Glück, aus.« »Glück?« Sie überlegt das Wort, ihr weißes Gesicht ist gedankenvoll. Intelligenz und Leidenschaftlichkeit sprechen aus diesem Gesicht, und Embree begreift, warum diese Frau ihm in einer bestimmten Periode seines Lebens mehr bedeutete als Loyalität, Selbstachtung, Freiheit. »Was soll nur aus ihnen werden in China, wenn wir sie nicht finden, Philip?« »Wir finden sie schon.« »Versuch nicht, mich zu trösten. Das kann Jim Thompson tun, er weiß es nicht besser. Dort ist schließlich Krieg. Wie können sie nur nach China fahren? Wie bringen sie das nur fertig?« »In China ist immer Krieg. Es kommt vor, daß die Chinesen in der einen Straße kämpfen, während in der nächsten die Pekingoper eine Vorstellung gibt.« »Du bist 1927 in China gekidnappt worden«, erinnerte sie ihn. »Aber sieh mich doch an – blond, mit heller Haut. Diese beiden dagegen sind anders. Soweit ich mich an Sonja erinnern kann, könnte man sie für eine Chinesin halten.« Über den Tisch greift Vera nach seiner Hand und berührt sie einen Augenblick. »Ich bin froh, daß du wieder da bist. Ich weiß wirklich nicht, warum du nach so langer Zeit zurückgekommen bist, aber es ist unwichtig. Du bist wieder da. Ich brauche dich.« Es ist elf Uhr. Er hat inzwischen Jim Thompson 549
aufgesucht und ist nun in einem Wassertaxi zu einer zweiten Verabredung unterwegs. Was er von dem Moment an ahnte, da Vera ihm von den Gerüchten über Jim Thompson erzählte, hat sich mittlerweile bestätigt. Thompsons Bereitschaft, Vera zu helfen, entstammt zumindest teilweise seinem Interesse, der amerikanischen Regierung nützlich zu sein. »Ich glaube, wir haben so manches gemeinsam«, begann Thompson, kaum daß sie auf der Hotelveranda, die auf das belebte Ufer ging, Platz genommen hatten. »Ich meine den Krieg. Haben Sie Dick Heppner gekannt? Er war OSSBoß für China. Sie waren nie in der OSS-Zentrale in Washington? Glauben Sie mir, selbst der Kreml kann nicht so bedrohlich aussehen. Knarrende alte Korridorböden, düstere Räume – wie aus einem Horrorfilm.« »Ich habe keine Ahnung vom OSS«, unterbrach ihn Embree. »War hier in der Gegend ganz schön aktiv. Die ersten amerikanischen Agenten sickerten im Januar 1945 in Siam ein. Sie kamen, um im Untergrund mit der Freien-ThaiBewegung zusammenzuarbeiten.« Embree hörte höflich zu, während Thompson über siamesische Agenten, geschult vom OSS, dem amerikanischen Geheimdienst, sprach, die als Händler verkleidet waren und Funkgeräte hatten, die in Tragkörben unter Ballen von blauem Kattun, Fadenrollen, Kämmen und lauter Krimskrams versteckt waren. Weitere Agenten kamen mit U-Booten oder sprangen nachts mit dem Fallschirm ab. Das siamesische Agentennetz war eine Erfindung des früheren Ministerpräsidenten Pridi, eines »sehr fähigen Mannes«, wie Thompson bemerkte. »Unsere Jungs waren in einem staatlichen Gebäude im Zentrum von Bangkok untergebracht. Hatten natürlich nichts von der Umgebung. 550
Saßen in einem Kämmerchen, drei Meter im Quadrat, und dirigierten den ersten gezielten Angriff von B-29Bombern auf Bangkok. Sie leisteten saubere Arbeit. Auch die Siamesen haben saubere Arbeit geleistet. Nur für Pridi ging’s nicht gut aus. Keiner von uns glaubt, daß er mit dem Tod des Königs etwas zu tun hatte. Aber das ist siamesische Politik.« Thompson paffte heftig an seiner Zigarette. »Ich kam erst gegen Kriegsende hierher. Ich habe mich freiwillig als Fallschirmagent gemeldet und sollte nahe der laotischen Grenze abgesetzt werden. Unser Ziel war, die Befreiung Siams einzuleiten. Wir waren gerade von Ceylon abgeflogen, als wir über Funk die Nachricht erhielten, daß die Japse kapituliert hatten.« Thompson zündete sich eine neue Zigarette an. »Sie fragen sich sicher, warum ich Ihnen dies alles erzähle.« »Ja, schon ein bißchen.« »Ich erzähl’ es Ihnen, weil Sie mich sonst vielleicht für anmaßend halten würden.« »In welcher Hinsicht?« »Weil ich gewisse Themen anschneiden will. Als ich nach Bangkok kam, war Howard Palmer der hiesige OSSBoß. Ich löste ihn ab, bis der Verein einging. Die Sache ist aber die, daß ich noch dabei bin, ex officio natürlich«, sagte er mit unverhohlenem Stolz. »Nur zu. Schneiden Sie mal die gewissen Themen an.« »Frazer in Madras hat doch mit Ihnen über eine Mission in China gesprochen. Sind Sie noch immer dagegen?« »Ich bin unschlüssig.« Eine ausweichende Antwort, wußte Embree, ist in diesen Kreisen eine gute Antwort. »Was mit Ihrer Stieftochter passiert ist – läßt das die Sache nicht in einem anderen Licht erscheinen?« »Inwiefern?« 551
Thompson blinzelte durch den Zigarettenrauch. »Was ist, wenn sie nach China gefahren ist?« »Das wissen wir doch nicht.« Er hatte Thompson nicht gesagt, daß eine der Passagierlisten den Namen Tang Yuying enthielt. »Aber nehmen wir es mal an. Wenn Sie nach China gingen, und sie ist dorthin gefahren, könnten Sie gewissermaßen …« »Zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.« »Genau.« »Was aber, wenn sie, sagen wir, nach Indonesien oder Malaya gefahren ist?« »Dann können wir – die amerikanische Regierung – wohl leider nicht helfen.« »Was wollen Sie von mir?« »Wir wollen von Ihnen wissen«, berichtigte ihn Thompson, »ob Sie einen Auftrag in China annehmen.« Mit weiteren Ausweichmanövern, befand Embree, ist nichts zu gewinnen. Sie erfahren ja doch bald, daß das Mädchen nach China unterwegs ist. »Ja«, sagte er gleichmütig, »ich übernehme den Auftrag, wenn man mir dafür hilft, sie zu finden.« Thompson schlug sich auf die Knie. »Dann möchte ich, daß Sie Jerry Feinberg aufsuchen. Er ist in der Botschaft.« Thompson warf einen Blick auf seine Uhr. »Genauer gesagt, er erwartet Sie.« Embree stand auf, verärgert über Thompsons selbstgefälligen, triumphierenden Blick. »Sie wußten wohl schon, daß ich ja sage?« »Stimmt, tut mir leid. Sehn Sie, wenn das Mädchen mit diesem Kommunisten abgehauen ist, dann landen sie doch höchstwahrscheinlich in China.« 552
»Das ist nur eine Annahme.« Thompson, der ebenfalls aufstand, zuckte die Achseln. Er streckte die Hand aus und sagte in einem sanften, beinahe schüchternen Ton: »Wenn es sich wirklich so ergibt, daß Sie nach China fahren, wünsche ich Ihnen alles Glück auf der Welt, Philip. Durch meine Geschäfte mit Vera habe ich gelernt, was für eine großartige Person sie ist. Eine wirklich großartige Frau. Tun Sie, was Sie können.« »Danke«, antwortete Embree kühl. »Das habe ich vor.« Jetzt haben sie mich also, wo sie mich haben wollten, denkt Embree. Und wenn schon – die Suche nach Sonja ist den Einsatz wert. Nach der Fahrt über den schlammigen Klong an Slums vorbei ist er an der Botschaft angelangt. Eine Ordonnanz führte ihn in den hinteren Teil des Botschaftsgeländes. Hier steht ein ziemlich niedriges Haus mit Diensträumen zur Veranda hin, die über die gesamte Länge reicht. Vor einem dieser Büros, dessen Tür geöffnet ist, bleibt die Ordonnanz stehen. Ein kleiner Mann mit gelichtetem Haar erhebt sich von seinem Stuhl hinter dem Schreibtisch und streckt die Hand aus. »Jerry Feinberg. Haben Sie Hunger? Ich könnte einen Hamburger vertragen. Wie steht’s mit Ihnen?« Die Snackbar der Botschaft befindet sich im selben Gebäude im Souterrain. Als sie sich dort an einen Ecktisch gesetzt haben, sagt Jerry Feinberg: »Sie haben also mit Jim Thompson gesprochen. Jim hat nützliche Dienst geleistet. Gleich nach dem Krieg war er inoffiziell politischer Berater des Botschafters. Kennt sich sehr gut mit den Laoten aus. Einen Hamburger und Pommes frites? Garantiert so gut wie zu Hause. Sie haben dort hinten auch 553
jemand, der ein sehr gutes Malzbier braut.« Ein siamesisches Mädchen kommt an den Tisch, um ihre Bestellung entgegenzunehmen. Hamburger und Pommes frites bedeuten Embree nicht viel, und das stimmt ihn traurig, weil es der Konsul offensichtlich genießt, etwas zu essen, was ihn an zu Hause erinnert. Was ist für mich zu Hause? geht es Embree durch den Kopf, als er das gleiche bestellt. Jerry Feinberg beugt sich nach vorne. »Sie waren einige Zeit nicht in Bangkok, richtig? Eigentlich verändert sich hier nicht viel. Der König stirbt auf mysteriöse Weise, die Roten drucken Flugblätter, die Chinesen murren, doch in Wirklichkeit verändert sich Siam nicht.« »Woran liegt das?« Embree beobachtet, wie Botschaftsangestellte den kleinen, fensterlosen Raum betreten. Sie sprechen in einem lockeren, selbstsicheren Ton, was die Menschen in den Ländern, wo sie gerade stationiert sind, vermutlich irritiert. Er fühlt sich in diesem Augenblick wie ein Fremder. »Die Siamesen sind gut dran«, meint Feinberg. »Finden Sie nicht auch?« »Inwiefern?« »Nun ja, sie leben auf einem fruchtbaren Boden. Nur selten Naturkatastrophen. Es gibt mehr soziale Mobilität als bei den meisten asiatischen Völkern.« »Ja, da haben Sie vermutlich recht.« »Andererseits ist soviel Unabhängigkeit der Disziplin nicht zuträglich. Sie rebellieren gegen kontinuierlichen Einsatz in der Arbeit.« »Das trifft auch auf die Burmesen zu.« »Jeder Siamese ist nur auf sein eigenes Wohl bedacht. Sie jagen nur nach persönlichen Verdiensten und scheren 554
sich den Teufel um den andern.« »Es ist eine milde Form von Egoismus.« »Oh, durchaus«, sagte Feinberg lächelnd. »Aber wenn sie auch die äußere Form der Substanz vorziehen, das Leben verläuft wenigstens reibungslos. Man findet nicht viele Menschen, die Scherereien so sehr aus dem Weg gehen wie die Siamesen.« »Das spricht für sie.« »Allerdings. Und deswegen haben sie ja auch eine so eigentümliche Geschichte.« »Wie meinen Sie das?« »Es ist eine Geschichte des Minimums an Gewaltanwendung. Staatsstreiche verlaufen im allgemeinen unblutig. Das an sich ist schon allerhand.« Feinberg ist anscheinend ein Mensch, der andern gern mitteilt, was er denkt, aber weniger aus Eitelkeit als aus dem Wunsch nach Geselligkeit. »Der letzte gewaltsame Umsturz«, fährt er fort, »fand 1933 statt. Mord gibt ihnen einfach nichts.« »Das gefällt mir.« »Mir auch. Wenn Siamesen einen Umsturzversuch machen, haben sie entweder sofort Erfolg damit, oder sie geben ihn auf. Sie sind zu vernünftig, um für eine gescheiterte Idee Blut zu vergießen. Natürlich sind sie im Foltern nicht schlecht, das schon.« Er lacht auf und fährt fort: »Die Regierung hat gerade ein paar Typen aufgegriffen, die im Verdacht stehen, an der Ermordung des Königs beteiligt gewesen zu sein.« »Waren sie es denn?« »Nun ja, wer weiß, aber ich bin überzeugt, daß sie schuldig gesprochen werden.« »Als ich vergangene Woche in Rangun war«, steuert 555
Embree bei, »haben sie U Saw verhaftet, weil er diese Sache angestiftet haben soll – ich spreche von dem Attentat auf Aung Saw. U Saw dachte sich vermutlich, damit könnte er in der Politik vorankommen.« Jerry Feinberg schüttelt den Kopf. »Das war ein schlechter Start für das unabhängige Burma.« »Und ob. Wäre Aung Saw am Leben geblieben, hätte er vielleicht das Land in Schwung gebracht.« Einen Augenblick lang denkt er an General Schan-teh. »Möchten Sie noch irgendwas über den Auftrag wissen?« fragt Feinberg. »Frazer sprach davon, daß ich mich dort umhorchen sollte. Daß Ihnen an meiner Meinung darüber gelegen ist, wie die Chinesen heute denken: worauf sie aus sind, was sie von uns halten und wie wir mit ihnen umgehen sollten und was ich sonst noch herausbekommen kann.« »Ganz recht.« »Allerhand verlangt.« »Sie werden zu Ihrer Unterstützung in Kunming eine Unterweisung erhalten«, sagt Feinberg. Embree schüttelt langsam den Kopf. »Nie gedacht, daß ich Kunming je wiedersehen würde.« »Vielleicht möchten wir von Ihnen, daß Sie sich mit ein paar Leuten in Tschungking unterhalten.« Der Lunch kommt. Embree beobachtet, wie Feinberg mit Behagen das heimatliche Gericht verzehrt, und denkt dabei an Tschungking, an den Yangtse, wie er träge und schlammig an der Stadt vorbeiströmte, von deren brauner Masse er sich nur durch seine langsame Bewegung unterschied. Im Mai 1939 begannen die Bombenangriffe auf Tschungking. Von der Ostküste her strömte die 556
Bevölkerung, der Verlagerung ganzer Fabriken folgend, in die im Landesinneren gelegene Stadt, so daß sie zum Fünffachen ihrer vorigen Größe anschwoll. Luftschutzbunker aus Sandstein wurden gebaut. Rote Papierlaternen an hohen Stangen signalisierten einen bevorstehenden Luftangriff. Die Brandbomben verwandelten die Straßen in einen Stangenwald aus verkohlten Holzpfosten; in den armen Gegenden der Stadt blieb überhaupt nichts übrig, keine Bambushütte, nicht einmal Leichen – nur feine, schwarze Asche, die in die Bombenkrater trieb. Das ist das Tschungking seiner Erinnerung, eine Stadt, die er nie mehr sehen wollte. »Wann können Sie aufbrechen?« fragt Feinberg. »Wann möchten Sie?« »Morgen.« »Einverstanden.« Embree, der den Hamburger nur zur Hälfte gegessen hat, schiebt den Teller zur Seite. »Und jetzt zu meiner Tochter. Wie steht’s mit diesem Punkt?« »Wir brauchen ein Photo von ihr.« »Bekommen Sie. Ich überlege nur gerade«, sagt Embree, »daß sie ja vielleicht gar nicht auf diesem Schiff ist, wenn es in Schanghai ankommt.« »Das ist natürlich möglich.« »Wenn ihnen jemand hilft, der sich auskennt, wechseln sie in Singapur sicher das Schiff.« »Wir werden Singapur überprüfen.« »Denken Sie auch an diese Stückgutfrachter, auf denen man nicht lange nach Papieren fragt? Ich bitte Sie, Feinberg, Sie kennen doch Schanghai. Die beiden können dort untertauchen, ohne eine Spur zu hinterlassen. Vorausgesetzt, es hilft ihnen jemand.« 557
»Sie machen sich wohl Sorgen, wenn Sie bei der Ankunft der beiden nicht dort sind?« »Ja, ich sollte dort sein.« »Sie werden aber nicht dort gebraucht. Wir kümmern uns um den Hafen. Wenn wir nichts zu bieten hätten, hätten wir Sie jetzt ja nicht hier sitzen, oder?« Das stimmt, denkt Embree. Er legt einen Zettel mit Sonjas Decknamen, dem Namen des Schiffes und der geschätzten Ankunftszeit auf den Tisch. »Das Photo bringe ich morgen. Wenn – falls – Sie Sonja finden, was wollen Sie dann tun?« »Wir beschatten sie, bis Sie hinkommen.« »Sie können sie doch festnehmen lassen.« »Wie denn?« »Weiß ich nicht. Das wissen Sie selbst am besten. Zoll, Paßkontrolle. Tschiang Kai-schek, Harry Truman – irgendwas.« »Sie ist aber siamesische Staatsbürgerin.« »Es wäre ja nicht das erstemal, daß ihr euch an Bürgern eines anderen Landes vergreift.« Feinberg feixt. Er hat ein sonniges, unkompliziertes Wesen, das Embree, ob er will oder nicht, sympathisch findet. »Zumindest werden Sie das Mädchen und mich aus China herausholen.« Feinberg sieht ihn nachdenklich an. »Sie selber nicht so rasch. Wir werden dem Mädchen helfen, wenn sie weg will. Sie dazu zu bringen, daß sie ihren kommunistischen Liebhaber verläßt, das ist Ihre Sache.« »Ich möchte lieber morgen direkt nach Schanghai aufbrechen. Wenn ich ihr dann den Kopf zurechtgesetzt habe, bin ich bereit für Kunming und das übrige.« 558
Feinberg schüttelt den Kopf. »Man will Sie sofort in Marsch setzen. Außerdem ist Sonjas Schiff eine ganze Woche unterwegs. Inzwischen haben Sie Ihre Weisungen und sind ohnehin in Schanghai.« »Vielleicht.« Feinberg blickte Embree an. »Noch etwas. Ich glaube, Frazer hat davon gesprochen, daß Ihre Frau Sie möglicherweise begleiten wird. Daraus wird nichts, mein Freund. Ihre Stieftochter ist nämlich beim Umgang mit amtsbekannten Kommunisten beobachtet worden.« »Das ist der siamesischen Regierung bekannt?« »Sehr wohl. Und der Polizeichef ist nicht gerade ein frommer Buddhist. Er peinigt die Leute so lange, bis er Namen und Daten herausbekommt. Und wenn wir Sie mit einer Militärmaschine in Begleitung Ihrer Frau ausfliegen, gefällt das den Siamesen bestimmt nicht.« »Glauben die denn, daß sie ebenfalls was mit Kommunisten zu tun hat?« – »Nein. Es geht nur darum, daß sie ihr Gesicht wahren. Im Augenblick gäbe es Ärger, wenn wir sie aus dem Land brächten, nachdem ihre Tochter gerade über die Stränge geschlagen hat. Sie verstehen: Wir wollen mit der Mutter einer flüchtigen Straftäterin nicht in enger Verbindung stehen.« »Und dem Vater?« »Stiefvater. Ich bin überzeugt, daß man von Ihnen keine Ahnung hat.« Grob, aber wahr, denkt Embree. »Vera kann ohnehin nicht fort. Sie ist krank.« »Dann haben Sie ja freie Hand, sich der Sache anzunehmen. Gut.« Feinberg lehnt sich seufzend zurück. »Mir ist’s egal, was die Leute sagen. Nichts geht über einen Burger und 559
Pommes frites.« Embree kommt erst spät nach Hause. Am Nachmittag wurde er im Krankenrevier der Botschaft gegen Cholera und Typhus geimpft, da in den letzten Wochen beide Krankheiten in der Gegend um Kunming in epidemischen Ausmaßen aufgetreten sind. Dann verbrachte er beinahe drei Stunden damit, sich mit einem Experten der Botschaft chinesisch zu unterhalten. Sie saßen in einem kleinen, sehr heißen Raum, sprachen abwechselnd Mandarin, Kantonesisch und Teochiu über China während des Zweiten Weltkrieges. Es war eigentlich eine Art Quiz, das der Botschaftsbeamte, Roy Atkinson, in diesen chinesischen Mundarten mit Embree machte. Wie dachten Sie über die Kontroverse zwischen Chennault und Stilwell Anfang der vierziger Jahre? Fragen dieser Art. Embree hält es für besser, sie ernst zu nehmen. Er antwortete, daß es um den alten Konflikt der militärischen Denkschulen zwischen Luft- und Landkrieg gegangen sei. »Welche Positionen nahmen Marshall und Tschiang Kai-schek in der Debatte ein?« fragte Atkinson in makellosem Chinesisch. Embree antwortete ihm in ebenso gutem Chinesisch. Marshall und Stilwell vertraten die Auffassung, man solle Kriegsmaterial über den Himalaja transportieren und damit chinesische Bodentruppen ausrüsten, statt Feldflugplätze zu bauen, die schließlich weniger mobil seien als Soldaten. Tschiang Kai-schek hingegen wünschte amerikanische Unterstützung aus der Luft, die ihn der Notwendigkeit entheben sollte, die Bodentruppen zu reorganisieren, damit sie gegen die Japaner Besseres 560
leisteten. Diese vertrauten Fragen waren offensichtlich nicht dafür bestimmt, Embrees Kenntnisse zu testen, sondern herauszufinden, ob er tatsächlich so versiert im Chinesischen war, wie aus seinem Wehrstammbuch hervorging. Roy Atkinson ging schließlich aus dem Zimmer und kehrte nach ein paar Minuten mit Jerry Feinberg zurück, der strahlte und eine Flasche guten Bourbon in der Hand hielt. »So, Kumpel«, sagte Jerry, »jetzt heben wir einen auf China.« Während sich Embree nach dem Abendessen müde in sein Zimmer hinaufschleppt, geht ihm Veras Reaktion auf die Nachricht von seiner Abreise durch den Kopf. »Wenn es so steht«, erklärte sie, »haben wir sie in einer Woche wieder zu Hause.« Als er ihren Überschwang ein wenig zu dämpfen versuchte – »probieren wir’s mit zwei Wochen« –, reagierte sie voller Heftigkeit. »Zwei? Warum zwei volle Wochen? Du setzt sie in eine dieser Militärmaschinen und kommst zurück, damit hat es sich. Sei doch nicht so pessimistisch!« Ihre funkelnden Augen und der aufgebrachte Ton hielten ihn davon ab, das Tauschgeschäft zu erwähnen, das er abgeschlossen hatte. Rama wird hierbleiben; das zumindest steht fest. Embree hat ihn früher am Abend beiseite genommen und ihn gefragt: »Möchtest du jetzt gleich nach Hause fahren, Rama?« »Nicht unbedingt, Master.« »Die Memsahib ist krank. Ich möchte, daß du bei ihr bleibst, bis ich wiederkomme.« »Ich begleite Sie nicht, Master?« 561
»Ich werde dich anständig entschädigen, wenn du bei ihr bleibst.« »Aber diese Frauen …« »Kümmer dich nicht um sie. Sie arbeiten schon lange für die Memsahib und fühlen sich sehr für das Haus verantwortlich. So ist es nun einmal.« Ramas Gesicht hellte sich auf. Er reckte sich hoch und sagte mit einem breiten Lächeln: »Keine Sorge, Master. Rama wird hier sein.« Vor der Tür seines Schlafzimmers blickt er kurz zu ihrem Zimmer hinüber. Die Gita sagt: »Pflichterfüllung ohne Bindung.« Ist es schließlich dahin gekommen? Dann zu seinem Kummer wie zu seiner Erleichterung empfindet er keine Leidenschaft mehr für Vera. Die junge Siamesin ist zwar im Vergleich zu Vera oberflächlich, das liegt auf der Hand, aber sie wirkt sexuell anziehend auf ihn. Kommt es nur daher, daß Wanna jung ist? Nein, das glaubt er nicht. Es ist ihre Bereitwilligkeit – das Schmeichelhafte an diesem offenen Angebot –, was ihn anzieht, während er schon am Hafen im ersten Augenblick die Mauer sah, die Vera umgab. Er sah sie um Vera Embree aufsteigen, als würden tatsächlich vor seinen Augen von fleißigen Händen Ziegelsteine aufeinandergeschichtet. Und hier kommt das Alter ins Spiel: Er ist zu alt, um eine solche Mauer einzureißen. Als er in den frühen Zwanzigern war und Vera damals eine ähnliche Mauer um sich errichtete, fand er einen Weg, sie zwar nicht zum Einsturz zu bringen, aber doch zu durchbrechen. Und Vera zu gewinnen. Heute aber, müde, am letzten Abend, bevor er aufbricht, um eine alte Schuld zu begleichen, ist Philip Embree zu nichts anderem fähig, als die geschlossene Tür zum Zimmer seiner Frau apathisch anzustarren und dann seine eigene zu öffnen. 562
Zwei Gegenstände, ein großer und ein kleiner, liegen auf seinem Bett. Der große Gegenstand ist eine Axt – eine Stahlklinge an einem Griff aus Holz und zur Stabilisierung ein hölzerner Knopf, der auf die Klinge oberhalb der Mitte aufgesetzt ist. Vor einundzwanzig Jahren bekam Philip Embree diese Axt von einem Banditen geschenkt, dem er kurz zuvor das Leben gerettet hatte. Vor einundzwanzig Jahren beschloß Philip Embree, fortan diese Axt immer bei sich zu tragen, sie treu zu hegen, so wie sein Vater seine Bibel gehegt hatte. Einmal in einer Schlacht beugte Embree sich seitwärts von seinem galoppierenden Pferd, schwang die Axt durch die Luft und spaltete einem Mann den Schädel. Vielleicht glaubte er, der Axt wohne eine magische Kraft inne wie einem Amulett, wie den Worten des Gottes, dem sein Vater angehangen hatte. In seiner ersten Schlacht also hat Philip Embree diese Axt benutzt. Es war die Schlacht bei Hengschui, 1927. General Tang hatte die Aufforderung eines Rivalen, eines anderen Warlords, angenommen, sich zum Kampf zu stellen. Embree sah General Tang zusammen mit seinem Stab auf einer Bodenerhebung stehen und durch Ferngläser den Beschuß eines Weizenfeldes durch die feindliche Artillerie beobachten. Embree dachte dabei an Napoleon, wie ihm schon oft Ähnlichkeiten zwischen den beiden Generälen durch den Kopf gegangen waren – die straffe Haltung, die dunklen, wachsamen Augen, die ganz und gar gespannte, machtvolle Präsenz, die Vertrauen und Zuversicht einflößte. Romantisch natürlich. Und als Embree an diesem Tag in die Schlacht zog, ritt er einen kastanienbraunen Hengst, dem er den Namen Marengo gegeben hatte – wie Napoleons Pferd hieß. Mit seinen Kameraden stürmte er unter Scha!-Scha!-Scha!-Schreien 563
über das von Geschossen aufgewühlte Weizenfeld und erlebte seine erste Schlacht. Und dabei geschah es, daß er sich aus dem Sattel lehnte und mit dieser Axt einen Infanteristen niederstreckte, der zu fliehen versuchte. In seinem rechten Arm vom Handgelenk bis zur Schulter spürt er noch heute – und so wird es immer bleiben – das Nachgefühl des wuchtigen Aufpralls. Es erfüllt ihn mit Staunen, wieviel Vera von ihm weiß. Sie hat die Axt nicht vergessen, obwohl er schon vor seinem Fortgang aus Bangkok 1939 nie wieder darüber gesprochen hatte. Aber sie wußte, welche Wirkung ein Augenblick, wie er ihn jetzt erlebt, auf ihn haben konnte. Schlau, wie sie ist, hat sie ihm die Axt aufs Bett gelegt – in der Gewißheit, diese Geste werde ihn auf den Weg nach China schicken. Embree lacht. Der andere Gegenstand, der auf dem Bett liegt, ist ein Photo von Sonja. Er hat Vera beim Abendessen darum ersucht. Nun betrachtet er es eingehend im Schein der Nachttischlampe. Sonja steht in einem Garten – kein Mädchen mehr, sondern eine junge Frau. Sie ist unstreitig das Kind ihres Vaters, eine hübsche Chinesin, doch je länger Embree das Bild anblickt, desto europäischer erscheint sie ihm. Interessant ist der Blick, mit dem sie aus ihren weit auseinanderstehenden Augen in die Welt schaut. Die Tiefe des Gefühls, die aus ihnen spricht, erinnert ihn an Vera, der furchtlose Ausdruck an den General. Dann ein sonderbarer Gedanke: Auf eine unbestimmbare Weise läßt die junge Frau ihn auch an seine Schwester Mary denken. Liegt es vielleicht an den Augen? In einem Punkt sind die beiden Frauen einander zweifellos ähnlich: Beide sind von zu Hause durchgebrannt. Mary setzte sich 564
nach New York ab, als Embree noch ein Kind war. Er liebte sie ebensosehr wegen ihres rebellischen Bluts wie deshalb, weil sie ihm viel Gutes getan hatte. Hat Sonja aus dem Verlangen nach Rebellion das mütterliche Heim verlassen? Erst jetzt, in diesem Augenblick, erwägt er eine solche Möglichkeit. Bisher hat er Sonja selbst gar nicht in Betracht gezogen, gelenkt allein von Veras Entschlossenheit, die Tochter zurückzugewinnen. Wieder betrachtet er das Photo. Die Hände gegen die Hüften gestemmt, mit den Lippen ein Lächeln andeutend, als fordere sie die Welt heraus, scheint die hochgewachsene, schlanke junge Frau durchaus imstande, ihr Schicksal ohne die Hilfe anderer in die Hände zu nehmen. Wie es auch bei Mary der Fall war. Soll ich, fragt er sich, wirklich Vera helfen, dieses Mädchen daran zu hindern, daß es seinen eigenen Weg geht? Doch Vera war ihr bestimmt eine gute Mutter. Vielleicht hat nur Eigensinn Sonja zu diesem rücksichtslosen Akt getrieben. Mit Hilfe des Photos werden Jerry Feinbergs Leute in Schanghai imstande sein, das Mädchen zu entdecken, wenn es im Hafen ein Trampschiff verläßt. Zum Entgelt dafür, daß sie seine Stieftochter ausfindig machen, wird Embree alles tun, was die Regierung von ihm wünscht. Es geht bestimmt nicht nur darum, daß er sich umhorcht. Sabotage? Unwahrscheinlich, aber er ist dazu bereit, sollte es notwendig werden. Wahrscheinlicher ist, daß seine Aufgabe darin bestehen wird zu bestätigen, was die Regierung ohnedies schon zu ihrer Überzeugung gemacht hat. Was immer – er ist dazu bereit. Und er wird sie zurückbringen.
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wei Wochen sind schon vergangen ohne eine Nachricht. Zwei Wochen und kein Wort von Philip, kein Wort. Sie schiebt den Teller mit Eierbananen beiseite und ruft nach Nipa, weil sie Kaffee möchte. Noch einmal faltet sie das Blatt mit der englischen Übersetzung eines Gedichts von Yu Hsuan-chi auseinander und liest langsam die mit Bleistift geschriebenen Wörter auf dem beschmierten Papier: »Liebe und Zuneigung sollten vom Fluß das fortdauernde Strömen lernen.« Vera hat das Blatt zwischen zwei Seiten eines chinesischen Gedichtbandes gefunden, in dem Sonja offenbar in der letzten Zeit gelesen hat. Nipa bringt den Kaffee und stellt ihn ohne ein Wort auf den Tisch. Die Hausangestellten, sogar die Köchin, sind seit einiger Zeit ziemlich kleinlaut, und dies mit gutem Grund. Jeden Tag während der vergangenen paar Wochen war sie versucht, sie alle auf die Straße zu setzen, weil sie es nicht fertiggebracht hatten, Sonja im Haus zu halten. Jetzt ist es zu spät, sie noch zu bestrafen. Bei einem chinesischen Buchhändler hat Vera sich eine Kurzbiographie von Yu Hsuan-chi beschafft, die ihr helfen soll, die Gedanken ihrer Tochter nachzuvollziehen. Yu Hsuan-chi war eine Kurtisane und Dichterin, die auch einige Zeit in einem taoistischen Kloster lebte. Eine Heldin für eine hoffnungslos romantische Seele. »Nipa!« ruft sie hinaus. »Der Kaffee ist kalt.« Vera steht auf und geht in den Garten. Genaugenommen – und sosehr sie diese Einsicht schmerzt – ist das Mädchen 566
fortgegangen, um die Heimat seines Vaters aufzusuchen. Chinesen tun so etwas. Sonja will ihre Heimat sehen, und für die Chinesen gibt es nur eine Heimat: China. Leben sie außerhalb der chinesischen Grenzen, dann nur um des Gelderwerbs willen. Also ist Sonja eigentlich nicht mit dem Jungen unterwegs, sondern zu ihrem Vater. Der Gedanke hat zumindest etwas Tröstliches, traurig hingegen stimmt Vera, daß dieser Tag, der 20. Mai, der Geburtstag ihrer Tochter ist. Wo Sonja ihn wohl feiert? Auf See? Oder wo sonst? Wird er ihr etwas schenken? Nein, dafür hat er kaum das Geld. Wird sie ihm überhaupt etwas davon sagen? Vielleicht nicht. Und ob sie überhaupt daran denkt, daß heute ihr Geburtstag ist? Vera steht nun bei den Jasminbäumen, die den Zugang zum Geisterhäuschen flankieren. Sie hat es seit Sonjas Fortgang nicht mehr besucht, als hätte sie Angst, dem Geist des Generals zu gestehen, was mit seiner Tochter geschehen ist. Unsinn natürlich. Im Gegensatz zu anderen Vormittagen hat sie weder Blumen noch Weihrauch als Opfergabe für die Geister des Grundstücks und für ihn mitgebracht. Vera tritt näher an die winzigen Elefanten, Pferde und Puppen heran und blickt durch ein Fensterchen auf den Jadebüffel, der ihn darstellt. Der Büffel ist viel mehr wert als der Tintenstein. Doch aus der Besorgnis, der Tintenstein könnte aus dem Garten gestohlen werden, stellte sie den wertvolleren Büffel hier zum Gedenken an Schan-teh auf. Das Wertvollste, was sie je in ihrem Leben besessen hat, ist für sie dieser Tintenstein – und die Erinnerung daran, wie er ihn ihr aus dem so weit entfernten Kanton mitbrachte. Wie sonderbar das Leben doch spielt. Vera steht vor dem Geisterhaus, die Augen in gleicher Höhe wie die Figuren rings um die weißen Säulen, und beginnt, beinahe laut zu sprechen. Sie lacht über diese 567
Anwandlung und denkt daran, wie Sonja ihr vorwarf, sie spreche zu dem toten General. Sonja wollte ihr natürlich keinen Vorwurf machen, weil sie ja selbst häufig im Schutz ihres Zimmers zu einer imaginären Person sprach. Auch das hatte das Mädchen mit Philip gemeinsam, der hier oder in Hongkong oder in Singapur oft draußen im Garten saß und in einem hitzigen Dialog stumm die Lippen bewegte. Beide lebten in den Welten ihrer Phantasie, während sie selbst wirklich auf dieser Welt lebte. Doch jetzt vor dem Geisterhäuschen spricht auch Vera mit leiser, deutlicher Stimme. »Schan-teh, es ist geschehen. Ich habe dich ein zweites Mal im Stich gelassen. Ich will es offen sagen. Einst lief ich aus Angst davon und verlor dich, was schon schlimm genug war, mein Geliebter. Jetzt habe ich aus Nachlässigkeit oder aus Unverständnis – ich weiß nicht, was – zugelassen, daß unsere Tochter sich in eine völlig Ungewisse Zukunft gestürzt hat. Ich habe mich schuldig gemacht. Du kannst mir das ebensowenig verzeihen wie meinen Verrat an dir. Immerhin glaube ich, daß unsere Tochter auf dem Weg nach China ist, um dich zu finden. Ich stehe hier und spreche zu einem Stück Jade in einem siamesischen Geisterhaus, was mir albern und verkehrt vorkommt, aber ich denke – ja, ich weiß –, daß du irgendwie doch da bist. Wenn ich recht habe, wenn du existierst, mein Liebster, dann hilf ihr!« Vera wendet sich rasch um, geht denselben Weg zurück ins Haus und tritt in das Frühstückszimmer. »Kaffee heiß«, meldet Nipa. Sie fügt hinzu: »Mistress ißt nicht genug.« Vera setzt sich ermattet hin. Es stimmt, sie hat ihren früheren Heißhunger verloren. 568
Weil Sonja verschwunden ist? Natürlich. Und auch wegen Wanna. Seit Sonjas Fortgang hat Vera sich von der jungen Siamesin ferngehalten. Sie sehen einander nur im Geschäft, benehmen sich formell, obwohl Wanna wiederholt versucht hat, die alte Flamme wieder zu entfachen. Aus Gewohnheit greift Vera nach einer Mangofrucht, wird sich aber bewußt, daß sie eigentlich sowenig Verlangen danach hat wie nach ihrer siamesischen Freundin. Sie zieht die Hand zurück. Wie sonderbar das Leben, wie sonderbar die Liebe ist. In der Küche geht es laut zu – sich steigernde Frauenstimmen und dazwischen in unregelmäßigen Abständen das zornige Klagen eines Mannes. Rama ist wieder da. In Gegenwart ihrer Herrin kleinlaut, lassen die Frauen ihren Groll an dem indischen Eindringling aus, der eine perfekte Zielscheibe abgibt: verwundbar für ihre Beleidigungen, doch machtlos in dieser fremden Umgebung. Vera empfindet Sympathie für ihn, schon seit dem Tag von Philips Abreise, als Rama, von den Küchenfurien geschickt, mit ihrem Limonadensaft und Soda in den Garten kam. Er verneigte sich so tief, daß um ein Haar das Tablett gekippt wäre, ein Malheur, auf das, so Veras Verdacht, das Trio der Frauen nur zu innig hoffte. Sie sagte Rama, er solle die Frauen einfach nicht beachten, aber er stand nur da und verzog unglücklich das Gesicht. Als sie ihn fragte, was denn los sei, erzählte er ihr eine Geschichte. Ein heiliger Mann stieß einmal auf eine Giftschlange, die ihn bedrohte. Der heilige Mann verzauberte sie und befahl ihr, ein Mantra nachzusprechen, Gott zu schauen und ihr schädliches Tun aufzugeben. Die Schlange tat wie geheißen und wurde so harmlos wie eine Kuh. Sobald den Jungen in der Gegend 569
klar wurde, daß die Schlange nicht mehr angreifen würde, prügelten sie sie beinahe zu Tode. Eines Tages kehrte der heilige Mann zurück, und als er die abgezehrte, verletzte Schlange sah, wollte er von ihr wissen, was geschehen war. Stolz erklärte die Schlange, daß sie keinem Geschöpf mehr einen Harm zufüge, sondern sich von Blättern ernähre. Leider aber kämen von Zeit zu Zeit ein paar Jungen daher und quälten sie. Als der heilige Mann das hörte, wurde er zornig – aber nicht auf die Jungen, sondern auf die Schlange. »Weißt du denn nicht, wie du dich schützen kannst?« tief er. »Ich habe dir gesagt, du sollst nicht beißen; ich habe dir nicht gesagt, du sollst nicht zischen!« Und mit einem schüchternen Grinsen fügte Rama seiner Geschichte die folgende Moral an: Man darf nie in solche Leute wie diese Frauen in der Küche Gift spritzen, aber man kann sie anzischen und sie verjagen. Das war natürlich nichts als Großsprecherei, denn Rama jagte den Frauen genausoviel Angst ein, wie ein am Ufer festgebundenes blökendes Schaf Krokodilen Angst einjagt. Aber Vera mag ihn gern. Und da kommt er schon, steckt den Kopf zur Tür herein, um zu sehen, ob er genehm ist. »Wo warst du denn die ganze Zeit, Rama?« Er kommt ins Zimmer, in den langen, dunklen Händen einen breitrandigen Strohhut. »Ich habe mich da unten am Klong mit Männern unterhalten. Memsahib, wenn diese elenden Frauen – entschuldigen Sie bitte meine Dreistigkeit –, wenn sie Männer wären, dann würde ich ihnen Ohrfeigen verpassen.« »Nun, du weißt ja, warum sie so sind.« Rama dreht den Hut in den Händen. »Ja. Sie halten zusammen und schließen mich aus.« »So ist es, Rama.« 570
»Diese Männer aus deinem Land hier haben mir von der Erntezeit erzählt. Hier gibt’s beißende Krebse, die in Scharen in die Reisfelder kommen und Schößlinge abbeißen. Manche Leute essen sie mit KokosnußmilchCurry. Drüben bei uns in Madras haben wir grüne Würmer, die so ähnlich sind. Sie fressen gern junge Schößlinge, wenn sie aus der Erde kommen, aber nur zwei Wochen lang. Und wir essen sie nicht. Bei uns drüben schätzt man so was nicht.« »Hast du Angehörige in Madras?« Sie ist zum Plaudern aufgelegt und würde ihn auffordern, eine Weile bei ihr zu sitzen, wenn nicht das Trio in der Küche wäre, bereit, solch ein Verhalten in Grund und Boden zu verdammen. »Was ist, Memsahib?« »Ich habe gefragt, ob du in Madras eine Familie hast.« »Nein, das heißt, ich habe ein paar Verwandte, aber die ziehen bald fort. Eine Dürre kommt.« »Oh, das wußte ich nicht. In den Zeitungen stand nichts davon.« »Ich habe schon danach gesucht«, murmelt Rama düster. »Bei uns drüben blühen jetzt die Mangobäume.« »Ich bin froh, daß ich dich hier habe.« Rama ist derart in seine Gedanken vertieft, daß er den Hut hält, ohne ihn zu drehen, und auf seine Füße hinabstarrt. Vera wiederholt mit sanfter Stimme: »Rama. Ich bin froh, daß ich dich hier habe.« »Danke, Memsahib.« Er blickt auf und bringt ein Lächeln zustande. »Ich lerne hier sehr viel, danke. Gestern ging ich zu einem ihrer Tempel, um zu sehen, ob sie dort scheußliche Gebräuche haben, aber ich finde nur die wahren Götter – 571
Narayana und Ganesha und Rama und Hamuman – in ihrem buddhistischen Tempel. Das hat mich auf eine neue Idee gebracht. Diese Leute haben die richtigen Götter, geben ihnen aber andere Namen. Sie sagen, es ist alles Buddha, aber auch Wischnu und sein Kreis sind dabei.« Vera lächelt, aber Ramas Darstellung der religiösen Verhältnisse hier in Siam, wo sich in Wirklichkeit der Brahmanismus aus Indien mit dem buddhistischen Volksglauben vermischt hat, gibt den Anstoß zu der Frage, ob ihr Versagen gegenüber Sonja vielleicht etwas mit der geistigen Toleranz – oder Faulheit? – der Menschen zu tun hat, unter denen sie hier schon seit Sonjas Kindheit leben. Sonja hätte um sich herum zuverlässige Werte sehen müssen, Wahrheiten, die einen festen Halt geben, wie es vielleicht in Europa möglich gewesen wäre. Die Toleranz der Siamesen beruht vielleicht in Wirklichkeit nur auf unklarem Denken oder – schlimmer – auf Gleichgültigkeit. Die Tür geht auf, und auf der Schwelle steht Ah Ping, die in ihren mit Flecken gesprenkelten Händen einen Umschlag hält. Ihre Augen funkeln Rama an, bis er einen Schritt zurückweicht, die Hände an seinen Hut geklammert. »Hoffentlich gute Nachrichten, Mistress«, sagt Ah Ping in jäh aufwallender Besorgnis und reicht das Kuvert über den Tisch. SIE IST NICHT AUF FAHRPLANMÄSSIGEM SCHIFF STOP BEOBACHTEN ALLE ANKÖMMLINGE STOP TUE ALLES WAS MÖGLICH STOP HERZLICH PHILIP
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Alles, was ihm möglich ist? Vera zerknüllt das Telegramm und wirft es auf ihren Teller. Offensichtlich hat der Junge sie an den amerikanischen Agenten vorbeigeschleust. Und Philip? Wie sie ihn kennt, hat er nur noch diesen Krieg in China im Kopf und keinen Gedanken mehr an das Kind, das ja ohnedies nicht sein eigenes ist. Und darauf hat sie zwei Wochen gewartet! Vera nimmt das zusammengeknüllte Telegramm, glättet es und liest es noch einmal. Wer beobachtet? Die amerikanischen Agenten? Was wissen die schon über den ausgedehnten Hafenbezirk von Schanghai? Vera steht auf, blickt Rama einen Augenblick nachdenklich an und sagt dann gelassen: »Wir reisen ab, Rama. Du kommst mit.« »Keine Sorge Mistress. Wohin fahren wir?« »Nach Schanghai.« »Master hält sich dort auf?« »Ich weiß nicht, wo er ist. Aber wir fahren.« »O ja, Mistress, danke.« Rama verneigt sich. Langsam, damit sie keine Schmerzen im Brustkorb bekommt, steigt Vera die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf und kleidet sich an. Es wird ein langer Tag werden. Als Vera bei ihrem Laden eintrifft, hat sie für sich und Rama Plätze auf einem schnellen Dampfer gebucht, der über Saigon nach Schanghai geht. Sie wollte eigentlich fliegen, doch es gab keine freien Plätze in den Maschinen, weshalb sie eine einwöchige Seereise in Kauf nehmen muß. Wenn Philip sich nur näher ausgelassen hätte! Er hat sich bewußt vage ausgedrückt in dem irregeleiteten Versuch, ihre tiefe Sorge zu dämpfen. Nur ein Mann tut so etwas. Eine Frau wäre nie so töricht zu glauben, man 573
könne ein Problem dadurch aus der Welt schaffen, daß man es übergeht. Sie hat ihm nach Schanghai telegraphiert, an das dortige amerikanische Konsulat. ANKOMME SCHANGHAI BESTELLT PALACE VERA
4
JUNI
ZIMMER
Das tut es ihm an Kürze gleich, dachte Vera, als sie das Telegramm dem Postboten zuschob. Matt öffnet sie jetzt die Türe ihres Ladens. Wie jeden Tag springt Prakit Chaidee von seinem Schreibtischstuhl auf. Sie vergeudet keine Zeit damit, ihm ihre Pläne darzulegen. Natürlich wird er in ihrer Abwesenheit das Geschäft führen. Er wird auch freie Hand haben, sämtliche finanziellen Entscheidungen zu treffen, die sich ergeben mögen. Diese Vollmacht hat Vera ihm noch nie zuvor erteilt, und sie ist selbst überrascht, daß sie es diesmal tut. Sie streckt die Hand aus und berührt sachte seinen Arm. »Passen Sie gut auf alles auf.« Vielleicht, geht es ihr durch den Kopf, komme ich nicht zurück. »Wo ist Wanna?« Prakit Chaidee schüttelt den Kopf.»Sie ist noch nicht vom Mittagessen zurück.« »Was. Noch immer nicht?« Sie streift ihn im Vorübergehen und öffnet die Tür zum ihrem Büro. Einen Augenblick lang bleibt sie so stehen und läßt den Blick umherschweifen, als wollte sie sich jedes Detail ihres Lebens in diesem Raum einprägen. Wie albern! Sie kommt gewiß zurück. »Ah, Nahng Vera.« Sie blickt vom Schreibtisch, wo sie eben die wichtigsten 574
Dinge erledigt, auf die junge Frau, die am Türpfosten lehnt. Wannas Augen glänzen. Ob sie etwas getrunken hat? Die schöne braune Haut der Wangen hat einen rosigen Schimmer, als hätte eine zärtliche Hand sie gerieben. Das Mädchen kommt aus einem Bett, denkt Vera. »Ich verreise eine Zeitlang.« »Ich weiß, Nahng Vera«, sagt das Mädchen lächelnd. »Hast du etwas von Master gehört?« »Es ist interessant, daß du ihn erwähnst. Damals im Hafen wußte ich sofort, wie es zwischen uns, dir und mir, steht.« Wanna setzt sich, noch immer lächelnd, auf einen Stuhl. »Ich könnte auch damit anfangen, dir eine Geschichte zu erzählen. Sie ist in China berühmt. Ein junger Mann geht zu einer Kurtisane, die ihm eine Abfuhr erteilt, bis er ihr tausend Goldmünzen für eine einzige Nacht anbietet.« »Oh, sie muß eine sehr schöne Frau gewesen sein.« »Aber sie lehnt das Angebot ab. Am nächsten Tag kommt er wieder zu ihr und schildert einen Traum, in dem sie beide die Nacht miteinander verbracht haben. Und da verlangt sie die tausend Münzen.« Vera lächelt. »Ich verstehe nicht, Nahng Vera.« »Wenn zwei Leute etwas zusammen erleben, haben sie nicht immer das gleiche Bild davon.« »Tee rakh, was hat das mit Master zu tun?« »Ich sah ihn als ein Problem, du sahst ihn als eine Möglichkeit. Laß gut sein. Die Sache ist ja vorbei. Aber mir imponiert dein Eifer, jede Gelegenheit zu nutzen, die sich dir bietet.« Vera seufzt und wendet den Blick von dem düster dreinblickenden Mädchen ab und schaut auf die 575
Geschäftsbücher, eine Bronzefigur aus Korat, auf den kleinen, aus einer Knolle geformten Talisman, der auf ihrem Schreibtisch steht. Sie möchte sich von diesen Dingen nicht trennen, nicht einmal für einen Tag. »Wanna«, sagt sie und blickt wieder das Mädchen an, »ich bin nicht fair zu dir gewesen. Ich habe dich gekauft, so wie mich früher Männer gekauft haben. Ich wollte dich nicht verlieren. Offen gesagt, mir gefielen deine lässige Art und lockere Sinnlichkeit. Was mich erstaunt, ist meine eigene Beharrlichkeit, mein Wunsch nach einer Bindung. Erst du hast mich das erkennen lassen. Ich danke dir dafür.« »Ich soll also gehen, Nahng Vera?« sagt das Mädchen und steht auf. »Ich glaube, ja. Aber wie ich sehe, bist du ja durchaus bereit zu gehen.« Sie hat schon jemand anderen, denkt Vera. »Bekomme ich noch das Geld für diese letzte Woche?« »Aber natürlich. Prakit Chaidee wird dich auszahlen – ein Monatsgehalt.« »Dann auf Wiedersehen, Nahng Vera.« An der Tür dreht Wanna sich um mit zusammengepreßten, aber zitternden Lippen. »Du bist selbst schuld, daß Sanuk tun konnte, was sie wollte. Du warst mit mir zusammen, als du bei ihr hättest sein sollen.« Lange, nachdem die Tür sich geschlossen hat, sitzt Vera noch da und blickt die glatte hölzerne Fläche an und darauf das Bild von Sonja, wie sie als Kind mit ausgebreiteten Armen im Garten auf sie zugelaufen kommt. Sie ist endlich zu Hause. Während des Abendessens setzt ein paarmal der Schmerz ein, klingt aber wieder ab, ehe 576
sie zu den Pillenfläschchen greift. Nichts kann sie davon abhalten, nach Schanghai zu fahren und Sonja zu suchen, nichts, nicht einmal das Schicksal selbst. Sie sitzt jetzt an ihrem Schreibtisch, wo sie gerade eine kurze Nachricht für Jim Thompson niedergeschrieben hat. Sie dachte zuerst daran, ihn aufzusuchen und ihm die Gründe für ihre Abreise zu erklären, aber womöglich hätte er daraufhin die amerikanischen Behörden informiert – und was dann? Ich kann mich ja, sagt sie sich, nach meiner Rückkehr entschuldigen, bei einem gemeinsamen Drink auf der Terrasse des Hotels Oriental zusammen mit Philip. Denn Philip wird bei ihr sein. Ja. Philip Embree wird nach Hause kommen und bleiben. Das ist jetzt in ihren Plänen eine feste Größe. Wie er es ausgedrückt hat, ist er nach Bangkok zurückgekehrt, um ihr zu helfen, und vielleicht tut er das gerade in Schanghai auf seine tapsige Art. Und nach der Zeit in Schanghai? Damit ist die Schuld nicht abbezahlt. Sie wird ihn daran erinnern. Es wird gut sein, jemanden zu haben, der morgens und abends in der Tür ihres Schlafzimmers steht und »guten Morgen« und »gute Nacht« und »Hast du gut geschlafen?«, »Fühlst du dich wohl?« sagt, Tag um Tag. Das Älterwerden und ihr Sicherheitsbedürfnis lassen sie nun die Zukunft mit Philip in diesem Licht sehen. Denn sie und Wanna sind einander schrecklich ähnlich. Heute kam das Mädchen warm und beflügelt aus dem Bett eines anderen Menschen an; es gab Wanna den Mut, auf entwürdigende kleine Winkelzüge zur Sicherung der Affäre zu verzichten. Und was Vera selbst angeht, so ist sie sich völlig im klaren darüber, daß Philips Rückkehr ihr heute den Mut gab, mit Wanna Schluß zu machen. Trotzdem, das Mädchen fehlt ihr bereits. Sie zweifelt schon, ob sie klug gehandelt hat. In einem gewissen Alter etwas aufzugeben heißt, einen Schritt in Richtung auf den 577
Tod zu tun. Vera stellt das Radio an. Seit kurzem bringt der nationale Rundfunk Siams um diese Zeit am Abend eine Stunde lang Musik aus dem Westen, und Vera hat sich zum Prinzip gemacht, die Sendung anzuhören. Doch in diesem Augenblick kommt aus dem Apparat »Bambusmusik«, ein Gedröhn von Trommeln, Gongs und Flöten, das sie nur daran erinnert, daß sie morgen ihre Wahlheimat verlassen wird. Aber natürlich nicht für immer – und doch, möglich ist es schon. Die Bambusmusik führt sie in die Vergangenheit, zurück zu der festlichen Nacht am Geburtstag des Konfuzius, damals vor zwanzig Jahren. Die ganze Nacht hindurch geleiteten die riesigen Trommeln den Zug der Feiernden, der sich langsam zur Großen Halle im Tempelbezirk von Küfu bewegte. Vor diesem gewaltigen Klanghintergrund gab sie sich mit Schan-teh in ihrem dunklen Zimmer der Liebe hin. Danach konnten sie dann in der klangdurchpulsten Dunkelheit nicht einschlafen und plauderten – über ihre beiden Kulturkreise, über die Religionen, denen sie anhingen und die sie trennten, über die Künste, die sie verbanden. In jener Nacht fragte Vera ihn schließlich nach seinen beiden Söhnen, erst da brachte sie den Mut dazu auf. Nicht Furcht hatte sie daran gehindert, sondern ihr Feingefühl. Bis zu diesem Abend hatte er nur gesagt: »Meine zweite Frau starb an Typhus. Einen Monat später folgten ihr meine beiden jungen Söhne.« Doch in dieser Nacht faßte Vera sich ein Herz. Wie sie erwartete, waren die Jungen einen schrecklichen Tod gestorben. Schan-teh hatte am Krankenbett beider Söhne gesessen, ihre Hand gehalten und auf eine plötzliche 578
Genesung oder auf den Tod gewartet. Sie konnte sich das Bild vorstellen; sie konnte sich auch vorstellen, wie schmerzlich ihm seine Frau in diesen Stunden gefehlt hatte. Wie kann ein Mann binnen eines einzigen Monats Frau und Kinder verlieren und bei Verstand bleiben? So stellte sie ihm die unvermeidliche Frage: »Hast du dir noch einmal Kinder gewünscht?« »Nein«, sprach er ins Dunkel. »Aber wolltest du denn nicht gern einen Erben?« »1916, kurz nach der Gründung der Republik, war Yüan Schih-k’ai Präsident. Er wollte Kaiser werden und eine neue Dynastie ins Leben rufen. In jenen Tagen gab es viele Intrigen für und gegen ihn. Er ließ meinen Vater, der sich gegen ihn stellte, köpfen und setzte meinen ganzen Klan auf die Liste der Todgeweihten. Ich war damals ein junger Offizier und in Sian stationiert. Ich tauchte unter. Mein ganzer Klan, einhundertzweiunddreißig Menschen, unter ihnen Kleinkinder, wurde exekutiert. Unsere Ahnentafel warf man in den Fluß.« Er schwieg einige Zeit. Dann sagte er noch: »Da ich als einziger aus meinem Klan am Leben geblieben bin, darf ich keinen Sohn haben, der die Trauerriten für mich vollzieht.« »Ist das eine Sitte oder deine eigene Entscheidung?« »Meine eigene Entscheidung. Sämtlichen Verwandten des Klans waren die Trauerriten versagt worden.« »Du hast dich also selbst bestraft.« Als er keine Antwort gab, sagte Vera. »Es tut mir leid, aber ich sehe es so.« »Es stimmt.« »Und wenn wir ein Kind bekommen?« »Ja, das ist mir schon durch den Kopf gegangen.« »Du hast dich gefragt, ob du es haben möchtest?« 579
»Oh, ich möchte es haben. Ich habe mich gefragt, wie ich für ein solches Glück danken könnte.« »Ein Sohn für deine Trauerriten. Was wäre, wenn es ein Mädchen würde?« »Eine Tochter wäre mir ebensosehr willkommen. Für mich wird es keine Trauerriten geben, also ist es einerlei – Sohn oder Tochter. Wirst du mir ein Kind schenken?« »Ich weiß es nicht«, sagte sie, plötzlich von diesem Gespräch beschwert. Unvermittelt hört die Bambusmusik auf, und die weiche, präzise Stimme einer Rundfunksprecherin sagt das Programm klassischer westlicher Musik für diesen Abend an. Vera schiebt den beendeten Brief an Jim Thompson auf die Seite, lehnt sich zurück und hört durch das allgegenwärtige Quaken der Frösche vom Klong her die ersten Melodien aus Borodins zweitem Streichquartett. Es ist die Sprache des Ausgestoßenen. Ja, die schnurrenden Streichertöne beschreiben ihre eigenen schmerzlichen Erinnerungen als Fremdling – und das Verlangen nach der Heimat, nach heißem Tee und morgendlicher Kälte, nach Pelzmuffs und Schlittenglöckchen, nach Vaters Tabakduft und Mutters freudigem Willkommensruf.
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DRITTER TEIL
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ie sind in China, doch nicht in Schanghai, wie ursprünglich geplant. Von der langen und komplexen Reise erinnert Yu-ying sich hauptsächlich an Hos Spielleidenschaft, der er auf dem Schiff zwischen Bangkok und Singapur frönte. Sie konnte ihn nicht davon abhalten, hinter dem vorderen Laderaum Fan-tan zu spielen. Ho hatte nie gute, immer nur schlechte Stäbchen. Yu-ying konnte sehen, daß dieses Spiel kein Können erforderte, nur eine gewisse besessene Sturheit und genug Geld, um dranzubleiben, bis man Glück hatte, aber für Ho kam das Glück nie. Er fuhr sie an, wenn sie sich in die Nähe wagte, und machte ihr später Vorwürfe, als sie zögerte, ihm noch mehr Geld zu geben. Einmal, als sie an der Reling standen und ihnen die Gischt stechend ins Gesicht sprühte, drehte er sich zu ihr hin und sagte zornig: »Ich hätte jemanden wie dich nicht auf eine so wichtige Mission mitnehmen sollen. Du bist zu ungeniert. Du solltest unter Deck bleiben, statt uns lästig zu fallen. Und daß du dich Yu-ying nennst, das paßt mir auch nicht.« Ihr Name war ein Streitthema zwischen ihnen, seit sie ihm gesagt hatte, so habe eine Freundin ihrer Mutter aus ihrer Zeit in China geheißen. Darauf sagte er nur: »Ich dachte, du hättest dich von deiner Familie gelöst wie ich. Aber du hast dir einen Namen ausgesucht, der dich ständig an sie erinnert.« Dann bestand er darauf, sie in ihrer engen, kleinen Kabine zu nehmen. Es war in der Mitte des Vormittags, 582
und alle außer ihnen selbst waren an Deck gegangen, um frische Luft zu schnappen. Die stickigheiße Kabine hatte acht Schlafkojen, in einen Raum gezwängt, der kaum zweieinhalb Meter hoch und ebenso lang war. Es war nicht genug Platz, um zu zweien in eine Koje zu klettern, weshalb Ho von ihr verlangte, daß sie sich gegen das Bullauge lehnte und ihren Pyjama herunterzog. Sie tat es rasch aus Furcht vor einer Entdeckung und mußte zugeben, daß es guttat, wie er sie stieß, aber dann platzte eine alte Frau in die Kabine – an der Tür war kein Schloß – und statt wieder hinauszugehen, zeterte sie los, daß sie kein Recht hätten, es hier in der Kabine so schamlos zu treiben! Einen Augenblick lang haßte Yu-ying den jungen Mann, der ihr Geld verspielte und sie vor einer alten Frau bloßstellte. Doch ihr Groll wurde gleich darauf von Neugier abgelöst, als sie vom Deck herunter den Ruf »Land! Land!« hörten. Sie gingen nach oben und sahen, wie die verschwommenen blauen Umrisse von Inseln in der Malakkastraße vor dem Bug auftauchten. An diesem Abend, bei Sonnenuntergang, saß Yu-ying auf dem fächerförmigen Schnabel im Heck. Während Ho einen Spiegel vor sie hinhielt, schnitt sie sich das Haar. Sie hatte es in der letzten Zeit wachsen lassen (seit ihrem ersten Rendezvous mit Chamlong, als er es in fiebernder Lust streichelte), doch nun, nach China unterwegs, stutzte sie es bis auf die Höhe der Ohrläppchen und schnitt die Ponyfransen einen Fingerbreit über den Augenbrauen gerade. Er sagte: »Tut mir leid wegen heute vormittag. Es hat mich einfach gepackt.« Und mit einem kurzen, schüchternen Blick antwortete sie: »Mich auch.« 583
Doch am nächsten Tag – die Insel Blakang Mati lag steuerbord, und Ho blickte in die Richtung des Hafens von Singapur, der gerade in Sicht kam – sagte er zu ihr, von nun an müßten sie sich ganz ihrer Mission widmen. Denn die Botschaft, die er bei sich trug, sei von entscheidender Bedeutung für Nai Pridi Phanomyong, diesen zu Unrecht geschmähten Führer und großen Helden, in dessen Händen die Zukunft Siams, der Chinesen und der kommunistischen Partei in Siam liege. Es war eine würdevolle kleine Ansprache, und wieder einmal sah Yuying ihn voll Bewunderung und Hoffnung an. Diese Ansprache Hos wird ihr viel später wieder einfallen. Doch vorerst vergaß sie dies wie alles andere im Getriebe und Getümmel des Hafens von Singapur. Nachdem das Schiff am Kai angelegt hatte, führte Ho sie (nach ihren Instruktionen, denn er war noch nie hier gewesen) durch das Hafengelände nach Chinatown. Auch hier konnte sie keinen klaren Gedanken fassen, da zuviel Trubel herrschte. Doch in der Sago Street, der Straße der Toten, gingen ihr zu viele Gedanken durch den Kopf – wie schon bei ihrem früheren Besuch hier zusammen mit ihrer Mutter. Damals hatte sie sich den Tod ihrer Mutter vorgestellt. Diesmal dachte sie an ihr eigenes Sterben, als sie immer wieder stehenblieb und die Auslagen betrachtete. Längs dieser Straße wurden in einer ganzen Reihe solcher Läden für Trauernde Papiermodelle von Häusern samt Mobiliar, Personal und Drachenwolken feilgeboten. Sie blickten beide auf die Laternen, die Weihrauchstäbchen und das Papiergeld, das bei Begräbnissen verbrannt wurde. Dann blinzelten sie zum Obergeschoß dieser Häuser hinauf. Yuying erklärte ihm, wer sich dort oben aufhalte: alte Menschen, die auf blanken Matratzen lagen und aufs 584
Sterben warteten, auf ihre letzte Reise die Treppe hinab zu ihren Särgen. Er spottete über die Sterbehäuser. Schon eher hatten es ihm einige Männer angetan, die in einer Teestube MahJongg spielten. Ein paar Augenblicke sah er ihnen gespannt zu, dann drehte er sich zu ihr um und lächelte. »Du siehst, es ist mir ernst. Ich werde nie mehr um Geld spielen. Gehen wir weiter.« In der Temple Street vor einem Schild mit Teochiubeschriftung – Tow HUAT SIN KEE – sagte Ho: »Warte hier auf mich.« Er trat in den Laden, in dem Geschirr, Staubwedel, Gewürze, Eier, Spielwaren feilgeboten wurden. Als er wieder herauskam, wirkte er wild entschlossen. »Folge mir, aber wenn ich dir einen finsteren Blick zuwerfe, bleib stehen und warte, bis ich zurückkomme.« Dies war nicht der junge Mann, der sich in Bangkok in einem Hotelzimmer verkrochen hatte, und Yu-ying war erfreut darüber. Sie nickte gehorsam und hielt sich einen Schritt hinter ihm, während Ho eine andere Adresse in der Temple Street suchte. Sie kamen zu einer offenen Schmiede. Ein Mann kauerte auf einem Tisch und hatte eine Holzlatte in den Händen, mit der er die Kanten eines Blechstücks umbog. Yu-ying wartete am Eingang, während Ho sich mit ihm unterhielt. Dann kam Ho heraus, begleitet von dem Schmied, einem kräftigen Mann in einer zerrissenen Hose und einem schmutzigen Unterhemd. Sie folgte den beiden durch Chinatown mit seinen Märkten. Aus Kunstgewerbegeschäften, die zur Straßenseite offen waren, drang der kühle, stechende Geruch von Sandelholz, und als Yu-ying plötzlich Vasen und Buddhas erspähte, wurde sie schmerzlich an den Antiquitätenladen ihrer Mutter erinnert. Sie berührte den Tintenstein in ihrer Hosentasche, als die 585
beiden Männer vor ihr in die Upper Cross Street einbogen. Sie traten in einen Gebrauchtwarenladen. Yu-ying lehnte sich an eine grüne Wand und beobachtete drei Kulis, die mit blitzenden Eßstäbchen über Nudeltellern auf der Erde hockten. Die Ellenbogen auf die Knie gestützt, die nackten Füße parallel gestellt, aßen die drei Männer mit einer Intensität, die ihr bekannt war. Nur die Chinesen essen so, dachte sie – mit vollkommener Konzentration. Wie gläubige Menschen beim Beten. Und dann fiel ihr ein, daß ihre Mutter am Eßtisch das gleiche an ihr beobachtet hatte. »Sonja, du ißt wie jemand, der betet.« Wieder berührte Yu-ying den Tintenstein und starrte auf den Laden, in dem Altpapier, Flaschen, Jutesäcke verkauft wurden. Mutter hatte ja Wanna zum Trost. Als Ho, der Schmied und ein weiterer Mann aus dem Altwarengeschäft kamen, schloß sich Yu-ying an und folgte ihnen durch weitere Märkte, bis sie in einer winzigen Gasse vor einem einstöckigen Haus mit einem durchhängenden Balkon stehenblieben. Zu ihrer Überraschung kam der Schmied näher und sagte: »Komm mit uns. In der neuen Welt werden wir alle gleich sein.« Die Worte wirkten wie eingelernt, mehr rituell als empfunden, doch Yu-ying zögerte nicht – auch nicht, als Ho sie mit einem bedeutsamen, finsteren Blick ansah –, in das Haus zu treten. Drinnen war die Luft mit Holzstaub geschwängert; drei Männer waren damit beschäftigt, Leinwandstreifen an Pantinen zu befestigen, während ein weiteres Trio auf dem Fußboden saß und mit langen, geschwungenen Messern aus Holzstücken Schuhe herausschnitzte. Hinter diesem Raum befand sich ein 586
Lager, und daran schloß sich ein dunkler Gang mit Kämmerchen zu beiden Seiten – Schlafräume für die Holzarbeiter. Hinter diesen Kammern, am Ende des Ganges, war ein größerer Raum, leer bis auf einen Tisch und ein Dutzend an der Wand aufgereihter Stühle. Schweigend nahm der Schmied Platz. Sie und Jin-shi setzten sich ebenfalls. Als die Zeit verging, begann sie, sich zu sorgen, ob der Schmied vielleicht Jin-shi nur vorgegaukelt habe, dies sei der Versammlungsort einer kommunistischen Zelle. Bei ihrem letzten Besuch in Singapur hatte sie mit ihrer Mutter gehört, wie ein alter Engländer die malaiischen und chinesischen Banden schilderte, die die Stadt terrorisierten, Leute entführten, Drogenhandel und Prostitution in der Hand hatten. Mit sichtlichem Behagen und sehr anschaulich beschrieb er die Kämpfe zwischen den Gangs auf den Straßen, wobei sie oft mit Säure gefüllte Glühbirnen aufeinander schleuderten. Zwei geschlagene Stunden lang saß Yu-ying neben Jinshi. Der Schmied saß teilnahmslos da, ohne sich zu regen, und starrte nur vor sich hin. Yu-ying hatte Hunger und Durst. Dann standen unvermittelt zwei Männer in der Tür und blickten sich um, ehe sie in den Raum traten. Sie zogen Stühle an den Tisch und setzten sich Ho Jin-shi gegenüber. Yu-ying warfen sie nur einen ganz flüchtigen Blick zu. Einer der beiden begann sofort mit einem kurzen Vortrag. Er sprach von der Notwendigkeit bewaffneter Erhebungen überall in Asien. Hier in Malaya, sagte er, würden die britischen Imperialisten und ihre malaiischen Lakaien schon bald den Grimm chinesischer Patrioten zu spüren bekommen, die gegen die Japaner gekämpft und dann hätten erleben müssen, wie ihnen nach Kriegsende ihr rechtmäßiger Anteil an dem Land weggenommen wurde. 587
Gut gesprochen, dachte Yu-ying. Ganz ähnlich wie die Rede, die Jin-shi ihr auf dem Schiff gehalten hatte. Ausgezeichnete Männer, Kämpfernaturen. Eigentlich aber interessierte sie der andere Neuankömmling mehr. Er hatte etwas Besonderes an sich – ungesund, doch faszinierend. Etwas Böses ging von ihm aus, etwas Beängstigendes, was sich nicht beschreiben ließ. Er könnte ein Killer sein, dachte sie. Er saß steif auf seinem Stuhl, die Hände über der Brust gefaltet, als wollte er sie schützen. Er ließ Ho Jin-shi keinen Augenblick aus den Augen. Plötzlich unterbrach er die Darlegungen des andern und sagte zu Jin-shi: »Zeige mir mal diese Botschaft.« »Ich kann den Umschlag nicht öffnen, weil er versiegelt ist«, sagte Ho. »Aber hier ist mein Legitimationsschreiben.« Er reichte ihm ein zusammengefaltetes Blatt Papier über den Tisch, und der Mann las es sorgfältig. Dann schleuderte er das Papier auf den Tisch und fragte Ho in barschem Ton nach seinen Plänen. Offensichtlich war er der Boß. Ho sprach von seiner Absicht, anschließend nach Schanghai zu fahren, worauf der Boß den Kopf schüttelte. »Nein. Das ist Quatsch.« Ebenso emphatisch erklärte er, warum. Dieser Pridi, dieser siamesische Politiker, sei ja vielleicht tatsächlich in Schanghai, viel eher aber habe er sich wohl aus der Stadt abgesetzt – Tschiang Kai-schek habe dort gerade eine neue Kampagne gegen subversive Elemente gestartet. Denunzianten und Spitzel betätigten sich in den Fabriken, den Schulen, den Organisationen der Kaufleute, sogar unter den Bettlern und Hafenarbeitern. Die Geheimpolizei würde einen Siamesen rasch erkennen und auf eine Art und Weise verhören und liquidieren, daß außer Gott niemand die Leiche wiedererkennen würde. 588
Überrascht hörte Yu-ying das Wort »Gott« aus dem Mund eines solchen Mannes. Der Boß fuhr fort, Pridis vermutliches Verhalten zu analysieren. Die Genossen hätten ihn sicher davor gewarnt, in Schanghai zu bleiben, und er sei wohl in den Norden in ein befreites Gebiet gezogen. Als Ho fragte, wohin, zuckte der Boß mit den Achseln. »Stell das doch selbst in Tsingtau fest. Dort mußt du anfangen, nicht in Schanghai.« Der Mann hob warnend einen Finger. »Du mußt von dem Schiff herunter, auf dem du gekommen bist. Hol deine Sachen. Wir treiben dir einen Küstendampfer nach Tsingtau auf.« Dann musterte er Ho kurz und sagte: »Warum bist du aus Siam weg?« »Um Ministerpräsident Pridi diese Botschaft zu überbringen.« »War das der einzige Grund?« forschte der Boß weiter. Ho blickte Yu-ying an, als suche er Rat bei ihr. Dann sagte er: »Ich habe einen Mann umgebracht. Einen Agenten der Regierung.« Es war das erstemal, daß er zu jemand anderem davon sprach. Yu-ying war sich dessen gewiß. Er hatte nicht einmal Wan-li etwas davon gesagt, weil er befürchtete, einen Fehler begangen zu haben. Die Männer, sogar der Schmied, lächelten. Der Mann, der mit dem Boß gekommen war, bemerkte: »Auch hier werden viele umgebracht werden, bis die Arbeit getan ist. Seit einem Vierteljahr haben wir jetzt den Malaiischen Bund, aber bedeutet das etwa die Freiheit?« Der Boß gab mit einem Räuspern zu verstehen, daß die Zusammenkunft beendet war, aber der andere sprach weiter. »Wir gehen in den Dschungel und greifen sie von dort aus dem Hinterhalt an. Wir werden sie aus ihren Jeeps rausschießen, wir werden ihnen in der Dunkelheit die Hälse durchschneiden, ihnen die Brunnen vergiften und 589
die Warenlager niederbrennen. Die Briten wurden von den Japanern herausgeworfen, aber jetzt kommen sie zurück und bilden sich ein, sie können sich nehmen, was sie wollen, und den Rest den Malaien überlassen – den Malaien, die es sich unter den Japanern gutgehen ließen. Und die Chinesen, laßt sie doch schuften wie die Hunde, die sie ja sind.« »Gehen wir«, sagte der Boß verdrießlich. Als der andere nicht zu reden aufhörte, wiederholte er barsch. »Gehen wir«. Ho und Yu-ying gingen zum Schiff zurück, um ihre Habseligkeiten zu holen. Ho sagte triumphierend zu ihr: »Ich habe recht damit getan, ihnen zu sagen, daß ich diesen Agenten umbrachte.« »Inwiefern?« fragte sie. »Sie haben nicht verstanden, daß ein so junger Mann mit solch einer wichtigen Mission beauftragt wurde. Ich mußte ihnen beweisen, wer ich bin. Stimmt’s nicht?« »Ja«, meinte sie. Doch ihre Gedanken wanderten von Jin-shi zu dem Mann zurück, der soviel gesprochen hatte. Er hatte vor nichts Angst außer davor, seinen Stolz zu verlieren. Sie selbst hatte einmal über das Thema Stolz nachgegrübelt – damals in der Schule, als man ihr einzureden versuchte, sie müsse das Kreuz der Menschen tragen, die die Jungfrau von Orleans verrieten. An diesem Abend stand sie am Fenster eines schmutzigen Zimmers an der Pagoda Street – Ho war schon eingeschlafen – und schrieb dann im Schein grellen Neonlichts auf chinesisch in ihr Tagebuch: Es heißt, wenn man morgens beim Aufstehen das Gesicht 590
nach Norden wendet, bringt das Unglück und ein verkürztes Leben. Aber morgen werde ich es tun und den Göttern trotzen. Am nächsten Morgen wandte sie beim Aufstehen das Gesicht nach Norden. Seit der Küstendampfer in Tsingtau eingetroffen ist, scheint alles schiefzugehen. Ein Zollbeamter verlangte von ihr, das Amulett, das sie trug – die Liebesgöttin aus Terrakotta an einem billigen Kettchen –, als Einfuhrgut zu verzollen. Er behauptete, das Amulett sei aus Gold, nicht aus Terrakotta, und drohte, sie zurückzuweisen, als sie widersprach. Nachdem sie das Zehnfache dessen, was das Amulett wert war, bezahlt und einen vernichtenden Blick von Ho erhalten hatte, trat Yu-ying aus dem Zollschuppen und empfing ihren ersten Eindruck von China. Sie hatte sich wahrhaft etwas anderes vorgestellt – nicht graue Mauern und matschige Straßen unter einem grauen Himmel. Seit Jahren hatte Yu-ying von den winzigen Bogenbrücken, den nebelumwallten Bergen und den mit Ziegeln gedeckten Palästen geträumt, wie sie in den Büchern abgebildet waren, die Mutter in ihrem Geschäft hatte. Sie stellte sich gern ihren Vater in diesen Szenen aus den Sung- und Mingepochen vor: Ein gutaussehender Mann in einem eleganten, brokatgesäumten Gewand, mit einem langen Schwert, das an einer mit Edelsteinen besetzten Scheide baumelte, und mit einer Schriftrolle in der Hand saß vor einem Herrenhaus mit roten Säulen unter einem Pfirsichbaum. Ein Phönix, Symbol der Erneuerung, trank aus einem nahe gelegenen Teich, in dessen Oberfläche sich Päonienblüten spiegelten, Sinnbilder der Liebe. Dieses Traumbild hatte sich für Yu-ying in ein 591
erhofftes China von altertümlicher Schönheit übertragen, ganz anders als das, was sie in den ersten Augenblicken in Tsingtau zu sehen bekam: Mauern, von denen der Putz abblätterte, Abfallhaufen, schwitzende Rischkakulis. Doch es war keine Zeit, sich der Enttäuschung hinzugeben – sie mußten die hiesige Parteizelle ausfindig machen, und dort mußte dann Yu-ying das Sprechen übernehmen, denn Ho kannte kein Wort Nordchinesisch, und hier sprach niemand Teochiu. Vielleicht wurden sie deswegen mit Desinteresse behandelt, weil sie, eine Frau, das Gespräch mit dem Parteibeauftragten führen mußte. Der Mann hatte noch nie etwas von Pridi gehört und auch keine Ahnung, wo man ihn finden könnte. Er schlug vor, sie sollten es in Hsipiap’o in der Provinz Hopei versuchen, wo sich das kommunistische Oberkommando befinde – beziehungsweise vergangene Woche befunden habe. Vor kurzem sei Loyang erobert worden, und Kaifeng stehe unter Belagerung, so daß Mao vielleicht daran denke, sich in eine der beiden Städte zu begeben. Die Situation sei im Fluß. Es war eine Lagebesprechung, wie Yu-ying sie in den folgenden Tagen noch oft zu hören bekommen sollte. Nach Hsipiap’o zu kommen war bereits ein Problem für sich. Der Bahnknotenpunkt, von dem aus es nach Norden ging, war Tsinan, doch war der Zugverkehr von dort aus von den Truppenbewegungen abhängig. Die militärische Situation zwischen Tsinan und Städten im Norden wie Hsipiap’o wechselte in rascher Folge. An der Kopfstation in Tsingtau wartete eine gewaltige Menge. Im Rangierbahnhof stand ein Zug, der Dampf aus der Lokomotive zischte, und Yu-ying fragte Ho, ob ihm der Zug nicht auch wie ein gewaltiger Drache aus Stahl vorkomme, doch Ho gab keine Antwort, schien sie gar nicht zu hören. Daß er sich hier nicht in Teochiu verständigen konnte, hatte sein Selbstvertrauen wieder 592
erschüttert, und manchmal spürte sie an ihrem Ärmel den leichten Druck seiner Finger, nach Beistand suchend, ohne daß es ihm bewußt war. Sie spürte, wie sehr er sie brauchte. Daran erinnert sie sich in dem überfüllten Abteil, während der Zug dahinrattert. Der Waggon ist nicht viel mehr als ein Viehwagen, da man die Bänke herausgerissen hat, um mehr Platz zu schaffen. Mehrere hundert Menschen sind hier zusammengepfercht, sitzen mit angezogenen Beinen auf dem Boden. Durch Ritzen in den Bodenbrettern kommt warme Luft, und Yu-ying spürt den Luftstrom an ihrer Baumwollhose. Häufig wirft sie einen Blick zu Ho hin, der von ihr getrennt wurde, als sich die Menge wie verrückt auf den Zug stürzte. Er hockt ein Stück weit von ihr entfernt und ist nahe daran einzuschlafen. Ho ist dunkler als die meisten dieser Chinesen aus dem Norden, hat ein schmaler geschnittenes Gesicht und feinere Züge. Über seinem Kopf ist, vom Fenster umrahmt, ein Paar baumelnder Beine zu sehen mit Sandalen aus Autoreifengummi an den Füßen – auf den Dächern der Waggons sitzen Hunderte weiterer Fahrgäste. Die Menschen preisen sich glücklich, daß sie Tsingtau überhaupt verlassen konnten. In der vergangenen Woche ging wegen kommunistischer Sabotageakte kein einziger Zug, und in der Woche davor war die Strecke nach Tsinan, etwa vierhundert Kilometer, nur für Militärtransporte befahrbar gewesen. Eine junge Bäuerin mit rundem Gesicht ist gegen Yuying gepreßt. Sie erzählt, daß sie einen Besuch in Tsingtau gemacht habe, weil ihr Mann, der sich dort aufhalte, erkrankt sei. »Das ist aber schlimm, daß er krank ist«, bemerkte Yuying. »Nein, es ist gut so. Wenn er nicht krank ist, prügelt er 593
mich nämlich. Aber mit dem Prügeln hat es jetzt ein Ende.« Die junge Frau flüstert Yu-ying ins Ohr: »Ich bin jetzt Mitglied des Frauenbunds der Achten Feldarmee.« »Ihr habt Kommunisten in eurem Dorf?« »Die Achte Feldarmee kam bei uns durch und bildete Ausschüsse. Dann zog sie weiter. Von Kommunisten weiß ich nichts. Aber er wird mich nicht mehr prügeln«, sagt sie stolz. »Wenn sich heute in meinem Dorf ein Mann schlecht aufführt, knüpft ihn sich der Frauenbund vor …« »Und was geschieht dann?« »Die Frauen fesseln ihn und sperren ihn auf ein paar Tage in einen Lagerraum. Dann wird er für seine Verbrechen abgeurteilt. So geht das bei uns. Und wir lernen lesen. Ich lerne pro Tag vier Schriftzeichen«, sagt sie stolz. Yu-ying lächelt sie an. »Was sagst du zum Krieg?« »Wir sind nicht sehr oft davon betroffen«, antwortet die junge Frau mit einem Achselzucken. »Meine Freundin wurde einmal von einem Soldaten vergewaltigt, und ungefähr zehn Männer hat man zum Kämpfen weggeholt. Das ist alles.« »Für welche Seite kämpfen sie?« »Ich weiß es nicht.« »Aber du bist für die Achte Feldarmee?« »Ja«, sagt die Frau voller Überzeugung. »Sie hat die Ausschüsse geschaffen, und manchmal kommt einer ihrer Kaderleute und spricht zu uns über ein neues Leben.« Plötzlich runzelt sie die Stirn. »Sie sagen, wir können den Mann heiraten, den wir wollen. Sie sagen, wir sind keine Sklavinnen für die Männer mehr. Glaubst du das?« »Ja«, sagt Yu-ying und bemerkt, daß von der anderen Seite des Abteils her eine alte Frau sie anstarrt. 594
»Wenn mein Mann nicht zurückkommt, heirate ich einen anderen«, erklärt die Bäuerin. »Ich werd’ mir einen Mann suchen, der mir jeden Tag Schriftzeichen beibringt, bis ich lesen kann wie ein Mann.« »Dann wünsche ich dir, daß dein Mann nicht zurückkommt.« Die junge Frau kichert und mustert Yu-ying. »Du bist nicht von hier. Ich merke es daran, wie du sprichst. Und du sprichst auch langsam.« »Das kommt davon, weil ich eure Sprache nicht oft gesprochen habe.« »Was sprichst du denn?« »Teochiu.« »Noch nie davon gehört. Bist du verheiratet?« Yu-ying zögert. »Ja, er sitzt dort drüben.« »Der schlafende Dünne? Er sieht auch nicht so aus, als wäre er von hier.« Die junge Bäuerin lehnt sich her und wispert: »Sei vorsichtig hier in der Gegend. Es heißt, daß die Kämpfe schon bald schlimmer werden.« Der Zug hat angehalten, mitten auf dem Land. Kein Haus ist in Sicht. Minuten später, als alle Mitfahrenden ausgestiegen sind, blickt Yu-ying bestürzt über die Ebene, die sich ohne jede Erhebung und eintönig braun bis zum fernen Horizont dehnt. So hat sie sich China nie vorgestellt; als eine düstere Grenzenlosigkeit, die selbst die des Himmels zu übertreffen scheint und nun die Hunderte aussteigender Fahrgäste gleichsam verschluckt. Ein paar klapprige Lastwagen warten in der Nähe auf einer staubbedeckten Straße. Einige der Fahrgäste – nicht viele – feilschen darum, mitgenommen zu werden, während die Mehrzahl sich mit ihren Flechtkörben voll 595
Hühnern und mit alten Koffern zu Fuß aufmacht. Yu-ying sieht der Frau mit dem runden Gesicht nach, wie sie die Straße entlanggeht. »Noch ein paar Plätze frei!« brüllt ein Fahrer, der auf dem Trittbrett seines Lasters steht und in der Faust Geldscheine hochhält. Yu-ying überlegt, ob die Lastwagenfahrer vielleicht das Gleis zerstört haben, um sich Geld zu verdienen, oder ob es Soldaten waren und wie lange es wohl dauern wird, bis die Schäden repariert sind. Die Fahrt ist zwar teuer, aber der Fahrer will nach Tsinan, und so zahlt Yu-ying für sie beide den geforderten Preis. Sie berät sich nicht einmal mit Jin-shi. Der Fahrer nimmt keine Dollars der Nationalisten an, nur Renminbi – von den Kommunisten gedrucktes Geld. Zum Glück hat sie der Parteivertreter in Tsingtau gewarnt, daß man auf dem flachen Land in Schantung beide Arten von Geld braucht. Ein Pfandleiher in Tsingtau wechselte ihr Singapur-Dollar in die beiden Sorten um. Sie steigen auf den Lastwagen, finden aber keine Plätze zum Sitzen mehr, während die Mitfahrenden sie verdrossen mustern, als sie ihre Füße vorsichtig an winzigen freien Stellen neben der aus Latten bestehenden Rückwand des Lasters unterbringen. Mit einem Ruck setzt sich das alte japanische Vehikel in Bewegung. Durch eine Staubwolke erkennt Yu-ying die junge Bäuerin mit dem runden Gesicht. Diese erwidert fröhlich ihr Winken, als wäre sie zu einem Picknick unterwegs. Hoffentlich, denkt Yu-ying, bekommt sie einen Mann, der ihr das Lesen beibringt. Sie wirft einen Blick auf Jin-shi. Diese Frau möchte sicher keinen so schwächlich wirkenden Burschen als Ehemann, selbst wenn er sie ein paar Schriftzeichen lehren könnte. Und Jin-shi spricht 596
nicht nur kein Wort Mandarin, er kann auch nicht gut lesen. Aber es ist nicht seine Schuld, sondern die seines Vaters. Yu-ying starrt hinaus auf die vorüberziehende Landschaft, auf die Karos der Weizen- und Zwiebelfelder, die Apfelbaumgärten und die kleinen Bohnenpflanzungen – flach, flach, der vollen Wucht der Sonne ausgesetzt. In Siam mildert das Blattwerk der Bäume und Büsche die Hitze und gewährt Schatten, und immer sind Farben zu sehen, bietet sich Abwechslung dem Auge dar. Aber hier läßt sich die Landschaft mit einem einzigen flüchtigen Blick erfassen. Mit jedem Kilometer, den sie dahinrumpeln, wird Yu-ying niedergeschlagener. In ihrem Unterleib setzen dumpfe Schmerzen ein. Yuying weiß sofort, was mit ihr geschieht. Sie zählt rasch nach. Richtig. Wenn das Blut kommt, ehe sie von dem Laster heruntersteigen, wird vor den Augen der hier zusammengepferchten Menschen ihre Hose naß werden – wenigstens ist sie dunkelblau. Eine halbe Stunde später hat Yu-ying Gewißheit. Ein Gefühl der Mattigkeit überkommt sie. Nichts auf der Welt wäre jetzt so wohltuend wie ein Bett, auf dem man sich in die Kissen kuscheln könnte. Dann beginnt plötzlich der Motor zu stottern, und der Lastwagen kommt rüttelnd zum Stehen. Alles wartet schweigend. Wieder und wieder betätigt der Fahrer den Anlasser, bis die Batterie den Geist aufgibt. Die Menschen auf der Ladefläche beginnen gerade hinabzuspringen, als der Fahrer aussteigt und herbeikommt. Er hat eine Pistole in der Hand. Im ersten Augenblick glaubt Yu-ying, er sei ein Bandit, doch als die Fahrgäste aufgebracht ihr Geld zurückfordern und er die Herausgabe ablehnt, wird klar, daß die Pistole 597
seinen Anspruch auf das Geld untermauern soll. Dabei sind es noch viele Kilometer bis nach Tsinan. Die Pistole setzt sich durch: Fünfzig Menschen beginnen einen Fußmarsch die Straße entlang. »Zuviel Gepäck«, murmelt Jin-shi und nimmt seinen Koffer in die Hand. Sie hebt ihren eigenen hoch, der etwas kleiner ist. Sie trotten hinter den anderen einen von Weiden gesäumten Weg dahin, der in westlicher Richtung führt. Die dumpfen Schmerzen gehen in Krämpfe über, manchmal so heftig, daß sie stehenbleiben muß. Schließlich, als sie an einer Gruppe Holzapfelbäume vorbeikommen, nutzt sie die Gelegenheit, hinter einen Baum, der ein Stück weiter entfernt steht, zu schlüpfen und die Hose auszuziehen. Sie hat sich in Singapur Tampons besorgt. Als sie dann auf den Weg zurückkommt, empfängt sie ein finsteres Gesicht. »Schau«, sagt er und blickt nach vorne. »Sie sind schon viel weiter, sogar die alten Frauen.« »Das sind alte, kräftige Bauersfrauen.« Yu-ying setzt sich matt auf die Erde. »Hast du vor, jetzt eine Rast zu machen?« »Ich sagte dir doch, ich habe meine Monatsregel.« Jin-shi setzt sich ebenfalls auf den Boden. »Wer weiß, wo wir sind? Ich hab’ noch nie so eine Landschaft gesehen. So weit und nichts zu sehen. Dort hinten, meinte ich zuerst, da wären ein paar niedrige Hügel, aber es waren nur Hütten. Darin leben Menschen. Hier ist alles ganz anders als in Siam. Wir stellen die Hütten wenigstens auf Pfosten. Kannst du jetzt weitergehn?« Als sie nach einigen Kilometern wieder am Straßenrand niedersinkt, sagt er gereizt: »Ich hätte dich in Tsingtau zurücklassen sollen. Nach dem Überbringen der Botschaft 598
hätte ich dich dann holen können. Vielleicht ist es am besten, wenn ich allein weitergehe und du dort auf mich wartest.« Yu-ying hat kaum je zuvor solch schlimme Krämpfe gehabt. Sie spürt kalten Schweiß auf der Stirn, Übelkeit überkommt sie. Doch sie nimmt alle Kraft zusammen, blickt ihn an und erklärt gelassen: »Wie du meinst, geh allein weiter. Aber wer übernimmt dann das Sprechen?« Der Rest des Tages folgt demselben Muster: ein oder zwei Kilometer Fußmarsch, ein erzwungener Halt, die peinigenden Schmerzen, sein Schimpfen, ein langes, gespanntes Schweigen. Als die Dämmerung kommt und sie ein Dorf erreichen, klopf Yu-ying, von der Verzweiflung getrieben, an die Tür eines Bauernhauses. Sie bittet um etwas zu essen und ein Nachtquartier. Der Bauer sieht sich das junge Paar an und schließt die Tür. Beim dritten Versuch findet sich eine junge Frau bereit, sie zu verköstigen und im Stall des Maultiers schlafen zu lassen, aber nicht für Geld: Jin-shi holt zwei Päckchen Zigaretten aus dem Koffer, und nach längerer Diskussion mit einer alten Frau, die auf einem Strohsack liegt, willigt die jüngere ein. Der Imbiß aus gesalzenem Schweinefett und Weizenbrötchen wird mit heißem Wasser hinuntergespült. Der Stall bietet kaum Platz genug für das Tier und sie beide, doch das Maultier, offensichtlich müde, ist brav, und das Stroh gibt ein gutes Lager ab. Erst als sie ihn im Schlaf langsam und gleichmäßig atmen hört, erlaubt sich Yu-ying, an etwas anderes als an ihre Schmerzen zu denken. Nein, er ist nicht echt wie Gold. Wie konnte ihr nur einfallen, sich in ihn zu verlieben? Und doch, wie sie Jin-shi im Mondschein daliegen sieht, findet sie ihn noch immer anziehend. Aber sie kann ihm nicht vertrauen, sie 599
kann ihm nicht einmal anvertrauen, was sie den ganzen harten Tag hindurch im Inneren so erregt hat. Sie hat vor ihm geheimgehalten, daß Schantung die Provinz ihres Vaters ist. In Tsinan verlebte er seine frühe Jugend, und südlich von Tsinan starb er auf dem heiligen Berg T’ai-schan und südlich von T’ai-schan, wo in Küfu seine Armee stand, stellte er sich auf dem Schlachtfeld dem Schicksal. Hier in dieser Provinz ist die ganze Vergangenheit ihres Vaters konzentriert.
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unming: In der Frühphase des chinesischjapanischen Krieges, bevor Pearl Harbor alles veränderte, fanden Männer von fanatischer Überzeugung und Männer ohne jegliche Überzeugung, Visionäre wie Verlierertypen, Abenteurer wie Mitläufer ihren Weg in diese schwer zugängliche Stadt am Rand des südwestlichen China. Anfang 1939 kam Philip Embree nach Kunming, getrieben von dem Verlangen nach Veränderung, was er jedoch vor sich selbst unter dem Mantel eines idealistischen Engagements für die Freiheit Chinas verbarg. Nachdem er monatelang die kargen Berichte in den Bangkoker Zeitungen gelesen hatte, erklärte er Vera, er fühle die Pflicht in sich, für China gegen die Japaner zu kämpfen. Sie nahm diesen Entschluß auf, als hätte sie ihn schon seit langem erwartet. »Philip, wir wissen doch beide, daß du deiner Natur nach ein Söldner bist«, sagte sie beinahe leichthin, und als er beteuerte, sein Vorhaben habe mit Geld nichts zu tun, fügte sie hinzu: »Das Abenteuer, das ist es, wofür du dich verdingst, Philip.« Und so kam er vor neun Jahren hierher nach Kunming, um sich Oberst Stilwells Verband anzuschließen. Bis auf den heutigen Tag erinnert er sich, wie er zum erstenmal die Landesbewohner der Provinz Yünnan zu sehen bekam, die Lolos in ihren roten Hosen, mit ihrem Silberschmuck und den gewaltigen Hüten aus lacküberzogenem Stroh. Sie wanderten das Bahngleis entlang, als müßten sie sich in seiner Nähe halten, um überhaupt irgendeinen Kontakt mit diesem Jahrhundert zu bekommen. Diesmal kommt er nicht mit einem klapprigen Zug an, 601
sondern in einer Militärmaschine, aber ohne die Absicht, sich irgendeiner Truppe anzuschließen. Als er unten auf der braunen Ebene das Flugfeld sieht, erinnert er sich an die alten Tage in Kunming, an die betagten P-40»Tomahawks«, mit englischer Tarnfarbe bemalt, die hier in einer Reihe aufgestellt waren, bereit, binnen fünf Minuten gegen die japanische Luftwaffe anzutreten. Es war eine romantische Zeit. Chennaults Staffeln wurden die »Höllenengel«, die »Pandabären«, die »Adams« und »Evas« getauft, und ihre Piloten, jeweils auf ein Jahr verpflichtet, setzten ihr Leben für eine undurchsichtige Organisation namens CAMCO aufs Spiel. Sie waren echte Söldner, bis dann der Überfall auf Pearl Harbor sie in Patrioten verwandelte. Embree leerte mit ihnen so manches Glas im Restaurant Nam Ping, üb es das Lokal noch gibt? So oder so – ich werde es nicht aufsuchen, nimmt er sich vor. Zu viele Erinnerungen an Männer, die schon lange tot sind. Und trotzdem würde es Spaß machen, eine Weile allein Kunming zu durchstreifen. Er erinnert sich an einen Singer-Nähmaschinenladen im Ostteil der Stadt und an ein Kodak-Geschäft in der Nähe, in dem es anscheinend nie Filme zu kaufen gab. Die Häuser waren mit Ziegeln gedeckt und hatten Holzwände in metallischem Rot oder Blaugrün. Als Embree das Flugzeug verläßt, sieht er einen jungen Mann in Uniform, der auf ihn zugelaufen kommt. »Mr. Embree.« Nach einem kurzen Händedruck deutet der Leutnant auf ein schwarzes Auto, das vor dem winzigen Flugplatzgebäude geparkt ist. »Wenn Sie bitte mitkommen wollen.« In einem schmuddeligen Raum weisen ihn Offiziere von MAGIC, der »Military Advisory Group in China«, in 602
seine Mission ein. Von dieser Gruppe der amerikanischen Militärberater in China ist eine kleine Einheit von sechs Männern dem Konsulat hier attachiert. Hintereinander legen sie ihm die Bürgerkriegssituation in China dar, ohne sich zuerst zu vergewissern, was er bereits weiß. Ein junger Marineleutnant erläutert eingangs den Versuch der Amerikaner, nach der Kapitulation Japans von Japanern erobertes Territorium in China den Nationalisten zu übergeben und es nicht in die Hände der Roten fallen zu lassen. Als nächstes schildert ein Armeeleutnant, wie 1946 die Marshall-Mission Mao und Tschiang zur Bildung einer Koalitionsregierung zu bewegen versuchte. General Marshall habe im Grunde auf das Entstehen einer dritten Partei in China, gebildet aus patriotischen Liberalen, gehofft, die vielleicht den Ehrgeiz der beiden großen Lager wirkungsvoll in Schach halten könnte. »Patriotische Liberale«, damit meint der Offizier Männer, die in China nirgends an die Rampe traten. Philip Embree hätte diese Bezeichnung auf bestimmte Männer zwanzig Jahre früher in China angewandt, insbesondere auf den Mann, unter dem er selbst gedient hatte: General Tang Schan-teh. Er könnte diesen eifrigen jungen Männern erzählen, daß andere politische Analytiker lange vor einem amerikanischen General den Liberalismus als Lösung empfohlen hatten. Er könnte ihnen sogar seine eigene Meinung bieten, eine recht düstere: daß der Liberalismus in China noch nie eine Chance hatte, weil das katastrophale Ausmaß der Schwierigkeiten immer zu revolutionären Lösungen geführt hat. Statt dessen nimmt Embree das Angebot eines guten Kentucky-Bourbon an. 603
Nun gibt ein Sergeant von der Armee seine eigene Lagedarstellung: Die Unfähigkeit nationalistischer Armeekommandeure habe zu der gegenwärtigen militärischen Krise geführt. Nach der japanischen Kapitulation habe die Regierung ganze Armeen demobilisiert, während die Kommunisten in höchster Eile Truppen in die mandschurischen Städte warfen, um sie sich zu sichern. Als die Kämpfe ausbrachen, hätten die Roten die Strategie verfolgt, feindliche Verbände zu isolieren und sie dann einen nach dem anderen zu erledigen. Und was tat die Regierung? Sie spielte unabsichtlich den Roten in die Hände, indem sie bewußt Truppenverbände auseinanderriß. Schuld daran war Futterneid. Ranghohe Generäle konnten es nicht ertragen, daß andere ihresgleichen über besser ausgebildete Truppen verfügten, namentlich jene, die während des Zweiten Weltkrieges in Burma von amerikanischen Beratern geschult und ausgerüstet worden waren. Dies hatte zur Folge, daß zum gemeinsamen Kampf ausgebildete Männer auf schlecht koordinierte Einheiten verteilt und – sie, die Elitesoldaten – von den neuen Kommandeuren oft damit bestraft wurden, daß sie Wachdienst schieben mußten. Neununddreißig erstklassige Divisionen erlitten dieses Schicksal; zahlreiche hervorragende Regimenter wurden abgelegenen Garnisonen zugeteilt und eins nach dem andern von kommunistischen Truppen überwältigt. Der Sergeant, ein magerer, mürrisch dreinblickender Mann, beginnt zu lächeln. Sein Bericht über Korruption und Dummheit scheint seine Stimmung zu heben. Die militärische Kommandospitze der Nationalisten unterließ es, Einheiten, die durch Krankheit und Verluste geschwächt waren, aufzufüllen, abgesehen von einer höchst primitiven Form der Aushebung: Preßpatrouillen trieben in Dörfern die jungen Männer zusammen, ketteten 604
sie aneinander und trieben sie fort. Viele von ihnen starben an Hunger und Mißhandlung, noch ehe sie ein Militärlager erreichten. Die Militärorganisation der Kuomintang besaß keine zentrale Ausbildungsstätte, kein System der Ersatzbeschaffung, keine logistische Struktur. Die größte Leistung der Quartiermeister bestand darin, dem Feind die Wege zu ebnen. Viele von ihnen verkauften Material an die Roten und wurden dadurch reich. Da gab es beispielsweise diesen Skandal um das von den Vereinigten Staaten im Rahmen des Leih-und-Pacht-Abkommens gelieferte oktanreiche Benzin, das auf irgendwelchen Wegen in ein Depot der Roten Armee in der Mandschurei gelangte. Überhaupt kam das von den Amerikanern gelieferte Kriegsmaterial während des Zweiten Weltkriegs nur selten gegen die Japaner zum Einsatz, sondern wurde zumeist von den Nationalisten gehortet. Tschiang Kai-schek betrachtete es als ein Geschenk, das er in seinem Privatkrieg gegen die kommunistischen »Banditen« einsetzen konnte. »Und was den Kampfeinsatz betrifft …« Der Sergeant rollt dramatisch die Augen. Wegen des Grabenkriegs gegeneinander wollte keiner der Kommandeure Männer und Waffen und damit sein Prestige aufs Spiel setzen. Lieber ein Rückzug als ein Gesichtsverlust. Warlords nutzten den Krieg dazu, sich in China wieder eine Machtposition zu verschaffen – sie schossen aus dem Boden wie Unkraut. Aber selbst der Stab des Generalissismus war nicht von Kampfgeist erfüllt. Die Abteilung G-3 zum Beispiel lernte es nie, Truppen und Gerät richtig einzusetzen. Man hortete Proviant, Soldaten und Geld, selbst wenn man wußte, daß sich vielleicht eine Niederlage durch den Einsatz der zur Verfügung stehenden Mittel abwenden ließ. Auf dem 605
Rückzug hinterließ G-3 in der Regel die Ausrüstung, in Depots ordentlich eingelagert, um sie zu zerstören, damit sie nicht dem Feind in die Hände fiel. Bei Beendigung seiner Litanei strahlt der Sergeant fröhlich. Ein weiterer Offizier, gefolgt von noch einem, setzt die Einweisung fort, bis Embree sich drei Bourbons hinter die Binde gegossen hat. Plötzlich unterbricht er die Darlegungen mit der Frage: »Ist Wen Yi-to noch hier hin Kunming?« Da keiner von ihnen weiß, wer Wen Yi-to ist, holt einer den Ranghöchsten, einen Hauptmann der Armee zurück, der sich inzwischen empfohlen hat. Wenige Minuten später – Embrees Glas ist wieder aufgefüllt – kommt der Hauptmann herein. »Wer?« fragt er mit schläfrigen Augen. »Wen Yi-to. Er war ein Dichter, ein Professor, der hier unterrichtete.« »Ich habe von ihm gehört«, sagt der Hauptmann trocken. »Er hat zahlreiche Reden gegen die Regierung gehalten. Nach dem Krieg wurde er ein Radikaler.« »Ich dachte es mir fast.« Embree erinnert sich an eine Vorlesung, die Wen Yi-to hielt und bei der er, für einen Professor undenkbar, eine Zigarette nach der andern rauchte. Seine Studenten liebten ihn. »Eines Tages hielt er eine Gedenkrede für einen Freund, der ermordet worden war.« »Von Kuomintangagenten?« Der Hauptmann nickt. »Und als er am Abend das Büro der Demokratischen Liga verließ, wurde er von einer Gruppe Gangster erschossen.« Der Hauptmann versucht zu lächeln wie jemand, der sich anschickt, auf das 606
eigentliche Thema des Gesprächs zu kommen. »Jetzt was anderes«, sagt er. »Wir hätten gern, daß Sie sich mit jemand Bestimmtem unterhalten. Ich weiß, daß Sie ihn kennen, weil er Sie en passant erwähnt hat. Wir möchten von ihm, daß er sich ein bißchen betätigt wie Sie demnächst – Sie verstehen, er soll sich einen Überblick über das heutige China verschaffen. Er ist ganz schön herumgekommen, genau wie Sie. Deshalb wäre uns natürlich seine Meinung zu gewissen Dingen sehr wertvoll.« »Sie wollen, daß ich ihn dazu bringe?« »Ja, das hätten wir gern.« »Und um wen handelt es sich?« »Robert Grafton, früher bei der Armee wie Sie. Er lebt hier in Kunming.« Embree lacht leise vor sich hin und schüttelt den Kopf. Von all den Männern, die er gekannt hat, war es Bob Grafton am ehesten zuzutrauen, daß er hierblieb. »Wann kann ich ihn sehen?« fragt Embree, zum erstenmal an diesem Tag beflügelt. Embree wartet vier Tage. Wenn er will, daß ihm die Regierung bei der Suche nach dem Mädchen hilft, muß er dafür einen Preis zahlen. Man wird ihn hier in Kunming festhalten, bis er sich mit Grafton unterhält. Der Haken ist der, daß Grafton geschäftlich unterwegs ist. Sein Fuhrbetrieb ist mit acht Lastwagen der größte in der ganzen Provinz Yunnan. MAGIC zeigt sich verschlossen, was die Vorkehrungen für dieses Treffen betrifft. Embree hat den Verdacht, daß sie die Sache inszenieren, um Beschäftigung zu haben. Kunming ist bislang noch vom Bürgerkrieg unberührt, und seine ländlich-friedvolle Atmosphäre muß den MAGIC-Leuten auf den Nerv 607
gehen. Schließlich erhält er in seinem Zimmer (auf dem amerikanischen Konsulatsgelände) die Nachricht, daß Grafton zurückgekehrt sei und sich mit ihm treffen wolle. Embree besteht darauf, ohne Begleitung zum Hotel du Lac zu gehen, obwohl ein paar der MAGIC-Typen beunruhigt über eine solche Demonstration der Unabhängigkeit wirken. Vielleicht hilft ihm ein bißchen Freiheit, die Niedergeschlagenheit abzuschütteln, die ihn seit ein paar Tagen heimsucht. Er hat sich besorgt gefragt, ob die MAGIC-Agenten auch wirklich ihren Teil der Abmachung einhalten und das junge Paar abfangen werden, wenn das Schiff im Hafen von Schanghai eintrifft. Sein Ersuchen um eine entsprechende Bestätigung hat nur vage Zusicherungen bewirkt. Der Hauptmann gab im übrigen zu verstehen, wieviel Hilfe ihm MAGIC gewähren werde, hänge davon ab, ob es ihm gelinge, Grafton anzuwerben. Aber wenn sie es auf diese Tour versuchen, wird er den ganzen Krempel hinwerfen und die Sache selbst in die Hand nehmen. Es ist ein unfreundlicher Tag, vielleicht der letzte mit bewölktem Himmel, ehe sich bis zum Spätherbst in ununterbrochener Folge ein wolkenloser Tag an den anderen reihen wird. Die Burschen von MAGIC hätten vielleicht zur Abwechslung ganz gern ein paar Gewitter. Dabei ist Kunming durchaus ein hübscher Ort, zumindest in den besseren Gegenden. Er riecht den ätzenden Rauch von Holzkohlenfeuern in den Zinnschmelzhütten gleich außerhalb der alten Stadtmauern – zehn Meter hohen und drei Meter starken Mauern, die dem Besucher den Blick auf einen anderen Aspekt des Lebens der Stadt verwehren: die Zinngruben. Embree kennt sie von seinem früheren Aufenthalt, sah damals die Kleinen, die dort arbeiteten. Nie wird er die Reihe erschöpfter Kinder vergessen, die mit 608
geschwollenem Hals und grüner Haut, Symptom einer Arsenvergiftung, die Straße entlangwankten. Von ihren Eltern in die Sklaverei verkauft, hausten sie zusammen mit Tieren in jämmerlichen Schuppen ohne fließendes Wasser, ja sogar ohne Latrinen. Kein Wunder, daß sie dem Opium verfielen, zumal die Droge das einzige war, was es in der Provinz reichlich und zu niedrigen Preisen gab. Jetzt riecht er auch den schweren, an Zimt erinnernden Geruch, der durch das Stadtviertel zieht. Die Hälfte der Bevölkerung in dieser Provinz raucht Opium. Und immer, wenn er daran denkt, hat er den Tag damals in Küfu vor Augen, als Vera von ihrem Pferd herab einen Russen auspeitschte, jenen russischen Agenten, der vom Opium zu benebelt war, um sich gegen ihre Reitgerte zu schützen. China. Wie viele Erinnerungen sich damit für ihn verbinden. Wen Yi-to auf einer Straße in Kunming erschossen. Auch hinter dieser Mitteilung steht eine Erinnerung. Embree hat den MAGIC-Männern nichts davon erzählt, wie er und Wen sich in ebenjenem Hotel betranken, zu dem er jetzt unterwegs ist, um Bob Grafton zu treffen. Sag mir bitte, wer die Chinesen sind. Sag mir, wie man die Geschichte festhält. Zeig mir bitte die Größe meines Volkes. Aber sag es mir ganz zart, ganz zart. Das ist aus einem Gedicht von Wen, einem von Embrees Lieblingsgedichten. Die letzte Zeile ist besonders anrührend. Wie kann sich irgendein Land, selbst wenn es so groß und komplex ist wie China, den Verlust solcher Männer leisten? Er ist froh, als weiter vorne das Hotel auftaucht. Es hatte 609
früher ein exzellentes Restaurant, das seinen Gästen riesige schwarze Pilze und gebratene Ente und in Butter geröstete Bienen bot. »Grafton«, sagt er leise vor sich hin, als er das Hotel betritt, »Grafton, du alter Halunke, mach mich gesund.« Grafton sitzt an einem Tisch im gepflasterten Innenhof des Hotels. Er erhebt sich und redet schon, bevor Embree ihn erreicht hat. »Als dieses Bürschchen von MAGIC mir sagte, daß Sie in der Stadt sind, wäre ich beinahe vom Stuhl gekippt Was um Himmels willen haben Sie denn mit diesen Schwachköpfen zu schaffen? Mein Gott, Sie haben sich ja kein bißchen verändert«, sagt Grafton und schüttelt staunend den Kopf. Seit ihrer letzten Begegnung ist Graftons Haar schneeweiß geworden, doch er trägt es noch immer in der Mitte gescheitelt wie ein Footballspieler der alten Ivy League. Außerdem trägt er eine Brille mit einem dünnen Stahlrahmen, und als er beim Händeschütteln breit lächelt, funkelt zwischen den Lippen ein Goldzahn auf. Einen Augenblick lang fühlt Embree sich an das Gold in General Tangs Mund erinnert. Imponierende Männer mit Gold im Mund, geht es ihm durch den Kopf, haben etwas leicht Komisches – aber es macht sie menschlicher, umgänglicher. Dann setzt er sich Grafton gegenüber. Sie bestellen Bier – Grafton sagt, es sei nicht übel –, lehnen sich zurück und betrachten einander mit der Neugier von Männern, die einander zehn Jahre nicht gesehen haben. Auch mit Freundlichkeit, denn sie waren beide Kameraden in Kunming, bevor Amerika in den Krieg eintrat. Hier in Asien schlossen sie sich der US-Armee an als Mitglieder von Stilwells Beraterteam; nachdem der 610
General von seinem Kommando in Kunming abgelöst worden war, blieben sie im Land. Beide arbeiteten beim Bau der Burma Road als Dolmetscher; beide wurden, als der Burmafeldzug begann, chinesischen Einheiten als Verbindungsleute zugeteilt. Dann verloren sie den Kontakt. Den Hauptteil der Unterhaltung bestreitet Grafton; er ist redselig geworden – vielleicht wie die MAGIC-Leute wegen der Isolierung hier. Er ergeht sich in Reminiszenzen an die späten dreißiger Jahre, an Chennault und seine amerikanischen Freiwilligen mit den alten P-40»Tomahawks«. »Wissen Sie noch? Sie hatten einen Allison-Motor, zwölf Zylinder, elftausend PS! Soviel weiß ich noch. Sie schafften in siebentausend Metern Höhe vierhundertfünfzig Kilometer pro Stunde.« »Das hab’ ich ganz vergessen.« Embree spürt, wie er vor Freude darüber, daß er mit einem alten Kameraden beisammen ist, zu lächeln beginnt. »Im Sturzflug erreichten sie solche Geschwindigkeiten, daß es die Tragflächen abriß. Aber im Steigflug waren sie schwach. Man fragt sich, wie die Jungs mit solchem Schrott überhaupt etwas ausrichten konnten. Duke Hedman schoß doch auf seinem ersten Feindflug fünf Japse ab. Wußten Sie schon, daß ich einigen der Maschinen Haifischzähne auf die Nase gepinselt habe?« »Ja, daran erinnere ich mich.« »Ich verbrachte mehr Zeit bei den Jungs dort als in unserer eigenen Unterkunft.« »Sie waren Pfundskerle.« »Und ob! Zu ein paar von ihnen hab’ ich noch Kontakt. Dick Ranny zum Beispiel. Bekam voriges Jahr, glaub’ ich, einen Brief von ihm. Er ist bei PanAm, fliegt noch immer. Sutcliffe ist tot. Er mußte während der Operation Ichi-Go 611
ins Gras beißen. Bei einem japanischen Luftangriff hat’s ihn am Boden erwischt. Blake gibt’s auch nicht mehr. Laut Ranny ist er in Los Angeles bei einem Autounfall umgekommen. War sturzbesoffen, das arme Arschloch.« Grafton lehnt sich zurück und streckt die langen Beine vom Tisch weg. Das Leben an der frischen Luft hat ihm starke Krähenfüße beschert. »Was ich aber nie vergessen werde, ist das Bodenpersonal. Erinnern Sie sich, wie die Leute die Flugzeugrümpfe mit Autowachs polierten? Das machte die Kisten um fünfzehn Kilometer pro Stunde schneller.« »Ja, das weiß ich noch.« Doch das stimmt nicht. Und von den Namen abgesehen, hat Embree auch keine Vorstellung mehr von Sutcliffe und Ranny. Dagegen erinnert er sich gut an Blake – einen hochgewachsenen, groben, ewig fluchenden Piloten und Quartalsäufer, der vor nichts Angst hatte. »Was ich über den Krieg denke« – Grafton leert sein Bierglas – »ist folgendes …« Er hält inne und starrt Embree an. »Denken Sie noch manchmal an den Krieg?« »O ja. Kürzlich war ich ein paar Tage in Burma. Da fiel mir alles wieder ein.« »Wenn Sie mich fragen – die Japse waren zu sehr auf Offensive eingestellt. Hatten keine Ahnung, wie sie sich selbst gegen einen Angriff schützen sollten.« »Erinnern Sie sich an die Burma Road?« Grafton lacht vergnügt. »Ob ich mich daran erinnere? Im Suff oder nüchtern? In sieben Monaten haben wir über zehntausend Kilometer Straße gebaut. Das ist eine Leistung, auf die ich noch heute stolz bin, Phil. Natürlich hatten wir eine Viertelmillion Kulis als Hilfskräfte.« Sie schweigen eine Zeitlang, jeder in seine eigenen Erinnerungen an die Burma Road versunken Am 612
lebendigsten sind für Embree die Bilder von Bergen mit zottigen Krüppelkiefern, an deren Hängen sich eine Serpentinenstraße nach Yung Ping und dann in Richtung auf die Hängebrücke über den Mekong schlängelte. Die Brücke war gerade breit genug für einen einzigen Lastwagen und hing an schweren Kabeln, an beiden Enden eingebettet in betonierte Widerlager. Dreißig Meter weiter unten strömte der Fluß. Dutzende Männer stürzten von diesen Kabeln in den Mekong. Und dann erinnert et sich in die Brücke über den Salween, an Lung-ling mit seinen vorn Monsun aufgeweichten Straßen, an gebrochene Achsen und Laster mit Kriegsmaterial, wie sie Mong Shi und Che-Feng durchquerten und hinabrumpelten in niedriges Hügel- und Sumpfland, wo Tiger und Malaria verbreitet waren. Er sieht vor sich, was sie alle damals auf die Beine stellten, ein paar Briten und Amerikaner, Tausende von Chinesen. Dank dieser Straße blieb der Zugang nach China offen. Kriegsgüter wurden mit der Bahn von Rangun zu einem Depot in der Nähe von Lashio befördert, dann auf Laster umgeladen und über die Grenze bis nach Lung-ling transportiert, wo andere Lastwagen sie übernahmen. Die Burma Road – an alledem hat er teilgehabt. Es trifft zu, was Grafton gesagt hat: Daran kann man sich mit Stolz erinnern. »Was meinen Sie, Phil – können Sie sich mich als verheirateten Mann vorstellen? Meine Frau ist aus Tungch’uang. Wir haben zwei Jungen, Yu-wen und Chenwu.« »Meine Glückwünsche.« Embree freut sich für ihn. »Sind Sie noch verheiratet?« »Ach, das wissen Sie noch? Hätte nicht gedacht, daß ich 613
darüber gesprochen habe.« Grafton bestellt noch zwei Flaschen Bier und rückt seine dünnrandige chinesische Brille zurecht. »Haben Sie auch nicht. Wir dachten uns alle, daß Sie hierhergekommen sind, um sich von irgend etwas abzusetzen.« »Von einer Ehefrau?« Grafton zuckt die Achseln. Embree beantwortet selbst die Frage. »Es stimmt. Ich bin meiner Frau davongelaufen, der Langeweile …« Er beschließt, zu diesem Mann aufrichtig zu sein. »Von meinem verpfuschten Leben.« »Das war bei den meisten von uns so«, stellt Grafton grinsend fest. Er fährt sich mit beiden Händen durch das ungebärdige weiße Haar. Die Unbefangenheit seiner Gesten gibt ihm jetzt eher etwas Jungenhaftes. »Erinnern Sie sich noch an die chinesischen Lastwagenfahrer und wie verrückt diese Teufel gewettet haben? Auf alles mögliche. Ich weiß noch, wie ein paar von ihnen auf das Nummernschild des nächsten Lasters wetteten, der den Berg heraufkam. Oder wie viele Fliegen pro Minute auf dem Kühler landen würden. Verrückte Typen.« »Wo waren Sie in Burma?« »Ich arbeitete an der Ledo Road.« »Der Stilwell Road«, korrigiert ihn Embree mit dem neuen Namen für die Straße. »Jedenfalls, ich hab’ dabei allerhand abgestaubt. Meine Laster stammen alle miteinander von der Ledo Road.« »Wie haben Sie das angestellt?« »Das ist eine lange Geschichte, Phil. Aber jeder einzelne der alten Klapperkästen kommt von dort.« Sie lachen beide leise. »Ich möchte mir schon seit einiger Zeit ein paar Bulldozer zulegen – aber nichts läuft. Ich würde ja 614
einen aus den Staaten kaufen – das könnte ich mir jetzt leisten –, doch die Tschiang-Regierung gibt mir keine Importlizenz.« »Sie können von Glück reden, daß Sie die Lastwagen haben.« »Richtig.« Grafton schlägt mit einer großen, narbigen Faust auf den Tisch. »Sie ahnen ja gar nicht, wie recht Sie haben. Gottverdammtes Land. Seit über dreißig Jahren bin ich hier und versteh’ es immer noch nicht – will es auch gar nicht verstehn. Wie ich die Sache sehe«, fährt er fort, »wird Yünnan wegen der hiesigen Vorkommen an Zinn, Kohle und Eisen künftig eine Menge Straßen brauchen. Und ich werde diese verdammten Straßen bauen. Muß doch dem Nachwuchs was hinterlassen, nicht? Mir ist’s schnurzegal, wer gewinnt, die Roten oder Tschiang. Ist ja sowieso einerlei.« Grafton verschleift die Wörter, da er soviel Bier getrunken hat. »Ein Bekannter aus Schanghai schreibt mir, daß dort jetzt gefälschte amerikanische Dollarscheine auftauchen. Er nimmt an, daß die Chinesen sie auf deutschen Druckplatten herstellen. Sie haben neuerdings ein paar großartige deutsche Fachleute dafür. Jedenfalls, ich bleibe hier im Land. Der Sieger, egal, welche Seite, wird Straßen brauchen.« Wieder schweigen sie. »Okay, alter Kumpel, man hat Sie also hergeschickt, damit Sie mit mir reden.« Da haben wir’s, denkt Embree. »Ja, richtig getippt.« »Schön, dann reden Sie.« »Die wollen das gleiche von Ihnen wie von mir – die Augen offenhalten, was sich so tut. Vielleicht haben sie einen gewissen Respekt vor Leuten, die sich in China auskennen.« Grafton wieherte. 615
»Jedenfalls, diese Leute möchten von uns ein paar gut durchdachte Analysen, was die Chinesen vorhaben, wenn der Bürgerkrieg zu Ende ist, und wie Amerika sich das zunutze machen kann.« »Klar, das könnte ich schon. Aber was kommt bei der Sache für mich raus? Ich halte Händchen mit MAGIC, und jeder verdammte Chinese in dieser Gegend wird davon erfahren. Ich muß neutral bleiben, mein Freund. Wundert mich, daß Sie da mitmischen.« »Was ich tue, tue ich nur, weil ich was dafür bekomme. Gefälligkeit gegen Gefälligkeit, Bob.« »Ach so, sie machen ein Tauschgeschäft. Nun, das sieht man ein.« Nach einem Schluck Bier fährt Grafton fort: »Eines ist allerdings wichtig: Haben Sie sich über China auf dem laufenden gehalten?« »Nicht in den letzten Jahren«, räumt Embree ein. »Ich will Ihnen was sagen, was Ihnen MAGIC nicht erzählt. Wenn man über China auf dem laufenden bleiben will, muß man sich über die amerikanische Politik auf dem laufenden halten.« »Wie meinen Sie das?« »Dewey und die Republikaner wollen Truman schlagen, richtig? Deshalb diskreditieren sie Roosevelts Vereinbarung von Jalta, speziell die Übereinkunft, daß die Russen bei Kriegsende die Mandschurei besetzen durften. Die Demokraten werden beschuldigt, sie ließen zu, daß die Roten Asien überrennen. Ist das klar? Okay, dann beschließt Tschiang Kai-schek, die Schuld an seinen Schwierigkeiten den Russen zu geben, weil sie in chinesisches Territorium einmarschiert sind. Er tut sich also mit den Republikanern zusammen, weil sie auf derselben Seite stehen. Und dann wird Pat Hurley 616
herübergeschickt, um sich umzusehen. Er versteht sich bestens mit Tschiang, und als er mit Mao zusammentrifft, hat er für die Roten kein freundliches Wort. Die Leute von der amerikanischen Botschaft, die die Sache ein bißchen ins richtige Licht rücken wollten, waren nicht gerade Hurleys Meinung, doch der fuhr nach Hause und nannte sie einen roten Haufen. Machte es verdammt schwierig, den Bürgerkrieg in China im richtigen Licht zu sehen. Wenn man Maos Namen nur flüsterte, galt man schon als anfällig für den Kommunismus. So sah unsre Politik hier in China während der letzten Jahre aus. Für Tschiang und die Republikaner.« Grafton beugt sich vor. »Und wenn Sie wissen wollen, wie’s weitergeht, mein Freund, dann müssen Sie auch mal dies bedenken: Wir sind beinahe so weit, China abzuschreiben.« »Wirklich?« »Eis ist wahr. Wir sind dabei, China aufzugeben. Und es leuchtet auch ein, wenn man sich’s überlegt. Je inniger unser Verhältnis zu den Japsen wird, desto weniger brauchen wir China. Solange China nicht rot wird, ist uns alles scheißegal. Klar?« »Ich kenn’ mich nicht aus mit der amerikanischen Politik.« »Natürlich. Sie sind wie ich. Wir haben beide die Vereinigten Staaten seit Jahren nicht gesehen. Aber aus den Augen, aus dem Sinn, das geht nicht mehr. Ich beschaffe mir möglichst viele Informationen über die USA. Weil ihre Politik sich darauf auswirkt, wie es mir hier in Kunming geht.« Grafton legt den Kopf schief. »Sie Einfaltspinsel. Die nutzen Sie doch nur aus.« »Das weiß ich.« »Diese Burschen bei MAGIC haben Schiß, etwas zu 617
sagen, aber wenn sie nicht irgendwas sagen oder es wenigstens schwarz auf weiß haben, und in China wird die Situation brenzlig, mein Freund, dann wirft man ihnen zu Hause vor, daß sie es nicht schon vorher gewußt haben. So steht die Sache. Wenn das Schiff am Sinken ist, brauchen sie Kerle wie Sie – Leute, die das Land kennen, die ankommen und sagen: ›Paßt mal auf, das Schiff ist am Sinken.‹ Dann brauchen sie selbst nichts zu sagen. Sie können es aufschreiben, und wenn einer im Senat oder sonst jemand sagt: ›Hört mal, warum habt ihr uns nichts davon gesagt?‹, dann brauchen Sie nur Berichte wie den Ihrigen rauszuholen und zu sagen: ›Hier steht alles, Senator. Sie hatten die Information ja die ganze Zeit.‹ Aber was passiert mit Ihnen, wenn Sie die Wahrheit sagen, wie’s hier steht? Vielleicht werden dann Sie als Roter hingestellt!« »Danke, Bob. Aber ich bekomme was dafür, und was man in den Staaten über mich sagt, kann mir gestohlen bleiben.« »Es könnte einmal die Zeit kommen …« »Ich muß die Sache machen, Bob. Es ist eine Verpflichtung. Aber danke für Ihren freundschaftlichen Rat.« Grafton zuckt die Achseln und legt beide Hände mit einer entschiedenen Geste auf den Tisch. »Okay, Phil. Sie waren immer ein Typ, der weiß, was er will.« Embree hätte über diese irrige Meinung am liebsten aufgelacht. Statt dessen wechselt er das Thema. »Sagen Sie«, fragt er, »wie steht es mit den Zinngruben?« »Die sind so ungefähr das einzige, was hier funktioniert.« »Und die Kinder gibt’s noch?« »Die arbeiten immer noch dort. Ich meine, es werden 618
immerzu neue angeliefert. Alles beim alten.« Im Konsulat berichtet Embree dem Hauptmann von MAGIC nur, daß seine Bemühungen, Grafton anzuwerben, zu nichts geführt hätten. Dann hakt er noch wegen des jungen Paares aus Bangkok nach. Spät am nächsten Tag trifft ein Telegramm aus Nanking ein, in dem Embree mitgeteilt wird, daß die Agenten bislang kein Glück gehabt haben. Ein zweites Telegramm, ein paar Minuten später aufgegeben, weist MAGIC KUNMING an, einen Flug mit einer Militärmaschine für Mr. Philip Embree, Bestimmungsort Nanking, zu arrangieren. Drei, vier Tage vergehen in der Botschaft in Nanking. Jeden Vormittag sucht Embree die politische Abteilung auf. Für die Tage des Wartens hat MAGIC ihm eine Aufgabe zugewiesen: Er befragt Chinesen, die hereingebracht werden. »Um Sie mit der heutigen Umgangssprache vertraut zu machen«, erläutert einer der MAGIC-Leute. All diese Menschen kommen aus Territorien, die von den Roten beherrscht werden, aus sogenannten befreiten Gebieten, und kennen aus eigener Anschauung die von den Kommunisten durchgeführte Bodenreform. Sie schildern, wie geschickt Mao es versteht, die Kleinbauern für den Frieden ebensogut wie für den Krieg zu mobilisieren, wie die Kader in Dörfern, wo noch vor ein paar Wochen das Chaos herrschte, Ordnung schaffen. Embree merkt schon bald, daß MAGIC diese von ihm zu befragenden Personen sehr sorgfältig ausgesucht hat. Offensichtlich soll er den Eindruck gewinnen, daß die Nationalisten hoffnungslos korrupt und die Kommunisten potentiell tüchtige Leute seien. Und das erwünschte Fazit? 619
Die amerikanische Regierung kann sich eine gewisse Position in China erhalten, wenn sie Tschiang Kai-schek ihre Unterstützung entzieht und ein gutes Verhältnis zu Mao kultiviert. Grafton hatte also recht. MAGIC möchte einen solchen Bericht zum Vorzeigen haben, falls später überprüft werden sollte, was die Organisation geleistet hat. Philip Embrees Mitwirkung würde mithin dem Ziel dienen, Leute in Machtpositionen abzuschirmen Es überrascht ihn nicht weiter, denn wozu ist ein Söldner denn da? Letzten Endes laßt ihn dieses Intrigenspiel kalt. Schließlich ist er ja mit einer ganz anderen Mission unterwegs. Und dann erreicht ihn ein Telegramm aus Bangkok, das man ihm aus Schanghai nachgesandt hat: ANKOMME SCHANGHAI BESTELLT PALACE VERA
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JUNI
ZIMMER
Embree verlangt den Führungsoffizier zu sprechen. Als er und Major Heflin Platz genommen haben, sagt Embree: »Ich habe mit Ihren Leuten in Bangkok einen Tauschhandel verabredet. Gefälligkeit gegen Gefälligkeit. Ihre Jungs in Schanghai haben das Mädchen bisher noch nicht ausfindig gemacht, und ich sitze hier in Nanking fest.« Heflin nickt freundlich. »Es ist nicht so leicht, in Schanghai jemanden zu finden. Aber sie geben sich Mühe.« »Das genügt mir nicht. Wenn Sie es nicht schaffen, muß ich es selbst übernehmen. Und die Leute, die Sie mir zum Befragen schicken, haben schon mit vielen Amerikanern gesprochen. Sie wissen, was man von ihnen hören will. Das ist reine Zeitverschwendung.« 620
»Ich kann Ihre Ungeduld durchaus verstehen. In Washington gab es mit Ihrem Auftrag eine Verzögerung. Tut mir leid.« Embree stellt seine Teetasse auf den Tisch und beugt sich vor, um aufzustehen. »Aus dem Geschäft wird nichts.« »Warten Sie einen Augenblick, bitte. Wir mußten uns ja Gewißheit über Sie verschaffen. Wegen der Sprache und so weiter. Sie kommen sehr gut zurecht, besonders mit den Chinesen aus dem Norden. Und Sie sind politisch neutral. Wenn Sie mit Leuten sprechen, dann nicht, weil Sie eigene, geheime Gründe haben.« Heflin gießt Tee nach und fährt fort: »Vielleicht sind Sie insgeheim ein Patriot, obwohl ich verstehe, daß Sie so was nicht zugeben würden. Aber Sie könnten wirklich einen Beitrag leisten. Sie haben das Talent rauszubekommen, wie der Mann auf der Straße denkt.« Dieses Bild belustigt Embree. Außerhalb der großen Städte gibt es in China keinen »Mann auf der Straße«; es gibt den Mann auf dem Feldweg, auf der gepflasterten, auf der schlammbedeckten Gasse. »Sie machen sich keine Vorstellung, welchen Dienst Sie unserem Land erweisen könnten«, fügt Heflin hinzu. Es wäre ein Dienst für MAGIC, denkt Embree. Doch die beherrschte Art des Majors hat ihn besänftigt. »Gut, ich halte meinen Teil der Abmachung ein, aber meine Stieftochter geht vor. Ich muß sie finden, wenn Ihre Leute dazu nicht imstande sind.« »Es ist verständlich, daß Sie in diesem Punkt so denken. Wir geben Ihnen eine Woche Zeit für Ihre eigenen Angelegenheiten. Und wir leisten Ihnen Hilfestellung – Flugreisen, Geld, solche Dinge.« »Drei Wochen.« 621
Heflin lacht. »In drei Wochen könnte die ganze Sache hier zu Ende sein. Zwei.« »Ich möchte in Schanghai anfangen. Vielleicht muß ich auch in die Provinz Schantung.« »Einverstanden. Aber wir möchten, daß Sie in zwei Wochen mit uns Kontakt aufnehmen, hier oder in Schanghai. Ich verlasse mich auf Sie.« »Keine Sorge. Sie bekommen schon, was Sie möchten.« Am nächsten Vormittag erkundigt sich Embree, einem Riecher folgend, wann das Telegramm von Vera ankam. Dem Zeitstempel zufolge ist es vor mehr als einer Woche in Schanghai eingetroffen. Wie ihm gesagt wird, wurde das Kabel nicht sofort weitergeleitet. Entschuldigungsgrund »kriegsbedingte Umstände«. Embree kommt zu dem Schluß, MAGIC NANKING habe ganz einfach das Telegramm zurückgehalten, bis aus Washington Bescheid kam, daß man ihn für eine Mission einsetzen könne. Da sie sich jedoch noch immer nicht schlüssig sind, wohin sie ihn schicken sollen, überläßt ihn Heflin zwei Wochen sich selbst. Wenn er dann die MAGIC-Leute wieder aufsucht, werden sie einen Bericht der gewünschten Art aus ihm herausholen. Heflin hat gestern beim Abendessen die Katze aus dem Sack gelassen. »Wir möchten, daß Sie in Gebiete gehen, die von den Roten beherrscht werden. In welche genau, können wir noch nicht sagen, weil die Situation sich ständig ändert.« »Es könnte schwierig werden, hineinzukommen.« »Nicht so schwierig, wie Sie sich das vielleicht vorstellen. Die Roten haben bisher Ausländer gut aufgenommen.« 622
»Aber es könnte sein, daß sie mit zunehmenden Erfolgen weniger freundlich werden. Wie auch immer – ich soll mich also mit den Leuten unterhalten.« »Besonders mit kommunistischen Offizieren auf Kompanie- und Bataillonsebene. Wir brauchen Informationen über die Taktik, über die Beziehungen zwischen Offizieren und Mannschaften. Wir möchten einfach wissen, wie tüchtig die Roten sind.« Er hielt inne, auf Embrees Reaktion wartend. Und Embree reagierte richtig, wie er wußte. »Ich glaube, ich weiß schon, wie ich es angehen werde. Ich will damit sagen, daß ich ihre strategische Philosophie kenne. Sie brechen an der schwächsten Stelle durch, schlagen rasch hintereinander eine Reihe von Schlachten und ziehen sich wieder zurück. So haben sie schon 1939 gegen die Japaner gekämpft. Der einzige Unterschied besteht darin, daß sie heute stärker sind. Aber Sie wollen ja Namen, geographische Daten, Befragungen von Leuten. Sie wollen es schwarz auf weiß haben, daß sie im Sommer 1948 detaillierte Kenntnisse über die Roten hatten.« Heflin nickte befriedigt. »Sie sind genau richtig für diesen Job.« »Wenn ich meine Stieftochter nicht finde, möchte ich, daß Ihre Leute sich weiter bemühen.« »Wird gemacht.« Heflin lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und lächelte. »Übrigens, gehn Sie Schwierigkeiten aus dem Weg, wenn Sie nach ihrer Stieftochter suchen. Sie könnten mit den Nationalisten mehr Scherereien bekommen als mit den Roten.« »Komisch finde ich«, erwiderte Embree ebenfalls mit einem Lächeln, »daß Ihre Leute bei den Einweisungsgesprächen kein Wort darüber verloren, was passiert, wenn ich freigekauft werden müßte.« 623
»Das wundert mich nicht. An Freikauf ist nicht zu denken.« Embree, bemüht, sich keinerlei Überraschung anmerken zu lassen, lächelt nur. »Tut mir leid«, sagte Heflin, »aber aufgrund Ihrer Kriegserfahrung können Sie unsere Position ja wohl verstehen.« »Appellieren Sie nicht an den ›verborgenen Patrioten‹ in mir, Major. Vielleicht gibt es ihn nicht. Wenn ich also im Gefängnis oder sonst einer unangenehmen Situation lande, lassen Sie mich hängen?« »Geht leider nicht anders.« Morgen fliegt er also nach Schanghai – zwei Wochen Freiheit. In diesen letzten Stunden fährt er auf einer Rikscha durch die breiten Boulevards der Stadt. Gott sei Dank, daß er von MAGIC weg ist. Immerhin haben ihm die Leute ein Dokument verschafft, das ihn als Mitarbeiter der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ausweist. Gestern gab es eine lange Diskussion darüber, welche Identität er in frontnahen Gebieten annehmen solle. Die UNRRA, hinter der sich früher Agenten auf dem Kriegsschauplatz versteckten, ist eben aufgelöst worden. Die WHO ist neu in China, was bei chinesischen Amtsträgern, die allem neuen mit Mißtrauen begegnen, Argwohn erwecken könnte. Andererseits befaßt sie sich mit der Bekämpfung von Epidemien und mit Volkshygiene – neu oder nicht, das wird den Chinesen zusagen. Also hat Philip Embree sich in einen Sendboten der WHO verwandelt. Er hat auch eine neue Staatsbürgerschaft: einen holländischen Paß. Da Chinesen höchstwahrscheinlich mit einem Holländer keine Vorstellung verbinden, ist dies 624
sicher eine gute Entscheidung. Embree, der die Muße genießt, läßt sich jetzt zum Purpurhügel hinausfahren, um einen Blick auf das gewaltige Mausoleum für Sun Yat-sen zu werfen. Das riesige Grabmal kommt hinter einer Baumgruppe in Sicht. Embree ersteigt die Hunderte sanft ansteigender Granitstufen zur Gedenkhalle in Gesellschaft weiterer Besucher. Viele von ihnen sind Regierungssoldaten in wattierten blauen Jacken, ausgeblichenen Hosen, schmutzverkrusteten Tuchgamaschen und häufig mit den müden Augen und zusammengezogenen Lippen unterernährter Menschen. Vor zwanzig Jahren, als China noch ärmer war als heute, waren die Soldaten aus General Tangs Armee besser ernährt und gekleidet. Als Embree oben ankommt, wirft er einen kurzen Blick auf die weißen Marmorwände und das blaue Ziegeldach des Mausoleums, dann auf ein paar gemeißelte Worte von Sun und zum Lobe Suns. Ideale, in Stein gehauen, so leblos wie Stein, und dennoch hat er etwas Großartiges und Bewegendes, dieser Versuch, einen Mann unsterblich zu machen, der ein treuer Patriot, doch ein zweitklassiger Denker war. Er spaziert ins Freie und genießt den Ausblick auf die Berge jenseits einer baumreichen Parkanlage. Könnte es nicht sein, überlegt er, daß unter andersgearteten Umständen Tang Schan-teh eine ähnliche Ehrung widerfahren wäre – in Gestalt eines imposanten Grabmals an einem Berghang? Embree setzt sich auf eine Stufe, die Ellenbogen auf die Knie, den Kopf in die Hände gestützt. Früher hätte er in einer solchen Stimmung vielleicht Kontakt zu Harry gesucht, doch Harry spricht nicht mehr zu ihm. Embrees Gedanken nehmen eine andere Richtung. Was wäre wohl geworden, wenn Vera ihn damals in 625
Hongkong verlassen hätte und nach China zurückgekehrt wäre? Was, wenn Tang am Leben geblieben wäre? Wenn sie die Beziehung zu dem General wiederaufgenommen hätte? Hochinteressante Fragen. Wäre alles so gekommen, hätte er selbst vielleicht eine bessere Chance im Leben bekommen. Ehe er Vera kennenlernte, hatte er ein tätiges Leben geführt, besonders hier in China. Er hatte sich beigebracht, auf einem Pferd zu schlafen, eine Axt zu schwingen, in einer chinesischen Armee voranzukommen. Doch im Zusammenleben mit Vera ließ er sich durch Tage, Monate, Jahre ohne Sinn treiben. Er fragt sich, ob dies vielleicht auch eine Leistung war – mit Gewalt einen schwachen, unentschlossenen Menschen aus sich zu machen. Auf diese Weise ging er selbst mit Philip Embree ins Gericht. Wofür er sich wappnen muß, das ist die Begegnung mit Sonja, falls er sie finden sollte. Falls? Er wird, er muß sie finden. Aber wie soll er sie dazu bringen, nach Bangkok zurückzukehren? Wenn Vera in Schanghai ist, dann hat sie vielleicht eine Idee. Ihm selbst fällt nur ein einziges Argument ein: der Gesundheitszustand von Sonjas Mutter. Aber wird Vera zulassen, daß er es bei Sonja auf die Mitleidstour versucht? Das ist sehr die Frage. Es ist durchaus möglich, daß bei Vera ihr Stolz über alles geht. Diese Frau ist ihm ein Rätsel. Kein Wunder, daß er einst alles für sie aufs Spiel gesetzt hat. Seufzend steigt Embree die Stufen zu der wartenden Rikscha hinab. Auf dem Weg nach unten geschieht etwas Sonderbares: Ohne darüber nachzudenken, spricht er laut das Wort »Harry« aus, als ginge jemand neben ihm. Ist Harry zurückgekommen? Natürlich nicht, sagt er stumm zu sich. Doch in China sind die Toten nie sehr fern.
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era steht an der Reling, während der Dampfer sich den Huangpu hinaufschlängelt, Schanghai entgegen, dessen massive Gebäude weiß im Morgendunst schimmern. Vor einer Woche stand sie ebenfalls an der Reling und sah zu, wie das Schiff in die vierzig Meilen lange Zufahrt nach Saigon einlief. Sie bemerkte Anzeichen des Krieges: französische Forts mit Gräben, in denen schlammiges Wasser stand, und Mauern, von Einschußnarben übersät, daneben Rollen von Stacheldraht. Wasserfahrzeuge, von Bumbooten bis zu Luxusdampfern, lagen an den Piers oder aneinander vertäut, der Lärm von Winden knarrte arhythmisch in der feuchten Luft. Vera ging nach Backbord hinüber, wo sie die weißen Gebäude der Stadt sah, viele mit Markisen à la Paris. Auf einigen wehte die Trikolore. Das Hotel Majestic mit seinen gelben Mauern und seiner wuchtigen europäischen Pracht stand am unteren Ende der Rue Catinet, einem Boulevard, den Kastanienbäume und französisch beschriftete Verkehrsschilder säumten. Wäre Sonja jetzt hier, dachte sie, dann könnten wir jetzt beide an der Reling stehen und Pläne für den Tag schmieden. »Man nennt Saigon das Paris des Orients«, würde sie zu ihrer Tochter sagen. »Laß uns sehen, ob es diesen Ruf verdient. Saigon ist das Beste, was wir haben, aber du wirst ja Paris erleben.« Vielleicht würde es in Sonja eine Sehnsucht nach Europa wecken, nach der Kunst und der Schönheit einer anderen Welt. »Mistress!« Sie wandte sich um und sah Rama. Er hielt den 627
aufgespannten Regenschirm wie einen Schild vor sich, während er auf sie zugelaufen kam. »Sie bekommen zuviel von der Sonne ab, Mistress.« Rama hob den schwarzen Schirm über ihren Kopf und wedelte mit der freien Hand zu der Brücke des Dampfers hin. »Sie dürfen sich nicht zu sehr der Sonne aussetzen. In dieser Hitze müssen Sie Flüssigkeit zu sich nehmen und ruhen. Sie dürfen nicht zu erpicht auf die Sonne sein, Mistress!« Vera badet sich in seiner Fürsorge. Auf die gleiche besorgte Art hat früher ihre Mutter sie ausgeschimpft. Komisch, aber sie stand wirklich mit unbedecktem Kopf in der Sonne. In all den Jahren, die Vera schon in Asien verbracht hat, ließ sie bis zu diesem Augenblick noch nie ihre Haut ohne Schutz. Am späten Nachmittag saß sie auf der Veranda des Hotels Majestic, nippte hin und wieder an einem Aperitif und las, da es noch hell genug war, in einer Saigoner Zeitung. Dräuend meldete die Schlagzeile: LA MENACE DE BLOCUS DE BERLIN! Die Sowjetunion drohte damit, die Verbindungswege zwischen der Stadt und Westdeutschland zu sperren. »Bolschewiken«, murmelte sie vor sich hin. Auf der Seite gegenüber stand etwas über die Eskalation der Kämpfe in Indonesien, wo kommunistische und nationalistische Gruppen, untereinander zerstritten, sich dem Versuch der Holländer wiedersetzten, die Herrschaft über Ostindien zurückzugewinnen. Vera schlug die Seite um. Hier stand etwas über Korea, wo kürzlich unter der Ägide der Vereinten Nationen Wahlen durchgeführt worden waren. Die Konservativen unter Syngman Rhee hatten die Mehrheit der Sitze in der 628
verfassunggebenden Versammlung errungen und anschließend eine neue Verfassung versprochen, den Protesten der prokommunistischen Elemente im Norden zum Trotz. Wo man hinblickt, Bolschewiken. Tschiang Kai-schek wurde soeben in Nanking in sein Amt als Präsident von China eingeführt, während zugleich die Roten ihren Vormarsch in Nord- und Zentralchina fortsetzten. Man rechnete damit, daß Kaifeng jeden Tag vor ihnen kapitulieren werde. Und in Schanghai kam es zu blutigen Protestaktionen von Studenten gegen die amerikanische Hilfe für den Wiederaufbau Japans. Ausschreitungen, Blutvergießen. Ob Sonja dort war? Die englischen Eisenbahnen verstaatlicht. Sie legte die Zeitung auf den Tisch, voll Sorge, ob Sonja tatsächlich in Schanghai war, ob sie vielleicht arglos durch irgendeine Straße dort spazierte? Und um die Ecke Hunderte aufgebrachter Studenten mit Fahnen und Keulen … Vera dachte über Sonja nach, Sonja nicht nur in Schanghai, sondern auch in Bangkok, vor langer Zeit. Damals machten sie oft neben den Klongs ein Picknick. Unter dem breiten Schatten von Regenbäumen spielten sie Karten oder hielten ein Schläfchen, so nahe beisammen, daß sie einander atmen hören konnten. Ihre warmen Arme berührten einander, was eine nasse Stelle auf der Haut hinterließ. Wo ist Sonja jetzt? In Schanghai? Oder vielleicht inzwischen in der Provinz Schantung, auf der Suche nach dem Mythos ihres Vaters? In Tsinan? Taian? Küfu? Und mit diesem Jungen? »Die Zeitung lohnt das Lesen nicht.« Sie blickte auf. Ein hochgewachsener Mann mit Bart, 629
der gerade diese französischen Worte gesprochen hatte, sah sie an. »Erlauben Sie, Madame?« fragte er, und bevor sie etwas dagegen sagen konnte, saß er ihr schon am Tisch gegenüber. »Heutzutage findet man auf der Veranda des Majestic nur selten jemanden, mit dem sich ein Gespräch lohnt. Ich danke Ihnen, daß Sie mir gestatten, die späte Stunde mit Ihnen zu teilen. Seien Sie versichert, ich empfinde es als ein Privileg.« Die elegante kleine Ansprache entlockte Vera Rogatschewa-Embree ein Lächeln. Sie hatte, wie ihr bewußt war, von jeher eine Schwäche für Lebensart und kleine Schmeicheleien. Sie schätzte ihn auf fünfundfünfzig oder sechzig. Gut aussehend für sein Alter. Der bärtige Mann rief nach einem Kellner. »Ich möchte das gleiche wie die Dame.« Eine Stunde später kannte Vera das Leben von Monsieur Jules Langlais in Umrissen. Die eine Hälfte des Jahres lebte er hier, wo er französische Delikatessengeschäfte mit Garnelen, Fröschen und Krebsen belieferte. Die andere Hälfte verbrachte er in Saint Cloud am Stadtrand von Paris mit seiner zweiten Frau, die antike Puppen restaurierte. Sie entnahm Monsieur Langlais’ Bericht, daß er und seine Frau mehr durch Geld als durch Passion verbunden waren, aber es war natürlich in Rechnung zu stellen, daß Männer bei anderen Frauen oft einen solchen Eindruck zu erwecken versuchen. Vera hatte längst solche Strategien analysiert, und das Gespräch bei Sonnenuntergang hatte etwas Vertrautes und tat ihr wohl. Als er Vera – sie waren gerade beim Thema der Inflation in Saigon – plötzlich bat, mit ihm zu Abend zu essen, zierte sie sich nur kurz und sagte dann zu. In ihrer Zeit in 630
Schanghai hatte sie oft ein »Vielleicht« vor einem Mann baumeln lassen wie eine Karotte vor einem Affen. Wenn er dann drauf und dran war, das Interesse zu verlieren, hatte sie ein »Ja« geboten – wie ein unverdientes Geschenk. In der Trischa betrachtete sie Jules Langlais’ Hände – feingliedrig, blaß, aristokratisch. Ganz ähnlich wie die Hände der Freunde ihres Vaters in Petersburg. Sein Gesicht war lang und ziemlich düster, zeigte aber ein schönes Lächeln. Vera hatte in den vergangenen Jahren nicht oft ein männliches Gesicht betrachtet. Ihr Blick galt nur den breiten Backenknochen, den zu einem zierlichen Kinn spitz zulaufenden Wangenlinien und dem weichen, braunen, faltenlosen Fleisch junger Siamesinnen. Während sie mit Jules Langlais dahinfuhr, empfand sie sehr stark seine Gegenwart. Jules, der im Sitzen massiger wirkte als im Stehen, war ähnlich wie die vielen Männer, mit denen sie durch die Nächte von Schanghai zu Restaurants, Kabaretts, Schlafzimmern gefahren war. Nein, das heute abend nicht! Doch sie merkte, daß sie lächelte, während die belebten Straßen Saigons an ihrer Trischa vorüberzogen und er sich über den kleinen Krieg in Indochina erging. Sie aßen in einem reizenden Bistro an der Rue Catinet, einem Boulevard, der Vera an das Paris ihrer Kindheit erinnerte, als sie mit ihrer Mutter dort war. Ein Plattenspieler spielte scheppernd die chansons populaires aus dem Nachkriegsfrankreich. Durch das kleine Bistro fluteten die Worte und die Musik des kriegsmüden Paris, gesungen von der Greco, der Piaf, von Trenet und Brassens. Sie brachten Vera Frankreich wieder nahe. Sie trank einen guten Burgunder, während Jules Langlais ihr seine Begegnung mit einem Führer der indochinesischen Rebellen beschrieb, mit dem er kürzlich in Paris 631
zusammengetroffen war. »Haben Sie schon von Ho Tschi Minh gehört?« »Ist er ein Bolschewik?« »Unter anderem. Eigentlich heißt er Nguyen That Thanh. Aber außer Ho Tschi Minh hat er noch andere Namen: ›der General‹, Nguyen Ai Quoc und Mr. C. M. Hoo.« Jules Langlais lachte. »Er ist nicht der Gangster, wofür Sie ihn wegen dieser vielen Decknamen vielleicht halten. Ich bin noch nie einem Menschen wie ihm begegnet. In einem Ministerium in Paris wollte man, daß ein paar Leute, die diese Weltgegend kennen, mit ihm zu Abend essen, und ich gehörte zu den sechs, die man dafür auswählte. Wir holten ihn in seinem Hotel ab, dem Royal Monceau – ziemlich schick für einen Mann, der sein Leben zumeist im Gefängnis oder im Dschungel zugebracht hatte. Es heißt, er ist nur fünfundvierzig Kilo schwer, aber ich würde noch fünf davon abziehen. Sprach ausgezeichnet französisch. Wirklich exzellent. Zitierte Victor Hugo und Verlaine. Es wird behauptet, daß er im Royal Monceau seine Wäsche selbst gewaschen hat. Können Sie sich das vorstellen? Aber nachdem ich drei Stunden lang in einem Restaurant mit ihm beisammensaß, traue ich ihm beinahe alles zu. Ein paar Flaschen Wein, und er begann eine Diskussion über die Existenz Gottes. Sprach sich dagegen aus. Sehr witzig, wie ich mich erinnere. Wir sprachen alle an diesem Abend nur französisch, so daß ihm gar nicht aufging, daß ich Vietnamesisch konnte.« Jules Langlais goß sich Wem nach. Er trank zuviel, stellte Vera fest. Daß Jules Langlais schwache Seiten hatte, war für sie beruhigend. Andernfalls würde sie es kaum schaffen, ihm einen Korb zu geben, obwohl sie eine Frau in fortgeschrittenem Alter und mit einer Herzschwäche war. 632
»Schließlich, am Ende des Abends, sprach ich ihn auf vietnamesisch an und sagte: ›Wenn wir diesen kalten Winter überstehen, dann erleben wir auch den Frühling.‹ Dem kleinen Mann klappte der Kiefer herunter. Das war nämlich ein Zitat aus einem seiner eigenen Gedichte. Er hatte es im Dezember 1946 während einer Sendung der Stimme Vietnams rezitiert. Ich erinnere mich an diese Sendung sehr gut, weil darin zum nationalen Widerstand aufgerufen wurde. Ich zitierte also die Zeile, und das war wirklich das einzige Mal in meinem Leben, daß ich jemanden überrascht habe. Aber ich würde es gern wieder einmal versuchen.« »Was versuchen?« fragte sie lächelnd. »Jemanden zu überraschen. Überrascht es Sie zu hören, daß ich sie anziehend finde?« Und so begann es. Schließlich gab sie ihm doch einen Korb. In der Trischa auf der Fahrt zurück zum Hafen übersetzte Jules Langlais seine enttäuschte Männlichkeit in politischen Pessimismus: Die Franzosen kontrollierten zwar die großen Städte, doch der Vietminh das flache Land. Fremdenlegionäre durchkämmten das Delta auf der Suche nach Terroristen, stöberten aber nur selten welche auf. Was sie vorfanden, waren Bauern, die mit ihren Büffeln die Felder pflügten. Doch nach Einbruch der Dunkelheit ermordeten viele dieser Bauern französische Wachposten mit Bambusspeeren. Sie warfen Vipern und Kobras durch Kasernenfenster. Sie plazierten selbstgebastelte Bomben in Straßencafes. »Es ist ein schmutziger Krieg«, schloß Jules Langlais bedrückt. Als am Ende der Rue Catinet bunte Lampen in Sicht kamen, befestigt an den Plankengängen ihres Schiffes, sagte er: »Möchten Sie wirklich nicht? Wir hatten doch 633
bisher einen wunderbaren Abend zusammen.« »Ja, wunderbar.« »Sie reisen morgen ab. Nächste Woche fahre ich nach Frankreich zurück. Wir werden uns vielleicht nie mehr sehen.« »Ja, wahrscheinlich nicht.« »Es gibt doch nichts dabei zu verlieren, oder? Und alles zu gewinnen – man ist zusammen, man behält eine schöne Erinnerung.« »Sie sind ein reizender Mann, Jules Langlais.« Zum erstenmal berührte ihn Vera – seine schmale, blasse Hand. Wie lange war es her, daß sie einen Mann mit einer Geste berührt hatte, die etwas Vertrauliches hatte? »Ich mag Sie sehr gern. Aber ich bleibe bei meinem Nein.« Doch später auf dem Bett in ihrer Kabine fragte sich Vera, warum sie diesen attraktiven Mann abgewiesen hatte. Es gab doch wirklich nichts zu verlieren. Vielleicht hatte sie sich in den vergangenen Jahren mehr isoliert, als ihr bewußt geworden war. Vielleicht war sie heute abend – wie eine unerfahrene Frau – vor einem sexuellen Erlebnis zurückgewichen, weil sie das Unbekannte fürchtete. Diese Möglichkeit erstaunte sie. Sie leitete daraus ein neues Selbstgefühl ab, als wäre sie im Begriff, mit der Suche nach ihrer Tochter das eigene Leben zu erneuern – sie könnte sogar sagen: es neu zu erschaffen. Dieses Gefühl des Erwachens überkommt Vera eine Woche später, als das Schiff um die letzte Krümmung des Huangpu biegt, der sie nach Schanghai zurückbringt. In dieser Stadt lebte sie vor über zwanzig Jahren als Dirne und Konkubine. Nun blickt sie besorgt über die Kais hinaus, als könnte sie durch das Labyrinth der Häuser und Gassen blicken und Freier und Liebhaber aus alten Zeiten sehen, das Strandgut ihrer Jugend. 634
Im Hotel Palace erwartet sie eine Nachricht auf Briefpapier des amerikanischen Konsulats: »Mr. Philip Embree wird sich sofort nach seinem Eintreffen in Schanghai mit Ihnen in Verbindung setzen.« Sofort nach seinem Eintreffen? Vera ist wütend. Zwei Wochen sind vergangen, und er ist noch nicht einmal eingetroffen! Hat er – wie der romantische junge Narr, der er früher war – sein Vertrauen auf Männer gesetzt, die keinen Finger für ihn rühren werden? Und währenddessen zieht Sonja irgendwo in diesem Land umher, ahnungslos und verwundbar, im Schlepptau eines jungen Burschen, der viel einfältiger und daher gefährlicher ist als irgendein Mensch, den das Kind jemals gekannt hat. Vor zwanzig Jahren – Sonja war noch nicht auf der Welt – stand Vera ebenfalls in diesem Hotel an einem Fenster und blickte mit Schan-teh auf ein Bild hinab, das sich seither kaum verändert hat. Die Wasserfahrzeuge, die sie in diesem Augenblick da unten sieht, könnten durchaus die gleichen sein, die sie damals beobachteten, ehe sie zum erstenmal miteinander ins Bett gingen. Immerhin eine Veränderung im Hafen ist festzustellen: ein amerikanisches Kriegsschiff, an dem die rotweißblaue Flagge mit ihren Sternen und Streifen weht. Es liegt dort drüben zwischen den mit Rudern angetriebenen Sampans und den Dschunken mit ihren Mattensegeln. Amerikaner. Sie haßt sie. Sie haben mitgespielt und dafür gesorgt, ihr die einzige Hilfe zu entziehen, mit der sie Sonja vielleicht hätte finden können. Vera blickt auf das Bett und vollführt eine rasche, schwache Geste der Resignation. Auf einem solchen Bett in eben diesem Hotel umfingen Schan-tehs Arme sie zum erstenmal. Und später dann, als dieselben Arme sie wieder 635
umschlossen, zeugten sie beide das Kind, das zu suchen sie sich jetzt aufgemacht hat. Dann reißt sie sich aus diesen Gedanken. Steh auf, sagt sie stumm zu sich, steh auf und unternimm etwas! Sie laßt Rama aus dem Schlafsaal des Hotelpersonals holen, und eine halbe Stunde später ist sie wieder an der Seeseite zwischen dem Wasser und dem Bund mit seinen grauen viktorianischen Bauten. Sie sitzt auf einem Baumwollballen, während Rama den Schirm zum Schutz gegen die Nachmittagssonne über sie hält. Sie hört nichts von dem Lärm der Straßenbahnen und der hupenden Taxis in ihrem Rücken, da ihre Aufmerksamkeit ganz den schmalen Piers gilt, wo Kulis aus den Bäuchen von Schiffen Fässer, Säcke, Ballen und andere Frachtgüter herausschleppen und wo Passagiere an Land gehen – jeden einzelnen mustern ihre bangen Blicke, in der schwachen, verzweifelten Hoffnung, es könnte sich um Sonja handeln. Am nächsten Tag deponiert sie das Gepäck bis auf einen einzigen Koffer mit den nötigsten Sachen für sie und Rama. Sie wollen mit dem Zug nach Sutschou, dann nach Nanking und mit ein bißchen Glück noch weiter nach Norden fahren, in die Provinz Schantung. Hier in Schanghai, davon ist sie mittlerweile überzeugt, ist nichts auszurichten. Selbst wenn die Amerikaner auf sämtlichen Piers zu beiden Seiten des Huangpu zwei Agenten postierten, könnten sie doch nicht alle Passagiere kontrollieren, die von den einlaufenden Schiffen an Land gehen. Die ganze Nacht hat sie überlegt, was zu tun sei, hat den Schein der Hafenlichter beobachtet, der von der Seeseite heraufdrang und helle Streifen an die Zimmerdecke warf. Sie schaute den Lichtmustern zu, bis ihre Gedanken wie Wasser durch den Kopf schwappten: rastlos, ungeformt, suchend. Und dann gegen Tagesanbruch setzte sie sich kerzengerade hin – alles war 636
plötzlich klar. Ihr Herz wird Sonja in das Bauernland von Schantung führen, auf den heiligen Berg, zum Geburtsort des Konfuzius. Zum Mythos selbst, zu General Tang, ihrem Vater. Vera weiß aus Erfahrung, daß das Reisen in Kriegszeiten ein langsamer, unendlich mühsamer Prozeß ist, bei dem eine Masse Menschen von einem Ort wegbefördert und halb tot an einem anderen abgeladen wird. Sie hat sich für die zwei Stunden Bahnfahrt nach Sutschou gewappnet – sich darauf eingestellt, daß sie ihr vorkommen werden wie zwei schreckliche Tage –, doch zu ihrer angenehmen Überraschung ist der Waggon der ersten Klasse wirklich erstklassig und auch nicht voll besetzt. Die Leute sind nicht begierig danach, in dieser Zeit nach Westen zu reisen, zum Schauplatz möglicher Schlachten in Zentralchina. Und so vermittelt die Fahrt den wenigen Mutigen ein täuschendes Gefühl von Frieden. Die Spitzenvorhänge sind sauber, auf dem Tischchen zwischen den roten Lederbänken steht eine wilde Limone, und ein Zugkellner in weißer Jacke mit ordentlich geschlossenen Knöpfen serviert Tee aus einer Porzellankanne. Rama sitzt ihr gegenüber und sucht mit gespannter Miene die North China Daily News nach Berichten über eine Dürre in Südindien ab. Ja, seit sie in China eingetroffen sind, hat er sie immer wieder inständig gebeten, auch in den chinesischen Zeitungen nach solchen Meldungen Ausschau zu halten. Die Möglichkeit, daß es in Südindien zu einer Dürre kommt, scheint seine Energie aufzuzehren, vielleicht so sehr, daß er während der ganzen Bahnfahrt überhaupt nichts wahrnimmt. Sie möchte, daß er sich daran freut, wenn China sich in seinem schönsten Gewand, die Landschaft in ihrer sommerlichen Pracht 637
zeigen. Sie wünschte auch, ihre Tochter wäre hier neben ihr, so daß sie beide beobachten könnten, wie die Flachboote durch das Netz kleiner Kanäle gestakt werden. »Sieh den dort an«, würde sie zu Sonja sagen, und gemeinsam würden sie einen kurzen Blick auf einen Bauern werfen, der in raschem, rhythmischem Gang Wassereimer zu seinen Reisfeldern trägt, den Kopf nach vorne gereckt, die Augen auf den Boden vor ihm gerichtet, mit den Händen die Stange umklammernd, die leise schaukelt wie ein Zweig im Wellengekräusel eines Baches. »Sieh dir die Bäume an«, sagt sie zu der imaginären Sonja. »In China haben sie Bäume, die in Reihen gepflanzt sind. Es sind keine großen Bündel aus Blättern und Ästen, wie wir sie in Siam haben, sondern hier wachsen sie mit dünnen Stämmen aus der Erde, mit zartgliedrigem Blattwerk. Sie bilden perspektivische Alleen, wie du sie in Europa sehen wirst. Laß deine Augen von ihnen weit fort, weit in die Ferne führen. Sie geben der Landschaft Struktur. Findest du nicht auch?« Und Sonja würde zustimmen oder auch nicht. »Rama«, spricht Vera jetzt den jungen Mann an, der auf seine gefalteten Hände starrt. »Schau hinaus, wie schön alles ist.« »Mistress?« Im Nu hat er sich gesammelt. »Ach ja, hier herüben ist es ganz schön. Gibt es hier auch Dürrezeiten?« »O ja.« »Solche wie bei mir drüben?« »Ich bin überzeugt, sie sind genauso schlimm.« Er nickt und verstummt wieder. »Es wird nichts von einer Dürre in deiner Heimatgegend berichtet«, sagt sie beruhigend. »Vielleicht bleibt sie aus.« 638
»Ach, Mistress, sie kommt bestimmt. Aber ich bitte Gott immerzu um Barmherzigkeit.« »Das ist alles, was wir tun können.« »Ja, Mistress«, pflichtet er bei. »Aber wenn man zu einem Gott betet, ohne daß es hilft, kann man sich an einen anderen wenden.« »Und wie geht das?« fragt sie lächelnd. »Ich bete zu Narayana. Sollte er meine Bitte nicht erfüllen, dann könnte ich mich an Schiwa wenden«, erläutert Rama. »Die Götter sind ja sowieso ein Ganzes, und sie werden tun, was am besten ist. Und dann denke ich mir, daß die Dürre dieses Jahr vielleicht nicht zu hart zuschlägt.« Mit einem Ausdruck matter Hoffnung dreht Rama sich zum Fenster hin und versucht, in sich ein Interesse an der vorübergleitenden Szenerie zu wecken, aber Vera sieht ihm an, daß es ihm nicht gelingen wird. Sie kennt den alten Ausspruch: »Die Himmel haben ihr Paradies, doch die Erde hat ihr Sutschou.« Und als der Zug in den Bahnhof von Sutschou einläuft, wobei sie durch den flirrenden Sonnenglast die Umrisse des Tigerhügels erkennen kann, empfindet Vera tatsächlich die innere Erregung, die eine alte und berühmte Stadt anscheinend immer bei Reisenden hervorruft. Sie spürt sie, obwohl dies nicht ihr erster Besuch hier ist. Erich Luckner brachte sie auf ein Wochenende nach Sutschou. War es im Frühjahr 1926? Die Fahrt führte an Feldern vorüber, auf denen purpurrote Blumen blühten. Niemand im Abteil – lauter Ausländer – wußte, was das für Blumen waren. Purpurrote Blumen und gelber Raps – genauso wie heute –, und dann aus dem Abteilfenster der gleiche Blick auf den Tigerhügel und die Nördliche Pagode. Sie hatte die berühmten Gärten und Kanäle von 639
Sutschou ansehen wollen, doch Erich war mehr auf das Hotel Nalin neugierig, wo sie den ganzen Tag im Bett verbringen und sich hinterher dünngeschnittenen Aal mit Pilzen aufs Zimmer bringen lassen konnten. Wo mag er jetzt sein, der Mann, der mit Ventilatoren und Waffen Geschäfte machte? Vielleicht liebte er sie damals wirklich, mehr als die anderen. Er träumte davon, nach Deutschland heimzukehren, und grämte sich immer über das Geld, das er dafür brauchte. Aber er hatte nie genug, hoffte immer zu sparen und vergaß dabei, was er schon für sie ausgegeben hatte, ganz abgesehen von dem, was sie ihm stahl, um sich gegen das gnadenlose Schanghai zu sichern. Wo mag Erich Luckner heute sein? Vielleicht gestorben wie sicher die meisten von ihnen – ganz gewiß Madame Lotos, diese wunderbare Puffmutter, die Gogol las, und die Mädchen aus diesem Bordell, aus den anderen Freudenhäusern, die Zufallsgefährten bei arrangierten Orgien; und natürlich Yu-ying, die Frau, die Veras Herzen am nächsten stand, auch nur eine Dirne wie sie selbst und, im Gegensatz zu ihr, opiumsüchtig. Und nun hat Sonja offensichtlich ahnungslos Yu-yings Namen angenommen in dem Glauben, sie sei eine große ehrbare Dame in Schanghai gewesen – genau, wie Vera es immer dargestellt hatte. Sie rechnet damit, daß ihr bis zur Weiterfahrt keine Viertelstunde bleibt, um einen kurzen Blick auf die berühmten Platanen von Sutschou zu werfen. Doch ein Schaffner meldet, daß der Zug mit dreistündiger Verspätung abfahren werde. Es gebe Schwierigkeiten auf der Strecke, erklärt er, als Vera ihn fragt, was los sei. Ob die verspätete Weiterfahrt mit roten Banditen zusammenhänge? Er grinst. Drei Stunden, das ist wenigstens etwas. Sie schickt Rama los, eine Trischa zu besorgen. Auf dem 640
Dampfer hat sie ihm die chinesischen Wörter für »Hotel«, »schnell«, »wieviel« und die Zahlen bis hundert beigebracht. Rama lernt rasch, und praktischerweise zeigt er auch eine Begabung, Leute zu kommandieren. Der Platz vor dem Bahnhof ist angefüllt mit Menschen und ihren Habseligkeiten: Kleiderbündel, Geschirr, Weidenkörbe mit Geflügel. Säuglinge weinen, Kinder blicken trübsinnig drein. Auf den Treppen spielen Männer Mah-Jongg. Frauen sitzen mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem heißen Beton und blicken starr zum Bahnhofsgebäude hin, als erwarteten sie ein Wunder. Flüchtlinge aus dem Landesinnern? fragt sich Vera. Aus dem Nordwesten? Sie kniet sich vor eine Frau, die sich ein Kleinkind auf den Rücken geschnallt hat, und fragt, woher sie sei. »Aus Loyang.« »Warum sind Sie von dort weggegangen?« fragt Vera. – »Wegen der Kämpfe.« – »Wo ist Ihr Mann?« – »Gestorben.« – »In Loyang?« »Ja, auf der Straße.« – »Haben ihn rote Banditen umgebracht?« – »Nein.« – »Wer dann?« Die Frau schüttelt langsam den Kopf. »Er wollte Lebensmittel aus einem bereits aufgebrochenen Laden holen. Irgend jemand hat ihn erschossen.« – »Wohin fahren Sie?« Die Frau deutet nach Osten. »Nach Schanghai?« Wieder schüttelt die Frau den Kopf. Sie weiß es nicht. Dann deutet sie noch einmal in die Richtung Schanghai. Vera steigt hinter Rama in die Trischa und weist den Fahrer an, sie zum Garten des Meisters der Fischernetze zu bringen. Zumindest steht diesmal einem langen, geistig erholsamen Blick auf den berühmten Garten keine sexuelle Ablenkung im Wege.
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Auf einer schmalen, von Platanen überschatteten Straße hält die Trischa, und Vera spaziert gemütlich mit Rama durch eine gepflasterte Gasse. Ein alter Mann sitzt vor einem überdachten Hauseingang und bläst auf ein paar grüne Blätter, die in seiner Teetasse schwimmen. Vera blickt kurz zu ihm zurück, während er die dampfende Flüssigkeit schlürft. Das Geräusch, das er verursacht, ist animalisch, herzhaft. Vera lächelt. Sie ist stolz auf ihre Fähigkeit, immer etwas zu finden, worüber sie lächeln kann, sogar jetzt, da ihre Tochter in einem vom Krieg zerrissenen Land verschollen ist. Aus diesem Lächeln spricht, was ihre Vorfahren, die Rogatschews, ihr mitgegeben haben: Durchhaltevermögen. Ob Sonja es ebenfalls hat? Der Eingang zum Garten. Hier bleibt Rama stehen und entschuldigt sich, daß er nicht weitergehen möchte. Er kauert sich in einen Winkel neben Regenschirm und Koffer, offensichtlich nicht bereit, so schnell wieder aufzustehen. Vera zögert. Sie sind bis zu diesem Punkt gemeinsam gereist als Herrin und Diener, als Weggefährten. Aber sie wird das Bedürfnis nach einer Trennung respektieren, obwohl sie erkennt, wie nahe sie einander in den letzten paar Wochen gekommen sind. Er wird ihr fehlen auf ihrem Streifzug durch Wang Shi Yuan. Eine Stunde später legt Vera eine Ruhepause ein und setzt sich auf eine niedrige Bank im »Pavillon der Wolken und des Mondes«. Auf Stützbalken in einen kleinen See vorspringend, bildet der Pavillon optisch den Mittelpunkt des Gartens – ein künstlicher Berg aus Tai-Hu-Felsen südlich davon, nördlich die »Halle, aus der man auf die Kiefern blickt und Bilder betrachtet«, eine Fülle von 642
Bäumen, Sträuchern, Wandelgängen und Ziegeldächern jenseits des Sees vor ihr. Auf dem Wasser schwimmen Glyzinenblüten wie von einer unsichtbaren Hand daraufgestreut. An einem so verzauberten Ort scheint alles an gewollten künstlerischen Effekten möglich. Zum Beispiel erstaunt und entzückt sie ein überdachter Wandelgang, an dem ein Mauerstück frei gelassen wurde, was die Wirkung eines Rahmens für einen Bambushain dahinter ergibt. Wo Vera hinblickt, sieht sie hua chuang, lebende Fenster, so genannt, weil sie natürliche Tableaus von Steingärten, Bäumen und Blumen umrahmen. Allerorten wird ihr Auge getäuscht; alles ist so geplant, daß der Plan dahinter kaum sichtbar wird. Jeden Augenblick trifft Veras Auge auf ein anderes Bild. Jede kleinste Bewegung, die sie tut, bringt einen geneigten Baumstamm, den zackigen Rand eines Steins, ein glattes, weißes Mauerstück ins Blickfeld. Die Sinnestäuschungen werden noch von großen, vollkommenen Spiegeln unterstützt, die den Hintergrund nach vorne transportieren, so daß Vera vor sich sieht, was hinter ihr ist. Päonien, Fächerblattbäume, Wasserschlingpflanzen, Kirsch- und Weidenbäume – die Flora einer abgesonderten Welt. Es ist eine Welt, in der sich zarte Empfindungen mit einer delikaten Kunst verbinden, in der jedes Nützlichkeitsdenken von einem abfällt wie gemeine Alltagssorgen, eine Welt zum Lob des wahren Lebens, die sich dem menschlichen Streben nach Fortschritt und Macht beharrlich widersetzt. Die chinesischen Männer aus der Herrenschicht, die sich Jahrhunderte hindurch an solche Stätten wie Wang Shi Yuan zurückzogen, hatten viel mit ihren eigenen russischen Vorfahren gemeinsam. Sie sprachen dem Wein zu, hörten Musik, kultivierten das Bewußtsein ihres subtilen Empfindungsvermögens. Mauern sind für solche Männer etwas Natürliches. 643
Sie steht auf, wandert um den See, geht mit zwei großen Schritten über eine winzige gemauerte Brücke und betritt das kühle Innere der »Halle der Wolkenbank«. Die südliche Seite besteht zumeist aus Fenstern mit Gitterwerk, und durch das runde in der Mitte blickt Vera jetzt auf den künstlichen Berg, als stünde sie ihm auf einem anderen Berg gegenüber. Aus dieser Perspektive geschieht ihrem optischen Wahrnehmungsvermögen etwas Seltsames. Hat sich der Berg, den sie jetzt anblickt, plötzlich in eine Wolkenbank verwandelt, das Innere der Halle in einen Berggipfel? Es ist so. Natürlich ist es so. Nichts kann diese Wandlung verhindern. Wer den falschen Berg und diese kleine Halle auch ersonnen hat, durch diesen Willensakt hat er dem Wandel Dauer verliehen. Vera betrachtet die Tai-Hu-Felsen vor ihr, ihre Anordnung, die Größe, die Form. Sie sind – jeder von ihnen – nicht nur Berge oder Wolken, sondern auch Tiere und Blumen, und mit der Zeit, im Laufe eines Tages, könnten sie sich vielleicht zu Universen entwickeln. Schan-teh hat ihre verdrehten Formen, ihren optischen Rätselcharakter immer geliebt. Stundenlang konnte er sich in den Anblick labyrinthischer Aushöhlungen versenken, das Werk rasch fließenden Wassers, das Jahrhunderte über die Oberfläche solcher Felsstücke geströmt ist. Er bemerkte öfter, solche Steine in einem chinesischen Garten verkörperten die beiden großen Prinzipien der chinesischen Philosophie: die taoistische Liebe zur Freiheit und das konfuzianische Geschichtsbewußtsein. Tief empfindet Vera in diesem Augenblick, wie sehr er ihr fehlt. Sein Verlust wird an diesem Ort greifbar. Kein anderer Mensch sollte hier an ihrer Seite sein als dieser Mann. Nicht einmal Sonja, die es nie nach einsamer Schönheit 644
verlangt hat, nach der mauerumhegten Versenkung in Stätten des Schönen, an denen das Herz hängt. Ein solches Verlangen setzt den Wunsch nach Abkehr von der gewöhnlichen Welt, den Glauben an den Wert eines Lebens in der Einsamkeit voraus. Sonja hat nie die tiefsten Quellgründe einer Kultur berührt, weder der chinesischen noch der russischen. Nicht Schan-tehs gelehrte Konfuzianer, sondern Chinesen von der Straße waren Sonjas Lehrer, NanchangChinesen, deren Geschichte sich mit den langen Jahren immer weiter vom Herzen Chinas entfernt hatte. »Liebe Sonja, hast du die Ausdauer des alten Blutes?« fragt Vera in die balsamische Luft dieses mauerumschlossenen Gartens. Das ist, denkt sie, letzten Endes alles, was Aristokraten haben – ein tiefes Wissen um den zyklischen Wandel, das Vertrauen in die Kreisbewegung der Geschichte, die sie eines Tages zu dem einzigen zurückführen wird, das wirklich zählt: Schönheit hinter Mauern. Von Geschichte ist Vera jetzt umgeben. Sie spürt sie im Schlag ihres Herzens, dem langsamen, stetigen Puls von Jahrhunderten. Sie müssen auch so empfunden haben, die ihres Amtes ledigen Mandarine und die großen Künstler, die nach Sutschou der Luft, des Wassers, der Steine, der bergenden Mauern wegen kamen. Heute haben nur ein paar Besucher dem Aufseher Geld gezahlt, um einen Gang in die Vergangenheit zu tun. Beinahe zwei Stunden sind vergangen, doch sie hat nur fünf, sechs Männer gesehen, ausnahmslos alte. Und mit solch melancholischen Gedanken und höchst sinnlosen Fragen endet Vera ihren Rundgang durch Wang Shi Yuan. Sie fühlt sich ermattet, als wäre der Spaziergang durch dieses Fleckchen Erde körperlich anstrengend gewesen. »Schan-teh«, murmelt sie ganz leise vor sich 645
hin, und in diesem Augenblick wird ihr etwas Sonderbares bewußt: Jedesmal, wenn sie hier in China einen Mann sah (und sie sieht gerade einen am Eingang zu dem Garten) in breitbeiniger Stellung, den Oberkörper leicht nach vorne gebeugt, die Hände im Kreuz verklammert – in diesem Land gedankenvoller Menschen eine durchaus häufig anzutreffende Haltung –, wurde sie an Schan-teh, immer an Schan-teh erinnert. An den lebenden Schan-teh in ihrem letzten gemeinsamen Augenblick: ihren Liebhaber und den Vater eines Mädchens, das sie aus diesem von einem Unstern verfolgten Land herausholen muß. Gewiß, ein destruktiver Gedanke, der zu nichts führen wird. Ein romantischer Gedanke. Und ein trauriger Gedanke. Da ist er – Rama. Er hockt noch immer in dem Winkel, hält jetzt aber den aufgespannten Regenschirm über seinen Kopf. Sengend heiß prallt die Nachmittagssonne auf die weiße Wand hinter ihm. Sobald er sie sieht, steht er lächelnd auf und streicht die Baumwollhose glatt, die ihm um die mageren Beine schlottert. Die Stimmung der Versunkenheit, die Vera auf ihrem Gang durch den alten Garten erfüllt hat, verläßt sie unvermittelt. Sie erwidert Ramas Lächeln. Wie delikat ausgewogen das Leben doch ist, denkt sie mit einer Mischung aus Reue und Hoffnung: Schon das Lächeln eines andern Menschen läßt einen die tiefste Trauer eine Zeitlang vergessen.
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ie hören den Trubel am Bahnhof schon, bevor er in Sicht kommt. Als sie den Platz vor ein paar Stunden verließen, war er mit wartenden Fahrgästen gefüllt, doch nun ist er gerammelt voll – eine kompakte Masse, mit Kleiderbündeln, Lebensmitteltüten, Kisten voll Haushaltsgegenständen. Was sie von weitem hören, gellt ihnen nun in die Ohren: besorgte, bange Fragen. Vera versteht einige davon: Wohin? Wann? Welche Richtung? Schanghai? Nanking? Angriff? Wer? Wo? Wann? Zugnummer? Welche denn? Was hat es geheißen? Angriff? Wo? Welches Gleis? Wann? Rama wendet sich mit betonter Zuversicht an Vera: »Keine Sorge, Mistress. Rama ist da!« Worauf er sich mit einem Schlachtruf in die Menge stürzt, mit dem spitzen Ende des zusammengerollten Regenschirms nach vorne stößt und den Koffer nach rechts und links schwenkt. Vera folgt der von Rama geschaffenen Gasse, erreicht die Stufen zum Bahnhofsgebäude und steigt hinter ihrem »Bahnbrecher« hinauf, der sie schließlich in das düstere Innere des Bahnhofs von Sutschou führt. Er bahnt ihr einen Weg zum Fahrkartenschalter, wo Vera einen in aller Eile angeklebten Zettel aus Reispapier an der herabgelassenen Scheibe vorfindet: BIS AUF WEITERES KEINE ZÜGE NACH WHUSI UND NANKING. Unter diesem Text steht noch etwas anderes, doch eine jähe Bewegung in der Menge erfaßt sie und Rama wie eine Woge und spült sie vom Schalter weg. Vera hält sich jetzt mit der einen Hand an Ramas Hemdkragen und mit der anderen an seinem Rücken fest, während er sich durch die Menschenmasse in Richtung auf die Gleise kämpft. Eine 647
neue Wellenbewegung schleudert sie beide auf den offenen Eingang zu. Neben ihnen schreien Leute: »Schanghai! Schanghai!« Sie müht sich angestrengt, nicht aus dem Gleichgewicht zu kommen, denn plötzlich wird ihr klar, daß jemand, der in diesem Gedränge zu Boden geht, vielleicht nie mehr auf die Beine kommen wird. Und noch vor ein paar Minuten die Stille in dem ummauerten Garten! Kriegszeiten, denkt sie und spürt, daß ihre Beine einen Augenblick lang nachgeben. Vera klammert sich an Rama und bekommt genug Stoff in die Hand, daß sie sich hochziehen kann. Sie ringt um Luft, während die Menschen durch den Ausgang wie durch einen Trichter auf den Bahnsteig stürzen. »Mistress! Mistress!« schreit Rama, nur eine Armeslänge von ihr entfernt, aber Vera kann ihn kaum hören. Und dann wird seine Stimme vollends übertönt von dem lauten, stampfenden Geräusch einer einfahrenden Lokomotive. Vera, die auf den Bahnsteig gedrängt wird, greift nach vorne und packt Ramas schwarzen Regenschirm. Sie sieht, wie der Zug auf sie zukommt, ein großes, eisernes Monstrum, das sich durch eine Dampfwolke heranwälzt. »Schanghai! Schanghai!« Während die alten hölzernen Waggons vorüberschwanken, strecken Hunderte von Menschen die Arme danach aus. Schließlich kommt der Zug zum Stehen. Zum Glück für Rama und Vera wurden sie nahe an eine Waggontür hingedrängt. Als sie aufgeht, bleibt dem Schaffner nicht einmal Zeit, sich mit einem Sprung vor dem Ansturm zu retten – ein halbes Dutzend Männer drängt sich die schmalen Stufen hinauf, schleudert ihn beiseite, platzt in den Waggon. Wie im Sog ihres 648
Kielwassers folgt Rama, in der einen Hand Schirm und Koffer, in der anderen Veras Arm. Sie wird nach oben gezerrt, während irgend jemand oder irgend etwas sie schmerzhaft in den Rücken stößt. Schon Sekunden später hat Rama sie auf eine Holzbank gedrückt und sich neben sie gesetzt, bevor ein wahrer Schwarm von Menschen in das Abteil eindringt. Sie stürzen auf die Bänke zu, drücken Pakete und Weidenkörbe an sich, werten finstere Blicke auf andere, die an ihnen vorbei stürzen, jeder bemüht, einen Platz zum Sitzen, dann zum Stehen zu ergattern, bis sich alles, auch der Korridor, anfüllt, Binnen weniger Minuten wird das Waggoninnere zu einer einzigen Masse menschlichen Fleisches mit einer gleichsam eingebauten Gezeitenbewegung, und schon ein leichter Druck zwingt die stehenden Fahrgäste, sich bald in diese, bald in jene Richtung zu lehnen. Zwischen Rama und eine grimmig dreinblickende Bauersfrau eingezwängt, spürt Vera, wie sie atmet, kurz, stoßweise, rasch. Die Temperatur im Waggon ist bereits angestiegen, schon dringt ihr der scharfe Geruch von Knoblauch und Schweiß in die Nase. Zwischen zwei stehenden Leuten erspäht Vera ein Kind, das dicht an eine gesteppte Jacke gedrückt wird. Ein Auge des Säuglings ist mit Schleim verklebt, Schleim rinnt auch aus der Nase in den offenstehenden Mund. Der ständige Ausfluß hat die Oberlippe vereitern lassen. Krieg, denkt Vera düster, der Krieg. Mit einem jähen Ruck setzt sich der Zug in Bewegung, und die stehenden Fahrgäste werden nach hinten, nach vorne, zur Seite geschleudert, als hätte die Erde selbst Stoßwellen durch den Waggon geschickt. Vera fühlt eine Beklemmung in der Brust. Sie wirft einen Seitenblick auf Rama und bemerkt auf seinem Gesicht einen Ausdruck, der ihr aus alten Zeiten vertraut ist. Sie hat oft in 649
Eisenbahnzügen wie diesem eine solche Miene gesehen. Wenn die Geschichte Zyklen kennt, dann auch die Furcht. Sie zeigt sich immer am gleichen Ausdruck. »Die Fahrt wird nicht lange dauern«, versucht sie, ihn zu beruhigen. Das Sprechen strengt sie so an, daß sie zu keuchen beginnt. Sie spürt einen schwachen Druck auf der Brust – kein Schmerz, nur ein Druck; vielleicht hat sich die Bluse hochgeschoben und drückt. Die Hüfte eines Mannes, die sich gegen ihre Schulter preßt, hindert sie daran, die Bluse glattzuziehen. »Nur ein paar Stunden«, sagt sie zu Rama. »Verdammt lange«, antwortet er. Er hat sich einmal entschuldigt, weil er vor einer »weißen Dame« das Wort »verdammt« benutzt hatte. Damals unterdrückte sie ein Lächeln, diesmal braucht sie es nicht zu tun, weil ihr nicht nach lächeln zumute ist. Der Krieg räumt mit dem Humor auf. Nach vorne gebeugt, starrt Vera vor sich hin. Sie macht sich klein und versucht, ihre Gedanken nach innen zu fädeln, zu verknoten, zu einer dichten unverletzbaren Masse zusammenzuballen. Dies hat sie schon früher getan, in den lang entschwundenen Tagen der Flucht aus dem geliebten Rußland. Klack, klack, klack – sie zählt das Rumpeln der Räder an den Schienenstößen. Jedes Klack schickt ihre Gedanken nach innen zurück, ihr Geist rollt sich zusammen wie eine Schlange, die sich in einer tiefen Höhle zum Schlafen vorbereitet. Sie zählt: Eins, zwei, drei, vier – bis sie nicht mehr weiterzuzahlen braucht. Nichts geschieht mehr, nur das Klack-klack in ihrem Kopf, die ersehnte Wiederholung. Vor ihr, um sie herum ist nichts, alles ist innen. Vera weiß, was sie in Kriegszeiten zu tun hat. Es sind verdammt lange vier Stunden in dem Waggon, o 650
ja, zumal sie nicht mehr ihre Bluse für das Druckgefühl an ihrem Brustkorb verantwortlich machen kann. Der Druck ist stetig stärker, fast so etwas wie schmerzhaft geworden – zu Schmerz, um es offen zu sagen. Außerdem schwitzt sie, was aber nicht verwunderlich ist bei den vielen hier im Hochsommer eingepferchten Menschen. Doch der Schweiß ist kalt, als läge ein in Eiswasser getauchter Wattebausch quer über ihrer Stirn. Als der Zug schließlich langsamer wird und in den Bahnhof von Schanghai einfährt, muß sie nicht nur gegen den Schmerz, sondern auch gegen ein Gefühl der Panik ankämpfen. Was sie jetzt bedroht, läßt sich dingfest machen: Ihr Herz funktioniert nicht richtig. Eine Faust schließt sich dort, wo das Herz ist, wider jeden Willen, eine Faust tief in ihrer Brust, entschlossen, nicht loszulassen. Dreimal während der Fahrt, die kein Ende nehmen zu wollen schien, ist es Vera gelungen, ihre Hand freizubekommen und das Fläschchen aus ihrer Blusentasche herauszuziehen. Dreimal schob sie voll Hoffnung eine kleine, weiße Pille unter die Zunge. Wie zu erwarten, stellten sich jedesmal der scharfe Geschmack, das leichte Brennen, der Stromstoß – wie es ihr vorkam – bis unter die Schädeldecke, das Klingeln in den Ohren ein. Doch der Schmerz in ihrer Brust hat diesmal nicht nachgelassen. Er bleibt hartnäckig, eine schreckliche geballte Faust. Das Mittel wirkt nicht, meine Liebe, sagt sie stumm zu sich. Panik. Wäre doch Philip mit seinen geheimnisvollen indischen Übungen da, um ihr gegen die Panik beizustehen! Der arme Rama. Er blickt geradeaus vor sich hin. Vielleicht wappnet das Leben in ihrem Land die Inder für so etwas wie jetzt. Jedenfalls ist Rama wirklich eine Stütze in einer Krise. Wer hätte das gedacht? Du mußt denken, befiehlt sie sich. Mach dir klar, was vor sich geht. Füll die Zeit aus. Die Zeit ausfüllen ist alles. 651
Eine Panik, was ist das? Eine Panik ist … wenn Menschen von einem sinkenden Schiff springen. Aus einem brennenden Haus. Was geht jetzt vor sich in deiner Brust? Etwas Neues – die Faust öffnet sich langsam, oder, vielmehr, sie wächst wie eine Pflanze. Streckt Schößlinge aus. Denke darüber nach. Denk an den Schmerz. Was ist Schmerz? Der Schmerz … wächst wie etwas im Garten der Fischernetze. Im Waggon wird es lebendig, die Fahrgäste beginnen, sich auf den einzigen Ausgang vorzuarbeiten. »Rama«, sagt sie und hört ihre schwache Stimme wie aus der Ferne. »Rama, mir geht es schlecht. Bring mich hier raus.« An das, was als nächstes geschah, wird Vera Rogatschewa sich nur fetzenweise erinnern können, denn der Schmerz splitterte alles auf – drang mit Macht nach oben, in den Hals, in den linken Arm. Sie war … in ihr ging es zu wie im Krieg. Vorausabteilungen marschierten durch ihren Körper. Eine Invasion von innen. Krieg, immerfort Krieg, Krieg, Krieg. Rama stand ihr bei. Irgendwie umfaßte er sie und brachte es dabei sogar fertig, Schirm und Koffer zu bergen. Er versuchte, chinesisch zu sprechen. »Kuai! Kuai! Rasch!« brüllte er, womit er, wie sie vermutete, »Hilfe!« meinte, aber sie besaß nicht die Kraft, ihn zu korrigieren. Sie klammerte sich an den Gedanken, es würde ihr den Tod bringen, sollte sie das Bewußtsein verlieren. Mit der Unterstützung zweier Männer brachte er sie irgendwohin. Sie wird sich noch lange an den Geruch von Knoblauch, Tabak und Schweiß erinnern, den der Männer und ihren eigenen. Ein weiteres Gedränge gab es am Ausgang, weil viele Fahrgäste das Geld für die Fahrt nicht hatten. Aber Rama zusammen mit den beiden Bauern brachte sie irgendwie durch. 652
Draußen im Freien schien blendend die Sonne – was vielleicht ihre sonderbare Wahnvorstellung erklärt, falls es eine war: Dort vor dem Bahnhof sah sie, wie der dunkelhäutige, magere Inder in einem erbitterten Kampf um das einzige verfügbare Taxi mit seinem zusammengerollten Regenschirm auf einen kräftig wirkenden chinesischen Herrn eindrosch. Der Chinese fiel nach hinten in eine sich ansammelnde Menschenmenge, und Rama gelang es irgendwie, sie zusammen mit Schirm und Koffer in das Taxi zu stoßen, ein paar Münzen in die herandrängende Menge zu werfen, was die Neugierigen und die Wütenden lang genug ablenkte, daß er sich auf den Sitz neben ihr schwingen und die Taxitür schließen und verriegeln konnte. »Palace Fandian! Palace Fandian!« schrie er. »Kuai! Kuai! Palace Fandian!« Dann faßte er mit festem Griff ihre Hand. Daran wird sie sich lange erinnern: wie seine heiße, gesunde Hand die ihre umschloß. Und sie wird auch nicht vergessen, daß sie sich sagte: »Ich werde nicht sterben. Ich werde nicht eher sterben, bis sie in Sicherheit ist.« Sie wird in der Erinnerung behalten, daß sie diese Worte im Geist vernahm, ehe ihr Bewußtsein, das sie mit Zähnen und Klauen verteidigt hatte, weggeschwemmt wurde. Wäre Vera dazu imstande gewesen, hätte sie zu Rama gesagt, er solle es im städtischen Krankenhaus versuchen, statt mit ihr zu einem Hotel zu fahren. Doch seine Entscheidung rettete ihr vermutlich das Leben. Als der Türsteher, ein Sikh, die bewußtlose Frau ins Vestibül des Palace trug und auf ein Ledersofa legte, holte ein Portier, der die Augen offen hatte, einen Arzt, der 653
gerade im Hotel bei einem grippekranken Ausländer war. Binnen Minuten war er an Veras Seite. Ungleich besser als das städtische Krankenhaus ist das kleine Hospital in der französischen Niederlassung, wohin Dr. Chardon sie mit einem Krankenwagen brachte. Sie hat ein Privatzimmer, dessen Fenster auf einen Garten geht. Rama darf auf einer Liege in einer Ecke schlafen, und wenn die kleine chinesische Krankenschwester nicht zur Hand ist, kümmert er sich um Vera – er läßt es sich nicht einmal nehmen, ihr die Bettschüssel zu bringen. »Narayana«, sagt Rama wiederholt, denn er ist überzeugt, daß sein Gott ein Wunder gewirkt hat. Vera mag ihm nicht widersprechen. Daß sie am Leben geblieben ist, betrachtet sie als eine Bestimmung, die zu verstehen oder zu beurteilen sie außerstande ist. Sicher ist nur, daß es dabei irgendwie um Sonja geht. Vera ist mit einer Gewißheit, die Ramas Glauben vergleichbar ist, überzeugt, daß ihre Lebensaufgabe darin bestehe, ihre Tochter zu retten, sie den politischen Ränken der Bolschewiken zu entreißen. Jeden Tag läßt sie durch Rama im Hotel nachfragen, ob von Philip eine Nachricht eingetroffen sei, denn leider Gottes braucht sie ihn noch. Inzwischen konzentriert sie ihren Willen darauf zu genesen, als handelte es sich darum, in der Schule eine Lektion zu lernen. Hin und wieder überkommt sie ein beunruhigender Schmerz in der linken Schulter und im linken Arm, aber Dr. Chardon meint, das sei nichts Besonderes. Schonen Sie sich, meint er nur. Dr. Chardon ist relativ jung und stolz darauf, daß er das Union Medical College in Peking absolviert hat. Er ist in China geboren und aufgewachsen, und so imponiert es ihm, daß sie sich mit ihm nicht nur auf französisch, sondern auch auf chinesisch unterhalten kann. Nachdem er ihr Herz abgehorcht und ihren Blutdruck gemessen hat, 654
setzt er sich auf den Bettrand und beginnt, mit ihr zu sprechen in der weitschweifigen, doch intensiven Art eines Mannes, den es nach einem Gesprächspartner verlangt. Ihre Gesundheit scheint ihm weniger Sorgen zu bereiten als die wirtschaftliche Situation in China. Die Korruption entwickle sich ärger denn je; der jüngste Skandal betreffe die Kriegsmarine der Nationalisten, die zugelassen habe, daß Geschäftsleute in Schanghai aus Depots in der Stadt Waren und Waffen an die Kommunisten verkauften. Dschunken mit dieser Konterbande segelten furchtlos unter den Kanonen der Uferforts den Yangtse hinauf; Kommandeure von Patrouillenbooten ließen sich mit Goldbarren bestechen. Und obendrein seien diese Lieferungen in kommunistisches Gebiet bei nationalistischen Banken versichert! Dr. Chardon, mit schwarzem Bart und von fahler Gesichtsfarbe, schüttelt traurig den Kopf. Schanghai stehe am Rand des Zusammenbruchs, behauptet er. Von Tschiang Kai-scheks Geheimpolizei drangsalierte Lehrer nähmen sich das Leben, Schüler würden ermordet. Entsetzliche Zustände. Und nun distanzierten sich Chinesen in Südostasien von dem Debakel und stellten die Überweisungen an Angehörige auf dem Festland ein. Genauso verhielten sich in Amerika lebende Chinesen. Alle gingen auf Distanz. Schrecklich, sagt er. Rikschakulis raubten mitten in der Stadt Fahrgäste aus. In der vergangenen Woche seien hundert Personen als Spione verhaftet worden. Jeden Tag erschienen an Häuserwänden Mao-Plakate. Man stelle sich vor: Hartgesottene Männer aus der Geschäftswelt werfen sich nun aus Verzweiflung dem Kommunismus in die Arme! »Schrecklich«, sagt er mit einem Seufzer und zündet sich eine neue Lucky Strike an der brennenden Kippe der eben zu Ende gerauchten an. Eine große Stadt, eine große Nation liege im Sterben. 655
Vera hört voll Bewunderung Chardons leidenschaftlichen Worten zu. In diesem Mann steckt mehr Liebe zu China, als selbst sie für das Rußland von einst noch zu empfinden vermag. Doch er erinnert sie auch an einen attraktiveren, wiewohl weniger engagierten Mann, an Jules Langlais – und an die Nacht, die sie in Saigon mit ihm hätte verbringen können. Schonen Sie sich, entspannen Sie sich, machen Sie sich keine Sorgen! Chardon hat leicht reden, aber sie würde lieber tausend Arzneien schlucken, als solchen Ratschlägen zu folgen. Jeden Tag regt sich in Veras Brust ein leichter Schmerz, wenn Rama vom Hotel Palace zurückkommt und den Kopf zur Tür mit einem Lächeln hereinsteckt, das ihre Enttäuschung über die Nachricht mildern soll, die er bringt: Master kommt noch nicht, Mistress. Aber Dank sei Gott für Rama. Eines Tages kommt er, mit einer Kongreßmütze herausgeputzt, ins Zimmer spaziert. Er trägt einen bauschigen weißen Pyjama und eine ärmellose Nehru-Jacke. Mit dieser Aufmachung hat Rama sich in den Inder verwandelt, der er wirklich ist, während er bisher in westlicher Kleidung für Vera ein dunkelhäutiger Durchschnittsbursche war, der den Namen eines fremden Gottes vor sich hin murmelte. Der Sikh am Hoteleingang hat Rama die Adresse eines indischen Bekleidungsgeschäftes in Schanghai gegeben. »Je weiter ich von zu Hause fort bin, um so mehr möchte ich heimische Sachen tragen«, erklärt er. »Hier in Schanghai gekauft. Nicht schlecht, Schanghai.« Er trägt die neue Kleidung bei seinem nächsten Gang zum Hotel Palace. Diesmal sieht Vera bei seiner Rückkehr sofort, daß sein Lächeln nicht gekünstelt ist. »Master kommt bald. Er ist jetzt hier herüben«, meldet er freudig erregt, und er braucht volle zwei Minuten, bis er 656
sich so weit beruhigt hat, daß er eine diesbezügliche Nachricht zutage fördern kann, sicher verwahrt in einer seiner Hosentaschen. Sie ist wieder auf Konsulatspapier geschrieben und lautet: MR PHILIP EMBREE ANKUNFT SCHANGHAI 6. JUNI. Am nächsten Tag schickt sie vor Sonnenaufgang Rama ins Hotel. Das Warten strapaziert Vera schrecklich, zumal noch in der Mitte des Nachmittags nichts von Rama, von Philip, ja, nicht einmal von Dr. Chardon zu sehen ist. Sie liest einen Artikel in einer englischsprachigen Zeitung mindestens zehnmal, ohne den Inhalt zu begreifen. Wieder nimmt sie die auf dem Bett liegende Zeitung zur Hand, als sich die Tür einen Spalt weit öffnet, dann ganz aufgeht und der lächelnde Rama sichtbar wird. »Master ist da!« meldet er theatralisch. Philip Embree, der gleichfalls lächelt – allerdings ein verhaltenes, zaghaftes Lächeln –, kommt herein. Vera sieht ihn streng an, um keinen Eindruck von Zärtlichkeit aufkommen zu lassen, sieht den zerknautschten Filzhut in seiner Hand, das schwarze Gewand, vorne zugeknöpft und an den Seiten mit Schlitzen, so daß eine ausgebeulte graue Hose zum Vorschein kommt. Dazu trägt er unförmige graue Schuhe. Anzusehen wie der perfekte westernisierte chinesische Kaufmann in Schanghai. Gut zusammengestellt, denkt sie. Philip liebt Verkleidungen. Er steht mit dem Hut in der Hand da, mit der Armensündermiene eines kleinen Jungen, und sagt, es tue ihm leid, daß sie krank ist und daß Sonja noch nicht gefunden wurde und daß er alles in seinen Kräften 657
Stehende tun wolle und so weiter und so fort. Er berichtet ihr, wo er in den letzten Wochen war, während von ihrer Tochter noch immer jede Spur fehlt. Sie hört gar nicht richtig hin, denn Tatsache ist, daß Philip nicht hier an Ort und Stelle die Kais selbst im Auge behalten hat. Er erzählt, daß er jetzt der Suche nach Sonja mehr Zeit widmen könne, spricht ruhig, vernünftig, doch nicht überzeugend. Philip äußert die Vermutung, Sonja und der Junge könnten Schanghai bereits verlassen haben. Vera hält nichts von seiner Analyse und hört ihm gar nicht zu. Statt dessen beschäftigen sich ihre Gedanken mit den Männern, die nur Krieg und Wirrnis in die Welt bringen. Während Philip ihr versichert, amerikanische Agenten und ihre chinesischen Helfer hätten das Hafengebiet durchkämmt, sagt sich Vera, wie unfähig der männliche Geist doch ist, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, eine Katastrophe beim Namen zu nennen. Was Männer bei Frauen Hysterie nennen, ist nichts anderes als das Vermögen, ein Unheil zu erkennen, wenn es heraufzieht, und dementsprechend zu reagieren. Aber sie hat Anweisung, sich zu schonen und nicht aufzuregen. Also schreit sie ihn nicht an – wie kläglich er versagt hat und daß Sonja irgendwo schutzlos durch China irrt –, sondern pflichtet scheinbar seiner vorgeblich vernünftigen Lagebeurteilung bei. Dann sagt sie zu ihm, er solle sich unverzüglich nach Schantung aufmachen und auf dem T’ai-schan beginnen, wo der General ermordet wurde. Wenn Sonja die Wahl habe, werde sie als erstes dorthin gehen, wo sein Leben endete. »Warum in dieser Reihenfolge?« fragt Vera selbst, statt abzuwarten, daß Philip darauf kommt. Die Antwort hat sie sich in langen Stunden herausgefiltert: Sonja sucht sicher zuerst den T’ai-schan auf, weil sie sich in den Gesprächen über ihren Vater immer an diese Abfolge hält: 658
erst sein Tod, dann sein Leben. Natürlich könnte es sein, daß Sonja den umgekehrten Weg einschlägt – zuerst nach Küfu und danach zum T’ai-schan –, aber unweigerlich wird sie beide Orte aufsuchen. Vielleicht wird sie sich auch über ihr erstes Ziel erst klar, wenn sie es schon erreicht hat. Aber, erklärt Vera, auf jeden Fall geht Sonja nach Küfu und zum T’ai-schan und nach Tsinan, vermutlich auch noch zu anderen Stätten, die im Leben des Generals eine Rolle spielten. Und sie wird sich nicht davon abbringen lassen, einerlei, was der junge Bolschewik von ihr verlangt. Einerlei, was in China geschieht. Mit schriller, angespannter Stimme faßt Vera zusammen: »Meine Tochter geht dorthin, wo ihr Vater gelebt hat und gestorben ist.« Embree erkundigt sich erneut nach ihrer gesundheitlichen Verfassung, was er schon wiederholt getan hat, seit er hereingekommen ist. Doch jedesmal scheint sie außerstande, sich auf das zu konzentrieren, was ihm sicher echte Sorge bereitet. Armer Philip. Er hat vielleicht Besseres verdient, als er von ihr bekommen hat, obwohl ihr Instinkt ihr immer gesagt hat, daß er nur behandelt wurde, wie er es verdiente. Aber ist ihm in diesem Augenblick der Krise nicht klar, daß er überhaupt nur eines für sie tun kann, nämlich Sonja zu finden? Es ist geradezu, als wären sie einander vor zwanzig Jahren nur dieser Zukunftsfügung wegen begegnet – Philip Embree, der die Mutter aus China hinausgebracht hat, wird zwei Jahrzehnte später die Tochter aus demselben Land retten. Ungeduldig unterbricht sie ihn und sagt: »Ja, ja, es wird schon alles gut, aber eine Sache, Philip, darfst du nicht tun. Wenn du sie gefunden hast – und du wirst sie finden – , sag ihr nicht, was hier passiert ist! Mir passiert ist, meine ich. Nein, nein.« Sie schüttelt den Kopf, um seinem 659
Einwand zuvorzukommen, und fährt fort: »Ich will, daß sie aus freien Stücken zurückkommt. Wenn sie mich oder ihr früheres Leben oder das Leben, das sie haben könnte, nicht entbehrt, dann werd’ ich sie loslassen. Ja, das ist mein Ernst. Selbst wenn es unseren Tod, ihren und meinen, bedeuten sollte. Ich werde sie aufgeben, wenn sie sich dafür entscheidet. Denn ich glaube, daß sie jetzt eine Entscheidung treffen kann. Inzwischen ist sie sicher zur Vernunft gekommen und erkennt, wieviel der Bolschewik taugt. Sie kann wieder klar denken.« Vera hört ihre Stimme zittern. »Wenn du ihr sagst, daß ich krank bin, kommt sie aus Pflichtgefühl. Und dann wird sie wieder fortgehen und mich hassen. Ich will, daß sie frei entscheidet, und ich weiß, daß sie richtig entscheiden wird. Woher ich das weiß? Weil mein ganzes Leben sie zu dieser Entscheidung geführt hat. Du sagst ihr also nichts, Philip!« Er antwortet mit einem Achselzucken, einer jungenhaften Geste der Hilflosigkeit. »Nein, es ist mir ernst damit. Versprich mir, daß du nichts davon sagst. Versprich es!« »Vera, ich finde, sie sollte es eigentlich erfahren.« »Versprich es mir!« Wieder ein Achselzucken. »Ich verspreche, ihr nichts davon zu sagen. Aber ich finde, du handelst verkehrt.« Mit einem Seufzer sinkt Vera aufs Kopfkissen zurück. Sie unterhalten sich noch eine Weile, aber Veras Anteilnahme ist gering. Ja, als Philip aus dem Zimmer gegangen ist, um sich auf seine Mission zu begeben, wird ihr mit einem gewissen Staunen bewußt, daß sie die letzten Worte, die sie gewechselt haben, bereits vergessen hat. Und eine innere Stimme sagt Vera, daß sie einander zum letztenmal gesehen haben. Aber natürlich weiß sie auch, daß es das Leben an sich 660
hat, einem alle möglichen Eingebungen vorzugaukeln. Jeden Morgen wird ihr die chinesische Zeitung, ordentlich zusammengefaltet, ins Zimmer gebracht, doch die Ausgabe der North China Daily News, ein Blatt in britischem Besitz, ist hie und da ein bißchen verknittert. Offensichtlich sucht Rama sämtliche Seiten nach Meldungen über eine Dürre in Südindien ab. Und Dr. Chardon wird zunehmend mitteilsamer, geht von der Korruption in Schanghai zu Andeutungen, zu dunklen Punkten in seinem eigenen Leben über. Seine Frau, eine Französin, habe ihn wegen eines amerikanischen Geschäftsmannes sitzenlassen. Seine chinesische Geliebte, Mutter seines einzigen Kindes, sei verschwunden. Es heißt, ihr Bruder sei ein Politkommissar der Roten in der Provinz Honan. Er selbst, gibt er zu, trinke zuviel und fröne dem Glücksspiel – für Vera peinliche Geständnisse. Und beinahe täglich präsentiert er ihr eine Rechnung für Arzneien und ärztliche Betreuung. Schließlich gesteht dieser Mann, der die Korruption verachtet, daß er das meiste an seinem Bedarf an Medikamenten auf dem Schwarzmarkt kauft. Aber, was soll’s – sie darf sich nicht aufregen. Auch Rama, der manchmal mit trübem Gesicht umherschleicht, heitert sie nicht auf. Nachts, wenn es in dem Hospital still ist, hört sie ihn oft in seinem Winkel schnarchen, undeutlich sprechen und aufschreien. Eines Tages fragte sie ihn geradeheraus: »Rama, hast du eine Familie bei dir zu Hause in Indien?« »Mistress?« »Laß dein Lächeln und dein ›Mistress‹. Ich habe dich gefragt, ob du eine Familie – Frau, Kinder, Eltern oder sonst welche Angehörige – daheim in Indien hast.« 661
»Vater und Mutter gestorben, Mistress.« »Das heißt also, du hast Frau und Kinder.« Rama schüttelt den Kopf und blickt an ihrer linken Schulter vorbei. »Nein, Mistress, beides nicht.« »Dann beschreib mir wenigstens, wie das ist, wenn ihr in Südindien eine Dürre habt.« Er wirkt wie ein kleines, in eine Ecke getriebenes Tier. Doch schließlich schildert er mit gequälter Stimme, wie eine Dürre in Südindien aussehen kann. Wenn die Wassertanks austrocknen, trifft es zuerst abgelegene Dörfer. Wenn die Brunnen sich in staubgefüllte Löcher verwandeln, packen die Einwohner ihre Habseligkeiten und ziehen fort, um in Nachbardörfern Wasser und Arbeit zu suchen. Aber es gibt keine Arbeit für sie, kein Wasser wird ihnen abgegeben, und so ziehen sie weiter, und schon bald müssen sich auch die Menschen aus jenen Dörfern, die die Flüchtlinge abwiesen, auf den Weg machen, bis sich ein langer Treck durch eine Landschaft ohne Wasser dahinschleppt. Die Kinder sterben als erste. Manche ziehen in die großen Städte, aber dort sind sie auch nicht besser dran. Die Männer verkaufen das Vieh und die Frauen ihren Goldschmuck, um leben zu können, während sie Arbeit suchen. Aber natürlich gibt es keine Arbeit. Wenn sie ihr letztes Geld aufgezehrt haben, beginnen sie zu betteln. Die Dürre zeugt Bettler. Das ist so sicher wie der Tod. Rama öffnet die Hände, als wollte er damit die Leere und die Verzweiflung demonstrieren. »So ist die Dürre bei mir drüben.« »Sorgst du dich um deine Familie, Rama?« »Nein, Mistress, ich habe keine Familie«, beharrt er. 662
»Aber Freunde werden in Not geraten.« Er bringt ein Lächeln zustande. »Bisher noch keine Dürre. Immerhin. Narayana.« Sein Lächeln, aus Furcht, Stolz und Optimismus gemischt, ist für Vera ein schmerzlicher Anblick. Er lügt, denkt sie. So vergehen die Tage, und weder er noch sie erhält eine Nachricht aus der Außenwelt. Nachts versucht Vera manchmal, sich das Schanghai ihrer Vergangenheit vorzustellen. Der Cercle Sportif Français an der Rue Cardinal Mercier mit seiner gewaltigen, halbkreisförmigen Bar und den wunderbaren Rummixturen. Die Frauen dort in Abendkleidern. Abends gab es immer die Hunderennen an der Avenue du Roi Albert. Dann die vielen Kabaretts: das Casanova, das Café Venus, das Ambassador. Habe ich nicht, fragt sie sich, Erich Luckner im Ambassador kennengelernt? Und dann erinnert sie sich an den St.Anne-Ballsaal, wo sie mit weiß Gott wie vielen Männern getanzt hat, deren heißer Atem an ihrer Wange eine Art Liebe im Morgengrauen verhieß. Im Little Club wurde Foxtrott getanzt, im Paramount sah man sich eine deftige Nacktrevue an, und als perverse Abwechslung unternahm man einen Spaziergang durch die »Blutgasse«, wohin ihre Begleiter sie führten, um einen neugierigen Blick auf ein Leben der Schande zu werfen, das, wie Vera nur zu gut wußte, dereinst vielleicht auch ihr Schicksal sein würde. Schanghai … Sie hat China geliebt. Die Leidenschaft für dieses Land überrascht sie, denn bis jetzt ist ihr nie klargeworden, wie herrlich reich und lebensvoll jene Tage waren. Rama hustet in seinem sorgenbeschwerten Schlaf, während sie die nächtliche Stunde dazu nutzt, in Gedanken zum Jessfield Park zurückzukehren, wo vor dem gestreiften Pavillon Konzerte gegeben wurden. Sie 663
saß auf einem Klappstuhl neben ihrem Begleiter und lauschte dem städtischen Orchester. Spielte es – oder hat sie das geträumt? – Tschaikowskys Kleinrussische Symphonie? Durch Ramas Schnarchen kehrt das melancholische Waldhornsolo vom Anfang des ersten Satzes wieder, ein klarer, glockendunkler Ton, der von der Tragödie des Lebens kündet. Am nächsten Tag fegt ein heftiger Windstoß den Geranientopf vom Fenster; krachend stürzt er zu Boden. Mit diesem Vorboten beginnen drei Tage der Gewitter und orkanartigen Stürme, gipfelnd in einem Taifun, der Schanghai und sein Umland heimsucht. Tausende verlieren ihre Wohnstätten. Vera liest in den Zeitungen, daß in der Nanking Road das Wasser hüfthoch steht. Eines weiß wie: Wenn eine Überschwemmung oder eine Dürre in den Provinzen Familien in Not stürzt, erlebt Schanghai regelmäßig einen Zustrom jungfräulicher Mädchen, die meisten kaum zehn Jahre alt. Sie gehen ihrem Gewerbe auf der Straße nach. Die Zahl der aus dem Bach Sutschou gefischten Leichen vervielfacht sich. Nach wie vor hat die North China Daily News ein zerknittertes Aussehen, wenn Vera am Vormittag die Zeitung erhält. Rama, dem seine Lüge zu schaffen macht, ist in diesen Tagen einsilbig. Im Schneidersitz hockt er auf der Liege und wartet ohne ein Lächeln darauf, daß sie ihn mit einer Besorgung beehrt. Chardon sitzt blinzelnd und stotternd auf dem Bettrand und gesteht in Andeutungen einen sexuellen Fehltritt. Und Vera beklagt das Karma, das die Sicherheit ihrer Tochter in die Hände eines unreifen jungen Bolschewiken gelegt hat; beklagt das Schicksal, das vielleicht schon bald Sonja einem Mann in die Obhut geben wird, der nicht anders kann, als andere Menschen zu verraten, besonders jene, die am meisten auf ihn bauen. 664
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T
sinan ist die Stadt ihres Vaters. Mit Jin-shi im Schlepptau besucht sie die Quellen und Seen hier. Jin-shi knurrt, daß man in Kriegszeiten nicht solche frivolen Stätten besuchen sollte. Und tatsächlich spricht mehr als genug dafür, daß der Krieg sich der Stadt nähert. Soldaten, die in der Gegend biwakieren, stehen an den Straßenecken, jung und verloren anzusehen in ihren Baumwolluniformen und Strohsandalen. In ihren Augen liegt eine Gespanntheit, die Yu-ying Angst macht. Sie achtet nicht auf Jin-shis Klagen, denn da sie Mandarin beherrscht, ist sie ihm gegenüber im Vorteil, und diesen Vorteil gedenkt sie zu nutzen. Yu-ying hat das Interesse daran verloren, daß Pridi die Botschaft überbracht wird. Ihr Ziel ist nun, sich heimlich die Welt ihres Vaters zu eigen zu machen. Für diesen Plan trifft es sich gut, daß die Bahnstrecke nach dem Norden kürzlich durch kommunistische Sabotageakte lahmgelegt wurde. Um in die Provinz Honan zu gelangen, bleibt ihr und Jinshi nun nichts übrig, als es auf einem Umweg zu versuchen. Sie müssen sich zuerst nach Süden und dann nach Nordwesten wenden, um das Hauptquartier der Befreiungsarmee in Hsipiap’o zu erreichen. Der Weg nach Süden bedeutet für Yu-ying, tiefer in das Land vorzudringen, wo ihr Vater lebte und starb. Wenn sie sich Jin-shi anvertrauen könnte, würde sie ihm sagen, was sie spätabends ihrer imaginären Vertrauten sagt: »Ich sah also in Tsinan wunderschöne Karpfen, rot, gelb und blau, durch die klaren Teiche flitzen, ich sah die breiten Straßen, gesäumt von hohen Weidenbäumen, doch es genügte mir nicht, denn ich versuchte, mir zwar einen 665
kleinen Jungen vorzustellen, der durch die Straßen lief, sah ihn aber nicht wirklich. Das Gefühlserlebnis war nicht stark genug. Nun, vielleicht lag es daran, daß wir überall diese jungen, müden, unterernährten Soldaten antrafen, die uns aus dumpfen, traurigen Augen anschauten, so daß ich mich nicht konzentrieren konnte. Doch Mutter hat mir oft erzählt, daß Vater in dieser Stadt mit großen Warlords zusammentraf, daß sie hier Intrigen spannen. Einmal explodierte eine Bombe, die viele von ihnen tötete, mein Vater aber kam unversehrt davon. Doch ich bekam in Tsinan kein klares Bild davon. Ich muß noch mehr sehen.« Sie haben sich in einem schäbigen Hotel im Norden der Stadt eingemietet. Vom Fenster aus kann Sonja die machtvollen Fluten des Gelben Flusses auf ihrem Weg zum Meer beobachten. Er ist tatsächlich gelb von alldem Schlamm aus der Mongolei, wie sie weiß. Seit Jahrhunderten tritt er immer wieder über die Ufer, was ihm den Beinamen »Chinas Kummer« eingetragen hat. Die unermeßlichen Leiden entsprechen der Unermeßlichkeit des Landes, denkt sie – und sagt es dann zu Jin-shi, der nur kommentarlos nickt. An diesem Vormittag möchte er sie haben, da sie, wie er es nennt, »wieder in Ordnung« ist. Aber sie weist ihn rundweg ab. »Ich mag nicht«, sagt sie und wartet neugierig darauf, was geschehen wird. Aber es geschieht gar nichts, er dreht sich nur schmollend zur Wand hin. Nach einiger Zeit wendet sich Yu-ying dem jungen Mann zu und sagt scharf: »Es ist Zeit, daß wir uns in den Süden aufmachen.« Er grummelt: »Wie denn? Du hast doch gestern am Bahnhof gehört, daß keine Züge in den Süden gehen.« »Ja, das hab’ ich wohl gehört. Aber wir gehen trotzdem.« 666
»Wie stellst du dir das vor?« »Wir …« Sie hat es sich noch nicht überlegt, doch sofort kommt ihr eine Idee. »Wir mieten uns eben Maultiere.« Ho dreht sich zu ihr her und lächelt sie an. Sein Lächeln erstaunt sie, denn es ist sanft, schüchtern, vertrauensvoll – das Lächeln eines Kindes. »Und wenn wir es weit genug nach Süden schaffen, bis zu diesem Bahnknotenpunkt …« Der Name fällt ihm nicht ein. »Sutschou«, ergänzt sie. »Du hast gesagt, von dort fahren wir nach Westen und dann wieder nach Norden, stimmt’s?« »Wenn es möglich ist.« Er setzt sich auf, ungeduldig, mit hellwachen Augen. »Es muß eine Möglichkeit geben. Pridi muß unbedingt diesen Brief bekommen. Meine ganze Zukunft hängt davon ab.« Er klopft sich auf die Hemdtasche, in der der zusammengefaltete Brief steckt. Er trägt ihn immer bei sich, sogar im Bett. »Unsere Zukunft«, berichtigt er sich und streicht über das Bettuch neben ihm. »Setz dich bitte hierher.« »Nein, nicht jetzt.« »Ich meine nicht das.« Seine Augen sehen sie bittend an. »Setz dich neben mich. Mehr will ich nicht.« Zögernd folgt Yu-ying seiner Bitte. Er nimmt zart ihre Hand in die seine und blickt an ihr vorbei zum Fenster hin. »Ich hätte nie gedacht, daß es hier so aussieht. Wo sind die Palmen, die Paternosterbäume? Und kein Mensch in dieser Gegend spricht Teochiu. Ist es etwa kein Chinesisch? Dort, woher wir kommen, ist es das jedenfalls.« Yu-ying entzieht ihm langsam ihre Hand und lächelt ihn an. »Es ist Zeit, daß wir uns auf den Weg machen. Zuerst 667
nach Taian.« Drei Maultiere trotten in südliche Richtung – auf einem sitzt ein Bauer, nach T’eng Hsien unterwegs, der sich bereit gefunden hat, das junge Paar bis zum Knotenpunkt Taian mitzunehmen. Die Maultiere sind ungebärdig, und Yu-ying hat Angst vor ihrem Tier, aber Jin-shi macht der Ritt Spaß. Das wieder gefällt Yu-ying, denn schließlich fühlt er sich einsam im Land seiner Väter. Was dieses Land ihr bedeutet, das verbirgt sie vor ihm, denn wenn sie ihn darüber aufklärte, daß ihr Vater in Tsinan seine Knabenjahre verbrachte, würde Jin-shi sie verspotten. Und wenn sie ihm erzählte, daß Taian die Stadt am Fuße des heiligen Berges T’ai-schan war, auf dem ihr Vater den Tod gefunden hat, würde er sie ermahnen, nicht in der Vergangenheit zu leben. Vielleicht würde er sie auch an ihr Versprechen erinnern, ihre Familie zu vergessen. Es ist besser, ich schweige, sagt sie sich. Ohne große Gewissensbisse beobachtet sie, wie sehr er den Ritt genießt. Die kleine Karawane zieht langsam durch das trockene, staubbedeckte Land. Hie und da stehen Gruppen schlanker Birken, und Yuying sieht in der Ferne Fuhrwerke auf Landstraßen in beiden Richtungen fahren. Es überrascht sie, wie wenige Menschen zu sehen sind, obwohl bis zum Horizont ringsum Tausende leben müssen. Der alte Bauer ist wortkarg, aber gegen Mittag deutet er nach Osten und murmelt: »Soldaten.« Im Osten sind nun Berge zu sehen, blau und mit nacktem Fels, eine lange, fortlaufende Kette, aber Yu-ying braucht lange, bis sie erkennt, was der Bauer gesehen hat: weit in der Ferne eine zwischen Pappeln marschierende winzige Reihe marschierender Gestalten. Irgend etwas spiegelt das 668
Sonnenlicht – vielleicht eine Windschutzscheibe oder ein Feldstecher oder ein Bajonett. »Was sind das für Soldaten?« fragt Yu-ying. Der Bauer zuckt mit den Achseln. »Weiß nicht. Ich könnt’ es nicht einmal sagen, wenn wir sie nahe vor uns haben.« »Ich habe gehört, südlich von Tsinan wird das flache Land von der Achten Feldarmee kontrolliert.« »Richtig«, bestätigt er. »Jedenfalls manchmal.« Ein alter Lastwagen kommt ihnen entgegen und fährt vorbei. »Wir sind noch immer auf nationalistischem Gebiet«, stellt der Bauer fest. »Wenn wir zu den Roten kommen, werdet ihr Laster mit Plakaten daran sehen.« Am Abend kurz vor Sonnenuntergang sehen sie einen Lastwagen, an dessen eine Seite ein riesiges Plakat genagelt ist. Es zeigt in Überlebensgröße rote Soldaten, die die Hände ausstrecken, um ameisengroße Kuomintangtruppen zu fangen, die sich angstschlotternd zusammendrängen. »Jetzt«, sagt der Bauer, »sind wir auf kommunistischem Gebiet.« In dieser Nacht schlafen sie auf einem Zuckerrohrfeld, und am nächsten Morgen kochen sie neben der Straße eine Reissuppe. Eine Frau und ein Kind nähern sich ihnen mit ausgestreckten Händen. Als Yuying zögert zu essen, sagt der alte Bauer barsch: »Nein!« »Wir haben doch genug«, protestiert sie. »Der Topf, die Schüsseln, das Brennholz gehören mir. Nein!« Sie blickt sein Gesicht an und schweigt. Später spült sie 669
den eisernen Topf und die drei Schüsseln in einem Bach am Straßenrand. Ho sitzt bereits auf seinem Maultier, als sie zurückkommt. Er versetzt es mit einem Tritt in einen steifbeinigen Trab, und einen Augenblick lang freut sich ihr Herz über den Anblick des hübschen Burschen, der vor Vergnügen lacht. Plötzlich, ganz unvermittelt, muß Yuying daran denken, daß ihre Freundin Lamai zu Hause in Bangkok jetzt verheiratet ist. Am Abend erreichen sie Taian, und Yu-ying hört gar nicht richtig hin, als Jin-shi sie etwas über den Bahnhof fragt, da sie zur felsigen Spitze des T’ai-schan hinaufblickt. Er wirkt in der einfallenden Dunkelheit schroff wie ein aufragendes Schwert und scheint gleichsam aus der Erinnerung aufzutauchen. Ihre Mutter, die ihn nie zu sehen bekommen hat, beschrieb den Berg oft, so, wie die Chinesen ihn beschreiben: der heiligste der fünf heiligen Berge Chinas, der Berg über den Bergen, der Wolkensammler, während der Sungdynastie in den kaiserlichen Rang erhoben, schließlich vergöttlicht. Es heißt, wer ihn erklimmt, steige zum Himmel hinauf. Ho blickt dem Bauern nach, der sie verlassen hat und nun seine Maultiere auf das Südtor zuführt, und sagt besorgt: »Wir hätten bei ihm bleiben sollen. Was ist, wenn keine Züge gehen?« »Dann finden wir sicher einen andern Bauern mit Maultieren.« Da ist er vor mir, denkt sie, der Berg über den Bergen, T’ai-schan. »Laß uns lieber zum Bahnhof gehn und uns erkundigen.« Er zupft sie am Ärmel. »Hast du mich gehört? Gehn wir doch zum Bahnhof!« »Nein.« Der Gipfel direkt vor ihr ist der östliche, Wächter des Lebens, das im Osten mit der aufgehenden Sonne beginnt. Der T’ai-schan ist die Quelle des Lebens, 670
und nach dem Tod finden die Seelen sich vor ihrer Wiedergeburt hier ein. »Was machen wir dann, wenn wir nicht zum Bahnhof gehen?« fragt Jin-shi hartnäckig weiter. »Zum Bahnhof gehn wir später. Jetzt suchen wir uns einen Schlafplatz, und morgen steigen wir auf den Berg.« Er blickt im vergehenden Abendlicht die Hänge des Bergmassivs hinauf, das sich über der Stadt erhebt. »Auf diesen Berg? Wozu denn das?« Yu-ying holt tief Luft, denn die Zeit ist gekommen, es ihm zu sagen. »Weil mein Vater ihn ersteigen wollte, als er von Feinden gefangengenommen und umgebracht wurde.« »Dein Vater?« »Und deshalb steige ich morgen auf den Berg.« Sie hört den Trotz in ihrer Stimme. »Gut, dann gehen wir beide hinauf«, sagt Jin-shi mit Entschiedenheit. Im letzten Licht des Tages blickt Yu-ying sein mageres Gesicht an. »Wir steigen hinauf«, wiederholt er. »Wenn sie dort deinen Vater umgebracht haben, mußt du hinaufsteigen. Das ist für einen Chinesen Pflicht. Und Chinesen, das sind wir.« Er blickt hinab auf seine Füße, als überlegte er angestrengt. »Ich hätte beinahe vergessen, daß … daß wir Chinesen sind, einerlei, was geschieht. Aber es ist wahr, auch wenn ich diese Sprache nicht sprechen kann. Wir steigen auf den Berg, obwohl die Mission noch nicht erledigt ist. Wir nehmen uns die Zeit. Wir werden nicht lange droben bleiben und rasch hinaufsteigen, weil … weil Chinesen ihre Eltern ehren.« Ihre Liebe zu ihm kehrt beinahe zurück. 671
Sie schlafen im rückwärtigen Teil eines Eisenwarengeschäfts zusammen mit einem Dutzend Pilger, die trotz des Krieges zu dem heiligen Berg gekommen sind. Bei Tagesanbruch kassiert der Ladenbesitzer das Übernachtungsgeld und treibt sie auf die Straße. Yu-ying ersteht in der Nähe des großen Tempels des Gottes vom T’ai-schan bei einem Straßenhändler ein paar hartgekochte Eier. »Was ist das hier? Gehen wir da zuerst rein?« fragt Jinshi und blickt auf das »der Sonne zugewandte Tor«, hinter dem einige der Tempelgebäude zu sehen sind. »Nein. Wir beginnen sofort dort drüben mit dem Aufstieg.« Sie wirft einen Blick durch den schweren Morgendunst in die entgegengesetzte Richtung, zum T’aischan hm. Die Gipfel sind hinter Wolken verborgen, nur der zerklüftete Gneis einer Bergwand ist sichtbar. Auf dem Weg, der vom Tempel wegführt, hat eine Gruppe Pilger den sanften Anstieg zum Fuß des Berges begonnen. Einige davon sind Soldaten in abgerissenen grauen Uniformen und ohne Waffen – junge Bauernsöhne mit frischen Wangen. In der vergangenen Nacht unterhielten sich im hinteren Raum des Eisenwarengeschäfts Pilger in beiläufigem Ton über den Krieg. Letztes Jahr, erzählten sie, habe der kommunistische General Chen Yi sein Lager auf dem Berg aufgeschlagen, wo die Nationalisten nicht an ihn herankamen. Inzwischen stehe das ganze Gebiet unter seiner Kontrolle. Die lässige, beinahe gleichgültige Art, in der die Pilger über den Krieg sprachen, erstaunte Yu-ying zunächst. Dann aber erinnerte sie sich an etwas, was ihre Mutter wiederholt gesagt hat: Die Chinesen wüßten, daß 672
Katastrophen sich zum Guten wenden und gute Zeiten in Katastrophen enden, und nähmen deshalb beides nicht ernst. Die Pilger waren kräftige Leute, die Frauen ebenso wie die Männer, und Yu-ying spürte hinter ihrer gelassenen Gefügigkeit eine Neigung zu Gewalttätigkeit, falls man sie dazu reizte. Infolgedessen weigerte sie sich – aus Besorgnis, sie zu verärgern –, ihnen noch mehr von Jin-shis Fragen zu übersetzen: Wie groß die Armeen seien, wo die Schlachten stattfänden, ob es zu viel Blutvergießen komme? Aufgeregt spricht Jin-shi über die Zukunft. Wenn er dem großen Pridi den Brief überbracht hat, wird für ihn alles anders werden. Er wird es in der kommunistischen Partei zu etwas bringen, entweder hier oder in Bangkok. Und er wird der Partei berichten, daß Yu-ying ihm bei seiner Mission geholfen hat, was auch ihr Anerkennung eintragen wird. Aus den Nebelschwaden taucht der dreifache Bogen des T’ai-schan-Tores auf. Mein Vater, denkt sie, muß am letzten Tag seines Lebens durch dieses Tor gegangen sein. An seine Häscher will ich nicht denken. Ich werde mir vorstellen, wie er den Anstieg begann. Und er wird den ganzen Weg bis zum Gipfel hinauf an meiner Seite sein. »Du bist nicht mehr die gleiche.« Sie wendet sich Jin-shi zu und blickt ihn an. »Ja, es ist wahr. Du hast die Partei und meine Mission ganz vergessen und denkst nur noch daran, auf den Berg zu steigen.« »Gestern hast du doch gesagt, ich soll in ersteigen.« »Ja, aber …« Er macht ein finsteres Gesicht und blickt auf den Weg vor ihnen. »Ich habe gesagt, wir sollen hinaufsteigen, und damit war die Sache erledigt. Aber als ich dich gestern abend bat, im Dunkeln einen Spaziergang 673
mit mir zu machen, damit wir uns irgendwo lieben könnten, hast du abgelehnt. Du bist in diesem Punkt nicht mehr die gleiche.« »Du hast gesagt, ich soll hinaufsteigen, weil ich meinem Vater diese Ehrung schulde. Aber ich glaube, in Wahrheit hast du es nur gesagt, damit ich dir nachgebe. War es nicht so?« »Ich weiß es eigentlich nicht.« »Dann steig nicht hinauf.« »Ich will aber. Ich bin auch ein Chinese. Du hältst dich für chinesischer als mich, nur deshalb, weil du Mandarin sprichst.« »Streiten wir uns nicht.« Sie streckt die Hand aus und berührt seinen Ärmel. »Der Aufstieg ist lang.« Schweigend und voll Energie steigen sie den Vormittag hindurch aufwärts. Von den acht Kilometern bis zum Gipfel haben sie am Mittag etwa fünf hinter sich gebracht. Es war ein relativ sanfter Aufstieg durch Kiefernwäldchen, an Tempeln vorüber: Sie wandern den gewundenen Steinpfad hinauf und lassen den »Palast der roten Tür«, den »Turm der zehntausend Unsterblichen«, den »Tempel der Drachenquelle« hinter sich. Yu-ying fühlt sich von Geschichte umgeben; Männer aus der Zeit der Ch’in- und der Handynastie, vor zweitausend Jahren, und vor ihnen schon Konfuzius sind diese Stufen hinaufgestiegen. Aus dem Gestein gemeißelte Kalligraphien, doch mit zu alten oder zu verwitterten Schriftzeichen, als daß man sie noch entziffern könnte, haben Botschaften aus der Welt ihres Vaters zurückgelassen: von ihrer Schönheit, ihrer Weisheit, ihrem Überschwang – genau, wie Mutter es gesagt hat. Während sie aufwärtssteigen, geht ihr durch den Sinn, wie schön es wäre, wenn ihre Mutter auch hier sein könnte. Zusammen könnten sie dann sehen, was einst 674
Vater sah. Yu-ying wirft dem grübelnden jungen Mann, der an ihrer Seite den gewundenen Pfad entlanggeht, einen kurzen Blick zu. Wenn sie ihn nur wieder lieben, wieder begehren könnte! Doch sie kann es nicht. Lamai ist jetzt verheiratet. Wie denkt sie wohl über ihren Ehemann? Ich jedenfalls, sagt sich Yu-ying stumm, werde niemals heiraten. Sie legt einen Schwur darauf ab, und dieser Schwur erleichtert sie derart, daß sie im Hinaufsteigen die Hand ausstreckt und Jin-shi neckend am Ärmel zieht – so wie eine Schwester einen in Gedanken verlorenen Bruder necken könnte. Das letzte Stück zum »Tor auf halbem Weg zum Himmel« erweist sich als steil – aber es wird noch steiler werden, wie Yu-ying von einer alten Frau erfährt, die eine Verschnaufpause eingelegt hat und keuchend dasteht. »Ja, gehn Sie denn ganz hinauf, Mutter?« Sie stehen auf den letzten zwei Stufen vor einem freien Platz auf dem Weg zum Gipfel. »Ich gehe ganz hinauf«, erklärt die alte Frau. Der lange, dicke Stock, den sie in der Hand hält, zittert. Ein Ding der Unmöglichkeit, denkt Yu-ying. Die alte Frau schafft auf keinen Fall den nächsten Stufenabschnitt. Von diesem Aussichtspunkt ist in weiter Ferne ein langer, grauer Faden zu sehen, der an der Seite einer gewaltigen Schlucht zur Bergspitze hinaufstrebt. Es ist die Fortsetzung des sich in die Höhe ziehenden Stufenpfades. »Ich sehe Sie dort oben wieder, Tochter.« Gebeugt tut die alte Frau einen Schritt nach vorne, schwer auf ihren Stock gestützt. Am Ende des letzten Stufenabschnitts vor dem »Tor auf halbem Weg zum Himmel« ist eine Steinbrüstung. Als Yu-ying sie erreicht, lehnt sie sich keuchend dagegen. 675
»Schau mal, da drüben«, sagt Jin-shi und nickt zu einer Gruppe kommunistischer Soldaten hin, die in der Nähe verschnaufen. Sie teilen Knoblauchknollen untereinander auf und kauen an den herausgelösten Zehen. Blutjung wirken sie auf Yu-ying. Ihre sonnenverbrannten Gesichter glühen in der Mittagssonne. Sie werfen ihr schüchterne Blicke zu, doch keiner wagt es, ein aktives Interesse an ihr zu zeigen. Yu-ying entspannt sich. »Wenn dieser Brief überbracht ist«, stellt Jin-shi fest, »trete ich in die Befreiungsarmee ein.« Sie dreht sich um und betrachtet ihn. »Du bist anders als sonst«, spricht er weiter, wobei er ihren Blick meidet. »Damals, als ich den Agenten umbrachte, hast du anders gedacht.« »Der Mann, den wir getötet haben, war kein Agent.« Ein Junge, der Äpfel verkauft, kommt näher. Yu-ying ruft ihn herbei, kauft ein halbes Dutzend und reicht einen davon Jin-shi, der fortfährt: »Du hast den Respekt vor mir verloren, weil ich diese Sprache nicht kann.« »Ich habe doch Respekt vor dir«, behauptet Yu-ying und fragt sich zugleich: Wirklich? Wirklich? »Deine Mutter hat dir all die Sprachen beigebracht. Du bist auf die Schule gegangen. Mein Vater aber hat von mir nur verlangt, daß ich arbeite. Ich habe Teochiu auf der Straße gelernt und mir selber beigebracht, Schriftzeichen zu lesen. Ich kenne nicht viele, weil man mir nicht genug beigebracht hat.« Nun sieht er ihr endlich ins Gesicht. »In der neuen Welt werden Menschen wie ich eine Chance haben, aber dir liegt ja nichts daran.« »Doch, mir liegt was daran.« Wirklich? Liegt mir wirklich was daran? fragt sich Yu-ying. 676
Hinter Ho Jin-shi lachen die jungen Soldaten leise. Keiner von ihnen hat eine komplette Uniform, aber alle tragen am rechten Überarm eine weiße Binde mit einem roten Stern. Das verbindet sie. Sie sind geeint, der arme Jin-shi dagegen wirkt mutterseelenallein. »Mach dir keine Gedanken«, sagt Yu-ying und nimmt seine Hand, die sich kalt, leblos anfühlt. Sie bedeckt sie einen Augenblick schützend mit ihren eigenen Händen. »Als wir diesen Mann umbrachten, hat uns das fürs Leben verbunden.« Er lächelt sie verblüfft an. »Ich will damit sagen, wir haben gemeinsam etwas getan, was niemand verstehen kann. Ich meine damit …« Yu-ying hält inne, weil ihr keine überzeugende Erklärung einfällt. Vielleicht liegt es daran, daß unweit von ihnen ein Mann stehengeblieben ist. Die Soldaten gaffen ihn an, als er einen großen, spitz zulaufenden Sonnenhut abnimmt. Er trägt zwar ein langes, schwarzes chinesisches Gewand, aber die abgenommene Kopfbedeckung enthüllt etwas Auffallendes: Sein Haar ist weizenfarben, und das von der Sonne gerötete Gesicht ist das eines Mannes aus dem Westen. Er kommt auf sie zu. Sie sieht eine große, bläuliche Narbe auf seiner Stirn, und ein Schrei des Erkennens entringt sich ihr. »Ich war mir nicht sicher …«, sagt der blauäugige Mann auf chinesisch, was sich aus seinem Mund fremdartig ausnimmt. »… aber sind Sie Sonja?« Er hält ein Photo in der Hand. »Ich heiße Tang Yu-ying«, erklärt sie mit gespreizter Würde. »Aber ich war einmal Sonja.« Lächelnd fährt sie fort: »Philip.« Und dann auf englisch: »Ich erinnere mich 677
an dich.« Zu ihrer Erleichterung umarmt er sie nicht, sondern verbeugt sich leicht in der formellen Art eines Chinesen und sagt: »Mein Karma muß besser sein, als ich dachte, denn ich hab’ dich gefunden.«
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D
och was jetzt? fragt sich Embree; sie sitzen in einem kleinen Restaurant neben dem »Tor auf halbem Weg zum Himmel«. Er blickt sie an, überrascht, daß er sich zunächst nicht sicher gewesen war, ob es sich um sie handelte. Allerdings hat sie sich das Haar kurz geschnitten wie ein Junge, während es auf dem Photo schulterlang ist. Trotzdem hat er das Mädchen an der Brüstung zuerst für eine Chinesin gehalten. Nun sieht er, daß sie die Tochter Veras und des Generals ist. Die rassisch gemischte Physiognomie hat seine Phantasie nie mehr losgelassen, seit er zum erstenmal das eben geborene Mädchen sah, das Vera in dem Hongkonger Krankenhaus in den Armen hielt. Sonjas Augen sind ausgesprochen chinesisch, doch die Nase läuft spitz zu, ganz wie bei ihrer russischen Mutter. Ganz ungewöhnlich jedoch ist die reife Wirkung, die von ihr ausgeht. Er hat ein Mädchen erwartet, doch an dem wackligen Tisch in dem dunklen Lokal sitzt ihm eine junge Frau gegenüber – die ihn argwöhnisch betrachtet. Der Kommunist hingegen wirkt noch ganz wie ein Junge: mager, mit scharfgeschnittenen Zügen, ganz offen, eifrig Fragen stellend. Sie sprechen Teochiu, und Embree antwortet, während seine Augen auf Yu-yings Reaktionen fixiert sind. Wie er hierhergekommen sei? will der Junge wissen. Per Flugzeug von Schanghai nach Tsinan, dann weiter mit Fuhrwerk und Lastwagen. Was ihn hierhergeführt habe? Er stehe jetzt im Dienst der WHO, antwortet Embree, und als Arbeitsgebiet sei ihm die Provinz Schantung zugeteilt worden. Es dauert einige Zeit, bis der Junge die 679
Bedeutung der WHO versteht. Während Embree erklärt, wirft er oft einen kurzen Blick auf seine Stieftochter. Ihr Mund? Wie der ihrer Mutter, lautet sein Befund: üppig; die beinahe schmollenden Lippen geben ihrem Gesicht manchmal ein unvermittelt sinnliches und dann wieder ein skeptisches, fast verdrossenes Aussehen. Ho fragt weiter. »Wie denken Sie über den Krieg? Wird es zu einer Schlacht kommen? Wo steht die Dritte Feldarmee?« Embree antwortet, daß das schwer zu sagen sei. Vor einiger Zeit hätten ein paar Divisionen in Taian kampiert, nachdem sie letzten Winter die Nationalisten aus der Stadt geworfen hätten. Aber soviel er wisse, sei nur ein Bataillon als Garnison zurückgelassen worden. Die Dritte Feldarmee sei zumeist auf dem Marsch. »Sie ist nicht leicht zu finden«, schließt Embree lächelnd. »Glauben Sie, daß ich danach suche?« Embree zuckt mit den Achseln. »Wer weiß.« »Doch, ich suche nach ihr«, sagt der Junge, beugt sich nach vorne und stützt die Ellenbogen auf dem Tisch auf. »Ich möchte mich ihr anschließen.« »Das glaube ich Ihnen.« »Ja?« Ho Jin-shi entspannt sich und lehnt sich zurück. »Das freut mich, denn wenn Sie mir glauben, dann verstehen Sie mich auch. Sie« – er nickt zu Yu-ying hin – »hat mir erzählt, daß Sie in Burma gekämpft haben. Waren die Japaner gute Soldaten?« »Sehr gute.« »Ich hab’ welche in Bangkok gesehen, als ich noch ein Kind war. Sie haben mir nicht sehr imponiert.« 680
Ein kleiner Junge bringt ihnen das Mittagessen: geschmortes Huhn mit Pilzen. »Ich habe schon oft von diesem Gericht gehört.« Embree blickt auf den dampfenden Topf. »Sie ziehen einen Pilz, der nur hier oben um die alten Kiefern wächst. Jedenfalls wird es so erzählt. Bevor man den Pilz kocht, reißt man ihn in Stücke. Wenn man ihn mit einem Messer zerschneidet, wird der Geschmack verdorben.« »Mutter hat dich geschickt.« Embree will gerade eine Schöpfkelle in den Topf tauchen. Ohne das Mädchen anzublicken, sagt er: »Deine Mutter wollte, daß ich dich suche, falls du in diese Gegend des Landes kommen solltest.« »Nein, sie hat dich geschickt. Sie wußte, daß ich hier sein würde.« Embree erklärt, da die WHO ihn nach Schantung geschickt habe und er ohne ein Wort von zu Hause abgereist sei, habe er natürlich versucht, sie um ihrer Mutter willen hier ausfindig zu machen. »Als du von Schanghai weg bist, hast du gewußt, daß ich hierherkomme.« »Wie hätte ich das denn wissen sollen? Ich habe geraten.« »Nein«, sagt das Mädchen mit Nachdruck. »Mutter wußte es.« Der kleine Junge bringt drei Becher Wasser. »Auch das gilt als eine Spezialität«, sagt Embree munter. »Das Wasser vom T’ai-schan ist das reinste und schmackhafteste in China.« »Ich gehe ganz auf den Berg hinauf.« Embree sieht sie an. Ihre zusammengepreßten Lippen verblüffen ihn, weil er einen Augenblick lang glaubt, er 681
blicke Vera an. »Das weiß ich.« Er lächelt. »Und ich hab’s auch vor.« Er wendet sich Jin-shi mit der Bemerkung zu: »Also gehen wir alle hinauf.« Nach ein paar Bissen von dem geschmorten Huhn lacht er kurz auf. »Nun, wenigstens das Wasser ist gut.« Über viertausend Steinplatten führen hinauf zum Gipfel. Der Anstieg nach dem »Tor auf halbem Weg zum Himmel« beginnt sanft und führt durch eine reizvolle Szenerie von Zypressen und Wasserfällen. Auf dem Weg schleppen nun Kulis Lebensmittel und Baumaterialien aufwärts. Allen voran ist Ho Jin-shi, ungeduldig darauf brennend, den Gipfel zu erreichen, der noch gut drei Kilometer entfernt ist. Embree selbst empfindet die Ungeduld eines viel jüngeren Mannes. Er fragt sich nach dem Grund, der diese alte Unruhe aufkommen läßt. Vielleicht macht ihn nur die Gegenwart einer so attraktiven Frau übermütig. Doch ein Blick auf den Bergpfad weiter oben ernüchtert ihn, und ein anderer Gedanke stimmt ihn trübe: Wie soll er Sonja – das heißt Yu-ying – zur Rückkehr nach Schanghai bewegen, ohne sein Vera gegebenes Versprechen zu brechen? Und wenn er es bricht, wird er wieder einmal als Versager dastehen – jedenfalls in Veras Augen. Die Willensstärke dieser Frau grenzt ans Wunderbare. Nur dank ihrer Überzeugung, daß er Erfolg haben könnte, hat er mitten im kriegszerrütteten China einen Menschen ausfindig gemacht. Zugegeben, der T’ai-schan bot sich für eine erste Suche an; als nächstes hätte er sich nach Küfu begeben. Doch wenn er vierundzwanzig Stunden früher oder später gekommen wäre, hätte er Yu-ying vielleicht verfehlt. Und Yu-ying nimmt an, diese Begegnung auf dem Berg sei von ihrer Mutter »vorausbestimmt« worden. Formidable Frauen, die beiden. Gesegnet oder geschlagen mit der 682
Fähigkeit zu glauben. Während sie beide nebeneinander hergehen (Ho Jin-shi ist hinter einer Kurve des Pfades außer Sichtweite), stellen sie fest, daß Sonja zehndreiviertel Jahre alt war, als er 1939 nach China ging. Sie gesteht ihm, daß sie niemals das klassische Xylophon spielen gelernt hat, das ranad ek, das er ihr zum zehnten Geburtstag schenkte. Aber sie erzählt ihm, daß sie ein bißchen schreibt, in ein Tagebuch – und mit einer imaginären Freundin spricht. Das habe sie bisher noch niemandem anvertraut. »Vielleicht hast du’s mir erzählt, weil ich ebenfalls zu imaginären Freunden spreche. Als Schuljunge erfand ich mir einen Freund, weil der Nachhauseweg so langweilig war.« »Dann bin ich also nicht verrückt?« »Oh, das hab’ ich nicht gesagt.« Er lacht – ein sonderbar offenes Lachen, weniger nervös als idiotisch. Philip Embree kommt der Gedanke, daß er wie ein Junge auf das Mädchen Eindruck machen möchte. »Du weißt nicht, wo sie ihn gefangengenommen haben?« fragt Yuying, als sie um eine Kurve biegen und eine steinerne Brücke in Sicht kommt. »Das weiß niemand. Aber es wird vermutet, daß es am Fuß des Berges geschah.« »Er wollte hinaufsteigen.« »Ich denke, ja.« »Warst du damals bei seiner Armee?« Embree zögert; einen gefährlichen Augenblick lang ist er drauf und dran, selbst ein kleines Geständnis zu machen: »Als er ermordet wurde, war ich mit deiner Mutter in Hongkong in Sicherheit.« Statt dessen sagt er: »Nein, ich 683
war in Peking und wartete auf seine Instruktionen. Sieh mal!« Er deutet auf einen Wasserfall oberhalb der Brücke; im Sonnenlicht erzeugen Myriaden von Wassertropfen einen Regenbogen, der ein paar Minuten in der Gischt tanzt und dann verlischt. Embree erzählt ihr von einem berühmten Dichter, Hsu Chi-mo, der Anfang der dreißiger Jahre bei einem Flugzeugabsturz in der Nähe dieses Berges ums Leben kam. »Er glaubte nur an die Liebe, an die Freiheit. Er verfaßte ein wunderbares Gedicht über den Abschied. Schweigend gehe ich fort, So schweigend, wie ich kam – Schüttle meine Ärmel, daß mir Kein Wolkenfetzchen mehr bleibt. Gefällt es dir?« »Es ist sehr traurig. Aber ich glaube, was er sagt. Wenn man fortgeht und einen neuen Anfang macht, muß man alles aufgeben.« Embree lächelt gezwungen. Meint sie etwas Bestimmtes damit? Ihre Mutter, ihr Zuhause? Daß sie die Vergangenheit aus ihren Ärmeln schüttelt? Es hört sich an wie er selbst vor langer Zeit, als er genau das tat: alles hinter sich ließ – Zuhause, Familie, Freunde, ein Mädchen, das er heiraten sollte, einen Beruf, an dem er hing –, alles der Neugier opferte. Ich sollte sie warnen, denkt er. Gern würde er ihr davon erzählen, von den guten und von den schlechten Seiten, kann es aber nicht, nicht jetzt. »Du hast die Energie deiner Mutter«, sagt er aufrichtig. »Und die meines Vaters.« Sie sehen Ho Jin-shi den Stufenabschnitt oberhalb der 684
Brücke herablaufen. »Wo bleibt ihr denn?« schreit er. »Ihr laßt euch zuviel Zeit!« Als er auf sie zukommt, verzieht er das Gesicht. »Entschuldigung«, sagt er zu Embree. »Ich habe ganz vergessen, daß Sie alt sind.« »Wie kommen Sie denn darauf? Mein Gott, so alt auch wieder nicht.« Aber er spürt, daß sein Gesicht erhitzt ist. Mit einem kurzen Blick auf Yu-ying wiederholt er: »So alt auch wieder nicht.« »Warum denn so eilig? Wir wollen uns anschauen, was es hier zu sehen gibt«, sagt sie ärgerlich zu Ho Jin-shi. »Oben gibt’s aber noch mehr zu sehen.« Er deutet mit einer Bewegung des Arms zum Gipfel hinauf. »Wenn wir es überhaupt schaffen. Du solltest sehen, wie schnell diese Soldaten sind, die wir unten an dem Tor sahen. Sie sind schon weit oben.« Mit schwungvollem Schritt geht Philip Embree von der Brücke auf den nächsten Stufenabschnitt zu. Ho überholt ihn rasch. »Jetzt fällt mir ein«, sagt Yu-ying plötzlich im Hinaufsteigen, »daß du ein Drache bist wie ich. Aber deinen Monat und Tag weiß ich nicht mehr.« »Ich wurde im August an einem Montag geboren. Ist das schlecht?« »Nein, du bist ein goldener Drache. Jupiter ist in deinem Mund und gibt dir kluge Worte ein.« Nimmt sie die Astrologie ernst? »Aber du kannst jähzornig werden.« Embree lacht – dieses verdammte blöde Lachen. Er nimmt sich vor, während des Aufstiegs nicht noch einmal zu lachen, und so, wie der steile Pilgerpfad vor ihnen aussieht, wird es auch nichts zu lachen geben. Schon atmet 685
er mit Mühe, und sein Gesicht wird schweißnaß. »Los«, sagt er fröhlich, »gehn wir auch so rasch wie dein Freund, sonst denkt er, ich bin alt.« Das Mädchen geht neben ihm, und mit einem Anflug von Betroffenheit stellt Embree fest, daß ihr Atem beinahe normal geht. Die Zypressen bleiben zurück, auf den Berghängen zu beiden Seiten des Stufenwegs stehen Zedern und Kiefern. Am »Pavillon der Kiefer vom fünften Rang« kommt Ho zu ihnen zurück. Sie setzen sich auf die Stufen davor und betrachten drei Kiefern. Während der Ch’indynastie, vor mehr als zweitausend Jahren, erzählt Embree, habe sich hier während eines Gewitters ein Kaiser unter eine Kiefer gestellt. Für ihren treuen Dienst erhielt sie den offiziellen Status eines Höflings – vom fünften Rang. In der Mingzeit wurde sie während eines anderen Gewitters über dem T’ai-schan vom Regensturm fortgespült. Diese drei Kiefern wurden unter der Chingdynastie gepflanzt. »Und eines Tages werden sie auch fortgespült werden. Hier ist alles alt«, sagt Ho und steht auf. »Bis auf die Soldaten. Wenn ich könnte, würde ich bei ihnen bleiben.« »Das glaube ich«, sagt Embree und erhebt sich gleichfalls. »Sie sind ja sehr kräftig.« »Ich habe in Bangkok Fußball gespielt«, erklärt Ho stolz. »Sind Sie Kommunist?« »Nein.« Ho sieht überrascht aus. »Also Nationalist?« »Nein.« »Aber irgendwas müssen Sie doch sein.« »Nicht in diesem Land.« Embree blickt über seine Schulter zu dem Mädchen hin, daß sich noch nicht von der 686
Pavillonstufe erhoben hat. Vielleicht sinnt sie über die ehrwürdigen Bäume, über das alte China nach, das ihr Vater liebte. »Aber vor vielen Jahren war ich etwas in diesem Land.« »Und was?« »Jemand, der an ihren Vater glaubte.« Ho blickt über Embrees Schulter zu Yu-ying hin. »Dann war er also wirklich ein General?« »Haben Sie denn daran gezweifelt? Er war ein Mann, der am richtigen Ort zur verkehrten Zeit geboren wurde.« »Sie sagte, daß er ein großer Mann war.« Ho zuckt mit den Achseln. »Ich habe es ihr geglaubt, aber wenn ich es von Ihnen höre, glaube ich es noch mehr. Sie wissen, was Krieg ist. Und was weiß ich? Nichts. Was halten Sie von mir?« Verblüfft hört Embree diese offenherzige Frage. »Nun ja, ich kenne Sie doch gar nicht.« »Sie kennen auch sie nach all diesen Jahren nicht mehr, aber ich weiß, was Sie von ihr halten.« »Ja?« Embree lächelt etwas angestrengt. »Und was?« »Sie haben ein Auge auf sie geworfen. Aber ich weiß nicht, was Sie von mir halten.« »Ich finde, Sie reden, ehe Sie überlegen.« »Finden Sie? Gehn wir los.« Ho setzt sich in Marsch, dreht sich um und winkt Embree mitzukommen. »Keine Sorge, sie holt uns schon ein.« Ohne zu zögern, paßt Embree sich seinem Schritt an, und sie bringen den nächsten Stufenabschnitt beinahe im Trab hinter sich. »Moment. Dieser Bogen dort vorne. Er heißt der ›Torbogen zur Unsterblichkeit‹. Danach kommen achtzehn Stufenabschnitte, jeder mit zweihundert Stufen. Geradeaus 687
nach oben.« »Warten Sie lieber hier auf Yu-ying.« Der junge Mann wendet sich ab und schreitet aus. Embree folgt ihm mit einem Abstand von ein paar Schritten. Vor langer Zeit, denkt er, hab’ ich etwas Ähnliches getan in einem chinesischen Militärlager. Zusammen mit vierzehn anderen Soldaten beteiligte er sich damals an einem Langstreckenwettlauf. Sie durchquerten einen reißenden Fluß, liefen einen steilen Hügel hinauf und dann das Ganze zurück. Ein Mann ertrank. Ein anderer, der Embree über die Uferböschung des Flusses stoßen wollte, wurde von diesem ins Wasser geschubst und ertrank ebenfalls. Embree hätte, obwohl er verletzt war, beinahe gewonnen. Beim Endspurt verlor er vor tausend versammelten chinesischen Soldaten um einen knappen Meter am oberen Ende einer Strickleiter. Und jetzt, sagt er sich, möchte ich es unbedingt mit einem jungen Burschen aufnehmen, der damals keine Chance gegen mich gehabt hätte. Aber er ist jung, und ich bin alt, wie er sagt. Diese Gedanken spornen Philip Embree zu einer Anstrengung an, die er sich nie zugetraut hätte. Bei der dritten der achtzehn Kehren holt er Ho Jin-shi ein, der ihm einen überraschten Blick zuwirft. Zusammen gehen sie weiter, nun etwas langsamer. Der Jüngere wirft ihm häufig einen Seitenblick zu. Die Stufen führen nun beinahe vertikal aufwärts. Alte Frauen tasten sich mühsam jede Steinplatte empor, doch mit Hilfe ihrer Holzstäbe schaffen sie es. Ihre Gesichter sind rot wie Äpfel vom Wind und von der körperlichen Anstrengung. Embree rinnt der Schweiß vom Gesicht, seine Yogaübungen haben ihn nicht auf eine solche Strapaze vorbereitet. Es freut ihn zu sehen, daß Ho ein bißchen langsamer 688
wird. Und jedesmal, wenn der Junge am Ende eines Stufenabschnitts einen Augenblick stehenbleibt, zeigen sich auf seinem Gesicht Überraschung und Ärger, weil Embree nicht mehr als ein Dutzend Stufen hinter ihm ist. Dieser Ausdruck auf Hos Gesicht bereitet Embree einen Hochgenuß. Ich habe auf einem Pferd schlafen gelernt, denkt er. Ich habe einen Mann in einen Fluß gestoßen und damit getötet. Ich habe einen anderen im Kampf mit einer Axt umgebracht. Ich habe den Dschungel Burmas überlebt. Doch Embree spürt, daß sein Körper ihm sagt: Es geht nicht, du mußt dein Tempo drosseln. Sein Geist hingegen sagt: Nur noch ein bißchen mehr Energie aufwenden, dann überholst du den Jungen. Aber es ist Selbstbetrug. Denn Ho Jin-shi keucht zwar ebenfalls schwer, scheint aber frische Kraft gewonnen zu haben und steigt mit neuer, stummer Entschlossenheit weiter, die ihren Ausdruck in einem verbissen gleichmäßigen Tempo findet. Auf halbem Weg die achtzehn Stufenabschnitte hinauf bleibt Embree zwanzig, dreißig Schritte hinter dem Jungen zurück. Er sieht die schlanke Gestalt sich zielstrebig nach oben bewegen. Wie kann dieses Bürschchen es wagen, ihn mit dem Vorwurf zu beleidigen, er habe es auf die Tochter Veras und des Generals abgesehen! Er dreht sich um blickt den Leuten entgegen, die auf ihn zukommen. Er fragt eine alte Frau: »Sind Sie müde, Mutter?« »Nein, ich bin nicht müde«, sagt sie. Das weiße Haar weht im Wind nach hinten, Schweiß strömt ihr übers Gesicht. »Wir sind nicht müde«, sagt eine zweite alte Frau, die seine Höhe erreicht. 689
Sie stehen da und blicken Embree an, der sich gegen die Stützmauer der Steintreppe lehnt. »Die Göttin der Blauen Wolken gibt uns Kraft«, sagt die erste. Glaube. Embree sieht ihnen nach, wie sie bedächtig die Stufen weiter erklimmen. Ihr Glaube wird sie zum Gipfel hinaufführen. Aber langsam. Selbst der Glaube kann ihnen – oder auch ihm – die Frische der Jugend nicht zurückgeben. Jetzt entdeckt er sie auf dem nächsttieferen Stufenabschnitt. Zwischen den Chinesen wirkt sie mit ihrem kurzen schwarzen Haar, den Ponyfransen, der blauen Hose, der schlichten weißen Bluse wie eine Chinesin. Doch als sie heraufblickt und lächelt, wird in ihrem Gesicht die andere Person erkennbar. Hat er in dem Kind jemals die Frau gesehen? Nicht, daß er sich erinnern könnte. Als sie auf ihn zukommt, sagt Embree kopfschüttelnd: »Ich bin ein Narr. Ich habe versucht, mit ihm mitzuhalten.« Yu-ying betrachtet ihn genau. »Ja, du bist wirklich ein Narr.« Und sie lacht auf, hell, fröhlich und ansteckend. »Wo ist er jetzt?« »Dort oben und fordert vermutlich die ganze Rote Armee zu einem Wettlauf heraus.« »Fühlst du dich gut?« »Ja, natürlich.« Embree tritt von der Stützmauer weg. »Aber wir können ja etwas langsamer gehen.« Yu-ying streckt die Hand aus, um ihn am Arm zu nehmen, aber er weicht zurück wie vor rotglühendem Eisen. »Nein, nein«, sagt er nervös und beginnt, rasch weiterzusteigen. Nein, denkt er, ich lasse mir nicht helfen. 690
Später, in Augenblicken der Muße, wird ihm die Wahrheit bewußt werden: Er fürchtete ihre Berührung. Nun geht es so steil nach oben, daß sie die Wirkung der Schwerkraft empfinden. Die Leute beugen sich nach vorne, konzentrieren sich auf jede einzelne Steinplatte. Drei Soldaten vor Yu-ying und Philip bleiben plötzlich stehen. Einer von ihnen setzt sich hin und erbricht sich leise zwischen seine Beine. Die Kulis mit ihren schweren Lasten bewegen sich wie Schlafwandler. Auf einem anderen Absatz des Stufenganges packt Embree das Steingeländer und blickt hinüber zum »Felsen des fliegenden Drachen«. »Die Kaiser«, erzählt er, als er wieder zu Atem gekommen ist, »haben den Berg auf andere Weise erstiegen. Sie wurden in Palankinen hinaufgetragen. Wenn sie oben angekommen waren, setzten sie sich auf einen Thron. Dann tranken sie Wein und beteten zum Gott des T’ai-schan um eine lange Regierungszeit.« »Auf diese Weise kamen sie um das Erlebnis des Aufstiegs. Es ist besser, den T’ai-schan zu ersteigen, wie wir es tun, hab’ ich nicht recht?« Er sieht sie an und merkt, daß die Frage ernst gemeint ist. »Natürlich«, schwindelt er. Alles steigt schweigend bergan, nur ein Keuchen ist überall auf den Stufen zu hören. Längs der steilen Treppe läuft eine Kette aus Eisengliedern, an der sich viele der alten Frauen und auch einige Soldaten festhalten. Embree wie Yu-ying haben den Versuch aufgegeben, Ho auf den höheren Treppenabschnitten zu entdecken. Embree stellt befriedigt fest, daß das Mädchen keine Sorge um ihren jungen Begleiter zu erkennen gibt. Vor ihnen in der Höhe ragt ein im späten Nachmittagslicht schon dunkel wirkendes karmesinrotes Bauwerk hoch, das dritte und 691
letzte Tor, genannt »südliches Tor zum Himmel«. Sie bleiben inzwischen nach jedem Stufenabschnitt stehen. Viele der Pilger legen lange Verschnaufpausen ein. Sie sitzen auf den Steinplatten, umklammern mit beiden Händen ihre Holzstöcke und lehnen die Wangen daran. »Ich glaube wirklich, daß es für manche von ihnen ein Aufstieg zu ihrem Gott ist«, sagt Embree. »Natürlich.« »Du zweifelst nicht daran?« »Nein.« So etwas würde ihre Mutter auch sagen. »Ich war einmal in der heiligen Stadt Benares«, beginnt er und läßt die Erinnerung sich entfalten, fast ohne sie bewußt zu steuern. »In einem Boot auf dem Ganges. Ich sah eine lange Reihe von drei- oder vierhundert Hindus – Männer, Frauen und Kinder –, die einen Zementkahn am Fuß eines Ghat entluden. Du weißt, was ein Ghat ist. Eine Art Böschung mit einer Ufertreppe. Jedenfalls, sie schleppten den Lehm das Ghat hinauf, das fast ebenso steil war wie dieser Stufenabschnitt hier, was mich vermutlich darauf gebracht hat. Der Lehm war in eisernen Schüsseln, die sie auf dem Kopf balancierten. Wenn sie oben auf dem Ghat angekommen waren, schütteten sie den Inhalt in eine Baugrube. Jede der Lasten muß über zwanzig Kilo schwer gewesen sein. Wie gesagt, es waren Männer, Frauen und Kinder. Ich bin überzeugt, daß manche der Kinder kein Pfund mehr gewogen haben als die Last, die sie trugen. Es war schrecklich heiß. Ich stieg unmittelbar neben dem Zementkahn aus dem Boot. Stell dir das Bild vor. Links der Kahn. Rechts ein brennendes Ghat. Verstehst du? Wo sie auf Scheiterhaufen die Toten verbrennen. Und gleich dahinter, vielleicht sieben Meter weit weg, spielten ein paar Kinder im Sand, vermutlich, weil sie zum Arbeiten 692
noch zu klein waren. Als ich dort an Land ging, brannte gerade eine Leiche, und im gleichen Augenblick fiel ein Fuß aus den Flammen. Der Mann, der den Scheiterhaufen bewachte, packte – sehr geschickt, wie ich mich erinnere – den Fuß mit zwei Stöcken, die er dafür bereithielt, wie mit zwei riesigen Eßstäbchen und stieß ihn ins Feuer zurück. Und mir ging der Gedanke durch den Kopf: Soll das also das Leben sein? Besteht das ganze Leben daraus, daß man geboren wird, ein paar Jahre lang spielt, ungezählte Stunden arbeitet, und am Schluß purzelt einem ein Fuß aus dem Feuer des Scheiterhaufens?« Mein Gott, denkt er, ich wollte doch so was nicht sagen! »Es tut mir leid.« »Warum sollte es dir leid tun? Du hast die Welt gesehen, und du hast dir Gedanken darüber gemacht.« Er wendet sich ihr zu und betrachtet ihr ernstes, fast trotziges Gesicht. Aus ihrem Blick spricht, daß sie ihn gegen die Welt in Schutz nehmen möchte, die er gesehen und über die er nachgedacht hat. »Ja«, sagt er, »ich habe viel von der Welt gesehen.« »Früher war mir das nicht klar. Mutter –« Sie zögert, bevor sie etwas preisgibt, was Embree schon immer gewußt hat. »Mutter hat nie sehr wichtig genommen, was du getan hast. ›Was Philip auch tut, er ist immer ein Soldat‹, sagte sie und lachte dazu. So hat sie dich dargestellt.« »Wie ich es verdient habe.« »O nein!« Sie streckt die Hand aus und berührt seinen Ärmel. Embree zieht die Krempe seines breiten Kulihuts tiefer, so daß seine Augen im Schatten liegen. »Deine Mutter hatte eben nie etwas für den Krieg übrig. Sie hat genug davon erlebt und weiß die Wahrheit – daß es der Inbegriff des Krieges ist, Menschen weh zu tun.« 693
»Dabei war mein Vater ein General.« »Das war etwas anderes.« Er muß dieses Gespräch abbrechen, zu dem seine unüberlegte Erzählung geführt hat. »Gehn wir weiter.« »Weißt du, meine Mutter ist eben eine Aristokratin«, fährt Yu-ying fort. »Der Krieg in Rußland brachte sie um ein wunderbares Leben. Natürlich hat sie dadurch den Krieg hassen gelernt. Aber mein Vater war für sie mehr als ein General. Er entstammte einer guten Familie, die in ihrem Elternhaus willkommen gewesen wäre. Verstehst du?« Embree nickt. Natürlich stimmt das alles. Aber es zeigt auch, daß diese junge Frau hier nicht mehr die Sonja ist, die ihm den kindlichen Willkommensbrief nach Madras schickte. Irgend etwas hat sich in ihr verändert. Er sagt: »Deine Mutter war dem General ebenbürtig. Sie ist eine Frau von tiefer …« Er hält inne, um Atem zu holen. »… von tiefer Empfindungskraft.« »Ich liebe sie. Aber ich habe sie bestohlen. Du weißt das vermutlich.« Embree nickt wieder. Er legt den Kopf in den Nacken und blickt hinauf zu dem nächsten Absatz des Stufenpfads weit, weit über ihnen. Ich werde es nicht schaffen, denkt er. Ich muß mich auf die Stufen setzen. Zu seiner Überraschung setzt sich Yu-ying zuerst. Schwer atmend läßt Embree sich neben ihr nieder. Er fährt sich mit dem Handrücken über die Stirn und stellt befriedigt fest, daß auch ihr Gesicht schweißbedeckt ist. In ihrem Alter hätte er sie auf diesen Berg tragen können. Beinahe jedenfalls. »Ich sagte, daß ich sie bestohlen habe.« Wieder nickt er. Ein paar Augenblicke später ist er imstande zu sprechen. »Es macht nichts aus. Wenn du das 694
Gegenteil glaubst, kennst du sie nicht.« Yu-ying blickt auf ihre zwischen den Knien verklammerten Hände. »Aber ich kann jetzt nicht zurück. Ich habe noch nicht den Wunsch, sie zu sehen.« »Warum nicht? Du würdest sie sehr glücklich machen.« Sie blickt ihn an. »Du bist loyal. Sie selber hat das nie gesagt, doch du bist loyal. Sie deutete immer andere Dinge an.« »Welche Dinge? Ach was, es ist nicht weiter wichtig.« »Das finde ich auch. Aber sie gab zu verstehen, daß du … verantwortungslos bist. Ein Mensch, auf den kein Verlaß ist.« »Vielleicht hatte sie dafür einen guten Grund.« »Glaubst du, es kümmert mich? Was zählt das schon, was früher passiert ist?« Sie blickt auf den Gebirgsstock. »Dieses Bild ist schön, also zählt es. Vielleicht tun wir alle eine Menge unrechte, schreckliche Dinge.« Embree unterdrückt ein Lächeln. Schreckliche Dinge. Das Mädchen ist ja erst zwanzig. Hat eine Vase gestohlen. Wie »schrecklich« ist das schon in der kosmischen Ordnung der Dinge? Yu-ying blinzelt im vergehenden Licht des Tages hinauf zum »südlichen Tor zum Himmel«. Der massige, rote Bogen steht nicht mehr weit über ihnen. »Wir sind also dem Himmel nahe.« »Eben das haben sie die Jahrhunderte hindurch gesagt – all die Kaiser, die Dichter, die Generäle, die Philosophen, die den gleichen Ausflug gemacht haben wie wir.« »Aber die meisten von ihnen wurden getragen.« Sie lachen, und ihre Blicke begegnen einander beinahe verschwörerisch, obwohl dieser Aufstieg doch einem 695
ernsten Zweck bestimmt ist. Sie haben das »südliche Tor zum Himmel« erreicht und blicken hinab, dorthin, woher sie gekommen sind: tausende von Stufen in gewundenem Lauf, anzusehen wie ein Band aus grauem Wasser, ein Bergbach. »Ich bin wohl doch nicht so alt«, sagt er. »Du bist doch nicht alt!« erklärt das Mädchen überraschend hitzig. »Hör nicht auf ihn. Du bist außerdem jünger als Mutter, wie ich von ihr weiß.« »Die Aufrichtigkeit ehrt sie.« Das Mädchen reagiert nicht darauf. Selbst will sie über ihre Mutter sprechen, ich aber soll es nicht, sagt sich Embree. Ihre Beziehung zu Vera ist wohl ziemlich vielschichtig. Sie sehen, wo die Kulis ihre Traglasten abgesetzt haben. Hier auf dem Plateau wird zur Zeit mit aus dem Fels gehauenen Platten und Zement eine Straße angelegt. Überall sind Zelte aufgeschlagen, vor denen sich in der Dämmerung Arbeiter um brodelnde Reistöpfe über kleinen Feuern versammeln. »Mitten im Krieg bauen sie auf diesem Berggipfel eine Straße?« fragt Yu-ying erstaunt. »Das gehört zu deinem Erbe«, sagt Embree. »Die Chinesen haben das so an sich. Auch in den schlimmsten Zeiten lassen sie sich nicht davon abhalten, irgend etwas zu essen oder zu kaufen oder zu bauen. Selbst wenn sie mitten in einer Überschwemmung auf ihrem Hausdach sitzen, knabbern sie an einem Weizenbrötchen, kaufen ein Stück Stoff von jemandem, der auf einem Baumstamm vorübertreibt, und basteln sich damit ein Schutzdach.« Embree gefällt, wie er das eben beschrieben hat: eine nicht 696
unterzukriegende Lebensbejahung. Yuying muß jedenfalls lachen. Offensichtlich lacht sie genauso leicht wie er. Sie lassen die Kulis hinter sich und gehen über den zerklüfteten Boden des Plateaus. Weiter vorne stehen einige Tempel und Steinhütten, anscheinend willkürlich zwischen den Felsen verteilt. Da die Sonne schon niedrig steht, liegt in der leichten Brise, die weht, ein kalter Hauch, der nicht zu der sommerlichen Jahreszeit passen will. »Es ist zu spät, sich heute noch die Tempel anzusehen«, sagt Embree, während sie hinter einigen Pilgern den Pfad entlanggehen. Vor ihnen ist eine Bodenerhebung, die ihnen einen Blick auf den eigentlichen Gipfel gewährt. Dort steht ein weiteres Gebäude, der »Tempel des Jadekaisers«. »Gibt es hier oben Unterkünfte?« Embree blickt sie lächelnd an. Die Unbesorgtheit der Jugend. Sie ist den ganzen langen Weg hierhergekommen, ohne zu überlegen, wo man die Nacht zubringen könnte. »Ja, natürlich. Nichts Großartiges, soviel ich weiß, aber zumindest werden wir es warm haben. Heute nacht wird es hier oben bestimmt kalt.« »Wo er wohl hingegangen ist?« Endlich die Frage. Etwas gereizt sagt Embree: »Das Plateau ist groß. Er könnte überall sein.« »Ich denke, wir suchen uns lieber ein Rasthaus«, schlägt Yu-ying plötzlich vor. Embree bleibt stehen. »Es wird nicht viele hier oben geben. Ich bin überzeugt, daß er uns finden wird.« Er bemüht sich, die Frage nicht zu stellen, stellt sie aber nach einer Pause doch. »Bleibst du bei ihm?« »Nein, ich will nicht mehr bei ihm bleiben.« 697
»So.« Embree blickt weg, als hielte er nach einem Rasthaus Ausschau. »Hier oben gibt es sicher nur Gemeinschaftsräume.« Er spürt, wie ihre Hand seinen Arm drückt, folgt ihrem Blick und sieht den Jungen mit zwei Soldaten über das steinige Plateau kommen. Haben sie ihn festgenommen? Embree wird sich bewußt, daß ihn ein Gefühl der Hoffnung erfüllt. »Das sind Veteranen«, ruft ihnen Ho entgegen, »und sie sprechen Teochiu!« Als er den Weg erreicht hat, sagt er lächelnd zu Embree: »Veteranen wie Sie. Nur daß sie für die Volksbefreiungsarmee kämpfen. Ich hab’ ihnen erzählt, daß Sie Amerikaner sind«, bemerkt er frisch-fröhlich. »Sie sagen, Tschiang Kai-schek ist eine Marionette der Amerikaner. Aber Amerika wird nicht gewinnen, sagen meine Freunde. Wir werden gewinnen.« Embree wendet sich den beiden Soldaten zu und spricht sie in Teochiu an. Ihre mageren, sonnenverbrannten Gesichter hellen sich auf. So beginnt ein Gespräch, während – wie Embree aus dem Augenwinkel feststellt – Ho Jin-shi und das Mädchen den Weg entlangspazieren. Die beiden Südchinesen erzählen abwechselnd ihre Geschichte. Sie wurden zu Beginn des Krieges gegen die Japaner in Kanton zum Militärdienst gepreßt. Als die Amerikaner die große Bombe abwarfen und die Japaner kapitulierten, wurde ihre Einheit auf ein amerikanisches Schiff verfrachtet. Auf diesem Schiff gelangten sie nach Chinwangtao in der Mandschurei, wo sich die Nationalisten bemühten, kommunistische Verbände zu zerschlagen, die dort nach dem Abzug russischer Truppen eingedrungen waren. In Szeping wurden die beiden von 698
den Roten gefangengenommen. »Wir dachten, daß sie uns erschießen, aber statt dessen gaben sie uns zu essen«, sagt der eine grinsend. »Wart ihr lange dort?« fragt Embree. »Fast zwei Jahre.« »Länger«, verbessert der andere. »Wir haben in Szeping und Changchun und Harbin und Mukden gekämpft.« »Zweimal in Szeping. Einmal auf der Seite der Nationalisten, das andere Mal gegen sie.« Als dann General Chen Yi hier in dieser Provinz Verstärkungen brauchte, waren diese beiden Männer unter den Soldaten, die ihm aus der Mandschurei zugeschickt wurden, diesmal in Dschunken über das Gelbe Meer. Seit dem Frühjahr stehen sie nun mit der Dritten Feldarmee im Kampf. »Das gefällt uns besser«, sagt der eine. »Es ist wärmer hier«, sagt der andere. »Ihr habt meinen Freund hier auf dem Gipfel kennengelernt?« »Ja. Er möchte sich uns unbedingt anschließen.« »Wirklich?« »Wir werden ihn zu unserer Einheit mitnehmen. Er ist mit einer Nachricht von weit her gekommen.« »Mit einer Nachricht?« Sie blicken ihn düster an. Diese Frage dürfen sie nicht beantworten – nicht, wenn sie von einem Ausländer, einem Amerikaner stammt. Embree bietet ihnen Zigaretten an, und sie nehmen an. Im frischen Wind rauchen die drei Männer. »Sind Sie mit amerikanischen Soldaten hier?« fragt der eine höflich. »Nein, im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation.« 699
»Gegen die Volksbefreiungsarmee?« Er ist noch immer höflich. »Die Weltgesundheitsorganisation ist unpolitisch. Sie soll den Menschen helfen, damit es ihnen besser geht. Ihre Gesundheit, das ist alles, was uns interessiert.« Jetzt kommen das Mädchen und Ho Jin-shi zurück, und ihre Gesichter zeigen einen Kontrast der Stimmungen. Er lächelt, sie blickt finster. Er geht mit einem Schwung, als hätte ihn heute noch nichts angestrengt, während sie mit gesenktem Kopf daherkommt, in Gedanken verloren. »Ich habe Glück gehabt«, sagt Ho fröhlich, als sie herantreten. Er deutet auf den Gipfel. »Dort oben hörte ich jemanden Teochiu sprechen, das Chinesisch, das ich kenne. Und als ich mich umsah, standen diese Genossen da. Sie wollen mir helfen.« Er strahlt sie an, und sie antworten ihm mit einem gezügelten Lächeln. »Ich gehe jetzt mit ihnen nach unten.« »Jetzt?« fragt Embree. »Es wird ja schon dunkel.« »Ach was, ich bin jung, ich kann bei Mondlicht sehen. Und sie sind Soldaten, die den Krieg kennen. So wie Sie.« »Die beiden sagten, daß Sie eine Nachricht zu überbringen haben.« Ho Jin-shi richtet sich auf. »Darüber kann ich nichts sagen.« »Verstehe. Sie gehen also mit ihnen, und kommen Sie auch wieder?« »Ich werde eine Weile fort sein. Aber ich habe Yu-ying gesagt, sie soll in dem Eisenwarengeschäft, wo wir heute morgen unser Gepäck zurückgelassen haben, eine Nachricht für mich hinterlegen. Es ist alles verabredet«, sagt er und stemmt die Hände gegen die Hüften. »Solch eine Chance bekomme ich wahrscheinlich kein 700
zweites Mal. Wo sonst in dieser Gegend soll ich jemanden finden, der Teochiu sprechen kann?« »Das ist richtig«, sagt Embree. »Und geht sie mit?« »Nein, sie kann nicht mit zu der Einheit. Noch nicht. Ich muß erst alles vorbereiten.« Er legt einen Augenblick den Kopf schief und lächelt Embree an. »Sie können ja auf sie aufpassen.« Als Embree darauf keine Antwort gibt, dreht Ho Jin-shi sich um und geht zu Yu-ying hin. Mit einer gewissen linkischen Anmut, findet Embree, legt der junge Mann ihr einen Arm um die Schulter und berührt sanft ihre Wange. Dann klatscht er in die Hände und wendet sich den Soldaten zu. »Seid ihr bereit, Genossen?« Sie nicken. Ohne einen Blick zurück geht Ho Jin-shi den beiden voraus den Weg entlang, der zum »südlichen Tor zum Himmel« führt. In der einfallenden Dunkelheit scheint sich seine schlanke Gestalt mit übernatürlicher Schnelligkeit zu bewegen, als drängte es ihn fort von diesem Ort, von Embree und von dem Mädchen, das ihn aus Siam herausgebracht hat. Embree dreht sich um und blickt das schweigende Mädchen an. »Mach dir keine Sorgen. Wenn er es bis hierher geschafft hat, schafft er es auch noch weiter.« Embree beginnt, rasch zu gehen, und hält längs des Berggrats Ausschau, ob sich unter den Hütten vielleicht ein Rasthaus befindet. Als sie ein paar Minuten gegangen sind, bleibt er stehen. »Möchtest du, daß ich ihn zurückhole?« »Er würde nicht hierbleiben.« 701
Embree beginnt wieder zu gehen. »Du machst dir Sorgen um ihn?« »Ja, doch.« Weiter vorne, knapp abseits des Weges, der zum Gipfel führt, steht ein Häuschen aus Stein mit einem über die Tür genagelten Schild, auf das zwei gekreuzte Geweihsprossen grob gezeichnet sind. Embree wird langsamer, weil er sich eine diskrete Frage ausdenken möchte. Statt dessen sagt er: »Liebst du ihn?« »Nein«, erwidert sie, ohne zu zögern. »Das war einmal.« »Aha«, sagt Embree vorsichtig. »Aber zwischen uns wird es nie ganz aus sein.« Yu-ying schüttelt ungeduldig den Kopf, als wollte sie ihn von Belastungen befreien: Erinnerungen, Schwüre, Bilder. »Wir sind füreinander verantwortlich.« Unfähig, einen Anklang von Grausamkeit zu unterdrücken, sagt Embree grob: »Du fühlst dich vielleicht für ihn verantwortlich, aber er ist anscheinend dir gegenüber nicht so eingestellt.« »Doch.« Nach ein paar Schritten fügt sie hinzu: »Auf seine Weise.« »Das Schild mit dem Geweih bedeutet, daß es ein Rasthaus ist.« Er versucht, einen beiläufigen Ton anzuschlagen. »Findest du, ich hätte ihm sagen sollen, er soll nicht gehen?« »Er wäre wohl trotzdem gegangen. Du hast es ja selbst gesagt.« »Ich weiß.« Nach dem Abendessen in einem engen kleinen Raum in Gesellschaft einiger Pilger – ein karger Imbiß, Tee, Weizenklößchen, etwas gebratenes Gemüse – gehen sie in 702
einen der gemeinschaftlichen Schlafräume. Auf dem Boden sind Matratzen ausgelegt mit einem schmalen Durchgang dazwischen. Im flackernden Schein einer einsamen Ölfunzel sieht Embree auf der anderen Seite Yuying liegen. Sie wirkt jetzt chinesisch, da die erschöpften Augen nur noch Schlitze sind. Doch sie lächelt herüber. Wie jung sie doch ist, denkt er, und dennoch erkennt er in ihrem Gesichtsausdruck frauliche Reife. Was tut sie jetzt? Lächelt sie? Als sie sich im Schein der Lampe nach vorne lehnt, beugt er sich auch vor. »Was ist?« fragt er flüsternd. Eine Armeslänge trennt sie voneinander. »Ich möchte, daß du mich Sanuk nennst. Hast du mich nicht früher so genannt?« »Zu meiner Zeit warst du Sonja.« »Ich will nicht mehr so heißen. Aber wenn ich mit dir zusammen bin, fühle ich mich auch nicht als Yu-ying.« Sie lachen beide leise. »Mutter hat mir den Namen Sanuk gegeben. Weißt du, was er bedeutet?« »Lebensfreude, oder?« »Also, nennst du mich Sanuk?« »Natürlich.« Dann fragt er sie: »Fehlt dir deine Mutter?« »Sie fehlt mir seit dem Tag, an dem wir losgezogen sind. Aber ich bin froh, daß ich hier bin. Genau hier. Ich möchte nirgendwo anders sein.« Sie lächelt dabei nicht, und ihre Worte wirken auf ihn tief ernst, enthüllen ihm eine bisher verborgene Seite ihres Charakters. Sie hat die Gabe der Bejahung – nicht eine passive Ergebung in Erlebtes, sondern die Fähigkeit, es zu verarbeiten und zu überleben. Sie ist Veras Tochter. 703
»Ich möchte auch nicht woanders sein«, antwortet er, als könnte schon diese Erklärung an sich ihm die gleiche Gabe der Bejahung verleihen, die das Leben ihm versagt hat und auch ihrem Vater versagt hatte, der an diesem Mangel starb. Sanuk schlängelt sich aus ihrer sitzenden in eine liegende Position und wickelt sich in die Decke. In ein paar Minuten, nimmt Embree an, wird das erschöpfte Mädchen eingeschlafen sein. Auch er ist erschöpft, kann aber nicht einschlafen und nutzt dies, um eine Bilanz dieses seltsamen Tages zu ziehen. Erst gestern ist er mit dem Flugzeug aus Schanghai nach Tsinan gekommen, erst diesen Morgen auf einem Lastwagen in Taian eingetroffen. Und während der ganzen anstrengenden Reise hat er keinen Augenblick wirklich geglaubt, daß er sie finden werde. Mit dem abgegriffenen Photo von Veras Tochter in der Tasche absolvierte er ohne Überzeugung die übernommene Pflicht. Er nahm sich vor, auf den Berg zu steigen und sich umzusehen. Ja, selbst noch in dem Augenblick, da er am »Tor auf halbem Weg zum Himmel« das Mädchen sah, glaubte er noch nicht richtig an den Erfolg seiner Mission. Aber sie war dort, und nun ist sie hier, schläft sie ihm gegenüber. Und noch Seltsameres ist heute geschehen. Als sie beim Aufstieg die Hand ausstreckte, um ihn zu stützen, wich er angstvoll der Berührung aus. Weil er diese Berührung wünschte. Weil er Sonja ersehnt. Er fühlt sich einer Panik nahe. Doch dann meldet sich der Gedanke, daß seine schuldbewußte Erregung eigentlich nur eine Pose ist. Was ihn wirklich beschäftigt, ist die Frage, wieviel ihr davon bewußt ist. Der Junge, in so vielem anderen blind, hat es zweifellos mitbekommen: Sie haben ein Auge auf sie geworfen, hat er heute gesagt. Und recht gehabt. Aber es 704
geht um mehr als um das reine Verlangen nach ihr. So bewußt will er sich die Sache gar nicht machen. Ich bin ein Kind, sagt er sich, so albern wie der Junge, der heute aus ihrem Leben verschwunden ist.
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ie erreichen den Gipfel noch vor Tagesanbruch. Im grauen Dämmerlicht sind kaum die Umrisse des kleinen Tempels auf der obersten Spitze des T’ai-schan zu erkennen. Pilger begleiten sie die letzten Stufen zu einer Seitenhalle des Tempels hinauf. Es ist kalt. Die Menschen drängen sich in ihren wattierten Jacken zusammen und beobachten die Veränderungen, die sich nacheinander am Himmel vollziehen: Zuerst ist er noch grau überzogen, dann weiß überflutet, gefolgt von einem Strom von Myriaden von Farbtönen, die Wolke um Wolke hervortreten lassen, und einer Explosion von Gold, die die Bergflanken in Licht taucht, und darauf entrollt sich ein weites, gelbes Laken, schneller, als das Auge zu folgen vermag, über jeden Felsblock, jede Spitze des Bergstocks. Sie lächelt ihn an. Er lächelt gleichfalls. Alle um sie herum lächeln, wie Menschen nach der Geburt eines Kindes lächeln, und was Himmel, Sonne und Erde soeben bewirkt haben, erscheint Sanuk auch wie eine Art Geburt, der Ausbruch einer neuen Welt unter Aufbietung gewaltiger Energie. Unter ihnen wogt ein urtümlich wirkendes Meer von Morgenwolken, die sich unter der emporsteigenden Sonne zusammenschieben, nun eine wohltätige Kupferscheibe zwischen dieser über dem Bergstock schwebenden Wolkenbank und einer weiteren höher oben, deren Unterseite nun in Flammen zu stehen scheint. So, denkt Sanuk, muß es bei der Erschaffung der Welt gewesen sein. Doch die Welt des T’ai-schan ist auch alt. Die Dächer mit ihren eisernen Ziegeln wirken so hochbetagt wie die alten Kiefern, an denen sie gestern vorbeikamen und von 706
denen Philip sagte, sie hätten vielleicht schon vor zweitausend Jahren dort gestanden, ehe die Große Mauer errichtet wurde. Sie betreten eine Halle, in der eine Bronzestatue des Jadekaisers steht. Yu-Huang ist lebensgroß dargestellt mit einem hängenden Schnauzbart und dünnem Kinnbart. Fresken stellen an der Ostseite die »Acht Unsterblichen« und an der Westseite weise Männer bei der Betrachtung mystischer Symbole dar. Der Gedanke geht ihr durch den Kopf: Lamai ist jetzt verheiratet. Als sie aus dem Schrein ins Freie treten, sehen sie, daß die Sonne die Wolkendecke weggebrannt hat. Sanuk geht von ihm weg, und er scheint ihr Verlangen nach Alleinsein zu verstehen, denn er bleibt, wo er ist, ein mittelgroßer Mann mit breiten Schultern und einem Kulihut auf dem Kopf, der die blauen Augen verbirgt, ebenso blau wie jetzt der Himmel über dem Berg. Sanuk klettert über ein paar Felsbrocken abwärts. Flüsternd spricht sie vor sich hin: »Ich spreche mit dir, Lamai. Du bist jetzt eine verheiratete Frau. Wie ist das? Oh, du brauchst mir nichts über die physische Liebe zu erzählen – die kannte ich schon, als du dich zur Heirat entschlossen hast. Ich meine, wie ist es, wenn man sich an jemanden bindet? Ich dachte, ich selbst hätte das auch getan. Nie mehr werde ich einen solchen Fehler machen. Für mich gibt es keine Heirat, liebe Freundin, keine Bindung. Du mit deinem Künstlerauge würdest es hier herrlich finden. Wir sind jetzt auf dem Gipfel. Wenn du nur sehen könntest, wie wunderbar es ist, wie die Erschaffung der Welt. Gestern waren sie beide mit mir zusammen. Heute ist nur der eine bei mir. Der arme Chamlong, ich habe Angst um ihn. Er nahm mich beiseite und sprach über seine wichtige Mission und daß sie um jeden Preis erledigt werden müsse. Was konnte ich schon sagen? Wenn ich ihn noch liebte, wäre mir vielleicht etwas eingefallen. Armer Chamlong! Bevor er fortging, berührte 707
er mich an der Wange und flüsterte: ›Du bist meine khwan fa‹, so wie damals vor dem Smaragdbuddha – meine geliebte, meine himmlische Seele. Es war lieb von ihm, und bei der Erinnerung an unsere erste gemeinsame Zeit wären mir beinahe die Tränen gekommen. Warum können die Dinge keinen Bestand haben? Der arme Chamlong! Er kennt ja China nicht. Er kann nicht erkennen, wie langsam und ernst es hier zugeht. Er ist als Tiger geboren, und das gibt ihm Kraft. Aber in seinem Herzen ist Jupiter; er ist kein tiefer Denker. Philip ist Drache, was mir gefällt, aber er ist auch ein Montagskind. Ich habe ihm nicht gesagt, daß das ein Leben voller Schwierigkeiten bedeutet. Er war nie ein Vater für mich. So weit ich mich erinnere, war er ein guter Freund, ein ruhiger Mensch, der kam und ging, in seinen Gedanken immer bei irgend etwas, was nicht da passierte, wo er gerade war. Mutter hat ihn nie geliebt. Ich habe es schon immer gewußt, aber jetzt weiß ich, daß es der Grund war, warum er sie schließlich verließ. Hat er sie geliebt? Oh, ich denke schon. Liebt er sie jetzt noch? Nein, nicht mehr.« Sie sieht Philip auf sich zukommen und murmelt rasch: »Er spricht auch mit jemand. Wir sind einander sehr ähnlich. Wir …« Doch er ist schon zu nahe, und so kann sie nicht zu Ende sprechen. Im Rasthaus verzehren sie ein Frühstück. Es ist besser als das Abendessen gestern. Danach steigen sie Stufen hinab zum größten der Tempel auf dem Plateau des T’aischan. Er ist der Göttin der Azurwolken geweiht. Ob er sich wohl für mich interessiert? überlegt sie. Und dann steigt eine Frage so rasch und kraftvoll wie vor einer Stunde die Sonne empor: Liebt er mich? Er begehrt mich, das weiß ich, obwohl ich nicht sagen kann, wieso ich es weiß. Aber kann er mich lieben? Er hat etwas gesagt. »Wie bitte?« fragt sie. 708
»Drinnen stehen Statuen der Göttin und ihres Hofstaats.« Sie bemerkt, daß seine blauen Augen unter der breiten Hutkrempe sie intensiv betrachten. »Du wirkst nicht sehr begeistert«, stellt er fest. »Ich bin es auch nicht.« Es ist wahr. Sie hat das Interesse an diesen Altertümern verloren; plötzlich sind ihr nur das Blau des Himmels und die Form des Berges wichtig. Und eine Frage. »Dann gehen wir hinunter«, regt Philip an. Wortlos beginnen sie den Abstieg vom T’ai-schan. Nicht weit hinter dem »südlichen Tor zum Himmel« bemerkt Sanuk eine alte Frau, die sich an der Eisenkette festhält und zur nächsten Stufenplatte hinaufzieht. Es ist die alte Frau, mit der sie am »Tor auf halbem Weg« gesprochen hat. »Mutter, wie geht es Ihnen?« Auf der runzligen Stirn stehen Schweißperlen. »Ach, Tochter, ich habe Ihnen gesagt, wir würden uns hier begegnen.« »Wo haben Sie die Nacht verbracht?« »Irgendwo auf dem Berg.« »Im Freien. Sie müssen gefroren haben.« »Nein, ich habe nicht gefroren.« »Sie haben jetzt nur noch ein paar Stufen vor sich.« »Haben Sie die Göttin gesehen?« »Ja«, schwindelt Sanuk und sieht, wie die alte Frau befriedigt lächelt. Vom Hinabsteigen beginnen ihnen die Wadenmuskeln zu schmerzen. Ein neues Kontingent von Pilgern ist unterwegs, darunter viele Soldaten. Die meisten sind 709
unbewaffnet, und man hätte sie leicht für Gruppen von Pfadfindern auf einem Geländemarsch halten können. Alte Frauen, auf Holzstöcke gestützt, ein paar rotgesichtige Bauern, sogar einige Familien nähern sich an diesem sonnigen Sommertag dem Ziel ihrer Wallfahrt. Auf Philips Vorschlag wenden sie sich beim »Tor auf halbem Weg« westwärts und nehmen eine andere Route hinab zur Stadt Taian. Dieser weniger frequentierte Weg führt großenteils unter hoch aufragenden Kiefern abwärts, vorbei an rauschenden Wasserfällen. Im gesprenkelten Licht wandern sie durch mehrere Bergwälder, in denen es nach Kiefernnadeln und Reisig riecht, und gelangen auf dem sich bergab schlängelnden Pfad plötzlich an den »Teich des schwarzen Drachen«. Weiß schäumendes Wasser ergießt sich strudelnd in ein kreisrundes Becken, in dem die Farbe von Dunkelblau in Grün und dann am Rand in Braun übergeht. Er sitzt auf einem Stein und massiert sich langsam die verkrampften Wadenmuskeln. Den ganzen Vormittag schon hat er geschwiegen. Sanuk setzt sich neben ihn, schließt die Augen bis auf schmale Schlitze und lauscht dem Wasser, das sich in das Becken ergießt. Es ist friedvoll hier an dem heiligen Berg Chinas. Sie könnten in einer kleinen Hütte drunten in einer der Schluchten bleiben, Sommer und Winter. Er würde Holz hacken, sie Beeren sammeln. Er würde Kaninchen erlegen, sie sie zubereiten. Und sie würden den Wechsel der Jahreszeiten an den Berghängen beobachten, das eiskalte Wasser trinken, seine Musik zwischen den Felsen hören. Ob er sie liebt? »Ich war dir nie ein Vater«, sagt er unvermittelt und verstummt dann wieder. Also hat er darüber nachgedacht, was sie einander in der 710
Vergangenheit waren. »Ich wäre dir vielleicht ein Vater gewesen, wenn ich ihn nicht gekannt hätte.« Die Sonne brennt heiß auf sie herab, das Wasser strömt zwischen den schwarzen Felsen durch und ergießt sich schäumend grün unter ihren Füßen in das Becken. »Ich war froh, daß du es nicht versucht hast.« »Ich dachte immer, du hättest das von mir gewollt. Aber ich war dazu einfach außerstande.« »Ich wollte nur einen Freund – und das warst du für mich. Aber ich wollte keinen zweiten Vater.« »War ich dir wirklich ein Freund?« Sein Ton verblüfft sie, weil etwas Bittendes darin liegt. »Natürlich warst du das«, versichert sie ihm. »Du hast mich zu dem großen Drachensteigen mitgenommen. Du hast mir auf den Klongs Konfekt gekauft.« Embree macht eine abwertende Handbewegung. »Ja, aber …« »Und du hast mir von Bill und Lotosblüte erzählt.« Auf seinen fragenden Blick setzt sie hinzu: »Lotosblüte, die chinesische Prinzessin, und ihr Freund, der Büffel Bill.« »Ach ja. Haben dir diese Geschichten gefallen?« »Sie waren wundervoll.« Sanuk umklammert ihre hochgezogenen Knie und legt das Kinn darauf. »Lotosblüte war ein tapferes kleines Mädchen, immer dazu aufgelegt, irgend etwas auszuprobieren, und geriet jedesmal in Schwierigkeiten. Bill war sehr ernsthaft und praktisch und hatte die Aufgabe, ihr aus der Patsche zu helfen. Ich erinnere mich recht gut an manche dieser Geschichten und dachte immer, mit Lotosblüte hättest du mich gemeint.« Embree nickt. »Und ich war Bill.« 711
»Waren wir wirklich die beiden?« fragt sie und dreht sich etwas, um ihn anzusehen. »Nein, überhaupt nicht. Du warst ein vorsichtiges kleines Mädchen. Ich fand immer, du solltest übermütiger sein.« »Also war Lotosblüte eine stumme Aufforderung?« »Wahrscheinlich. Und Bill war eine Aufforderung an mich selbst – mehr mit beiden Beinen auf der Erde zu stehen.« »Vielleicht sind wir in die Figuren hineingewachsen. Wenn ich zurückdenke, sehe ich, daß du recht hattest. Ich dachte immer, ich müßte auf Mutter aufpassen. Es sei meine Aufgabe, sie zu beschützen. So wurde ich eine Zeitlang zu einer kleinen alten Dame. Gottlob habe ich mich verändert.« Ein langes Schweigen schließt sich an. Sanuk fragt sich, ob er ihre Bemerkung als eine Kritik an seiner Rolle während ihrer Kindheit aufgefaßt hat. Doch dann wird ihr durch seine nächste Bemerkung klar, daß sein Schweigen etwas Besseres bedeutet. »Also war ich für dich ein Freund«, sagt er. »Das freut mich.« Ihr Blick ruht auf dem Wasserfall. Die hypnotisch wirkende Kaskade erleichtert es ihr zu sprechen. Es kommt ihr beinahe vor, als säße sie darunter und könnte sagen, was ihr alles einfällt, weil das Getöse ihr irgendwie Schutz gibt. Auf dem Berg ihres Vaters kann sie alles aussprechen. »Gestern«, sagt sie, »dachte ich, mein Vater würde mit mir auf den Berg steigen. An dem Tag, als sie ihn gefangennahmen, konnte er es nicht. Also würde er jetzt an meiner Seite sein, wenn ich den Gipfel erreichte. Ich war überzeugt, daß ich dort oben seine Gegenwart spüren würde. Doch heute morgen, als ich den 712
Sonnenaufgang beobachtete, spürte ich nur unser beider Gegenwart. Er war nicht da.« Nach einer langen Schweigepause fügt sie hinzu: »Aber ich möchte mehr über ihn erfahren.« »Laß mich dir Küfu zeigen, wo er lebte.« »Wohin er meine Mutter brachte.« Ihr Blick begegnet dem seinen. »Als du damals fortgingst, sprach Mutter die ganze Zeit über Küfu, erzählte, was dort alles geschah und wie mein Vater sie schließlich nach Peking schickte, damit sie in Sicherheit war. Und wie du sie später auf seine Anweisung nach Hongkong gebracht hast. Ich hab’s schon hundertmal gehört, aber erzähl es mir noch einmal. Was geschah als nächstes?« Sie sieht, daß er schwer schluckt, als wäre es für ihn schwierig, davon zu sprechen. Er schildert, wie sie in Hongkong darauf warteten, daß der General sie holen ließ, und wie sie dort erfuhren, daß er in der Umgebung des heiligen Berges umgebracht worden war. »Und dann habt ihr euch in Hongkong ineinander verliebt«, bietet sie als eigene Fortsetzungsversion an. »Zumindest ich habe mich verliebt.« Sie lächelt ihn an. »Wie aufrichtig.« »Du warst damals unterwegs. Sie brauchte jemanden … wie es so oft vorkommt.« Philip steht auf – unter Schmerzen, denn seine Füße sind wundgelaufen – und streckt die Hand nach unten, um ihr aufzuhelfen. Die Berührung seiner Hand, stark und warm, elektrisiert sie. »Ich bringe dich nach Küfu«, sagt er »Krieg hin, Krieg her, ich bringe dich hin.« 713
»Selbst wenn dort gekämpft wird?« »Sobald du hinfahren willst.« »Warum willst du das tun?« »Weil es dir soviel bedeutet. Ich bringe dich nach Küfu, sobald du willst.« Sie haben beschlossen, für den Fall, daß Ho doch zurückkehrt, ein paar Tage in Taian zu bleiben. Sanuk glaubt freilich nicht, daß er kommen wird. »Er will den Brief unbedingt selbst überbringen.« »Er möchte ein Held sein. Ich kann ihn verstehen, weil ich das auch einmal sein wollte.« »Ist es denn damit vorbei?« »Zum Glück legen die meisten von uns das später ab.« »Was ist jetzt dein Wunsch?« Er beugt sich vornüber und reibt seine linke Wade. »Keinen Schritt mehr gehen zu müssen.« »Aber das kannst du nicht«, sagt sie neckend zu ihm. »Ein Drache hat Mond und Merkur in seinen Füßen. Du bist ein Wanderer, genauso wie ich.« Während er aus einer Abstellkammer in dem Eisenwarengeschäft ihren Koffer holt, schreibt sie eine kurze Nachricht in Thai, adressiert sie auf chinesisch und faltet das Blatt zusammen. Den Text hat sie sich während des letzten Stück Weges vom T’ai-schan herab ausgedacht: Mein lieber Chamlong, hoffentlich erhältst Du diese Nachricht von mir, bevor ich aufbreche. Ich komme noch mal vorbei. Falls Du aber erst danach zurückkehrst – ich gehe nach Küfu. Und wohin dann? Ich weiß es nicht. 714
Vergiß mich nie. Das Leben hat unser beider Karma vereint. Sie haben eine kleine Herberge gefunden, in der die Befreiung nicht automatisch zu einer gemeinschaftlichen Nutzung der Zimmer geführt hat. Aber auch wenn sie zwei Räume für sich bekommen sollten, erklärt Philip, sei damit zu rechnen, daß der Herbergswirt die nicht belegten Betten vermieten würde. Sie sieht seine Lippen zittern, als er sie fragt, ob sie ein Zimmer mit ihm teilen wolle. Eine solche Frage zu bejahen hat Sonja bereits während des Abstiegs beschlossen, als sie Seite an Seite gingen wie zwei Menschen, die einander schon viel länger als einen einzigen Tag kennen. Denn mehr als ein einziger Tag war es ja nicht. Sie haben keine wirklich gemeinsame Vergangenheit. Sie sagt also ja und hofft dabei, daß ihre Stimme ruhig und fest klingt. Ihrer beider Schicksal hat die Entscheidung schon getroffen, vielleicht vor langer Zeit. Vielleicht schon, als sie beide noch gar nicht auf der Welt waren. Das Zimmer im Obergeschloß ist winzig, beinahe zur Gänze ausgefüllt von zwei schmalen, niedrigen Betten mit dicken Matratzen und sauberen, doch zerschlissenen Laken. Das Fenster geht auf einen kleinen, turbulenten Fluß. Sanuk tritt hin und blickt hinaus auf die letzten Sonnenstrahlen, die schräg über Felsen und Kiefern fallen. Hinter ihr beginnt Philip zu sprechen. »Wir werden zwei, drei Tage hierbleiben. Wenn er bis dahin nicht aufgetaucht ist, müssen wir nach Küfu aufbrechen. Wir kommen sonst nicht mehr weg von hier, falls es zu Kämpfen kommt. Willst du noch immer Küfu sehen?« Sie nickt, ohne sich umzudrehen. 715
»Morgen vormittag gehen wir zum Tempel des Gottes vom Berg T’ai-schan. Er gehört zu den drei großartigsten in China.« Er redet, um seine Nervosität zu verbergen, denkt Sanuk. »Und einer der beiden anderen ist in Küfu. Auf dem konfuzianischen Tempelgelände. Ich habe ihn oft besichtigt.« Sanuk hat fast Angst zu sprechen. Damals, als sie und Chamlong zum erstenmal in ein Hotel gingen, fiel das Licht genauso schräg ein. »Außerdem gibt es dort noch zwei andere Tempel.« Schließlich sagt Sanuk mit leiser Stimme und ohne sich umzudrehen: »Warum bist du nach Bangkok zurückgekommen?« »Ich wollte einen neuen Anfang im Leben machen.« »Mit meiner Mutter?« »Nun ja, ich wollte es versuchen.« »Liebst du meine Mutter?« »Natürlich.« »Ich meine – so wie damals, als ihr beide jung wart?« Eine lange Pause tritt ein. Ob er antworten wird? »Ich liebe sie als einen Menschen, mit dem ich viel Gemeinsames erlebt habe.« »So denke ich auch über Chamlong.« Wieder schweigen beide. Sanuk kommt es vor, als könnte dies ewig dauern: Sie beide hier in diesem Zimmer, ohne sich zu bewegen, ohne ein Wort zu sprechen. Aber er wartet hinter ihr, und sie weiß das. Endlich wendet sie sich um. Der qualvolle Ausdruck auf seinem Gesicht macht sie betroffen. »Ich habe keine Angst«, sagt sie. »Wirklich, ich habe keine Angst.« Sie versucht zu lächeln, versucht, ihn 716
zu sich herzuziehen. Einen Augenblick lang erfaßt sie trotzdem Angst, als er zögernd auf sie zukommt. Dann, als Philip Embree sie in die Arme nimmt, weicht die Furcht von ihr. Seine Umarmung hat etwas verzweifelt Ungestümes, denn auch ihm ist bange. Schon seinen Lippen nahe, sagt sie noch einmal: »Glaub mir, ich habe keine Angst.« Als sie am nächsten Morgen erwacht, geweckt von einem Regenguß, der aufs Dach prasselt, denkt sie: Damit fängt mein Leben an. Er schläft, und so kann sie ihn im grauen Frühlicht betrachten. Ein breites, beinahe faltenloses Gesicht. Ihre Mutter pflegte mit einem Achselzucken zu sagen: »Er wird nie altern. Egal was das Leben für ihn bringt, Philip wird immer wie ein Junge aussehen.« Nicht ganz. Er ist seit zwei Tagen unrasiert, und sein Bartwuchs zeigt einen anderen Farbton als das blonde Haar, ist silbrig gesprenkelt. Auch sein nackter Körper neben ihr ist nicht der eines jungen Mannes, nicht wie der Körper Chamlongs, so geschmeidig und dabei so mager, fast eckig. Daß er die Blüte seiner Jahre hinter sich hat, ist für sie beruhigend. Es macht ihn verletzlich, und die Verletzlichkeit macht ihn für Gefühle zugänglicher. Ja, ihre eigenen Gefühle scheinen wie ein Sog auf ihn zu wirken: In der vergangenen Nacht schien er so tief in sie einzudringen und dabei mit ihr zu verschmelzen, daß ihr war, als dringe sie in sich selbst zu geheimen Bereichen vor, von denen sie vorher nie etwas wußte. Er umgab sie ganz und gar, drang – so schien es ihr in diesen ersten Augenblicken der Überraschung – durch die Poren ihrer Haut, bis sie, ganz erfüllt von ihm, spürte, wie das gefüllte 717
Glas überfloß. Die Flüssigkeit dann ergoß sich endlich, wie sie es so oft in Chamlongs Armen erhofft hatte, in Strömen einer unerträglichen Ekstase über den Rand. Am stärksten aber ist die Erinnerung an seine Zärtlichkeit hinterher, an sein dankbares Streicheln und Flüstern, als könnte ihm nichts anderes auf der Welt als ihre Hingabe wieder Zufriedenheit bescheren. Sie begehrt ihn erneut. Langsam fährt sie mit der Hand über seine Brust – graue Haare, gemischt mit blonden –, ganz langsam über den Bauch – nicht ganz flach – hinab zur Leistengegend. Sie zögert einen Augenblick. Sind sie schon so intim miteinander? Mit Daumen und Zeigefinger umschließt sie das schlaffe Glied. Es wirkt so kindlichklein, weich und unschuldig. Jedesmal, wenn sie das bei Chamlong tat – ob er wachte oder schlief –, hatte sie sofort pralles Leben in der Hand. Doch bei Philip bleibt es im Augenblick noch regungslos, obwohl er langsam wach wird. Er bewegt sich. Sanuk sieht nicht sein aus dem Schlaf erwachendes Gesicht, sondern gleitet neben ihm hinab, mit dem Kopf auf ihre Hand zu, in der sein Glied steif zu werden beginnt. Er murmelt irgend etwas, doch sie konzentriert sich auf das, was sie mit den Fingern umschließt. Ihr Kopf senkt sich darauf, das Glied dringt in ihren Mund ein und pulsiert dort wie eine wachsende Pflanze. Sie spürt, wie seine Hand sachte ihren Nacken drückt, als wollte er damit sagen, daß er ihr in diesen Augenblicken ganz und gar gehört. Beim Frühstück erzählt sie ihm von ihrer Entdeckung Yu Hsuan-chis. Er hat ein paar der Gedichte gelesen. Obwohl Philip sich bemüht, einen anderen Eindruck zu erwecken, ist ihr klar, daß er sich nichts daraus macht. An diesem Verhalten lernt sie, wie sehr er auf sie einzugehen 718
wünscht. Es hat etwas Beunruhigendes. Vielleicht hat ihre Mutter sich deswegen zurückgezogen, wegen seiner Neigung, auf Kosten der Offenheit dem anderen entgegenzukommen. Er ist aber auch aufrichtig. Sie sitzen im winzigen Speisezimmer neben einer verdrossen dreinblickenden Bauernfamilie. Diese Pilger sind zum T’ai-schan gekommen mit der Absicht, die Göttin der Azurwolken um eine gute Ernte, viel Geld und keine zusätzlichen Kinder zu bitten, denn vier Nachkömmlinge sitzen bereits am Tisch. Die Familie kam mit einem Ochsenkarren aus einem Dorf südlich von Küfu. Auf Philips Fragen berichtet der Bauer, daß dort überall Soldaten anzutreffen seien, doch über die Stärke der Truppen äußert er sich nur vage. Sie gehörten der Befreiungsarmee an, soviel wisse er. Sie hätten ihm weder seine Vorräte noch seine Frau genommen, die viel älter als er wirkt, viel mürrischer und niedergeschlagener. Eines der Kinder hat einen Krupphusten und fiebrige Augen. Es regnet nicht mehr, als Sanuk die Herberge verläßt. Sie wartet draußen auf Philip, der den Wirt etwas fragen will, und hätte in der von Feuchtigkeit geschwängerten Sommerluft am liebsten zu singen begonnen. Mutter kann nie solche Wonne mit Philip erlebt haben wie sie selbst. Mutter hat ihn nie richtig gekannt. Ist das nicht seltsam? Sie selbst hingegen kennt ihn zeit ihres Lebens, das gestern erst begonnen hat. Sie ist stolz auf ihren Körper und wozu er fähig ist, stolz auf den Genuß, den er gewähren und empfangen kann. Hat Mutter jemals solch einen Stolz, solch ein Staunen empfunden? Sicher nicht bei den vielen Männern, mit denen sie zusammen war. Aber bei Vater? Philip hat gesagt, daß er sie liebt. Ob sie ihm das glauben kann? Mein Mann ist echt wie Gold. Sanuk spürt, wie ihre Mundwinkel sich zu einem Lächeln verziehen. Im 719
Augenblick begehrt er sie. Er kann sie noch nicht lieben, sie, eine kopflose Ausreißerin. »Was gibt’s für Probleme?« Sie dreht sich um und sieht, daß er aus der Herberge kommt. »Keine Probleme«, sagt sie. »Wieso auch?« »Ja«, meint er und lacht. »Wieso auch?« Er führt sie zum Kloster Pu Zhou, der »Stätte der Welterleuchtung«. Ein Mönch, der die Aufsicht führt, zeigt ihnen einen Raum, in dem in den dreißiger Jahren General Feng Yü-hsiang zwei Jahre in Klausur gelebt hat, nicht mit buddhistischen, sondern mit christlichen Studien beschäftigt. »Kannte mein Vater diesen General?« fragt sie Philip. »O ja. Sie haben einander bewundert.« »Lebt er noch?« »Ich denke schon. Als letztes hörte ich, daß er in den Vereinigten Staaten ist und Stimmung gegen Tschiang Kai-schek macht.« Sanuk enthält sich einer Bemerkung. Selbst Liebe kann sich irren, denkt sie. Er spürt nicht, daß mich der Gedanke bewegt, warum dieser Mann noch lebt und warum mein Vater seit zwanzig Jahren tot ist. Einen Augenblick lang ist sie traurig, fühlt sich allein gelassen, so wie es ihr immer nach einem Liebesakt mit Chamlong geschah. »Was wird jetzt aus dem Kloster werden?« fragt Philip den Mönch, der gelassen mit den Achseln zuckt: »Vielleicht gibt es einen Platz für uns, wenn die Befreiung kommt. Vielleicht auch nicht. Sie sind Christ?« Philip blickt weg. Beim Verlassen des Klosters berührt Sanuk seinen Arm, als wollte sie sich vergewissern, daß er bei ihr ist. Die 720
blauen Augen wenden sich ihr mit einem Blick voll Wärme zu. Alles ist, wie es sein soll. »Wir können jetzt zum großen Tempel gehen.« Philip nimmt sie bei der Hand. »Oder auch nicht.« Er wiederholt es in einem Ton der Hoffnung: »Oder auch nicht.« Wieder trommelt der Regen auf das Blechdach der Herberge, während sie dicht nebeneinanderliegen. »Was mich der Mönch gefragt hat – ob ich Christ bin …« »Du hast nichts darauf gesagt.« »Du bist natürlich eine gläubige Christin.« »Ich glaube an Gott. Aber vielleicht bin ich keine richtige Christin. Zum Beispiel trage ich kein Kreuz am Hals. Ich trage das Bild der indischen Liebesgöttin.« Sie hebt das Terrakottaamulett. »Sie bringt Glück in der Liebe. Die Siamesen glauben daran.« Er richtet sich auf und betrachtet es lächelnd. »Wenn man in Ostasien lebt, lernt man vor allem Toleranz. Jedenfalls, wenn es um die Religion geht. Nicht wenn es um Eßgewohnheiten, um Geld oder die Stellung im Leben geht, aber wohl in religiösen Dingen.« »Du glaubst auch an Gott.« Die Behauptung scheint ihn betroffen zu machen. »Meinst du? Wie kommst du darauf?« »Weil du dein Erlebnis in Benares erzählt hast mit der Leichenverbrennung und den Kindern und weil du gesagt hast: ›Soll das also das Leben sein?‹« Philip berührt ihren Arm. »Wieso beweist das, daß ich an Gott glaube?« »Wenn du nicht an Gott glaubtest, würdest du die Frage nicht stellen, oder? Du müßtest sie nicht stellen. Du 721
würdest nur sagen: ›Nun ja, das Leben ist traurig und schrecklich, doch daran läßt sich nichts ändern.‹ Aber du bist zornig auf Gott, weil er die Dinge ändern könnte.« Als Philip lacht, lächelt sie ihn schüchtern an. »Rede ich dummes Zeug?« »Nein, du argumentierst besser als manche Theologen, die ich schon gehört habe. Ich kann das sagen, weil ich nach China kam, um Missionar zu werden, was übrigens deine Mutter nie erfahren hat.« Kann mich jetzt noch irgend etwas an ihm überraschen? fragt sich Sanuk: Es ist, als hätte ich alles schon die ganze Zeit gewußt; er braucht es nur zu sagen, und ich weiß, daß ich es längst weiß. »Hast du mir zugehört?« fragt er. »Natürlich.« »Du scheinst in Gedanken woanders zu sein.« Er strengt sich an, mich zu verstehen. Das hat Chamlong nie getan. So vieles stürmt auf sie ein, daß sie Philips Worten kaum folgen kann. »Der Gedanke hat mich beschäftigt, daß ich nicht überrascht bin. Darüber, daß du Missionar werden wolltest.« »Deine Mutter wäre es sicher. Vielleicht habe ich es ihr deswegen nie erzählt. Oder vielleicht hatte ich damals Angst, sie würde zuviel von mir erwarten.« »Mir aber hast du es erzählt.« Philip wendet den Blick von ihr ab, zur Decke hinauf und sagt etwas, was sie verwirrt. »Du darfst nicht zuviel von mir erwarten. Du darfst mir erst dann vertrauen, wenn ich dir alles sage, und dazu wird es vielleicht nie kommen.« Mutlos gemacht, fragt Sanuk leise: »Wie soll ich wissen, 722
ob du mir alles sagst?« »Oh, das weißt du dann schon. Das wird nicht schwer sein. Nicht leicht dagegen ist es, so weit zu kommen. Verstehst du mich überhaupt?« »Jetzt gerade nicht.« Er schließt mich aus seinem Leben aus, denkt sie unglücklich. Doch als seine Finger ihre Wange berühren, sie liebkosen und als sein Gesicht über ihr erscheint, ernst, vielleicht sogar verzweifelt, redet sie sich stumm zu: Liebe ihn, denk nicht nach! Ihre eigenen Finger berühren sein Gesicht, die glatte, leichte Erhöhung seiner Stirnnarbe. Es ist alles wie ein Wunder, was hier im Land ihres Vaters geschieht. Liebe ihn, denk nicht nach! Der graue Tag und die regnerische Nacht vergehen mit Liebesspielen, doch als der neue Tag dämmert, bringt er einen klaren Himmel mit sengender Sonnenglut, wie es so oft nach einer Regenperiode geschieht. Die Familie aus der Gegend südlich von Küfu ist fort. Sie muß mit einem kranken Kind im Schlepptau auf den Berg gestiegen sein. Dieser bedrückende Gedanke beschäftigt Sanuk, bis sie den südlichen Zugang zum großen Tempel des Gottes des T’ai-schan erreichen. Der Anblick der gewaltigen Tempelanlage mit dem monumentalen Torbogen und den gewaltigen, fast fünfzehn Meter hohen Mauern zieht sie aus ihrer Selbstversunkenheit. »Ich habe mir nie viel aus Kunst gemacht«, bemerkt Philip. »Bücher und Sprachen, ja. Aber Bilder und Bauwerke haben mir nie viel bedeutet.« »Das ist bei mir anders.« »Wegen deiner Mutter. Weil sie alles Schöne liebt.« »Und mein Vater?« Philip lächelt. »Natürlich. Er hatte sich dem Studium der 723
Schönheit geweiht.« Was ihr an Philip besonders gefällt, ist seine Großmut, wenn er von ihrem Vater spricht. Seine Haltung macht es ihr möglich, die Liebe zu ihrem Vater ganz offen zu bekunden. Es ist eine besessene Liebe, und sie zeigt sie mit der gleichen Unbefangenheit, mit der sie diesem Mann ihren Körper schenkt. »Es ist herrlich, hier zu sein«, sagt sie plötzlich zu Philip. »Obwohl wir mitten in einem Krieg sind?« Sie spürt, daß er Angst vor dem Glück hat. »Laß dich in China nicht von der scheinbaren Ruhe täuschen«, fährt er fort. »Überschwemmungen, Feuer, Krieg – das alles kommt im Handumdrehen.« Philip bleibt stehen und sieht sie intensiv an. »Ein Krieg hat anscheinend nichts Schreckendes für dich.« »Nein.« »Ich meine es ernst. Jeden Augenblick könnte außerhalb dieser Mauern eine Schlacht entbrennen. Hast du keine Angst?« »Natürlich habe ich Angst, aber ich mach’ mir keine Sorgen.« »Erklär das bitte.« »Ich habe Angst zu sterben, aber ich bin hier im Land meines Vaters – zusammen mit dir –, und hierher gehöre ich. Warum sich Sorgen machen?« »Ja, du bist die Tochter deines Vaters.« »Du hast mich schon einmal die Tochter meiner Mutter genannt.« »Auch deswegen liebe ich dich. Denn an beiden ist meinem Herzen viel gelegen.« Er wendet den Blick von ihr ab und auf die Hallen mit ihren roten Säulen weiter 724
vorne. Sie spazieren durch den Wald von Stelen in dein Innenhof, wo eine Gruppe Soldaten auf dem staubbedeckten Boden hockt. Sie trinken heißes Wasser aus einer Thermosflasche und essen Weizenkuchen. Sanuk empfindet ein sonderbares Gefühl der Kameradschaftlichkeit, obwohl die Männer sie mit langen Blicken unverhohlenen sexuellen Interesses mustern. Solche Männer folgten ihrem Vater, gaben ihr Leben für ihn. Sie ist stolz, daß sie etwas Gemeinsames mit ihnen verbindet, und auch, daß sie nichts Ausländisches an ihr wahrnehmen, während Philip niemals einer von ihnen werden kann, soviel Mühe er sich auch geben mag, so ausgezeichnet sein Chinesisch auch ist. Philip bleibt neben einem kleinen, von einem Steinmäuerchen umfaßten Bassin stehen, dessen Mitte ein Tai-Hu-Stein einnimmt. »›Solches Gestein enthält das Tao des Tao, ein universales Etwas, eingefangen in den steinernen Verwerfungen, ein dauerhaftes, doch unsichtbares Wesen …‹ So pflegte dein Vater zu sprechen. Ich hab’ es ihn oft sagen hören, eine Quelle zitierend, die ich nie entdeckt habe. Er liebte diese Steine.« Und hier, in diesem Tempel mit dem Namen »der erste Ahne«, dem Gott des Berges geweiht, fühlt Sanuk sich endlich in China zu Hause.
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er Morgen ihres ersten gemeinsamen Tages in Küfu. Gibt es im Leben eines Mannes etwas Schöneres als den Augenblick nach dem Liebesakt, wenn er die Brüste der geliebten Frau küßt? Im Beisammensein mit dieser jungen Frau hat er errungen, was seine geistigen Übungen ihm nicht gebracht haben – die Freude, hier zu sein. Sanuk heißt Freude. Durch Sanuk hat er es gefunden: Om Tat Twam Asi. »Das Amulett, das du trägst«, hört er sich zu ihr sagen, »stellt nicht die Liebesgöttin dar, sondern Sarasvathi, die Göttin der Weisheit.« Ihr dies zu sagen heißt, ohne Not eine Illusion zu zerstören, und Sanuk muß es getroffen haben, denn ihr Körper versteift sich etwas. Als er von ihr wegrückt, bleibt sie still liegen. Er versucht, es wiedergutzumachen. »Aber Sarasvathi ist eine große Göttin«, sagt er. »Sie schenkt einem Wissen.« Sanuk gibt keine Antwort, hält mit einem Arm die Augen bedeckt. »Du mußt das Amulett immer tragen.« Sie antwortet wieder nicht. Nur um irgend etwas zu sagen, sagt er: »Das einzige Ding, an das ich jemals geglaubt habe, war eine Axt. Bald nach meiner Ankunft in China bekam ich sie von einem Banditen, dem ich das Leben gerettet hatte.« Nach einer Pause setzt er hinzu: »Ich erzähle dir das nur, weil ich es kläglich finde. Man müßte an etwas Wichtigeres glauben können als an eine Axt.« Sie antwortet nicht. 726
»Ich habe es nie fertiggebracht, meinem Leben eine Linie zu geben. In Indien studierte ich Yoga. Ich suchte nach einem Glauben, der sich nicht auf eine Axt beschränkt. Bei euch, bei Menschen wie dir, sehe ich einen Glauben, aber für mich ist er unerreichbar. Der Sprung hinüber ist zu weit.« »Ich liebe dich.« Ihr Arm liegt noch immer quer über den Augen. Diesmal kommt von Embree keine Antwort. »Das ist mein Glaube«, sagt sie, ohne sich zu rühren. Embree setzt sich auf. »Heute führe ich dich zu einer Begegnung mit deinem Vater.« Er hält Wort. Sie beginnen beim Konfuziustempel mit seinen sechshundert Hallen und Pavillons. Den ganzen Vormittag durchwandern sie das Gelände des größten chinesischen Heiligtums. Als sie die Aprikosenterrasse erreichen, bleibt Embree stehen. »Hier soll Konfuzius seine Schüler unter einem Aprikosenbaum unterwiesen haben. Dein Vater ging oft in diesen Pavillon und saß stundenlang dort.« Embree sieht ihr nach, wie sie den Pavillon betritt und sich hinsetzt. Er wartet draußen, bis sie ihn ruft. »Komm doch her zu mir.« Was läßt mich eigentlich zögern? fragte er sich, während er neben ihr auf der Steinbank Platz nimmt. »Es war damals besser gepflegt«, beginnt er von sich aus und blickt auf Unkraut, das aus Sprüngen im Bodenbelag des Innenhofes wächst. Um einige der altehrwürdigen Stelen winden sich ein paar karge Büsche. »Hier also hat er gesessen?« »Ja. Oft.« 727
»Was ihm wohl durch den Kopf gegangen ist?« »Frag’ ich mich auch«, meint Embree. Und was hat er wohl gedacht, als Vera ihn verließ? Er steht auf und geht aus dem Pavillon. Warum nahm mich der General in seine Armee auf? Einen jungen Amerikaner ohne militärische Erfahrung, ohne Bindung an dieses Land? Warum? Der General war ja kein Dummkopf, und er haßte die Ausländer. Doch er hatte einen fatalen Fehler, die Neugier, und zwar im Übermaß. In Burma sah Embree einmal, wie ein kampferprobter Veteran aus der Deckung ging, anstatt sich zu ducken – das Verhalten eines jungen Rekruten, Tod durch Neugier. Der General zeigte einen ähnlichen Mangel an Vorsicht. Ja. Er hätte sich ducken sollen, als ich daherkam – Furcht erhebt sich aus dem Nicht-Selbst. Ja, genau, aus dem, was fremd ist, entsteht die Furcht. Embree dreht sich um und blickt in den Pavillon, aus dem Sanuk ihn gerade ebenfalls anblickt. Dies darfst du nicht verlieren, sagt er sich und geht ihr entgegen, während sie sich von der Steinbank erhebt. Am Nachmittag mietet Embree zwei Pferde, und sie machen sich zum Grabhain der Familie Kung auf, knapp zwei Kilometer außerhalb der Stadt. Da sie keine gute Reiterin ist, zockeln sie langsam über die staubbedeckten Straßen von Küfu. Die Sonne scheint heiß herab, und Embree sieht, wie unter ihren Achselhöhlen der Schweiß Halbmonde bildet. Sie schwitzt, sie ist einfach ein Mensch, er liebt sie. Ein Gefühl der Zärtlichkeit gibt ihm die Beruhigung, daß alles in Ordnung ist. Die Vergangenheit ist vergangen. Furcht steigt aus der Vergangenheit auf. »So viele Kiefern!« ruft Sanuk aus. Der große Friedhof, 728
zweitausend Jahre alt, ist dicht bewaldet, und zwischen den Bäumen sind große, behauene Steinblöcke zu sehen – den Toten geweihte Pferde, Drachen, Löwen, Hunde, Ziegen und hochgewachsene weise Männer, die einander anblicken, als führten sie eine ewige Debatte miteinander. »Die Chinesen pflegten ihre Friedhöfe mit Kiefern zu umsäumen, weil Wang Hsiang Kiefern verhaßt sind. Wang Hsiang ist ein Dämon, der die Gehirne der Verstorbenen verschlingt«, erläutert Embree. »Es ist eine furchterregende Vorstellung.« »Bist du mit meinem Vater hierhergekommen?« »Nein, allein.« »Mutter hat mir von diesem Ort erzählt.« Nach einer kurzen, gemächlichen Wanderung erreichen sie den Grabhügel, unter dem Konfuzius bestattet liegt. Er ist mit einer Kissenmoosart bedeckt und von einer alten Zypresse überschattet. »Was sie wohl miteinander gesprochen haben, als sie hier standen?« meint Sanuk. Dann blickt sie ihn an. »Entschuldige.« »Es tut mir nicht weh, wenn ich mir die beiden zusammen vorstelle. Ich war in deine Mutter leidenschaftlich verliebt. Aber ich habe für sie nicht empfunden, was ich für dich empfinde. Sonst hätte ich sie nicht so einfach verlassen.« Sie hat sich ihm nicht zugewandt. »Mich wirst du nicht verlassen?« »Ich möchte, daß wir immer beisammenbleiben.« »Bin ich nicht zu jung für dich? Zu unernst?« »Ich könnte fragen, ob ich nicht zu alt für dich bin. Und zu unernst. Aber was zwischen uns geschehen ist, ist geschehen. Das Alter zählt nicht. Die Logik zählt nicht. 729
Irgendwie sind wir Glückskinder.« »Ja, das kann man sagen.« Nach einer Pause stellt sie fest: »Das vergesse ich nie, was du hier gesagt hast. Wenn ich einst sterbe und noch denken kann, dann erinnere ich mich an das, was du gesagt hast, hier an diesem Ort.« Sie umfaßt seine Hand. »Irgendwie sind wir Glückskinder.« Es ist noch hell genug, daß sie die Residenz der Familie Kung besuchen können. Nachdem sie die Pferde zurückgebracht haben, gehen sie die alte Stadtmauer entlang zu den steinernen Löwen vor dem Portal. Zwanzig Jahre ist es jetzt her, daß Philip Embree zum letztenmal das Quartier des Generals im Westflügel aufsuchte, wo er zusammen mit Major Tschia Instruktionen für die nach Peking abgehende Militärdelegation entgegennahm. Damals hat er auch den General zum letztenmal gesehen. Sie reisten nach Peking, um mit Offizieren, die von General Feng Yü-hsiang entsandt worden waren, über eine Zusammenkunft der beiden Warlords zu verhandeln. Vor zwanzig Jahren. Tang ist tot, Feng lebt noch. Diese Gedanken gehen Embree durch den Kopf, während er Tangs Tochter durch ein Labyrinth von Innenhöfen führt. Betroffen und traurig sieht er die verfallenden Hallen, die gesprungenen Steinplatten, die Verwüstungen allenthalben. Vor einem Jahr, als es in der Stadt zu Scharmützeln kam, floh der Herzog, das Oberhaupt der Familie Kung, aus seiner Residenz. Seither haben hier Truppen biwakiert. Überall in der eleganten Anlage haben diese Bauernjungen, frierend und hungrig, eine gnadenlose Gleichgültigkeit gegenüber der Geschichte bezeugt und sich in den Hallen und Höfen wie in einem Dorf breitgemacht – ihre Notdurft auf Bodenplatten und in den Steingärten verrichtet, antike Sessel und Tische zu Kleinholz gemacht und verbrannt, 730
Zigarettenstummel an keramischen Gefäßen ausgedrückt, die nun in Scherben liegen. Er führt sie in den Westflügel, wo der General nahe der »Halle des inneren Friedens« sein Hauptquartier hatte. Sanuk geht schweigend neben ihm. Sie blickt mit einer Intensität um sich, die Philip Embree erstaunt, weil er noch immer auf der Flucht vor den Erinnerungen an seinen eigenen Vater ist. Schließlich kommen sie zum ehemaligen Quartier des Generals: die Türe eingetreten, die Fensterläden abgerissen. Embree geht vor Sanuk hinein – sie zögert aus Scheu – und stapft durch ein Zimmer, dessen Boden mit Konservenbüchsen, Lumpen, Papierfetzen bedeckt ist. Es riecht nach Asche und Urin. Im Licht, das durch die offenen Fenster hereinkommt, tanzen Staubwölkchen. Als er hört, wie sie durch den Unrat hereinstolpert, dreht er sich um und sagt, um einen beiläufigen Ton bemüht: »Hier stand ein Schreibtisch aus Rosenholz. Ein Präsent des Herzogs. Und über dem Schreibtisch hing eine Malerei – ich weiß jetzt nicht mehr, was sie darstellte. Berge? Jedenfalls, in dieser Ecke hier hing ein Zimmerfächer von der Decke. Manchmal hat sein alter Diener Yao …« »War das ihr Schlafzimmer?« Sanuk ist an ihm vorbei auf einen anderen Türrahmen ohne Tür zugegangen. Sie stehen nebeneinander und blicken auf einen mit Abfällen bedeckten Boden. Auf einem Häufchen Lumpen liegt ein alter Hund, der kurz den räudigen Kopf hebt und sie anstarrt. »Hier standen Vogelkäfige. Dein Vater liebte den Gesang der Vögel.« »Ich weiß.« Er möchte sie trösten. »Nach hinten hinaus ist ein Garten, wo dein Vater gern an einem Bassin saß – 731
zusammen mit deiner Mutter – und das Spiegelbild der Steine im Wasser betrachtete.« Was er sagt, erscheint ihm selbst nicht überzeugend. »Es gab Granatapfelbäume und Fliederbüsche«, setzt er noch einmal an. »Und blühende Trompetenbäume. Und Pflaumenbäume. Von Laotse heißt es, daß er unter einem Pflaumenbaum geboren wurde. Symbol eines langen Lebens, denn die Blüten sprießen an Zweigen, die wie verdorrt aussehen. Damals sah es hier anders aus, Sanuk. Es war war herrlich, das Beste von China war hier versammelt.« »Du hast viel Geduld mit mir.« »Wieso?« »Mit meinem Wissensdurst.« Sie streift ihn, als sie an ihm vorbei in den Hof hinausgeht. »Haben sie hier Tai Chi gespielt?« Embree schüttelt den Kopf. »Ich habe sie nie dabei gesehen. Vermutlich auch sonst niemand.« »Es kann nicht hier gewesen sein, wo alle Leute durchkamen.« Sie geht durch ein Mondtor in einen anderen Innenhof, er folgt ihr. Sie passieren noch zwei weitere Tore, zwei weitere Höfe, bis Sanuk endlich stehenbleibt. »Hier vielleicht.« Es ist ein winziger Hof mit dem Stumpf einer Kiefer, in Hüfthöhe abgesägt, nahe einer der Mauern. Die Steinplatten, viele verschoben, sind mit gelber Erde bestäubt. Ein zersprungener Trog aus Keramik, der sicher einmal Chrysanthemen barg, steht in einer Ecke. »Hier vielleicht«, sagt sie noch einmal. »Eine Sache wollte ich schon immer tun, seit meine Mutter mir davon erzählt hat – wie sie und mein Vater in einem Hof in Küfu Tai Chi spielten.« »Dann tu es doch.« »Bleibst du und siehst mir zu?« 732
»Nein. Das geht nur dich was an.« Er verdrückt sich durch die runde Öffnung eines Mondtores in den nächsten Hof. Dort wartet er und sieht sie hin und wieder mit den langsamen, eleganten Tai-Chi-Bewegungen das Tor passieren. Eine solche Frau zu lieben, denkt er, ist gefährlich. Was sie erlebt, was ihr widerfährt, bleibt haften, und so beschwert sie sich mit Erinnerungen und Symbolen – und eines Tages werden daraus vielleicht Forderungen. Sie beide haben ähnliche Naturen, doch er hat in seiner Jugend gemieden, was haftenbleibt und belastet, während sie sich geradezu hineinwirft. Eine Viertelstunde später erscheint sie mit mißmutigem Gesicht aus dem Hof. »Ich bin noch nicht am Ende«, sagt sie mit zitternden Lippen zu ihm. Die langsamen, beruhigenden Bewegungen, in dieser Atmosphäre ausgeführt, haben ihre Wirkung verfehlt und sie nur innerlich erregt. »Es muß noch mehr geben. Ich will noch mehr wissen.« »Du möchtest Menschen begegnen, die ihn gekannt haben.« »Ja, hilf mir bitte dabei.« »Gut. Wir werden solche Leute ausfindig machen.« Ganz so einfach ist das nicht. Am nächsten Tag klappert er die Läden der Stadt nach irgend jemandem ab, der vor zwanzig Jahren unter dem General gedient hat. Die meisten Ladenbesitzer geben vor, nie von einem General Tang Schan-teh gehört zu haben. Schließlich tritt Embree in ein kleines Restaurant in der Nähe des Trommelturms. Es ist gegen Mittag. Zunächst sieht er in dem abgedunkelten Raum überhaupt nichts. Dann werden in dem dämmrigen Licht einige Stühle und in der Ecke ein 733
Mann sichtbar, der in einem Sessel eine Bambuspfeife raucht. Der Eigentümer des Lokals – ein ziemlich fetter Mann – kommt durch einen Vorhang herbei. »Es gibt noch nichts zu essen«, sagt er und wedelt mit den Händen. »In einer halben Stunde. Wenn Sie dann wiederkommen, können Sie alles außer Fisch haben. Heute kein Fisch und auch kein Schweinefleisch. Der Krieg ist daran schuld. Wenn es Truppenbewegungen gibt, kommen keine Fuhrwerke in die Stadt. Es ist …« Er reckt den verschwitzten Hals nach vorne und blinzelt Embree an. Dann reißt er plötzlich die Augen auf. »Sie sind das? Der Mann mit der Axt? Der Axtmann?« Er beugt sich vor und starrt Embree an. Dann beginnt er zu lachen und bleckt dabei seine faulenden Zähne. Embree, Sanuk und der alte Veteran setzen sich an einen Tisch. »Erinnern Sie sich noch an mich?« fragt der Veteran und wischt sich mit seiner Pummelhand über die Stirn. »Ja, ich glaube«, schwindelt Embree. »An Sie erinnert man sich leicht. Mit dieser Haarfarbe, und dann das Pferd, das Sie hatten – es heißt, daß Sie darauf schlafen konnten –, und diese Axt. Haben Sie sie noch?« Als Embree nickt, lacht der Veteran gackernd. »Sie hatten sie immer bei sich. Damals machten Männer sonderbare Sachen, wir alle. Erinnern Sie sich an den Wettlauf? Ich war unter den Zuschauern. Sie hätten beinahe gewonnen.« Er blickt die junge Frau an und wiederholt: »Er hätte beinahe gewonnen.« Dann wendet er sich wieder Embree zu. »Gehört die Frau zu Ihnen?« Er peilt sie lüstern an. »Jung.« Er kichert wieder. »Erinnern Sie sich an die 734
Schlacht bei Hengschui?« »Natürlich«, sagt Embree. »Ich diente unter Tschia – Zweites Regiment, Erste Division Küfu.« Nachdenklich blickt der fette Lokalinhaber erst Embree, dann die Frau an. »Was führt Sie nach Küfu?« »Ich bin gekommen, um Erinnerungen aufzufrischen«, erklärt Embree. »Ja, das verstehe ich, aber Sie sind zur verkehrten Zeit gekommen. Die vielen Truppen in der Gegend. Sie kommen und gehen, ruinieren die Felder. Die meisten halbe Kinder. Wir waren auch jung, aber nicht so grün. Die Soldaten der Nationalisten aus Anhui und Tschekiang, die vergangenes Jahr hier waren – die haben einem im Gehen die Schuhe von den Füßen geklaut.« Der Wirt lacht. »Kein Vergleich mit unserer Armee, mit General Tangs Armee.« Da hat er recht, denkt Embree. Für die damalige Zeit war es eine großartige Armee, aber viele ihrer Soldaten waren ebenfalls schmutzige, hungrige Bauernburschen. Abgesehen von den gutausgebildeten Spezialeinheiten, bestand die Armee aus einer Soldateska, von der Furcht zusammengetrieben. Tangs Armee war vielleicht die beste ihrer Zeit, und trotzdem starben viele Soldaten aus Mangel an Medikamenten, ordentlichem Proviant und Waffen, die funktionierten. »War er ein guter General?« fragt Sanuk. »Gab keinen besseren. Wenn ein Soldat ein Mädchen vergewaltigte, ließ der General ihn erschießen. Wenn man etwas ausgefressen hatte, bekam man den Stehkragen verpaßt.« »Was ist das?« fragt sie Embree auf englisch. 735
»Der Kopf wird in ein schweres hölzernes Joch gesteckt, das man zur Strafe um den Hals tragen muß.« »Und wenn es nicht anders ging«, sagt der Veteran, »ließ er seinen Bambusspieß einsetzen.« Sanuk will wissen, was das ist. Bevor Embree es ihr schonend erklären kann, fahrt der Lokalbesitzer mit seinen Pummelhänden durch die Luft und beschreibt einen kleinen Käfig, in dem ein Mann auf einem Hocker sitzt. Die Hände sind ihm auf dem Rücken zusammengebunden, zwischen seinen Knien ist ein Bambusstab in den Boden gerammt, dessen scharfe Spitze seinen Hals berührt. »Wenn er eine Bewegung nach vorn macht …« Der Veteran stößt sich den Daumen unter das Kinn. Als Sanuk fassungslos Embree ansieht, senkt er den Kopf. »Es kam vor. Die Zeiten waren so.« In scharfem Ton sagt er zu dem alten Soldaten: »Der Spieß wurde nicht oft eingesetzt!« »Nein. Und wenn ein Mann geständig war, ließ der General ihn laufen. Es gab keinen besseren General in China.« »Warum wurde er umgebracht?« fragt sie mit matter Stimme. Der dicke Lokalbesitzer zuckt die Achseln. »Das weiß niemand, aber Feinde gab es immer. Man hat ihn irgendwo in der Nähe des T’ai-schan in einen Hinterhalt gelockt. Müssen die Anständigen nicht immer sterben? Jedenfalls«, er spricht jetzt zu Embree, »ein paar Monate danach kam Tschiang Kai-schek aus dem Süden herauf, und die Leute schlossen sich ihm an oder liefen davon. Ich bin davongelaufen.« »Zu wem würde Ihr General heute halten?« fragt Sanuk. »Zu den Nationalisten oder zu den Kommunisten?« 736
Grinsend blickt der Veteran Embree an. »Sie will ganz schön viel wissen. Zu wem er halten würde? Nur zu sich selbst.« Auf englisch sagt Embree zu ihr: »Die Nationalisten würde er nicht unterstützen. Sie sind zu korrupt. Er dachte zu konfuzianisch, um sich damit abzufinden. Vermutlich würde er die Roten unterstützen.« Nach einer Pause setzt er hinzu: »Nein, die auch nicht. Er hat öfter gesagt, der Kommunismus sei eine ausländische Idee.« Sie antwortet ebenfalls auf englisch: »Dann würde er auch in der Welt von heute umgebracht werden.« »Oh, sicher«, sagt Embree. »China ist nicht reif für einen Mann seinesgleichen. Mein Freund«, wendet er sich an den alten Soldaten, »hier gab es einen alten Mann, der dem General aus den Schafgarbenstengeln weissagte. Ich nehme an, daß er gestorben ist.« »Er lebt. Muß an die neunzig sein. Er sitzt jeden Tag in der Nähe des alten Torbogens im Nordteil der Stadt. Erinnern Sie sich an das Tor? Er sagt den Leuten aus den Garbenstengeln ihre Zukunft.« »Und dann hatte der General einen Diener.« »Der alte Yao. Ja. Er überlebte den General beinahe um ein Jahr und schmuggelte seine Singvögel aus der Residenz, damit niemand anders sie bekam. Es heißt, daß er sie auf eigene Kosten in einem Bauernhaus untergebracht hat. Der alte Yao, ach ja. Und ich weiß noch was anderes.« Eine bucklige Frau, vielleicht sein Eheweib, bringt Tee. »Erinnern Sie sich noch an diese Ausländerin? Was wohl aus ihr geworden ist?« »Ich glaube, sie hat China verlassen. Was wissen Sie 737
sonst noch?« Der Veteran rülpst und klopft sich auf den Bauch. »Bin alt und fett geworden. Was wollte ich Ihnen gleich wieder erzählen, mein Freund?« »Was Sie sonst noch wissen.« »Ach ja. Der Gedanke an Yao brachte mich darauf, weil der doch die Frauen haßte. Ich weiß, wo Su-su ist.« Embree versucht, sich zu erinnern. »Erzählen Sie mir von Su-su. Die hab’ ich ganz vergessen.« Der Wirt fährt mit dem Finger neckend vor Embrees Gesicht hin und her. »Sie erinnern sich an mich und an alle anderen, aber nicht an diese hübsche Frau? Su-su war hier, bevor die Ausländerin kam. Dann hat der General sie weggeschickt. Soviel ich weiß, gab er ihr Geld für eine Mitgift. Und so bekam sie ihren Bauern.« »Wo ist sie jetzt?« fragt Sanuk rasch. »Außerhalb der Stadt, dort.« Er deutet mit einer Handbewegung ungefähr nach Süden. »Vielleicht zwei Li weit entfernt, nein, drei. Auf einem Bauernhof neben einem Ententeich. Sie hat einen arbeitsamen Mann geheiratet. Glück gehabt. Su-su hat es zu was gebracht.« »Sie war mit dem General zusammen, ehe die Ausländerin kam?« fragt Sanuk. Der Wirt betrachtet sie einen Augenblick und sagt dann: »Sie sprechen mit einem Akzent. Sie sind nicht von hier. Außerdem sprechen Sie seine Sprache. Woher haben Sie das Mädchen?« fragt er jetzt Embree. »Ist sie aus dem Süden?« »Nein«, antwortet Embree, »sie ist aus der hiesigen Gegend, war aber lange fort.« Ein paar Minuten später steht Embree auf, dankt dem Veteranen überschwenglich und geht mit Sanuk hinaus. 738
Zuviel Kontakt mit der Vergangenheit könnte ans Licht bringen, was besser verborgen bleibt. Zum Beispiel sein Verrat an dem General, obwohl sicher nur wenige Menschen davon erfahren haben und schon gar nicht einfache Soldaten. Er ist sich jedoch im klaren darüber, daß Sanuk sich durch nichts davon abhalten lassen wird, den alten Wahrsager und insbesondere die Frau auszufragen, die vor zwanzig Jahren Konkubine ihres Vaters war. Draußen wendet sie sich ihm zu: »Diese Käfige? Hat mein Vater das wirklich zugelassen?« Als er mit der Antwort zögert, sagt sie: »Ja, ich verstehe. Ich bin kein Kind mehr. Das war eben seine Welt.« Genauso, wie es der Wirt beschrieben hat, treffen sie einen alten Mann neben einem steinernen Torbogen an, wo es nach Norden, in Richtung zum Friedhof geht – eine gebrechliche, in Lumpen gehüllte Gestalt, die neben der staubigen Straße auf einem zerbrochenen Faß vor einem windschiefen Bambustisch sitzt. »Erkennst du ihn wieder?« fragt Sanuk. »Zweifelsfrei. Er hat sich nicht sehr verändert. Vor zwanzig Jahren war er alt; jetzt ist er eben noch älter. Ich würde ihn überall wiedererkennen.« »Du hast gesagt, er sei ein Opiumraucher gewesen.« »Ich nehme an, er ist es noch. Manchen Leuten bekommt es gut.« Embree spricht den Alten an. Der Mann blinzelt, vielleicht weil er kaum mehr sieht. »Wir kannten einander, Großvater. Vor Jahren, als der große General noch am Leben war.« Milchig-trübe Augen wenden sich ihm zu, eingesunkene Wangen über zahnlosen Kiefern. »Ach, der General.« Die Stimme kommt von weit her. »Es war nicht richtig, wie sie 739
es gemacht haben. Sie hätten irgend etwas von ihm zurückbringen sollen, damit er mit den gehörigen Riten bestattet werden konnte. Ich habe ihnen gesagt, bringt, was ihr finden könnt, auch wenn es nur ein Finger oder ein Schuh ist. Dann kann er ins Land der Ahnen eingehen. Aber niemand fand etwas von ihm … Ja, ich kenne Sie. Sie sind der Ausländer mit der Axt. Sie konnten auf einem Pferd schlafen.« Er lacht, ein trockenes Lachen wie Papiergeraschel. »Wer ist das – den Sie da dabeihaben?« Embree wirft einen kurzen Blick auf Sanuk. »Ein Freund, Großvater. Wir möchten, daß Sie uns das Orakel lesen, für uns beide zusammen.« »Haben Sie es für den General gelesen?« fragt Sanuk. »Ja, mein Junge, sehr oft. Er gab mir Geld für den Hauswirt.« »Der Hauswirt«, erklärt ihr Embree auf englisch, »ist das Opium.« »Was haben Sie gesagt?« fragt der Wahrsager. »Erzählen Sie uns, was Sie dem General prophezeit haben.« Der alte Mann schüttelt traurig den Kopf. »Ich habe alles vergessen. Ich wußte es einmal, noch lange nach dem Tod des Generals. Aber ich kann mich erinnern, daß er, auch wenn seine Offiziere ihm zusetzten und überall gekämpft wurde, die Zeit fand, zu mir zu kommen und sich die Zukunft weissagen zu lassen. Genau wie sein Vater. Er gab mir jedesmal Geld dafür.« »Lesen Sie jetzt unser Orakel«, sagt Embree. Der hinfällige alte Mann nimmt eine Handvoll getrockneter Schafgarbenstengel, zählt sie langsam, legt einige davon weg, arrangiert die Stengel hin und her, bis er zwei Trigramme hat. Er starrt angestrengt hin und 740
murmelt: »Himmel und Feuer, kennst du die Linien, Junge?« »Nein«, sagt Sanuk. »Die sechs Linien eines Orakels sagen, was geschehen wird, und sie stehen für Veränderungen, dafür, wie die Dinge aus einem Zustand in einen anderen übergehen. Verehrter Herr«, sagt er zu Embree, »haben Sie Geld?« Embree hält ihm nationalistisches Geld hin. Der Alte beäugt es und schüttelt dann den Kopf. »Nein, von der anderen Sorte.« Er schiebt ein paar Yuan kommunistischer Währung in seine schmuddelige Bluse und fährt fort: »Feuer ist Ordnung. Himmel ist Kraft.« »Können Sie in Ihrem Buch lesen, Großvater? Oder soll ich für Sie lesen?« fragt ihn Embree. »Brauche das Buch nicht mehr. Jetzt, am Ende meines Lebens, kenne ich mich aus. Feuer und Himmel – in diesem Hexagramm haben sie fünf starke Linien und eine weiche. Die Yinlinie auf zweitem Platz ist das Tor zum Verständnis und Gelingen. Die bewegliche Yanglinie an der fünften Stelle ist der Herrscher. Das untere Zeichen bedeutet Waffen. Das obere kommt ihm kräftig entgegen. Sieg großer Heere.« »Welche großen Heere?« fragt Embree lächelnd, doch der Alte scheint ihn nicht gehört zu haben. »Anfangs eine Neun, das bedeutet Gemeinschaft mit Menschen im Tore. Kein Makel. In allem offen sein ist am besten. Keine Heimlichkeiten. Nicht lügen. Die Sechs auf zweitem Platz und die Neun auf fünftem Platz wollen sich vereinigen. Doch die Linien auf dem dritten und vierten Platz hindern sie daran. Dieses Hexagramm spricht von einer Bewegung nach oben. Feuer und Himmel bedeuten beide: aufwärts. Das ist gut. Und der Himmel wird dadurch, daß er das Feuer bekommt, noch besonders hell. Das bedeutet 741
Gemeinschaft und Liebe. Wenn die zweite und die fünfte Linie einander treu bleiben, werden sie die Hindernisse überwinden.« Er schweigt. »Dann ist es ein gutes Hexagramm«, befindet Sanuk. »Es ist ein trauriges Bildzeichen, weil die Linien in dieser Anordnung nicht edel genug sind. Die dritte und die vierte Stelle sind zu stark und werden am Ende alles kaputtmachen. Das Gute währt nur kurze Zeit.« Mißmutig schiebt er die Stengel zu einem Häufchen zusammen. »Ordnung und Kraft, Brüderlichkeit und Liebe dauern nur kurze Zeit, wie es hier aussieht.« Am Abend, nachdem sie in die Herberge zurückgekehrt sind, steht Sanuk am offenen Fenster ihres Zimmers und blickt hinaus auf die sommerlich grüne, schon halb schlummernde Stadt. »Ich möchte sie morgen aufsuchen, und dann hör’ ich auf damit.« Embree, der auf dem Bett liegt, sagt: »Tu das erst, wenn du genug erfahren hast.« Er will nicht noch einmal erwähnen, daß es wahrscheinlich zu weiteren Kampfhandlungen in der Region kommen wird. Sie tritt ans Bett und kniet sich darauf, noch nicht bereit, ihn zu umarmen. »Sag mir, was geschieht, wenn der morgige Tag vorbei ist?« »Komm mit mir nach Schanghai.« »Wartet Mutter dort?« Der Wahrsager hat gesagt: Nicht lügen. »Ja, sie wartet dort.« »Ich verstehe. Du kamst, um mich zu holen?« »Das war ursprünglich die Idee. Aber wie wir sehen, 742
Liebling, hat sich die Sache anders entwickelt.« »Und ich soll mit ihr nach Hause fahren?« »Du sollst sie treffen. Doch danach werden wir beide woanders hinfahren.« »Nicht nach Bangkok?« »Nein. Ich weiß noch nicht – irgendwohin.« »In China?« »Ich weiß es noch nicht.« »Das Orakel war sehr traurig«, sagt sie. »Es hörte sich erst so gut an, alles aufwärts drängend – Himmel und Feuer, Liebe und Brüderlichkeit –, aber dann hat er gesagt, es wird keinen Bestand haben.« »Bei diesem Orakel ist immer alles im Fluß. Darum nennen sie es ja das Buch des Wandels.« »Von meinem Vater wußte er nur noch, daß er ihm Geld gab.« Embree lacht. Jetzt ist nicht die Zeit, sich über traurige Weissagungen zu unterhalten. »Küß mich«, sagt er. Wieder mieten sie Pferde. Embree wirft der jungen Frau, die hartnäckig schweigt, seit sie ihr Zimmer verlassen haben, einen kurzen Blick zu. Der Gedanke geht ihm durch den Kopf, daß sie vielleicht nie mehr dieses Land verlassen wird. Und wenn sie hierbleibt, wird auch er hierbleiben. Wirklich? Daß er sie liebt, ist klar. Daß sie ein gemeinsames Leben gestalten können, ist nicht klar, gleichgültig, was er ihr erzählt. Der Wahrsager sagte: Nicht lügen. Aber vielleicht beruht die Liebe auf einem Fundament von Lügen, Illusionen, Phantasiegespinsten. Nachdem sie drei Li geritten sind, sehen sie nahe der Straße einen Ententeich und eine halb eingestürzte Mauer. Das Bauernhaus ist typisch, mit Mauern aus Lehm, einem 743
strohgedeckten Dach und dahinter einem aus Weiden geflochtenen Silo Noch ehe sie aus den Sätteln gestiegen sind, ist sie schon da, umringt von Hühnern: eine pummelige Frau in Hose und Kittel, beides schwarz und bauschig; kurzsichtig blinzelt sie zu ihnen herüber. Das Haar, noch schwarz, trägt sie in einem Knoten, der mit Bambusnadeln festgesteckt ist. Die eingebundenen Füße, die in Leinwandschuhen stecken, sehen aus wie winzige Holzblöcke. Da sie nicht vereinbart haben, wie sie sich vorstellen wollen, sieht Embree mit Überraschung, daß Sanuk auf die Frau zugeht und ohne jedes Zögern sagt: »Ich bin die Tochter von General Tang Schan-teh.« Die Frau runzelt kurz die Stirn und neigt dann mehrmals demütig den Kopf. Nun ist Sanuk ihrerseits überrascht. Auf englisch sagt sie zu Embree: »Deswegen habe ich es nicht gesagt. Ich will das nicht.« »Denk dir nichts. Sprich zu ihr.« Während er zurückbleibt, gehen die beiden Frauen auf das Haus zu. Am Eingang bleiben sie stehen. Mit weiteren Verneigungen läßt die Ältere die Jüngere zuerst eintreten. Embree wandert im Hof herum. Auf einem Acker ziemlich weit weg sieht er eine einsame, vornübergebeugte Gestalt hinter einem ins Joch gespannten Ochsen. Am Himmel türmen sich Wolken. Weide ich, fragt er sich, jemals den Mut aufbringen, ihr die Wahrheit zu sagen? Natürlich, es gibt Männer und Frauen, die mit Geheimnissen leben, ebenso düster wie sein eigenes, und sich bewußt sind, daß die Wahrheit alles zugrunde richten kann. Und dennoch – dieser Frau muß er die Wahrheit sagen. Aber muß er wirklich? Warum ist diese junge Frau etwas so Besonderes auf der Erde, erfüllt 744
von Lug und Trug? Weil sie für ihn etwas ganz Besonderes ist. Es gibt keine Chance für sie beide, überhaupt keine, solange er nicht vor sie hintritt und gesteht: »Ich habe deinen Vater verraten, weil ich deine Mutter haben wollte, und dennoch liebe ich dich. Verzeih mir!« Denn sie will die Wahrheit wissen. Gestern hat sie zu den von ihrem Vater verhängten Bestrafungen und Folterungen gesagt: »Ich verstehe. Ich bin kein Kind mehr. Das war eben seine Welt.« Doch nein, noch nicht! Er kann sich mit der Wahrheit Zeit lassen. Er muß Geduld haben. Embree gibt einen tiefen Seufzer der Befriedigung über diesen grundvernünftigen Entschluß von sich. Er muß lange warten, bis die beiden Frauen wieder im Eingang des Bauernhauses erscheinen. Sanuk hält lächelnd die Hand der Älteren. Doch als sie sie losläßt, verneigt sich Su-su in rascher Folge mehrmals und tief vor ihr und verharrt so, den Blick auf den Boden gerichtet, bis Sanuk und Embree aufgesessen sind und das Anwesen verlassen haben. Als Sanuk zu sprechen beginnt, ist das Bauernhaus nicht mehr zu sehen. »Sie wurde einmal von einem Großgrundbesitzer einem Bürgermeister geschenkt«, sagt Sanuk. »Dann schenkte der Bürgermeister sie meinem Vater, um gut Wetter für sich zu machen. Sie hat gesagt, mein Vater habe sie sehr freundlich behandelt.« »Ja«, sagt Embree. »Als dann meine Mutter nach Küfu kam, forderte mein Vater Su-su auf zu gehen. Er sei ihr nichts schuldig gewesen, sagte Su-su. Trotzdem gab er ihr eine ordentliche Summe, die sie als Mitgift in ihre Ehe mitbrachte, wie uns der alte Soldat erzählt hat.« 745
»Ja.« »Wir haben über den Tod meines Vaters gesprochen. Sie sagte, wenn sie seine Leiche nicht finden und bestatten, wie es sich gehört, dann muß sein Geist heulend durchs All irren.« Embree wirft ihr einen kurzen Blick zu. »In einem Hinterzimmer in dem Bauernhaus haben sie ein Tischchen mit Tontäfelchen darauf.« »Ja, Ahnentäfelchen.« »Sie nahm eines davon zur Hand und reichte es mir. Sie hat es ihrem Mann gegenüber als Gedenktäfelchen für den Großonkel ihrer Mutter ausgegeben, während es in Wirklichkeit für meinen Vater ist. Sie betet jeden Tag zu den Täfelchen einschließlich dem, das an meinen Vater erinnert.« »Ja«, sagt Embree. »Aber inzwischen glaubt sie, daß er gar nicht wirklich tot ist. Sie glaubt, daß er als Gott weiterlebt. Er ist ja beim T’ai-schan umgebracht worden, dem Sitz der Götter. Sie meint, er sei jetzt dort oben als einer von den Göttern.« Sie reiten schweigend dahin. »Sie hat keine Kinder«, sagt Sanuk nach einer Weile. »Ihr Mann behandelt sie gut, ist aber, glaube ich, ein einfältiger Mensch. Sie hat wohl nichts anderes zu tun, als sich immer wieder zu fragen, was vielleicht geschehen wäre, wenn nur meine Mutter nicht dahergekommen wäre.« »Ja«, sagt Embree, weil er nichts anderes zu sagen weiß.
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m nächsten Vormittag rumpeln sie auf einem Ochsenkarren über die an Schlaglöchern reiche Landstraße von Küfu nach dem Bahnknotenpunkt Yanchou. Die Straße überquert den Wenhe auf einem breiten Steindamm, auf dem Fischer ballonartige Netze auswerfen, die an hohen, gebogenen Bambusstangen befestigt sind. Sanuk sieht interessiert hin. In der vergangenen Nacht hat sie ihrer Leidenschaft die Zügel schießen lassen, als hätte ihr das, was sie über das Leben des Generals erfahren hat, die Freiheit gegeben, ganz ihr eigenes zu leben. Embree, der ihr Freiheitsgefühl spürt, fragt sich nach der Freiheit von seiner eigenen Vergangenheit. Die volle Wahrheit, sagt er sich, dafür haben wir beide noch lange Zeit – vielleicht ein ganzes Leben. Warum sollte ich Sanuks Vertrauen zu mir zerstören, da doch der Mann, der ihren Vater verriet, ein unbesonnener, unsicherer, rebellischer Vierundzwanzigjähriger war? Nicht der Philip Embree von heute. Die Logik seines Gedankenganges, sagt er sich, ist einfach zwingend. Die Liebe gibt ihm einen Grund, sie zu täuschen. Ob er vor zwanzig Jahren Vera ebenso geliebt hat? Nein. Doch genug, um auch sie zu täuschen. In Yanchou haben sie Glück – ein Güterzug wird in Kürze nach Taian abfahren. Allerdings ist er mit Soldaten der Volksbefreiungsarmee besetzt, soweit die Ladung von Proviant und Munition dies zuläßt. Doch auf dem Dach eines der Waggons ist noch Platz für zwei weitere Mitfahrende. Gutmütig helfen ihnen ein paar Bauernsoldaten nach oben. Sie machen es sich, so gut es 747
geht, für die Fahrt nach Taian bequem – etwa achtzig Kilometer. Endlich stößt die Lokomotive eine große Dampfwolke aus und setzt sich mit einem schrillen Pfiff in Bewegung. Die Landschaft Schantungs zieht vorüber, und Embree erfaßt plötzlich ein Hochgefühl. Auch ihrem Gesicht ist die Erregung, das Gefühl von Freiheit anzumerken. Dann vernimmt Embree im rauschenden Luftstrom eine Bekundung dieser neuen Unabhängigkeit: Unvermittelt erklärt ihm Sanuk, daß sie noch nicht bereit sei, nach Schanghai zu fahren. »Noch nicht«, sagt sie. An ihrem Gesicht erkennt Embree den Eigensinn des Kindes, das die Freiheit geschmeckt hat und noch mehr davon will. Sie will ihrer Mutter noch nicht gegenübertreten. Sie erinnert ihn an den Philip Embree, der seinen Paß, seine Bibel und seine ganze Vergangenheit in einem Eisenbahnabteil zurückließ und seinen ersten Schritt in die Freiheit tat. Auf halber Strecke nach Taian sieht Embree von Westen her eine Straße sich dem Gleis nähern, und darauf bewegt sich, so nahe, daß sie klar zu erkennen ist, eine lange Marschkolonne – kommunistische Soldaten, wie ihre Armbinden zeigen. Die Männer in und auf dem Zug winken ihren Kameraden fröhlich zu. Auch Sanuk winkt, und schließlich Embree selbst. Die Brigade ist viel besser ausgerüstet, als er es sich vorgestellt hätte. Die Männer tragen sowohl japanische als auch amerikanische Waffen. Er bemerkt ein automatisches Browning-Gewehr, ein leichtes Taisho-MG, 6,5 mm, M-1Karabiner und Ansaka-Gewehre vom Typ 38. Das Talent der Roten, sich vom Feind Waffen zu beschaffen, zeigt sich deutlich auf dieser nach Norden führenden Straße. Ein paar gepanzerte Fahrzeuge, Staghound Chevys, mit Mörser. Präsente von Onkel Sam. Granatwerfertrupps ziehen die Straße entlang. Winkende Männer tragen am 748
Gürtel Eierhandgranaten vom Typ Mark II A-1, wie er sie gelegentlich selbst geworfen hat, und japanische Handgranaten, Kopien der deutschen Stielhandgranaten. Neben den Infanteristen rumpeln leichte japanische Lastwagen. Ein Dodge-Dreivierteltonner ist zu sehen und wieder einer und noch einer sowie eine Kette von Jeeps, deren Insassen fröhlich zu ihren Kameraden im Zug herüberwinken. Sanuk winkt ohne Unterlaß, die Lippen geöffnet wie ein Kind. Weiter hinten in der Kolonne entdeckt Embree einen amerikanischen M-22-LocustPanzer, aus dessen Luke ein Besatzungsmitglied winkt. Dann einen Sherman M-4, dann zwei, drei hintereinander, die alle in Richtung Tsinan rollen, ein paar Hundert Meilen entfernt. Embree beugt sich zu Sanuk hin und brüllt ihr ins Ohr: »Sie sind auf dem Marsch, um Tsinan zu belagern!« »Ja?« »Du begreifst nicht. Wir müssen aus Tsinan raus, sobald wir dort angekommen sind.« »Aber nicht nach Schanghai!« »Wir müssen das nächste Flugzeug nehmen, das wir erwischen können.« Sanuk runzelt die Stirne. »Aber nicht nach Schanghai. Noch nicht. Ich möchte mit dir eine Zeitlang allein sein, Mutter kann warten.« Wenn er den Herzanfall erwähnt, wird Sanuk es sich anders überlegen. Ja – und Vera in Wut versetzen. Die beiden Frauen halten sich an einen Verhaltenskodex, der in seiner Strenge romantisch erscheint, selbst für ihn, der ja selbst ein Romantiker ist. Mit wie vielen Akten des Verrats muß er leben? Versprechungen und Pflichten – immer wieder ereilt ihn, wovor er davonläuft. Mißmutig verbannt er das Dilemma aus seinen Gedanken. 749
Die Schatten der Waggons neigen sich inzwischen weit nach Osten. Von Sanuks Gesicht ist das Hochgefühl gewichen, doch der müde Ausdruck um ihren Mund verschwindet, als Embree sie anblickt. Sie lächelt, versucht es zumindest, und er sagt sich, daß sie die erste Frau ist, die ihn jemals geliebt hat. Aber nein, das ist nicht wahr. Seine Mutter hat ihn geliebt. Und er denkt auch an Fu-fang, die mit der Bande von Weißer Wolf umherzog. Aber hatte sie ihn nicht nur deshalb für sich beansprucht, weil die Männer um sie herum Pferde besser behandelten als Frauen? Beinahe schüchtern streckt er die Hand aus und berührt Sanuks Finger, die um das Geländer geklammert sind. Und Vera? Was wird sie zu dieser unerwarteten Wendung der Dinge sagen? Ach, das ist nur allzu klar, denkt er grimmig … Auf dem Waggon hinter ihnen schreien Männer und deuten nach oben. Blinzelnd blickt Embree hinauf zum Himmel, den starren Blicken der anderen folgend, und entdeckt schließlich im Westen einen kleinen Fleck, der, wie es scheint, direkt aus der Sonne kommt. »Was ist?« fragt Sanuk, aber kaum sind die Worte gesprochen, wirft er sich schon über sie, als wollte er ihr brutal Gewalt antun, und Sekunden später dreht ihm der wirbelnde Sog eines Flugzeugmotors den Kopf nach oben, und er sieht, wie die P-51 »Mustang« in Schräglage auf das Gleis zu herabstößt. Man hört ein ratterndes Geräusch, einen Aufschrei, und die »Mustang« zieht hoch, beschreibt eine Kehre und setzt abermals zu einer Attacke an. Wieder schlagen etliche Kugeln ins Dach eines Güterwagens ein. Es ist der nächste vor ihnen, und Embree sieht, wie zwei Männer über den Rand hinunter aufs Gleisbett kippen. Als die »Mustang« 750
sich zu einem neuerlichen Angriff schräglegt, empfangen sie ein paar Männer auf einem offenen Kohlewaggon mit einem MG-Feuerstoß. Da sie nicht hoch genug zielen können, treffen sie weit daneben, das Flugzeug aber gibt diesmal keinen einzigen Schuß ab, sondern steigt wieder und dreht in die Strahlen der Nachmittagssonne ab. Embree richtet sich auf und murmelt: »Dieser Vollidiot!« Als sie ihn erstaunt ansieht, sagt er: »Er hat uns von der Seite her angegriffen. Ein Kind weiß, daß er parallel anfliegen müßte. Außerdem ein elender Feigling. Wenn das die Luftwaffe der Nationalisten ist, tun sie mir leid.« Sanuk, deren Wangen sich wieder färben, lacht leise. »Ja. Du bist wirklich ein Soldat.« Der Zug wird langsamer und kommt ruckweise zum Stehen. Zischend steigt Dampf in die Luft, und von den Dächern der Güterwaggons beginnen Soldaten hinunterzuklettern. »Was ist los?« Sanuk starrt zu ihnen hinab, während sie sich längs des Gleisbetts hinhocken oder ausstrecken. Embree steht auf und erklärt, es wäre besser, sie würden auch hinuntersteigen. Dann führt er sie vom Zug weg in ein Erdnußfeld. »Ich hab’ das oft genug in China erlebt. Ein Zug bleibt irgendwo stehen, einfach so. Auf lange Zeit. Vielleicht ist der Kessel undicht geworden oder ein Ventil gebrochen, oder der Heizer ist müde. Es ist sinnlos, darauf zu warten, daß in China ein Zug weiterfährt. Außerdem müssen wir inzwischen nicht mehr weit von Taian sein. Gib mir deinen Koffer.« »Nein.« »Gib ihn mir. Meiner ist leicht. Nein? Nun, wie du willst.« Mit den Koffern in den Händen wandern sie über die 751
schmalen Wege zwischen den Reihen der Erdnußsträucher. Kurz vor Sonnenuntergang erreichen sie ein Dorf. Bevor sie hineingehen, sagt Embree: »Noch was über die Dorfeinwohner. Wenn sie genug zu essen haben und sich nicht bedroht fühlen, lassen sie einen in Frieden. Aber da sich jetzt der Krieg verschärft, kann es sein, daß sich die Dinge hier in der Gegend geändert haben. Es ist zu erwarten, daß sie Partei ergreifen.« Er öffnet seinen Koffer, holt die Axt heraus und steckt sie sich in den Gürtel. »Keine besondere Waffe in der Welt von heute. Zugegeben. Aber sie wirkt beruhigend auf mich.« Er kramt wieder in dem Koffer und fördert diesmal ein Halfter und eine halbautomatische Colt M 1911 zutage. »Ein bißchen schwer, aber die beste Pistole, die jemals fabriziert wurde.« Während er das Halfter an seinem Gürtel befestigt, fährt er fort: »Ich bin von jetzt an ein Holländer, kein Amerikaner.« Er bricht zwei Packungen Lucky Strike von einer Stange ab und steckt sie in die Tasche. »Hast du einen siamesischen Paß?« »Auch einen chinesischen.« Er schlüpft in eine leichte Leinwandjacke, die seine Waffen verdeckt, und bindet sich locker ein Stück Schnur um die Taille. »Von nun an bist du eine siamesische Staatsbürgerin.« Sie betreten die schlammige Dorfgasse und sehen als erstes ein großes, funkelnagelneues Plakat, an die Mauer eines kleinen Backsteinhauses genagelt. Es zeigt in schreienden Farben einen riesenhaften kommunistischen Soldaten. Mit einem Bajonett treibt er ein winziges Kriegsschiff mit einem japanischen Marineoffizier und einem rotnasigen General MacArthur zurück, die beide 752
einen ertrinkenden Tschiang Kai-schek aus den Fluten retten wollen. Unter der Karikatur steht: Widersteht den amerikanischen Imperialisten, widersteht der Unterstützung Japans, widersteht der Hilfe für Tschiang Kai-schek, widersteht dem Angriff auf China! Es lebe die Volksbefreiungsarmee! Während sie langsam die schmale Straße entlanggehen, kommen plötzlich zwei Männer aus einer Hütte, der eine mit einer Mistgabel in der Hand. »Genossen«, ruft ihnen Embree zu. Er erklärt ihnen, daß sie beide Ausländer seien, er Holländer und sie Siamesin, und sich aus der Kampfzone absetzen möchten. Sie arbeiteten für die Bevölkerung, setzt er vage hinzu. »Was sucht ihr hier?« will der Mann mit der Mistgabel wissen. »Etwas zu essen und ein Dach über dem Kopf, Genosse. Morgen ziehen wir weiter.« »Was habt ihr zu bieten?« »Ausländische Zigaretten.« Der Mann senkt die Gabel. »Paß auf, Genosse«, setzt Embree in freundlichem Ton hinzu, als sie ihm durch eine Gasse folgen, wo in den Türen gaffende Gesichter erscheinen. »Der Anführer des Ersten Regiments der Zweiten Division der Dritten Feldarmee kennt uns. Er kommt morgen hier durch. Sollte uns etwas zustoßen, würde ihn das nicht freuen. Wir sind Ärzte und haben ihm das Leben gerettet.« »Ärzte?« Embree wedelt mit den Händen. »Keine Medikamente mehr. Ohne Medikamente können wir nichts anfangen.« Der Mann nickt verdrießlich. »Hier.« Er deutet auf eine Hütte. »Hier eßt ihr«, erklärt er. Er nickt zu einem verfallenen 753
Stall hin. »Und dort schlaft ihr.« Dann tritt er in die Hütte. Sie folgen ihm in einen schwach beleuchteten Raum, in dem es nach Knoblauch riecht. In einem kleinen Herd brennt ein Feuer unter einem großen, schwarzen Eisentopf, der von der Decke hängt. Eine Frau macht einen Schritt zurück an die Wand. Barsch bedeutet ihr der Mann, sie solle für die beiden Fremden zwei Schüsseln holen, und zu Embree gewandt: »Die Zigaretten?« Embree zieht eine Packung Lucky Strike heraus. »Nein«, sagt der Dörfler. »Zwei solche.« »Eine.« »Zwei.« Schließlich sagt Embree mit einem Achselzucken: »Nehmen Sie alles, was ich habe«, und reicht ihm die zweite Packung. Der Mann dreht die beiden Packungen in den Händen, zupft mit einem dicken Finger an der Zellophanumhüllung und fragt: »Amerikanische Zigaretten?« »Holländische.« »Wir haben leider nur ein bißchen Gemüse und Mehlsuppe«, erklärt er beinahe entschuldigend. »Wir sind eine arme Familie.« Lächelnd setzt er sich auf das kang, eine Erhöhung des Zimmerbodens längs einer Wand, und mustert Sanuk, die neben ihm sitzt, mit unverhohlenem Interesse. »Sie sind aus Siam? Wo liegt denn das?« »Südlich von China.« »Die Armee zieht morgen durch?« »Ja«, sagt Embree. »Der Regimentsführer sagte mir, wir sollen in diesem Dorf bleiben, bis er eintrifft.« 754
»So!« Der Dörfler nickt eifrig. »Los, Frau, mach schnell! Das sind wichtige Gäste.« Lächelnd sagt er zu Embree: »Wenn Ihre Frau zornig ist, prügeln Sie sie, wenn Sie zornig sind, prügeln Sie sie. Das ist der Weg, der zum Glück führt.« Bei Sonnenuntergang liegen sie schon auf ihrem Strohlager auf dem Heuboden über dem Stall, der derzeit von einem alten Maultier, einem Schwein und einigen Ratten bewohnt ist. Embree hat einen Rechen gegen die Tür gestemmt und das andere Ende in das lockere Erdreich des Stallbodens gebohrt. Falls jemand versuchen sollte einzudringen, erklärt er Sanuk, würden sie wenigstens aufmerksam werden. »Ist es gefährlich hier?« fragt sie. »Ich glaube nicht. Sie rechnen damit, daß morgen mein Freund von der Dritten Feldarmee hier eintrifft.« »Haben sie das denn geglaubt?« »Wenn es mit einer Armee zu tun hat, was man ihnen erzählt, dann glauben sie es. Sie können sich gar nichts anderes erlauben.« »Jetzt kenne ich noch ein Stück von dir«, sagt Sanuk. »Ich habe früher von kriegerischen Gestalten geträumt, mich im Traum selbst so gesehen. Wie Jeanne d’Arc. Daß ich neben meinem Vater in die Schlacht reite. Doch jetzt, nachdem ich dich erlebt habe, bin ich mir nicht so sicher, ob ich das möchte.« Lachend beugt sich Embree vor und küßt sie auf die warme Wange. Sie entzieht sich ihm und sagt jetzt ernst: »Du hast etwas an dir, was mir Angst macht, obwohl es mir gefällt. Mit Vater wäre es mir genauso ergangen. Du genießt die Gefahr, die Vorstellung, daß du dieses Ding da benützt.« Sie blickt kurz auf die Pistole, die über einem 755
Balken des Heubodens an ihrem Halfter hängt. Einige Zeit vorher hat er die Waffe auseinandergenommen und mit ein paar Tropfen Öl gereinigt, das er in einem Fläschchen bei sich trägt. Sanuk beobachtete ihn fasziniert, wie er das Magazin mit sieben Kugeln füllte. »Ich bin ein Feigling. Ich hätte es nie für denkbar gehalten, aber jetzt weiß ich, daß ich einer bin«, stellt sie fest. »Das bezweifle ich. Oder wir sind alle Feiglinge. Ein Freund von mir – inzwischen tot – erkannte den Feigling in mir.« »Das glaube ich nicht.« »Sowohl den Schwachkopf als auch den Feigling. Und ich will dir noch was sagen. Als heute das Flugzeug den Zug angriff, ist mir die Angst in die Knochen gefahren. Ich hab’ mich immer davor gefürchtet, aus der Luft getötet zu werden. Es ist natürlich albern – schließlich kann man von Glück sagen, wenn man schnell stirbt, egal auf welche Weise –, aber so denke ich nun einmal.« »Laß doch«, sagt sie, packt etwas Heu und wirft es auf ihn. Er wirft eine Handvoll zurück. Sie sehen einander an und beginnen zu kichern; Heubüschel fliegen durch die Luft. Dann beginnen sie, miteinander zu balgen, und rollen ins Heu. Mit dem trockenen, erdigen Geruch in den Nasenlöchern tauschen sie Küsse, und das Maultier unter ihnen bewegt sich unruhig hin und her, wählend sie verstummen, ganz ineinander versunken. Später, als sie im Dunkeln daliegen, beginnt Embree zu sprechen: »Nichts davon hätte ich mir träumen lassen.« Er verstummt wieder und überlegt, ob er dem Weg folgen soll, der sich in seinen Gedanken abzeichnet. Er sagt: »Ich glaube, in Indien war ich richtig verrückt«, und erzählt ihr 756
von Harry. Alles über Harry. »Und dann auf der Tempelterrasse in Pagan versuchte ich, Verbindung mit ihm aufzunehmen.« Schweigend, völlig regungslos hat sie gelauscht, während er die Geschichte erzählte. Nun spürt er ihre Hand an seiner Schulter. »Hoffentlich hätte ich genauso gehandelt.« »Wieso kannst du hoffen, wie ein Verrückter zu handeln?« »Ich halte was von Kühnheit. Und schließlich konntest du ja nichts anderes tun, als dort hinaufzusteigen und deinen Dämon herauszufordern.« Embree nimmt sie in die Arme und hält sie, bis sie schließlich eingeschlafen ist. Er weiß, daß er noch nie einen Menschen so geliebt hat, wie er sie jetzt liebt. Wie könnte es auch anders sein? Um sich von einem Dämon zu befreien, ist er ihm in Pagan gegenübergetreten. Vielleicht war es die bedeutendste Tat in seinem ganzen Leben – sich dem inneren Dämon zu stellen. Und vielleicht hat noch kein Mensch so viel für ihn getan wie heute diese junge Frau. Sie glaubt an ihn, sie hat ihn in seiner sonderbarsten Stunde verstanden. Der Morgen graut noch nicht, als Embree sie wachrüttelt. Leise schleichen sie sich aus dem Stall, die Dorfgasse entlang, hinaus auf die Felder im Morgendämmer. Ihre Füße werden naß vom Tau. »Eine Reise von tausend Meilen beginnt mit einem einzigen Schritt«, sagt Embree, als sie aus einem Feld auf eine Straße stapfen. »Von wem stammt das?« »Es wird Laotse zugeschrieben.« »Ich wollte, er wäre hier und könnte mir ein paar von 757
meinen Schritten abnehmen.« »Liebst du mich?« fragt Embree plötzlich. Ihr Gesicht erscheint ihm neu. Jung und frisch in der Morgendämmerung über China. »Ich bin froh, daß du das fragst«, antwortet Sanuk. »Ich meine, gerade jetzt, in diesem Augenblick.« »Und warum?« »Weil ich das gleiche dachte: Liebt er mich? Und wenn du mich das gleiche fragst, sagst du damit, daß du es tust. Ja. Mir geht es genauso. Ich liebe dich.« Es klingt so überzeugt, daß Embree Angst bekommt. Zuviel Glück ist gefährlich. Das ist eine Binsenwahrheit in jeder Sprache. Doch die schlimmste Gewohnheit, der man verfallen kann, ist vielleicht der Pessimismus. Wenn man Fehler hat, lehrte Konfuzius, soll man keine Scheu haben, sie abzulegen. Was Wunder, denkt Embree, daß die Chinesen noch heute auf ihn hören. Taian ist nicht mehr so, wie sie diesen Ort vor ein paar Tagen verlassen haben. Als sie in die Stadt kommen, sehen sie überall Soldaten – die freilich nicht herumhängen oder sich für einen Ausflug auf den T’aischan vorbereiten. Die Männer marschieren in Kolonnen und veranstalten ein Geräusch, das Embree nur zu vertraut ist: das rhythmische Waffengeklirr einer Armee, die sich in Marsch gesetzt hat. Lastwagen rumpeln die Straßen entlang und wirbeln Staub auf, der im Sonnenlicht flirrt. Embree schlägt vor, zum Bahnhof zu gehen und dort ihr Glück zu versuchen. Als das Gebäude mit dem Blechdach in Sicht kommt, bemerkt er im Bahnhof einen Zug und wenigstens tausend Soldaten, die in der heißen Sonne warten. Embree zieht 758
sich den Hut ins Gesicht und schärft Sanuk noch einmal ein: »Du bist eine siamesische Staatsbürgerin.« Sie drängen sich durch die wartende Menge der Soldaten zum Hauptbahnsteig, wo mehrere Wachen stehen, mit Gewehren bewaffnet. Als einer von ihnen Embree bemerkt, kommt er heran. »Wer sind Sie? Was haben Sie hier zu suchen?« »Ich bin Holländer und arbeite für die Weltgesundheitsorganisation«, sagt Embree. »Sie ist meine Kollegin. Wir suchen eine Möglichkeit, weiterzufahren.« Der Posten führt sie aus dem Bahnhof hinaus und zu einem abseits des Platzes geparkten Jeep, in dem zwei Offiziere sitzen. Embree tischt ihnen die gleiche Erklärung auf. Der hinter dem Steuer hat ein fettes, offenes Gesicht und wahre Pranken. Er fragt: »Wer sind Sie? Einer dieser Spione von General Ma Tu?« Immerhin klingt er freundlich und lächelt. »General MacArthur ist Amerikaner. Ich bin Holländer. Ich arbeite für das Volk.« »Für welches Volk?« fragt der Offizier in schärferem Ton. »Für alle Leute, die krank sind. Dafür ist die Weltgesundheitsorganisation da.« »Noch nie davon gehört. Dagegen von der anderen. Yu Ha.« »Die UNRRA gibt es nicht mehr. Wir sind die neue. Könnten Sie uns eine Gelegenheit verschaffen, nach Tsinan zu kommen?« »Wozu wollen Sie denn nach Tsinan?« Der korpulente Offizier lacht und sieht seinen Kameraden an. »Sie wollen 759
wohl dort in den Tod laufen.« »Ein Flugzeug bekommen«, sagt Embree. Und achselzuckend fügt er hinzu: »Wenn wir getötet werden, können wir keine Medikamente ins Land bringen, sobald die Volksbefreiungsarmee gesiegt hat.« »Bisher hat uns auch niemand Medikamente gegeben. Warum sollte das jetzt anders werden. Aber wir brauchen Ihre Hilfe gar nicht. Wir nehmen sowieso den Nationalisten ab, was ihr ihnen liefert.« »Stimmt«, sagt Embree. »Aber wenn ihr sie erledigt habt, dann könnt ihr ihnen auch nichts mehr abjagen.« Die beiden Männer nicken. Der Ranghöhere legt den ersten Gang ein. »Geben wir einem Amerikaner eine Mitfahrgelegenheit«, sagt er. »Ich bin Holländer«, korrigiert ihn Embree höflich. »Heutzutage ist jeder Ausländer Amerikaner.« »Ich bin aber kein Amerikaner.« »Na, kommen Sie schon rein. Wir nehmen Sie mit zu einem Dorf unweit von Tsinan. Danach müssen Sie selber zusehen, wie sie in die Stadt hineinkommen. Die Nationalistenhunde haben derart Schiß, daß sie Sie vermutlich ohnehin sofort abknallen.« Während der Stabswagen die staubige Straße zwischen Taian und Tsinan dahinrumpelt, betätigt der Offizier am Steuer bei fast allem, an dem er vorbeikommt, fröhlich seine Hupe. Embree begreift rasch, warum der Jeep nicht von einem Fahrer gesteuert wird – dem Kompanieführer macht es Spaß, ihn selbst zu fahren. Tut-tut-tut. Um ein Haar hätte der Offizier einen alten Mann umgefahren, der tief gebeugt ein Reisigbündel dahinschleppt. »Glauben Sie, mir macht das was, wenn 760
Sie Amerikaner sind? Wir brauchen euch nicht. Es interessiert uns nicht, was ihr den nationalistischen Scheißkerlen liefert. Wir nehmen es ihnen einfach weg.« »Ich bin kein Amerikaner.« »Alle Männer von Ihrer Haarfarbe sind Amerikaner. Stimmt es, daß euer Kaiser, Fu Da Re Rufuzi, in einem weißen Palast lebt?« »Ich glaube, dieser Kaiser ist inzwischen tot. Der jetzige heißt Truman. Ich habe den weißen Palast nie gesehen.« »Ich habe noch nie was von Holländern in China gehört. Sie sind ein Amerikaner.« Nachdem das für ihn abgetan ist, wird er wieder freundlich. Er hupt aufgekratzt, als sie eine Kolonne Bauern – mindestens zwei Meilen lang – passieren, die mit Nachschub für die Armee unterwegs sind. »Wir bezahlen alles«, stellt der Offizier fest. »Diese Bauern verlangen nichts für ihren Einsatz. Auf diese Weise gewinnt die Volksbefreiungsarmee gegen Tschiangs Memmen.« Embree drückt Sanuks Hand und läßt den Blick über die Felder zu beiden Seiten der Straße schweifen, auf denen jetzt das Zuckerrohr heranreift. Konisch geformte Heuhaufen ziehen vorüber, Bauern blicken zu ihnen her, während sie Feldfrüchte hacken oder Mist für ihre Äcker einsammeln. Das Leben in China geht weiter, Krieg hin, Krieg her. Zwei Stunden später fährt der Jeep durch das Tor einer bröckelnden Dorfmauer. Dies ist offensichtlich ein vorgeschobener Kommandoposten, denn die staubigen Straßen und Gassen sind mit kommunistischen Soldaten verstopft. Zwei Männer ziehen ein rückstoßfreies Geschütz vom Typ M 18. Embree erinnert sich, daß sie in Burma solche Geschütze hatten. Vielleicht werden die Roten sie gegen 761
die Mauern von Tsinan einsetzen. Vor dem Jeep rumpelt eine amerikanische 105-mmHaubitze auf einer Selbstfahrlafette über den Sammelplatz, der betoniert ist und sonst zum Dreschen dient. »Damit sind wir am Ziel, Amerikaner«, sagt der Offizier am Steuer und steigt aus dem Jeep. »Ich danke Ihnen«, erwidert Embree, und er steigt mit Sanuk ebenfalls aus. Der korpulente Offizier, der ihn überragt, lächelt. »Tsinan liegt in dieser Richlung«, erklärt er und deutet nach Norden. »Ungefähr eine Stunde zu Fuß. Aber halten Sie sich dort nicht zu lange auf, sonst sehen Sie mich wieder.« Als sie das Dorf hinter sich haben, sagt Embree zu ihr, daß sie nicht nach Tsinan, sondern zum Flugplatz einige Kilometer westlich der Stadt gehen werden. Sie nickt wortlos. Er weiß, was sie gerade denkt: Ich will nicht nach Schanghai, noch nicht. Ich will Mutter erst dann gegenübertreten, wenn ich mehr von meinem eigenen Leben gehabt habe. Er weiß, was sie empfindet – das Hochgefühl der Freiheit. Seit zwanzig Jahren hat er selbst nicht den Mut aufgebracht, vor seinen Vater hinzutreten, sofern sein Vater überhaupt noch lebt. Doch gegenüber Sanuk besitzt er eine Trumpfkarte: die Krankheit ihrer Mutter. Sie sind eine Meile gewandert. Keine Soldaten, keine Lastwagen, keine Fuhrwerke mit Nachschub sind zu sehen. Es ist so still um sie, daß sie hören, wie das Zuckerrohr, von einem Wind aus dem Innern Chinas bewegt, wie Papier raschelt. »Fliegen wir doch nach Nanking«, sagt Sanuk 762
unvermittelt und dreht sich zwischen den hüfthohen Weizenhalmen zu ihm um mit einem bittenden Lächeln. »Ich hab’ einmal gelesen, daß es eine herrliche Stadt ist.« Als er dort war, um die Leute von MAGIC aufzusuchen, wohnte er im Hotel Nanking. Damals hatte er keine Augen für die Azaleen im Garten, die Glyzinen, für die Tränenkiefer neben dem Eingang. Doch jetzt, da sie an seiner Seite einer für sie beide Ungewissen Zukunft entgegenstapft, erfaßt ihn das Verlangen, mit ihr in diesem Garten zu sitzen. Sie würden im Restaurant essen. Auch einen Ballsaal gibt es mit Parkettboden. Ob Sanuk tanzen kann? Er wird es ihr beibringen, obwohl er selbst seit seiner Collegezeit nicht mehr getanzt hat. Sie können es zusammen lernen im Ballsaal des Hotels Nanking mit seinen riesigen roten Laternen an den Wänden. Es gefällt ihr bestimmt dort. Sie werden zur Musik der Filipinokapelle tanzen, falls die sich nicht aus China abgesetzt hat. Dann, vom Tanzen müde, werden sie auf ihr Zimmer gehen. Er denkt an sein Zimmer zurück: ein großer Kleiderschrank, ein Spiegel über dem mit einer Glasplatte bedeckten Toilettentisch. Ein Balkon. Zwei Betten. Nun, man wird sie zusammenschieben. Ein marmorverkleidetes Badezimmer, ein Lüster, an der Decke ein Ventilator, der ihren von der Liebe erhitzten Körpern Kühle zufächeln wird. »Komm«, sagt Sanuk und stößt ihm spielerisch in die Rippen. »Nach Nanking.« »Wir nehmen die Maschine, die wir bekommen können.« »Du klingst verärgert.« 763
Er bleibt stehen und legt ihr die Arme um die Taille. Über dem Mund hat sie ein leichtes Lippenbärtchen aus Schweiß. »Nicht verärgert. Es ist nur ein Jammer, daß wir jetzt nicht in Nanking sind.« Er leckt ihr genießerisch die Feuchtigkeit von den Lippen. Embree richtet ich wieder auf und stellt fest, sie müßten jetzt rascher gehen, da in einer Stunde die Sonne untergehen werde. Und so erreichen sie den Flugplatz von Tsinan – eigentlich nur ein Flugfeld mit einer einzigen Start- und Landebahn, einem niedrigen Kontrollturm, ein paar Schuppen, einem einzigen Hangar. Vor dem Schuppen mit der Beschriftung FLUGINFORMATION müssen sie sich mit Hunderten weiterer Leute in einer Schlange aufstellen, die sich weit hinzieht. Sie werden die Nacht mit Warten verbringen, auf dem Boden schlafen und auch den ganzen nächsten Tag warten, da nur zwei Maschinen landen und starten, die eine nach Peking, die andere nach Schanghai bestimmt. Straßenhändler erscheinen mit eßbaren Dingen. Leute halten Plätze frei für andere, die die Latrine benutzen: ein paar V-förmig angeordnete Steinplatten über Löchern im Boden hinter dem Hangar. Der Bereich um den Schuppen wird zu einem Lagerplatz, und die verschiedensten Fremden schließen auf chinesisch, englisch, französisch miteinander nachbarlich Bekanntschaft. Die Tür des Schuppens der FLUGINFORMATION ist zumeist geschlossen. Wenn sie sich öffnet, werden die Bewerber um einen Flug ihrer Position in der Schlange entsprechend hineingeholt, obwohl viele Leute nur ein bestimmtes Reiseziel haben. Das bedeutet eine Umgruppierung der Wartenden in letzter Minute. Es kommt zu lautstarken Auseinandersetzungen, zu Schieben und Drängeln, zum Austausch zorniger Worte. Drinnen im 764
Schuppen werden die Pässe kontrolliert, was oft mit einem Verhör einhergeht. Nach der Paßkontrolle ist der Flug zu bezahlen. Das ist eine heikle Angelegenheit, da das Personal die inflationierte Währung der eigenen Regierung nicht akzeptiert. Dagegen nehmen sie Renminbi, das Geld aus den kommunistischen Gebieten. Embree lacht leise vor sich hin, wenn Leute sich über ein solch skrupelloses Verhalten aufregen. Niemand, denkt er, ist praktischer eingestellt als die Chinesen. Sie erheben den Pragmatismus zu einer Kunst. Am besten bezahlt man für einen Flug mit Gegenständen: Schmuckstücken, Uhren, Füllfederhaltern (hochgeschätzt als Autoritätssymbole), sogar Kleidungsstücken und Zigaretten. »Gottlob«, sagt Embree, »rauchen die Chinesen so gern.« Sobald die Sache mit der Bezahlung geregelt ist, wird das Ticket (ein leeres Blatt Reispapier) ordnungsgemäß gestempelt, der Fluggast verläßt den Schuppen durch eine Hintertür, besteigt die Maschine und stößt einen Seufzer der Erleichterung aus, daß er diese Stadt hinter sich läßt, über der sich die Sturmwolken zusammenziehen. Wenn Embree seine Beziehungen zu MAGIC nutzen könnte, würde man einen Flug mit einer Militärmaschine für ihn organisieren, denn die 26. Chinesische Luftflotte hat ihre Start- und Landebahn gleich angrenzend an diese hier. Den ganzen Tag über treffen dort drüben Flugzeuge ein und heben andere ab. Sie bringen Vertreter des Regimes aus Nanking, Schanghai und Peking nach Tsinan in der Absicht, in letzter Minute noch das Gesicht des Generals zu wahren, indem man irgendwie seine hunderttausend Mann starke Streitmacht rettet, die nun hinter den Mauern der Stadt eingeschlossen ist. Doch Embree kennt die Spielregeln. Sollte er versuchen, sich mit MAGIC in Nanking in Verbindung zu setzen, würde 765
das bei den Verantwortlichen hier den Verdacht wecken, daß er an einem amerikanischen Komplott beteiligt sei. Aber auch wenn er durchkäme und die MAGIC-Boys erreichen sollte, würden sie, statt ihm zu helfen, kühl bestreiten, jemals etwas von ihm gehört zu haben. Nicht weit von Embree und Sanuk entfernt sitzt ein älteres englisches Ehepaar. Man tauscht Liebenswürdigkeiten aus, und manchmal kommen die beiden zu einem kleinen Gespräch herüber wie zu einer Unterhaltung beim Tee. Die Frau trägt trotz der Hitze einen Tweedrock und kräftige Wanderschuhe, der Mann eine zerknitterte Leinenjacke. Sie haben für irgendein Museum alte Uhren und astronomische Instrumente gekauft. Die Hände an den Hüften, erzählt die Engländerin davon. »Nur zwanzig Kilometer von Tsinan entfernt haben wir in einem Bauernhaus eine Wasseruhr aus sehr früher Zeit gefunden.« »Nicht ganz zwanzig Kilometer«, fügt ihr Ehemann hinzu. »Ist Ihnen die chinesische Wasseruhr bekannt?« fragt sie Embree und beginnt sogleich mit einem Vortrag darüber, während von der makadamisierten Startbahn Hitzewellen aufbranden wie Meereswogen. Später faßt Sanuk Embree bei der Hand. »Hier ist der richtige Ort dafür.« »Wofür?« »Für ein Abenteuer, das Lotosblüte und Bill erleben.« »Und was soll passieren?« fragt Embree lächelnd. »Also … Lotosblüte will nicht ohne Bill abfliegen, aber die Verantwortlichen sagen, er kann aus zwei Gründen nicht mitkommen: Weil er ein Wasserbüffel und weil er zu 766
groß ist. Sie läßt nicht locker, bis es heißt, sie kann ebenfalls nicht fliegen. Und so …« Sanuk reibt sich nachdenklich die Nase und fährt fort. »Sie wartet, bis es dunkel wird, und schmuggelt dann Bill in den Frachtraum des Flugzeugs, wo sie ihn unter einer Plane versteckt. Er warnt sie, daß es Schwierigkeiten geben wird. Aber Lotosblüte sagt darauf nur: ›Denk dir nichts. Sie werden uns nicht finden, bevor wir in der Luft sind.‹ Worauf Bill sagt: ›Und wenn sie uns hinauswerfen wollen?‹ Darauf sagt Lotosblüte zu ihm …« »Warte. Ich weiß es. Sie sagt: ›Ich werd’ mir was ausdenken …‹« »Du erinnerst dich also.« Doch andere Geschichten, höchst unerfreuliche, werden nun aus dem Schuppen gemeldet. Chinesische Beamte beginnen, die Bewerber um ein Ticket über alles mögliche und unmögliche auszuquetschen – ihre Ausbildung, ihre Loyalität gegenüber Tschiang Kai-schek, Neigungen zu Trunksucht und Liederlichkeit. Inspektoren haben Koffer aufgeschlitzt in der wütenden Suche nach Schmuggelgut. Offiziere haben Leute der Spionage bezichtigt. Eine zögernde Antwort, ein falscher Blick, eine nicht ganz den Erwartungen entsprechende Antwort – solche Dinge haben zur Folge, daß jedem zehnten der Abflug verweigert wird. Am dritten Tag sitzen Embree und Sanuk auf ihren Koffern da und schweigen lange. Dann sagt sie schließlich: »Ich habe über den alten Wahrsager und unser Hexagramm nachgedacht. Daß für uns alles gut ausgehen wird, wenn wir einander treu bleiben.« Embree nickt. Er hat nicht die Absicht, auf den pessimistischen Ausgang der Prophezeiung hinzuweisen. »Ja«, sagt er, »Feuer am Himmel.« »Für den Fall, daß irgend etwas geschieht«, fährt sie fort, 767
»falls es Schwierigkeiten gibt, möchte ich dir etwas anvertrauen. Etwas, was ich getan habe.« Das hört sich an, als käme jetzt ein Geständnis, denkt Embree. O Gott, nein! Das letzte, was er von ihr möchte, ist ein Geständnis – eine Herausforderung, auch selbst eines abzulegen. »Es ist nicht notwendig, daß du es mir erzählst.« »Aber du mußt es erfahren. Du hast ja selbst gesagt, daß ich dir vertrauen darf, wenn du mir alles gesagt hast. Eines Tages wirst du es mir sagen, und bis dahin wird es dir auf der Seele liegen, weil es zwischen uns steht. Ich kenne dich. Vielleicht, weil ich genauso denke.« Sie spricht Teochiu für den Fall, daß irgend jemand mithört. Embree schaut auf seine Füße hinab. Sie ist tapfer, denkt er. Die meisten Menschen, die ein Geständnis abzulegen haben, warten damit, bis die Sonne untergegangen oder bis es dunkel geworden ist. Aber vielleicht, überlegt er hoffnungsvoll, hat sie nicht mehr zu gestehen als einen lustigen Streich. Vorsichtig sagt er: »Also gut, aber verlange nicht von mir, daß ich ein Urteil abgebe.« Sie lächelt. »Der einzige Mensch, über den du jemals ein Urteil abgibst, bist du selbst.« Und so hört Philip Embree, im blendenden Sonnenlicht auf einem Koffer hockend, während vom Flugfeld die Hitze hochwallt, die Geschichte, wie zwei junge Menschen auf einem vom Mond beschienenen Strand einen Mann erwürgen. Es ist eine traurige Geschichte, weil dabei höchstwahrscheinlich ein Unschuldiger das Leben verlor, und auch eine Mitleid weckende, weil nur junge, unerfahrene Menschen so kopflos handeln konnten. Außerdem ist es auch eine Geschichte des Mutes, denn so unbesonnen die Tat auch war, sie begingen sie ohne zu 768
zögern und lernten, danach mit ihr zu leben. Einen Menschen zu töten, er weiß es nur zu gut, ist nicht schwer. Vielleicht letztendlich ohne Bedeutung. Ein flüchtiges Kräuseln auf der Oberfläche alltäglicher Geschehnisse. Doch das arme Mädchen hat diesen traurigen, mitleiderregenden Irrtum geheimgehalten, als hätte er die Existenz der Welt gefährdet. Das ist ein komischer Aspekt daran – das Unverhältnismäßige an ihrer Wertung einer jugendlichen Tat. Und komisch, farcenhaft ist auch die Vorstellung, wie sie sich mit dem Opfer im Meer balgten, bis die Sache für alle drei ein Ende nahm, so alt und so närrisch wie die Menschheit selbst. Doch Embree ist sich des wahren Grundes seiner gefühllosen Reaktion auf ihre wahrhaft gequälte Offenbarung wohl bewußt: Dieses Geständnis hat sie eine große Willensanstrengung gekostet und sie damit reifer und tapferer gemacht, als es ihm je möglich ist. Und wo bleibt seine Gegenleistung an Aufrichtigkeit? Er sagt natürlich mit all der Zärtlichkeit, die er aufzubieten vermag, daß ihr Geständnis ihm viel bedeute, daß das ganze Maß ihrer Liebe für ihn darin zum Ausdruck komme, daß es für sie beide einen Maßstab der Wahrhaftigkeit und des Vertrauens setze. Aber spürt sie nicht, wie steif die Worte herauskommen, wie wenig echtes Gefühl darin liegt? Ahnt sie, wie sehr ihm daran liegt, Befriedigung über das eben Geschehene zu heucheln, das doch in Wahrheit seine Selbstachtung tief getroffen hat? Sie sitzen da, halten einander an den Händen und blicken vor sich hin. Ein kurzer Seitenblick sagt ihm, daß ihr Tränen in den Augen stehen. Tränen der Erleichterung. Wie glücklich sie ist, denkt er. Die Schlange der Wartenden entlang kommt ein Mann in einer khakifarbenen Hose und einem Buschhemd. Er 769
wischt sich den Schweiß von der Stirn. »Ich habe gerade gehört«, sagt er, »daß in Kürze wieder eine Maschine eintrifft. Fliegt nach Schanghai zurück, falls Sie da hinwollen. Machen Sie sich schon mal bereit«, fügt er hinzu. »Sie könnten es diesmal schaffen.« Embree erhebt sich von seinem Koffer, öffnet ihn, kramt zwischen den Kleidungsstücken und zieht viereinhalb Stangen Zigaretten heraus. »Mach deinen Koffer auf«, sagt er zu ihr. Sie tut es zögernd. Er schiebt die Kartons hinein und schließt dann selbst den Koffer. »Wenn du was Schwieriges gefragt wirst, schieb einen Karton hinüber. Wenn er damit nicht zufrieden ist, einen zweiten.« »Nein.« »Gib sie alle her. Und geniere dich nicht. Der Mann drinnen im Schuppen wird sich auch nicht genieren, sie anzunehmen.« »Und die Maschine geht nach Schanghai?« »Geniere dich nicht bei den Männern da drinnen. Schieb eine Stange nach der andren über den Tisch.« »Mutter kann warten. Ich werde später mit ihr Frieden schließen. Ich will noch nicht nach Schanghai.« »Wir müssen aber.« »Nicht nach Schanghai. Nein!« »Also schön.« Embree seufzt. »Dann werd’ ich dir jetzt was erzählen. Über deine Mutter.« »Ich weiß. Ich habe sie schlecht behandelt. Ich habe einen schrecklichen Fehler begangen. Ich muß Mutter wirklich um Verzeihung bitten. Aber ich will nicht nach Schanghai, noch nicht.« »Hör mir zu. Sie hat dich fast ganz alleine großgezogen. 770
Sie hat sich ein Geschäft aufgebaut, während ich herumsaß und Träumen nachhing. Deine Mutter ist eine Überlebenskünstlerin, aber es ist etwas passiert, womit nicht einmal sie fertig wird.« »Daß ich weggelaufen bin?« »Ob sie es weiß oder nicht, damit wird sie fertig. Nein, deine Mutter hatte einen Herzanfall. Ich wollte es dir erst sagen, wenn wir in Schanghai eintreffen.« »Du bist also gekommen, um mich zurückzuholen.« »Ja, so ist es.« »Liebst du mich? Ist das die Wahrheit?« »Es ist so wahr wie nur irgend etwas in meinem Leben. Aber wir fliegen jetzt nach Schanghai. Deine Mutter ist krank.« Embree hört am Himmel ein fernes Dröhnen. »Du erzählst mir das nur, um mich in die Maschine nach Shanghai zu bringen? Ich weiß doch, daß du zu Mutter hältst.« »Ich erzähle es dir, damit ich dich in die Maschine bringe, ja, aber es ist die Wahrheit. Warte, und hör mir zu. Sie ist in dem kleinen Aurore-Krankenhaus in der Französischen Niederlassung. Sie hat zu mir gesagt: ›Erzähl ihr nichts davon. Wenn sie kommt, dann muß sie das aus freien Stücken tun. Ich verbiete dir, meinen Zustand auszunützen.‹ Ich habe ihr in die Hand versprochen, dir nichts davon zu sagen. Und jetzt begehe ich einen Vertrauensbruch, aber nur, weil es nicht anders geht, Liebling. Wenn wir diese Maschine nicht nehmen, sitzen wir hier vielleicht lange Zeit fest. Und vielleicht bleibt ihr nicht soviel Zeit. Wir fliegen jetzt.« Über den Hügeln südöstlich des Flugfeldes erscheint jetzt 771
ein zweimotoriges Flugzeug, eine Curtiss C-46. Alle Leute in der Warteschlange stehen jetzt, sogar die ohne jede Chance, diesmal mitzukommen. Die Zahl der Passagiere wird davon abhängen, wieviel weitere Ladung an Bord genommen wird. Die Tür des Schuppens öffnet sich, ein Soldat kommt heraus und stellt sich mit dem Karabiner in der Hand neben den Eingang, um für Ordnung zu sorgen. Dann gehen je drei Personen in den Schuppen, während im Bauch der Maschine große Koffer, Schachteln und Gegenstände von verschiedener Größe in Jutesäcken verschwinden. »Wie willst du durchkommen?« fragt Sanuk plötzlich, als sie sich der Spitze der Schlange nähern. »Du hast keine Zigaretten, um sie zu bestechen. Du hast ja alle mir gegeben.« Er hebt den Arm und zeigt ihr die Uhr daran. »Ich kann die hergeben und eine hübsche Menge Renminbi. Auch die Pistole können sie haben.« »Und du glaubst nicht, daß was schiefgeht?« »Natürlich nicht.« Sie sieht in diesem Augenblick so jung aus. Kann es sein, daß Sorgen junge Menschen jünger und alte älter aussehen lassen? Manchmal macht ihm ihre Jugend Angst. Als Liebende stehen sie auf gleicher Stufe, doch in einer Situation wie dieser trennt sie ihre Unerfahrenheit. Nicht, daß sie unrecht hätte, sich Sorgen zu machen. Das nicht. Es könnte durchaus etwas schiefgehen. Nun stehen nur noch wenige Leute vor ihnen. »Du bist eine Studentin aus Siam und studierst die chinesische Sprache«, flüstert er. »Sag nicht mehr als unbedingt nötig.« 772
»Ich liebe dich.« »Vergiß nicht, eine Stange über den Tisch zu schieben, immer nur eine. Wenn er dich was fragt, was du nicht beantworten kannst, schieb wieder eine hinüber.« Auf eine barsche Geste des Postens hin tritt Sanuk in den Schuppen. Sie blickt nicht zurück. Gut so, denkt Embree. Als Embree dran ist, wirft er in dem Schuppen einen Blick in die Runde und sieht sie an einem Tisch weit weg stehen. Ein Zollbeamter, der hinter dem mittleren von drei Tischen sitzt, ruft ihn zu sich. Der Mann hat sein weißes Hemd bis zum Nabel geöffnet und schwitzt aus allen Poren. Er blinzelt zu Embree hinauf, als dieser ihm seinen holländischen Paß reicht. Wieder ein kurzer Blick zu ihr hin. Embree sieht, wie sie aus dem offenen Koffer eine Stange Zigaretten zieht und über den Tisch schiebt. Braves Kind! Der Beamte nimmt mit einem leichten Lächeln die Stange und wirft sie in eine Schachtel zu seinen Füßen. Dann wühlt er in dem Koffer und fördert ihre Tagebücher zutage, die sie immer mit einer Schleife zusammenbindet. Was schreibt sie wohl in diese Tagebücher? fragt sich Embree. Schreibt sie: »Ich liebe ihn«? Er hat sie nie danach gefragt. Sanuk nimmt eine zweite Stange Zigaretten heraus und schiebt sie dem Beamten zu. Er legt den aufgeschnürten Stapel beiseite und stellt ihr weitere Fragen. »Sprechen Sie Englisch, Mister Brinker?« Embree nickt. Der Mann, der ihn ausfragt, spricht ein ausgezeichnetes Englisch. »Was tun Sie hier in China, Mister Brinker?« Embree reicht ihm sein Empfehlungsschreiben von der 773
Weltgesundheitsorganisation und erläutert, daß er als Diätetiker die Eßgewohnheiten der chinesischen Bevölkerung untersuche. »Ich studiere, was die Menschen essen«, erklärt er. Für ihn selbst hört es sich gut an, nicht zu speziell und irgendwie sympathisch. Er hat seine eigene Erkenntnis vergessen: Wenn man glaubt, die Chinesen würden berechenbar, beweisen sie einem das Gegenteil. Der Beamte steht auf und bespricht sich kurz mit einem Offizier, der am hinteren Ende des Schuppens mit gekreuzten Beinen in Lederstiefeln – in China ein seltener Anblick – auf einem Tisch sitzt, so daß alle ihn bewundern können. Der Beamte kehrt an seinen eigenen Tisch zurück und steckt lächelnd Embrees Paß in die Tasche. »Tut mir leid, Mister Brinker, aber diese Maschine ist voll.« »Moment.« Er wirft einen raschen Blick zu Sanuk hin, die gerade ihren Koffer schließt, während der Beamte ihr Ticket stempelt. »Was ist denn los. Ich bin von der WHO – der Weltgesundheitsorganisation.« »Sie können ein paar Tage in Tsinan warten, Mister Brinker.« Der Offizier kommt herbeigeschlendert. »Was machen Sie in China?« fragt er Embree barsch. »Ich studiere, was die Leute essen. Für die Weltgesundheitsorganisation. Wir untersuchen die Wasserversorgung, studieren die Seuchenbekämpfung und machen Impfaktio…« »Nie davon gehört. Von der UNRRA ja.« »Die UNRRA gibt es nicht mehr. Die WHO tritt jetzt an ihre Stelle.« Er blickt über die Schulter des Offiziers und sieht, wie sie mit dem Koffer in der Hand durch den Schuppen geht. Sie starrt zu ihm herüber. »Machen Sie Ihren Koffer auf«, befiehlt der Offizier. Als er geöffnet ist, schiebt er Embree beiseite, kramt darin 774
herum und zieht die Pistole heraus. »Die müssen wir beschlagnahmen.« »Aber andere Leute tragen doch auch Pistolen bei sich.« »Warum tun Sie es?« »Vorsichtshalber, wozu sonst …« Embree zügelt sich. »Waffen von dieser Größe müssen beschlagnahmt werden.« »Das ist eine amerikanische Pistole«, bemerkt der Zollbeamte mit finsterer Miene. »Die in der ganzen Welt verkauft wird. Schaun Sie, ich habe Geld, von welcher Sorte Sie wollen. Irgendwo im Koffer ist ein Wecker …« »Was ist denn das?« Der Offizier hat die Axt herausgezogen und dreht sie neugierig im schwachen Licht. »Wozu tragen Sie das bei sich?« will er wissen. »Ein alter Freund. Ich will damit sagen, ich trage die Axt immer bei mir.« Der Offizier wirft sie mit abschätzigem Gesichtsausdruck in den Koffer zurück, als wollte er damit seine Verachtung für einen Menschen ausdrücken, der eine so primitive Waffe mit sich führt. »Wir müssen Ihre Papiere überprüfen. Liefern Sie den roten Banditen Sendegeräte oder Chiffres?« »Die WHO liefert Medikamente.« »An die roten Banditen?« Embree wählt mit Sorgfalt seine Worte. »Menschen, die hungern und krank sind. Banditen liefern wir überhaupt nichts.« »Sie sind der erste Holländer, der sich hier hat blicken lassen«, sagt der sitzende Zollbeamte beinahe vorwurfsvoll. 775
»Ich werde in Schanghai zurückerwartet«, sagt Embree hartnäckig. Sanuk ist stehengeblieben. Hoffentlich gerät sie nicht in Panik, hoffentlich kommt sie nicht her. »Ich bin ein holländischer Staatsbürger, der für die WHO arbeitet. Sie haben kein Recht, mich festzuhalten. Ich kann mein Ticket bezahlen. Das ist ein Zivilflug.« »Hier ist eine Kampfzone«, erwidert der Offizier. »Wir tun nur, was wir müssen, um die chinesische Bevölkerung zu schützen.« »Dann sorgen Sie dafür, daß ich nach Schanghai komme.« Er wendet sich dem Zollbeamten zu und sagt: »Was können Sie denn an meinen Papieren auszusetzen haben? Meine Regierung wird gegen diese Behandlung Protest einlegen, lassen Sie sich das gesagt sein. Und die WHO ebenfalls. Ich habe Renminbi, eine ganze Menge«, fährt er fort und streift dabei die Armbanduhr ab. »Nein«, sagt der Offizier und schiebt die Uhr weg, die Embree ihm hinhält. »Sie warten ein paar Tage. Wir überprüfen Sie. Dann können Sie fliegen.« Embree blickt ihn an. Der kantige Unterkiefer, die schmalen Augenschlitze drücken unbeugsame Entschlossenheit aus. Embree breitet die Hände aus und sagt: »Na schön. Was soll ich jetzt tun? Wieder draußen warten?« »Wir können Sie nach Tsinan bringen lassen«, sagt der Offizier – eine Feststellung, keine Einladung. »So.« »Nehmen Sie ihre Sachen und gehn Sie dort hinüber.« Der Offizier nimmt die Pistole, klemmt sie sich unter den Gürtel und deutet zu dem Tisch, auf dem er vorher seine Stiefel zur Schau stellte. Sie steht am Ausgang und wartet auf ihn. Er muß das Risiko in Kauf nehmen und geht zu ihr hin. »Geh schon«, 776
sagt er zu ihr. »Ich werde hier noch aufgehalten. Mach schnell, bevor sie es sich anders überlegen!« »Ich warte auf dich.« »Sonja«, sagt er. Es klingt sonderbar, ein gestrenges Wort aus früheren Tage, wenn ihre Mutter rief: »Sonja! Sonja! Kind, komm hierher!« Er möchte sie berühren, darf es aber nicht riskieren. In ihrem Gesicht liest er das verzweifelte Verlangen nach einer Erklärung, doch er hat nicht die Zeit dafür. »Ich brauche nicht lange«, sagt er mit einer kleinen wegscheuchenden Geste. »Sieh zu, daß du in die Maschine kommst. Sie sind im Moment verdammt launisch. Steh hier nicht herum. Geh ins Freie. Los!« Sanuk wendet sich halb von ihm ab und sagt: »Ich warte dann auf dich. In Schanghai?« »Mach dir darüber jetzt keine Gedanken. Schanghai. Peking.« »In Peking?« »Kommt darauf an, wie ich hier wegkomme.« »Und wann? Wann?« Embree wirft einem Soldaten, der sie neugierig mustert, einen raschen Blick zu. »Ich werde China nicht ohne dich verlassen«, versichert er ihr. »Aber wie willst du hier wegkommen? Wie denn?« Sie wirkt sehr jung mit den weitgeöffneten Augen eines Kindes, das Kummer hat. »Ich lass’ mir schon was einfallen«, sagt er. »Jetzt geh.« Sie geht.
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ie fühlt sich viel älter als gestern, älter sogar als heute morgen beim Abflug der Maschine vom Flugplatz von Tsinan. Während sie den schwachbeleuchteten Korridor des Aurore-Hospitals entlanggeht, fragt sie sich, ob sie sich wohl jemals älter fühlen wird als jetzt, in diesem Augenblick. Während die kleine chinesische Krankenschwester ihr versichert, daß die Genesung ihrer Mutter ausgezeichnete Fortschritte mache, spürt Sonja in ihrem eigenen Körper die lastende Trägheit des Alters. Nie wieder, sagt sie sich, werde ich jung sein, nicht einmal dann, wenn ich wieder mit Philip zusammen bin. Er hat gesagt: »Ich werde China nicht ohne dich verlassen.« »Und der Arzt sagt«, führt die Krankenschwester beruhigend fort, »daß ihr starker Wille ihr viel hilft. Sie hat keine weiteren crises cardiaques gehabt. Jeder Tag macht eine vollkommene Genesung de plus en plus certain. Bitte, machen Sie nicht ein so ernstes Gesicht! Lächeln Sie, wenn Sie hineingehen.« Mit diesem Ratschlag bleibt sie stehen und öffnet weit eine Türe. Ihre Mutter ist mit Kissen hochgestützt. Am Bettrand sitzt ein dunkelhäutiger junger Mann, der angezogen ist wie die Leute im indischen Basar in Bangkok. Die beiden halten Spielkarten in den Händen und blicken verblüfft auf. Sonja wird nie vergessen, wie die Wange ihrer Mutter ihre eigene berührt, das Gefühl, wieder ein Kind zu sein, umschlossen von diesen vertrauten Armen. Sie sprechen 778
Worte der Erleichterung, bekunden ihre Freude über das Wiedersehen, und Sonja möchte am liebsten alles sofort erzählen, rückhaltlos, sogar von ihrer Liebe zu Philip. Doch dann spürt sie, wie der Körper ihrer Mutter steif wird, sich ihr entzieht. »Wo ist er?« fragt sie. Sonja blickt in die Augen einer Frau, die in ihrer Jugend eine Schönheit gewesen sein muß. Ja, die Krankheit hat die Form des Gesichts stärker hervorgehoben. Sonja löst sich von ihrer Mutter, als diese sich zurückgleiten läßt, und wirft einen kurzen Blick auf den dunkelhäutigen, kleinen Mann, der aufgestanden ist und jetzt wie ein Diener in einer Ecke steht. »Ich habe dich gefragt, wo er ist.« Die Stimme ihrer Mutter hat einen scharfen Kommandoton, der Sonja ebenfalls vertraut ist. »Philip ist noch in Tsinan. Sie wollen ihn noch nicht weglassen.« »Ich meine den Jungen. Wo ist er?« »Ich weiß es nicht.« Ihre Mutter nickt beifällig und sinkt wieder zurück auf die Kissen. Sie ist erleichtert und stellt nun Rama ihrer Tochter vor. »Wie hast du mich hier gefunden?« fragt ihre Mutter und macht ein ernstes Gesicht. »Wir haben dich im Hotel vermutet.« Es ist eine Lüge, die sie sich im Flugzeug ausgedacht hat, Philip zuliebe. »Ich ging hin und erfuhr, daß du hier bist. Und was passiert ist.« »Wir? Wer ist ›wir‹?« »Philip und ich.« 779
»Philip?« »Er ist noch auf dem Flugplatz von Tsinan. Sie wollen ihn noch nicht weglassen.« Ihre Mutter tut die Sache mit einer Handbewegung ab. »Mach dir keine Sorgen um ihn. Er kommt schon durch. Wichtig ist, daß du in Sicherheit bist. Alles andere zählt nicht.« Sie blicken einander an. »Es tut mir schrecklich leid, Mutter«, beginnt Sonja. »Die ganze Geschichte ist mir so peinlich. Ich will damit sagen –« »Wir wollen nicht mehr darüber sprechen. Du bist hier und in Sicherheit. Die Sache ist abgetan.« Sie kreuzt beide Hände, senkt und hebt sie, als wollte sie einem Autofahrer bedeuten, daß sein Tempo zu hoch ist. Sonja bemerkt, wie mager die Hände sind. Ja, ihre Mutter wirkt zum erstenmal, soweit sie sich erinnern kann, zerbrechlich, doch zugleich liegt in ihren grünen Augen ein wacher, beinahe wilder Ausdruck. Sonja läßt sich das Wort nicht abschneiden. »Ich wollte nicht klauen wie –« »Sprich nicht von klauen.« »Es ging mir nicht darum, etwas zu stehlen. So sah ich es nicht. Ich wollte keine Diebin sein, aber ich war verzweifelt.« »Die Sache ist vorbei. Vergessen.« Sonja wirft wieder einen Blick auf den indischen Diener, überrascht, daß ihre Mutter ihm erlaubt, bei einem solchen Gespräch dabeizusein. »Es ist nicht vergessen«, beginnt sie noch einmal, »das ist unmöglich. Es tut mir leid, wie ich es getan habe, aber nicht, daß ich es getan habe.« Ihre Augen begegnen einander, bis ihre Mutter wegblickt. »Ich dachte, ich liebte ihn. Ich dachte, es sei richtig, was wir 780
taten.« Ihre Mutter, die sich zügelt, wirkt beinahe heitergelassen. »Ich bewundere deine Aufrichtigkeit, Schwamm drüber. Du bist hier und in Sicherheit.« In den folgenden Tagen schildert Sonja ihrer Mutter stückweise ihre Reise zusammen mit Chamlong, bis Philip Embree sie auf dem T’ai-schan traf. Vera geht darauf mit Fragen und Bemerkungen ein, die alles Emotionale vermeiden. »Und wo seid ihr dann hingefahren? Wie lange seid ihr geblieben? Nein, China hat sich nicht verändert. Ja, ich verstehe, aber seinerzeit wäre es schlimmer ausgegangen.« Es ist, als unterhielten sie sich über einen Ausflug Sonjas mit einer Klassenkameradin. Sonja ihrerseits fragt nach dem Gesundheitszustand ihrer Mutter während der Reise nach Schanghai. »Wann setzten die Schmerzen ein? Wie viele Pillen hast du genommen? Was meint der Arzt? Gottlob bist du stark.« Allmählich gehen ihnen die sachlichen Fragen und die banalen Bemerkungen aus, und eine wachsende Spannung stellt sich zwischen ihnen ein. Am Ende dieses ersten Tages besteht Sonja darauf, sich ein Hotelzimmer zu suchen, obwohl sie im Krankenhaus übernachten könnte. Nicht weit davon entfernt kommt sie in einem dian, in einem Schlafsaal, unter. Jeden Vormittag geht sie zum Krankenhaus, wo die Arena zwischen ihnen abgesteckt ist. Sie beobachten einander schweigend und warten. Währenddessen lernt sie Rama näher kennen, ja, mit ihm verbringt sie ihre einzigen entspannten Augenblicke. Rama hat Blumen gern. Er trägt einen heiligen Stein bei sich; sie vergleichen ihre Amulette. Er ist Vegetarier, hat aber zugegebenermaßen während dieser langen Reise hin und wieder … Die Pause ist ein stummes Geständnis, und 781
er murmelt: »Narayana.«, ein Wort, das Sonja bald so vertraut wird wie ihr eigenes Atmen. Er spricht mit den Händen, kaut Betel, klagt über das Blähungen verursachende Essen »hier herüben« und bohrt in der Nase. Selbst an einem wolkenlosen Nachmittag umklammert eine Hand immer den zusammengerollten schwarzen Regenschirm. Da Rama auf einer Missionsschule Englisch gelernt hat, betrachtet er sich als einen modernen Menschen. Sie kann ihm Fragen über Philip stellen. Freude durchzuckt sie, als Rama ausruft: »Ach, Master ist ein sehr guter Mensch!« Wenn sie sich über Master unterhalten, hat sie das Gefühl, als wäre Philip hinter der nächsten Ecke. Oft spricht Rama aus, worüber sie schweigt: »Ich mache mir Sorgen um Master. Das hier ist ein sonderbares Land. Sie begraben ihre Toten wie auf diesem Friedhof in Burma. Die Chinesen wollen die Verstorbenen nicht verbrennen, weil sie in körperlicher Gestalt vor ihren Ahnen erscheinen. Hier herüben ist selbst ein kluger Mann wie Master unsicher. Wohin man auch den Kopf dreht, überall ist Ungewißheit.« Und mit jedem Tag, der ohne eine Nachricht von Philip vergeht, fühlt sie sich mehr von Ungewißheit bedrängt. Ob Mutter etwas davon merkt? Ihre grünen Augen wirken wachsamer denn je. Sonja spürt, daß sie nicht mehr lange imstande sein wird, ihre Bangigkeit zu unterdrücken, und wenn die Angst aus ihr herausbricht, kommt sicher auch zur Unzeit das Geheimnis ihrer Liebe ans Licht. Denn Mutter muß auf eine solche Neuigkeit erst vorbereitet werden. Noch nie zuvor war Sonja so klar, wie sehr ihre Mutter gegen Philip Embree ist, wie sehr sie ihn vielleicht sogar haßt. Es zeigt sich an ihrer gefühllosen Gleichgültigkeit gegenüber seinem langen Ausbleiben, an ihren verächtlichen Bemerkungen über seinen Umgang 782
mit »Spionen und Geheimagenten, die ihn seit Wochen durch China kutschieren«. Mutter äußert sich belustigt über »seine Marotte, mit dieser unter den Gürtel geklemmten Axt wie ein verrückter amerikanischer Cowboy durchs Land zu stiefeln«. Traurig stellt Sonja fest, daß der Mann, der das Edelste in ihr weckt, bei ihrer Mutter das Gegenteil bewirkt. Und sie wird unsicher, sie beginnt, an seiner Liebe zu ihr zu zweifeln, kämpft gegen den Zweifel an und erliegt ihm manchmal doch. Vielleicht ist er bereits in Schanghai und denkt gar nicht daran, mit ihr zusammenzutreffen. Vielleicht hat er sich seine Gedanken über eine Frau gemacht, die einen Unschuldigen ermordete. Tat er nur so, als fände er ihre Tat richtig, während er sie im geheimen dafür verachtete? Hat er sich am Flugplatz vielleicht von ihr abgesetzt? Natürlich nicht! Und dennoch bleiben diese Fragen, genauso wie die Erinnerung an das Gesicht eines Toten im mondbeschienenen Meer. Eine Woche ist bereits ohne Nachricht von ihm vergangen. Jeden Tag fällt sie dem Krankenhauspersonal mit ihren Fragen auf die Nerven, ob er sich nicht gemeldet habe. Jeden Tag geht sie die in Schanghai erscheinenden Zeitungen nach Meldungen aus Tsinan durch. Eine zweite Woche vergeht – wieder nichts. Während Mutter kräftiger wird, wird Sonja immer unruhiger, dann verängstigt. Sie kann das Geheimnis wohl kaum mehr lange für sich behalten, und dieses Wissen veranlaßt sie, weniger Zeit im Krankenhaus zu verbringen. Allerdings weckt dies wiederum Schuldgefühle. Bis jetzt haben sie beide nur gewartet. Sonja will die richtige Zeit für zweierlei Dinge abwarten: ihr Geheimnis zu beichten und den Tintenstein zurückzugeben. In ihren Gedanken sind beide Dinge als entgegengesetzte Enden 783
eines breiten Gefühlsspektrums miteinander verbunden, doch sie beschließt, jetzt nur eines davon zu tun – den Tintenstein zurückzugeben. Ich werde ihn, sagt sie sich, zurückgeben als vorläufigen Ersatz für die Wahrheit, und das Geständnis kann warten, bis Philip zurückkommt. Die Pfützen, Überreste des letzten Taifunregens, sind längst ausgetrocknet, der aufgeweichte Boden ist verkrustet. Der Wind hat den darüberliegenden Sand in die Luft dieses hellen Sommermorgens in Schanghai getragen, als Sonja in das Krankenhaus tritt. Rama ist zu einer Besorgung unterwegs, worüber sie froh ist. Wortlos legt sie den eingewickelten Tintenstein neben ihre Mutter aufs Bett – ein zögerndes Zupfen an dem bunten Reispapier, ein schwacher Ausruf der Überraschung: Der Tintenstein erscheint. Sonja beobachtet ihre Mutter, wie sie langsam den länglichen Jadestein in der Hand dreht. »Ich glaube nicht, daß du weißt, wieviel das für mich bedeutet.« »Du meinst, daß ich den Stein nicht auch verkauft habe?« »Es bedeutet, daß du mir zurückgegeben hast, woran mir am meisten liegt.« »Ich hatte keine Ahnung von seinem Wert.« Sei ehrlich! sagt sie zu sich. »Er lag da, also nahm ich ihn mit.« Die Genesende wendet den Stein in der Hand hin und her. »Dein Vater hat ihn mir geschenkt. Und ich wollte ihn eines Tages dir schenken, zu deiner Hochzeit. Ich erinnere mich noch an den Tag, als er ihn mitbrachte. Er kam damals aus dem Süden zurück.« Ihre Mutter schweigt kurz, als wäre sie unschlüssig, ob sie weitersprechen soll. 784
»Du hast bisher nichts über ihn gesagt. Ich habe darauf gewartet, aber du erwähnst ihn nicht mehr.« »Ich habe auch gewartet.« »Worauf?« »Auf die richtige Zeit, um über ihn zu sprechen. Ich habe gesehen, wo er gelebt hat und wo er gestorben ist. Philip hat mich in Küfu überallhin geführt, mir alles gezeigt, die Stadt, die Tempelanlage, den Grabhain. Er hat mir gezeigt, wo du gelebt hast, wo Vater gearbeitet hat. Ich habe Tai Chi gespielt, dort wo ihr beide es gespielt habt. Wir haben Leute getroffen, die Vater kannten.« »Und war er so, wie ich ihn dir geschildert habe?« »Ja.« Nur eine halbe Lüge. In Küfu und auf dem T’aischan wurde die Legende aus ihrer Kindheit Wirklichkeit. Doch Su-su und der alte Soldat haben ihr ein anderes Bild von ihm vermittelt, das einer komplexen Persönlichkeit, dem Legendenhaften entzogen. Philip hat ihr den Mann gezeigt, der ihr Vater war. »Dank Philip habe ich alles gesehen.« Ihre Mutter lächelt mit schmalen Lippen. »Viel Lob für Philip.« »Das er verdient.« »Wirklich? Er hat dir sicher gesagt, daß ich krank bin, oder? Deswegen bist du gekommen. Es war das einzige, was ihm einfiel, um dich hierherzuschaffen und von dem Jungen loszueisen.« »Wolltest du das denn nicht von ihm – daß er mich hierherbringt?« »Er versprach, dir nichts von meinem Herzanfall zu sagen. Ich wollte nicht, daß du kommst, weil du dich dazu verpflichtet fühlst. Es ist etwas, was er nicht versteht.« »Er versteht nicht, was Liebe ist?« 785
Ihre Mutter gibt keine Antwort. Tränen treten ihr in die Augen. »Eines Tages wirst du einem Mann begegnen, den du so lieben wirst, wie ich deinen Vater geliebt habe.« Sie lächelt durch die Tränen. »Ich glaube, daß es so kommt. Ich glaube, daß es dir gegeben ist, so zu lieben.« Und nun tut Sonja etwas, was sie später als eine Folge reiner Verblendung betrachten wird. Sie wird dazu verleitet, weil über das immer noch recht schöne Gesicht ihrer Mutter so viele Gefühle hinspielen, weil sich auf ihm eine unverkümmerte Fähigkeit zum Lieben spiegelt. Kühn betritt Sonja das Schlachtfeld. »Ja, ich liebe wirklich so.« Die Worte treffen ihre Mutter mitten in einem Lächeln. Es verharrt wie festgefroren, als sie sagt: »Du liebst wie?« »Wie du Vater geliebt hast. So liebe auch ich einen Mann.« »Diesen Jungen? Ich dachte, du hättest gesagt –« »Ich liebe Philip, Mutter. Ich liebe ihn.« »Jetzt komm, keinen Quatsch. Wer ist der Mann?« »Es geschah in Taian. Ich liebe ihn, er liebt mich. Wir können nicht anders.« Ihre Mutter umfaßt mit festem Griff den Tintenstein. Ihre Augen starren. »Das kann doch nicht dein Ernst sein.« Und nach einer Pause fügt sie mit leiser, eingeschüchterter Stimme hinzu: »Aber es ist dein Ernst. Ich sehe es dir an. Ach nein.« Wieder tritt ein Schweigen ein. Sonja, die bisher immer noch stand, setzt sich auf einen Stuhl in der Ecke, verkrampft die Hände und starrt auf den Boden. Sie kann das schmerzliche Lächeln ihrer Mutter nicht ertragen. »Das Leben ist voller Überraschungen«, sagt ihre Mutter 786
schließlich. »Aber wie viele es sind, wird einem nie gesagt. Ist es also wahr?« »Ja.« »Aber du kennst Philip doch nicht.« Sonja blickt auf. »Ich kenne ihn besser als du.« »Laß mich etwas klarstellen. Er ist mein Mann. Meine Tochter erzählt mir, sie sei in meinen Ehemann verliebt. Du trägst seinen Namen.« »Er war für mich nie ein Vater. Das weißt du auch. Ich sehe dich nicht als seine Frau.« »Und weil du mich nicht so siehst, bin ich es auch nicht? Das ist schrecklich jung gedacht, Sonja. Du bist wirklich noch schrecklich jung.« Wieder ein Schweigen. Dann seufzt ihre Mutter und murmelt: »Ausgerechnet er.« »Ich kann nicht anders.« »Du hast natürlich mit ihm geschlafen.« Sonja gibt keine Antwort. »Ist dir schon klargeworden, was für eine Dummheit ich begangen habe? Dir meine Vergangenheit zu beichten? Einem so formbaren Mädchen? Willst du etwa meinem Beispiel folgen? Siehst du nicht den Unterschied, Sonja? Ich tat es für Geld! Ich tat es, um am Leben zu bleiben! Es war kein Spaß, war nie ein Abenteuer. Aber du läßt dich mit jedem ein, der daherkommt.« Sonja steht auf. »Ich gehe.« Ihre Mutter beugt sich nach vorne, als wäre sie drauf und dran, aus dem Bett zu klettern. Sonja bekommt es mit der Angst zu tun und setzt sich wieder. »Es war verkehrt von mir, das zu sagen.« Ihre Mutter 787
atmet schwer. »Nein, die Vorstellung ist nicht einfach für mich.« Ihre Atemzüge werden langsamer, doch ihr Gesicht, aus dem die Farbe gewichen ist, beunruhigt das Mädchen. »Du weißt überhaupt nichts, Sonja.« Ihre Stimme gewinnt plötzlich Kraft. »Nichts über die Vergangenheit. Du hast nicht meinen Weitblick, kannst ihn nicht haben.« Ihre Stimme ist jetzt fest, aber nicht zornig. »Weitblick, den verschafft einem die Zeit. Und deswegen sehe ich diese Sache anders als du. Der Name, den du in deinen Paß hast eintragen lassen, Yu-ying, zum Beispiel. Sie war keine große Dame in Schanghai. Yuying war eine billige, traurige kleine Hure, die Opium rauchte und daran starb. Daß sie eine Dame war, hab’ ich erfunden.« Sanuk entringt sich ein Schrei aus dem Herzen. »Was hast du seit meiner Geburt eigentlich alles erzählt, Mutter? Nichts als Lügen und nochmals Lügen!?!« Die Kranke lehnt sich wieder in die Kissen zurück, wirkt plötzlich alt und gebrechlich. »Ich kann dir darauf keine Antwort geben. Aber warte, vielleicht doch. Sieh mal. Du und ich, wir hatten die ganze Welt gegen uns. So sah ich uns beide. Wir zwei im Garten, das sind meine schönsten Erinnerungen. Du bist immer vor mir im Gras gesessen, und ich hatte meinen Drink auf dem Tisch stehen, und es war dämmrig, und wir sahen Boote den Klong entlangkommen.« Ihre Mutter befeuchtet sich mit der Zunge die Lippen und lächelt. »So saßen wir da, und du wolltest immer eine Geschichte über deinen Vater und unser gemeinsames Leben hören. Eine Geschichte über Dinge im Leben, die einen verbinden. Doch nach meiner Kindheit war das Leben fürchterlich für mich. Ich war eine Dirne gewesen. Du hattest keine lebenden Verwandten. Dein Vater war tot. Was konnte ich mir ausdenken, um 788
uns glücklich zu machen? Ich ergänzte, was wirklich passiert war, erfand dazu, stellte die Dinge so lange um, bis wir ihn sehen konnten, General Tang Schan-teh, wie er durch den Garten kam. Ein großer Mann, der uns gehörte. Und dann verbanden sich andere Leute mit ihm aus meiner Erinnerung. So erzählte ich dir Lügen. Ja, das hab’ ich getan.« Sie hält inne, um Atem zu holen. »Und jetzt will ich dir was sagen«, fährt sie fort. »Du glaubst vielleicht, Philip Embree zu kennen, aber du weißt in Wirklichkeit nichts über ihn. Auch nichts über meine Vergangenheit mit ihm. Du dachtest bisher immer, wir hätten nach dem Tod deines Vaters zusammen China verlassen. Ich wollte, daß du das glaubst, aber es stimmt nicht. Wir verließen das Land, bevor dein Vater starb. Wir ließen ihn im Stich. Ich war damals mit dir schwanger. Ich hatte Angst davor, dich in China zur Welt zu bringen. Zumal dein Vater sich in solcher Bedrängnis befand. Sie hatten es auf ihn abgesehen, und ich hatte eine Todesangst um dich – und um mich. Ich habe ihn verraten. Und was Philip betrifft: Er begehrte mich. Also verriet er deinen Vater ebenfalls. Er überredete mich, mit ihm wegzugehen, was ich dann tat. Kannst du von mir erwarten, daß ich Philip Embree vertraue, daß ich ihn liebe? Ich sehe in ihm mein eigenes verachtenswertes Selbst.« Was Sonja jetzt sagt, hat sie nicht durchdacht, sonst hätte sie es vielleicht für sich behalten. »Philip ist aufrichtig, ich liebe ihn, und du lügst.« Jetzt ist die Zeit gekommen, denkt Sonja zornig, Mutter zu sagen, was vor Jahren geschah, als die Tür einen Spalt weit aufstand: zwei Frauen im Bett, nackt. Jetzt ist die richtige Zeit dafür. Jetzt. »Wenigstens das jetzt war keine Lüge«, erwidert ihre Mutter. »Jetzt hast du die Wahrheit erfahren, was du auch darüber denkst. Bis heute ist sie dir vorenthalten worden.« 789
Ihre Augen wenden sich zum offenen Fenster, zum Sonnenlicht, gesprenkelt von dem Staub Schanghais. Sonja erhebt sich erneut. »Ich gehe, Mutter.« Und diesmal verläßt sie ohne einen Blick zurück das Zimmer. Am Abend schreibt sie in ihr Tagebuch: Ich habe ihr heute meine Liebe zu ihm gestanden. Sie war nicht nur wütend, sondern voller Groll und Haß, und ich hatte Angst um ihr Herz. Sie beschuldigte ihn, treulos zu sein, ein Mensch, der kein Vertrauen verdient. Sie behauptete, er habe sie überredet, mit ihm durchzubrennen und damit meinen Vater verraten. Es ist eine furchtbare Sache, und ich glaube, daß es stimmt. Schrecklich, wenn man es so ansieht, wie sie es tut. Aber es gibt auch eine andere Möglichkeit. Er liebte sie damals so, wie er heute mich liebt – ohne Grenzen, ohne Vorsicht, ohne irgendeinen Gedanken an Recht oder Unrecht. Denn auf diese Weise liebt er mich. Er liebte sie so sehr, daß er zu allem bereit war, um sie zu bekommen. Was sie nie begreifen wird, ist seine Ehrlichkeit. Er war nicht treulos, sondern von der Leidenschaft ergriffen, und das machte ihn impulsiv, blind für die Konsequenzen – beinahe kindlich-unschuldig, nicht treulos. Ja, unschuldig! Sie sah nie in ihm den traurigen und zärtlichen Mann, der er all diese Jahre uns gegenüber war, ein Mann, der ohne Überlegung handelte und deswegen schrecklich litt. Vater würde ihm heute verzeihen, denke ich. Vater würde zu ihm sagen: »Sie waren ein dummer Junge, aber Sie haben dafür gezahlt.« Sie versteht ihn nicht, ich schon, weil ich ihn liebe und weil ich kein Kind mehr bin, das alles glaubt, was ihm erzählt wird. Ich werde sie erst wiedersehen, wenn er zurückkommt. Wenn ich sie jetzt 790
wieder besuche, geht der Streit nur weiter. Und wenn er weitergeht, dann stirbt sie. Das weiß ich. Er hat gesagt: »Ich werde China nicht ohne dich verlassen.« Und ich glaube ihm. Am nächsten Tag wartet sie in der Nähe des Eingangs zum Krankenhaus und fängt Rama ab, als er zu einem Botengang aufbricht. »Wie geht es ihr?« fragt Sonja besorgt. Ramas knochiges, dunkles Gesicht spannt sich. Er hat den Regenschirm unter den Arm geklemmt. »Ach, Miss, es geht ihr schlechter.« »Hat Mutter dir von dem Krach erzählt, den wir hatten?« »Sie dürfen sich keine Sorgen machen. Rama ist da und paßt auf.« »Laß mich wissen, wie’s ihr geht. Unbedingt! Jeden Tag!« »Ich werde in Ihr Quartier kommen«, sagt er würdevoll. »Ich werde Ihnen alles berichten.« »Hat sie heute von mir gesprochen?« »O ja. Es liegt ihr sehr daran, Sie zu sehen.« »Nein, Rama. Das geht jetzt nicht.« »Sie könnten am Abend herkommen. Oder ich hole Sie vielleicht ab«, regt er an und legt dabei den Kopf schief. »Nein, Rama, es geht nicht. Und sag ihr nichts davon, daß du mich getroffen hast. Du darfst es ihr nicht sagen, hörst du! Aber laß mich jeden Tag wissen, wie es ihr geht. Bitte, auf jeden Fall!« »Sie sind zu besorgt, Miss. Gott wird alles richten. Ich werde Ihrer Mama aus ihren Schwierigkeiten helfen.« »Danke, Rama.« 791
»Danke gleichfalls, Miss. Gott segne Sie. Gott segne Sie beide. Narayana.« Sie sieht ihm nach, wie er davongeht und dabei seinen Regenschirm schwenkt wie ein englischer Gentleman, der durch London mit seinem Spazierstock flaniert. In den Tagen darauf hat Sonja Zeit zu lernen, was Warten bedeutet. Sie geht zum amerikanischen Konsulat, wo ein junger Konsul mit Entschiedenheit behauptet, man habe nie von einem Philip Embree gehört. In der niederländischen Gesandtschaft lachen sie, als sie nach einem Mann fragt, dem ein Paß auf den Namen Hans Brinker ausgestellt worden sei – und setzen ihre Beschäftigung fort, denn sie packen, weil die Gesandtschaft sich bald aus Schanghai absetzen wird. Um die Zeit während des Wartens totzuschlagen, liest Sonja Chinesisch, wobei sie jeden Tag neue Schriftzeichen lernt. Mit Hilfe ihres Wörterbuches schreibt sie kleine englische Aufsätze. Sie schreibt über Schanghai, das einst die Stadt ihrer Mutter war und nun auch zu ihrer wird. Sie unternimmt meilenweite Fußmärsche, lernt die öffentlichen Anlagen, die Märkte, die Seeseite kennen. Stunden verbringt sie auf der Promenade am Bund. Stundenlang durchstreift sie die Niederlassungen, schmale Gassen, in denen sich Rikschas und Radfahrer in den Weg geraten, wo das Menschengewimmel sich mühsam durchschlägt, was angesichts des Zustroms von Obdachlosen aus dem Umland täglich schwieriger wird. Zeitungen in chinesischer und englischer Sprache berichten in Schlagzeilen über die galoppierende Inflation, während Plakate der Regierung die Schuld daran einer kommunistischen Verschwörung geben. Sie liest, daß die 792
Wasserleitung, seit die Stadt von dem Taifun getroffen wurde, von Aalen wimmelt. Sie liest, daß Verbände der Roten Armee Hsuchang und Pingdingshan erobert haben. Es heißt auch, daß es jetzt in Schanghai fünfzigtausend Bettler gebe und daß Spione nach ihrer Festnahme auf der Stelle ohne gerichtliches Verfahren exekutiert würden. Eines Tages, als sie um eine Ecke biegt, bemerkt sie an einer Telegrafenstange weiter vorne ein paar sonderbare Ausbuchtungen von der Größe und Form von Kürbissen. Als sie näher kommt, stellt sie fest, daß es Köpfe von Menschen sind, die man mit langen Nägeln an der Stange befestigt hat. Sie schreibt das Erlebnis in ihr Tagebuch. Sie beschreibt auch einen ambulanten Zahnarzt, der mit einem pedalbetriebenen Bohrer auf der Straße seinem Handwerk nachging. Er erinnerte mich daran, wie ich zum erstenmal Somchai traf. Jetzt liegt der Arme irgendwo in einem Gefängnis, krank und voller Angst. Oder vielleicht ist er tot. Ich muß daran denken, wie er damals im Tempel des Smaragdbuddhas mit Chamlong Tai Chi spielte und wie geschickt und schnell sie waren und an meine Angst, daß ein Wächter sie hinauswirft. Jedesmal, wenn Somchai den Mund aufmachte, war eine blutige Lücke zu sehen, und er mochte mich überhaupt nicht, weil ich nun zwischen ihm und seinem Freund stand. Aber später begriff ich, daß er schüchtern war und Angst vor Mädchen hatte. Chamlong – ich werde nie sein kantiges Kinn vergessen, die klaren Augen, die weichen, hübsch geschwungenen Lippen und sein finsteres Gesicht. Wo er jetzt auch sein mag, ich wünsche ihm alles Glück. Ich liebe ihn auf eine eigene Art.
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Viele der Eintragungen, die sie in Schanghai schreibt, haben mit dem Schlafsaal zu tun, den sie mit einem Dutzend Mädchen teilt. Er wäre eigentlich gerade für drei oder vier Personen geeignet, doch die Liegen aus Weidengeflecht und Bambusstäben stehen dicht an dicht, und die Durchgänge dazwischen sind so schmal, daß die Mädchen seitwärts gehen müssen. Ihre Habseligkeiten verstauen sie unter den Liegen, während sie sich in dem Schlafraum aufhalten, sonst aber in einer Gepäckkammer. Trotzdem wird hin und wieder etwas gestohlen, gewöhnlich nachts. Sonja hat ihren Koffer auf der Liege, von der er ein Viertel beansprucht, was das Schlafen schwierig macht. Immerhin kostet das Übernachten nicht viel. Allmählich kennt sie sich mit dem Geld aus. Sie hat noch ein paar kommunistische Renminbi, die sie auf dem Schwarzmarkt verkaufen kann, und siamesische Baht, die sie zu Tauschzwecken benützt. Mutter um Geld zu bitten kommt nicht in Frage. Sie haben keine Verbindung miteinander, wenn sie sich auch jeden Tag in einer Teestube mit Rama trifft, um sich über Mutters Genesung berichten zu lassen. Zweimal in der Woche fängt sie die kleine chinesische Krankenschwester ab, um Einzelheiten zu erfahren. Anscheinend erholt sich ihre Mutter zusehends. Jeden Tag kommen sich Sonja und die Mädchen in dem Schlafraum näher. Es sind junge Chinesinnen, Tonkinesinnen, Mädchen von den Philippinen und sinorussische Töchter von Frauen, die wie Sonjas Mutter während des russischen Bürgerkriegs nach Schanghai geflüchtet sind. Außer Sonja und einer jungen Musikerin arbeiten sie alle als piao-tzu und gehen abends auf die Straße, um Geld zu verdienen. Sonja (oder vielmehr Yu-ying, denn sie hat diesen 794
Namen wieder angenommen) schließt Freundschaft mit Anna, einer jungen Jüdin, in München geboren, die in Nachtklubs in der Französischen Niederlassung singt und Geige spielt. Anna ist sechzehn. Ihre Eltern flohen im Winter 1937/38 aus Deutschland und kamen nach Schanghai, weil damals – in China war Krieg – keine Einreisepapiere notwendig waren. Von den drei Kindern überlebte nur Anna eine Choleraepidemie, die kurz nach der Ankunft der Familie die Stadt heimsuchte. Dann starb Annas Vater, ein Apotheker, der sich als Kellner durchschlug, an Tuberkulose. Annas Mutter, eine professionelle Geigerin, spielte in den Tanzetablissements und brachte in ihren freien Stunden der Tochter das Singen und das Violinspiel bei. Mittlerweile steht Anna allein da, weil ihre Mutter ebenfalls gestorben ist. Manchmal, wenn die Mädchen sich auf ihren Liegen rekeln, steht Anna in der Türe, singt und spielt auf ihrer Geige, die schon bessere Tage gesehen hat. Manche der Mädchen sind neidisch auf sie und ihr Können, besonders, als sie eines Tages verkündet, daß sie sich ein Nachtklubengagement in Manila geangelt habe. Eine fragt, ob Anna mit den Kunden ins Bett gehen müsse, worauf sie entrüstet erklärt: »Ich werde mit dem Besitzer schlafen, wenn ich muß, aber nicht mit den Gästen. Ich bin schließlich Künstlerin!« Niemand weiß besser als Anna, wo es die billigsten und besten süßen Kuchen zu kaufen gibt. Wenn sie zurückkommt, bringt sie immer welche für Yu-ying mit, die ihr dafür Geschichten aus Siam erzählt, denen die anderen Mädchen auch zuhören. Wenn sie mit ihnen zusammen ist, ist sie vergnügt und fühlt sich befreit von einer lastenden Empfindung des Altwerdens, fühlt sich fast wieder, jung. Freilich nicht so jung wie noch vor einem halben Jahr in Bangkok. 795
Sie erzählt den Mädchen von Chamlong; von ihrer Flucht aus Bangkok (allerdings nichts über ihre Verbindung mit Kommunisten – jemand könnte es der Geheimpolizei hinterbringen), weil er (ohne sie) einen Mann getötet habe; über ihre Ankunft in China; über das Wiedersehen mit dem Mann ihrer Mutter, einem Amerikaner mittleren Alters, der sich prompt in sie verliebt habe wie sie sich auch in ihn. Sie erzählt, wie es ihr gelang, aus Tsinan hinauszukommen, während man ihn festhielt, und spricht von ihrer Entschlossenheit, hier auf ihn zu warten. Die auf ihren Liegen sitzenden Mädchen knabbern an den Fingernägeln, lachen, werden wieder ernst und sind mit Ratschlägen zur Hand. »Es ist gut, daß er soviel älter ist als du. Das bedeutet, daß er früher stirbt und dir dann vielleicht etwas hinterläßt.« »Nicht, wenn seine Frau es verhindern kann«, bemerkt eine andere, worauf alle lachen. Ein Mädchen sagt in gesetztem Ton: »Dieser Mann ist dein Vater, wenn er mit deiner Mutter verheiratet ist. In meinem Dorf hat man mir beigebracht, daß es nichts Schlimmeres gibt, als wenn man mit seinem Vater etwas hat, und daß einen dann die Ahnen nicht in die Große Halle lassen. Das kannst du doch nicht tun.« Doch eine andere meint: »Du kannst alles tun außer mit dem Mann schlafen, der dich mit deiner Mutter gezeugt hat. Schau mich an. Meine Mutter verkaufte mich an ihren reichen Vetter, und später, als meine Eltern wieder Geld brauchten, ist sie selbst mit ihm ins Bett gegangen.« Eine junge Tonkinesin sagt sanft: »Vielleicht nimmt er dich nach Amerika mit. Und wenn du dort bist, läufst du ihm davon.« Die meisten sind sich darin einig, daß Sonja bei ihm bleiben soll, wenn er zurückkommt, da er sie nicht prügelt. Sonja hört von den Mädchen über den berüchtigten 796
Futzemiao-Distrikt in Nanking, wo Kleinbauern ihre Frauen und Töchter feilbieten; über die vielgeschossigen Bordelle in Schanghai, wo jede Etage einer anderen sexuellen Spezialität gewidmet ist; über junge Mädchen, die auf dem Land entführt, in Bordelle verschleppt und dort an die Betten gekettet und gequält werden, bis sie sich fügen. Hin und wieder kommen Bordellbesitzer in ihre Unterkunft, um zu rekrutieren. Glücklich preisen kann sich das Mädchen, das sie auswählen, denn manchmal bekommt sie ein eigenes Zimmer und muß nicht auf den Straßenstrich gehen. Zweimal erhält Yu-ying ein Angebot. Dann erscheint eines Nachmittags eine feiste, kleine Puffmutter, begutachtet sie und erklärt: »Hübsch, aber zu alt.« Hinterher klärt ein Mädchen Yu-ying auf, daß die Frau ein Freudenhaus führe, das dafür berühmt sei, daß die Huren jünger als vierzehn sind. Eines Tages berichtet ihr Rama, Mistress könne jetzt ohne Beistand durch den Korridor zur Toilette gehen. Er ist glücklich über diesen Fortschritt. Sein Lächeln ist nicht gezwungen, sondern erfaßt das ganze Gesicht. Dann greift er in die Tasche und zieht einen Zeitungsausschnitt heraus, der so abgegriffen und verknittert ist, daß Yu-ying genau hinsehen muß, um die Worte zu entziffern. Madras, Indien. 14. August. Die Dürre, die weite Teile Südindiens bedrohte, ist in der vergangenen Woche durch unerwartete Gewitter viele Wochen vor dem regelmäßigen Monsunregen abgewendet worden, und dort ansässige Pandits sprechen von einem »Wunder«, mit dem die Gebete in zahlreichen Tempeln während der vergangenen Monate erhört worden seien. 797
Nach Angaben der Behörden haben die Regenfälle die Brunnen und Reservoirs so weit gefüllt, daß bis zum Eintreffen des Monsuns der Notbedarf gedeckt werden kann. Man schätzt, daß dadurch Tausende von Menschenleben gerettet wurden. »Ein Wunder!« ruft Rama. »Das hat Ganesha getan. Er ist der Beseitiger der Hindernisse. Jetzt gibt es Regen. Ein großes Wunder.« »Hast du Freunde dort, Rama?« »O ja, Miss, gute Freunde.« »Aber von Master keine Nachricht?« »Noch nichts gehört. Aber Gott wird dafür sorgen.« Ramas Zuversicht veranlaßt sie, eine katholische Kirche in der nahe gelegenen Rue Mazarin aufzusuchen. In der kleinen Kapelle betet sie für ihre Mutter, für Philip, für Lamai, die vielleicht schon schwanger ist. Sie hält das Kreuz, das sie sich aus zwei Zweigen gebastelt hat, in der Hand und sagt Teile aus dem Meßtext auf, den sie vor langer Zeit in der Schule gelernt hat. »Kyrie eleison. Gloria in excelsis Deo.« Sie denkt an Philip und rezitiert: »Dominus vobiscum. Et cum spiritu tuo.« Er sollte ursprünglich Missionar werden; und doch sieht ihm jeder den Soldaten an. Er ist eben ein Mann, der den Anliegen seines Herzens folgt, und deswegen liebt sie ihn – einer ihrer Gründe. Und im Bett ist er zärtlich zu ihr, auf eine Art, wie Chamlong es nie war. Er ist auch ein Mann der Ehre wie ihr Vater und daher ein Getriebener. Dann denkt sie an Lamai. Ob sie mit ihrem Ehemann wohl glücklich ist? Ihr Leben ist sicher sehr eingegrenzt, ruhig, von einem gleichmäßigen Rhythmus. Kann es wirklich sein, daß Wunder geschehen? Mutter kann jetzt 798
das Bett verlassen; sie wird sicher genesen. Wie geschehen Wunder? Gewiß nicht so, wie Rama es glaubt. Oder vielleicht überhaupt nicht. In Schanghai geht es von Tag zu Tag mehr drunter und drüber, was sie getreulich in ihrem Tagebuch vermerkt. Ich habe gehört, daß die Rikschakulis nicht sehr lange arbeiten können, weil sie unterernährt sind. In den Geschäften schlagen die Leute Krawall, weil die Händler sich weigern, ihre Waren für das entwertete Geld herzugeben. Die Leute schleppen jetzt Koffer voll Geld umher, wenn sie Geschäfte machen wollen. Die Regierung gibt zur Zeit neue Banknoten aus, aber niemand glaubt, daß es etwas nützt. Gestern sah ich, wie eine Frau vor einem Laden den Dreck durchsiebte. Sie suchte nach einzelnen Reiskörnern, denn drinnen hatte es einen Aufruhr der Kunden gegeben, der mit einer Plünderung endete. Wie ich hörte, schoß der Besitzer mit einer Flinte in die Menge, aber man griff ihn trotzdem an und schlug ihm den Schädel ein. Yu-ying sucht jetzt oft die Kapelle auf und betet für die Mädchen in ihrem Nachtquartier. Wenn Yu-ying sie ansieht, kommt es ihr vor, als sähe sie ihre eigene Mutter, wie sie vor zwanzig Jahren war. Sie versucht, sich mit den Mädchen russischer Abstammung anzufreunden, aber sie sind besonders schroff, verbittert und abweisend – Mädchen ohne Zukunft, zwischen zwei Welten geraten. Vielleicht war ihre Mutter auch so. Jeden Abend, wenn sie mitansieht, wie sie auf die Straße gehen, staunt sie aufs neue über die Überlebensfähigkeit ihrer Mutter. Yu-ying weiß jetzt, daß sie ihr niemals von der angelehnten Tür erzählen wird, durch die sie die beiden Frauen zusammen 799
im Bett sah. Das zählt jetzt nicht mehr. Erst seit sie selbst wirklich liebt, kann sie ihre Mutter verstehen. Sie hat sich – jetzt kann sie es sich ganz eingestehen – eben doch geschämt, weil ihre Mutter auch Frauen liebte, doch dies erscheint ihr jetzt nicht mehr als Schande. So wie sie Philip liebt, ist für sie auch die Möglichkeit einer anderen Liebe denkbar – vielleicht sogar eines Tages zu einer Frau. Geht es so mit der Liebe? Daß man, sobald man einmal liebt, auch lernt, wieder und wieder zu lieben? Ihre Mutter besitzt diese Fähigkeit. Und doch – sie selbst kann sicher nie jemanden so lieben wie Philip. Über ihn hinaus kann sie sich doch keine echte Liebe vorstellen. Als Yu-ying vom Bund zurückkommt, fangen Anna und ein chinesisch-russisches Mädchen sie auf der Straße ab. »Geh nicht zurück in die Herberge«, warnt Anna. »Sie suchen nach dir.« »Sie meint die Te Wu«, setzt das andere Mädchen hinzu, die unter dem Namen Abendblume auf den Strich geht. Die Te Wu ist das Sonderdezernat des Amts für Ermittlungen und Statistik – Geheimagenten, in Schanghai gefürchtet. »Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen.« Anna, die außer Atem ist, bringt mühsam heraus: »Wir mußten dich warnen. Wenn du zurückgehst, verhaften sie dich bestimmt.« »Stehn wir lieber nicht so herum.« Abendblume drängt sie in eine Teestube. Dann berichtet sie, was vorgefallen ist. Vor ungefähr einer Stunde kam ein Mann mit einem europäischen Hut in den Schlafsaal und sah sich um. Zuerst dachten sie, es sei ein Bordellbesitzer oder vielleicht nur einfach jemand, der ein Mädchen haben 800
wollte, doch als er sich nach Yu-ying erkundigte, war klar, um wen es sich handelte. »Wußtest du schon, daß sie kleine Geldbarren bei sich haben, mit denen sie Denunzianten bezahlen?« sagt Abendblume lächelnd. »Ich kannte ein Mädchen, das öfter mit einem von ihnen schlief. Er trug einen amerikanischen Revolver und ein Stück dünnen Draht bei sich er sagte ihr nie, was er damit tat, aber sicher etwas Schreckliches. Also, ich fing mit dem Mann, der dich sehen wollte, ein Gespräch an tat so, als wäre ich an ihm interessiert. Er fragte mich, ob ich auch manchmal das amerikanische Konsulat aufsuche. Ich doch nicht, sagte ich zu ihm und verdrückte mich.« Sie lehnt sich über den Tisch zu Yu-ying hin. »Er hatte deinen Namen und deine Adresse von jemand, der im Konsulat arbeitet. Kennst du jemanden dort?« »Einen amerikanischen Konsul.« »Der Chinesen für sich arbeiten läßt. Kleine Goldbarren.« Abendblume lächelt fein. »Für dieses Gold könnte ich selber in Versuchung kommen, jemanden hinzuhängen.« »Aber du würdest es nicht tun.« Das Mädchen lacht. »Ich hab’ ihm jedenfalls gesagt, du kennst niemand vom amerikanischen Konsulat, schläfst höchstens mit einem der Typen. Aber ich vermute, daß er mir nicht geglaubt hat.« »Danke für deine Bemühungen.« Das Mädchen zuckt mit den breiten Schultern. »Setz dich lieber aus Schanghai ab. Wenn sie erst anfangen, nach dir zu suchen, finden sie dich auch.« »Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen.« »Du warst öfter im amerikanischen Konsulat.« »Ja, das stimmt.« Abendblume breitet mit einer Geste, die alles besagt, die 801
Hände aus. »Sie werden wissen wollen, warum du hingegangen bist und wer du bist und was du treibst, und dann wirst du schon bald erleben, daß sie dir Drähte in die Titten stoßen und Strom durchschicken. So was machen sie gerne. Ich kenne ein Mädchen, das Narben hat, die es beweisen.« »Komm mit mir nach Manila«, redet ihr Anna zu. »Ich fahre in zwei Tagen. Der Nachtklub hat mir einen Vorschuß geschickt. Ich kann was zu deiner Passage beisteuern.« Sonja drückt ihr dankend die Hand. »Ich muß in China bleiben.« »Verdrück dich lieber aus Schanghai«, sagt Abendblume noch einmal. Sie trifft sich ein letztes Mal mit Rama und zieht ihn in eine Teestube. Als sie zu Ende gesprochen hat, schüttelt er den Kopf. »Sie müssen Mistress noch einmal besuchen.« »Ich kann es nicht riskieren. Inzwischen wissen die von der Polizei, daß ich zu ihr gegangen bin.« Sie reicht ihm ein zusammengefaltetes Blatt Papier. »Gib ihr das. Sag ihr, daß ich es ins Hospital gebracht hätte.« Der Brief ist sehr kurz und absichtlich vage gehalten, falls er abgefangen werden sollte. »Ich muß aus Schanghai weg. Du wirst von mir hören, sobald ich mich melden kann. Ich liebe dich. Daran hat sich nie etwas geändert. Verzeih mir, daß ich Dich in so vielen Dingen enttäuscht habe. Wenn er nach Schanghai kommt, sag ihm bitte, ich warte auf ihn. Deine …« Sie läßt auch die Unterschrift weg. Zu Rama sagt sie: »Richte ihr aus, daß ich sie liebe.« »Ach, Miss«, sagt Rama. »Sie müssen sie noch einmal besuchen.« Seine Stimme zittert, hat einen schrillen Klang. »Ach, 802
Miss, es ist schrecklich für Sie beide, wenn Sie fortgehen. Ich spreche die Wahrheit, Miss! Sie werden ja sehen! Ich habe meine Frau und meine beiden Söhne verlassen. Gott verzeihe mir. Und jetzt denke ich immerzu an sie. Auch wenn die Dürre ausbleibt. Und ich sage mir, es ist besser, besser, hier in diesem fremden Land zu sterben als zu wissen, wie ihnen zumute war, als ich sie verließ.« »Rama«, sagt sie. Plötzlich wird ihr klar: Er hat all die Zeit etwas mit sich umhergetragen, was ihn genauso verfolgt wie sie das Bild jenes toten Mannes im vom Mondlicht überfluteten Meer. Sie berührt seine dunkelbraune Hand. »Einerlei, was du getan hast, du hast dafür gelitten. Du hast auch Gutes getan. Denk an mich, an meine Mutter, an Master. Bestelle ihr, was ich gesagt habe – daß ich sie liebe. Und gib ihr den Brief.« »Wenn Sie Master sehen sollten, richten Sie ihm bitte aus, daß Rama für Sie beide betet.« Am nächsten Tag besorgt sich Yu-ying einen Platz auf einem Küstendampfer, der nach Tianjin geht. Dort wird sie einen Zug nach Peking nehmen, das für Reisende noch erreichbar ist. Wenn nicht in Schanghai, so werden sie sich, wie Philip auf dem Flugplatz von Tsinan sagte, vielleicht in Peking wiedersehen. Ein schattenhafter Gedanke tritt ins volle Bewußtsein. Wie konnte es geschehen, daß sie während ihres Zusammenseins mit Philip die Tage zu zählen vergaß. Die Wahrheit ist, daß sie es keineswegs vergessen hat, denn was sie beide erlebten, durfte niemals aufhören, durfte nicht einmal unterbrochen werden, und nun sind ihre Tage ausgeblieben. Und doch: mai pen rai. Es gibt keinen Grund zur Reue. Philip hat gesagt: »Ich werde China nicht ohne dich verlassen.« Wenn nicht Schanghai, dann Peking. 803
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r hat Sonja nach Schanghai zurückgeschickt und damit seine Schuld bei Vera getilgt. Nichts aber darf ihn daran hindern, Sanuk wiederzusehen. Und er wird sie treffen. Es bekümmert ihn nur, daß er versäumt hat, genau mit ihr zu verabreden, wie und wo sie sich in Schanghai wiedersehen wollen. Ihr Abschied war überstürzt, eher hektisch als planvoll. Vielleicht, sagt er sich, wollte ich es so. Und das bekümmert ihn. Wenn es so ist, läßt es sich jedenfalls wiedergutmachen. Die Kuomintangbeamten haben ihn auf einem Lastwagen nach Tsinan gebracht und vorläufig im Haus einer Missionsschule untergebracht. Sie behaupten, er könne in ein paar Tagen mit dem Flugzeug die Stadt verlassen. Im Augenblick seien sämtliche Flüge vom Militär mit Beschlag belegt. Sie haben offensichtlich vergessen, daß er ein Spitzel sein könnte, und ersparen sich die Mühe, ihn noch weiter zu vernehmen. Im Augenblick darf er sich frei bewegen; er ist einfach ein Ausländer, den man nicht ausfliegen läßt. Wenn er es will – Embree weiß auch das –, kann er sogar fliehen und sich zu den Roten absetzen. Das Überlaufen eines Ausländers zu den Kommunisten wäre der Kuomintang vermutlich herzlich gleichgültig. Schließlich würde man ihn nicht mehr beherbergen und verköstigen müssen, obwohl er in der Missionsschule für Unterkunft und Verpflegung zahlt, ebenso wie ein Halbdutzend weiterer Ausländer, die in der gleichen Patsche sitzen. Die Machthaber ignorieren ihn, weil sie ihn für einen Amerikaner halten, obwohl er behauptet, holländischer Staatsbürger zu sein. In dieser 804
entscheidenden Krise wird die amerikanische Regierung den Nationalisten nicht beistehen, und deswegen werden die Nationalisten auch einem Amerikaner nicht helfen. Tsinan befindet sich im Zustand der Belagerung. General Chen Yis Dritte Feldarmee hat die Stadt und in ihr über siebzigtausend nationalistische Soldaten eingeschlossen, dem Beschuß durch Geschütze und Mörser ausgesetzt, die nur ein paar Kilometer außerhalb der alten Stadtmauern stehen. In dem Viertel, in dem sich die Missionsschule befindet, hat die 84. Division der 66. Armee Schanzen aufgeworfen. Jeden Tag spaziert Embree an den mit Stacheldraht gesicherten Feuerstellungen vorbei, beobachtet er die Soldaten, die in ihren gelblichbraunen Uniformen nachlässig an aufgeschichteten Sandsäcken lehnen. Sie sehen jung aus, müde, apathisch. Und wenn die Belagerung sich lange hinzieht, werden sie – wie ihm seine Kriegserfahrung sagt – viel Pflichtgefühl brauchen, um kampfbereit zu bleiben. Aber der Kampfeswille scheint ihnen schon jetzt abhanden gekommen zu sein, und wie in Reaktion darauf verhängen die Offiziere selbst bei kleineren Disziplinverstößen eine sofortige Bestrafung der Schuldigen. Während eines vormittäglichen Spaziergangs beobachtet Embree nicht weniger als dreimal, wie junge Soldaten geprügelt werden. Doch die Ausrüstung der Regierungstruppen ist imposant: japanische Maschinengewehre und Mörser, amerikanische Jeeps, Haubitzen und Panzerabwehrkanonen. Wenn die Kampfmoral der Soldaten hält, kann es zu einer hitzigen Schlacht um Tsinan kommen. Wie sie ausgeht, ist auch für ihn selbst bedeutsam. Er rechnet nicht damit, Tsinan auf dem Luftwege verlassen zu können. Vielleicht, überlegt er, sollte ich mir Gedanken machen, wie ich mich auf andere 805
Weise absetzen kann. Doch die Tage vergehen, und nichts geschieht. Er wandert ziellos durch die Stadt. Niemand, sinnt er, stellt sich auf den Krieg so leicht ein wie die Chinesen. Truppeneinheiten und Militärfahrzeuge verstopfen die Straßen von Tsinan, daneben schieben Kulis ihre Karren auf dem Weg zu Fabriken, die Sojabohnen verarbeiten, zu Bauholzfirmen, Mühlen und wieder zurück. Männer stehen rauchend in Hauseingängen, Frauen hängen Wäsche auf an Stangen, die aus den Fenstern ragen. Nachmittags geht er oft zum Brunnenquell-Pavillon, zu dem er zwanzig Jahre vorher als Leibwächter General Tang begleitete. Dort bat er um seine Versetzung zur Kavallerie, und seine Bitte wurde ihm gewährt, weil er erst am Tag zuvor auf dem Tausend-Buddha Berg, gleich außerhalb von Tsinan, dem General das Leben gerettet hatte. Er hatte sich im Augenblick einer Explosion vor Tang geworfen, so daß sie beide aus einer Tempelnische geschleudert wurden. Auf dem Rückweg zur Missionsschule beobachtet er die Lastwagen und die Geschütze auf ihren Lafetten, unterwegs zu ihren Positionen. Jeden Tag erscheinen auf Hauswänden, wie von Geisterhand dort angeklebt, Plakate, die die Roten preisen und die Nationalisten dem Spott preisgeben. Am interessantesten sind die großen weißen Blätter, an Telephonstangen und Ladentüren genagelt, die mit großen schwarzen Schriftzeichen Gedichte von Chen Yi wiedergeben, dem Kommandeur der Roten, der die Belagerung leitet. Embree bleibt immer wieder stehen, um den neuesten poetischen Versuch zu lesen. Manche der Gedichte sind recht gut, verfaßt im tsayen-Stil, der Zeilen von unterschiedlicher Länge mischt. Jetzt sehe ich meine Kameraden zusammen nach Hause 806
reiten. Wem gehört das Tal des Yangtse? Und: Wenn dir alte Freunde begegnen und sich nach mir erkundigen, Sag ihnen, sie sollen sich die geschlagene Nachhut des Feindes ansehen. Den Vormittag über lauscht Embree Kinderstimmen, die in ihrem langen, schmalen Klassenzimmer auf der anderen Seite des Schulgeländes englische Kinderverse singen, »Jesus Loves Me« und »Onward, Christian Soldiers«. Versonnen hört er ihnen zu, denn diese chinesischen Kinder singen, was er in seiner eigenen Kindheit gesungen hat. Vater – ob er wohl noch am Leben ist? Dann bleibt es eines Morgens auf dem Schulgelände still; da die Stadt sich für die Belagerung rüstet, ist der Unterricht suspendiert worden. Embree versucht zu meditieren, aber es ist keine richtige Meditation. Wenn er in dem Schlafsaal mit den aufgereihten hölzernen Liegen allein ist, setzt er sich in eine Ecke, blickt auf eine Wand und denkt nur über das Meditieren nach. Warum hat es bei ihm eigentlich nicht funktioniert? Warum erhebt sich immer noch die Furcht aus dem Nicht-Selbst? Wenn er so dasitzt, ernüchtert, mit geschlossenen Augen, unfähig, sich – ein Mensch aus dem Westen – aus der Betrachtung von Motiv und Ziel zu lösen, hat er 807
keinen Zugang zu den in Indien erlernten Techniken mehr. Während seiner Jahre in Indien gelangte er beim Meditieren manchmal für kurze Augenblicke in einen veränderten psychischen Zustand, charakterisiert durch einen Verlust des gewöhnlichen Bewußtseins und das Wissen um etwas anders. Aber wenn er den Nullzustand erreichte, wo war er dann? Er könnte auf zweierlei Weise antworten. Er war im Innersten des Mysteriums, in Kontakt zum kosmischen Ich. Oder aber er war nirgends, betäubt und genarrt von Selbsthypnose. Dies war und bleibt seine persönliche Tragödie – Philip Embree kann sich nicht entscheiden. Vielleicht hatte er niemals Anlagen für das Spirituelle. Vielleicht besaß sie keiner der Embrees, nicht einmal sein Vater, der sein Leben dem Dienst am Herrn weihte. Im Überfluß dagegen schien der Embree-Klan Energie und Willenskraft zu haben. Wenn er an die Geschichte der Embrees zurückdenkt, muß er feststellen, daß all das, was sie begehrten, kaum etwas mit Gott zu tun hatte. Wo war die Demut? Das ist das Geheimnis. Keine Demut, keine Aufopferung des Ichs, keine Nähe zu Gott. Während Embree in der klassischen Haltung des Meditierenden dasitzt und sich auf seine Unfähigkeit zur Meditation konzentriert, zieht er auch eine Bilanz seines Verhaltens in der letzten Zeit. Als Sanuk ihm beichtete, einen Mann getötet zu haben, hätte er sich mit einem eigenen Geständnis revanchieren können. Und weil ihm dazu der Mut gefehlt hat, bleibt er in einem Zustand des Wartens auf irgend etwas, außerstande, sich aus Tsinan zu entfernen und seinem Gewissen zu entfliehen. Gewissen? Deswegen ist er ja so zufrieden damit, hier in dieser belagerten Stadt zu sein, fern der Frau, die er liebt. So bleibt ihm der Augenblick erspart, da er ihre Aufrichtigkeit erwidern und ihr gestehen muß, daß er einst 808
versucht hat, den Mann zu töten, dessen Spuren sie sucht, solange sie lebt. Einmal kommt Aufregung in die monotonen Tage und Nächte. Einer der mit ihm in der Mission untergebrachten Ausländer kommt mit einer Schanghaier Zeitung zurück, die er einem kurz vorher mit einer Militärmaschine eingetroffenen Stabsoffizier abgekauft hat. Mit einer Intensität, die ihn überrascht, verschlingt Embree alles, was darinsteht. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat eine Resolution verabschiedet, die in Indonesien eine Feuereinstellung im Krieg zwischen den Nationalisten und den holländischen Kolonialherren verlangt. Syngman Rhees konservative Partei in Südkorea hat die Mehrheit der Mandate in der neuen verfassungsgebenden Versammlung errungen, und Rhee ist zum ersten Präsidenten der Republik Korea ernannt worden. Dann stößt Embree auf eine Nachricht, die ihn wirklich interessiert: Exgeneral Feng Yü-hsiang ist an Bord der Pobeda gestorben, eines russischen Schiffes, das von Amerika nach China unterwegs war. Ein Filmprojektor fing Feuer, und der General erstickte bei dem folgenden Schwelbrand. Embree hat Sanuk zu dem Kloster in Taian geführt, in das sich Feng in den dreißiger Jahren einmal zurückzog. Dreißig Jahre lang hatte Feng Kriege und Intrigen überlebt. Die hochkritischen Bemerkungen, mit denen er sich in den Vereinigten Staaten über Tschiang Kai-schek äußerte, müssen die Nationalisten ergrimmt haben. Es ist denkbar, daß sie jemanden bestochen haben, Feng zu ermorden, bevor er nach China zurückkehren konnte. Was daran für Embree so interessant ist, reicht zwanzig Jahre zurück. Bei Gelegenheit einer mit General Feng in Sian vereinbarten Zusammenkunft kam es zu dem mißglückten Anschlag auf General Tang – jenes 809
Geschehnis, das Embree jetzt davon abhält, einen Weg zurück nach Schanghai und zu Sanuk ausfindig zu machen. Von den sechs Männern in der Missionsschule ist nur einer unangenehm: ein indischer Händler aus Bombay namens Gopal Tilak, der aus schierer Gier, einen Vertrag über eine Lieferung Mehl unter Dach und Fach zu bringen, zu lange damit gewartet hat, Tsinan mit einem Flugzeug zu verlassen. Er ist ein dunkelhäutiger, korpulenter, unablässig schwitzender Mann, laut, aggressiv, argwöhnisch. Jeden Tag fragt er die anderen nach ihren Aussichten auf einen Flug aus, voller Angst, ein anderer könnte es vor ihm schaffen, sich abzusetzen. Jeden Tag geht er zum Hauptquartier der Armee und beschwert sich über das Essen in der Mission (er ist strenger Vegetarier), über das lange Warten auf einen Flug, über die Unfähigkeit der Behörden, das Mehl abzutransportieren, das er kontrahiert hat. »Es ist ein Wunder, daß sie ihn nicht in ein Flugzeug setzen, nur um das Gejammer nicht mehr hören zu müssen«, bemerkt dazu Bernard Petter, der im Auftrag einer linken französischen Zeitschrift hier ist. Er ist ein blasser, schmalbrüstiger Pariser Mitte zwanzig. »Stammte der Mann, der Gandhi erschoß, nicht aus Bombay?« fragte er Embree. »Ich weiß es nicht. Ich weiß überhaupt nichts über Indien, denn ich war nie dort.« Er verheimlicht sein Wissen über Indien, besonders Gopal Tilak gegenüber, der bestimmt versuchen würde, aus dieser Gemeinsamkeit irgendeinen Vorteil zu schlagen. »Ich dachte, Sie kennen Indien, weil ich Sie im Schlafsaal der Wand gegenübersitzen sah. Yoga oder was 810
Ähnliches.« Petter ist ein Mann, der, seinem Beruf getreu, die Augen offenhält, auf seine Art ebenso neugierig wie Tilak. »Das habe ich in Thailand gelernt.« Embree hat gegenüber Petter und den anderen zugegeben, daß er Amerikaner ist – mit einem farcenhaften Namen wie Hans Brinker und einer europäischen Sprache, die man nicht beherrscht, kann man Europäer nicht lange hinters Licht führen –, bleibt aber bei der Behauptung, daß er für die WHO arbeite. Er genießt sogar einigermaßen diese Abende in dem düsteren Speisezimmer beim Kartenspiel oder einfach bei einem warmen Bier am Tisch, bei einer kleinen Unterhaltung, mit der wieder einmal ein Tag zu Ende geht. Neben Gopal Tilak gibt es noch eine andere Quelle der Spannung in der Missionsschule. Es ist das gereizte Verhältnis zwischen Petter und einem Deutschen, der mit einem Vertrag als Panzerspezialist die Kuomintang berät. Während des Zweiten Weltkrieges war Dietrich Müller Panzerkommandant in der Panzergruppe Eberhard. Er geriet in eine Zangenbewegung der Dritten Armee Pattons und der Zweiten britischen sowie der Ersten kanadischen Armee und wurde Mitte August 1944 bei Falaise in der Normandie von Angehörigen des 15. Korps der US-Armee gefangengenommen. Nach dem Sieg der Alliierten aus der Kriegsgefangenschaft entlassen, trat Müller wie so viele seiner deutschen Kameraden in die französische Fremdenlegion ein. Er wurde nach Indochina geschickt, wo er das Kasernenleben in Tonkin schließlich leid wurde. Ein Kuomintangagent überredete ihn zur Desertion und heuerte ihn als Berater für die Armee der Nationalisten an. Dietrich Müller, ein untersetzter Mann von frischer Gesichtsfarbe, sitzt gern beim Bier im Speisezimmer und schwelgt in Erinnerungen. Zusammen mit den beiden 811
Engländern bildet er ein Trio, das sich über Schlachten und den Tod alter Kameraden unterhält. Auch Embree beteiligt sich daran, weil er gern in Gesellschaft von Veteranen ist, einerlei, welcher Sache ihre Loyalität galt. Nach einer Woche, an deren Abenden Müller mit Embree und den beiden Engländern beim Bier zusammensitzt, wissen die drei von ihm alles über den »Tiger«-Panzer, was es darüber zu wissen gibt. Petter beteiligt sich nie an diesen Gesprächen über die Leistungsfähigkeit des »Tigers«, doch zuweilen, wenn noch ein Partner fürs Bridgespielen gebraucht wird, setzt er sich zögernd neben Müller und spielt ein paar Runden mit. Embree und die Engländer haben zunächst den Eindruck, die Antipathie, die Petter dem Deutschen entgegenbringt, sei ein Erbe aus dem Krieg. Aber schon bald kommen sie dahinter, daß sie nichts mit dem Zweiten Weltkrieg zu tun hat, sondern ganz allein mit dem Bürgerkrieg in China: Müller haßt die Roten, Petter hingegen bewundert sie. Embree und die Briten geben klar zu erkennen, daß ihnen die Sache gleichgültig ist. Als Petter und Embree an diesem Abend im Speisezimmer sitzen, kommt der Deutsche herein. »Wir wollen nichts mehr von seinem Panzer hören«, murmelt Petter auf englisch und steht auf. Ein mißmutiger junger Chinese bedient an der Theke, die aus einem Bierflaschenkasten besteht. Müller besorgt sich eine Flasche Bier, was auf einem Fetzen Papier vermerkt ist, den ihm der Junge mürrisch zuschiebt. Dann setzt er sich seufzend zu Embree an den Tisch. »Der Angriff hat begonnen«, sagt er. »Sie haben den Flugplatz erobert.« »Dann bleibt also nur noch der Behelfsflugplatz in der 812
Stadt«, bemerkt Embree dazu. »Aber die 26. Luftflotte wird ja ohnehin keinen Gebrauch davon machen.« Die beiden Briten an ihrem Schachbrett heben die Köpfe und blicken einen Augenblick nachdenklich her. Dann nehmen sie ihr Spiel wieder auf. »Bald werden wir die Geschütze hören«, sagt Embree. »Ich werd’ jetzt nicht mehr lange hier sein. Mein letzter Panzer ist heute losgefahren und nicht mehr zurückgekommen.« Müllers Aufgabe hier hat darin bestanden, die Einsatzfähigkeit der Sherman-M-4-Panzer der 66. Armee zu überwachen. »Ich habe davon gehört«, sagt Embree. »Für mich gibt’s hier jetzt nichts mehr zu tun. Sie werden mich bald wegschicken. Zurück nach Schanghai.« »Schließen Sie sich dann einer neuen Einheit an?« Müller schüttelt den Kopf. »Ich hab’ genug von der Kuomintang. Können nicht kämpfen. In den dreißiger Jahren hatten sie gute Berater, aber haben sie etwa auf sie gehört?« Beim Bier spricht Müller aus deutscher Sicht über China, genaugenommen über das deutsche Wirken in China. In den Dreißigern waren die wichtigsten ausländischen Berater Tschiang Kai-scheks Müller zufolge, Stabsoffiziere aus Deutschland. Und er hatte zum Beweis Namen zur Hand: Wetzell, von Seeckt, von Falkenhausen. »Waren sie tüchtig?« fragt Embree. »Natürlich waren sie gut – als deutsche Generalstäbler.« Hätten diese Männer mehr Zeit gehabt, so Müller, hätte die Reichswehr es vielleicht zuwege gebracht, China zum Bundesgenossen zu machen und den Verlauf des Kriegs in 813
Asien zu ändern. Göring entsandte General Milch, damit er den chinesischen Luftstreitkräften dabei half, sich am Vorbild der Luftwaffe zu orientieren. Ein U-Boot-Experte wurde Hauptberater in Marinefragen. General von Reichenau erschien als Hitlers persönlicher Vertreter auf der Szene. Hätten die Japaner ihre Offensive um ein, zwei Jahre verschoben, hätten sie sich vielleicht einer Armee gegenübergesehen, ausgebildet von Offizieren des mit ihnen verbündeten Dritten Reichs und deshalb imstande, ihnen eine Niederlage beizubringen. Müller lacht vergnügt vor sich hin; er ist ein Mensch, dem ironische Fügungen Spaß machen. »Wir hätten die Chinesen auf Vordermann bringen können«, schließt er. Genauso redeten Amerikaner in Kunming, als Embree dort unter Stilwell diente. »Eine aggressive Kriegsführung war nie nach ihrem Geschmack.« Embree bietet damit eine Erklärung für das Zögern der Chinesen an, sich an die Taktik der Deutschen zu halten. »Sie denken in langen Zeitabschnitten und verstehen es abzuwarten.« Müller knurrt mißmutig. »Wie haben dann diese kommunistischen Hunde gelernt, so gut zu kämpfen?« »Mittels Versuch und Irrtum«, erwidert Embree. Sie hören ein paar Geräusche aus der Ferne wie von Kieselsteinen, die ein Junge schräg auf die Oberfläche eines Teichs wirft. »Ja, das sind 105-mm-Geschütze.« »Die roten Scheißkerle«, grollt Müller, doch seine Stimmung hellt sich auf, während er über die Taktik der Kommunisten spricht, die mehr nach seinem Geschmack ist. Wie Müller die Sache sieht, haben die Roten eine eher europäische – deutsche – Einstellung zum Kämpfen: alles 814
auf den Sieg setzen. Beispielsweise nähmen sie bereitwillig Verluste in Kauf, um ihren Gegner zu vernichten. »Wir predigten Tschiang Kai-schek in den Dreißigern, in die Offensive zu gehen, aber hat er etwa auf uns gehört? Die Roten, die haben es sich nicht zweimal sagen lassen.« Er beugt sich näher heran, so daß ihn die Schach spielenden Engländer nicht hören können, und sagt leise: »Ich kann Sie mit aus der Stadt hinausbringen. Ich erklär’ einfach, daß wir gemeinsam arbeiten.« Ein breites Lächeln erscheint auf Müllers Gesicht. »Und dann gehn Sie nach Hause.« Wenn Embree später darüber nachdenkt, stellt er mit Überraschung und Betroffenheit fest, wie er auf das Angebot reagierte. Statt es zu akzeptieren, weicht er aus. »Geben Sie mir ein bißchen Zeit zu überlegen, Dietrich.« Der stämmige Mann setzt sich aufrecht hin, wirft einen Blick auf die Engländer, dann auf ihn und runzelt die Stirn. »Zeit? Es bleibt keine Zeit. Entscheiden Sie sich jetzt!« Embree bleibt hartnäckig. »Nein, ich sag’s Ihnen morgen.« Später wird er sich sagen: »Wie widervernünftig.« Und noch später, als er mit geschlossenen Augen der Wand des Schlafsaals gegenübersitzt und eher über seine Motive als über das kosmische Bewußtsein meditiert, wird ihm aufgehen, wie vernünftig seine Unentschlossenheit doch war. Denn andernfalls hätte er seine Verabredung in Schanghai einhalten müssen. Am Spätnachmittag des folgenden Tages ist Dietrich Müller fort. Am nächsten Abend vor dem Essen setzt Embree sich neben den Tisch der beiden Engländer und sieht ihnen 815
beim Schach zu. Beide Männer haben rotblondes Haar, einen dichten Schnauzbart und sind höflich, aber distanziert und im allgemeinen schweigsam. Doch der eine – Adam –, der soeben das dritte Mal nacheinander gewonnen hat, lockert sich diesmal so weit, daß er mit Embree ein kleines Gespräch anfängt. »Zu schade, daß der Deutsche uns verlassen hat. Er fehlt mir eigentlich.« »Mir auch«, sagt Embree und blickt auf den anderen Engländer, der sich ganz auf den nächsten Zug konzentriert. »Wäre viel besser gewesen, sie hätten den Inder fortgeschickt. Finden Sie nicht auch?« »Ganz meine Meinung.« »Der Deutsche verstand wenigstens etwas von Waffen«, sagt Adam. »Allerdings gibt es einem einen kleinen Schock, wenn man bedenkt, daß sie beide zur selben Zeit in der Normandie waren und aufeinander geballert haben.« »Hier ist das Ende in Sicht«, stellt Embree fest. Den ganzen Tag über war von Süden Kanonendonner zu hören. Gerüchteweise heißt es, daß siebzehn kommunistische Kolonnen, beinahe doppelt so stark wie die Nationalisten, die Stadt eingeschlossen haben. Offenkundig treten die Roten in eine neue Phase ihrer Kampagne ein; sie gehen jetzt vom Guerillakrieg zum Stellungskampf über. Embree ist überzeugt, daß General Tang ihrer Beweglichkeit Beifall gezollt hätte, und ebenso hätte er für die Unfähigkeit der Nationalisten nur Verachtung übrig gehabt. Oder vielmehr für die der nationalistischen Führung. Der General war insofern Konfuzianer, als er die Meinung vertrat, der Zustand einer Armee – überhaupt jeder Organisation – hänge von der sittlichen Qualität ihrer Führung ab. 816
Während dieser Zeit erzwungenen Nichtstuns denkt Embree oft an den General. In den zwanziger Jahren waren nur wenige Chinesen so wie Tang imstande, das taoistische Zögern vor der Tat abzuschütteln. Es war ihm gelungen, dieses aus der Tradition abgeleitete Denken abzulegen; er kämpfte für das Prinzip und forderte damit das Schicksal auf eine Weise heraus, wie es der westliche Geist tut. Und starb dafür. Ja, auch das. Heute sind allenthalben in Tsinan kommunistische Plakate an den Wänden erschienen mit Versicherungen an die Bürger, Kleinunternehmer könnten ruhig in der Stadt bleiben; nur korrupte Amtsträger hätten etwas zu befürchten. Die Schulen würden ein paar Tage nach dem »Sieg des Volkes« wieder eröffnet werden. Wieder schachmatt. Adam wendet sich lächelnd von dem Mann gegenüber ab, der emsig seine schwarzen Figuren für einen neuen Versuch aufstellt. »Sagen Sie, wann setzen Sie sich eigentlich ab?« Embree antwortet mit einem Achselzucken. »Ich nehme ja an, daß wir alle noch hier sind, wenn das Ende kommt«, sagt Adam. »Aber ich schätze, daß er es noch schafft, rauszukommen.« »Wer?« »Unser kleiner Franzose. Petter. Braucht nur eine anständige Bestechungssumme. Er kann sich jederzeit den Weg in die Freiheit erkaufen, wenn er will.« Adam starrt Embree an. »Wissen Sie nicht? Er ist ein Neffe von Charles Petter.« Embree lächelt zum Eingeständnis seiner Unwissenheit. »Charles Petter, wer ist das?« »Der mit der Petter-Pistole. Die Standardpistole der französischen Armee während des ganzen Krieges. Eine prima Waffe.« 817
Der andere Engländer fügt hinzu: »Ziemlich ähnlich wie Ihre Colt 1911.« »Der alte Charles Petter hat sie erfunden«, fährt Adam fort. »Wurde wohlhabend, als eine Waffenfirma sie zu produzieren begann. In Chalet, glaube ich. Der junge Petter, wissen Sie, hat die Hinterlassenschaft geerbt. Stinkt jetzt vor Geld.« »Woher wissen Sie das?« fragt Embree. »Eines Abends, bevor Sie hier ankamen, trank er sich einen an und zog über seinen Onkel her, weil er eine solche Waffe erfunden hatte. Weil er damit nur noch mehr Verderben über die Welt gebracht hat – und so weiter. Sein Gewissen hat ihn hierhergeführt, behauptet Petter, damit er den Kampf zwischen Imperialismus und Kommunismus miterlebt. Aber ganz hat er sich von seinem Onkel nicht distanziert. Er wird nämlich von der Zeitschrift, die ihn beauftragt hat, nicht bezahlt.« »Hat die Schiffspassage selbst bestritten«, ergänzt der andere Engländer. »Mit dem Geld seines Onkels«, setzt Adam hinzu. Am nächsten Vormittag, als Embree im staubbedeckten Schulhof der Mission steht und den fernen dumpfen Einschlägen von Haubitzengranaten lauscht, gesellt sich Bernard Petter zu ihm. »Was geht Ihnen durch den Kopf?« fragt Petter vorsichtig. »Eigentlich denke ich gerade an etwas, was ich vor Jahren hörte. In Loyang gibt es einen Park mit so herrlichen Päonien, daß es sich lohnt, unter Einsatz seines Lebens hinzufahren und sie anzusehen. Entschuldigung. Sie haben die Belagerung gemeint. Nun ja, die Granaten 818
schlagen heute vormittag in größerer Nähe ein. Vielleicht bleibt uns noch eine Woche. Vielleicht auch weniger.« »So wie Müller sich abgesetzt hat, sollten wir es nicht machen«, sagt Petter. »Wie denn?« »Einfach über den Gelben Fluß. General Chen Yi nimmt jeden, der kommen will, mit offenen Armen auf.« »Sie meinen Kuomintangdeserteure?« »Ich spreche von Soldaten, die nicht mehr für den Imperialismus kämpfen wollen.« Nach einer Weile fährt er fort: »Ich gehe heute nacht hinüber auf die andere Seite. Wollen Sie mitkommen?« »Sie meinen, hinüber zu den Kommunisten?« »Ich bin mir durchaus bewußt«, sagt Petter mit übertriebener Gemessenheit, »daß Sie nicht an den Kommunismus glauben, aber ich bin auch überzeugt, daß Sie ein Mann mit Prinzipien sind. Im Unterschied zu Müller oder zu den Engländern. Wir brauchen mehr Männer wie Sie, Männer, die der Welt klarmachen können, was sich hier abspielt.« Was für eine langweilige Predigt, denkt Embree, lächelt aber weiterhin den jungen, schmalgesichtigen Franzosen an, der verzweifelt seinem Erbe davonzulaufen versucht. »Ich will es mir überlegen«, sagt Embree. »Ich setze mich um Mitternacht ab. Punkt Mitternacht. Soviel ich höre, ist die Sache nicht sehr gefährlich. Die Nationalisten interessiert nicht, was wir treiben.« »Es ist nicht das Gefährliche daran, was ich mir überlegen muß.« Den ganzen Tag spaziert Embree durch die Stadt und schnappt dabei Fetzen von Gerüchten auf, während der Lebensrhythmus vor dem Ende schneller wird. Es hat des 819
Vordringens der Roten in die Vorstädte bedurft, um die Einwohnerschaft aus ihrer Lethargie aufzurütteln. Flugzeuge landen und starten, bringen Nachschub und fliegen Menschen aus. Flüchtlinge strömen dem Nordtor entgegen, während über dem Nordwesten dichter schwarzer Rauch aufzusteigen beginnt. Keine Woche mehr, schätzt Embree. Nur noch ein einziger Tag. Als Embree in das Schulhaus zurückkommt, stellt er fest, daß die Engländer fort sind. Als sie an diesem Nachmittag die Möglichkeit zum Ausfliegen bekamen, machten sie sich binnen weniger Minuten auf den Weg und nahmen auch ihr Schachbrett mit. Damit sind nur noch drei Ausländer in dem Schlafsaal übriggeblieben. Als Embree gemächlich durch den Flur und an dem winzigen Waschraum vorbeigeht, hört er hinter der geschlossenen Tür sonderbare Töne. Es ist Gopal Tilaks Stimme – er singt. Was das Singen so sonderbar macht, ist das Bewegende seines tiefen Baritons, der klagende Ton. Das erinnert mich an die Inder, die ich kennengelernt habe, denkt Embree. Es ist ein Gedanke voller Zärtlichkeit. Sie können das Leben abtun, das Leben und den Tod mit einem Achselzucken, einem Lied, einem Spritzer Wasser beiseite schieben. Sie können mit einem Achselzucken ein Gefühl abschütteln, als hätten sie es nie empfunden. Und dazu sind sie, sie allein, imstande, weil es für sie eigentlich kein Morgen gibt – es gibt nur den gegenwärtigen Augenblick und Gott. So denkt auch Rama. Er schaut aus seinen großen, klaren Augen in die Welt, als sähe er sie zum erstenmal. Er lebt im Augenblick, in diesem Augenblick jetzt und tritt dann 820
rein und unverdorben wie ein neugeborenes Kind in den nächsten, und jeder neue Augenblick löst sich von den vergangenen. Was ist Schmerz, Leiden, was der Tod? Alles Dinge von gestern oder von morgen. Alles kehrt zurück, was also ist der Unterschied? Gott hat schon ein Auge auf alles. Und so macht der Inder, wie Embree es sieht, eine ganz besondere Reise durchs Leben. Er balanciert auf jedem einzelnen Augenblick wie ein Mann, der über dahintreibende, abbröckelnde Eisschollen geht, jedes Stück ohne Verbindung mit den anderen Eisschollen, die vorüberschwimmen. Indien, sinnt Embree, hat keine Zukunft. Der Gedanke trifft ihn wie ein Hieb. Indien hat keine Zukunft, nicht in dem Sinn, wie Nationen und Völker sich im allgemeinen ihre Zukunft ausmalen. Indien kennt die Idee des Fortschritts nicht. Nicht einmal Gandhi kannte sie. Jedenfalls sieht es Embree so, jetzt, in diesem Augenblick, da er Gopal Tilaks Singen noch im Ohr hat. Und vielleicht hat ihn das näher kommende Geschützfeuer wieder auf die Zukunft gebracht, von Gott fortgeführt. Denn der Kanonendonner bedeutet: morgen. Er kehrt in die Missionsschule zurück und blickt auf die weiße Wand, ohne sich mit geschlossenen Augen davor hinzusetzen. Die Chinesen dagegen, denkt er, haben eine Zukunft, und diese Zukunft ist hier auf der Erde. Sie sind zu sehr mit dieser Zukunft beschäftigt, um sich viel um Götter und das nächste Leben zu kümmern, wenn es denn eines gibt. Ihnen kann geholfen werden, irgendwohin zu gelangen. Solch praktisch denkenden Menschen ist zu helfen. Den Indern hingegen, ganz Musik und Seele, kann niemand helfen, nicht einmal sie selbst vermögen es. Die Wand anstarrend, beschließt er, sich nicht davor hinzusetzen. Das ist nicht mehr seine Welt, war es 821
niemals. Vor dem Abendessen sucht er Bernard Petter im Speisezimmer auf. »Also schön«, sagt er, »ich komme mit.« Eine Stunde nach Mitternacht stehen sie am Ufer des Gelben Flusses. Nur dreimal sind sie von Wachtposten aufgehalten worden. Zwei winken ihnen, weiterzugehen, da sie erkennen, daß es sich um Ausländer handelt. Petter besticht rasch den dritten Posten (wobei er wie ein argwöhnischer reicher Mann Embree den Rücken zudreht, damit dieser nicht sehen kann, wieviel er herausrückt). In der mondlosen Nacht hören sie von unten, wie Wasser gegen das Ufer schwappt. Plötzlich flackert ein Licht auf, in dessen Schein sich schwach die Umrisse eines mit Jutesäcken und Tuchballen beladenen Flachbootes abzeichnen. Ein Dutzend junger Männer drängt sich auf dem Schanzdeck zusammen – fahnenflüchtige Kuomintangsoldaten. Selbst eine halbherzige Überwachung des Flusses durch Patrouillenboote könnte solche Desertionen verhindern, doch die Nationalisten sind inzwischen zu sehr in Panik, um sich darum zu kümmern, daß einzelne Soldaten bar aller Disziplin nur versuchen, ihre Haut zu retten. Die Roten haben diesen Abschnitt des Gelben Flusses ganz bewußt von der Beschießung ausgespart. »Ich habe Freunde drüben auf der anderen Seite«, sagt Bernard Petter großspurig. »Sie weiden uns helfen. Es lebe die Revolution.« Der arme Narr, denkt Embree. Petter ist sich nicht bewußt, daß der Krieg, in dem er kämpfen will, in Wirklichkeit der Erinnerung an seinen Onkel, den Erfinder, gilt, der ihm mehr Verantwortung hinterlassen 822
hat, als er zu bewältigen vermag. Durch diesen Schritt, überlegt Embree, entferne ich mich noch weiter von Schanghai, von meinem Gewissen, von Sanuk. Aber er geht hinab ins Dunkel, dem schwachen Flackern der Laterne folgend, die jemand im Heck des Flachbootes hochhält. Im Schulhaus ist jetzt nur noch Gopal Tilak und wartet auf die kommunistischen Eroberer. Er sitzt an einem Tisch, allein mit seinen Klagen, die keiner hört, mit der Quittung für eine bezahlte Güterwagenladung verrottenden Mehls in der geballten Faust. Und zum Trost bleiben ihm nur fromme Lieder, die er vor langen Jahren im Bombay seiner Jugend lernte.
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I
n den vier Monaten seit dem Abstieg vom T’ai-schan hat Ho Jin-shi, der »Goldene Drache von Bangkok«, viel erlebt. In Begleitung der beiden Teochiu sprechenden Infanteristen aus Südchina stolperte er in der Dunkelheit das letzte Stück Wegs abwärts, und vor Tagesanbruch verließ er zusammen mit ihnen Taian. Sie machten sich zu Fuß zu einem Militärlager außerhalb von Yangchou auf, wo Ho dem Gruppenführer der beiden Soldaten von seiner wichtigen Mission berichtete. Außerstande, die Bedeutung des Briefes zu ermessen, den Ho bei sich trug, schickte der Gruppenführer ihn weiter zum Bataillonskommandeur. Dieser junge Mann hatte noch nie etwas von Pridi und kaum von Siam gehört, doch das Geheimnisvolle an diesen exotischen Namen veranlaßte ihn, Ho zusammen mit einem der Teochiu sprechenden Infanteristen per Bahn zum Hauptquartier der Dritten Armee in Chining zu schicken. Dort wartete Ho in einem Regimentslager eine volle Woche, bis dann aus Hsipiap’o Weisung eintraf, ihn weiterzuschicken nach Linch’ing nahe der Grenze zwischen Hopei und Schantung. Wieder von seinem Dolmetscher begleitet, stieg Ho in einen Güterzug. Durch die offene Tür eines Güterwagens, in dem Getreide und Kohlköpfe für die Dritte Feldarmee unterwegs waren, blickte er hinaus zu Bauern, die knietief in der Krume ihrer Felder standen. Er wußte nicht, was sie ernteten, da er ein Junge aus der Stadt war. Yu-ying war ohne Zweifel noch immer irgendwo in dieser Gegend, die jetzt hinter ihm lag, suchte nach ihrem 824
Vater und zog mit einem Amerikaner herum, weil er eben Amerikaner war und weil diese Leute in China Einfluß besitzen. Mit einer Frau zu reisen verlangt Zeit und Geduld – und beides hatte er nicht, wenn er mit einer Mission betraut war. Später würde er sie schon irgendwie wiederfinden und sich zurückholen. Nicht, daß sie ihm bis zu jenem Zeitpunkt treu gewesen wäre. Frauen sind nie treu, obwohl er sich keine Sorgen zu machen brauchte, daß der Amerikaner sie berühren könnte. Der Mann war zu alt und außerdem ihr Vater, der Ehemann ihrer Mutter. Von ihm würde sie sich bestimmt nicht berühren lassen. Gestärkt von dieser Lageanalyse blickte Ho hinaus auf die Felder. In Linch’ing beschloß der Stab der Volksbefreiungsarmee, ihn mit seiner Nachricht, deren Siegel noch nicht gebrochen war, weiterzuschicken. Ein anderer Zug brachte ihn auf einem Schmalspurgleis nach Techou und wieder ein anderer, ein Militärzug auf Breitspur, in die Stadt Shihchuachuang. Dort schickte ein Offizier Ho und seinen Dolmetscher, Lu Ting-fang, auf einem Lastwagen zu einem Ort namens Hsipiap’o in der Nähe von Pingshan. Von dieser kleinen Stadt mit ihrer staubigen Luft aus leiteten Tschu Teh und Mao Tse-tung den Feldzug der Volksbefreiungsarmee in Zentralchina. Wieder einmal warteten Ho und Lu in einer überbelegten Kaserne nahe dem Bahnhof. Fast eine Woche lang beobachtete der junge Mann aus Bangkok Tag und Nacht, wie die Offiziere und Soldaten, die an ihren Blusenkragen keine Rangabzeichen trugen, hinter den motorisierten Fahrzeugen hertrotteten. Sie sahen alle flaschenförmig aus in ihren Uniformen, die an Hüften und Gesäß weit waren, während die Hosen die Knöchel eng umspannten. Dies ließ die Füße klein wirken, fast zu zierlich, um die graue 825
Masse darüber im Gleichgewicht zu halten. Er gewöhnte sich daran, daß die Chinesen immer an irgend etwas herumkauten, oft an einem Kanten Brot so groß wie ein Totenschädel, von dem die weißen Zähne ein Stück abbissen und methodisch zerkleinerten. Zigaretten, Tee, auf dem die Blätter schwammen, und Brotstücke. Das waren die Chinesen, und in ihrer Gegenwart kam er sich wie ein Fremder vor, mehr noch als bei seiner Ankunft in diesem Land. Vielleicht machte es ihm die anderen Menschen stärker bewußt, daß Yu-ying nicht bei ihm war. Vielleicht kam erst mit der Zeit das Gefühl des Unerwünschtseins, während er so sehr wünschte, akzeptiert zu werden. Jeden Tag fand sich Ho, begleitet von dem immer gut aufgelegten und geduldigen Lu, im Wartezimmer des Hauptquartiers ein und fragte nach Nai Pridi Phanomyong, dem ehemaligen siamesischen Ministerpräsidenten und Freund des chinesischen Volkes. Eines Morgens, bei Tagesanbruch von einem Offizier der Volksbefreiungsarmee aus dem Bett geholt, wurden er und sein Dolmetscher in einen Zug gesetzt, der nach Süden fuhr. Bestimmungsziel war Handan, wo sich einige »ausländische Freunde« aufhielten. Diesmal wurde Ho bei der Ankunft abgeholt von einem mageren kleinen Mann, der die Uniform eines siamesischen Marineoffiziers trug. Erst als der Mann ihn in Thai anredete, wurde Chamlong bewußt, wie sehr ihn schon seit vielen, vielen Tagen das Heimweh quälte. Die Aussicht, Pridi zu begegnen, versetzte Chamlong so in Aufregung, daß er kaum wahrnahm, wie er in das Haus und dann in das kleine Zimmer gelangte mit dem ausladenden Sofa, den Stühlen und dem Tisch mit Marmorplatte. Die Tür öffnete sich, und der Marineoffizier erschien mit einem anderen Mann, der eine schlichte chinesische Uniform trug. Er war von stämmiger 826
Figur, trug einen Borstenhaarschnitt und hielt eine Zigarette in der Hand. Chamlong sprang hoch und brüllte: »Chaophraya!« – die ehrerbietigste siamesische Anrede, abgesehen von der für den König. Pridi nickte, zog paffend an der Zigarette, kramte in seiner Uniformjacke und zog ein zerknittertes Blatt Papier heraus. »Ist das alles?« »Ja, Chaophraya!« Der Exilpolitiker blickte seinen Adjutanten an. »Kümmern Sie sich darum.« Und ehe Chamlong auch nur eine Chance hatte, noch einmal »Chaophraya« zu brüllen, war Nai Pridi Phanomyong schon aus dem Zimmer. »Kannst du lesen?« sagte der Marineoffizier streng. »Ja.« Doch es fiel Ho schwer, den Sinn dieses Briefes des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Siams an Seine Exzellenz Nai Pridi Phanomyong zu erfassen: Lauter Lobpreisungen der Tugenden des ehemaligen Ministerpräsidenten, eingehende Versicherungen, daß seine Anhänger in Siam auf den Tag seiner Rückkehr hofften, und noch eine blumige Floskel zum Schluß. Das war alles. Ho blickte fragend zu dem Adjutanten auf. »Was soll das bedeuten?« »Daß man dich den ganzen Weg hierhergeschickt hat, um Komplimente zu überbringen.« Chamlong blickte auf seine Füße und dachte nach. »Komplimente? Was bedeutet das?« wiederholte er leise. »Es bedeutet, daß du jetzt wieder gehen kannst.« Der Marineoffizier machte eine ungeduldige Handbewegung, als wollte er ein Kind loswerden. »Geh jetzt. Geh!« 827
Draußen vor dem Haus, wo Lu auf ihn wartete, stellte Ho sich immer wieder die Frage: Was hatte das alles zu bedeuten? Schweigend ging er mit Lu zurück zu dem Schuppen, wo ihr Quartier war, und plötzlich traf ihn mit voller Wucht die schreckliche Erkenntnis: Seine Freunde in Bangkok hatten den Brief dazu benutzt, sich seiner zu entledigen. Sie hatten ihn mit nichts als ein paar nichtssagenden Komplimenten auf einem Blatt Papier aus dem Land geschickt, und der große Pridi hatte ihn, statt ihn zu belohnen, voll Verachtung abgewiesen. Er fühlte sich beschämt und gedemütigt. Es war nur ein Trick gewesen, ein übler Scherz! »Fühlst du dich wohl, mein Freund?« fragte Lu. »Ich? Aber natürlich, außer …« Und auch diese Erkenntnis traf ihn wie ein Hieb. »Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll. Ich weiß nicht, wohin ich gehen oder was ich machen soll.« Das war vor vier Monaten. Heute hat er etwas zu tun, nicht allerdings Lu, sein Freund, denn Lu ist tot. Lu hat ihn überredet, sich der Volksbefreiungsarmee anzuschließen, weil er sonst keine Aufgabe hatte. Als die Verzweiflung ihn übermannte, stand Lu neben ihm und sagte in einem flammenden Appell: »Du bist genauso wie ich aus dem Süden hierhergekommen, um für die Befreiung zu kämpfen!« Auf dem Weg zu Lus Einheit marschierten sie ein paar Tage nordwärts, in Richtung auf Tsinan, das unter Belagerung stand. Dann, als sie die Nachricht vom Fall Tsinans erreichte, wandten sie sich zurück nach Süden. 828
Er war mit Yu-ying in Tsinan gewesen. Tsinan war also gefallen, und Yu-ying war vielleicht noch immer auf den Spuren der Geschichte ihres Vaters unterwegs. Wenn sein eigener Vater ein General gewesen wäre, würde er vielleicht ebenso handeln. Aber sein Vater tat nichts anderes, als Geld zu horten in Tresoren, die nur aufgeschlossen wurden, wenn eine Konkubine Klunker wollte. Ho beneidete Yuying um ihren Vater, und eine Zeitlang überlegte er sogar, ob er ihn sich als seinen eigenen zulegen solle. Er könnte seinen neuen Kameraden weismachen: »Mein Vater war ein General – der auch in dieser Provinz hier kommandierte.« Allerdings könnte er keine Antwort geben, wenn sie ihn ausfragen sollten. Das Verlangen, mit dieser verrückten Lüge anzugeben, legte sich, nachdem er zum erstenmal im Feuer gestanden und sich bewährt hatte. Nun hatte er einen General als Vater nicht mehr nötig. Dann, letzte Woche, wurde Lu bei einem Scharmützel mit nationalistischen Truppen von einem Schrapnellsplitter in den Bauch getroffen. Es gab nicht genug Träger, die mit ihren Schulterstangen die Verwundeten wegschaffen konnten. Ho bat einen anderen Soldaten inständig, zusammen mit ihm Lu zu einem Verbandsplatz zu tragen. Zum Glück konnte der Mann Lu gut leiden, erklärte sich dazu bereit, und gemeinsam brachten sie den kleinen Teochiu dorthin, wo die in Decken gehüllten Verwundeten zwischen leeren Kisten und trocknenden Blutlachen lagen. Ho konnte keinen Arzt herbeiholen, da es auf dem ganzen Verbandsplatz nur einen einzigen gab. So kniete er sich einfach neben Lu und wartete. Die Sonne zog langsam dem Horizont entgegen, während Lu heftig atmete. Allmählich überkam Ho das sonderbare Gefühl, daß die Bewegung der Sonne über Lus Leben bestimmte 829
und daß er sterben würde, wenn sie unterging. So geschah es dann auch. Als im Westen nur noch ein paar letzte Strahlen zu sehen waren, packte Lu Hos Hand – sie hatten den ganzen schrecklichen Nachmittag kaum ein Wort miteinander gesprochen – und sagte: »Chuchin, hol mir Wasser. Ich habe Durst.« Das war das letzte, was er sagte, bevor er starb. Er hatte Ho gegenüber nie eine Frau erwähnt, doch in seinem letzten Augenblick hauchte er den Namen einer Frau. Ho mußte an Yu-ying denken. Irgendwann in naher Zukunft, dachte er, werde ich sie wiederfinden. Dann kamen ein paar Männer her, hoben Lu an Händen und Füßen hoch und trugen ihn weg zu einem Massengrab. Ho raffte sich auf und erinnerte sich an ein altes Sprichwort: Gelbes Gold gibt es im Vergleich zu weißhaarigen Freunden im Überfluß. Wäre Lu am Leben geblieben, dann wären sie das geworden – Freunde bis ins hohe Alter. Denn ich werde nicht sterben, sagt Ho sich. Seit seinem Eintritt in die Armee weiß er insgeheim, daß er den Krieg überleben wird. Er hat ein Gewehr, zwei Handgranaten, acht Ladestreifen Munition, eine Decke, eine Reisschüssel, Eßstäbchen und einen Tornister. Damit wird er überleben. Das ist sein streng gehütetes Geheimnis. Schon bald findet Ho einen neuen Freund, der Teochiu lernte, als er in Südchina gegen die Japaner mitkämpfte. Lao Chang begann seinen Kriegseinsatz vor zehn Jahren bei T’aierhchuang – einer der wenigen Schlachten, in denen die Chinesen während des Zweiten Weltkriegs siegreich blieben. Diese Auszeichnung verschafft ihm jetzt 830
auch in der Befreiungsarmee Respekt. Lao Chang ist von gedrungener Statur und allzeit hungrig. Aus väterlichem Wohlwollen hat der Ältere Ho unter seine Fittiche genommen. »Ich mag dich«, sagte Lao Chang und lachte dröhnend dazu. »Du siehst aus wie ein Vogel mit einem gebrochenen Flügel.« Ho folgt Chang überallhin und beginnt, von ihm ermuntert, Mandarin zu lernen. Chang besorgt ihm ein Buch, aus dem Kinder ihre Schriftzeichen lernen. Es wurde vor einigen Jahren von General Feng Yü-hsiang in gereimten Sätzen aus je drei Schriftzeichen geschrieben und trägt den Titel Wehrt euch gegen Japan. Ho lernt so gut, daß er bei einer politischen Versammlung, die stattfindet, als seine Einheit auf ein paar Tage aus dem Kampfgeschehen genommen wird, aufstehen und mit lauter Stimme erklären kann: »Mein Vater war ein kapitalistischer Grundbesitzer! Ich bin ihm davongelaufen! Es lebe die Revolution!« Das Bekenntnis wird ihm mit einer Beifallssalve gelohnt, die ihm Tränen des Stolzes in die Augen treibt. Er wünscht, sein Vater könnte ihn jetzt sehen, einen der Tapferen Chinas. Mit Chang als Dolmetscher traktiert er seine Kameraden mit zotigen Geschichten aus Siam, mit lustigen Schwanken aus den Seitengäßchen Bangkoks. Zu Hause nie als ein witziger Kopf bekannt, erwirbt sich der junge Mann nun bei den bäuerlichen Soldaten Chinas diesen Ruf. Das Soldatenleben gibt Ho Jin-shi auch die Chance, wieder dem Glücksspiel zu frönen. Er schlägt das Yu-ying gegebene Versprechen in den Wind, daß er nie wieder spielen werde. Einige seiner Kameraden haben Mah831
Jongg-Steine dabei, und wenn Ho das Klicken hört, kommt er sofort angelaufen. Er spielt auch Fantan und lernt, auf kämpfende Heuschrecken zu wetten. Sobald man zwei davon in eine Schüssel setzt und erregt, ist Ho dabei und ergeht sich über ihre Fähigkeiten mit Kennermiene. Von wirklichen Kämpfen hat er noch nicht viel mitbekommen, abgesehen von ein paar Scharmützeln wie dem Gefecht, bei dem Lu getötet wurde. Dennoch hat er an sich einen Mut festgestellt, wie er ihm bisher noch nicht bewußt war. Das ist es, was ihm die Armee gibt – er fühlt sich jetzt wohl in seiner Haut. Und sie gibt ihm noch mehr: Kleidung, Verpflegung, Freundschaft und Ideen. Aus Einzelideen setzt er sich nun die große Idee des Kommunismus zusammen, worauf er in Bangkok nie gekommen wäre. Der Kommunismus ist alles – er ist gut gegen das Böse, er ist eine göttliche Mission, vollkommene Hingabe des Ichs an die Sache. Er verlangt, daß man einen besseren Menschen aus sich macht, er bringt Helden hervor wie Mao Tse-tung und Tschu Teh und die Generäle, unter denen Ho selbst dient – Liu Po Ch’eng und Chen Yi. Er lernt die »drei Hauptregeln der Disziplin« auswendig: Gehorche den Befehlen, stehle nicht, liefere Beutegüter ab. Ein grausamer Scherz in Bangkok, sinnt Ho Jin-shi, hat ihn seiner Erlösung zugeführt. Selbst die Schwierigkeiten mit der Sprache sind sozusagen zu einem Segen geworden, denn die Isolation läßt seine eigenen Gedanken zur Geltung kommen. Seine Gedanken gefallen ihm und auch das, was seine Augen ihm von der Welt erzählen. Für die Chinesen ist China die Welt, und weil er ein Chinese ist, sieht er nun endlich auf dem Marsch durch das Land, auch die Welt. Während die Dritte Feldarmee langsam nach Süden 832
vordringt wie ein sich schlangelnder Bach auf die strategisch wichtige Stadt Sütschou zu, lernt der junge Mann aus Siam, wie es im Norden Chinas aussieht und wie die Menschen dort leben. Es dauert seine Zeit, bis er sich an die Geometrie der Zentralebene gewöhnt. Schnurgerade ziehen sich die Straßen dahin, erbarmungslos weiter und weiter. Sie verweigern dem Reisenden jede Biegung, jedes Hindernis und damit jede Illusion, die Reise könnte kürzer sein, als sie tatsächlich ist. Wenn Ho bei Tagesanbruch blinzelnd über die Kleefelder und die Reihen hochgewachsener Pappeln in die Ferne blickt, kann er schon den Horizont sehen, den sie am Abend erreichen werden. Es wird kälter. Die in der Landschaft verteilten Bauwerke sind nur einstöckig und wirken eher breit als hoch – anders als die siamesischen Pfahlhäuser: Sie klammern sich an den Boden, als ängstigten sie sich vor dem frostigen Wind aus der Mandschurei, der einen stechenden Staub, dicht wie eine Mauer, mit sich bringt. Ho beginnt zu verstehen, was Lao Chang ihm mitteilt. »Der alte Weise, Konfuzius, wurde einmal gefragt, welche drei Dinge zum Herrschen notwendig sind. Der Weise antwortete: ›Essen, Glaube und Waffen.‹ Und auf welches kann man notfalls verzichten? Darauf gab Konfuzius die Antwort: ›Auf die Waffen.‹ So ist Mao auch. Er gibt uns Essen und einen Glauben, doch keine Waffen.« »Aber ohne Waffen kann er dir doch kein Essen verschaffen oder den Glauben vermitteln, daß er ein guter Anführer ist«, wendet Ho ein. Lao Chang schüttelt den Kopf. »Du verstehst nicht. Er sorgt dafür, daß wir etwas zu essen bekommen und gerecht behandelt werden. Dann kommen die Waffen ganz von selbst.« 833
»Aber wie?« »Wir nehmen sie dem Feind ab. Der alte Weise hat oft gesagt, was ein Volk braucht, ist ein guter Anführer. Wir haben einen, und die anderen haben keinen. Deshalb gewinnen wir auch. So einfach ist das.« Jeden Tag wird Ho durch irgend etwas an Mao Tse-tung erinnert. Unbeholfen gezeichnete Bilder von ihm schmücken die Fahnen der Einheiten. Einmal sah er auf einem Rangierbahnhof ein Konterfei Maos auf einem Baumwolltuch, mit dem der Dampfkessel einer schadhaften Lokomotive drapiert war. Und allabendlich singen die Soldaten an den Lagerfeuern revolutionäre Lieder. Eines davon kann Ho bereits herzhaft mitsingen, zumindest die erste Strophe: Die Sonne geht rot im Osten auf. Die Erde hat uns Mao Tse-tung geschenkt. Er kämpft für das Wohl des Volkes. Ai! Ya! Yo! Er ist Chinas Erlöser. Lao Chang erklärt ihm vieles. Er kann lesen und schreiben und hat ein beinahe vollkommenes Gedächtnis. Schmatzend an einem Weizenbrötchen knabbernd – der Bauch spannt sich über dem Strick, der seine verwaschene graue Hose hält –, erzählt er Ho von den alten Zeiten noch vor der Invasion der Japaner. Seinerzeit herrschten die Schildkröteneier (so nennt er die Grundbesitzer) mit einer Brutalität über diese Provinz, mit der es nicht einmal die Japaner aufnehmen konnten. »Die Schildkröteneier haben Menschen bei lebendigem Leib begraben. Wenn man seine Schulden bei einem Schildkrötenei nicht zahlte, ließ er einen ermorden. Hatte keinen Sinn, beim Polizeirichter Schutz zu suchen, weil 834
das Schildkrötenei selbst der Polizeirichter war oder aber sein Bruder oder Vetter. Wegen irgendeiner alten Schuld wurde man eingegraben. Oder weil man seine hübsche Tochter nicht an ihn ausliefern wollte. Man mußte die halbe Nacht durch graben, und wenn das Loch so tief war, daß der Kopf nicht mehr bis an die Oberfläche reichte, begannen sie, einem das ausgegrabene Erdreich auf den Kopf zu schaufeln. Es war vergeblich, hinauszuklettern. Sie prügelten einen mit der Schaufel zurück und füllten das Loch bis oben hin. Als ich noch ein Kind war, dachte ich oft mit Schrecken daran.« Er erzählt Ho, daß er sich der »Geheimgesellschaft vom roten Speer« anschloß. Bei einem ihrer geheimen Rachezüge gegen Grundbesitzer habe er mehrere Schildkröteneier umgebracht. Nichts im Leben habe ihm größeren Spaß gemacht, als zuzusehen, wie sie zappelten und quiekten, während er sie abstach. Dann erzählt er Ho, daß er sich, als die Japaner kamen, abgesetzt und der Achten Feldarmee angeschlossen habe. »Wir haben in kleinen Gruppen gekämpft. Bataillone wie heute gab’s damals nicht – nur ein Anführer und ein paar Männer. Heute haben wir hin und wieder Verbandszeug, Watte und Pillen und Pinzetten, um Kugeln rauszuholen, und Faden, um Wunden zu nähen, aber wenn man damals einen Kopf- oder Bauchschuß abbekam, lag man da und krepierte. Die Kameraden konnten keine Kugel für einen erübrigen. Und sie brachten es auch nicht fertig, einen Mann, den sie kannten, zu erstechen oder einen alten Kumpel zu erdrosseln. Aber wenn man schreckliche Schmerzen hatte, versuchte man, irgendeinen Kameraden zu bewegen, einen davon zu erlösen. Aber wer dazu bereit war, hätte dann auch in einem andern Fall herhalten müssen. Also mußte man es meistens bis zum bitteren Ende durchstehen. Oder aber man hatte das Glück, daß 835
eine japanische Patrouille daherkam. Sie erschossen die Verwundeten oder erstachen sie mit dem Bajonett.« Dann wechselt er das Thema und fragt Ho nach seinem früheren Leben in Siam. Seltsamerweise kann Ho ihm kleine klaren Antworten geben. Der Süden und sein träger Charme entziehen sich seiner Erinnerung. Im Geist sieht er jetzt Siam als ein grünes, formloses Schemen. Die Wirklichkeit für ihn ist jetzt dieses flache Land des Nordens, das ihm mit jedem Tag des Marsches sein Geheimnis enthüllt. Er hat bei fallender Temperatur sogar seinen ersten Rauhreif gesehen. Nein, über Siam als Land kann er nichts sagen, aber er berichtet Lao Chang, daß die siamesische Regierung gegen die Chinesen sei. Er vermengt die Erinnerung an seinen Vater mit dem, was er über Phibun weiß, und für ihn sind beide Männer ungerecht und tyrannisch. »Also, meine Mutter war eine Siamesin, und das bedeutet, daß ich nicht in das chinesische Heim meines Vaters gehörte. Ich war mir unserer chinesischen Ahnen nie so gewiß, wie mein Vater es war. Er verbrannte Papier für sie und sagte, die Ahnen sähen zu, wie der Rauch davon aufstieg. Ich gehörte irgendwie dazu und doch auch wieder nicht. Ich glaubte, daß die Ahnen mich hassen, weil ich siamesisches Blut habe. Ich glaube es noch heute.« »Glaub nichts davon. Hier kannst du deine Ahnen vergessen.« »Mein Vater und meine Ahnen haben mich also wegen dem Siamesischen an mir übel behandelt. Und die Siamesen haßten das Chinesische an mir. Als Pridi Ministerpräsident war, ging es einem als Chinesen noch gut. Damit ist es vorbei.« 836
Lao Chang nickt ernsthaft. »Hier bist du besser dran.« Davon ist Ho überzeugt, nur daß ihm manchmal Yu-ying durch den Kopf geht. Eines Tages wird er sie sich zurückholen, weil … ja … weil Sanuk ihm besser gefällt als irgendein anderes Mädchen, das er sich vorstellen kann. Er stand einmal im Wat Phra Keo vor dem Smaragdbuddha mit geschlossenen Augen und legte einen Eid ab, obwohl er niemals an Buddha geglaubt hat. »Ich liebe diese Frau und verspreche, sie immer zu lieben.« Auch vor ihr selbst hat er dieses Gelöbnis abgelegt. Was kann eine Frau mehr verlangen? Ja, eines Tages, sagt er sich, werde ich sie mir zurückholen. Inzwischen sammeln sich die Einheiten und setzen sich rasch in südlicher Richtung in Marsch. Allerdings behauptet Lao Chang, ihr Tempo sei nicht besonders schnell. »Wenn General Chen Yi wirklich rasch an ein bestimmtes Ziel kommen will, wirst du erst merken, was marschieren heißt. Im Augenblick ziehen wir nur gemütlich dahin.« Zu beiden Seiten der Felder sieht Ho nun, wie sich Kolonnen nach Süden bewegen und im kalten Novemberlicht zu einer anschwellenden grauen Flut zusammenströmen. Die Dritte Feldarmee im Osten und die Zweite im Westen ziehen über die brachliegende Landschaft. Ein Soldat kommt mit einer Neuigkeit an. »Mukden ist gefallen.« Als Lao Chang ihm die Nachricht übersetzt, starrt Ho in die Ferne. Er hat noch nie von Mukden gehört. Weit weg funkelt etwas auf – etwas mit Glas darin? Ein Fernrohr? Eine Brille? Die Windschutzscheibe eines Lastwagens? »Sind das da vorne die unseren?« fragt Ho atemlos. »Nein, das ist der Feind«, antwortet Lao Chang, und in 837
diesem Augenblick befiehlt ihnen der Gruppenführer, in geduckter Haltung vorzurücken. Ihre Schritte auf der verkrusteten Erde verursachen knirschende Geräusche, die schon bald im Geknall von Handfeuerwaffen und dann im Donner von Geschützen und dem Pfeifen von Granaten untergehen. Ho bewegt sich mit seiner geheimen Gewißheit vorwärts: Wenn es zur Schlacht kommt, werde ich nicht sterben. Ein paar Tage nach der Einnahme von Mukden durch die Kommunisten wurde Harry S. Truman zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt. Ho Jin-shi weiß nichts davon, und ebensowenig ahnt er, daß seine Einheit zusammen mit anderen Verbänden einer der blutigsten und folgenschwersten Schlachten des chinesischen Bürgerkriegs entgegengeht. Zwei Monate lang werden eine Million Männer im Schlamm und Schnee um die Stadt Sütschou – Knotenpunkt an der von Ost nach West verlaufenden Lunghai-Bahnlinie – miteinander ringen. Generäle aus Tschiang Kai-scheks Stab haben dem Generalissimus dringend geraten, sich nicht hier den Roten zu stellen, sondern die Truppen südwärts zum Yangtse zurückzunehmen, was die Nachschublinien verkürzen würde. Statt dessen holt Tschiang Armeen aus dem Süden und unterstellt sie Tu Yu-ming und Liu Chi, die beide erst jüngst in der Mandschurei Niederlagen einstecken mußten. Als Kommandeure im Feld teilt er ihnen Generäle zu, die der Whampo-Clique angehören. Sie weigern sich, miteinander zu kooperieren, und bestehen hartnäckig darauf, sich individuell an den Generalissimus zu wenden, statt sich an die Befehlskette zu halten. Was Ho und Lao Chang und die Tausende, die dem Schauplatz der Konfrontation, der Ebene um 838
Sütschou, entgegenstapfen, nicht ahnen können, ist Tschiangs Entschlossenheit. Dort will er um jeden Preis – an Männern wie an Kriegsmaterial – mit den letzten seiner neununddreißig von den Amerikanern ausgerüsteten Elitedivisionen den Roten standhalten. An dieser Einfallspforte nach Südchina erwartet fast eine halbe Million Kombattanten der Tod, die Verwundung oder Gefangennahme. Tage später wird Ho Jin-shis Bataillon aus der Frontlinie genommen. Es schneit. Am Straßenrand liegen zwei tote nationalistische Soldaten. Dem einen fehlt der Kopf. Ho hat etwas Neues gelernt. Wenn einem toten Mann kein Körperteil fehlt, sieht er tot aus. Ist er dagegen verstümmelt, wirkt er wie eine auseinandergebrochene Maschine, jeder abgerissene Körperteil wie irgendein Ding, Teil einer Maschinerie. Das und noch mehr hat er gelernt. Zum Beispiel, daß sein Geheimnis eine Einbildung ist. Er erfuhr es bei dem ersten schweren Gefecht, an dem er teilnahm. Ein Offizier pfiff auf einer Pfeife, und die ganze Reihe der Männer begann über den narbigen Grasboden zu laufen. Er sah Kameraden taumeln und stürzen, doch sein Geheimnis war noch unversehrt, bis einer, nur eine Armeslänge entfernt, aufschrie, zu Boden fiel und sich in seinem Blut wälzte. In diesem Augenblick begriff Ho Jin-shi die Ungeheuerlichkeit dessen, was er sich vorgemacht hatte – daß er all dies wie gefeit durchstehen werde. Er hatte kein Geheimnis mehr, an das er sich klammern konnte, nun, da im Pulverrauch Männer getroffen zu Boden stürzten. Er spürte, wie er rannte, doch jeden Augenblick konnten ihm die Beine einknicken. Noch nie im Leben war seine Kehle so 839
ausgedörrt gewesen; wie etwas Lebendiges kroch ihm der Durst durch die Luftröhre. Ho war überzeugt, daß er ohne das Geheimnis hier auf freiem Feld sterben würde, wo im Kampflärm und Pulverqualm ringsherum Männer zu Boden sanken, sich schreiend mit klaffenden Wunden wälzten und um sich griffen, bis sie schließlich still dalagen. Das war das erstemal. Seitdem hat er von einem Tag zum andern gelebt ohne sein Geheimnis, zumindest ohne dieses. Dafür hat er ein anderes entdeckt: Er hat Angst, er ist feige, er spürt seine Beine nicht, wenn der Pfiff ertönt und alle hinter den Schanzen auftauchen. Und immer dieser Durst, der auch zu dem neuen Geheimnis gehört. Doch wenn sie dann eine Weile verschnaufen, ist er sonderbarerweise überhaupt nicht durstig. Er ist bloß müde und möchte eigentlich nur noch die Männer seines Trupps zählen, um sich zu vergewissern, daß sie alle lebend über das Schlachtfeld gekommen sind. Er kann nicht wissen, daß General Chen Yi, indem er den schwächeren Abschnitt der feindlichen Front nordöstlich von Sütschou angriff, die Siebente Armeegruppe der Nationalisten eingekesselt und isoliert, die nordwestlich der Stadt stehende feindliche Hauptmacht umgangen und damit praktisch die erste Phase einer Operation abgeschlossen hat, die den Gegner Zug für Zug aufsplittern und vernichten soll. Die Einheit hat sich in Maos militärischer Ausdrucksweise »auf Station zurückgezogen«, was bedeutet, daß sie für kurze Zeit aus dem Feuer genommen ist. Sie sitzen im hellen Licht der Novembersonne am Rand eines Dorfes und beobachten, wie ein paar Bauern Pferde vor ihre Fuhrwerke spannen und sich dann auf die Jutesäcke mit Weizen schwingen. Die Bauern winken zu 840
ihnen her und rufen, daß sie vorhätten, auf den Markt zu fahren. Niemand hält sie davon ab. Die Soldaten sind Kleinbauernsöhne, die wissen, daß ein Bauer pflanzen, ernten und die Ernte verkaufen muß. »Auf welchen Markt wollen sie denn fahren?« fragt Ho. Lao Chang sagt nur: »Die finden schon einen.« »Jetzt, mitten in der Schlacht?« Ho denkt darüber nach und versteht, weil er allmählich die Kleinbauern unter seinen eigenen Vorfahren versteht. Im Verlauf der Generationen müssen sie einen Weg entdeckt haben, trotz Krieg und Katastrophen ihre Erntegüter zu verkaufen. Ho staunt über ihr Talent, sich durchzuschlagen. Sie werden feilschen, während über ihnen die Granaten fauchen, und Käufer wie Verkäufer werden befriedigt davonfahren, indes in Hörweite Männer einander abschlachten. Ich verstehe, sagt Ho im stillen. So überdauert China die Zeiten. Und ich, denkt er voll Stolz, gehöre zu diesem Volk. Ein Sohn Chinas. Der junge Ho: Shao Ho. Die Atempause ist schon bald vorüber, und seine Einheit vereint sich mit anderen Verbänden der Dritten Feldarmee, um unter Chen Yis Führung südwärts zu marschieren in Richtung auf Pangpu. Von Westen her nähert sich die Zweite Feldarmee, kommandiert von Liu Po Ch’eng, der durch einen Granatsplitter das linke Auge verloren hat. Das gemeinsame Ziel beider besteht darin, die Dreizehnte Armee der Nationalisten in Sütschou von Verstärkungen abzuschneiden. Während dieser Zangenbewegung wird gut dreißig Kilometer westlich von Suhsien die Zwölfte Armee der Nationalisten unter Huang Wei isoliert und eingeschlossen. Der Generalissimus befiehlt ihm, dort Entsatz abzuwarten. Drei von Tschiang Kai-schek in Marsch gesetzte und von Tu Yu-ming kommandierte 841
Armeen, die Huang Wei beistehen sollen, werden von den Roten zurückgeschlagen. An einem frostigen Abend fragt Ho seinen Freund: »Wo sind wir jetzt?« Sie hocken dicht an dicht um ein kleines Feuer; in der Ferne sind winzige Lichtpunkte zu sehen, die Lagerfeuer von Soldaten, gegen die sie am nächsten Morgen kämpfen werden. »Ich weiß nicht. Irgendwo in Anhui. T’aierhchuang ist, glaube ich, irgendwo hier in der Gegend.« »Warst du nicht in T’aierhchuang dabei?« »Ja.« »Wann war die Schlacht?« »Einige Jahre her.« Lao Chang spuckt ins Feuer. »Fällt mir jetzt nicht ein.« »Haben die Japaner gut gekämpft?« Lao Chang nickt. »Aber dann haben wir sie überrumpelt. Ja, ich glaube, T’aierhchuang ist irgendwo hier in der Gegend.« Er kratzt sich den Kopf. »Aber man kann hinterher nicht sagen, wo eine Schlacht stattgefunden hat.« »Warum nicht?« »Man ist zu sehr damit beschäftigt, am Leben zu bleiben.« Er zieht die Schultern ein. »Es kommt auch nicht drauf an. Ich mach’ mir nie Gedanken darüber, wo ich bin. Wenn ich an die langen Kriegsjahre zurückdenke, erinnere ich mich nur noch an die Gewaltmärsche und an Männer, die umgekommen sind. Wenn man Soldat ist, sollte man sich nur an so was erinnern.« »Und wieso?« »Wenn man sich überlegt, wie die Schlacht steht oder wie eine Ortschaft heißt oder wohin der Marsch als nächstes geht, kommt man durcheinander, weil man nachdenkt. Dann versucht man zu erraten, was die Generäle vorhaben. 842
Was Generäle tun, darf einen nicht interessieren. Am Leben bleiben, nur das zählt für einen. Überlaß Chen und dem andern Kommandeur, dem Einäugigen Drachen, das Denken. Mach dich nicht damit müde, daß du nachdenkst. Ich denke gern, aber nicht im Feld. Es hat keinen Sinn, seine Kräfte mit Denken zu vergeuden.« Am nächsten Morgen brüllt ein Offizier durch ein Megaphon aus Blech zu den gegnerischen Soldaten hinüber. »Chinesen sollten keine anderen Chinesen umbringen! Kommt rüber zu uns! Wir werden euch nicht töten. Wir sind eure Brüder! Wenn es euch bei uns nicht gefällt, bekommt ihr Geld für den Zug nach Hause. Ihr wißt, daß das wahr ist. Wir machen das schon lange so. Also kommt rüber! Wir bringen euch nicht um.« Im Nebel sieht Ho Jin-shi unförmige Gestalten auftauchen, die langsam, zögernd daherkommen und die Hände erhoben haben. Erst Dutzende, dann Hunderte von Soldaten ergeben sich längs der Frontlinie. Sie frieren und haben die Gesichter mit Stoffetzen bedeckt. Vor entwaffneten nationalistischen Soldaten, die Proviant und Decken erhalten haben (zumeist ein paar Tage vorher ihren toten Kameraden abgenommen), springt an diesem Abend Ho auf und schreit ihnen zu, was ihm sein Kompaniechef eingedrillt hat: »Ich bin aus Siam, einem Land südlich von hier! Mein Vater war ein kapitalistischer Grundbesitzer! Ich bin ihm weggelaufen! Bleibt bei uns, Brüder! Es lebe die Revolution!« In den folgenden Wochen lösen zwar Regen und Schnee einander ab, was das Marschtempo der beweglichen roten Truppen bremst, aber sie haben mit ihrer Taktik der Isolierung und Umzingelung weiterhin Erfolg. Flugblätter, auf japanischen Vervielfältigungsapparaten hergestellt, 843
werden durch die Linien der Nationalisten geschmuggelt. Sie versprechen Straffreiheit und ein besseres Leben. Massenhaft kommt es zu Desertionen. Einmal geht eine ganze Division zu den Kommunisten über. Bei Yung-cheng werden General Tu Yu-mings Truppen in eine Falle gelockt und vernichtet. Der Generalissimus unternimmt einen letzten Versuch, Huang Weis eingekesselte Zwölfte Armee zu befreien; von Pangpu aus rücken die Sechste und die Achte Armee nach Norden vor, stoßen aber auf heftigen Widerstand. An diesem Widerstand beteiligt ist Ho Jin-shi, der, beladen mit Tornister, Gewehr und seiner geheimen Furcht, voranstapft. Was Lao Chang ihm sagte, hat sich als wahr erwiesen: Er erinnert sich nur an die Gewaltmärsche und an Männer, die gefallen sind. Von seiner zwölf Mann starken Gruppe hat es bisher drei erwischt. Der junge Soldat aus Siam ist überzeugt, daß er ihnen eines Tages nachfolgen wird. Doch was kann er schon tun? Dem Schicksal kann man nicht entrinnen. Dann stellt er sich vor, die Spieler, die ihn damals vor dem Boxstadion überfielen, könnten ihn auf diesen Schlachtfeldern sehen. Wie würden sie wohl jetzt, da er Seite an Seite mit den Helden der Volksbefreiungsarmee im Kampf steht, über ihn denken? Wenn sie ihn jetzt in die Finger bekämen, würde er sich nicht beugen. Jeden Tag steht er mit seiner Angst auf, und jeden Abend kommt er damit zurück, doch dazwischen kämpft er trotz alledem. Ein Soldat Chinas. Tag um Tag gehen die Kämpfe weiter, doch nun erfaßt ein neues Gefühl Hos Bataillon: Bis zum letzten Mann wissen sie alle, daß die Volksbefreiungsarmee siegen wird, daß Chen und der Einäugige Drache die Nationalisten vor sich hertreiben. 844
Aus Ho Jin-shis fatalistischer Stimmung steigt allmählich eine zage Hoffnung auf. Es könnte sein, daß er zusammen mit Lao Chang und den anderen Kameraden doch die Kurve kratzt. Und falls ja, dann wird er Yu-ying suchen und finden. Was den alten Mann, den Amerikaner, betrifft – er wird sie nicht bekommen. Sie hat ja gesehen, wer rascher auf den Berg gestiegen ist, und außerdem ist der Ausländer alt und ihr Vater der Ehemann ihrer Mutter. Sollte er sie aber nicht mehr auftreiben, dann wird er sich damit abfinden. Nichts wird ihm mehr Schmerz zufügen, solange er seine Kameraden hat. Heute bedeutet ihm die Befreiungsarmee – und der Kommunismus – ganz einfach das: seine Kameraden. Die theoretischen Belehrungen durch die dem Regiment zugeteilten Politkommissare beschäftigen ihn kaum, selbst wenn er die einzelnen Begriffe genau übersetzt bekommt. Wie weit marschiert wird und welche Männer fallen – das allein interessiert ihn. Er fühlt sich durch ein machtvolles Band mit den Männern seines Trupps verbunden. Sie bedeuten ihm alles. Zum erstenmal in seinem Leben weiß Ho Jin-shi, wohin er gehört. Eines Morgens, als sie in einer Linie ein frisch mit Schnee bestäubtes Feld überqueren, sagt er zu Lao Chang: »Du bist jetzt mein Vater.« Der Ältere, der an einem faden Weizenbrötchen kaut, lacht. In der Ferne sehen sie den Feind: die Umrisse winziger Objekte, die sich bewegen. Ratterndes MG-Feuer. Unweit von Ho stößt jemand ein vertrautes Grunzen aus wie ein trabendes Schwein – vertraut, weil er es in letzter Zeit oft gehört hat: Ein Mann wird von einer Kugel getroffen. Lao Chang liegt auf der Erde, das Gesicht nach oben, die 845
Augen offen. Weiter vorne geht der Sturmangriff weiter. Langsam bewegen sich die Männer durch den Morgendunst vorwärts. Er aber kniet sich neben den Gestürzten und rüttelt ihn an den Schultern. Nichts regt sich in dem Gesicht. Lao Chang, scheinbar unversehrt, ist tot – aus seiner Kehle sprudelt eine Blutfontäne. Ho erhebt sich, starrt einen Augenblick nach unten, nestelt dann an Lao Changs Taille und macht den Patronengurt los. Er wirft ihn sich über die Schulter und rennt davon, um seine Kameraden einzuholen. Acht oder zwölf Meter vor ihm brechen drei Männer zusammen, von einer einschlagenden Granate zerfetzt. Ho hört sich brüllen. Was aus seinem Mund kommt, ist nicht ein Wort, sondern ein langer animalischer Schrei wütender Kampfbegeisterung. Er hat keine Angst, zumindest nicht in diesem Augenblick. Links und rechts von ihm stürzen sich seine Kameraden in Schmerz und Tod, sie alle zusammen, er mit ihnen, und das Gebrüll aus seiner Kehle vereint sich mit ihren Schreien zu einem gewaltigen Triumph über die Angst, der nichts mehr kennt als diesen schrecklichen, grimmigen, leidenschaftlichen Augenblick der Zusammengehörigkeit. Anfang Januar 1949 wird die Dreizehnte Armee der Nationalisten bei ihrem Versuch, aus der Falle zu entrinnen, achtzig Kilometer südwestlich von Sütschou gestellt und aufgerieben. Tschiang Kai-schek hat vier Armeegruppen verloren, nicht weniger als sieben Divisionen und das berühmte Panzerkorps, kommandiert von seinem Sohn. Die Schlacht ist vorüber. Die Dritte Feldarmee rückt in Richtung auf Nanking vor.
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ama spuckt aus. Betelsaft spritzt auf die Erde. Der Februarvormittag in Singapur ist heiß. Es ist der Festtag Thaipusam, dem Ruhm Murugans geweiht: Sohn Schiwas und General der Himmlischen Armee. Aus diesem Anlaß trägt Rama ein Aschezeichen an der Stirn. Asche wendet Unheil ab, kuriert Rheumatismus und Leberbeschwerden, steigert aber auch die Potenz. Ein Gefühl der Sicherheit, ja beinahe ein Glücksgefühl erfüllt ihn, während er zu dem Tempel an der Serangoon Road geht. Warum auch nicht? Er hat eine neue Anstellung, die es ihm ermöglichen wird, Geld auf die Seite zu legen, so daß er seine Familie hierherholen kann. Als Mistress ihn in Singapur verließ, um nach Siam zurückzukehren, gab sie ihm eine Extrasumme, die so hoch war, daß seine Angehörigen nach Singapur hätten fahren können. Aber wie hätte er für die drei Menschen das Geld für Miete und Kost aufbringen sollen? Seit zwei Monaten schon geht ihm der Wunsch, sie hierherzuholen, und seine Unfähigkeit, sie zu ernähren, im Kopf herum. Wenn er sich jetzt Murugans Darschan holt, wird er viel Grund zur Dankbarkeit haben. Die Dürre ist ausgeblieben. Narayana. Mistress hat sich so weit erholt, daß sie zusammen mit ihm China, dieses kalte Land, verlassen konnte. Narayana. Und nun hat er eine Anstellung, die ihm so viel einbringt, daß er seine Familie kommen lassen kann. Nicht, daß er gleich daran gedacht hätte, als Mistress ihn nach Singapur brachte. Die Idee kam Rama erst, als er an seinem zweiten Tag hier auf die Serangoon Road stieß, wo ihn sofort lang entbehrte, vertraute Gerüche anwehten: 847
Zwiebeln, die in Büffelmilchbutter brutzelten; Parathabrot auf runden Backplatten; dampfender Madraskaffee an Straßenbuden. Staunend und immer aufgeregter wanderte er durch das Zentrum von Klein-Indien. Hier hörte er den tröstlichen Klang von Worten in Tamil, eine Mridangantrommel aus Südindien, die im Obergeschoß über dem Laden eines Blumenbinders gespielt wurde. Es war nicht ganz wie in Madras oder in seinem Heimatdorf, doch hier umgab ihn Indien, die üppig gewährende Mutter mit ihren Märkten, ihren Sarihändlern, Astrologen, Goldschmieden und Lebensmittelhändlern, die mit schrillen Lockschreien und zu metallischem Hämmern ihre Waren feilboten und verkauften. Mit einemmal war er daheim. An diesem zweiten Tag in Singapur spazierte Rama den ganzen Vormittag durch eine wiedergefundene Welt. Hier könnte er zusammen mit Usha und seinen beiden Jungen glücklich sein. Dies wurde ihm schon klar, als er die Serangoon Road erst einmal durchquert hatte. Und während die Tage vergingen, gewann Rama immer mehr die Überzeugung, daß sein Karma diese Stadt für ihn – und für seine Familie – ausgewählt hatte. Er machte sich mit Speiseeis bekannt, feilgeboten an dreirädrigen Schiebewagen von Verkäufern in weißen Tropenhelmen. Er entdeckte die öffentliche Bedürfnisanstalt in der Gemmill Lane mit ihrem zinnengesäumten Dach und den massiven Backsteinmauern, anzusehen wie eine englische Festung. Er lernte Ladenschilder lesen, wie es sie weder in Madras noch in einer der chinesischen Städte auf dem Festland gab, wo alles in diesem unverständlichen Gekrakel wie von Hühnerfüßen geschrieben war. Er genoß die Vorstellung, daß er eines Tages eine Eintrittskarte für das Kino Alhambra an der Beach Road kaufen werde, wo 848
im Augenblick ein amerikanischer Film, Yolanda and the Thief, gegeben wurde. Er lernte rasch in Singapur. Zum Beispiel konnte man immer, wo man auch war (Chinatown zählte für ihn nicht), stark gewürzte Speisen wie südindisches Ediyapam oder kühlende wie Thairu bekommen. Rama hat aber auch schon erfahren, daß von den chinesischen Nachbarn viele die hier lebenden Inder hassen, weil sie während des Krieges mit den Japanern kollaborierten – insbesonders die INA, die indische Nationalarmee unter Chandra Bose. Aber was kümmert das Rama? Singapur ist eine PakkaStadt, und eines Tages wird er seine Familie hierherholen. Und dann, zwei Wochen nach ihrer Ankunft hier in Singapur, bestellte Mistress ihn in den Palmenhof des Hotels Raffles. Rama war einen Straßenzug weit weg in einem Haus untergebracht, wo das Hotelpersonal schlief, und jedesmal, wenn er in das Hotel kam, wurde er von dem verschwenderischen Luxus der Weißen überwältigt. Mistress fügte sich vollkommen in diese Szene der Opulenz. Die Krankheit hatte ihre Schönheit eher noch verstärkt, denn ihre Haut war jetzt noch blasser, von dem fast leuchtenden Weiß, für das jede junge Inderin ihr halbes Leben geben würde. Sie ist aufgestiegen aus der Tiefe, dachte Rama, doch noch immer gebeugt, weil sie ihr Kind verloren hat. Wie würde er selbst den Verlust eines Kindes empfinden? Rama ging, den Kongreßhut in der Hand, an den Kokospalmen vorbei über den penibel gepflegten Rasen, wo sie an einem Marmortischchen saß. Er ging zögernd, besorgt, wie seine Nehru-Jacke in dieser Umgebung wohl wirkte. Mistress saß da und hielt mit ihrer weichen Hand ein hohes Glas umschlossen, das Eiswürfel und ein starkes alkoholisches Gebräu enthielt. Sie lächelte ihn herzlich an. Auf unsere Art, dachte er, 849
sind wir Freunde. Ja, er hat für die Frau in den schweren Tagen, die sie durchmachen mußte, väterliche Gefühle entwickelt. Weiße, die Schmerzen leiden, müssen umsorgt werden. »Wie gefällt dir jetzt Singapur?« fragte sie, sicher in Gedanken daran, daß er sie nur widerstrebend hierherbegleitet hatte. Das war nicht die Frage, die sie eigentlich stellen wollte, weshalb er sie leichthin beantworten konnte. »Es gefällt mir hier. Die Leute sind nicht so auf ihren Vorteil aus. Sie lachen viel und haben Spaß am Leben. Die Serangoon Road ist sehr gut.« »Denkst du daran, nach Indien zurückzukehren, Rama?« »Das ist nicht mein Wunsch.« »Du meinst noch immer, daß es mit der Unabhängigkeit nicht klappen wird?« »Ich bin dafür, aber es klappt sicher nicht damit. Nicht, solange sich nicht alles etwas beruhigt. Bapuji ist tot, es gibt Streiks und Aufruhr.« »Fährst du dann mit mir nach Bangkok zurück?« Das war die Frage, auf die er gewartet hatte, und er hatte die Antwort parat. »Danke, Mistress, aber nein. Ich bin erpicht darauf, hier herüben zu bleiben.« Sie lächelte ihn an. »Und was willst du hier anfangen?« Er drehte den Hut rasch in beiden Händen und sagte in einem stolzen Ton: »Ich habe vor fast zehn Jahren die Schule abgeschlossen. Ich bin ein gebildeter Mann. Eine ordentliche Arbeit findet sich bestimmt.« Und so kam es dann schließlich auch gestern. In einem Büro im Bahnhof von Singapur, an der Keppel Road, saß er vor einem Mann am Schreibtisch, beantwortete Fragen, 850
und dann, nachdem er lange auf dem Flur davor gewartet hatte, wurde er wieder hineingerufen und bekam eine Anstellung als Hilfsschaffner im Rakyat-Expreß, der täglich um acht Uhr morgens Singapur verläßt, in Kuala Lumpur hält, Malaya durchquert und am Abend – oder ist es der Abend darauf? – die Endstation gegenüber der Insel Penang erreicht. Die Länge der Fahrt ist ihm unwichtig. Wie sein Vater wird er Tag um Tag in einem Zug fahren, die Sehenswürdigkeiten sehen und sein Leben nach dem Fahrplan einrichten. Er ist ungeheuer stolz, daß er – ein Kling, ein Südinder – den anderen Bewerbern, Chinesen wie Malaiien, vorgezogen wurde, die lange Stunden neben ihm auf der harten Bank gesessen und auf ihr eigenes Anstellungsgespräch gewartet hatten. Das verdanke ich meinem Englisch, denkt er glücklich. Rama schließt sich der Menge an, die den Weg zum Perumal-Tempel säumt. Ich bin ein glücklicher Mann, denkt er. Eines Tages werde ich sie zu mir holen, lah. Er hat sich angewöhnt, das malaiische lah zur Betonung zu gebrauchen. Singapur, denkt er befriedigt, ist jetzt mein Zuhause. Er sieht einen Mann schwankend aus dem Tempel kommen. An den Rändern der Straße steigt lärmender Beifall hoch. Rama starrt auf den Mann und denkt voll Neid: Das ist jemand, der einen schrecklich langen, anstrengenden, doch begeisternden Tag der Exstase vor sich hat. Der Mann ist nur mit einem Lendenschurz bekleidet und trägt einen Kawadi, einen schweren Käfig (Rama hat gehört, daß manche dieser Käfige weit über einen halben Zentner wiegen, die Hälfte seines eigenen Gewichts) aus Drahtstücken, der auf seinen Schultern und Hüftknochen ruht; von den gebogenen Haltern des Käfigs hängt 851
mindestens ein halbes Hundert dünne Ketten auf Brust und Rücken des Mannes herab, die mit Widerhaken in seinem Fleisch befestigt sind. Das komplexe Gestell ist mit Blumen umwunden, was dem Mann das Aussehen eines grotesken Insekts gibt, gefangen im goldenen Netz einer gewaltigen Spinne. In den Wangen und in der Zunge stecken silberne Nadeln, deren Enden mit dreizackigen Köpfen und magischen Mustern geschmückt sind. Blut ist nicht zu sehen. Der Mann blickt starr vor sich hin, während hinter ihm Freunde oder Angehörige schrill skandieren: »Vel! Vel!« Darauf setzt er sich schwerfällig in Bewegung. Der Käfig um ihn schwankt hin und her. Wie Gummi wird das Fleisch von Brust und Rücken weggezogen. Doch es erscheint kein Blut. Dieser Mann und andere verzückte Fromme tragen ihre Kawadis zur Buße oder als Ausdruck der Bitte um einen göttlichen Gunsterweis oder der Dankbarkeit für eine von Murugan gewährte Gnade. Rama schiebt sich in der Menge voran, die sich längs der Pandals drängt – Buden, die den Prozessionsweg entlang aufgeschlagen wurden. Er ist zwar ein Anhänger Wischnus, kann aber die Erregung mitempfinden, in die dieses Ereignis so viele Murugan-Gläubige versetzt. Das Haar im Nacken sträubt sich ihm, als vor ihm ein KawadiTräger vorbeigeht, die Augen in religiöser Verzückung geschlossen, während die Zunge heraushängt, durchbohrt von zwei gekreuzten Spießen. Rama legt die Handflächen gegeneinander und murmelt: »Om Sri Skandaya Namah.« Er kennt die Geschichte von Murugan in der Version, die der Pandit seines Dorfes den Jungen erzählte. Es geschah einmal vor langer Zeit, daß Schiwa und Parvati Hunderte von Jahren in einer Umarmung lagen, aber sie frönten der Liebe mit solcher Gewalt, daß sie die Erde 852
erschütterten und Furcht bei den anderen Göttern auslösten, die sie aufzuhören baten. Schiwa fand sich dazu bereit und ließ seinen Liebessaft auf die Erde strömen, aber es war so viel, daß die Wälder und Seen überflutet wurden und die Existenz der ganzen Erde in Gefahr geriet. Die Götter baten Agni, den Feuergott, den Strom zu schlucken, was er tat, und so trug er Schiwas Liebessaft fünftausend Jahre in sich. Aber schließlich wurde er davon gelb. Um Schiwas Samen loszuwerden, überredete Agni die Flußgöttin Ganga, ihn ihm abzunehmen. Sie öffnete ihren Mund und ließ ihn den Samen in ihren Leib spucken, wo er keimte und wo aus ihm das göttliche Kind Murugan entstand, das genauso geboren wurde, wie es in Gangas Leib gekommen war – durch ihren Mund. Murugans Bildnis hat sechs Gesichter zu Ehren der sechs Göttinnen, die ihn säugten. Jetzt schreit Rama unisono mit den anderen Zuschauern: Ein Mann kommt daher, in dessen Rücken und Bauch Widerhaken gebohrt sind, und an den Haken hängen Limonen. Er dreht sich langsam im Gehen, so daß die Früchte in einem weiten Bogen mitschwingen und dabei kleine Knoten aus der Haut ziehen, die aber nicht bluten. Sie wollen einfach nicht bluten, denkt Rama. Es ist schön, zu Gott zu gehen. Doch dann bemerkt er zwischen den Käfigträgern eine junge Frau, die mit Hilfe beider Hände auf dem Kopf einen großen, mit Blumen und Früchten dekorierten Milchtopf balanciert. Ihr Kopf macht keine Bewegung, doch unter dem blauen Sari schwingen die Hüften. Auf ihrer Stirn steht Schweiß, die Lippen schimmern. Rama kann die Augen von dem schönen Mädchen nicht abwenden und folgt ihr neben der Prozession, bis sie im Menschengewimmel verschwindet. Er spürt, wie ihm der salzige Schweiß brennend in die 853
Augen rinnt. Eine mörderische Hitze, denkt er mißgelaunt. Dieses Mädchen mit dem Milchtopf auf dem Kopf war schön. In der Menge sind viele Mädchen, festlich herausgeputzt in ihren besten Seidensaris mit goldenen Bordüren und Jasminblüten in den glänzenden schwarzen Haarflechten. Er begehrt sie alle. Und wie ihn das Wunder der religiösen Ekstase berührt hatte, daß ihm die Haare aufstanden, so spürt er nun plötzlich, wie Wogen sinnlicher Lust durch seinen Körper jagen. Verdrossen auf zwei in der Nähe stehende Mädchen blickend, das eine in Gelb, das andere in Rot, fühlt er, wie in seinen Lenden das Verlangen strömt. In den letzten Monaten hat ihn oft Begierde umgetrieben, sogar der Gedanke an die Bordelle in Chinatown, obwohl er die jungen Chinesinnen nicht attraktiv findet. Und dann gibt es ja die Freudenhäuser in einer Seitenstraße der Serangoon Road aber die kommen nicht in Frage. Rama war noch nie in einem Bordell, und sollte er dennoch jemals eines aufsuchen, würde er keinesfalls eine Frau aus seinem Heimatland auf diese Weise entehren. Wiederholt hat er diesen Vorsatz gefaßt. Trotzdem aber stand er kürzlich eines Abends vor einem der Freudenhäuser mit Inderinnen und blickte hinauf zum Obergeschoß, wo Mädchen, nur mit einem Hemd bekleidet, an den hellerleuchteten Fenstern vorübergingen. Eines von ihnen stützte sich mit den Ellenbogen aufs Fensterbrett, schaute zu ihm hinunter und sagte in freundlichem Ton: »Sei nicht schüchtern, und komm rauf. Frag nach Kamla.« Sie rauchte eine Zigarette und blies den Rauch zu ihm hinab. In ihrem Haar steckte eine weiße Blume. Als er sich abwandte, dann noch einmal umblickte, kicherte Kamla. Aber sie sagte nichts mehr, als er sich wieder umdrehte, diesmal endgültig, und die Straße hinabschritt. 854
Kamla. Er hat ihren Namen nicht vergessen. Ich kann hier nicht mehr bleiben, sagt er sich. Hier mit diesen Frauen mit ihrem blumengeschmückten Haar, schwitzend und ekstatisch kreischend. Rama bahnt sich einen Weg aus der wogenden Menge, wischt sich die Stirn ab – sie ist klatschnaß – und macht sich auf den Weg zu seiner Unterkunft. Sein Quartier ist an der Veerasawy Road, über einem Viehschuppen, vor einem Jahrzehnt zu einer Essiggurkenfabrik umgebaut, wo Rama in den letzten beiden Monaten Gelegenheitsarbeiten verrichtet hat. Er pocht an die verriegelte Tür, bis sie sich einen Spaltbreit öffnet und ein kleiner, langnasiger Mann kurzsichtig zu ihm herausspäht. »Was ist mit dir los?« fragt der Verwalter streng. »Warum bist du denn nicht auf dem Fest?« Rama drängt sich ohne eine Antwort an ihm vorbei. »Ich seh’ nicht ein, warum ich hier festhänge, während du dich verdrückst und nicht einmal zum Fest gehst«, fügt er grummelnd hinzu. Rama steigt die Treppe zu dem Schlafsaal im Obergeschoß hinauf, wo die meisten der Arbeiter und ein paar Schlafgäste übernachten. Er erklettert die Stufen müde, als hätte er einen langen Arbeitstag hinter sich. Er starrt in den schmalen Raum, durchflutet vom hellen Licht des Vormittags. Ein Durchgang trennt zwei Reihen leichter Bettgestelle, bespannt mit Hanfseilen. Auf |edem liegt ein zerknittertes Bettuch, entweder achtlos hingeworfen oder zusammengelegt. Über den Liegen ist von einer Wand zur andern eine Leine gespannt, über der Kleidungsstücke hängen; die Leine dient zugleich als Wäschekommode und Kleiderschrank. Rama blickt sich um, als erwarte er etwas Neues zu sehen, doch abgesehen 855
von den Sachen auf der Leine und den Bettgestellen ist der Raum leer. Er bückt sich und sucht unter seinem zusammengeknüllten Bettuch nach seinem Regenschirm. Er hat ihn heute morgen nicht mitgenommen, weil er befürchtete, er könnte ihn in dem Trubel verlieren. Ja, er ist noch da. Befriedigt und erschöpft legt er sich auf die Hanfseilbespannung, die unter seinem Gewicht leicht nachgibt. Er zieht die Beine an, so daß er daliegt wie ein Kind im Mutterleib. Seine Augenlider zucken nervös. Wenn er hungrig wäre, könnte er hinuntergehen in die Küche im hinteren Teil des Hauses und sich etwas zubereiten, aber er will sich nicht von der Liege rühren, noch nicht. Bilder erscheinen und verschwinden vor seinen halbgeschlossenen Augen: Miss Sonja in Schanghai, wie sie mit abgehärmtem, weißem Gesicht nach ihrer Mutter fragte; Mistress im Hospital, das Gesicht ebenfalls bleich, aber keineswegs abgehärmt, sondern gelassen und zugleich maskenhaft. Die arme Frau. Narayana. Er erinnert sich, wie er ihr durch den Flur zur Damentoilette half und davor wartete, bis das Wasser der Spülung rauschte, sie aus der Tür kam und ihm die Hand entgegenstreckte, um sich auf ihn zu stützen. Auf dem Rückweg hielt seine dunkle Hand ihren weißen Unterarm fest. Damals war sie wie ein Kind, ein weißes Kind, doch als ihre Genesung voranschritt, wurde sie wieder zu Mistress. Und wo mag Master sein? Tot vermutlich. Narayana. Geh was essen, befiehlt er sich. Doch die Augen fallen ihm zu, so daß alles im Dunkel verschwindet, bis er in einen Tagtraum gleitet, in dem er eine heimatliche Landschaft in goldenem Licht sieht. Die Sonne geht gerade unter, und eine schlanke junge Frau in einem blauen Sari balanciert einen Messingkrug auf dem Kopf, 856
während sie zwischen Palmen dahingeht. Der Messingkrug funkelt in der Sonne auf wie kleine Explosionen, die den Schritten der Frau durch die Felder folgen. Ihre schmiegsame Gestalt hat Würde. Dann bleibt sie stehen und verweilt anmutig wie ein Silberreiher neben der glasklaren Fläche eines überfluteten Reisfelds. Es ist Usha. Rama öffnet weit die Augen und schließt sie dann wieder, inzwischen so müde, daß ihm sogleich das Bewußtsein entgleitet und er einschläft. Er erwacht mit einer Erektion, und sein erster Gedanke gilt dem Mädchen, das in der Thaipusam-Prozession den Milchtopf auf dem Kopf trug. Sie hatte üppige Rundungen, hielt zwar den Kopf regungslos, doch der übrige Körper bewegte sich geschmeidig wie bar aller Knochen die Straße entlang. Sein Vater hat ihm einmal ein Wort des großen Tagore zitiert: »Die Keuschheit ist ein Schatz, der aus der Fülle der Liebe entspringt.« Das suche ein Mann in einer Frau, hat Vater gesagt: Keuschheit und die Fähigkeit, die Versuchung zu meiden. Wie könne man sich sonst seiner Kinder sicher sein? Ob Usha der Versuchung ausgesetzt ist? Sie ist zweifellos eine der hübschesten Frauen in ihrem Dorf, lah, und Rama weiß von Männern aus seiner Bekanntschaft, die sie sicher gern in einer balsamischen Nacht auf die Felder führen und mit ihr auf den Stoppeln von der letzten Ernte der Lust frönen würden. Diese Vorstellung ergrimmt und ängstigt Rama derart, daß er augenblicklich seine Erektion verliert. Usha ist eine beherzte Frau. Narayana. Wenn sie jetzt hier wäre, würde er ihr an dem großen Verkaufsstand eine 857
Jasmingirlande kaufen. Und wenn sie stehenbliebe und sich irgend etwas in einem Geschäft ansähe, würde er es ihr gleichfalls kaufen. Er würde Sandelholzpaste kaufen und sie damit einreiben und Bottu aus geröstetem Sago, das sie sich auf die Stirne schmieren könnte. Er würde ihr Armreifen kaufen, Haarspangen und an diesem speziellen Tag eine Pfauenfeder zu Ehren von Murugan. Und wenn sie hier zusammenlebten, in ihrem eigenen Heim, würden sie beide einkaufen gehen: Gewürze und Rosenöl und Maida-Mehl und Büffelmilchbutter. Er weiß mittlerweile, wo man all das bekommt. Er würde ihr ein hübsches Choli kaufen, ein schmales Oberteil, das ihre Brüste eng umschließt, und sie würde ihm einen tiefen Blick aus ihren großen schwarzen Augen schenken. Die Keuschheit ist ein Schatz, der aus der Fülle der Liebe entspringt. Narayana. Wie es den Jungen wohl geht? Der Jüngste hat jetzt das Alter für das Upananyana, die Zeremonie der Entgegennahme des heiligen Fadens, erreicht. Die Jungen aus dem Dorf hänseln sicher seine Söhne, weil ihr Vater nicht zu Hause ist. Jungen können Frechlinge sein. Diese Vorstellung gefällt ihm gar nicht. Schon bald werden zu Hause die Mangobäume blühen. Sie haben ihm vergangenes Jahr gefehlt, und nun wird ein zweites Jahr vergehen, ohne daß er sie blühen sieht. Ja, vielleicht wird er die Mangobäume seines Dorfes nie mehr sehen. Rama setzt sich auf, stützt den Kopf in die Hände und denkt sich einen Brief aus. Liebe Usha, meine Frau, Du wirst gern zur Kenntnis nehmen, daß ich Dir für Deine Fahrt nach Singapur und auch für die der Jungen ausreichend Rupien schicke. Ich bin Dir dankbar, daß Du Deinem Mann gehorchst. 858
Er muß den Brief in einer gewählten Sprache abfassen, weil sein Onkel ihn sicher lesen und nach Fehlern und vulgärem Ausdruck Ausschau halten wird. Aber kann ich denn einen solchen Brief schreiben? fragt sich Rama. Was wird, wenn ich meine Anstellung bei der Bahn verliere und nicht genug Geld herbeischaffen kann? Rama steht auf. Er zieht sich aus, hängt die Kleidungsstücke sorgfältig auf die Wäscheleine und nimmt einen frisch gewaschenen Dhoti herunter. Im Handumdrehen hat er das Lendentuch umgebunden. Dann schlüpft er in seine besten Sandalen und ist zum Ausgehen bereit. Nur: wohin? Er weiß es nicht. Aber da er die Lethargie des Vormittags abgeschüttelt hat, fühlt er das Bedürfnis, auf die Straße zu gehen, irgendwohin, irgend etwas zu unternehmen. Rama spaziert lange umher, ja, so lange, daß die Sonne schon ihr mildes abendliches Glühen gegen die Gipswände der Häuser wirft, als er schließlich stehenbleibt. Aus der Ferne kommt ein leises Murmeln, das sich, wie er schon weiß, beim Näherkommen, als der ekstatische Singsang Tausender Menschen erweist. Vielleicht haben die Gläubigen den Vinayager-Tempel erreicht, und die Brahmanenpriester bringen Sri Ganapati, dem Gott mit dem Elefantenrüssel, in seinem Heiligtum ihre Huldigung dar. Rama steht an einer Straßenecke im Zentrum KleinIndiens, in einer Hand den zusammengerollten Regenschirm. Seine Kehle ist trocken und wird noch trockener, während er unverwandt auf ein zweistöckiges Haus starrt. Die Gita sagt: »Was kümmert es Gott, ob man 859
ein Sünder oder ein Gerechter ist?« Es ist wahr: Im Vergleich zu Gott ist der Mensch ein Nichts. Es ist noch zu früh dafür, daß die Mädchen die Fensterläden aufreißen, damit man sie von der Straße aus gleich sieht. Er erinnert sich genau, aus welchem Fenster sie sich gelehnt hat. Über dem unteren Teil des Fensterladens hängt ein gestreiftes Handtuch. Ob es ihr gehört? Vor dem Haus hocken zwei Mädchen und unterhalten sich. Er kann sie von seiner Ecke aus deutlich sehen. Eine dralle junge Frau kommt heraus, die an der Hüfte einen nackten Säugling trägt. Die drei Frauen plaudern und lachen miteinander, und in den Pausen dazwischen erwidern alle Ramas starren Blick und lächeln einladend zu ihm hin. Dann setzt er sich plötzlich in Richtung auf das Haus in Bewegung. Er geht, ohne zu überlegen. Zum Glück ist beinahe jedermann in Klein-Indien auf dem Fest. Hausmeister und Huren sind so ungefähr die einzigen Leute, die auf ihrem Posten geblieben sind. Als Rama sich nähert, stehen die drei Frauen auf und lächeln ihn an. Die mit dem Kind an ihrer Hüfte schiebt es zurecht, so daß Rama den blanken Babypopo vor sich hat. »Kommen Sie, um mich zu besuchen?« fragt sie. Er schüttelt wortlos den Kopf und geht an den jungen Frauen vorbei. Er hört eine von ihnen sagen: »Wie früh der kommt, und das an einem Festtag!« Eine andere meint kichernd: »Er muß es wirklich nötig haben.« Rama wäre beinahe davongelaufen, doch irgendwie muß er an seinem Vorsatz festhalten, da er ihn einmal gefaßt hat. Er tritt durch die Tür und in eine dunkle Halle. Das Sonnenlicht folgt ihm nur ein paar Schritte. »Hierher.« 860
Ramas scharfgeschnittenes Gesicht spannt sich konzentriert an, während er durch die Düsternis in die Richtung späht, aus der die Stimme kam. Dann sieht er am Ende der Halle eine überaus korpulente Frau stehen. Sie öffnet eine Tür, und ein Lichtstrahl fällt in die Halle, auf ihren purpurroten Sari und das formlose Gesicht. »Sie kommen früh«, sagt sie freundlich und mit einer überraschend dünnen Stimme. »Sind Sie denn nicht zu dem Fest gegangen? Ich dachte, alle gingen hin bis auf uns und die Chinesen.« Als er bei ihr angelangt ist, lächelt sie ihn an. »Was für ein Leben! Ich werde so wütend, wenn ich daran denke, und ich denke schon den ganzen Tag daran, weil es sonst nichts zu tun gibt. Ich zahle die Miete für dieses Haus täglich, das heißt, jeden einzelnen Tag.« Sie geht rückwärts durch die offene Tür und winkt ihm, ihr zu folgen. »Dieser Bengali, dem das Haus gehört, kommt tagein, tagaus seine Miete abholen. Läßt mir nicht einmal einen Monat Zeit, ja, nicht einmal eine Woche. Möchten Sie ein bestimmtes meiner Mädchen?« »Kamla.« Die Puffmutter tupft sich mit einem Spitzentaschentuch Schweißperlen von der Stirn und nickt lächelnd. »Sie hatten sie schon einmal?« Rama sagt nichts darauf, sondern blickt auf das Himmelbett, das beinahe den ganzen Raum des Zimmers einnimmt. »Wieviel?« fragt er, um einen gelassenen Ton bemüht. Er streckt ihr den Geldbeutel aus Kunstleder entgegen, den er letzte Woche auf einem Markt in Chinatown erstanden hat. »Zahlen Sie bei ihr selbst. So halte ich es in meinem Haus. Wissen Sie nicht mehr?« Er nickt und blickt sich mit wachsender Unsicherheit um. 861
»Sie erinnern sich nicht. Also sind Sie zum erstenmal hier. Gehn Sie die Treppe dort hinauf«, sagt die Puffmutter und sieht ihn neugierig an. »Woher kennen Sie Kamla?« »Ich habe einmal von der Straße aus mit ihr gesprochen.« »Sie ist ein braves Mädchen. Das zweite Zimmer rechts.« Sie geht zur Tür, hält ihre beringten Hände an den Mund und schreit: »Kamla! Ein Kunde!« Jetzt muß er die schmale Treppe hinaufsteigen. Da er sich schwach in den Knien fühlt, stützt er sich bei jedem Schritt auf das wacklige Geländer. Als er das Obergeschoß erreicht, steigt ihm der schwere Geruch von Sandelholz in die Nase. Das Aroma (von sexueller Note für ihn, weil Usha sich mit der Paste einzureiben pflegte, wenn sie im Dunkeln zu ihm kam) zieht Rama vorwärts; vor freudiger Erwartung beginnt er zu zittern. Doch auch aus Furcht. Da die Tür offensteht, bleibt er davor stehen und sieht das Mädchen an, das auf einer Bank sitzt. In der einen Hand hält sie eine Puderquaste, in der anderen einen runden Spiegel. Unter einer nackten Glühbirne, die von der Decke hängt, wirkt ihr von Natur dunkles Gesicht gespenstisch weiß – vom Puder bewirkt. Sie erwidert seinen langen Blick und sagt, ohne das Gesicht zu verziehen: »Sei nicht schüchtern, und komm herein.« Dieses »Sei nicht schüchtern« vergewissert Rama, daß es dasselbe Mädchen ist. Er tritt ein. »Erinnerst du dich an mich?« »Nein«, erwidert sie offen, legt Spiegel und Puderquaste auf den nackten Holzboden, betrachtet ihn und lächelt dann. Sie trägt ein einfaches weißes Choli und einen blauweiß karierten kurzen Unterrock. Damals, als er sie von der Straße aus sah, hat er sie sich schlanker 862
vorgestellt. Nun, wie sie da vor ihm auf der Bank sitzt, sieht er eine kleine Fleischwulst über dem Unterrock, den in die braune Haut der Bauchdecke eingebetteten Nabel und dicke Waden. Ihr weich aussehendes, üppiges Fleisch erregt ihn, und er lächelt schüchtern. »Du hast Glück« sagt sie und lehnt sich gegen die Wand zurück. Mit einer raschen Bewegung zieht sie den Unterrock hoch und macht die Beine breit. Sie trägt nichts darunter, und das erregt ihn noch mehr. »Du brauchst nicht zu warten, weil alle auf dem Fest sind. Im allgemeinen muß ein Freier hier auf der Bank warten. Komm mit.« Er folgt dem Mädchen hinter einen Vorhang, der den Raum in zwei Teile trennt. »Hast du was davon zu sehen bekommen? Ich dachte eigentlich daß außer uns alle Leute auf das Fest gegangen sind. Ich habe es satt, immer hier angebunden zu sein. Die Leute sagen, ich rede zuviel, aber man muß doch irgend etwas tun. Wir kommen nie raus bis auf das eine Mal im Monat, wenn sie mit uns ins Kino geht.« Sie hat sich auf den Rand des Bettes gesetzt, über das eine helle, gelbrote Bettdecke gebreitet ist. Am linken Nasenflügel trägt sie einen winzigen Stein, an ihrem nach hinten gekämmten Haar ist eine billige Kunstblume befestigt. Ihre Nase ist flach und breit, die Lippen sind voll und wirken narbig. Aber ihre Augen gefallen ihm, obwohl sie ihn nicht zu sehen scheinen, wenn sie ihn anblicken. »Hast du denn was gesehen? Hast du die mit den Kawadis gesehen? Warum tut es ihnen nicht weh? Stehen sie unter Drogen? Manche Leute behaupten das. Andere sagen, es kommt davon, daß sie zu Gott beten. Bist du dort gewesen?« fragt sie noch einmal. »Lah, ein bißchen.« 863
»Wenn du weggegangen bist, nur um hierherzukommen, glaubst du nicht an Gott. Ist’s nicht so?« In ihrer Stimme liegt ein neckender Ton. »Narayana. Natürlich glaube ich an Gott.« Mit einem leichten Achselzucken greift Kamla nach hinten, um das Choli aufzuknöpfen. Als sie es herunterzerrt, wackeln ihre kleinen, festen Brüste ein wenig. Der Anblick elektrisiert Rama. »Merke dir, ich lasse mich von Männern nicht auf die Lippen küssen.« Noch immer auf dem Bettrand sitzend, hebt sie ihr Gesäß und zieht sich den Unterrock herunter. Sie legt ihn auf einem schmalen Bord oberhalb des Bettes ab, streckt sich träge und blickt Rama mit einem nachdenklichen Lächeln an. »Du mußt es ziemlich nötig haben, daß du dir deswegen das Fest entgehen läßt. Also komm her.« Rama dreht sich schicklich weg, knüpft den Dhoti auf, behält aber das weiße Hemd an, bis sie ihn auffordert, es auch auszuziehen. »Sonst verknitterst du es«, sagt sie mütterlich. Jetzt gibt es kein Halten mehr. Er wirft sich auf sie, und sie macht die Beine ganz breit, damit er leicht und rasch in sie eindringen kann. Sie stöhnt leise auf und wispert ihm ins Ohr: »Mach langsamer, wir haben viel Zeit. Du hast Glück.« Zuerst glaubt Rama, er werde bald fertig sein, denn ihr warmes, feuchtes Inneres wirkt auf ihn nach monatelanger Enthaltsamkeit äußerst erregend. Während er rasch stößt, fällt ihm wieder ein, daß der Pandit seines Dorfes die Jungen warnte, sie könnten nur soundso viele Male ihren Samen vergießen, »und wenn ihr über eure Grenze hinausgeht, verkürzt ihr euch das Leben.« Was ist, wenn er selbst heute seine Grenze überschreitet und hier in 864
einem Bordell stirbt und dem Namen seines Vaters Schande bereitet? Über ihnen geht jemand auf und ab in einem gleichmäßigen Rhythmus, ganz ähnlich dem seiner eigenen Bewegung mit dem Mädchen hier. »Komm, schöner Mann, wenn du so scharf drauf bist, dann mach, und laß es dir kommen.« Er beschleunigt sein Tempo, und dann wird plötzlich der Vorhang zurückgeschoben. Er dreht sein Gesicht und sieht ein Mädchen dastehen, die eine Hand am Vorhang, in der anderen eine Zigarette. »Kann ich mir deine Halskette ausborgen?«. »Welche?« fragt Kamla und windet sich etwas, um das Mädchen ansehen zu können, behält aber Ramas Glied in sich. »Die mit dem Medaillon daran.« »Sie ist in der Blechdose auf dem Koffer.« Das Mädchen tritt an den Wandschrank und öffnet ihn, wodurch Kleider an Haken und ein mit allem möglichen Kram angefülltes Fach sichtbar werden, in dem sich auch eine Puja-Lampe aus Messing befindet. Das Mädchen hält die Zigarette von den aufgehängten Kleidern weg und beugt sich zu einem zerbeulten Koffer hinab, der mit einem Strick zugeschnürt ist. Sie öffnet eine darauf stehende Gewürzdose, kramt darin herum und fördert ein Medaillon mit Kette zutage. »Das ist sie. Danke dir.« Rama beobachtet, wie sie lächelnd den Vorhang zuzieht, hört ihren leichten Schritt auf dem knarrenden Boden und dann, wie sich die Tür schließt. »Komm, mein Schöner. Was ist los?« Er spürt, wie ihm das Glied herausgleitet, zusammenschnurrt, als hätte er sich an einem kühlen 865
Morgen mit kaltem Wasser bespritzt. Er dreht sich von ihr weg auf die Seite und zieht die Knie an. Er darf hier nicht – auf dem Bett der Schande – sterben. »Na schön«, sagt Kamla mit einem Seufzer. »Dann brauche ich wenigstens nicht aufzustehen, um mich zu waschen. Wir können plaudern. Zum Glück haben wir ja Zeit.« Er starrt den Vorhang an und hört, wie über ihnen jemand rasch hin und her geht. »Was arbeitest du denn?« fragt Kamla. Nun, da sie nebeneinanderliegen, klingt ihre Stimme munterer. Als er mißmutig antwortet, daß er bei der Eisenbahn sei, legt sie einen Arm über ihn und blickt ihm von oben ins Gesicht. »Das gefällt mir. Das würde ich auch gern tun. Kommst du herum?« »Ja.« Seine Augen begegnen ihrem Blick, dann senkt er sie. Zum erstenmal bemerkt er eine Tätowierung an einem ihrer Arme, ein Wort in einer ihm unbekannten Sprache. »Was heißt das?« »Ich heiße Marathi.« »Bist du aus Bombay?« »Ich bin in Bombay geboren und aufgewachsen. Bombay ist meine Heimatstadt.« Kamla beginnt in der raschen, sprunghaften Art eines Menschen zu sprechen, der Angst hat, allein gelassen zu werden. Vor vielen Jahren sei ihr Vater mit dem Schiff aus Bombay hierhergekommen, um sein Glück zu versuchen. Er habe gearbeitet und gespart, bis er sie schließlich nachkommen lassen konnte. Mittlerweile sei aber ihre Mutter gestorben, und sie selbst habe an der Falkland Road angeschafft, wovon sie ihrem Vater natürlich nichts geschrieben habe. Die Falkland Road. Den Namen kennt er. Dort sind die berühmten Freudenhäuser von Bombay. 866
Sie erzählt weiter: Als sie in Singapur eintraf, holte ihr Vater sie nicht am Kai ab. Sie fand ihn an Fieber sterbend in der Wohnung vor, die er für sie gemietet hatte, und als dann nach seinem Tod das Geld ausging, nahm sie in diesem Haus hier Arbeit an. Ihr Freund prügelt sie, nimmt ihr das Geld weg und treibt sich auf der Orchard Road als Taschendieb herum … Soll ihn doch die Polizei erwischen, lah! Und an Gott glaubt sie auch nicht, fügt sie noch an, denn würde ein Gott, der es gut mit ihr meint, sie in diese Lage bringen? Rama starrt sie an. Er hat es mit einer gottlosen Frau getrieben! »So kannst du dich nicht zu Gott stellen«, sagt er betreten zu ihr. »Doch, nur so.« Sie hebt den Kopf und nickt zum Wandschrank hin. »Dort drin habe ich eine Abbildung von Krischna, aber ich gehe nicht mehr zum puja. Krischna hat mir nie geholfen, kein einziges Mal. Dabei bin ich jeden Tag in den Tempel gegangen, habe mein puja verrichtet und eine Menge Geld für Kampfer und Weihrauch ausgegeben. Zuviel Geld, wenn man dafür gar nichts bekommt.« »Versuch’s mit einem anderen Gott«, meint Rama. »Bete eine Zeitlang nicht zu Krischna. Versuch’s mit einem anderen Gott. Lah, vielleicht erhört er dich.« Eine gottlose Frau! Rama rückt zur Seite und schiebt ihren Arm weg. »Was ist denn los? Wir haben massenhaft Zeit. Willst du, daß ich dir einen blase?« Rama setzt sich auf und wendet das Gesicht ab. »Du magst mich nicht.« »Natürlich mag ich dich.« Aber er schwenkt die Beine vom Bett und setzt sich auf den Rand, bereit aufzustehen. Kamla setzt sich ebenfalls auf. »Sei nicht sauer, nur weil 867
es dir nicht gekommen ist. Wir haben noch viel Zeit.« »Ich muß jetzt gehen.« Er steht auf, knüpft sich den Dhoti um die Taille, zieht den anderen Zipfel zwischen den Beinen durch und macht ihn auf dem Rücken fest. Sie sitzt mit untergeschlagenen Beinen auf dem Bett, Enttäuschung im Gesicht. »Ich unterhalte mich oft mit den Mädchen, aber was wissen die schon? Sie reisen ja nicht mit der Bahn wie du. Kommst du später noch mal? Erzählst du mir dann davon?« Rama versucht sie anzulächeln, die Gottlose, während er sich das Hemd zuknöpft. »Du magst mich nicht.« »Doch, natürlich. Ich mag dich.« »Erst wolltest du, und jetzt willst du nichts mehr von mir wissen.« »Weil ich jetzt gehen muß, deswegen.« Er macht seinen kleinen Geldbeutel auf. »Gib mir zwei Ringgit. Ich bin ehrlich. Ich verlange nicht zuviel.« Rama bezahlt sie und bleibt noch einen Augenblick stehen. Er möchte etwas darüber sagen, daß sie Krischna in einem anderen Licht sehen müsse. »Ich teile es mit unserer Mutter«, erklärt Kamla. »Einen für sie, einen für mich. Sie ist die beste Mutter hier in der Gegend, aber sie hat es nicht leicht. Jeden Tag muß sie Geld abliefern. Wenn das nicht wäre, würde ich überhaupt nichts von dir verlangen.« Rama sieht sie neugierig an. »Wieso denn?« »Nun ja, weil du nicht fertig geworden bist.« Mit einem Lächeln setzt sie hinzu: »Und außerdem gefällst du mir. Es muß herrlich sein, mit der Eisenbahn zu fahren.« Dieses Kompliment läßt seine gute Laune zurückkehren. 868
Er zögert einen Augenblick. Aber: eine gottlose Frau? Er könnte ja in ihrem Bett sterben und seinem Vater Schande bereiten. »Ich muß gehen.« »Du bist gut dran, weißt du. Kunden stellen sich erst nach dem Ende des Festes ein. Du kannst also zurückkommen und lange bei mir bleiben, lah. Wir können uns über das Reisen unterhalten. Ich sorge dann dafür, daß es dir kommt, verlaß dich drauf. Und zahlen brauchst du auch nichts.« Rama spürt, wie ihm das Lächeln auf dem Gesicht gefriert. »Danke dir, ich komme wieder«, lügt er. Und wenn ich wiederkomme, sagt er sich, im nächsten Leben, dann als einer der Blutegel, die ich so hasse. »Du bleibst nicht lange weg, ja? Ich habe nichts zu tun, bis das Fest vorüber ist. An einem Festtag ist es sehr einsam hier. Du würdest dich auch einsam fühlen, wenn du hier eingesperrt wärst. Ich bekomme nie was anderes zu sehen außer einmal im Monat, wenn sie mit uns ins Kino geht. Wenn du wiederkommst, darfst du mich auch auf die Lippen küssen, lah.« Als er sich wegdreht, um schleunigst das Weite zu suchen, hört er hinter sich: »Vergiß deinen Regenschirm nicht.« Rama stürmt davon. Keine drei Straßenzüge von dem Bordell entfernt sieht er einen Greis, der an die Wand eines Ladens gelehnt dasitzt und neben sich auf einer Kiste einen Vogelkäfig stehen hat. Der alte Mann sieht den jungen Inder im gleichen Augenblick und winkt ihm, näher zu kommen. »Komm her, junger Mann. Vasu kann dir sagen, was du wissen möchtest.« Rama hat jetzt keine Zeit für Wahrsager, aber da sein Weg ihn dicht an den Füßen des Greises vorbeiführt, geht 869
er auf ihn zu. »So ist’s recht«, sagt der alte Mann nickend. In seinem Käfig hüpft etwas Grünes umher. »Vasu sagt mir, daß du Hilfe brauchst. Du hast Geldsorgen.« Verblüfft von der treffenden Feststellung, bleibt Rama stehen. Der alte Mann grinst zu ihm hinauf. »So ist es. Du hast zwar ein bißchen Geld, aber es reicht nicht. Stimmt’s?« Er hält einen Packen abgegriffener Spielkarten hoch und sagt: »Vasu ist der beste Wahrsager in ganz Singapur. Kannst du lesen? Ich habe Zeugnisse dafür.« Der alte Mann beginnt, einen Haufen zusammengefalteter Zettel in seinem Schoß durchzukramen, und fährt dabei fort: »Ich verstehe Vasus Zirpen. Er hat gerade gesagt: ›Der junge Mensch, der da die Straße entlangkommt, hat Geldsorgen. Er hat ein bißchen Geld, aber nicht genug.‹« »Nicht genug Geld wofür?« fragt Rama, auf Vorsicht bedacht. »Um Angehörige zu ernähren.« »Das stimmt.« »Kostet einen halben Ringgit.« Rama kauert sich vor den alten Mann und beobachtet ihn, wie er die Karten mischt, dann das Käfigtürchen hochschiebt und die Hand mit den fächerförmig angeordneten Karten hineinsteckt. Ein grüner Sittich rückt auf seiner Stange ein Stück weg, legt den gelben Kopf schief und starrt mit einem schwarzen Auge auf die Karten. Dann schlägt er mit den Flügeln, macht einen kleinen Satz nach vorne, packt mit dem Schnabel eine Karte und ist sofort wieder auf seiner Stange. Der alte Mann nimmt ihm die Karte ab und wendet sich Rama zu. 870
»Vasu ist der beste Vogel in Singapur, junger Mann. Du hast die Zeugnisse gesehen. Es ist eine Neun. Siehst du?« Rama schaut die Karte genau an. »Eine Neun, das ist gut«, sagt der alte Mann. »Du wirst heiraten und Söhne bekommen.« »Aber ich bin schon verheiratet und habe zwei Söhne.« Der alte Mann nickt nachdrücklich. »Das sage ich ja. Du wirst noch mehr Söhne bekommen.« Der Sittich zirpt. »Du wirst deine Geldsorgen loswerden und eines Tages zu den Mächtigen in der Serangoon Road gehören.« »Ich werd’ noch mehr Söhne bekommen?« »Vasu täuscht sich nie.« Rama geht weiter und träumt davon, daß Usha ihm nahe ist, ihre Schenkel und Brüste umweht vom Sandelholzduft. Narayana. Die Blumen hier in Singapur würden ihr gefallen. Sie liebt die Blumen beinahe ebensosehr wie er, und als er sie einmal fragte, ob es nicht schön wäre, wenn man zu Blumen sprechen könnte, hat sie ihn nicht ausgelacht, sondern ernsthaft genickt. Der Himmel über ihm überzieht sich jetzt, eine Minute später ist er bedeckt. Rama hat – warum, weiß er nicht – die Richtung zum Hafen eingeschlagen, und gerade als er dort ankommt, bricht das Gewitter los. Er spannt seinen Regenschirm auf, steht auf einem verlassenen Kai und blickt hinaus auf den Hafen: Im herabprasselnden Regen wirkt das Wasser wie Milch, eine brodelnde weiße Masse. Das wilde Trommeln auf seinem Schirm läßt nach und geht in einen gleichmäßigen, musikalischen Rhythmus über. Am Horizont tauchen Ozeandampfer, Schlepper, Fähren auf. Aus einem Schornstein steigt Rauch in die Höhe und vermengt sich mit den Wolken. Der Rhythmus der Regentropfen, die auf das Stück Tuch über Ramas Kopf fallen, wird langsamer, noch ein paar leichte 871
Schläge, und dann hellt sich der Himmel merklich auf. Motorboote, die durch das grünliche Wasser pflügen, tragen weiße Schnauzbärte am Bug, und als der Regen schließlich ganz aufhört, zeigen sich am Himmel blaue Flecke. Der ganze Himmel scheint sich in Bewegung zu setzen, um sich der Gewitterfront zu entwinden, scheint die gewaltige Masse in Myriaden kleiner Wolken aufzusplittern, und dann bricht die Sonne durch, prallt mit einem starken Strahl schräg aufs Wasser, verwandelt es in eine glänzende smaragdgrüne Fläche wie ein hochpolierter Edelstem, den Rama in einer Auslage gesehen hat und gern als Geschenk für Usha gekauft hätte. Ja, sein Gott hat zu ihm gesprochen. Narayana. Hier auf dem Wasser, in dem die Schiffe schaukeln, bereit, aufs Meer hinauszufahren, hat sich eben die Allmacht seines Gottes enthüllt. »Ich werde es zu etwas bringen«, sagt er laut und auf englisch, als gäbe diese Sprache seinem Schwur mehr Feierlichkeit. Rama klappt den Regenschirm zusammen und blinzelt ins Licht des Spätnachmittags, das durch die schimmernde Nässe an den Häusermauern und auf den Straßen noch in seinem Glanz verstärkt wird. Er wird es zu etwas bringen im Leben, sich aus den Niederungen des Gewöhnlichen erheben, sich und seinesgleichen Ehre machen. Er wird es irgendwie schaffen – hat nicht Vasu das gesagt? Und eines Tages wird er zu den Mächtigen in der Serangoon Road gehören. Und wenn es nicht gelingt, nun ja, dann eben nicht. Dann war dies eine Mal sein Karma eben nicht günstig genug. Er wird dann einfach zu Wischnu und Murugan und zu Genesha und Schiwa und zu den anderen Göttern beten, seine ehrgeizigen Ziele vergessen und aufs nächste Mal warten. Er wird seine Angehörigen zu sich kommen lassen mit einem der Schiffe, wie sie eben nach 872
dem Gewitter aus den Dunstschleiern auftauchten. Es war ein göttliches Zeichen. Rama beschleunigt seine Schritte und geht, den Schirm schwenkend, in Richtung auf die Tank Road, wo am Abend im Murugan-Tempel das Fest zu Ende gehen wird. Er muß mehr tun, als seine Familie hierherkommen zu lassen, mehr, als für sie zu sorgen. Er muß seinem Gott zeigen, welche Gefühle ihn bewegen. Für so vieles hat er zu danken. Beispielsweise dafür, daß die Dürre nicht kam, ein göttliches Wunder. Und dafür, daß er genauso wie sein Vater bei der Eisenbahn angestellt wurde, so daß er reisen kann, aber auch immer wieder nach Hause kommt. Er hat ja ohnedies schon viel von der Welt gesehen. Aber er hat auch erfahren, was es bedeutet, wenn man das Wichtigste im Leben verliert: die Frau seines Herzens, die Sprößlinge seiner Lenden. Er muß sie wieder bei sich haben. Wenn er ihnen morgen schreibt, daß sie kommen sollen, sind sie vielleicht zum Lichterfest Deepavali hier. Deepavali bedeutet doch Freiheit. Ein neues Leben. Zu viert werden sie ein neues Leben beginnen und darauf hoffen, daß es Bestand hat. Aber die Zeit ist ja eigentlich nicht wichtig, nur der Kampf zwischen Gut und Böse zählt, und er währt ewig. Von Bedeutung ist allein, was das Herz tut. Nächstes Jahr, wenn sie heil hier angekommen sind, gelobt er sich, werde ich am Thaipusam-Tag selbst einen Kawadi tragen. Er leistet stumm den Schwur, daß er einen slav kavadi tragen wird, Murugan zu Ehren, wenn seine Familie eingetroffen ist. Im Geist sieht er sich schon, wie er in einem Spezialgeschäft das Zubehör dafür kauft und wie er sich von seinen Söhnen helfen läßt, den Käfig zusammenzubauen. Beide Jungen, auch der kleine, werden ihm helfen, Pfauenfedern an dem Gestell und oben ein Blumenarrangement zu befestigen, die Girlanden aus 873
Flittergold und Jasmin um jede der Metallstreben zu winden und dann das komplexe Gebilde hochzuheben, bis es auf den gelben Polstern auf seinen Schultern ruht, und schließlich die Stützen in den Ledergurt um seine Taille zu stecken. Und dann werden sie ihm – ohne zu weinen, ohne zu zaudern – behilflich sein, die Dutzende von Haken im Fleisch an seinem Rücken und an seiner Brust zu verankern, während er Murugan und Schiwa und Wischnu und all die anderen Götter lobpreist, narajana, und dann werden die Jungen ihm den Kopf halten, während irgend jemand die lange Nadel durch die herausgestreckte Zunge und die Wangen stößt, ohne daß es blutet, denn seine, Ramas, Gedanken werden bei der Gottheit weilen, narajana, und er wird Gott danken, daß er die Dürre ferngehalten hat, so daß die Jungen nicht verhungerten, und außerdem wird es eine Buße für ihn sein, weil er wie ein Feigling davongelaufen ist, da er es nicht ertragen konnte, sie verhungern zu sehen. Wegen seiner Hingabe an die Gottheit wird es also nicht oder nur ganz wenig bluten, Om Bhagavate Namah, Om Namo Narayanaya, und er wird einen halben Zentner, die Hälfte seines eigenen Gewichts, durch die Straßen von Singapur tragen mit metallnen Haken in seinem Fleisch, denn die Gottheit schenkt große Freude, und die Götter sind uns wohlgefällig gesinnt, narayana, wenn wir ihr Wohlgefallen verdienen.
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um erstenmal seit dreißig Jahren ist Vera Rogatschewa allein. Natürlich sind die drei alten Hausangestellten da, aber im Grunde ist sie allein – ohne Freundin, ohne Ehemann, ohne ihr Kind. Es ist heiß jetzt in Bangkok. Statt der warmen Tage und der kühlen Nächte herrscht rund um die Uhr ohne Unterbrechung eine feuchtdampfende Hitze. Vera sitzt im Schatten auf dem Rasen an einem Tisch, im Blick den schlammigen Klong und links hinten das Geisterhäuschen, durch einen kleinen Hain von Mangobäumen sichtbar. Mit einem Taschentuch wischt sie sich die Stirn ab, tupft sich den Schweiß von der Oberlippe. Ihr deutscher Arzt hat ihr ans Herz gelegt, die Sonne zu meiden. Sie ermüdet leicht, doch die Schulterschmerzen, die ihr in den ersten Monaten der Genesung zu schaffen machten, sind verschwunden. Ich werde am Leben bleiben, denkt Vera und blickt durch Lücken in der Vegetation auf den träge strömenden Klong. Ich werde am Leben bleiben, aber wozu? Auf dem Tisch steht eine Schale mit purpurroten Mangostanenfrüchten. Ihr Appetit ist mit verdoppelter Stärke zurückgekehrt. Zum Frühstück hatte sie Saueräpfel, weich und saftig, saure Mangos und ein mildes Stück Papaya. Aber das war ihr nicht genug. Sie ging in die Küche, nur um einen Blick auf das Obst zu werfen, das sie heute erwartete: Sternäpfel, braune eiförmige Chikus und stachelige Zibetfrüchte, Jackbaumfrüchte, so groß wie Rugbybälle, und haarige, rote Zwillingspflaumen. Das Wasser lief ihr im Mund zusammen. Die Köchin ist in letzter Zeit oft mißvergnügt, weil sie nicht viel anderes zu 875
tun hat, außer Obst einzukaufen und sich mit Ah Ping zu zanken, die eine tyrannische Ader entwickelt hat. Doch Vera spürt, wie ihre innere Energie ständig zunimmt, und schon bald wird sie nicht einmal mehr das Treppensteigen ermüden. Sie wird am Leben bleiben, freilich wofür? Sie hat keinen Menschen, für den sie sorgen, über den sie nachdenken kann, den sie liebt. Sie verdrängt mit Gewalt den düsteren Gedanken und greift nach der Zeitung. In der letzten Zeit ist in der Welt jenseits der Mauern ihres Gartens viel Neues passiert. Der junge Staat Israel hat nacheinander mit Ägypten, dem Libanon und Transjordanien einen Waffenstillstand geschlossen und wird, wie in einem Bericht steht, auch mit Syrien ein solches Abkommen vereinbaren. Also, denkt Vera, wird dort Friede einkehren. Der Nahe Osten ist dabei, seine Probleme zu lösen im Unterschied zu Asien, wo die Konflikte sich täglich verschärfen. Vera liest jede einzelne Spalte mit bewußter Muße. Eine amerikanische Düsenmaschine hat die Vereinigten Staaten in drei Stunden und sechsundvierzig Minuten überflogen. Richard Strauss ist gestorben – sie hat sich nie viel aus seinen Kompositionen gemacht. Colettes Le Fanal bleu ist soeben herausgekommen. In Europa scheint wieder Ruhe zu herrschen, nachdem die Luftbrücke nach Berlin eingestellt werden konnte. Gut. Die regierende nationalistische Partei in Südafrika hat die Apartheid zur Maxime der Innenpolitik gemacht. Wohin wird das führen? Zu nichts Gutem. In der heutigen Morgenausgabe steht ein langer Artikel über die Ankündigung des niederländischen Außenministers, daß die Souveränität der indonesischen Regierung anerkannt werde, sobald die GuerillaAktivitäten auf den Inseln eingestellt würden. Aber dazu 876
wird es nicht kommen, denkt Vera, das Blutvergießen geht sicher weiter. So ist es immer. Bao Dai hat in Saigon eine neue Regierung eingesetzt. Wohin wird das führen? Auch zu nichts Gutem. Und zu nichts Gutem kann es führen, wenn die Bolschewiken China erobern. Daran gibt es nichts zu deuteln. Und jetzt ist Taiyuan gefallen. Mao und seine rote Meute haben sich in Peking einquartiert und die Nationalisten viele ihrer Regierungsstellen von Nanking nach Kanton verlegt, ein sicheres Zeichen, daß sie mit dem baldigen Fall ihrer Hauptstadt rechnen. Vera läßt die Zeitung sinken. Ungutes wird in China geschehen, wenn die Bolschewiken die Macht übernehmen. Nichts Gutes haben die Bolschewiken in die Welt gebracht, seit sie 1919 Mütterchen Rußland zugrunde richteten. Vier Monate ist es jetzt her, daß sie Schanghai verlassen hat, diese Stadt, die für eine ganze Generation erledigt ist, selbst wenn ein Wunder geschieht und die Bolschewiken sie nicht in die Finger bekommen. Denn der Krieg hat Schanghai schon kaputtgemacht, bevor in seinen Straßen die Truppen der Gegner aufeinanderprallen. Die Erinnerung an ihre letzten Tage in Schanghai, Ende November, macht es für Vera zur Gewißheit, daß es mehr als eine Möglichkeit gibt, ein Volk zu ermorden. Man kann die Menschen einfach dadurch umbringen, daß man ihnen den Wert ihrer Besitztümer nimmt. Man kann es so machen, daß man Leuten, die ihr Leben lang gespart und geknausert haben, eines Tages sagt, ihre Ersparnisse reichten nicht einmal mehr, um ein Pfund Reis zu kaufen. Und man kann Menschen dadurch umbringen, daß man sie mit Geld überschüttet, so wie es Tschiang Kai-schek getan hat, ehe Rama sie auf ein Schiff und aus dieser Hölle herausbrachte. Die Perle des Orients, damit war es vorbei. 877
Im Hospital saß Vera jeden Tag mit einem Umschlagtuch um die Schultern im Garten und las über das Sterben einer Stadt, über die Unruhen, die Hinrichtung von Amtsträgern, angeordnet von anderen Amtsträgern, über hilflose Frauen und verzweifelte Kaufleute, die sich das Leben nahmen, über die Hungersnot, der als erstes die Kinder zum Opfer fielen, über den Zusammenbruch jeglicher Autorität außer der des Revolvers. Täglich las sie darüber, wie Elend und Verwüstung sich vom Geschäftszentrum in die Vorstädte ausbreiteten, bis ungezählte Leichen auf den Straßen lagen, die niemand aus dem Weg räumte. Und so verließ sie das China ihrer jungen Jahre zum zweitenmal, ein Land der Kunst und der Poesie, doch auch der Schauplatz von Krieg und maßlosem Leid, nicht von Armeen zugrunde gerichtet, sondern von einer erdrückenden Steuerlast, die diese Armeen erforderlich machten. Die Bolschewiken werden dem Land so wenig Gutes bringen, wie es die Nationalisten taten. Vera wirft die Zeitung auf die Erde. Über ihr hanteln sich Gibbons durch die Bäume. Wir hier unten haben Grund, sie zu beneiden, denkt Vera. Wo sie nur ist? Wo ist meine Tochter jetzt wohl? Ah Ping kommt über den Rasen daher, die Augen mit den schweren Tränensäcken weit aufgerissen und wachsam, als wäre sie ein General auf einem Feldzug. »Arbeiter sind mit diesem Ding gekommen, Mistress.« »Dieses Ding« ist ein Telephon, das Vera installieren läßt, weil Jim Thompson es unbedingt so haben will. Ah Ping hält nichts von dem neumodischen Zeug. Wenn Bestellungen ausgerichtet werden müssen, meint sie, 878
könne doch sie das tun oder Nipa oder Nipas Nichte oder notfalls auch die Köchin. Es sei gefährlich, sich auf etwas so Unzuverlässiges wie den elektrischen Strom zu verlassen – oder womit sonst dieser Kasten betrieben wird. Abgesehen von Ah Pings Bedenken, ist ein Privattelephon in Bangkok etwas sehr Kostspieliges. Aber Jim hat recht: Ohne das Telephon ist sie von der Welt abgeschnitten, und dies gerade jetzt, da sie nur zwei-, dreimal in der Woche den Laden aufsucht und ihre Zeit zumeist hier verbringt. Nicht, daß es ihr schwerfiele, zu Hause zu bleiben. Es ist nach den Jahren der Plackerei ein Luxus. Ihr schwaches Herz macht es Vera zum erstenmal seit ihren Mädchenjahren möglich, die Welt mit Gelassenheit zu betrachten. »Sag ihnen, sie sollen anfangen«, sagt Vera. Ah Ping faltet die knorrigen Hände auf dem Bauch und bleibt unschlüssig stehen. »Sie wollen es also einbauen lassen, Mistress?« »Ja. Du kannst ihnen sagen, sie sollen anfangen.« »Sie haben Werkzeug dabei, um Wände einzureißen.« »Nur um ein paar Löcher zu bohren, Ah Ping.« »Um alles einzureißen, Mistress.« Nach einer Pause läßt sie seufzend die Hände sinken. »Das Ding wird Lärm machen, wird mitten in der Nacht kling-kling-kling machen.« »Sag ihnen, sie sollen anfangen.« Bald darauf hört Vera, wie sich Ah Pings Stimme in jammerndem Protest hochschraubt und eine tiefere männliche Stimme darauf antwortet. Sie werden sich den ganzen Vormittag zanken, denkt Vera. Wie gut, daß ich hier im Garten bin. Und »dieses Ding« wird sie wenigstens mit einem kleinen Stück der 879
Welt verbinden. Jim ist ein guter Freund und auch ein ausgezeichneter Geschäftspartner. Es sieht ganz danach aus, als würde sie mit ihrer impulsiven Investition einen Haufen Geld verdienen, aber wozu eigentlich? Für sie selbst wirft der Laden genug ab. Die Tochter zur Ausbildung ins Ausland schicken, damit ist es jetzt vorbei und ebenso mit der köstlichen Idee, all das Geld für Kleider und Gepäck auszugeben. Vielleicht schaut Jim heute vorbei, um ein Auge auf die Installierung des Telephons zu werfen. Das ist so seine Art. Gestern kam er mit einigen seiner neuen Stoffmuster an, Begeisterung ausströmend wie ein Kind. »Eines Tages möchte ich auch so ein Haus haben«, sagte er und blickte sich um. »Nicht so eins. Ein schöneres«, sagte sie zu ihm. Er hat einen ausgeprägten Schönheitssinn, wenn auch noch nicht sehr geschult. Er hat ihr eine Khmer-Tonskulptur und eine Tsching-Vase abgekauft, und sie mußte ihn bremsen, noch weitere, weniger wertvolle Objekte zu kaufen. Jim nimmt Tabletten, weil er Gallenbeschwerden hat, und raucht zuviel. Sie bemuttert ihn, was er genießt. Vor kurzem ist er aus Indonesien zurückgekehrt, wohin er gereist war, um die dort hergestellten Batikstoffe anzusehen. Sukarno ist für ihn ein opportunistisches Schwein und spielt die Moslems und die Roten für seine eigenen Absichten gegeneinander aus. »Die Lage ist explosiv«, verkündete Jim. »Aber, lieber Jim, für Sie ist doch alles explosiv.« »Weil das hier in der Gegend meistens zutrifft. Außer auf Siam oder vielmehr Thailand.« Sein Versprecher ist verständlich; so was passiert jedem hin und wieder, Vera eingeschlossen. Ministerpräsident Phibun hat vor kurzem das Land aus Siam wieder in 880
Thailand umbenannt, ein taktisches Manöver, um den Geist des Nationalismus anzufachen. Mai pen rai. Für Vera hatte es zur Folge, daß sie ein neues Schild über ihrem Laden malen lassen mußte: Thai Arts Oriental an Stelle von Siamese Arts Oriental. Jim drängt sie ständig, sich um die Politik zu kümmern. Nun, sie hat sich bemüht. Sie kennt sich ein bißchen aus. Die von Phibun durchgesetzte neue Verfassung hat die Nationalversammlung beinahe jeglicher Macht entkleidet. Vera weiß, daß die Regierungsämter von der Armee beherrscht werden, die sich mit Bestechung und Betrug den Weg zu Wahlsiegen bahnt. Eine Hand wäscht die andere: Viele Thai-Beamte gehören den Vorständen chinesischer Firmen an, die sonst von den Ministerien keine Lizenzen bekämen. Was braucht sie sonst schon zu wissen? Mit neunzehn hat sie den Glauben an politische Systeme verloren; nun, beinahe fünfzig, hat sie nicht die Absicht, ihnen wieder Vertrauen zu schenken. »Komische Oper«, das war ihr Kommentar, als vor ein paar Monaten Jim Thompson mit der letzten Neuigkeit hereingestürmt kam: Aus heiterem Himmel war Pridi Phanomyong wieder auf der politischen Szene erschienen. Verkleidet als Marineoffizier und mit einem dichten Schnauzbart war Pridi zusammen mit Kapitänleutnant Vacharachai, seinem Adjutanten, der sich mit ihm nach China abgesetzt hatte, in das Gebäude der Universität für ethische und politische Wissenschaften auf dem Gelände der alten Königsresidenz marschiert. Außerdem war er von mindestens zwei Dutzend Marinesoldaten eskortiert. Eine andere Gruppe besetzte den Rundfunksender und gab bekannt, eine provisorische Regierung habe einen neuen Ministerpräsidenten eingesetzt, der die demokratische Verfassung wiederherstellen werde. Pridi hoffte, Marineinfanterie und Flotte würden ihn gegen die Armee 881
unterstützen, doch die meisten Leutnants und Kapitäne hielten sich von dem Putschversuch fern, der daraufhin zusammenbrach. Phibun schaffte es, die Residenz mit Geschützen und Panzern zu umstellen, jedoch nicht rechtzeitig genug, um Pridi und seine Anhänger daran zu hindern, sich wieder nach China ins Exil abzusetzen. Veras Reaktion? Sie lachte nur, sehr zu Jim Thompsons Verdruß, der sich nicht davon abbringen ließ, alles ernst zu nehmen. Der arme Jim. Die armen Männer, alle miteinander, die mit der gleichen gedankenlosen Naivität Politik betreiben, wie kleine Jungen Krieg spielen. Alle ohne Ausnahme: Erich Luckner, ihr langjähriger deutscher Liebhaber, und Schan-teh, der von allen am ehesten imstande schien, über die tierischen Instinkte hinauszuwachsen, die er zum Überleben brauchte, dann Philip Embree, von seinem Fluch getrieben, sinnlosen Abenteuern nachzujagen, und selbst Jim Thompson, dieser liebe, harmlose Mensch, der thailändische Politik aus allen Poren absondert, als läge irgendein Sinn darin. Jetzt hört sie Hammerschläge drinnen im Haus. Vielleicht hat Ah Ping doch recht; es wäre den Arbeitern durchaus zuzutrauen, daß sie die Wände einreißen. Auch das ist die Art der Männer – mit dem Kopf durch die Wand, kraftvoll, doch unpräzise, unbekümmert um die Folgen. Ah Ping kommt wieder über den Rasen herbei, diesmal mit Prakit Chaidee im Gefolge. Er erscheint zwar beinahe jeden Vormittag, um sich mit Vera zu besprechen, aber Ah Ping läßt es sich nicht nehmen, ihn wie einen richtigen Gast hinaus in den Garten zu geleiten. Und Prakit Chaidee, auf seine Weise auf die Formen bedacht, besteht darauf, in Gegenwart seiner Chefin stehen 882
zu bleiben, während er ihr detailliert berichtet, was sich im Laden abspielt. Arbeiter haben die Wand herausgeschlagen, die das Geschäft von dem des Geldwechslers aus Bombay trennt, denn dieser hat sein an der Ecke gelegenes Etablissement schließlich doch an Vera verkauft. Aus Burma ist eine neue Ladung Kunstgegenstände eingetroffen, darunter eiserne Opiumgewichte, geformt als Elefanten, Vögel und Götter, mit Perlmutt eingelegte Wandschirme und rare Elfenbeinhüllen für Palmblättermanuskripte. Auch aus Singapur ist eine Sendung angekommen zusammen mit einem Brief, in dem ihr der Vorschlag gemacht wird, wegen des zunehmenden Tourismus in Asien nicht nur teure Objekte, sondern auch billigere Waren in größeren Mengen zu kaufen. Vera ist sich darüber bereits im klaren. Sie beabsichtigt, in dem neu dazugekauften Eckladen Gegenstände feilzubieten, wie sie die Touristen gern als Souvenirs aus Thailand mit nach Hause nehmen. Mehr braucht es nicht, um tolle Geschäfte zu machen. An dieses Vorhaben also wird sie sich halten, doch wozu? Ein Brief von Professor Silpa Bhirasri ist gekommen; er hat das Bürgerkomitee zur Erhaltung thailändischer Kunst zu einer Sitzung am Freitag einberufen. Außerdem lädt er Vera zu einem Vortrag ein, den er über die Technik der Wandmalerei halten wird. Sie wird an der Sitzung wie an dem Vortrag teilnehmen. Ihr Agent in Chiang Mai, Pakhoon Chirachanchai, hat schon wieder auf einem Acker eine unbezahlbare antike Kostbarkeit gefunden. Vera lacht. Auch Prakit Chaidee, sonst so kühl und zurückhaltend, 883
kann sich ein Lächeln nicht verkneifen. Sie darf sich glücklich schätzen, Prakit zu haben, denn er ist loyal, fleißig und schlau. Aber was hat sie von diesem Glück? Was heißt das schon, bei einem Unternehmen Erfolg zu haben, das keinem anderen erkennbaren Zweck dient, als Reichtum anzuhäufen? Doch Reichtum bringt immerhin Macht, und Macht ist nicht langweilig. Vielleicht denkt Vera, ist es das, was mich motiviert: die Furcht vor Einsamkeit und Langeweile. Aus dem Haus sind anhaltende laute Geräusche zu hören. Wie groß, fragt sich Vera reumütig, ist der Telephonapparat eigentlich, den sie installieren? Aber ich darf mir vor Ah Ping keine Besorgnis anmerken lassen. Während sich der Lärm noch steigert, blickt sie lächelnd Prakit Chaidee an, der im Schatten steht und in seinem weißen Hemd einen kühlen Eindruck macht. Er ist ein Mann, denkt sie, der es gut mit mir meint. Prakit Chaidee und Jim Thompson, beide Männer meinen es gut mit mir. Und die Frauen in meinem Haushalt beschützen mich mit wachsamen Augen. Habe ich die Freundlichkeit all dieser Menschen verdient? Als Prakit Chaidee wieder gegangen ist, beißt Vera in eine der Früchte aus der Schale vor ihr. Sie genießt den köstlichen Geschmack, indes die warmen, nassen Fasern dem Druck ihrer Zähne nachgeben. Was bleibt ihr jetzt noch als die Freuden des Gaumens? Seit ihrer Rückkehr aus Singapur hat sie noch kein einziges Mal gefragt, wo Wanna abgeblieben ist, und niemand hat ihr von sich aus etwas darüber gesagt. Sie wird nicht danach fragen, niemals! Mach’ ich mir noch etwas aus ihr? fragt sie sich. Natürlich. Sie hat Angst, sie könnte durch Zufall erfahren, wo und mit wem das Mädchen zusammen ist. Wieder kommt Ah Ping über den Rasen, doch diesmal rennt sie beinahe. Ihr Mund ist zu einem überraschten O 884
geöffnet. »Er ist endlich gekommen, Mistress, endlich. Ich weiß es!« Die alte Frau schwenkt ein Kuvert. »Ich kenne ihre Schrift. Der Brief ist von ihr. Ich weiß es. Endlich ist er gekommen, Mistress!« Vor Vorfreude ganz außer sich, wedelt Ah Ping noch immer mit dem Brief, obwohl Vera die Hand ausgestreckt hat, um ihn entgegenzunehmen. Ah Ping, die sich nicht davon trennen kann, steht außerhalb des kreisrunden Schattens in der sengenden Sonne. »Ich erkenne ihre Schrift. Der Brief kommt von ihr. Sie hat Ihnen geschrieben, Mistress. Ich weiß es!« »Ah Ping!« Vera beugt sich nach vorne und streckt beide Hände nach dem Brief aus. Als sie den Umschlag hat – dünn, an einer Seite eingerissen, die Anschrift beinahe unleserlich verschmiert –, starrt sie nur darauf. »Ich hab’s Ihnen ja gesagt! Ich wußte, daß er kommt. Ich habe zu Nipa gesagt – sie wissen ja, daß sie nichts glauben will –, ich hab’ zu ihr gesagt, er kommt jetzt sicher schon bald. Erst gestern hab’ ich das gesagt. Aber Sie kennen ja Nipa. Als ich sagte …« »Ah Ping!« Die alte Frau macht keine Anstalten zu gehen. Ihre Füße in den Sandalen wirken wie in den Rasen gepflanzt, eingewurzelt. »Ich möchte Tee haben, Ah Ping.« »Es ist ihre Schrift, stimmt’s, Mistress? Ich wußte, daß der Brief kommt. Miss Sonja wird uns nicht vergessen …« »Tee, Ah Ping. Und bitte sofort!« Vera blickt der alten Frau nach, wie sie widerstrebend über den Rasen davonschlurft, legt den Brief auf den 885
Tisch, nimmt ihn wieder zur Hand, legt ihn ein weiteres Mal hin. Ah Ping war sich sicherer als sie selbst, daß dieser Brief kommen werde. Nein, sie hat eigentlich nicht erwartet, noch einmal etwas von ihrer Tochter zu hören. Oder zumindest hat sie sich darauf eingestellt, mit keinem Brief zu rechnen. Wieder nimmt sie den Brief vom Tisch und hält ihn kurze Zeit in den zitternden Händen, bevor sie mit dem Obstmesser sorgfältig das Kuvert aufschlitzt. Sie liest, was Sonia auf englisch geschrieben hat. Liebe Mutter, es ist soviel Zeit vergangen, aber Du darfst nicht glauben, ich hätte vergessen, Dir zu schreiben, dachte nicht daran oder wollte es nicht. Ich habe bis heute gewartet, weil mir jetzt die Zeit dafür gekommen scheint. [Die Zeit? Sonja hat vergessen, den Brief zu datieren. Wann hat sie ihn wohl geschrieben?] Ich lebe jetzt in Peking. Ich war hier, als vergangenen Monat die Volksbefreiungsarmee in die Stadt einzog [Im vergangenen Monat? Das bedeutet Ende Januar; Sonja muß den Brief Ende Februar oder Anfang März geschrieben und abgeschickt haben.] Es war aufregend schön. Und ich sah den Vorsitzenden Mao stehend in einem Jeep vorüberfahren. Es gab überhaupt kein Blutvergießen. Ich bin glücklich, daß ich hier bin. [Idiotisch! denkt Vera. Unter Bolschewiken glücklich zu sein!] Peking ist eine großartige Stadt. Die Luft ist gelb von dem Staub darin. Ich bin glücklich hier. Es gibt soviel zu erzählen, aber es wäre unmöglich, alles in einem Brief unterzubringen. Du fehlst mir. Das ist etwas, was ich leicht und ehrlich gestehen kann. Je länger ich fort bin, desto klarer wird 886
mir, wie nahe wir uns eigentlich standen. Du warst immer gut zu mir, Mutter. Das werde ich Dir nie vergessen. Mach Dir keine Sorgen, wie es mir hier geht. Ich komme sehr gut zurecht. Da ich mehrere Sprachen spreche, habe ich eine gute Arbeit als Übersetzerin für eine Nachrichtenagentur bekommen. Ich werde schon bald aus meiner jetzigen Unterkunft ausziehen. Der Stadtteil, wo ich wohne, wird derzeit abgerissen, weil neue Wohnungen für Arbeiter gebaut werden sollen. Wenn ich etwas anderes gefunden habe, schicke ich Dir die genaue Adresse. Sollte Philip sich mit Dir in Verbindung setzen, teile sie ihm auch mit. [Da haben wir’s! Philip!] Wir haben zwar bisher noch keinen Kontakt, aber das ist nur eine Frage der Zeit. Es könnte sein, daß er versucht, durch Dich Verbindung zu mir aufzunehmen. Ich weiß, wie Du darüber denkst. [Stimmt das? Kannst du es überhaupt wissen?] Aber ich habe Dich noch nie um etwas gebeten, was mir so wichtig war wie jetzt Deine Hilfe, damit ich ihn wiederfinde. Ich weiß, daß er noch hier in China ist. Ich weiß, daß er nach mir sucht. Wir gehören zusammen – das ist eine der Gewißheiten in meinem Leben. Wenn Du nur wüßtest! [Was wüßtest? Was an dieser Situation ist mir denn nicht bekannt?] Bitte, verlaß Dich auf mein Urteil, und wenn er sich mit Dir in Verbindung setzt, laß ihn wissen, wo ich bin. Es heißt, daß man uns bald in den Westen von Peking umquartiert, in die Nähe der Tatarenstadt. Ich schicke Dir noch die genaue Adresse. [Das hat sie schon einmal geschrieben.] Wenn er nach Peking kommt, wird alles gut werden für uns, und ich weiß, daß Du es dann auch verstehst und akzeptierst, wenn es so kommt. [Vera läßt das Blatt auf ihren Schoß sinken, blickt über den Rasen und denkt: Immerhin gibt mir Philips fatale Unentschlossenheit Grund zur Hoffnung.] 887
Hoffentlich erreicht Dich dieser Brief, Mutter! Die Post geht zwar jetzt regelmäßig von Tientsin ab, aber es heißt, daß die Nationalisten eine Blockade über das Ostchinesische Meer verhängt haben. Also, ich lass’ Dich dann wissen, wo ich bin. Und sei bitte nicht böse auf Philip, denn ich liebe ihn, und er liebt mich, und irgendwie wird uns das Schicksal wieder zusammenführen. Ich glaube daran so fest, wie ich an Deine Liebe zu mir glaube. Du mußt wissen: Was auch geschieht, meine Liebe zu Dir ist so stark, wie sie immer war. Wenn Du Lamai sehen solltest, bestelle ihr liebe Grüße. Sag den Frauen im Haus bitte, daß ich an sie denke. Ich denke an Euch alle. Deine Tang Yu-ying. Sie liebt mich also, denkt Vera. Hat das jemals in Zweifel gestanden? Seltsamerweise ist sie sich dessen immer sicher gewesen. Ihre gegenseitige Liebe ist fest gegründet, inmitten von Chaos und Torheit. Vera faltet den Brief zärtlich zusammen und entfaltet ihn dann wieder. Sie lächelt. Keine orthographischen Fehler. Sonja muß ein Wörterbuch zu Rate gezogen haben, ein englisches Wörterbuch im revolutionären China. Eine Konzession? Doch der Briefschluß mit dem Namen Tang Yu-ying, den Sonja sich zugelegt hat, hat nichts Konziliantes. Sie hätte ebensogut schreiben können: »Ich bin eine Chinesin, wie ich damals am Frühstückstisch erklärte, als wir uns über meine Nationalität stritten. Du kannst sagen, was du willst, ich bin die Tochter meines Vaters. Und ich heiße jetzt Yu-ying, gleich, wer den Namen getragen hat, ob Hure oder große Dame.« Stur, denkt Vera. Wie ich. Denk jetzt nicht weiter über den Brief nach, sagt sie sich dann. Er ist zu wichtig, um ihn sich sofort durch den Kopf 888
gehen zu lassen. Auf der Suche nach etwas anderem, das ihre Gedanken beschäftigen könnte, fällt ihr eine kleine Begebenheit in Singapur ein, wo sie im Dezember auf der Rückreise aus China Zwischenstation gemacht hat. Sie suchte die Geschäfte auf, in denen Vögel verkauft werden. Von Erinnerungen an Schan-teh, der Singvögel liebte, dorthin geführt, war sie früher an den gelackten Bambuskäfigen vorüberspaziert und hatte dabei überlegt, welchen unter den Lerchen, Kanarienvögeln und Finken er wohl den Vorzug gegeben hätte. Als sie das letzte Mal von den Geschäften ins Hotel Raffles zurückkam, war sie doppelt bedrückt, weil sie nach Schan-teh nun auch ihre gemeinsame Tochter verloren hatte. Sie setzte sich an einen Tisch im Palmenhof, unter einen Himmel, über den von der untergehenden Sonne blutrot gefärbte Wolken zogen. Hoffentlich, sagte sie sich, bekomme ich Philip noch einmal zu sehen, damit ich ihm sagen kann, wie perfekt es ihm gelungen ist, mein Leben zu verpfuschen. Eines der ersten Dinge, die sie nach ihrer Rückkehr nach Bangkok tat, bestand darin, Taksakan, den Hirtenstar, zu verkaufen. Damit war es mit seinen gekrächzten Alarmrufen vorbei. Denk daran, sagt sie sich, nicht an den Brief. Denk an Vögel. Doch an Vögel denken heißt auch an Sonjas Vater und Sonjas Liebhaber denken, und so gerät sie wieder an den Brief. Was aus seinem Inhalt tut ihr am meisten weh? Daß ihre Tochter so fern von ihr lebt? Und in einem Land mit Ungewisser Zukunft? Unter Bolschewiken? All dies schmerzt, doch am meisten, daß das Mädchen Philip Embree verfallen ist. Sie spürt, wie die Hitze sie mehr und mehr bedrängt, das Grün des Gartens wie mit einer unsichtbaren Hand umklammernd. Doch nicht die Hitze veranlaßt sie dazu, 889
aufzustehen und aufs Haus zuzugehen. Sie muß in Sonjas Zimmer – jetzt, noch diese Minute. Im Wohnzimmer, wo das Telephon installiert wird, hat das Gehämmer aufgehört, und nach einem kurzen Blick auf die Arbeiter, die an der Wand kauern, während Ah Ping und Nipa sie mit kritischen Blicken umflattern, steigt Vera langsam die Treppe hinauf. Sie gerät inzwischen nicht mehr in Atemnot, noch ehe sie oben ankommt, obwohl ihr, vielleicht wegen ihrer inneren Erregung, benommen, beinahe schwindelig ist, als sie die Tür von Sonjas Zimmer öffnet. Vera lehnt sich haltsuchend an den Türrahmen und blickt sich um. Sie hat alles in Ordnung gehalten, so daß Sonja morgen den Raum betreten und sich wieder zu Hause fühlen könnte. Ein Detail natürlich hat sich verändert: Das Sandelholzschränkchen, in dem sie ihre Tagebücher aufbewahrte, ist jetzt leer, und die Türen stehen absichtlich weit offen. Vera tritt in das Zimmer und setzt sich auf einen Stuhl neben dem französischen Schreibtisch. Sie starrt auf das ranad ek, das klassische Xylophon, das Sonja zu ihrem zehnten Geburtstag von Philip als Geschenk bekam. Vera weiß noch, wie er fröhlich grinsend mit dem ranad ek hereinkam. »Sie wird es nicht spielen«, sagte Vera zu ihm. Sonja schien, zur Enttäuschung ihrer Mutter, kein musikalisches Talent zu haben. Vera selbst hatte in ihrer Kindheit Klavierunterricht erhalten, weil es damals obligatorisch war, Chopin-Etüden zu spielen, es freilich nicht sehr weit gebracht. Doch Philip ließ sich nicht davon abhalten, das Xylophon hinauf in Sonjas Zimmer zu tragen. Und da steht es nun seither. Vera kann sich nicht erinnern, daß ihre Tochter 890
auch nur die Klöppel in die Hände genommen, geschweige denn damit auf die Holzstäbe geschlagen hätte. Jetzt ruht Veras Blick auf dem ranad ek. Die diatonische Tonleiter der Thai besteht aus sieben Ganztönen innerhalb der Oktave. Woher, fragt sie sich, weiß ich das? Man stopft sich den Kopf mit sinnlosen Informationen voll. Wenn man älter wird, denkt sie, muß man sich durch Müll wühlen, will man einen wertvollen Gedanken finden, sorglos mit all dem Plunder zusammengeworfen. Vera starrt das ranad ek an. Soviel weiß sie immerhin: In einem piphat-Orchester spielt es zumeist Variationen, die Hauptmelodie ist dem gong wong yai zugeteilt. Sie weiß auch, woher sie dieses bedeutungslose Detail kennt – von Wanna. Aber woher wußte Wanna etwas so Esoterisches über Musik? Zweifellos von einem Liebhaber. Denn das meiste, was dieses reizende Kind weiß, hat es im Bett gelernt. Ein schäbiger Gedanke, sagt sich Vera. Sie steht auf – steht über dem ranad ek. Sie langt nach unten und nimmt einen der Klöppel in die Hand. Sonja hat nie, nicht ein einziges Mal, versucht, das Instrument zu spielen. Töne haben sie nie interessiert. Dagegen schrieb sie gern Geheimnisse in ihre Tagebücher, die sie versteckt hielt, oder führte Gespräche mit einer imaginären Person, so daß die Hausangestellten das Ohr an die Tür drückten, um mitzuhören. Bitterkeit und Einsamkeit, denkt sie, sind verschwisterte Dämonen. Sie tippt mit dem Klöppel auf einen der Holzstäbe; ein tiefer, reiner Ton erklingt, der die Illusion weckt, als käme er von weit her. Vera legt den Kopf schief, bis die Vibrationen schwächer werden und verklingen. Dann schlägt sie auf einen anderen Stab, auf noch einen und 891
wieder einen, und dann trifft sie, ohne nachzudenken, mit solcher Wucht den Rand des Instruments, das der schmale Holzgriff zerbricht. Jetzt stößt sie mit einem Fuß an das ranad ek, bis es von seinem kleinen Sockel stürzt. Sie greift nach unten, packt das Xylophon und drückt, ja wirft es beinahe gegen die Wand. Ohne zu zögern, hebt sie es wieder auf und wirft es wieder gegen die Wand. Sie atmet jetzt schwer, spürt, wie ihr die Hitze ins Gesicht steigt, das Herz pocht. Trotzdem bückt sie sich noch einmal und hebt das ranad ek auf, nun ein Gewirr von zersplittertem Holz und Lederriemchen. Sie nimmt all ihre Kraft zusammen und schleudert noch einmal das lädierte Instrument gegen die Wand. Dann sinkt sie keuchend auf den Boden und betrachtet mit düsterem Blick Philip Embrees zerstörtes Geschenk. Ein beengendes Eisenband um ihre Brust hindert sie daran, aufzustehen und es noch einmal an die Wand zu schmeißen. Als sie sich leicht zur Seite wendet, sieht sie unter der Tür die beiden Arbeiter mit gaffenden Mündern dicht gedrängt neben Ah Ping und Nipa. Sie bringt ein schwaches Lächeln zustande. »Denkt euch nichts«, keucht sie. »Ist schon gut.« Dann wirft sie wieder einen Blick auf den Trümmerhaufen und sagt: »Ich werd’ überleben.« Sie weist mit einer Handbewegung die beiden Hausangestellten zurück, die auf sie zugehen wollen. »Nein«, sagt sie in scharfem Ton. »Laßt mich in Ruhe.« Langsam wendet sie den Kopf ab und blickt wieder auf das zertrümmerte Instrument. Der Anblick läßt auf ihrem schweißbedeckten, bleichen Gesicht ein Lächeln erscheinen.
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ährend seiner ersten Tage bei der Volksbefreiungsarmee wurde Philip Embree oft verhört. Einer der Offiziere der Roten bestand darauf, englisch zu sprechen, obwohl sein Englisch mangelhafter war als Embrees Chinesisch. Embree wurde bald klar, daß der Mann mehr daran interessiert war, sich in der Fremdsprache zu üben, als etwas aus ihm herauszuholen. Ein anderer Vernehmungsoffizier, der die Sache mit mehr Ernst anging, fragte Embree auf chinesisch über ein Spionagenetz in der Mandschurei aus, das früher vom amerikanischen Konsulat in Mukden aus gesteuert worden sei. »Waren Sie an dieser Operation beteiligt?« fragte der Offizier. »Ich war nie in Mukden. Niemals in der Mandschurei.« »Warum bekämpft die amerikanische Regierung das chinesische Volk?« »Darüber weiß ich nichts.« Der Mann war ein Kettenraucher. Doch jedesmal, wenn er eine Zigarette herausholte, bot er sie zuerst Embree an, der dankend ablehnte. »1944 feierte die Chinesische Kommunistische Partei Ihren Feiertag, den 4. Juli. Wußten Sie das? Tschu En-lai lud Ihre Minister zu einem Besuch nach Yenan ein. Wußten Sie das? Im Zweiten Weltkrieg erklärte sich General Tschu Teh bereit, kommunistische Truppen amerikanischem Kommando zu unterstellen. Wußten Sie das? Unser Vorsitzender Mao ersuchte um ein Zusammentreffen mit Ihrem Präsidenten, wurde aber abgewiesen. Wir haben uns große Mühe gegeben, ein 893
gutes Verhältnis zu Ihrer Regierung herzustellen. Sind Ihnen diese Dinge bekannt?« Embree nickte. Dank MAGIC wußte er darüber Bescheid und über noch mehr. Viele Amerikaner waren der Überzeugung, daß sich die chinesischen Kommunisten ohne russische Unterstützung gezwungen sehen würden, die Bedingungen der Nationalisten anzunehmen. Das war nun wirklich ein Irrtum. Und dann Marshalls naive Hypothese, Amerika könnte eine Verständigung zwischen den kriegführenden Parteien zustande bringen, zwei Jahrzehnte haßerfüllter, blutiger Auseinandersetzungen ließen sich einfach beiseite schieben zugunsten eines demokratischen Dialogs. »Was sagen Sie zu diesen imperialistischen Machenschaften?« fragte der Vernehmungsoffizier aufgebracht. »Ich finde, in der amerikanischen Politik spiegeln sich einige Fehleinschätzungen.« »Ist das alles?« »Irrtümer aus Unwissenheit. Ist das nicht genug?« »Sind Sie ein Anhänger Tschiang Kai-scheks?« »Nein.« »Dann Sind Sie Kommunist?« »Auch nicht.« »Wenn Sie kein Kommunist sind, dann unterstützen Sie Tschiang.« Embree schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube tatsächlich, daß es für China besser ist, wenn Sie den Sieg davontragen.« »Inwiefern?« »Weil alles andere besser ist als das gegenwärtige Regime.« 894
»Das ist kein großes Plädoyer für die Befreiung.« Embree schwieg. »Sie lehnen den Kommunismus ab?« »Ich habe meine Vorbehalte gegen die Ideen des Marxismus.« »Wie denken Sie über die Volksbefreiungsarmee?« »Ich bekomme allmählich den Eindruck, daß sie vielleicht eine großartige Armee ist.« »Wenn Sie von unserer Armee etwas halten, müssen Sie auch unsere Ziele gutheißen.« »Für mich sind Ihre Armee und die Regierung, die dadurch ans Ruder kommt, zwei Paar Stiefel.« »Sie drücken sich unklar aus.« »Ja, das kann sein.« Der Offizier warf einen Kurzbericht der Nachrichtenagentur Neues China auf den Schreibtisch und deutete darauf. »MacArthur hat aus Japan amerikanische Geheimagenten in Marsch gesetzt, die bei uns spionieren sollen. Hier steht es.« »Ich halte das für eine unbewiesene Behauptung.« »Weshalb sind Sie hier? Um bei uns zu spionieren?« Embree überlegte, welche Antwort er darauf geben sollte. Es bestand eine gute Chance, ihnen den Schwindel mit der Weltgesundheitsorganisation anzudrehen oder sogar auf seiner niederländischen Nationalität zu bestehen. Aber in ihm regte sich der unberechenbare Impuls seiner Jugend, wenn er die Grundregeln der Selbsterhaltung außer acht ließ, nur um zu sehen, was als nächstes passieren mochte. War er ein Spion? Embree ließ es darauf ankommen. Er sagte: »In gewisser Hinsicht.« 895
»Was wollen Sie damit sagen?« Embree zuckte die Achseln. »Insofern, als ich Ihre Armee begleiten möchte, um zu sehen, was sie leistet. Ob sie wirklich imponierend ist.« »Sind Sie ein Nachrichtenoffizier?« »Nein. Ich bin 1945 aus unserer Armee ausgeschieden.« »Sind Sie Journalist?« »Nein.« »Sie müssen bescheuert sein. Was genau interessiert Sie denn?« »Ich weiß nicht. Alles. Wie Ihre Männer denken, reagieren, wie sie sich in der Schlacht halten. Ich habe Kampferfahrung, ich kenne mich aus, glauben Sie mir. Ich bin neugierig. Ich beschäftige mich mit dem Studium der Kriegskunst in philosophischer Hinsicht.« Es war nur halb scherzhaft gemeint. »Würden Sie der amerikanischen Regierung berichten, was Sie gesehen haben?« »Ja, vermutlich.« »Das also wäre Ihre Absicht. Bei uns zu spionieren.« »Ich interessiere mich nicht für Zahlen oder die genaue Verteilung von Truppen. Darauf hätte es ein Spion abgesehen.« »Erwarten Sie, daß ich Ihnen das abnehme?« Embree schwieg. »Wenn Sie kein Spion sind, warum würden Sie der amerikanischen Regierung überhaupt berichten?« »Ich bin Staatsbürger. Wenn man mich fragte, was ich gesehen oder welche Eindrücke ich gewonnen hätte, würde ich Auskunft geben. Aber meine eigene Absicht dabei? Nun, ich möchte die Wahrheit ergründen. 896
Herausbekommen, warum Sie trotz alledem gewinnen.« »Für wen möchten Sie die Wahrheit herausfinden?« »Für mich.« »Aber was würden Sie mit der Wahrheit anfangen, sobald Sie dahintergekommen sind?« »Dann hätte ich sie eben.« Damit war diese Vernehmung beendet. Am nächsten Morgen kam der Offizier wieder und sagte in schneidendem Ton: »Wenn Sie bei uns spionieren wollen – tun Sie’s ruhig! Es ist uns egal. Tun Sie, was Sie wollen. Ihr Amerikaner könnt uns keinen Schaden mehr zufügen.« »Heißt das, daß ich mitkommen darf?« Der Offizier zog kräftig an seiner Zigarette und nickte. Es war schwierig für Embree, sich vorzustellen, was der Mann von dieser Entscheidung hielt, die offenbar höheren Orts getroffen wurde. »Irgendwelche Einschränkungen?« »Glauben Sie etwa, wir haben Angst, daß Sie etwas herausbekommen könnten? Wir haben nichts zu verbergen. Sie können tun, was Sie wollen. Aber Sie müssen für Transport, Verpflegung, für alles zahlen, was Sie benützen Wir sind keine reichen Leute. Im übrigen bewegen Sie sich nach Belieben. Wir werden Ihnen sogar einen Brief geben als Reiseerlaubnis.« »Das wollen Sie tun?« »Damit Sie sehen, wie sehr wir uns vor amerikanischen Spionen fürchten.« Damit waren die Verhöre zu Ende. Embree war ein kalkuliertes Risiko eingegangen, hatte auf zwei charakteristische chinesische Eigenschaften gesetzt: Respekt vor dem objektiven Beobachter und Neugier. Er hatte sich auf das Interesse der Chinesen an 897
nachdenklicher Ergründung verlassen und auf ihre Bewunderung eines jeden, der dieses Interesse gleichfalls zeigt. Ja, und was riskierten sie eigentlich, wenn sie ihn mitziehen ließen? Daß er ein weißer Ausländer war, zählte weniger als seine freimütig eingestandene und daher glaubwürdige Absicht, den Erfolg einer Armee zu ergründen, auf die sie mächtig stolz waren. Er mußte ihnen als ein erfahrener und gebildeter Mann erscheinen, der vielleicht etwas herausfinden würde, was auch für sie selbst durchaus von Gewinn sein konnte. Sie konnten es also darauf ankommen lassen. Schaden konnte er jedenfalls keinen anrichten. Schließlich hatten ja während der gesamten chinesischen Geschichte Gelehrte die Lenker großer Geschehnisse begleitet. Anscheinend hatte er also auf die richtige Karte gesetzt. Bald nachdem sie sich aus Tsinan abgesetzt und den Fluß überquert hatten, ging Bernard Petter seiner Wege. Als »politische Erklärung« hatte er den Beauftragten der Roten vorgetragen, daß ihm Kriegshandlungen zuwider seien, und sie damit bewogen, ihn hinter die Front, in Gebiete zu schicken, wo die Bodenreform durchgeführt wurde. So erzählte er es Embree beim Abschied. »Ich möchte den chinesischen Marxismus in Aktion sehen«, erklärte er. »Nicht auf Schlachtfeldern, sondern in den Dörfern, wo sich die wahre Revolution abspielt. Wo ich das praktische Denken der Chinesen beobachten kann.« »Das konnten Sie ja bereits«, bemerkte Embree, während der kleine Franzose seine Sachen zusammenpackte. »An der Aufnahme der Deserteure beispielsweise.« Bernard Petter nickte gemessen. »Ein Beispiel menschlicher Gesinnung.« 898
»Praktischer Gesinnung. Sie bieten Männern, die vor einer sicheren Niederlage stehen, Straferlaß an. Und was geschieht? Sie schwächen den Feind, gegen den sie kämpfen müssen, und verstärken ihre eigenen Streitkräfte. Soviel ich weiß, bilden sie aus den Deserteuren einen neuen Verband innerhalb der Volksbefreiungsarmee. Die 35. Armee.« Bernard Petter wählte seine Worte mit Bedacht. »Es freut mich, daß ich Ihnen helfen konnte, aus Tsinan rauszukommen. Denn jetzt werden Sie erleben, wie die Zukunft wirklich ist, nicht so, wie die Imperialisten im allgemeinen die Dinge sehen. Sie werden erkennen, daß Sie in einer neuen Welt leben. Diese Menschen sind anders. Sie denken anders als früher die Leute. Sie haben eine Vision.« »Alle Menschen sind Brüder«, sagte Embree, halb im Scherz, halb in dem Wunsch, daran zu glauben. »Ganz richtig. Lassen Sie sich nicht vom Zynismus blind für die Wahrheit machen.« Nett gesagt, dachte Embree. Schon nach wenigen Tagen fiel Tsinan. Die Bürger, die sich freiwillig bereit fanden, Leichen von den Straßen zu schaffen, bekamen von den Roten Reis. Plünderer wurden auf der Stelle erschossen, darunter auch Soldaten der einmarschierenden Dritten Feldarmee, die dabei gestellt wurden. Tausende Soldaten der Kuomintang wurden mit gesalzenem Schweinefett und Gemüse verpflegt, während kommunistische Kader sie über das Glück belehrten, sich der Volksbefreiungsarmee anschließen zu können. Philip Embree machte eine Probe auf seine Bewegungsfreiheit. Er verschaffte sich eine Mitfahrgelegenheit auf einem Lastwagen, der in die 899
Provinz Honan fuhr, wo Liu Po Ch’eng, der Einäugige Drache, dabei war, die Zweite Feldarmee für einen Vorstoß nach Süden zu formieren. Embree wurde zwar überall angestarrt, blieb aber unbehelligt. Manchmal schloß er sich Truppen auf dem Marsch an, dann wieder fuhr er auf Nachschubfahrzeugen mit (wobei er für die Fahrt zahlte). So entfernte er sich immer weiter von der chinesischen Ostküste, wo vielleicht irgendwo Sanuk auf ihn wartete. Er schob die Frage beiseite, die für sein Leben wirklich wichtig war: Gibt es für ihn und diese junge Frau eine Chance? Er schob sie beiseite und folgte der Armee der Roten, ihrem Schicksal entgegen. Das war vor einem halben Jahr. Inzwischen ist es Frühjahr 1949. Die Volksbefreiungsarmee steht bereit zur letzten Großoffensive gegen Nanking, und Philip Embree ist noch immer dabei, begleitet eine Einheit der kommunistischen Infanterie. Er hat zusammen mit diesen dreißig Männern den strengen Winter in Zentralchina durchgestanden. Mukden ist gefallen. Die Blüte von Tschiang Kai-scheks Armee wurde während der Hwai-Hai-Kampagne in der Gegend von Sütschou vernichtet. Fast genau ein Jahr nach dem Tag von Gandhis Ermordung marschierten rote Truppen in Peking ein. Zwei Wochen später fiel Tientsin. Trotz mangelhafter Bewaffnung und Taktik, findet Embree nun, ist die Volksbefreiungsarmee eine Streitmacht, die einen Vergleich mit den besten Armeen der Welt aushält. Was wohl General Tang Schan-teh von ihr hielte? Sicherlich würde diesem gestrengen Berufssoldaten diese Armee in ihrer jetzigen Verfassung gefallen, ihre Ausdauer und Disziplin, ihr Kampfgeist – jetzt, ehe der Sieg politische Verantwortung bringt. 900
Und sollte es jemals zu einem Zusammenstoß mit den Amerikanern kommen, würde die Volksbefreiungsarmee sich tapfer schlagen. Das wird Embree den Leuten von MAGIC berichten, falls es MAGIC noch gibt, was er eher bezweifelt. Wie er sich mit den Typen auskennt, haben sie ihr Bündel geschnürt und sich aus dem Staub gemacht, um Konfrontationen in letzter Minute auszuweichen, die der Regierung in Washington Unannehmlichkeiten bereiten könnten. Dann wird er eben jedem, der sich dafür interessiert, von der Volksbefreiungsarmee erzählen, und wenn sich niemand dafür interessiert, ist es auch egal. Wichtig für ihn selbst ist das Gefühlserlebnis China, das ihn in seiner Jugend packte und das nun wiederauflebt. In diesen letzten Monaten hat er an vielen Lagerfeuern gesessen und mitangehört, wie die Soldaten schmatzend, schlürfend und rülpsend ihren Proviant vertilgten, nicht anders als seine Kameraden zwanzig Jahre zuvor. Ob Philip Embree auf Lastwagen mitfuhr oder zu Fuß das Land durchquerte, immer wieder hat er an den jungen Männern, die auf diesen schier endlosen Straßen zielstrebig dahinmarschierten, Gesichter aus vergangenen Tagen entdeckt. Ab und zu bemerkt er eine bestimmte Körperhaltung oder Gesichtsstruktur, die ihn an einen Menschen erinnert, der seit langem tot ist, dessen Tod er schon vergessen hatte. Und dann, im Februar, an einem bitterkalten Tag unter einem kristallklaren Himmel, kam er auf einem Lastwagen an einer Marschkolonne vorbei und sah eine kleine, magere, vornübergebeugte Gestalt in einer wattierten Jacke, eine grobe Decke um die Schulter geschlungen. Der junge Soldat unterschied sich von den anderen durch seine dunkle Gesichtsfarbe, eine Dschungelpflanze mitten auf einem Weizenfeld – Ho Jin-shi. Jedenfalls kam es Embree 901
in diesem Augenblick so vor, aber auf dem dahinrumpelnden Laster war keine Zeit, sich über die Identität des dunkelhäutigen jungen Mannes Gewißheit zu verschaffen. Doch selbst wenn Embree sich die Zeit genommen hätte – er hätte ja abspringen und später mit einem anderen Lastwagen weiterfahren können –, so wollte er doch keine absolute Gewißheit, daß Ho Jin-shi noch am Leben war. Der junge Siamese hatte keinen Platz mehr in seinem oder Sanuks Leben. So viele Dinge haben in der letzten Zeit Embrees Auge erfreut. Erst vergangene Woche sah er einen gebeugten alten Mann mit einer Hacke schräg über der Schulter ein Feld entlangwandern; der Anblick ließ Embrees Gedanken in frühere Jahrhunderte zurückschweifen, als die Vorfahren des Alten, wenn sie nicht vor Banditen oder Armeen flüchteten, durch die gleichen Felder mit der jungen Frühlingssaat gingen, ihre Hacken geschultert. Pappeln mit ihren hohen, geraden Stämmen fügen sich in die Geometrie dieser Landschaft wie die Kanäle und Straßen. Nur ein einziges Maultier auf einem Stoppelfeld in der Ferne läßt vielleicht zwischen den geraden Linien eine Kurve erkennen, wenn seine Halslinie sich zu den abgeschnittenen Stengeln wölbt, hinter denen sein knabberndes Maul her ist. Dies ist das China, wie Philip Embree es in Erinnerung hat. In den letzten Tagen haben die Felder eine hellgrüne Färbung angenommen. Sie erstrecken sich bis hinauf nach Peking, der Stadt der Kälte, die so oft Invasionen widerstanden und noch öfter die Invasoren assimiliert hat. Peking als Hauptstadt eines neuen China wird China wieder zu dem machen, was es einmal war. So reden die Männer um die Lagerfeuer herum. Embree sitzt in einer Stimmung wachsamer Gelassenheit zwischen den Soldaten. Noch ein paar Tage, und Nanking 902
wird fallen, und mit Nankings Fall wird er in die nächste Phase seines Lebens eintreten. In seiner Jugend blickte Embree nicht zurück. Doch nun, in vorgerückten Jahren, konstatiert er mit Befriedigung an sich eine neue Tendenz: Nachdem er in einer jähen Anwandlung sich von allem abwandte, was sein Leben ausmachte, kann er nun darauf zurückblicken. Und er kann sich vorstellen, daß es für ihn eine Möglichkeit der Umkehr gibt. Jedesmal, wenn er in die Vergangenheit blickt, taucht das Gesicht einer jungen Frau auf. Je weiter die Befreiungsarmee nach Süden vordringt, um so häufiger blickt er zurück, und vor seinem Blick erscheint sie. Was, fragt er sich, habe ich eigentlich getan? Die Frage läßt sich nun nicht mehr beiseite schieben. Ich habe mich verdrückt. Wieder einmal. Und was muß ich tun? Ich muß zu ihr zurück, falls sie dort ist: in Schanghai oder Peking. Wird sie dort sein? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Nein, kein: vielleicht auch nicht. Sie ist dort! Und ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, wird er ihr gestehen, was ihn von ihr ferngehalten hat. Nachdem er ein halbes Jahr um den Mut gerungen hat, es ihr zu sagen, wird er es unumwunden aussprechen: Weil ich deine Mutter für mich haben wollte, beteiligte ich mich an dem Komplott, das deinen Vater in eine Falle locken sollte. Nur in einem einzigen Punkt wird er Verzeihung zu erlangen versuchen. Was er tat, hat nicht zum Tod ihres Vaters geführt. Er versucht, sich ihre Reaktion auszumalen. Doch als ihm dies nicht gelingen will, wendet er sich einer Analyse seines Geständnisses zu. Es besteht aus zwei Teilen. Erstens: Ich habe aus Liebe deine Mutter dazu gebracht, China zu verlassen. Dies wird Sanuk möglicherweise akzeptieren, selbst wenn damit ein Akt des Verrats an 903
ihrem Vater verbunden ist. Zumindest war es menschlich verständlich, eine Tat romantischer Verliebtheit. Zweitens: Als Entgelt dafür, daß ich deine Mutter aus China hinausbringen konnte, nahm ich an dein Komplott teil, das zu dem versuchten Attentat auf deinen Vater führte. Aber da liegt ja der Haken! Mit dem zweiten Punkt kann sie sich keinesfalls abfinden. Und selbst wenn es ihr mit einer verzweifelten Anstrengung doch gelingt, weil sie die Beziehung zwischen ihnen retten will, wird sie nie mehr davon loskommen. Sie wird die schreckliche Wahrheit in sich hineinfressen, bis sie ihr das Herz zerfrißt. Vor zwanzig Jahren schon in Peking, denkt Embree, waren wir zum Scheitern verurteilt. Er wird also kein Geständnis ablegen. Doch irgendwann, in einem Augenblick der Schwäche, könnte er dennoch alles beichten, und was dann? Ihr gemeinsames Leben wird zu einer Wanderung durch vermintes Gelände werden. Aber sie werden ein gemeinsames Leben haben. Irgendwie. Es muß sein. Warum? Weil es Teil eines Musters ist. Es ist Mitte April, als sich die Truppen dem Yangtse nähern, wo es eigentlich zu einem großen Zusammenprall zwischen einhundertzwanzigtausend nationalistischen und ebenso vielen roten Soldaten kommen soll: Doch es wird alles sehr viel glimpflicher ablaufen. Zahlreiche Faktoren haben zu dieser erfreulichen Aussicht beigetragen. Tschiang Kai-schek ist ganz damit beschäftigt, Truppen, Nachschubgüter, die Goldreserven der Regierung und Kunstschätze in Staatsbesitz auf die Insel Formosa schaffen zu lassen, weswegen ihm nur wenig Zeit und noch weniger Neigung bleibt, in die Führung des Krieges 904
auf dem Festland einzugreifen, der ohnedies verloren ist. Das hat Adjutanten und Kommandeuren eine Chance eröffnet, durch Fahnenflucht, Absprachen mit dem Gegner ihre Haut zu retten oder sich heimlich davonzumachen. Vor ein paar Tagen übergab General Ku Chu-tung, Stabschef der Zentralarmee, das Kommando über die Festung Kiangyin einem Untergebenen, der prompt die schweren Geschütze nicht auf Kanonenboote der Roten, sondern auf das Geschwader der Regierung richten ließ und es damit zwang, sich den Kommunisten zu ergeben, vermutlich in der wohlbegründeten Hoffnung, man werde ihn straffrei davonkommen lassen oder gar als Stabsoffizier in die Volksbefreiungsarmee aufnehmen. Deshalb rechnet die Befreiungsarmee, die sich am Yangtseufer gegenüber Nanking konzentriert, nicht damit, auf heftigen Widerstand zu stoßen. Die Kolonnen marschieren energisch die Straße im Frühlingsschmuck dahin, vorüber an einer langen Reihe verkrümmter alter Zypressen, aus denen das neue Leben machtvoll herausbricht. In den Teichen drängen sich Lotosblumen und Wassernüsse. Auf den stillen Flächen sind Entenschwärme und Silberreiher zu sehen. Bucklige Hügel, dicht bewaldet, zeigen sich am Horizont. Kiefern, Fichten und Dörfer mit grauen Steinhäuschen säumen den Weg der roten Marschkolonnen. Inmitten dieses prangenden Frühlings fühlt Philip Embree seine Lebensgeister emporwallen wie Saft in einem Zweig. Seine Freude wird nicht von dem Bewußtsein getrübt, daß er einer Schlacht entgegengeht. Im Gegenteil, diese Aussicht erhöht noch sein Wohlgefühl. Nicht weil er Gewalt und Tod liebte, sondern weil er im Krieg schon ein unaussprechliches Glücksgefühl empfunden hat. Aus der Gita hat er gelernt: »Gewiß ist der Tod für die Geborenen, und Gewißheit ist der Tod für die Gestorbenen. Daher sollst 905
du dich nicht wegen des Unvermeidbaren grämen.« Natürlich leichter gesagt als getan. Und doch geht irgend etwas am Krieg über den Tod, über Gewalt und Grauen hinaus. Dies hat Embree erfahren, und er vermutet, daß es den Soldaten immer bewußt ist, obwohl sie nie darüber sprechen: ein überwältigendes Gefühl, daß man lebt, sein Leben hingibt, weitergibt – die ganze Weltgeschichte verdichtet zu Augenblicken von einer erschreckenden Klarheit. Philip Embree blickt die jungen Soldaten der Volksbefreiungsarmee an und erinnert sich dabei jenes Tages in Madras, als ihm die Gläubigen bei einem Fest wie durch einen dünnen Draht verbunden vorkamen. Nicht, daß die gleiche Halluzination jetzt wiederkehrte. Doch im Krieg stellt sich zuweilen ein ähnliches Verbundenheitsgefühl ein, eine Unio mystica. Männer im Kampfgetümmel, wenn es um Leben oder Tod geht, finden Gott nicht im Gebet, sondern in Taten des Muts wie Akten der Feigheit, in abgrundtiefer Angst, in Hoffnung, in Leidensqual, denn in dieser Situation drängt sich ein ganzes Leben in den Geschehnissen eines einzigen Augenblicks zusammen, dem Nullpunkt. In solchen Gedanken verloren, hört Embree plötzlich von der Spitze der Kolonne den Ruf: »Der Yangtse! Yangtse voran!« Etwas anderes fällt ihm unvermittelt ein – ein Gedanke, der ihn während der vergangenen Woche schon öfter beschäftigt hat: Es ist durchaus möglich, daß er nach Amerika zurückkehren wird. Und wozu? Um zu berichten, was er über dieses neue China weiß. Und natürlich wird Sanuk mitkommen. Es ist ein romantischer Gedanke, ein Hirngespinst, wie es einem Menschen nur zu ähnlich sieht, der seine Erwachsenenjahre stets auf der Suche nach einer Idee, einem Glauben, der großen Liebe oder nach Gott 906
durchwandert hat. Vielleicht fügt sich auch das in das Muster ein: eine neue Morgendämmerung in seinem Leben. Der General würde den Plan sicher gutheißen. Wenn ich nach Amerika heimkehrte, sinnt Embree, und über China berichtete, dann wäre es schön, wenn der General davon erfahren könnte – nur dieses eine von allem, was ich seit seinem Tod getan habe. Und ich würde damit meine Schuld bei ihm abtragen. Ja, das auch. Vielleicht ist es nur eine schöne Idee, schon bald vergessen, wenn er erst in Schanghai oder in Peking Sanuk endlich findet. Aber der Gedanke ist es wert, daß man daran festhält. Im Geist sieht er sich in einer Universität oder in einem Vortragssaal in den Vereinigten Staaten an einem Lesepult stehen (nicht unähnlich wie sein Vater bei einer Predigt) und zu einem amerikanischen Publikum sprechen. Es wird nicht einfach sein, denn schließlich sind ja zwanzig Jahre vergangen, seit er zum letztenmal eine Gruppe nichtuniformierter Amerikaner gesehen hat. Wird man ihm zuhören? Gibt es noch Freiheit in dein Land, wo er geboren wurde? Wird die Chinalobby, die auf selten Tschiang Kai-scheks steht, nicht versuchen, ihn durch die Presse oder den Kongreß zum Schweigen zu bringen? Sicher gibt es Leute, die ihn bis zum Schluß anhören wollen. Er wird sagen: »Wir müssen die kommunistische Regierung in China anerkennen. Durch die Aufnahme diplomatischer Beziehungen werden wir die chinesischen Roten dazu ermutigen, eine gemäßigte Politik einzuschlagen. Wir können es uns nicht leisten, den Kontakt zu einem Viertel der Weltbevölkerung abzubrechen. Wir müssen lernen, mit den chinesischen Kommunisten zurechtzukommen.« Auf Vorträgen und in Zeitschriften wird er diese Forderungen vortragen. Und ohne Zweifel wird er einen Proteststurm bei all jenen auslösen, die in einer Politik der Verständigung mit 907
Kommunisten eine Art Weltuntergang sehen würden. Philip ist sich bewußt, daß er alles verlieren könnte – das bißchen Geld, das er besitzt, ein behagliches Leben mit Sanuk. Doch alles für die Wahrheit aufs Spiel zu setzen (etwas Neues für ihn) würde in sein Leben – und gewiß auch in ihres – ein Element der Spannung bringen, nach dem es sie verlangt. Er würde Artikel schreiben, Vorträge halten. Er würde Schwierigkeiten bekommen, man würde ihn beschuldigen, etwas zu sein, was er nicht ist. Die Idee beflügelt ihn, und während ihn dieses Hochgefühl erfüllt, verläßt seine Marschkolonne die Straße in Richtung auf das Yangtseufer. Embree starrt den breiten, braunen Strom an. Ähnlich denkt er sich den Mississippi, obwohl er nie weiter nach Westen als Connecticut gekommen ist. Er hat viel von der Welt gesehen, besonders in Asien, von Amerika jedoch kennt er nur die Ostküste von Boston bis New York. Er könnte Sanuk Amerika nicht zeigen; sie würden es gemeinsam entdecken. Auf dem Yangtse hat sich eine kleine Flotte versammelt: Dschunken, Lastkähne, Flachboote, Ruderkähne, Sampans. Ein Konvoi von Lastkähnen, an der Spitze ein einziger Schlepper, nimmt gerade Truppen an Bord, während jenseits der im Morgenlicht funkelnden Wasserfläche Rauchwölkchen über den massiven, grauen Mauern anzeigen, daß die Nationalisten in Nanking doch einen gewissen Widerstand leisten wollen. Embrees Einheit marschiert hinab zum Flußufer. Die Männer beginnen, sich auf einem Flachboot einzuschiffen, dessen Schandeck beinahe vom Wasser überspült wird. Als Embree an Bord geht, bemerkt er einen kleinen Jungen, der über dem Bug hockt und seelenruhig seine Notdurft in die aufgewühlte Flut 908
verrichtet, während sich ringsum Tausende von Soldaten in Kampfanzügen darauf vorbereiten, den Yangtse zu überqueren. Embree findet einen Platz nahe dem Bug auf der Steuerbordseite neben einem Fender und mit Blick auf die Ankerwinde, verschlungene Trossen und den kleinen Jungen, der nur ein Hemd am Leib hat. Embree lächelt ihn an. Der Junge starrt mit ernsthafter Miene zurück auf den fremdartigen Mann, dessen blondes Haar unter einer gelbbraunen Soldatenmütze herausspitzt. Die Flotte der Flußboote bedeckt den Yangtse, so weit er sehen kann. Das Licht, das sich im aufgewühlten Wasser spiegelt, prallt auf Segel und Motoren und aufgepflanzte Bajonette, läßt Metall aufglänzen, gibt dem Holz ein weiches, warmes Braun. Embree sieht die Rauchbällchen drüben hinter den Stadtmauern von Nanking hochsteigen. Aber es wirkt nicht sehr imponierend. Er kann sich des freudigen Vorgefühls nicht erwehren, das die Furcht vor dem sich nahenden Gefecht begleitet. Er wird zwar nicht mitkämpfen, beabsichtigt aber, mittendrin im Getümmel zu sein. Aus Verrücktheit. Wie ein Süchtiger. Er berührt die steinerne Schneide der Axt, die er sich unter den Gürtel geklemmt hat. Da hört er von Osten her über die Stadt eine Maschine kommen, noch ehe er sie im grellen Schein der Sonne sehen kann. Plötzlich taucht sie aus dem blendenden Licht auf, hoch über dem Fluß. Gottverfluchte chinesische Piloten, denkt er. Ein taktischer Bomber, dort droben an den Himmel gehängt wie eine Spielzeuglaterne an einer Holzstange. Zu hoch für etwas anderes als einen Bombenteppich, obwohl der Bursche vermutlich nicht mehr als drei oder vier Bomben an Bord hat, höchstenfalls. Er wirft jetzt eine davon ab – sie erscheint Embree aus dieser Entfernung wie ein Bröckchen 909
Adlerkot. Die Bombe schlägt ein paar Meilen weiter im Norden in ein Kliff ein. Warum geht der Bursche nicht nach Hause? denkt Embree. Er hat keinen Mumm zu kämpfen, sonst würde er tiefer heruntergehen. Vielleicht hat ihn sein Kommandeur angewiesen, sämtliche Bomben abzuwerfen, bevor er zurückfliegt – wohin auch immer. Der Pilot dort oben folgt entweder solch einer Weisung, oder er ist ein Feigling oder nicht ganz bei Trost. Embree grinst den Jungen an, der auf der anderen Seite des Fenders sitzt, und deutet dann in die Richtung des Flugzeugs. Jetzt grinst der Junge auch. Das Flugzeug, das in großer Höhe eine weite Kurve beschrieben hat, kommt zurück, diesmal von Westen her, so daß Embree erkennen kann, daß es sich um eine Douglas A-26 B mit dicker Rumpfnase und Abwurftanks handelt. Wozu um Himmels willen, fragt er sich, braucht diese Maschine denn Abwurftanks? Die fliegt ja nicht mehr weit. Gut möglich, daß es ihr letzter Einsatz ist vor dem Flug nach Formosa, zu Tschiang Kai-schek. Immer noch zu hoch, als daß man von unten ihre Bordwaffen erkennen könnte, wirft die A-26 B vermutlich den Rest ihrer Bombenlast ab. Achtzig Meter weit weg zerreißt es in einem blendend gelben Detonationsblitz einen Sampan. Ein zweites Geschoß erwischt eine Dschunke ganz in der Nähe, zerfetzt sie, Splitter treffen die Steuerbordseite von Embrees Boot und überschütten ein kleines Flachboot ein paar Meter weiter vorne. Der Luftdruck hat Embree gegen den Fender und dann gegen den kleinen Schuppen am Bug gedrückt, in dem Winden aufbewahrt werden. Es hat ihn erwischt, sonst wäre er nicht mit solcher Wucht nach hinten geschleudert worden. Er verspürt jedoch keine Schmerzen, sondern zittert nur am ganzen Leib. Versucht sich zu erklären, wieso er mit dem Rücken an dem Häuschen gelandet ist, 910
die Wade des einen Beines unter den Oberschenkel des andern geklemmt. Er reckt den Kopf hoch, blickt um sich und sieht den Bootsjungen neben dem Fender: Der Rücken ist blutüberströmt, der eine Arm abgerissen. Embree hört Stöhnen und Schreie. Er schiebt es hinaus, nach unten zu schauen, immer länger, macht sich vor, daß alles in Ordnung sei. Endlich zwingt er sich dazu und sieht, wo die Wunde ist. Ein Schrapnellsplitter im Unterleib. Ein Splitter direkt im Bauch. Hat ihn aufgerissen wie ein Messer, daß das ganze Zeug zu sehen ist. Wie bei Harry! Großer Gott, das hätte nicht passieren dürfen! An einem herrlichen Morgen auf einem Schleppkahn in den Bauch getroffen. Ich werd’ dich nicht los, Harry, denkt er. Es ist das erstemal seit seiner Ankunft in China, daß er zu Harry spricht. Das erstemal seit Pagan. Er versucht, daran zu denken, nicht an das, was unterhalb seiner Brust los ist. Denn es ist schlimm, wirklich ganz schlimm. Er spürt, wie ihm der Schweiß aus dem Gesicht bricht und im Luftstrom abkühlt und trocknet, während der Kahn dahingondelt. Bald werden die Schmerzen kommen. Er hat eine Heidenangst. Er spürt die Furcht wie eine plötzliche körperliche Empfindung, als wäre ihm Eis auf die Stirn gelegt worden. Ein Glück immerhin, daß alles an Ort und Stelle bleibt. Komisch ist das nicht, sagt er sich. Aber es war auch nicht komisch gemeint. Er senkt die Augen und späht mit einem raschen, vorsichtigen Blick nach unten. Eine schrecklich klaffende Wunde. Eine Darmschlinge schimmert aus dem Blutschlamm der Bauchhöhle. Das ist das ärgste daran – wie es aussieht. Er spürt keinerlei Schmerz, noch nicht. Wenn die Eingeweide herausfallen, wird er entsetzt aufschreien und weinen wie ein kleines Kind. Aber 911
vielleicht bleiben sie an Ort und Stelle, wenn er nicht zu tief atmet. Doch der Atem kommt ihm in raschen, kurzen, hektischen Stößen wie damals bei Harry. Harry, verdammt – hast du das getan? Der arme Harry. Tot, aber er ist schuld. Jetzt beginnt es, leicht zu schmerzen, ein komisches Gefühl, als pochte etwas in seinem Bauch. Also was ist, Harry? Ich bin dich also doch nie losgeworden, alter Junge. Ich werde nicht aufstehen und dem allen entrinnen. Aber wenigstens denke ich nicht darüber nach. Ich werd’ an was anderes denken, solange ich noch denken kann. Aber an was? Was ist denn jetzt noch wichtig? Nein, das hab’ ich nicht verdient. Ich werde sie nie mehr sehen. Aber der Junge dort – er hat es auch nicht verdient. Embree verändert seine Stellung ein bißchen, voller Angst, die pulsierende Darmschlinge in seiner Körpermitte könnte herausrutschen und ihm über den Unterleib gleiten. Großer Gott, wie ein Metzger, der ein Schwein ausnimmt und sich nichts dabei denkt, wenn ihm die Gedärme über die Schürze nach unten rutschen. Er hat es einmal erlebt, als sein Vater ihn zu einem Besuch bei einem Gemeindemitglied mitnahm, einem Fleischer, der keinen Sonntag in der Kirche versäumte. Er hat schweigend zugesehen, sich dann mit einer Entschuldigung verdrückt und draußen übergeben, was seinem Vater sehr peinlich war. Wenn das Zeug rauskommt wie die Gedärme aus einem Schwein, wird er schreien wie ein Baby. Oder er wird es wieder hineinstopfen. Aber ist er dazu noch fähig? Er fühlt sich benommen, als wären ihm Arme und Beine eingeschlafen. Als er die Finger zu bewegen versucht, muß er bestürzt feststellen, daß sie wie erfroren nur ein bißchen umhertasten und dann liegenbleiben. Nun weiß er, wie es Harry zumute war, an den Baum gelehnt, außerstande, den 912
Revolver zu erreichen, um selbst ein Ende zu machen, und auf einen Freund angewiesen, der ein Feigling war. Jetzt beginnt es, sehr weh zu tun. Wenn das Zeug rausfällt, gehört es noch immer zu dir, bleibt mit dir verbunden. Es ist ein Teil von dir. Aber die Gita sagt … Scheiß-Gita! Es kann nicht wahr sein. Es gehört nicht ins Muster seines Lebens. Es macht das verfluchte Muster kaputt. Sanuk – nein. Er kann nicht mit ihr sprechen. »Siehe«, sagt er sich vor, »ich sage euch ein Geheimnis: Wir werden nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden.« Das ist aus … aus? Dem ersten Korintherbrief. Kapitel, Vers fallen mir nicht ein. Komisch, daß mir jetzt die Bibel einfällt. Wenn es kein Schlafen ist, was denn dann? Das ist ja das Geheimnis. Aber ich bin nicht bereit dafür, nicht schon jetzt, noch nicht. Werden alle verwandelt werden. Und ob, in einen stinkenden Sack voll blutiger Eingeweide. Tut zu weh. Kann nicht … Er ist froh, daß er wenigstens auf dem Wasser stirbt. Eine Art Ausgleich dafür, daß ihn der Tod aus der Luft erwischt hat. Ausgleich? Zum Teufel! Aber noch bin ich nicht tot, sagt er sich. Ich werd’ nicht sterben, weil das dem Muster widerspricht. Oh, jetzt tut es aber höllisch weh. Er denkt an sie; sie sind ja noch ganz am Anfang. Er hat seine Schulden abgetragen, oder? Also hat er ein Recht darauf, am Leben zu bleiben. An einem Leben ohne Schuld. Er wird sie irgendwo finden, entweder in Schanghai oder in Peking, und dann werden sie sich dorthin auf den Weg machen, wohin sie will. Vielleicht hat sie Lust, ihn nach Amerika zu begleiten, wo er sich zum Narren machen kann, und sie wird ihn lieben, weil er 913
sich wie ein romantischer Narr aufführt. Sanuk, Harry … o Gott, sind das Schmerzen! Unterhalb seines Nabels rührt sich jetzt etwas, schnappt mit glühendheißen Zähnen. Ein paar Augenblicke konzentriert er sich aufs Atmen. Einatmen, ausatmen, einatmen … nur ist es nicht wie beim Meditieren. Er hört hinter sich, mittschiffs, die anderen stöhnen, weinen und schreien, kann sich aber nicht zu ihnen umdrehen. Er bewegt sich eine Idee seitwärts – glaubt es jedenfalls zu tun – und sieht aus dem Augenwinkel das brennende Wrack des Sampans. Oder einen auf dem Wasser liegenden Hund mit flammenden Zähnen. Er lauscht jetzt angestrengt. Nichts als Schmerz tönt ihm in die Ohren, und überrascht wird er sich bewußt, daß seine eigene Stimme sich dem Schmerzenschor angeschlossen hat – ein klagendes Winseln, das dem raschen Takt seines keuchenden Atems folgt. Es erfüllt ihn mit Abscheu und Furcht. Wenn er wieder auf der Erde erscheint, ist es dann als Hund? Ein Hund wie die Biester von Benares? Leben oder kein Leben – beides entsetzt ihn. Er braucht Zeit, sich zu entscheiden. Es wäre schön, wenn er alt werden könnte, und Sanuk an seiner Seite würde ihm die Hand halten, wenn es zu Ende geht. Nicht dieses Ende, nicht allein. So und nicht anders sollte man sterben können. Sie weiß nicht, daß ich sterbe. Diese ungeheuerliche Erkenntnis befreit ihn einen Augenblick von den Schmerzen. Er wird tot sein, ohne daß sie davon weiß. Der Gedanke ist schwer zu fassen. Nun wimmert er nicht mehr. Die Zähne schlagen aufeinander, das einzige an ihm, was sich noch bewegt. Es wäre eine Erleichterung, die Position zu verändern, nur ein kleines bißchen. Ja, dies ist jetzt sein höchster Wunsch auf Erden: das linke Bein herausziehen zu können, das unter 914
ihm eingeklemmt ist. Er versucht, sich an etwas aus der Gita zu erinnern, doch es macht sich los, treibt davon auf dem Strom der Schmerzen. Eine frische Yangtsebrise trägt das Motorengeräusch des Schleppers und die Schmerzenslaute der verwundeten Männer davon. Auf dem Wasser tanzt das Sonnenlicht; er beobachtet es durch einen Filter aus Schmerz, der sich in ihm zu einem riesigen Ballon aus Eisen aufbläht. Er wird größer und größer, unerträglich, besetzt die inneren Räume seines Körpers, schiebt alles andere beiseite, schwillt unaufhaltsam an, zerdrückt, was von ihm geblieben ist, zu winzigen flachen Scherben, glühend heiß wie Splitter von erhitztem Glas. Harry, versucht er zu flüstern. Könntest du nur ihre Augen sehen. Sein Kinn, so kommt es ihm vor, schafft es, sich leicht zu senken. Jedenfalls sieht er den Darm, der, eine tröstliche Feststellung, an seiner Stelle geblieben ist wie eine Schlange, die sich auf einem Ast sonnt. Er wird nicht herausfallen, er wird nicht aus ihm herausquellen, bis er tot ist. Geht’s jetzt dahin? Kommt noch mehr, oder ist das alles? Er weiß es nicht, darum: noch nicht, er kann noch nicht gehen, er muß noch bleiben. Aber irgend etwas, er spürt es, geht dahin, geht jetzt dahin. Siehst du … Ach, Vater … Ihre Augen … Es geht dahin, und alles schwindet aus seinem Blick, er selbst und der Anblick des Wassers und das Tageslicht, das Bewußtsein des eigenen Ichs. Alles fällt nun von ihm ab. Was übrigbleibt, an das Häuschen im Bug gelehnt, atmet noch ein Weilchen ein und aus und wird dann still. 915
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H
eute ist der 1. Oktober 1949«, schreibt sie in Thai.
»Der Vorsitzende Mao wird heute die Gründung der Volksrepublik China bekanntgeben, und ich, General Tang Schan-tehs Tochter, werde auf dem Tiananmen-Platz sein, um ihn zu hören.« Sie verwendet die Thaisprache für den Fall, daß jemand das Tagebuch entdeckt, denn hier ist kaum jemand imstande, sie zu lesen. Und wenn sie mit ihren heutigen Eintragungen fertig ist, wird sie das Tagebuch zusammen mit den übrigen Bänden, die sie aus Bangkok mitgebracht hat, unter der losen Diele des Zimmerbodens verstecken. Niemand in dem Wohnhaus, so hofft sie, ahnt etwas davon. Sie kann sich zwar nicht vorstellen, daß irgend etwas darin bei den Mächtigen Anstoß erregen könnte, aber der gesunde Menschenverstand sagt ihr, es sei besser, sie zu verstecken. Chu-chin, ihre Genossin und Freundin, würde sicher raten, sie zu vernichten, aber Yu-ying hat das Gegenteil beschlossen, einerlei, was passiert. Sie braucht ihre Notizen, weil sie ihr von der Vergangenheit erzählen, die mit jedem Tag mehr in einen großen Nebel zurückzuweichen scheint. Unsere Gruppe, die Nachrichtenagentur Fortschrittliches China, wird sich auf dem Hsi-Tan-Markt versammeln und geschlossen zum Tiananmen-Platz ziehen. Es wird allmählich kalt, doch nicht so sehr, daß ich ihn nicht mitnehmen kann. Dann wird er eines Tages erzählen können: »Ich war dabei. Meine Mutter nahm mich mit, als 916
der Vorsitzende Mao vom Tor des Himmlischen Friedens die Proklamation verlas.« Vielleicht sollte ich jetzt Mutter über alles berichten, aber es ist besser zu warten, bis Philip mich holen kommt. Dann kann ich ihr schreiben: »Wir drei sind wohlauf. Ja, wir sind jetzt zu dritt, wir beide und unser Sohn, geboren im Jahr des Ochsen.« Wie eigenartig, daß ich beinahe ein halbes Jahr vergehen ließ, seit ich ihr zum letztenmal schrieb. Ich sollte jetzt schreiben, doch ich weiß, was sie dann bestimmt denkt, und das hält mich davon ab. Wenn Philip mich bis jetzt noch nicht holen gekommen ist, wird sie denken, dann kommt er nie. Aber er wird kommen und mich holen. Yu-ying hebt den Blick von ihrem Blatt und betrachtet den frühmorgendlichen-kalten Lichtstrahl, der über das dicke, kräftige Gesicht des Babys fällt. Das Kind schaut unverwandt auf das Spiel seiner Pummelfinger, die aussehen, als wollten sie das Sonnenlicht einfangen. Ein paar Minuten später eilt sie mit dem Säugling in einer Schlinge an der Brust durch die morgendlichen Straßen. In eine Steppdecke gewickelt, wirkt er wie ein Päckchen; nur Augen, Nase und Mund sind von ihm zu sehen. Seine chinesischen Schlitzaugen, die blau sind, beobachten sie. Sie denkt an Philip. Es ist durchaus möglich, daß ihn irgendwo eine Einheit der Roten festhält. Einige der Genossen in der Nachrichtenagentur vermuten das, doch als sie sich im Hauptquartier nach ihm erkundigen wollte, starrte man sie nur an und sagte ihr, sie solle nach Hause gehen. Andere Leute haben ihr gesagt, es sei besser, den Mund zu halten, bis die Dinge in Ordnung kommen. Sie hat dem Drang widerstanden, Mutter um Hilfe zu bitten, aber vielleicht ist dies der einzige Ausweg. Sie könnte 917
schreiben: »Mutter, ich weiß, wie Du über Philip denkst, aber ich bin ganz verzweifelt. Gibt es eine Möglichkeit, daß Du durch das amerikanische Konsulat in Bangkok eine Suche nach ihm in Gang setzt?« Aber die Frage ist: Ist Mutter überhaupt in Bangkok? Und ist sie am Leben? Jetzt durchquert sie das Viertel, wo sie zuerst wohnte, als sie nach Peking kam. Bislang ist noch nichts an die Stelle der alten Häuser getreten, die eifrige Stadtplaner schon Wochen nach der Befreiung niederreißen ließen. Nur Schutthalden sind zu sehen und beschriftete Bretter an Pfosten: FORT MIT DER UNORDNUNG! und DEM VOLK DER SIEG! Schüler in schwarzen Jacken marschieren durch die Straßen. Sie singen revolutionäre Lieder und führen riesige Porträts von Mao und Tschu Teh mit sich. Mao wirkt sauertöpfisch, Tschu Teh lächelt. Es wird bei diesem kühlen Wetter ein langer, harter Tag für den Kleinen werden, aber er muß später einmal sagen können: »Ich war dabei.« Chu-chin hat sich dafür ausgesprochen. »Er ist ein gesundes Baby. Nimm ihn mit, damit er einmal sagen kann, daß er am 1. Oktober 1949 dort war.« Alle anderen im Agenturbüro stimmten ihr zu, und für Yu-ying ist es von Vorteil, auf sie einzugehen. Sie hat großes Glück gehabt, was alle wissen. Aber Chu-chin und einige Mädchen in der Agentur haben sie davor gewarnt, Neid zu erregen. Schließlich ist sie die jüngste Übersetzerin im Team, ohne Erfahrung und praktisch autonom in ihrer Arbeit, denn niemand sonst kann die Thaisprache lesen. Ihre Arbeit besteht darin, thailändische Zeitungen und Zeitschriften, die in unregelmäßigen Abständen aus Südchina eintreffen, zu übersetzen. Die meisten jungen Frauen ihres Alters verrichten Schwerarbeit, doch ihre Sprachkenntnisse sind ihr 918
zustatten gekommen. Natürlich müssen ihre Übersetzungen, besonders die für die verschiedenen Ministerien, umgeschrieben werden, und natürlich muß sie ihr Gehalt mit dem älteren Mann teilen, der für sie »dieses Kauderwelsch in Ordnung bringt«, wie er es nennt. Er hat früher als Journalist bei einer im Dienst der Kuomintang stehenden Zeitung gearbeitet, ein sarkastischer, verbitterter Mann, den das neue Regime offensichtlich anwidert. Sie kann zwar nicht mehr laut imaginäre Gespräche führen, doch in seltenen Augenblicken hat sie sie stumm fortgeführt. Erst gestern abend vor dem Einschlafen sah sie sich im Geist wieder als Jungfrau von Orleans im mittelalterlichen Frankreich. Sie kommt an Straßenverkäufern vorüber, die an ihren Handkarren Eis am Stiel feilbieten. Leute auf Stelzen in roten und gelben Gewändern schweben über der Menge dahin, ein frappierender Kontrast zu den Menschen, die zu den Feierlichkeiten unterwegs sind – alle schäbig gekleidet in demonstrativer Ablehnung der bürgerlichen Vergangenheit. Bei ihrer Ankunft in Peking hat Yu-ying viele Filzhüte nach amerikanischer Art gesehen, aber mittlerweile sind sie selten geworden. Die meisten Männer tragen Arbeiterschirmmützen und dazu alte Regenmäntel und löchrige Pullover. Eine Gruppe junger Leute kommt daher, die monoton die »Acht Punkte des Vorsitzenden Mao« aufsagen. Aus einer engen Gasse gelangt Yu-ying auf den Hsi-TanMarkt; ein leuchtendblauer Himmel spannt sich über den Planen der Stände, das Sonnenlicht flirrt in der mit Staubpartikeln geschwängerten Luft. Drüben steht ihre Gruppe. Zwei junge Frauen winken fröhlich herüber. Als sie bei ihnen ist, erkundigt sich eines der Mädchen nach Chuchin, und Yu-ying berichtet ihnen, daß die Arme 919
eine schwere Erkältung hat. Yu-ying findet eines der Mädchen besonders sympathisch. Vergangene Woche haben sie zusammen eine Kunstausstellung besucht. Die Bilder, groß, plump gemalt, in schreienden Farben, zeigten Bauern bei der Feldarbeit, Arbeiter in Fabriken, fraternisierende Soldaten, Mao, der unter einer roten Fahne einen Trupp Soldaten zum Angriff führt. Yu-ying erinnerte sich an ihre eigene Studentenzeit an der Silpakorn-Universität, aber nur kurz. Zu viele Dinge geschehen in diesen Tagen, als daß Zeit für Erinnerungen bliebe – ausgenommen die an Philip. Die ganze Gruppe dreht sich nun um und beobachtet, wie die Fahnen der Volksrepublik China vorbeigetragen werden, die sich im Wind bauschen, so daß der große weiße und die vier kleineren Sterne fortwährend ihre Form wechseln. Ein Mädchen nimmt Yu-ying das Baby ab, so daß sie sich eine Weile ausruhen kann. Sie fängt den Blick des alten Journalisten auf, der neben einer Gruppe Männer steht. Sie bekommt etwas von ihrem Gespräch über die »neue Demokratie« mit. Der frische Wind trägt Bruchstücke ihrer Unterhaltung über »ländliche Klassenfeinde« und »milde Behandlung« herbei, und jedesmal, wenn sie einen kurzen Blick hinüberwirft, begegnet sie den Augen des Journalisten, der mit einem düsteren Grinsen dasteht, als wäre er bereits abgeurteilt. Sie warten den ganzen Morgen an ihrem Sammelplatz. Die Sonne erwärmt die Luft so sehr, daß die Leute schließlich ihre Mäntel aufknöpfen, Pullover ausziehen. Sie sitzen auf dem Boden und knabbern an Reiskuchen, von schlauen Straßenhändlern feilgeboten, die genau wissen, daß Paraden nie zur angekündigten Zeit beginnen und die Teilnehmer immer Hunger bekommen. 920
Gegen Mittag beginnt der Säugling zu schreien. Sein Gesicht rötet sich vor Zorn. Yu-ying, die zwischen zwei Mädchen sitzt, dreht sich von den Männern weg, knöpft Mantel und Bluse auf, drückt das Kind an sich und gibt ihm die Brust. Yu-ying spürt, daß die Mädchen seine blauen Augen kritisch betrachten, obwohl sie dem Kind Lob zollen. Aber er sieht doch wie ein kleiner Chinese aus oder etwa nicht? Natürlich sieht er so aus. Allerdings stören die Augen den Eindruck, den sein Gesicht im übrigen macht – sie stören ihn, aber richten sie ihn zugrunde? Nein, er sieht chinesisch aus, und er wird auch einen chinesischen Namen bekommen. Bisher hat sie den Jungen nur »Baby« genannt, und wenn Philip kommt, können sie gemeinsam einen Namen aussuchen. Yu-ying lächelt das Kind an, während es saugt. Sie wirft den beiden Mädchen einen scheuen Blick zu, ob sich auf ihren Gesichtern Mißbilligung spiegelt. Sind sie nur höflich? Werden sie später, wenn sie selbst außer Hörweite ist, zueinander sagen: »Hast du die Augen gesehn? Blau wie der Himmel!« Sowohl die Glorious Daily als auch die Liberation News enthalten beinahe jeden Tag öffentliche Bekanntmachungen, die mit Ausländern zu tun haben: Entschuldigungen für Untaten und unterwürfige Geständnisse, mit denen Ausländer, die noch in China leben, Bagatellvergehen eingestehen. Aber das Kind ist in China geboren, und ihr eigener Vater war ein großer chinesischer General. Sie sind keine Ausländer. Trotzdem hat Chu-chin gesagt: »Mach nicht zuviel Aufhebens von deinen Sprachen außer Thai, und das nur in Verbindung mit deiner Arbeit für das Volk. Sicher, jetzt sind alle Leute glücklich und zufrieden, aber es ist klüger, vorsichtig zu sein.« Chu-chin hat sie schon an ihrem ersten Tag in der Agentur unter ihre Fittiche genommen. 921
Während das Baby an ihrer Brust trinkt, äußern sich hinter ihr einige Männer kritisch über einen Abwesenden: Er nennt die Stadt nicht Peking, sondern hält hartnäckig an Peiping fest, obwohl der Vorsitzende Mao sie offiziell von »nördlicher Frieden« in »nördliche Hauptstadt« als Symbol des neuen China umbenannt hat. Und mein Kind, denkt Yu-ying, wird dazugehören, zum Neuen Volkschina. Ein Kind des Ochsen. Mit dem Mond im Mund wird der Junge zu einem scharfzüngigen, stolzen Menschen heranwachsen. Merkur ist in seinem Herzen – er wird einmal schlau werden. Und sinnlich, denn Saturn wohnt in seinen Lenden. Er wird viele Frauen haben, weil er ein Aprilkind ist, der Wilde Ochse, dessen Element die süße Erde ist. Ein edler Bulle, doch ungebärdig. Zuweilen grausam. Ja, zuweilen grausam. Wie sein Großvater. Yu-ying reicht das Kind einem der Mädchen und ordnet ihre Kleidung. Aus dem Augenwinkel sieht sie, wie sich der etwas ältere Journalist mit den Händen auf dem Rücken der versammelten Gruppe nähert. Er starrt über die Ziegeldächer. Woran er wohl denkt, fragt sich Yuying, und die Frage erfüllt sie mit großer Furcht. Es ist schrecklich, allein, ausgestoßen zu sein. Hinter ihr ziehen sie noch immer über den abwesenden Genossen her, weil er bei Peiping bleibt, statt von Peking zu sprechen. Es ist wie die Umbenennung von Siam in Thailand, eine patriotische Geste, ein Abschied von der Vergangenheit, weil man sich von der Zukunft viel erhofft. Es bereitet ihr immer ein vages Unbehagen, wenn sie Thailand mit China vergleicht. Als Yu-ying noch in Thailand lebte, hatte sie nicht viel Ahnung davon. Heute weiß sie über dieses Land (selbst in ihren geheimen Gedanken nie als Heimat empfunden) mehr als seinerzeit. Als Pridi seinen Putschversuch unternahm, erfuhr sie davon aus den Zeitungen – natürlich lange hinterher und nur in der 922
offiziellen Darstellung –, doch sie empfand sehr stark, wieviel Mut er mit seiner allerdings schlechtgeplanten Landung in Bangkok bewiesen hatte, zusammen mit den tapferen Männern, die ihm hierher nach China ins Exil gefolgt waren. Immer wieder während ihrer eigenen Flucht aus Thailand sprachen sie und Chamlong über die loyalen Männer, die Pridi überallhin Gefolgschaft leisteten. Sie spekulierten über die Bedeutung der Botschaft, die Chamlong bei sich trug, bis sie für sie beide eine Dringlichkeit ganz eigener Art gewann – ein Beitrag zum dunkel geahnten Sieg des Guten über das Böse. Ob Chamlong – Ho Jin-shi – wohl mitgeholfen hat, daß Pridi nach Thailand zurückkehren konnte? War die Botschaft, die er bei sich trug, ein Teil dieses Plans gewesen? Konnte Chamlong sie tatsächlich abliefern? Wenn ja, wie stolz er gewesen sein muß! Yu-ying lächelt bei der Vorstellung, wie er kerzengerade dastand, das kantige Gesicht in konzentrierter Anspannung, während der große Nai Pridi Phanomyong seinen Mut lobte. Wo, sinnt sie, mag er jetzt nur sein? Ob er noch lebt? Oder hat er, auf diese oder jene Weise, sein Leben verspielt? Der arme Chamlong. Was sie selbst betrifft, ist Yu-ying froh, daß sie Thailand verlassen hat. Nur eines, freilich etwas für ihr Leben Folgenschweres bereut sie – daß sie vor mehr als einem Jahr Philip auf dem Flugplatz von Tsinan zurückließ. Ein ganzes Jahr. Kann das sein? Hinter ihr unterhalten sich ein paar Männer von der Nachrichtenagentur über den Kulturkontrollausschuß, der soeben eingesetzt worden ist. Alle sind sich einig, daß es für das neue China von erstrangiger Bedeutung sei, Aufführungen von Theaterstücken zu verbieten, in denen der Geist des Aberglaubens und des Feudalismus herrscht. Sie hört, wie einer sagt, dessen forsche Stimme der Wind 923
an ihr Ohr trägt: »Wir müssen das Alte zertreten, wir dürfen nie wieder Sklaven sein, wir müssen es der Welt zeigen!« Worte, die Yu-ying aufrütteln. Sie ist jetzt ganz Chinesin, zumindest in ihrer Loyalität, in ihren Gedanken – möchte es jedenfalls sein. Gestern abend empfand sie sogar Scham, weil sie sich in ihrer Phantasie als Jeanne d’Arc sah. Von nun an, gelobt Yu-ying stumm, während sie das Baby in der Schlinge unterbringt, wird sie sich im Geist immer nur als eine Revolutionärin sehen, die für das chinesische Volk kämpft. Ein Ruf ist zu hören. Es ist Zeit, daß die Leute sich zu Kolonnen formieren und in den großen Zug einreihen, der dem Platz entgegenzieht. Bald darauf marschiert Yu-ying zusammen mit den Mädchen und direkt hinter dem ältlichen Journalisten durch den windigen Nachmittag auf den Tienanmen-Platz zu. Die Kolonne schwenkt auf den breiten Boulevard, marschiert an Häusern ohne Verputz vorbei, die in den Jahren des Bürgerkriegs baufällig geworden sind. Von der Spitze der langen, schwankenden Kolonne her sind Geräusche von explodierenden Feuerwerkskörpern zu hören. Zur rechten Hand sieht Yuying ein altes Plakat, das zerfranst an einem Schaufenster klebt. Unter der Abbildung eines riesigen kommunistischen Soldaten, der über die Stadtmauer von Nanking greift und einen kahlen, babygesichtigen Tschiang Kai-schek packt, gekrümmt auf einem Haufen Totenschädeln hockend, steht in blutroter Schrift: »Vorwärts nach Nanking, und fangt den Tyrannen lebendig!« Nun kommt der Tienanmen-Platz in Sicht. Tausende haben bereits ihre Plätze eingenommen, durch Nummern bezeichnet, die mit Kreide auf die Steinplatten geschrieben wurden. Die Elendsquartiere östlich und westlich des den 924
Platz durchschneidenden Bahngeleises wurden aus Anlaß der Gründungsfeier demoliert. Zusammen mit Tausenden erhebt Yu-ying nun die Stimme zu dem Schrei »Mao Tsetung wan shui!«. Mit einem Schleier vor den Augen legt sie eine Hand hinter den Kopf des Säuglings, um ihn zu stützen. Von der Anstrengung des Schreiens zittert ihr ganzer Körper. »Mao Tse-tung wan shui!« hallt es von den scharlachroten Mauern des Tors zum Himmlischen Frieden wider. Auf dem Hauptplatz ihrer Hauptstadt stößt Yu-ying mit der Masse dicht an dicht stehender Chinesen diesen Schrei aus. Sie ist eine Chinesin, die ihrem Führer zehntausend Lebensjahre wünscht. Sie blickt auf ihr Kind hinab und sieht, wie es unter der Wirkung des Lärms die Augen zusammendrückt. Der Mund öffnet sich, als wollte es zu schreien anfangen, doch dann starrt es sie nur ernst an. Der Mund schließt sich wieder, eine Speichelblase erscheint und zerplatzt. Sie wischt mit einem Finger den Speichel ab, beugt sich vor und küßt das Baby. Delegierte treffen ein in graubraunen Uniformen, schmucklos bis auf große rote Knöpfe, die an langen, roten Ordensbändern befestigt sind. Da die Gruppe von der Nachrichtenagentur weit vorne steht, hat Yu-ying einen guten Blick auf den hohen Balkon am Tor des Himmlischen Friedens, wo die großen Männer der Revolution stehen und der Menschenmenge zuwinken: Mao Tse-tung, Tschu En-lai und Tschu Teh, der seinen Redetext zusammengerollt in der Hand hält und wie ein Junge grinst, sowie all die übrigen, große Helden wie Jeanne d’Arc und ihr eigener Vater. Sie winken den Tausenden auf dem Platz zu, bis Stille eintritt und eine riesige Fahne an einem weißen Mast hochsteigt und sich 925
knatternd entfaltet: eine große rote Tuchbahn mit fünf gelben Sternen. Während sie sich über der schreienden Menge im Wind bauscht, schießen Haubitzen für das Banner der Volksrepublik China Salut. (Das Baby greint, als sie losdonnern, schläft aber dann trotz des fortdauernden Lärms ein – in machtvollem Chor schwillt die Nationalhymne an: Ihr, die ihr keine Sklaven sein wollt, steht auf, steht auf, steht auf!) Yu-ying sieht den Vorsitzenden Mao in seiner schlichten, braunen Uniform nach vorne treten; die anderen Männer auf dem Balkon weichen einen Schritt nach hinten, überlassen ihm die ganze Ehre, und einen Augenblick lang geht ihr der Gedanke durch den Kopf, dort könnte jetzt ihr Vater stehen und den Jubel all dieser Menschen entgegennehmen, dem sie sich selbst mit heiserer Stimme anschließt – »Mao Tse-tung wan shui! Mao Tse-tung wan shui!«. Und sie hört, wie er verkündet, daß an diesem Tag der Regierende Zentralrat der Regierung des chinesischen Volkes in Peking die Macht übernehme. Unterdessen ist es bereits später Nachmittag, und der ganze Platz ist außer Rand und Band geraten, denn der Vorsitzende Mao hat soeben ins Mikrophon gerufen: »Wir haben der ganzen Welt getrotzt! Niemand wird mehr das chinesische Volk beleidigen!« Die Parade beginnt, zieht in Wellen unter dem hohen Balkon am Tor des Himmlischen Friedens vorbei: Panzer mit roten Sternen an den Seiten der Türme – »amerikanische Panzer!« schreit jemand, was Lachen auslöst – und gepanzerte Transportfahrzeuge und Geschütze und Marinesoldaten mit aufgepflanzten Bajonetten und bäuerliche Partisanen mit Speeren, geschmückt mit roten Troddeln, und Kavalleristen mit runden Helmen – »Kuomintanghelme!« brüllt ein anderer, und wieder wird gelacht – und lange Kolonnen von 926
Soldaten, deren berittene Offiziere sich nicht durch Rangabzeichen abheben, sondern durch Depeschentaschen und Feldstecher – alles zieht geräuschvoll an der Tribüne vorüber, die am südlichen Tor der Residenz der Ming- und Chinkaiser aufgeschlagen wurde. Und dann marschieren unter großem Beifall in nicht sehr geordneten Reihen die Studenten vorbei, die »zweite Armee« des Vorsitzenden Mao. Hinter alten Mandschugebäuden im Westen ist die Sonne verschwunden, so daß die Delegierten am Tor, die jetzt klatschen und winken, sich in gesichtslose, blaue Gestalten verwandeln. Trotzdem geht der Vorbeimarsch noch weiter, und als schließlich über der Verbotenen Stadt das Feuerwerk erstrahlt und die Keramikfiguren an den Rändern der Ziegeldächer in helles Licht taucht, empfindet Tang Yu-ying, daß sie alles, was nicht chinesisch an ihr war, hinter sich gelassen hat. Das Licht der untergehenden Sonne schwindet in die Tiefen des Tienanmen-Platzes, über den nun ein kalter Wind fegt. Sie drückt das Baby wärmend an die Brust und lächelt den Journalisten an, der sich ihr zuwendet und sie düster betrachtet. »Diesen Tag vergesse ich nie!« sagt sie zu ihm. Er nickt, lächelt aber nicht zurück. »Den vergißt keiner von uns.« Mit ihm ist es aus, denkt sie. Ein guter Mann, mit dem es aus ist. In solchen Zeiten muß es immer vorkommen, daß gute Männer auf der Strecke bleiben. Wie mein Vater. Wie Philip? Nein, er nicht, er kommt bestimmt und holt mich. Als die Feierlichkeiten zu Ende gegangen sind und große rote Lampions in Sternenform den riesigen Platz erleuchten, macht sich Yu-ying allein auf den Weg, in Gedanken bei Philip, der sie sicher holen kommt. Auch er wird wohl hierbleiben wollen, denn dieses China ist ein 927
neues Land – alt und neu zugleich, so neu wie das Leben, das jetzt in der Schlinge vor ihrer Brust schläft. Er kann gut Chinesisch; vielleicht kann er ebenfalls in der Nachrichtenagentur arbeiten. Und wenn er doch nicht bleiben will, wird sie mit ihm gehen – woandershin, überallhin. Die Menschen gehen auseinander, eilen mit eingezogenen Köpfen durch die hereinbrechende Nacht. Trommeln ertönen, Feuerwerkskörper explodieren. An einer Straßenecke vollführt eine Gruppe Studenten einen improvisierten Yang-ko-Tanz. Nun, da die Sonne verschwunden ist, ist es kalt geworden in Peking. Yu-ying brennt das Gesicht vom aufgewirbelten Straßenstaub. Als sie an zwei Männern vorbeikommt, hört sie den einen sagen: »Er wohnt im ›Pavillon des südlichen und des mittleren Sees.‹« Sie weiß, worüber sich die beiden unterhalten: wo der Vorsitzende Mao wohnt. Es ist bekannt, wird aber selten erwähnt, daß er seinen Wohnsitz innerhalb der Verbotenen Stadt genommen hat, wo einst die Mingkaiser residierten. »Warte. Warte.« Yu-ying dreht sich um und erkennt im letzten Tageslicht das Gesicht eines Mädchens aus der Nachrichtenagentur. »Ich dachte, daß du es bist. Ich sah das Bündel.« Das Mädchen streckt die Hand aus, packt einen Zipfel der Steppdecke und späht lächelnd hinein. »Hat er die ganze Zeit geschlafen?« »Die meiste Zeit. Gehst du auch diese Richtung?« »Ja. Ich treffe mich mit Leuten in einem Restaurant. Er ist ein braves Kind. Das sagen alle.« Sie gehen schweigend dahin, während ringsum der Lärm 928
der explodierenden Feuerwerkskörper noch stärker wird. »Brav von ihm, daß er nicht geschrien hat«, bemerkt das Mädchen lobend. »Er wird später einmal sagen können: ›Ich war dabei.‹« Das Mädchen schweigt eine Weile, bleibt dann stehen und blickt Yu-ying an. »Ich wurde beauftragt, mit dir zu sprechen, hatte aber bisher keine Gelegenheit dazu.« »Beauftragt, mit mir zu sprechen? Was meinst du damit?« Das Mädchen zögert. »Du trägst etwas am Hals.« »Ja, ein Amulett.« Yu-ying berührt ihren Hals und lächelt. »Ich dachte früher, daß es die Göttin der Liebe ist. Jetzt ist es für mich die Göttin der Hoffnung. Es ist nur ein billiger Krimskrams aus Bangkok.« »Die Leute sagen, es ist dekadent.« »Was?« Yu-ying lächelt noch immer. »Das Amulett?« »Ich soll es dir ausrichten. Tut mir leid. Aber wir müssen uns von den alten Sachen trennen. Der Vorsitzende Mao sagt, wir müssen der Welt trotzen.« »Der Vorsitzende Mao sagte, wir haben der Welt getrotzt.« »Die Leute sagen, das Ding an deinem Hals ist dekadent. Tut mir leid.« »Du willst damit sagen, ich darf es nicht tragen?« »Es tut mir leid.« »Dann nehme ich es ab.« »Das wäre besser. Und jetzt verlasse ich dich. Das Baby ist tapfer und hübsch. Wir sehen uns morgen.« Yu-ying steigt die schmale Treppe zu dem Zimmer im Obergeschoß hinauf, das sie mit Chu-chin teilt. Vielleicht, sagt sie sich, werde ich das Amulett abnehmen, aber in 929
einem Versteck aufbewahren, denn was bleibt mir noch an Eigenem, wenn ich es wegwerfe? Ein kleines Buch über siamesische Astrologie, die Tagebücher, ein englisches Wörterbuch, das Kreuz aus Zweigen, der Schildpattkamm aus Chiang Mai. Die Leute im Norden Thailands behaupten, daß ein solcher Kamm einem Glück bringt, und nächstes Jahr kann ich damit dem Kind das Haar kämmen. Bis dahin werde ich ihn gleichfalls verstecken. Das ist alles, was ich besitze, natürlich abgesehen von meinen Erinnerungen. Ich habe auch noch Mutter und Philip, vorausgesetzt, daß Mutter noch am Leben ist. Und er wird mich holen kommen. Als Yu-ying die Tür öffnet – es gibt kein Schloß –, sieht sie ihre Zimmergenossin auf ihrem Bett an der Wand sitzen und im Licht einer Glühbirne lesen, die von der Decke hängt. Chu-chin, eine Frau fortgeschrittenen Alters, hat ein breites, mongolisches Gesicht und eine stämmige Figur. Sie blickt auf, lächelt und legt das Buch beiseite. Nachdem sie sich in einen Stoffetzen geschneuzt hat, fragt sie, wie die Feierlichkeiten abgelaufen seien. Yu-ying setzt sich matt auf den einzigen Stuhl, den es im Zimmer gibt. Es ist nur mit diesem Stuhl, zwei Betten an den Wänden, einem Schreibtisch und einer Kommode möbliert. Auf dem Flur gibt es eine Toilette. Mit zwei anderen Familien teilen sie sich in eine kleine Küche im Erdgeschoß. Das Baby noch in der Schlinge, erzählt Yu-ying von der Parade und den Ansprachen; wie der Vorsitzende Mao aussah, was er anhatte, wie er den Massen zuwinkte; von den Feuerwerkskörpern bei Einbruch der Dämmerung und daß zuletzt ein kalter Wind aufkam. Chu-chin nickt. »Der kalte Wind. Ich hätte ihn heute nicht überlebt. In deinem Alter wäre ich mit einer Pekinggrippe auf die Straße gegangen, aber die Zeiten 930
sind vorbei.« Sie übersetzt russische Zeitungsartikel für die Nachrichtenagentur. Schon in den zwanziger Jahren aktive Kommunistin, hat sie früher in Rußland gelebt. Sie folgte nach dem Langen Marsch Mao nach Yenan, kämpfte gegen die Japaner, später gegen die Nationalisten. Sie hat ein Diplom der Universität Peking. Ihr Ehemann und die beiden Kinder sind tot. Sie hat Yu-ying nie erzählt, wie sie gestorben sind. »Wie hat er sich gehalten?« fragt Chu-chin lächelnd und blickt das Baby an, das inzwischen aus der Schlinge herausgehoben ist. »Er war sehr tapfer«, antwortet Yu-ying, und während sie noch mehr von dem großen Tag berichtet, wechselt sie dem Jungen die Windeln. Als sie damit fertig ist, legt sie ihn auf ihr Bett, an die Wand – sein Schlafplatz. »Ich werd’ uns gleich was kochen.« »Ich helfe dir dabei.« »Nein, du ruhst dich aus.« Sie lächeln einander an. Dann greift Yu-ying an ihren Hals und nimmt das Amulett an seinem billigen Metallkettchen ab. Sie sehen beide die Terrakottaabbildung einer Frau mit vier Armen an, die auf einer Lotosblume sitzt. »Man hat mir heute gesagt, es ist dekadent.« Chu-chin nickt. »Ja, ich kann das verstehen.« Yu-ying wirft das Amulett seufzend auf den Schreibtisch. »Ich trage es halt nicht mehr.« »Gut. So ist’s am besten.« »Ja, das heißt es.« Doch in aufwallendem Trotz beugt sie sich nach vorne und nimmt das Amulett wieder in die Hand. »Aber ich werd’ es trotzdem behalten. Ich werde es … verstecken.« 931
»Nein«, sagt Chu-chin kopfschüttelnd. »Warum denn nicht? Solange ich’s nicht trage, was ist dann schon dabei, wenn ich es aufhebe? Nur um es anzuschauen. Wegen der Erinnerung.« »Es könnte sein, daß das Zimmer durchsucht wird.« »Kann ich wenigstens die Kette behalten? Schau, sie ist doch ganz billig.« »Nun ja, ich denke schon. Vorläufig wenigstens.« Yu-ying beschließt auf der Stelle, Kette wie Amulett zu behalten und zu verstecken. »Wer könnte denn unser Zimmer durchsuchen?« »Das ist schwer zu sagen. Aber vergiß nicht, daß du aus einem anderen Land stammst.« »Das mag sein. Aber ich bin Chinesin.« Chu-chin schneuzt sich lautstark. »Natürlich bist du das. Aber sicher ist niemand. Ich nicht, du nicht, niemand. Frag mich nicht, warum. Aber China wird noch lange Zeit ein eigenartiges Land sein.« Sie hustet und blickt zu dem kleinen, dunklen Fenster hin. »Ein eigenartiges Land«, wiederholt sie. »Alles ist neu. Wir haben gesiegt, aber was geschieht jetzt? Ich gehöre seit fast zwanzig Jahren dieser Bewegung an, und doch kann ich die Frage nicht beantworten. Ich weiß, es ist ein großartiger Sieg – mit so viel Blut errungen. Aber all die Menschen auf dem Platz heute abend sind nach Hause gegangen, und das Feuerwerk hört wieder auf, und der Vorsitzende Mao und die anderen müssen sich dem Morgen stellen. Wir alle müssen das. Und wie dieses Morgen aussehen wird, darüber wissen wir nichts. Glaube mir, gar nichts.« Chuchin, die Augen gerötet und wäßrig, schneuzt sich wieder und schüttelt den Kopf. »Nichts ist schlimmer als eine Pekinggrippe. Es kommt vom Staub. Ich wollte doch was sagen …« Nach einer Pause spricht sie weiter. »Man fragt 932
sich, ob du nicht ein paar Männer kennenlernen möchtest – jung wie du selbst.« »Nein. Ich bin ganz zufrieden so.« »Du bist noch sehr jung«, sagt Chu-chin mit einem matten Lächeln. »Du kannst nicht seinetwegen mit dem Leben abschließen.« »Er wird kommen.« »Yu-ying.« Chu-chin sieht sie mit festem Blick an. »Er könnte auch tot sein.« Nicht zum erstenmal erwähnt sie diese Möglichkeit. Und nicht zum erstenmal antwortet Yu-ying, wie sie jetzt antwortet. »Nein, er ist nicht tot. Er ist ein Soldat. Er paßt schon auf sich auf. Er ist vielleicht gefangengenommen worden oder wird irgendwie aufgehalten, oder er ist krank geworden oder … oder er muß noch etwas erledigen, ehe er hierherkommt. Aber kommen wird er. Sicher, es ist schon viel Zeit vergangen, aber ich kann warten.« Mit einem wehmütigen Lächeln wiegt Chu-chin den Kopf hin und her. »So was kann nur eine junge Frau sagen.« Die beiden Frauen schweigen, dann fängt der Säugling zu weinen an. Yu-ying steht auf, tritt ans Bett und hebt ihn hoch. Er schreit kräftig vor lauter Hunger. Sie macht die Brust frei, und während er trinkt, denkt sie an eine Weissagung aus dem Brahma Jati: Frauen, die in einem Drachenjahr zur Welt kommen, werden zuverlässige Söhne haben. Er nuckelt eifrig an der Brustwarze. In stummem Staunen blickt sie hinab zu ihm: Sein rundes Gesichtchen ist vom kalten Wind gerötet, seine blauen Augen sehen sie forschend an, der Mund begehrt nach Leben aus ihrem Körper.
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